.^ \^^^-,^ V*v

^

r

ZEITSCHRIFT FÜR

PÄDAGOGISCHE PSYCHOLOGIE

UND EXPERIMENTELLE PÄDAGOGIK

HERAUSGEGEBEN VON O. SCHEIBNER UND W. STERN

UNTER REDAKTIONELLER MITWIRKUNG VON A. FISCHER UND H. GAUDIG

XX. JAHRGANG

1919 VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG

Druck yon J, B. Hirschfeld (August Prieg) in Leipzig.

Inhaltsverzeichnis.

A. Abhandlungen.

Seite

Verjüngung. Von Universitätsprof. Dr. W. Stern in Hamburg 1

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter. Von Seminarlehrer

M. Kesselring in Kaiserslautern 12; 89

Über die Beziehungen zwischen Intelligenz und Moralität bei jugendlichen Ver- wahrlosten. Von Dr. P. Riebeseil in Hamburg 37

Muster eines Tagebuches über Kinder. Von Dr. St. v. Maday inMiskolo in Ungarn 44 Die Unterricht liehe Behandlung Kopfschußverletzter. Von Prof. Dr. A. Stößner

in Dresden 48

Statistische Erhebungen über sprachgebrechliche Kinder in den Hamburger Volks- schulen. Von Schulleiter W. Carrie in Hamburg 53

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule. Von Rektor E. Haase

in Halle 60; 108

Zur Sammlung jugendkundlicher Beobachtungen in der Zeit des deutschen Staats- umsturzes. Von Universitätsprof. Dr. A. Fischer in München . . 81 __^ Die Erlernuns: und Beherrschung fremder Sprachen. Von Universitätsprof. W.

Stern in Hamburg 104

Psychologie und Schule. Von Universitätsprof. W. Stern in Hamburg . . . 145 Das Zusammenwirken der Schule und des Psychologen bei der Begabung«- und

Eignungsauslese. Von Dr. O. Lip mann in Klein-Glienike bei Berlin 153 Höhere Intelligenzprüfung an Jugendlichen mit Hilfe des Bindeworttests. Von

Marx Lobsien in Iviel 157

^Die Nebensätze in der Kindersprache. Von A. Huth in München 163

Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes. Von Prof.

K, Bergmann in Darmstadt 183; 238

Schuloriranisatorisches Denken. Von Oberschulrat Prof. Dr. H. Gau d ig in Leipzig 209 Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten. Von P. Wischer in Berlin 219 Ein Test zur Prüfung der Kritikfähigkeit. Von M. Lobsien in Kiel .... 231 Begabungsprüfungen in FachschuU'n. Von Universitätsprof. W. S t e r n in Hamburg 235 Die Untersuchung der Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallen-

versuchs. Von Dr. R. Prantl in Würzburg 245

Bildsamkeit und Persönlichkeit. Von Gymnasiallehrer W. Saupe in Chemnitz 289 Beobachtungsbogen und Schülerauslese. Von M. Muchow und W. Höper in

Hamburg 301

1. Notwendigkeit und Möglichkeit der Heranziehung des Lehrerurteils bei

der Begabtenauslese. Von Martha Muchow 302

2. Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919. Von Dr. Wilhelm Höper 308

Fragebogen zu psychologischen Ermittlungen im Kindergarten. Von J. Lichten- stein in Breslau 315

Besinnliches zur Begabungsprüfung. Von Privatdozent Dr. M. Brahn in Leipzig 328 / Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden im Dienste von Erziehung und ^^^ Unterricht. Von Universitätsprof. Dr. A. Fischer in München . 334

Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht. Von Prof.

P. Sickel in Aachen 369

IV Inhaltsverzeichnis

Seite Über den Einfluß von Krics^s- und Zeitkomplexcn auf die Definitionsleistung bei

Kindern. Von Prof. Dr. A. Gregor in Leipzig-Döaen 379

Über das logisch-rechnerische Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen auf Grund

experimenteller Untersuchungen. Von Seminaroberlehrer Dr. W. Voigt

in Leipzig 386

/ Zum psychologischen Problem „Fremdsprachen und Muttersprache". Von Prof.

Dr. E. Lentz in Zoppot 409

Vom Kulturwert des Kinders piels. Von Verwaltungsdirektor Dozent Dr. J. P r ü f e r

in Leipzig 415

Die psycholosische Laborantin als Beruf. Von Institutsleiter Dr. Fr. Giese in

Halle a. S 418

Verzeichnis der Verfasser.

Seite Seite

Bergmann, K 238

Brahn, M 328

Carrie, W. 53

Fischer, A 81; 334

Gaudig, H . . . . 209

Giese, F 418

Gregor, A 379

Haase, E 60; 108

Höper, W 308

Lobsien, M 231

V, Maday, St 4*

Muchow, M 302

PrantUjfV, 245

Prüfer^^jJ. "' 415

Riebeseil, P 37

Saupe, W 289

Sickel, P 369

Stern, W 1; 104; 235

Kesselring, M 12; 89 j Stößner, A 48

Lentz, E 409 I Wischer, P 219

Lichtenstein, J 315 | Voigt, W. 386

B. Kleine Beiträge und Mitteilungen.

Seite

Abteilung für Jugendkunde in Chemnitz 354

Amtliche Eintührong des pädagogisch-psychologischen Aufnahmeverfahrens in

Deutsch-Österreich . ^ 352

Arbeitsprogran m des Deutschen Ausschusses für Kleinkinderfürsorge 197

Ausbildungsstätte für heilpädairogische Lehrberufe 198

Auskunftst lle für Kleinkinderfürsorge 72; 359

Ausstellung für neuzeitlichen Anfangsunterricht 428

Bej.'abtenauslese in Berün 423

Begabtcnschulcn in Deutsch-Österreich 352

Begabungsprüfung am Gymnasium 424

Bremer Institut für Jugendkunde 354

Deutsche Gesellschaft für soziale Pädagogik 359

Elterubund „Neue Schule" 138

Förderung und Pflege der Erziehungswissenschaften 131

Grundsätze zur Neugestaltung dos Schulwesens 361

Heranbildung von Leitern für Stotterklassen und von Lelirern für Absehunterricht

\y bei Schwerhörigen und Ertaubten 198

Institut für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde an der Universität Leipzig 139

Institut für experimentelle Pädagogik und Psycholo^^ie im Leipziger Lchrerverein 283

Institut für Psychologie und Pädagogik an der Hamlelshochschule Mannheim . 425

Kölner Arbeitsgemeinschaft für normale und pathologische Psychologie .... 358

Krankhaftes religiöses Erleben 127

Kriminalilät der Jugendlichen während des Krieges 422

Laboratoriimi für industrielle Psychotechnik an der Technischen Hochschule zu

Charlottenburg 356

Leipziger Prüfamt 358

Inhaltsverzeichnis

Seite

Leitsätze zur Arbeitsschule 195

Materialsammlung zur Schülerbewegimg 359

Mitteilungen über die Schülerbewegung 132

Nachrichten 72; 139; 199; 285; 360; 429.

Neuordnung der niederösterreichischen Landesiehrerakademie 352

Pädagogische Fortbildung der Oberlehrer 193

Pädagogisch-psychologische Fragebogen , 424

Pädagogisch-psychologisches Laboratorium an der niederösterreichischen Landes- iehrerakademie >Yien 199; 355

Prorinzialiustitut für praktische Psychologie in Halle 425

Psychologische Beobachtung der Fürsorgezöglinge 188

Psychologisches Laboratorium in Hamburg 278

Psychologisch-pädagogisches Preisausschreiben 285

Schullorderungen des Deutschen Lehreryereins 347

Sonderschule für sehschwache Kinder 428

V^ Sprechlehrerseminar 360

Tagung des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege und der Vereinigung

der Schulärzte Deutschlands 426

Vertretung der Psychologie und Pädagogik an den deutschen Universitäten im

Winterhalbj ihr 1918/19 68

Warnung vor dilettantischer Anwendung von Testprüfungen 353

Wiener Hauptstelle für Erziehung und Unterricht 72

Wirtschaftspsychologisches Laboratorium 284

Inhalt der Nachrichten.

Seite Akademische Ferienkurse an der

Universität Leipzig 361

Ausbiidungskursus f. die Eignungs- prüfung der industriellen Lehr- linge 361

Auskunftstelle für Kleinkinderfür- sorge 139

Ausschuß zur Erforschung der Ar- beit 429

Erahn, Dr. Max 199

Cohn, Prof. Dr. Jonas 199

Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen . . . 140

Fischer, Dr. Aloys 73; 199

Handelshochschulkursus der Stadt

Nürnberg 140

Hönigswald, R., Dr. Prof 429

Institut für Erziehung^Unterricht und Jugendkunde an der Uni- versität Leipzig 139

Karamel, Prof. Dr. WiUibald ... 360

Seite

Katz, Prof. Dr. David 360

Lehmann, Prof. Dr. Rudolf ... 285

Lietz, Hermann f 285

Lehrgang für Studienreferendare 362

Lehrstuhl für Pädagogik in Jena . 360

Moede, Dr. Walter 140

Xohl, Dr 360

Pädagogische Osterwoche .... 73

Peters, Dr. Wilhelm 199

Poppelreuter, Dr. W 429

Psychologischer Ausbildungskursus

für Hilfsschullehrer 361

Psychologisches Institut des Leip- ziger Lehrervereins 139

Schwartz, Dr. med. et phil., . . . 285 Seminar für Heilpädagogik . . . 429 Spranger, Prof. Dr. Eduard ... 360 Universitätsstudium der Volks- schullehrer 360

Vorlesungen des Berliner Lehrer- vereins 361

C. Literaturbericht.

Seite

Aster, E. v., Einführung in die Psychologie 286

Asmus, Prof. Dr. W., Notstände an höheren Schulen . 79

Barth, Dr. P., Ethische Jugendführung 363

Bauch, Dr. Bruno, Zeitfragen der Gegenwart in Fichtes Reden an die

deutsche Nation 80

VI Inhaltsverzeichnis

Seite Bericht des Deutschen Kinderschutzverbandes. Der vorbeugende

Kinderschutz in Stadt und Land 80

Bergemann-Könitzer, Erziehung zur Plastik 432

Berufswahl und Berufsberatung 207

Brahn, M., Anweisungen für die psychologische Auswahl der jugendlichen

Begabten 367

Braunshausen, Dr. N., Einführung in die experimentelle Psychologie . . 287

Buchenau, Dr. A., Die deutsche Schule der Zukunft 78

Buchenau, Dr. A., Pestalozzis Sozialphilosophie 362

Buchenau, Dr. A., Die Einheitsschule 432

Bühler, Charlotte, Das Märchen und die Phantasie des Kindes .... 202

Bühler, K., Die geistige Entwicklung des Kindes 365

Bürgler, K., Das Tastlesen der Blindenpunktschrift 76

Christian, Dr. M., Psycho-physiologische Berufsberatung der Kriegsbeschä- digten 75

Dessoir, M., Vom Jenseits der Seele 140; 429

Ebbinghaus, Prof. H., Abriß der Psychologie 74

Engel, E., Der Weg der deutschen Schule 208

Faßbinder, N., Am Wege des Kindes 79

Frischeisen-Köhler, M., Grenzen der experimentellen Methode .... 141

Fuchs,A., Die heilpädag. Behandlung der durch Kopfschuß verletztenKrieger 79

Gaupp, Prof. K., Psychologie des Kindes 75

Goldstein, Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzten 430

Grau, Dr. K.. Grundriß der Logik 74

Grunwald, Dr. G., Philosophische Pädagogik 205

Hegels Philosophie 200

Hessen, Johannes, Die Begründung der Erkenntnis nach dem hl. Au- gustinus 200

Hildebrandt, Paul, Vom Seelenleben unserer Schüler 201

Höfler, Dr. A., und Witasek, Dr. St., Hundert psychologische Schulver-

^ suche mit Angabe der Apparate 142

Hunzinger, A., Das Christen tum im Weltanschauungskampfe der Gegenwart 362

Jacob, J., EinBeitrag zur Frage nach den psychischen Rasseunterschieden 75

Jahnke, Dr. R, Werden und Wirken 206

Jäger, Dr. G., Schulgemeinde und Schülerausschuß 207

Klumcker, Prof. Dr. Chr. J., Fürsorgewesen 144

Kreuser, Dr. med. H., Krankheit und Charakter 201

Kruse, Uve Jens, Lebenskunst 204

Lay, Dr. W. A., Experimentelle Pädagogik mit besonderer Rücksicht auf die

Erziehung durch die Tat 77

Lazarus, Prof. Dr. M., Das Leben der Seele in Monographien über seine

Erscheinungen und Gesetze 140

Lehmann, Prof. Dr. R., Lehrbuch der philosophischen Propädeutik . . 14l

Lindemann, F., Beiträge zur Geschmacksbildung 144

Lorenz, Prof. Dr. G., Drei National-Schulentwürfe aus klassischer Zeit . . 208 May dorn, Dr. B., Zeitfragen der Gegenwart in Fichtes Retjpn an die deutsche

Nation 201

Meinong, A., Beiträge zur Pädagogik und Dispositionstheorie 36

Messer, Dr. A., Ethik 73

Meyer, Dr. E., Vom pädagogischen Lebenswege 78

Meyer, Johannes, Erziehung und Leben 206

Moede-Piorkowski-Wolff, Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organi- sation und experimentellen Methoden der Schülerauswahl .... 288 Queisser,F., Aus meiner Sammelmappe psychologischer Unterrichtsversuch e 203

Pauli, Dr. R., Psychologisches Praktikum 286

Paulsen, F., Geschichte des gelehrten Unterrichtes auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur

Gegenwart 80

Inhaltsverzeichnis

Seite

Peper, W., Jugendpsychologie 287

Prochnow, Dr. Oskar, Wissen oder Können? 206

Reinhardt, K., Die Neugestaltung des deutschen Schulwesens 430

Reuinuth, K., Die logische Beschaffenheit der kindlichen Sprachanfänge . 365

Roth, Dr. H., Das sittliche Urteil der Jugend 142

Rupp, Dr. H., Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik und

Jugendpsychologie 286

Ruscheweyh, Dr. H., Die Entwicklung des deutschen Jugendgerichtes. . 80

Rzehak, A., Der gegenwärtige Stand der Wünschelrutenfrage 288

Sallwürk, E. v., Die Seele des Menschen 74

Schneidemühl, Dr. G., Die Handschriftenbeurteilung 77

Schomburg, H. E., Der Wandervogel, seine Freunde und Gegner .... 204

Schönhuber, Fr. X., Das Kino im Lichte von Schülerantworten .... 143

Schulz, Fr., Wollen und Vollbringen 204

Schuster, Dr. P., Das Nervensystem und die Schädlichkeiten des täglichen

Lebens 364

Stadelmann, Dr. med.. Die Bedeutung des Kindheitserlebnisses für die

Ausgestaltung der Lebensführung 201

Sternheim, Dr. K., Einführung in die Philosophie vom Standpunkte des

Kritizismus 362

Volkelt, J. Prof., Religion und Schule 363

Wundt, W., Logik 3&4

Wyenbergh, J. van, Dr., Die Organisation des Volksschulwesens auf diffe-

rentiell-psychologischer Grundlage 143

Zillig, P., Die innere Einheit aller Lehrenden 144

Der vorbeugende lünderschutz in Stadt u. Land. Bericht über die Kinder-

schutztagung des deutschen Kinderschutzverbandes ...... 80

Verjüngung.

Von William Stern.

In zwei Schlagw^orten sucht man das zusammenzufassen, was die große Umwälzung dem deutschen Volke bringen soll: Demokratisierung und Sozialisierung. Neben diesen beiden aber steht noch eine dritte Ziel- richtung, die grundsätzlich nicht minder wichtig, aber viel weniger be- achtet ist: die Verjüngung. Unser gesamtes öffentliches Dasein in Staats- leben und Kultur wird in Zukunft eine ganz andere Altersver- teilung der wirksamen Kräfte zeigen zugunsten der Jugend. Vergegenwärtigen wir uns, was das bedeutet.

Vorweggenommen sei ein Tatbestand scheinbar äußerlicher Art; aber er greift doch tief in unser Innerstes hinein. Der Krieg hatte vier Jahre lang unsere männliche Jugend, insbesondere die beweglichsten und strebsamsten Jahrgänge zwischen 20 und 30, an die Front gezogen und aus der Mitarbeit am heimischen Kulturleben ausgeschaltet; diesem fehlte damit der frische Antrieb zum geistigen Fortschritt; eine Überalterung setzte ein.

Blicken wir auf die Schulen. Hierwiarden die Lehrkörper mehr und mehr zu Senioren-Versammlungen; zwischen Schülerschaft und Lehrerschaft klaffte meist ein Altersabstand von mehreren Jahrzehnten. Wohl war es in jedem Einzelfalle der höchsten Anerkennung wert, daß die älteren Herren, die in normalen Zeiten längst die behagliche Ruhe nach getaner Arbeit genossen hätten, die Pflicht zum Durchhalten so ernst nahmen, um die durch den Krieg gerissenen Lücken auszufüllen; aber die Ge- samtwirkung war doch eine Verarmung des Schullebens. Die Schul- kinder — und gerade die feinfühlenderen und regsameren haben schwer darunter gelitten; es stockte jener lebendige Pulsschlag gegen- seitigen Verständnisses, jenes Sichfinden in gemeinsamen Interessen und Idealen, wie es das Zusammenarbeiten von Schülern und jugend- frischen Pädagogen verschönt. Neben den Schäden, welche die Schul- erziehung durch die Störung des Schulbesuches und durch die Ver- wahrlosung der Jugend erlitten hat, ist die ideelle Schädigung der Kinder durch die Überalterung der Lehrerkollegien nicht zu gering einzuschätzen.

Und nun wird das anders werden. Jetzt kehren die jüngeren Päda- gogen zurück, die wir so lange entbehren mußten; nach furchtbarer Zerstörungsarbeit sind sie voller Sehnsucht, endlich aufbauend tätig zu sein! Sie haben im Leben draußen viele der alten Wertungen und Bindungen abgeschüttelt und schauen nach neuen Zielen aus. Und sie kommen in ein umgewandeltes Deutschland, in dem der Boden für solche Entdeckungsfahrten in geistiges und sitthches Neuland bereitet

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 1

William Stern

ist, in dem eine empfängliche und seelisch ausgehungerte Schuljugend ihrer wartet. Welch unermeßliches Tätigkeitsfeld liegt vor diesen Männern !

Was hier von einem Teilgebiet der Kultur gesagt ist, gilt nun aber von unserm gesamten heimischen Leben: die Jüngeren standen im Kämpft die Älteren gaben allein den Ton in der Heimat an, und die Folge war eine gewisse geistige Erstarrung. Schauen wir jetzt zurück auf die Jahre des Krieges, so müssen wir bekennen, daß sie recht arm gewesen sind an wahrhaft neuen, lebenswirksamen Ideen. All das Große, ja Er- schütternde und Erhebende, das der Krieg in der Heimat auszulösen vermochte, war doch vor allem eine ungeheure quantitative Steigerung alter Leistungsformen und Werthaltungen gewesen. Das nationale Machtstreben, das in bestimmten führenden Kreisen alle anderen Betrachtungsweisen in den Hintergrund drängte, die gewaltige Fähigkeit zum Organisieren, die umfassende Indienststellung von Wissenschaft und Technik für die Aufgaben der Selbstbehauptung das waren Höchstmaße bekannter und schon in früheren Jahrzehnten gepflegter Züge deutschen Lebens, aber nichts Schöpferisch-Neues, nichts Gegen- wart-Überwindendes und Zukunft- Verkündendes. Wir waren von vorn- herein geistig in die Defensive gedrängt; das Volk der Dichter und Denker litt an Ideenarmut! Diplomatisch, politisch, erzieherisch, kulturell bedienten wir uns überkommener Formen, während die Feinde begannen, ein neues geistiges Rüstzeug zu schmieden. Nur zögernd folgten wir und übernahmen jene Ideen, und merkten kaum, daß wir deutsches Geistesgut in fremdem Gewände von außen wiedererhielten! So mußte es geschehen, daß die von Kant zuerst verkündete Idee des ewigen, auf den Völkerbund gegründeten Friedens erst von dem ameri- kanischen Präsidenten in praktische Form gegossen wurde, um von uns dann widerstrebend zu eigen gemacht zu werden. So mußte es geschehen, daß die ebenfalls von Kant verkündete Forderung der Auto- nomie (Selbstbestimmung) der sittlichen Persönlichkeit nicht von den Deutschen, sondern von den andern auf die Völkerpersönlichkeiten und deren Autonomie übertragen wurde. Und schließlich mußte es geschehen, daß die in Deutschland aus Hegelischem Geiste geborene und von Marx und Lassalle geprägte Idee des Sozialismus nicht in einer bodenständig deutschen, sondern in der zunächst von Rußland vorgemachten Form einer Räteverfassung bei uns nach Verwirklichung strebte.

Das wird, das kann nicht so bleiben. Haben die Älteren darin ver- sagt, den schöpferischen Ideen der kommenden Zeit die dem deutschen Wesen angemessene Gestalt zu verleihen, so müssen wir auf die Jugend hoffen. Aber wir müssen dann auch zugleich der Jugend den Platz und das Recht zubilligen, um ihren tätigen Anteil am Neuaufbau zu nehmen. Und deshalb sind im Politischen die Verleihung der Wahl- fähigkeit an die Altersstufe 20 25, im Pädagogischen die aktive Be- teiligung der Schüler an der Gestallung des Schullebens nur die ersten Erscheinungen, in denen sich die allgemeine und grundlegende Forderung der Verjüngung unseres Lebens verwirklicht.

Um das ganz zu verstehen, was jetzt unsere Jugend von 15 25 er- füllt, müssen wir zurückgreifen auf eine Erscheinung der Vorkriegszeit,

Verjünsrung 3

die Jugendbewegung. Alle jene Strömungen, die sich im Wander- vogel und in der Freideutschen Jugend, in der Freien Schulgemeinde, im „Anfang", im „Vortrupp* usw. geltend machten, waren bereits etwas durchaus Neues und Beispielloses: sie erhoben den individuellen Seelen- zustand der Pubertätszeit ins Sozial-Psychische, sie suchten die subjek- tive Verfassung des einzelnen Jugendlichen in objektive Kulturwirksam- keit zu verwandeln. Die Pubertätszüge sind ja der psychologischen Jugendkunde wohl bekannt : die Wendung des Bhckes, der bisher naiv und empfangend nach außen gerichtet war, ins eigene Innere, und die plötzliche erschütternde Entdeckung des eigenen Ich mit seinen Abgründen und Höhen, seinen Rätseln und Forderungen ; das Schv/anken zwischen einer hemmungslosen Hingabe an neu erwachende Triebe und Leiden- schaften und der scheuen Verdrängung dieser Strebungen ins Unbewußte, wo sie seltsame Umformungen erfahren; das Ringen um ein eigenes Recht und einen eigenen Wert, der niemals nur von außen her auch nicht von den wohlmeinendsten Erziehern aufgepfropft werden kann, sondern selbst erarbeitet werden muß; das dumpfe Bewußtsein neuer Ziele, die aber immer wieder dem Versuch der Aussprache und Gestal- tung entgleiten; die innere Auflehnung gegen die Gängelung durch Auto- ritäten und überlieferte Normen; die unhistorische und anti-historische Stimmung, welche alles Gewordene, schon deshalb, weil es aus der Ver- gangenheit stammt, als zukunftsfeindlich empfindet; die Unstimmigkeit zwischen Wollen und Können; die Unbedingtheit und selige Unbesonnen- heit, welche für die Durchführung neuer Ideale keine Kompromisse, keine real-pohtische Vorsicht kennt, sondern geradewegs in die Sonne zu fliegen sich vennißt; die Feinfühligkeit für das Maskenhafte, inner- lich Unwahre und Unlebendige an Konventionen und gesellschaftlichen Sitten; die Empfindlichkeit gegen die Unsittlichkeit im landläufigen politischen, sozialen, sexuellen Treiben; nüt alledem zusammenhängend aber auch die maßlose Ungerechtigkeit in der Beurteilung von Menschen und Einrichtungen; eine Überheblichkeit und Ehrfurchtslosigkeit, die oft genug die Hauptlinien in das Bild zu bringen scheint und die positiven Züge allzusehr verblassen läßt.

All das hatte man schon immer gekannt; aber die meisten merkten nicht, welch fundamentaler Wandel es war, als aus den individuellen „Jugend- Eseleien" eine kulturelle „Jugend-Bewegung" wurde. Zum ersten Male eine große Strömung unseres öffentlichen Lebens, die nicht von den reifen Erwachsenen gemacht, sondern aus der Jugend selbst hervor- gegangen war! Die daher etwas völlig Anderes war als alle, auch die besten und idealsten Bestrebungen der älteren Generation, von sich aus durch Arbeit an der Jugend dieser selbst und der Zukunft des Volkes zu helfen. Gewiß lag in diesen Bestrebungen der Älteren schon ein gewaltiger Fortschritt gegen frühere Zeiten; denn Schul- und Erziehungs- Reform, Jugend-Pflege, -Fürsorge und -Gerichtsbarkeit usw. waren, im Gegensatz zu vergangenen Epochen, von der bewußten Absicht geleitet, der Jugend und ihrer Eigenart gerecht zu werden; und sie haben ja eben deshalb auch die Jugendkunde zu ihrer Führerin erkoren. All diese Arbeit der Älteren wird auch in Zukunft weiter gehen und sich hoffentlich noch reich entwickeln, auch wohl wandeln in Rücksicht auf

William Stern

das Neue, das im Werden ist. Aber eine Schranke war ihr doch durch ihr Wesen gesetzt: die Jugend war in allen diesen Maßnahmen in erster Linie Gegenstand, nicht Subjekt, nicht Träger des Geschehens - Gegen- stand der Erkenntnis in der Jugendkunde, Gegenstand der Behandlung in Jugenderziehung und Jugendpflege. Die Pädagogen fühlten sich als die Gebenden und die Jugendhchen als die Empfangenden; auch dort, wo Entwicklung der jugendlichen Selbsttätigkeit als Grundsatz aufgestellt wurde, war es eine durch die Erzieher angeregte und zu- gelassene, dosierte und geleitete Selbsttätigkeit; auch dort, wo die Frei- heit der Jugend ausdrücklich anerkannt wurde (z. B. bei der freieren Ge- staltung des Unterrichts auf den oberen Stufen), war es eine von oben und außen her verliehene Freiheit,

Die Jugendbewegung aber wollte gänzlich anderes: Neugestaltung des Jugendlebens aus sich heraus und Umgestaltung der Volkszukunft von der Jugend aus! Diese hohe Zielsetzung wurde freihch durch manche unerfreuliche Äußerlichkeiten, persönliche Unstimmigkeiten, Unklarheiten, Anmaßlichkeiten so überdeckt, daß die weitaus meisten Erwachsenen durch diese siebenfache Haut nicht auf den Kern der Anschauungen hindurchzublicken vermochten ; daher war bei der großen Mehrzahl der berufsmäßigen Erzieher entweder Empörung über die Dreistigkeit oder ein herablassendes Belächeln der Verstiegenheit die einzige Gefühls- reaktion. Man übersah, daß ja die erste Phase einer solchen neuen Lebensform zunächst in Maßlosigkeit geraten mußte, daß sie vor allem auf Opposition, auf lauten Protest angewiesen war, da ihr die Macht zum positiven Tun ja eben fehlte.

Diese vorwiegend negative Phase der Jugendbewegung findet nun ihr Ende durch die Umwälzung. Die Wahlberechtigung ruft die Jugend zu positiver Arbeit auf. Jetzt darf sie ihre Forderungen, ihre Ideale vor der großen Öffentlichkeit vertreten und mit den neuen Mitteln des politischen Kampfes zu verwirklichen suchen in voller Legitimität, aber auch in voller Verantwortlichkeit. Eben diese Verantwortlichkeit ist das Neue auch für die Jugend selbst. Sie fordert für sich, gewiß; aber sie muß auch vieles fordern von sich, in weit höherem Maße, in weit größerem Umfang als bisher. In höherem Maße : denn ihre Taten sind nicht mehr jene seligen Höhenflüge zur Sonne, sondern reale Mit- bestimmungen der harten irdischen Wirklichkeit . . In weit größerem Umfange: denn es kann nicht mehr genügen, daß eine kleine Auslese Geistiger und Begeisterter die Jugendbewegung ausmacht, sondern die ganze Jugend muß mittun; mit dem neuen Recht entsteht ihre neue Pflicht. Soll sich die politische Welt verjüngen, dann muß sich die junge Welt politisieren. Aber wohl gemerkt: sie muß sich selbst politisieren, nicht etwa politisiert werden. Die frühere Methode, von den Älteren her auf die Jugend zu wirken, darf in Zukunft keinesfalls das allein seligmachende Verfahren bleiben.

Verjüngung des politische» Lebens kann nicht allein heißen, daß sich in den bestehenden oder jetzt neu bildenden großen Parteien die untere Altersgrenze für die Mitgliedschaft bis in frühere Jahrgänge verschiebt und daß durch Bildung von Jugendgruppen die Jugend für die von den Älteren aufgestellten Programme gewonnen werde; es muß auch heißen,

Verjüngung 5

daß das Eigenleben und Streben der Jugend eine eigene mitwirkende Macht innerhalb der Gesamtgestalt unseres Volksdaseins \\ird, daß die Jugend sich selbst über ihre neuen Ideale klar zu werden versucht und mit ihnen die Programme der Älteren durchsäuert und durchglutet. 0

Wohl ist die Jugend noch politisch unerfahren; sie wird daher vor allem die Aufgabe haben, sich zu orientieren, zu belehren und ein- zuarbeiten; und sie wird wegen ihrer Unerfahrenheit so manches Lehr- geld zahlen müssen, das keinem Neuling erspart bleibt. Sie ist aber zugleich auch politisch unbelastet; und vielleicht ist es ihr beschieden, wenigstens darin auch im realen Leben ihren idealen Sinn zu wahren, daß sie den politischen Kampf entgiftet und wieder ethisiert. Neue edlere Formen dieses Kampfes sind von den alten Parteien kaum zu erhoffen; dagegen regen sich schon jetzt in den politischen Jugend- bestrebungen verheißungsvolle Anfänge; die Jugend verschiedenster Richtungen sucht miteinander Fühlung zu gewinnen, sich in großen, jenseits der Parteien stehenden Versammlungen auszusprechen und sich gegenseitig das Vertrauen zu bekunden, daß jeder von seiner Stelle aus das Beste für die Allgemeinheit erstrebt. Wenn es doch der Jugend ver- gönnt wäre, zu beweisen, daß das Bismarckische Wort „Politik verdirbt den Charakter" nur für die Politik des alten Regimes, nicht aber für jede Politik überhaupt gilt! Und noch ein anderes Wort der alten Zeit muß übe/wunden werden : „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft". Es war ein frevlerisches Wort, sofern es bedeutete, daß die Jugend als Mittel zur Verewigung gegenwärtiger Machtverhältnisse benutzt werden sollte. Heute wollen wir den Satz umkehren: „Wer die Zukunft will, hat die Jugend!" Es ist der Ansporn für die Älteren, ihr Tun und Streben nicht nur auf die Sicherung des Gegenwärtigen, sondern auf die Formung des Zukünftigen zu richten und hierbei für die Stimmen derjenigen hellhöriger zu werden, die in dieser Zukunft die Träger der Volksgemeinschaft sein werden.

Diese Verjüngung wird selbstverständlich nicht ohne schwere Er- schütterungen vor sich gehen, da sowohl der Inhalt unseres Kultur- bestandes wie das Kraft getriebe des Kulturgeschehens plötzlich grund- stürzend verändert werden.

Nicht nur vieles von dem, was uns Älteren aus Gewöhnung und Pietät subjektiv wertvoll geworden war, sondern auch so manche objektiven Dauerwerte, die in der Vergangenheit unseres Geisteslebens historisch verankert sind und berufen wären, uns auch für die Zukunft etwas zu bedeuten sie sind in Gefahr, bei diesem Neuerungsstreben auf den Scherbenhaufen zu geraten. Dem Einzelnen von uns muß es je nach Tem- perament und Neigung überlassen bleiben, ob er sich vor allem der neuen Entfaltungsmöglichkeiten zu freuen vermag oder den bitter emp- fundenen Verlusten nachtrauert, ob er in erster Linie mitgestalten will

') Verrnntlich werden sich auch hier die beiden psychologischen Typen der Jugendlichen scheiden, die auch sonst bemerkbar sind: der Typ des vorwiegend empfänglichen und anlehnungs- bedürftigen, und der des selbständigkeitsdurstigen imd spontan handelnden Jugendlichen. Im Unpolitischen wurde jener vorwiegend von der Jugendpflege, dieser von der Jugendbewegung erfaßt. Im Politischen wird jener zu den Jugendgruppen bestehender Parteien, dieser zur Bil- dung eigener Jugendbünde neigen.

6 William Stern

an dem, was werden will, oder sich an der Rettung des kostbaren Geistes- gutes beteiligen will, welches verdient und verlangt, auch in Zukunft bewahrt zu werden. Beide Verhaltungsweisen sind gleich berechtigt und notwendig.

Fast noch mehr ist die veränderte Dynamik des Geschehens geeignet, das Gleichgewicht des Daseins zu erschüttern. Jenes überstürmische Tempo freihch, in welchem jetzt die größten Wandlungen spielend voll- zogen werden, das wirre Hin und Her von Maßnahmen und Gegenmaß- nahmen, Plänen und Experimenten, wird ja hoffentlich nur ein Merkmal des Übergangs sein. Mit steigendem Verantwortlichkeitsgefühl (das sich ja nicht von heut auf morgen entwickeln kann) wird auch die Jugend ihr wild darauf los gehendes Reformieren und Revolutionieren etwas zügeln. Aber wir dürfen nicht mehr erwarten, daß der gemächliche bald bedächtige, bald geradezu gehemmte Fortschritt früherer Zeiten wiederkehren wird. Unser öffentliches Leben wird von nun an durch eine Beschleunigung des psychischen Tempos und eine Steigerung des Temperaments gekennzeichnet sein ; der größere Anteil der Jugendlich- keit wird sich in erhöhtem Radikalismus und abnehmendem Verständnis für historisch Gewordenes, in stärkerem Einfluß stimmungsmäßiger Faktoren und in geringerer Planmäßigkeit bekunden. So haben auch diese Kraftverschiebungen ihr Gutes und ihr Böses; es ist wünschens- wert, daß man diese veränderte Dynamik bei allem in Rechnung stellt, was der Bestimmung unserer Zukunft gilt.

Welche Rückwirkung übt nun diese allgemeine Verjüngung des Lebens auf das eigentlich pädagogische Gebiet aus? Von der Bedeutung der nun heimkehrenden jungen Lehrer sprachen wir schon; weit wich- tiger aber ist die zu erwartende innere Umgestaltung der Schülerschaft selbst.

Es geht nicht an, daß vom 20. Jahre an der junge Mensch plötzlich zum vollberechtigten Staatsbürger wird, daß aber in den Jahren vorher alles beim Alten bleibt. Die neuen Rechte, Pflichten und Forderungen verlangen eine gründliche innere Vorbereitung. Schüler und Schülerinnen können nicht bis zum 19. Jahre bloße Erziehungs- und Unterrichtsobjekte sein, um dann im nächsten Jahre plötzlich Selbstbestimmungs- und Selbst- verantwortungssubjekte zu werden. Wir haben es schon früher an jungen Studenten erlebt, wie schädhch es sein konnte, wenn sie aus dem Zwangskurs der gymnasialen Arbeit unvermittelt in die Autonomie der akademischen Freiheit versetzt wurden; ähnlich war es bei vielen jungen Lehrern, die aus der klösterhchen Zucht des Seminars direkt in die selbständige Verwaltung einer Dorfschule kamen. Die entsprechende Gefahr gilt aber in weit höherem Maße für die allgemeinen staatsbürger- lichen Aufgaben. Soll das engere Gebiet der Schule eine wirkliche Vor- bereitungsanstalt für das Leben, und zwar auch für das politische Leben werden, so ist selbst mit dem besten staatsbürgerlichen Unterricht wenig getan; mit dem Prinzip der Selbsttätigkeit muß hier mehr als auf irgendeinem Gebiet Ernst gemacht werden. Darum muß die Selbst- verwaltung der Schüler kommen, nicht als spielerische Atrappe, als welche sie in dem autokratischen Gefüge der bisherigen Schule hier und

Verjüngung 7

da bereits ihr Plätzchen im Winkel hatte, sondern als mitgestaltender Faktor des ganzen Schullebens.

Aber nicht nur als Vorschule zur Politik muß die Selbstverwaltung kommen; ja, ihre eigentliche Begründung liegt in der Wandlungsbedürftig- keit des Schullebens und in den inneren Bedürfnissen der Schuljugend selbst. Es muß endhch einmal mit der eingewurzelten Auffassung ge- brochen werden, als ob Lehrerschaft und Schülerschaft als zwei kompakte Massen von ganz verschiedenartiger, ja gegensätzlicher Struktur sich gegenüberstehen, von denen die eine zu befehlen und zu verbieten, die andere zu folgen und zu unterlassen hat, von denen die eine aufgibt, die andere ausführt, von denen die eine der andern die von ihr für gut befundenen Kulturwerte und Ideale, Stoffe und Methoden aufdrängt. Gewiß hatte diese Auffassung, ganz ähnlich wie beim Militarismus, auch ihre großen Vorzüge; und sie hat um die Erziehung zum Pflichtbewußt- sein und zum Fleiß, zur Straffheit der Selbstzucht, zum Besitz mannig- facher Kenntnisse, zur Einordnung in eine Organisation große Verdienste. Aber sie kam an das lebendige Selbst der Schüler nicht heran, und zw^ar um so weniger, je älteren Jahrgängen die Schüler angehörten. Die Altersstufen bis zum 12., 13. Jahre haben weniger darunter gelitten; denn die Kindheit empfindet es als natürlich, daß die Älteren ihr als Richtung- und Inhaltgebende gegenüberstehen; sie lehnt sich wohl oft genug gegen einzelne Handlungen und Urteile des Lehrers auf, weiß aber noch nichts von der prinzipiellen Oppositionsstellung gegen die schulmeistern che Bevormundimg. Ganz anders bei den älteren Schülern. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, daß 80 ",o unserer höheren Schüler in den schönsten Jahren ihrer Jugend von aus- gesprochenem Schulüberdruß erfüllt waren, daß sie lediglich um der zu erlangenden Berechtigung willen gleichgültige Stoffe nach freudlosen Methoden über sich ergehen ließen und daß sie einen ständigen Geheim- krieg gegen diejenigen führten, die ihre älteren Freunde und Führer hätten sein sollen. Dann wieder hatten sich in vielen Internaten wie Waisenhäusern.Fürsorgeanstaltenusw.unerfreulicheZustände entwickelt: die Nummer, die Maschinerie, die schematische Verordnung regierte; Handlungen und Unterlassungen der Zöglinge auch solche, die sich auf das persönliche Innenleben (Religion!) erstreckten waren bis ins Einzelnste vorgeschrieben; die Gelegenheit zur freien Betätigung indivi- dueller Interessen, zur Einsamkeit, zum Gedankenaustausch mit Gleich- gesinnten konnte oft genug nur auf Schleichwegen gesucht werden. Jene die höheren Schulen brauchen etwas vom Geiste der „Freien Schulgememde" nach dem Beispiel von Wickersdorf; diese die dis- ziplinaren Anstalten etwas vom Geist der amerikanischen Junior- RepubUk, die eine Fürsorgeanstalt mit sehr weitgehender Selbstregierung der Insassen ist. I^türlich soll die obige Schilderung nicht allgemein- gültig sein. Ich weiß w^ohl, daß es eine Reihe von Schul- und Erziehungs- anstalten gibt, in die durch neuzeithch gerichtete, warmherzige Pädagogen ein anderer Geist und durch freiere Organisation unter Beteihgung der Zöglinge eine feinfühligere Berücksichtigung der Jugend eingeführt worden ist. Aber diese Vorzüge dürfen eben in Zukunft nicht mehr vereinzelte, dem Zufall überlassene Erscheinungen bleiben; sie sollen Allgemeingut

8 William Stern

unseres Schullebens werden, und dies kann nur geschehen, wenn die oben geforderte durchgängige Umgestaltung der Schulgemeinschaft, zu- gleich aber auch der durchgreifende Gesinnungswechsel bei Lehrerschaft und Schülerschaft zur Wirklichkeit wird. Doch auch andere Anstalten: die Volksschulen (zum mindesten in ihren Oberklassen), die Fachschulen, Fortbildungsschulen, Lehrerseminare müssen von diesem Streben nach Verjüngung ergriffen werden. Die hier aufzustellenden Forderungen sind auf zwei Formeln zu bringen :

1. Um Lehrerschaft und Schülerschaft muß sich ein wirkliches Band der Gemeinsamkeit schlingen, der gemeinsamen Interessen am Schulleben und an den geistigen Dingen überhaupt, des gemeinsamen Suchens nach dem besten Weg, auf dem jugendüches Streben und Können entwickelt zu werden vermag.

2. Die Schülerschaft muß von sich aus aktiv teilnehmen können an der Gestaltung der Schultätigkeit.

Jene Forderung führt zur Idee der Schulgemeinde ", diese zu der des „Schülerrates", der „Schülervertretung", des „Schülerausschusses", oder wie man es nennen mag. Bisher ist in der Öffentlichkeit und wohl auch bei den Schülern selbst zu einseitig von der zweiten Idee die Rede, während vor allem die erste anzustreben ist. Die unglückliche Anwen- dung des Modeworts „Rat" auf die Schüler führt zu dem Gedanken, daß es sich vor allem um eine Interessen- Vertretung und Kampfgemein- schaft der Schülerschaft handle als solle jener geheime Guerilla-Krieg der Schüler gegen die Lehrer, von dem oben die Rede war, nun in ein offenes Sichmessen anerkannter und gleichberechtigter Parteien verwandelt werden. Das wäre freilich für keinen Teil eine erfreuliche Entwicklung; würde durch sie doch die zu überwindende Anschauung, als ob die Lehrer die gebornen Feinde der Jugend wären, geradezu legalisiert und verewigt. Ganz anders, wenn man die Idee der Schulgemeinde in den Vordergrund stellt, die innere Zusammengehörigkeit, den freien Ge- dankenaustausch, die gemeinsame Interessengestaltung aller an der Schule beteiligten Menschen. Im Rahmen dieser Schulgemeinde wird dann natürlich auch die Schülerschaft eine selbständige Tätigkeit aus- zuüben haben, ihre Vertretung wählen, ihre Wünsche formulieren, eine offene Aussprache über gemeinsame Schulangelegenheiten herbeiführen, die Selbstverwaltung vieler einzelner Veranstaltungen in die Hand nehmen; aber dies dürfen doch immer nur Teilaktionen sein in dem umfassenden Organismus des Schulstaates, zu dem alle Beteiligten gehören.

Die Schaffung der Schulgemeinde und insbesondere ihre Durchdringung mit wirklicher Gemeinschaftsgesinnung wird natürlich noch auf manche Schwierigkeiten stoßen. Aber Schwierigkeiten sind da, um überwunden zu werden ; man muß ihnen nur klar ins Auge sehen. Da ist zunächst hervorzuheben, daß das Vorbild der freien Schulgemeinde Wickersdorf nicht einfach auf unser gesamtes Schuhvesen übertragen werden kann. Denn jene Anstalt ist ein Internat, in welchem ein ununterbrochenes und durch keine anderen Einflüsse gekreuztes Zusammen- und Ineinander- leben von Lehrern und Schülern möglich ist. In der gewöhnlichen Schule aber bringt der Schüler nur einen Teil seines Tages zu; mit einem andern, großen und wichtigen Teil seines Ich gehört er anderen

Verjüngung 9

und zwar sehr verschiedenen Lebenskreisen an; dasselbe gilt von jedem Lehrer. Deshalb wird hier nicht jene Restlosigkeit des Gemein- schaftsgeistes zu erwarten sein, und man muß sich mit Bescheidenerem zufrieden geben - was immerhin noch sehr viel mehr sein kann, als was heute in der Schule an innerer Zusammengehörigkeit der Be- teiligten zu finden ist. Ja, man wird jene in Internaten möghche Rest- losigkeit des Lehrer-Schüler-Gemeirischaftsgeistes gar nicht wünschen w^ollen; denn sie setzt die Ausschaltung der Familie voraus. Und es ist hoffenthch nicht nur ein Zeichen bereits eingetretener Überalterung, wenn man in Familie und Familienleben Werte sieht, die erhalten, ja wiederum gesteigert und ebenfalls einem Verjüngungsprozeß unter- zogen werden sollten. Somit wird die künftige Schulgemeinde einer- seits den Schülern genug Freiheit lassen müssen, um ihre außerschuli- schen (Familien- und anderen) Interessen zu pflegen; und sie wird andererseits die Eltern nicht bei Seite stehen lassen dürfen, sondern als ^größere Schulgemeinde* auch ihnen Sitz und Stimme, das Recht des Einblicks und der Mitwirkung bei gewissen Schulangelegenheiten von all- gemeiner Wichtigkeit gewähren.

Zunächst müssen natürlich organisatorische Maßnahmen getroffen werden, um dieser Neubelebung des Schulorganismus die Wege zu ebnen; wir dürfen aber nicht vergessen, daß Schulgemeinde und Schülerver- ti'etung an sich rein äußerliche Einrichtungen sind, die alles oder gar nichts bedeuten können, je nach dem Geist und der Gesinnung, die darin zum Ausdruck kommen. Die Eltern müssen lernen, daß die Schule für sie nicht länger ein mit chinesischen Mauern umschlossenes Sperr- gebiet sein darf, dem sie gleichgültig oder kritisch gegenüberstehen, sondern daß diese Schule ihrer Kinder Jugendbegleitung und Lebens- vorbereitung unddamitihrer (der Eltern) ureigenste Herzenssache sein soll. Die Schülerschaft soll Heimatsgefühl in der Schule gewinnen, soll zu dem Bevvußtsein kommen, daß dort die jugendlichen Ki-äfte nicht gehemmt und mißachtet, sondern belebt und gefördert werden, soll in den Lehrern gereifte und erfahrene Freunde sehen, die nach bestem Wollen und Können an dem großen gemeinschaftlichen Werke führend mitarbeiten. Besonders hohe und fieue Anforderungen stellt die verjüngte Schul- gesinnung an die Lehrerschaft. Viele werden meinen, der Lehrer ver- here nun seinen ganzen Einfluß, denn er habe ja in der Schule nichts mehr zu sagen. Gewiß, er hat weniger zu „sagen'' im Sinne von autokratischem Anordnen. Aber er wird viel, ja weit mehr als früher zu „sagen" haben im Sinne von Beraten, Anregen, suggestivem Beeinflussen und freund- schaftlichem Verkehren. Die Pädagogik soll nicht etwa aufhören; aber sie wird aus der groben Form der Stoff- und Vorschriftübermittlung mehr und mehr in die feinere intimere Form der persönlichen Einwirloing überführt, die der Pädagoge durch sein reicheres Wissen und Können, sein reiferes (aber nicht diktatorisches) Urteil, seine Einfühlungsfähig- keit in die Jugendseele, seine eindrucksvolle und liebenswerte Wesen- heit ausübt. Freilich : eindrucksvolle und liebenswerte, erziehungsfreudige und innerlich jugendfrische Persönlichkeit muß der Lehrer sein, um so zu wirken; und so .wird hier das Problem der erzieherischen Berufseignung brennend. Hoffentlich wird die neue Schule auf

10 William Stern

viele zum Lehrberuf innerlich „berufene" Menschen die Anziehungs- kraft ausüben, die sie früher nicht besaß, und alle fern halten, die keine Erziehungsmission und keinen Herzenszug zur Jugend in sich fühlen mögen sie auch noch so gelehrt oder zum drillmäßigen Unterricht be- fähigt sein.

Zu allen bisher genannten Formen der Verjüngung tritt nun noch eine ganz andersartige: Die soziale Schichtenverjüngung. Die führenden Schichten wurden bisher in weitem Ausmaß gebildet durch „alte" oder doch „ältere" Familien. Das gilt zunächst im eigentlichen Sinne vom Adel, dem bürgerlichen Patriziat, dem alteingesessenen Bauernstande. War auch die Blütezeit dieser genealogischen Alters- wirkung seit langem vorüber, so waren doch genug bedeutende Reste übrig geblieben ; es sei an das bekannte Überwiegen des Adels in Di- plomatie, höherer Verwaltung und höherem Offizierskorps erinnert. Daneben hatte sich im letzten Jahrhundert die soziale Vorherrschaft derjenigen Familien mehr und mehr durchgesetzt, die ein gewisses kulturelles Alter besaßen. Dies brauchte garnicht sehr hoch zu sein; entscheidend war, ob Kulturniveau, Bildungsstand und Finanzlage es der älteren Generation nahe legte und ermöglichte, ihren Kindern die höhere Schulbildung zu gewähren, die vermittels des Berechtigungswesens den Weg zu allen führenden Berufen und Stellungen öffnete. Solche „ge- hobenen" Familien stellten schon eine Lockerung der rein familiären Altersherrschaft dar; denn sie ergänzten sich fortwährend durch Auf- stieg Tüchtiger aus den breiten Schichten. Nur ging dieser Aufstieg langsam und ungeregelt vor sich; Zufall und Gunstwesen, Freistellen und Stipendien gaben den Ausschlag, welche Kinder der einfachen Kreise in die höheren Schulen und damit in die oberen Schichten gerieten.

Die Umwälzung will nun grundsätzlich und endgültig die Bevorzugung der älteren Familien beseitigen. Die Einheitsschule kommt und mit ihr die allgemeine Zugänglichkeit aller Berufe für alle Geeigneten. „Das rechte Kind in die rechte Schule, und der rechte Mann an die rechte Stelle" der „Rechte" bedeutet aber hier nicht der durch Ahnen- kette, Geldbeutel oder Bildungshöhe Bevorzugte,» sondern der durch seine individuelle Tüchtigkeit und Leistungsmöglichkeit Berufene. Das führt zum ungehinderten Eintritt „junger" d. h. bisher kulturärmerer Familien in diejenigen Berufsgruppen, die an der Führung der Volks- und Staats- geschicke vorwiegend beteiligt sind.

Diese soziale Verjüngungs Wirkung wird sehr bedeutend sein. Die neue Schulorganisation wird als geistige Schatzhebung wirken ; sie wird Anlagen pflegen und ausbilden, die früher unbemerkt geblieben oder jedenfalls nicht zur völligen Entfaltung gebracht worden waren ; frische, unverbrauchte Energien werden neu dem Volkskörper und Volksgeist' zugeführt werden. Und vor allem: geistige Fähigkeiten, die sich bisher wegen der ihnen gesetzten Hemmungen tiur verneinend und auflösend betätigen konnten, werden nun der positiven Mitarbeit an Staat und Gesellschaft gewonnen. Natürlich wird auch dieser soziale Verschie- bungsprozeß die uns bekannten Merkmale der „JugendHchkeit" auf- weisen: in die positive Ausgestaltung des Lebens wird ein gewisser

Verjüngung 11

Radikalismus einziehen; so manclie feineren, unwägbaren Kulturwerte, die dem geschichtlich Gewordenen und organisch Gewachsenen an- hangen, werden bei den aus kulturärmeren Schichten stammenden führenden Persönlichkeiten nicht auf das Verständnis und die Einfüh- lung rechnen können, die man ihnen wünschen möchte.

Was aber wird aus den kulturälteren Schichten? Soll ihr Einfluß künftig ganz ausgeschaltet werden? Keineswegs. Wie im Indivi- duellen, so bedeutet auch im Sozialen die Verjüngung nicht einfache Ausraerzung der Alterseinflüsse, sondern deren Umgestaltung.

Das genealogische Alter an sich freilich, also der bloße Umstand, daß eine Familie bisher schon zu den oberen Schichten gehört hatte, gibt keine Anrechte mehr auf besondere Beschulung und Berufszulassung. Für die öffentliche Schulpolitik dürfen nur noch die individuellen Fähig- keiten des Geistes und Charakters, und die, auf Grund dieser Fähig- keiten zu erwartende, künftige Tüchtigkeit zu wertvollen Leistungen bestimmend sein. Alte Familienkultur kann hieran Anteil haben, sofern sie sich als Fähigkeit und Tüchtigkeit in einzelnen Nachkommen be- kundet. In doppelter Weise kann die Zugehörigkeit zu einer solchen Familie die Befähigung des Kindes beeinflussen: von innen her durch Vererbung wertvoller geistiger Eigenschaften eben jener Eigen- schaften, die früher der Familie den Aufstieg zur sozialen Höhe und das Verbleiben auf ihr ermöglicht hatten ; von außen her durch die besondere geistige Atmosphäre des Elternhauses, die das Kind vom ersten Lebensaugenblick an umgibt. Sind diese Bedingungen im Kinde lebendig, so wird es den Wettbewerb mit den begabten Kindern aus der Masse des Volkes gut bestehen und mit diesen hinaufsteigen zu den Höhen der Bildung und der Berufsstellung ; und ich zweifle keinen Augenblick daran, daß bei dieser rechtmäßigen, durch und durch demo- kratischen Konkurrenz der verhältnismäßige Anteil der Kinder aus bis- her kulturtragenden Familien ein beträchtlicher bleiben wird. Es sind dann eben diejenigen „alten" Familien, die noch ,jugendhch" genug sind, um die Altersschätze geistigen Erbgutes in junge frische Gegen- wartskraft umzusetzen. Und es wird ein Glück sein für den Kultur- fortschritt, daß dieses lebenskräftige Geisteserbgut, welches die Kon- tinuität mit der Vergangenheit wahrt, das unhistorische Neuerungs- streben der neu in die Kultur Eintretenden durchsetzt und abmildert. Ja noch mehr; auch bereichert wird der Kulturfortschritt durch dieses Nebeneinanderwirken von fähigen Individuen verschiedener Schichten ; denn die Tüchtigkeit der Kinder älterer Famihen wird zum Teil auch ein qualitativ anderes Gepräge tragen als die der neu Emporgestiegenen; Züge, die diesen fehlen, werden dort mehr ausgeprägt sein und um- gekehrt. Die künftige Auslese der Tüchtigen wird eine Beweglichkeit, Feinfühligkeit und Vielseitigkeit besitzen müssen, die alle Arten der Fähigkeit zu ihrem Rechte kommen läßt, nicht etwa nur die, die dieser oder jener sozialen Schicht besonders eigen sind. Hier wird die Psycho- logie der Begabungsauslese zugleich zu einer sozialpolitischen Ange- legenheit von höchster Wichtigkeit werden.

Jene alten Familien freilich, bei denen das Alter sich nicht mehr in

12 William Stern, Verjüngung

gegenwärtige Tüchtigkeit umsetzt, gehen des Anspruchs verlustig, eine besondere Rolle im öffentlichen Leben zu spielen; sie sind überaltert und müssen der genealogischen Verjüngung Platz machen.

Politik, Schulwesen und Volksschichtung sind die Gebiete, auf denen das Prinzip der Verjüngung schon jetzt seine Wirksamkeit zu entfalten beginnt; sie sind aber nicht die einzigen Lebenssphären, die ihm unterliegen. Vielmehr wird die Verjüngung mit der Notwendigkeit eines historischen Grundgesetzes alle Daseinsformen unseres Volkes durchsetzen; und es wäre die Aufgabe nicht eines einzigen Aufsatzes, sondern einer ganzen Reihe von Betrachtungen, dieser Allseitigkeit des Prinzips gerecht zu werden. Um nur noch einige besonders wichtige Teilgebiete herauszugreifen, so seien genannt: die Verjüngung des inneren Familienlebens, die Verjüngung des Hochschulwesens und was wir besonders nötig haben eine Verjüngung und geistige Wiedergeburt des nationalen Gedankens!

Und so darf wohl der eingangs aufgestellte Satz auf Zustimmung rechnen, daß die Verjüngung für die kommende neue Lebensphase unseres Volkes von gleicher Bedeutung ist, wie die Demokratisierung und Sozialisierung. Sie bildet aber zugleich einen besonders starken Hoffnungsanker in der Not der Zeit. Bleibt das Auge auf die Gegen- wart und unmittelbare Zukunft geheftet, so blickt es in ein trostloses Grau; und man könnte verzagen und verzweifeln wenn nicht zu- gleich das Streben nach Verjüngung uns in eine neue lichtere Zukunft wiese. Vertrauen wir dem Instinkt der Jugend, die gerade jetzt, gerade in der furchtbarsten Zeit der deutschen Geschichte, mit neuem Mut und neuen Idealen einen neuen Weg beginnt; hoffen wir auf sie, und hoffen wir mit ihr!

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter.

Vorgenommen in einem bayrischen Lehrerseminar. Von Michael Kesselring.

L Über die Methode.

Die bisherige Ausfragemethode bei der Erforschung von Idealen der Schüler wurde auch in dieser Untersuchung verwendet. In den ersten Unter- suchungen wurde die Frage vorgelegt: „Wem möchtest du ähnlich werden? Warum?" Später zeigte sich eine erw^eiterte Form, indem die Schüler kurz auf die möglichen Quellen ihrer Ideale hingewiesen wurden und das kurze kalte Warum? eine sprachliche Milderung erfuhr. So fragte Goddardl): „Welcher Person unter denen, die du gesehen oder von denen du etwas gehört oder gelesen hast, möchtest du am liebsten ähnlich sein? Warum?" Diese Formulierung legte auch Richter 2) seiner Befragung zugiunde, während

») Z. f. exper. Pädagogik, Bd. V, S. 156«. Goddard, Ideale der Kinder.

*) Z. f. pädag. Psychologie, Bd. XIII, S. 252 ff. Richter, Ideale von Volksschulkindem.

Michael Kesselring, Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 13

Reymert I*) mit geringer Umstellung dieselbe Aufgabe stellte und damit auch für Elias -) die Frage festlegte. Für die norwegischen Lehrerschulen wählte Reymert 11 3) die kürzere Aufgabe: „Welcher Person möchtest du am liebsten ähnUch sein und warum?" Meist wurde die Frage an die Tafel geschrieben, welche Maßnahme sich auch dringend empfiehlt, wenn verschie- dene Experimentatoren die Befragung ausführen.

In der vorliegenden Untersuchung nahm nur ein Experimentator an bay- rischen Seminaristen (Rheinpfalz) die Umfrage vor, entschloß sich für die mündliche Vorgabe der Frage und griff zu folgender Form : „Sie haben wohl schon viele Personen gesehen und kennen gelernt oder beobachtet. Von anderen Persönlichkeiten haben Sie schon gelesen oder gehört. Welcher Person unter diesen möchten Sie am liebsten ähnhch sein und w^arum? Oder anders ausgedrückt: Welchem idealen Vorbild strebe ich nach und warum wählte ich dieses?" Im mündhchen Verkehr wirkt diese Frage- gestaltung erschöpfender und anregender. Von der allgemeinen Aufgabe wird zu einem persönlichen Bekenntnis hinübergeführt. Allerdings liegt ein Gedankensprung von der „Einzelperson" zum „idealen Vorbild" vor, der aber durch Voruntersuchungen nahegelegt wurde, um solchen Schülern ge- recht zu werden, die sich ein freies selbstgewähltes Idealbild geschaffen haben. Im Laufe der verschiedenen Jahre konnte die Erfahrung gemacht werden, daß die letzte allgemeine Fragestellung in der Ich-Form (besonders bei schriftlicher Vorgabe) vollständig genügen dürfte. Bei Seminaristen der letzten Klasse kann der Hinweis ^uf die Quellen der Ideale eine kritische Stellungnahme hervorrufen und von der Aufgabe ablenken. So führte einer kurz aus:

„Von jeder Person, die mir entgegentritt und die bewundernswerte Charaktereigenschaften besitzt, wird mein Idealbild immer in irgendeiner Weise ergänzt und vervollständigt. Es kommt mir vor, daß ich immer in der Person, die mir gerade in der Gegenwart Achtung ihrer Charaktereigen- schaften wegen abnötigt, mein Ideal sehe. Aber bald tritt diese Person wieder in den Hintergrund und zwar stets dann, wenn ich unbewußt ihre bes. Charaktereigenschaften auf mein Ideal übertrage, d. h. wenn ich von der Erreichbarkeit einer derartigen Ausbildung überzeugt bin. Dieses Ideal- bild hat nicht nm- geistige Seiten von Personen meines Umganges und der Geschichte, sondern bezieht sich auch auf die körperliche Ausbildung, wie Gang, Gesichtsausdruck ..." Ein anderer Seminarist schrieb: „Keine Person ist mir bis jetzt entgegengetreten, die für mich hätte Ideal werden können. Vielmehr hat meine Phantasie vollendet ausgebildete Charakterseiten solcher Gestalten, die tiefere Eindrücke in meiner Seele hinterließen, zusammen- gefügt zu einem Idealbild. Besonders Gestalten der Literatur lassen oft einzelne Seiten des Vorbildes schärfer hervortreten. Doch sind bei mir immer noch gewisse Schwankungen vorhanden . . ."

Die Frage nach negativen Idealen scheint uns nicht berechtigt zu sein. Die positive oder negative Stellungnahme der Schüler zu den Unter-

' ) Z. f. pädag. Psychologie. Bd. XVII, S. 226 ff. Reymert, Zur Frage nach den Idealen des Kindes (Rey. I).

^) Z. f. pädag. Psychologie, Bd. XVIII, S. 464 ff. Elias, Ideale jüdischer Kinder.

3) Z. f. pädag. Psychologie, Bd. XIX, S. 10 ff. Reymert, Über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter (Rey. II).

14 Michael Kesselring

richtsfächern erkunden zu wollen, ist ein zu rechtfertigendes Unternehmen. Anders liegt die Sache bei der Frage nach idealen Vorbildern, wo entweder eine positive Stellung oder überhaupt keine in Frage kommen kann, wenigstens im Jünglingsalter. Auch sträubt sich die Überzeugung von dem Werte der raodestia oder humanitas i. S. Spinozas dagegen: in der Erziehung müsse man sich hüten, von den Lastern der Menschen zu erzählen und solle von der menschlichen Schwäche nur wenig sprechen, jedoch ausführlich von der menschlichen Tugend oder Stärke und dem Wege ihrer Erreichung. Leider sind uns die Ergebnisse Goddards^ nicht zugänglich; aber es ist be- zeichnend, daß Elias 2) das Ergebnis seiner Frage nach negativen Idealen nicht mitteilt.

Als Ort, wo unsere Befragung ausgeführt wurde, kam nur die Schule in Betracht. Nachdem kurz auf den Ernst der Unternehmung hingewiesen worden war, dadurch daß von ähnlichen Umfragen, die im Dienste päda- gogisch-psychologischer Forschung stehen, gesprochen wurde, begann sofort die Bearbeitung der Aufgabe. Während für jüngere Schüler zur Bewahrung der Unbefangenheit und zur Erzielung einer wirklich inneren, unreflektierten Stellungnahme in der Form eines freien Aufsatzes die beste Einkleidung zu erblicken ist, dürfte bei Sem. unser Verfahren gerechtfertigt sein, weil sie dadurch zugleich zur Mitarbeit an der Lösung eines pädagogischen Problems herangezogen werden, wozu sie durch den Psychologieunterricht des 1. Seminar- Jahres teilweise befähigt sein können. Für die Sem. der letzten Klasse im Alter von 19 20 Jahren kann sogar die häusliche Bearbeitung versucht werden. Daß dieser Weg gangbar sein kann, beweisen die Versuche Kammeis 3) mit Abiturienten einer Wiener Staatsoberrealschule über die Beliebtheit der Unterrichtsfächer. In einer Besprechung mit Sem. der 2. Kl. im 4. Kriegs- jahre nach Vornahme des Experiments trat der Wunsch nach Bearbeitung zu Hause bei der Mehrheit hervor.

Nach der Stellung der Aufgabe müssen natürlich Erläuterungen oder Beeinflussungen vollständig vermieden und etwaige Fragen nur mit dem Hinweis beantwortet werden, daß jeder sich selbst folgen dürfe und müsse. Den Versuchen des Besprechens oder gar Abschreibens brauchte bei den Sem. kaum begegnet zu werden. Mit Eifer und ernstlichem Bemühen machte sich die überwiegende Mehrzahl der Schüler an die Beantwortung, wenn auch einige wenige erst nach zweifelndem Lächeln an die Niederschrift gingen und mancher sich auch zweifellos ernster und tiefer gab als seinen wirklichen seelischen Neigungen und Charakteranlagen entsprechen mag. Im ganzen mußte der Ernst der Sem. wohltuend berühren, und der Ver- fasser muß gestehen, daß er manche abgegebene Antwort mit innerer Er- griffenheit gelesen hat. Auch Reymert^) verwirft jecie Erläuterung; aber es ist doch bedenklich, wenn er nach der Fragestellung sofort beifügt, daß Gott und" Jesus außer Betracht zu lassen seien, weil damit ein besonders gearteter Gedankenablauf erzeugt wird: entweder andere Gestalten aus dem religiösen Gebiet zu wählen oder sie ganz zu übersehen. Richter^) will die Befragung auf Jugendliche von 14 17 Jahren (Fortbildungsschüler)

*) Goddard, Negation Ideals in Studies in Education, Vol. II, S. 392.

') a. a. O. 3) pharus IV, S. 297 ff.

*) Rey. II. a. a. 0. S. 11. '*) a. a. 0. S. 252.

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 16

nicht ausdehnen, weil „von Seiten der Lehrer der Ernst dieser Schüler bei Beantwortung der Frage stark in Zweifel gezogen wurde". Dieser Auf- fassung scheint sich auch Rey. 11. ^) anzuschließen. In der Form eines Auf- satzes als Klassenarbeit läßt sich aber wohl Material, das der Verarbeitung entgegengeführt werden kann, gewinnen. So machte die Beantwortung unserer Frage durch Präparanden (14 17 Jahre) keine Bedenken gegen den Ernst ihrer Auskünfte geltend, wie auch eine Befragung bei Fortbildungs- schülern auf dem Lande und einer Mädchenfortbildungsklasse in einer Stadt sich gut durchführen ließ.

Bezüglich des Zeitpunktes für die Vornahme des Experiments ist wohl der Anfang einer Unterrichtsstunde der geeignetste. Wenn die erste Unter- richtsstunde vermieden werden kann, so ist dies wegen der Bewußtseinslage der Schüler am Tages- und Unterrichtsbeginn unbedingt zu tun. Mehr als 20 Minuten konnten wir für die Beantwortung nicht Zeit geben, was sich auch in der 1. Klasse als ausreichend erwies; während in der 2. Klasse diese Zeitspanne wiederholt zu knapp war, da manche Schüler erst nach reiflicher Überlegung ihre Gedanken niederschrieben. Einfluß auf die Ergebnisse ge- winnt natürlich auch das Datum des Versuchstages im Laufe des Schuljahres; das letzte Drittel eines solchen dürfte ungefähr den richtigen Zeitpunkt um- grenzen, da sich dann der Erfolg der Neuarbeit nach den Lehrplänen der betr. Klassen geltend machen kann, ein Umstand, der besonders für die 1. Seminarklasse größere Bedeutung hat. (Bemerkt sei noch, daß zur Zeit der Durchführung dieser Untersuchung das bajTische Lehrei-seminar noch zwei Jahresklassen umfaßte (jetzt drei), denen drei Jahre Präparandenschule vorausgehen. Das Lebensalter der Schüler bewegt sich zwischen I6V2 bis 20 Jahren. In anderem Zusammenhange Untersuchung über die Beliebt- heit der Schulfächer ist der frühere und jetzige Lehrplan der bayrischen Lehrerbildungsanstalten mitgeteilt-).

Alle bisherigen Untersuchungen wie auch diese erblicken eine wichtige Voraussetzung zum Gelingen des Experiments in der unerwarteten, unvor- bereiteten Befragung. Man glaubt dadurch um so echtere, unverfälschtere, der Wahrheit entsprechende Ant\s^orten zu erhalten. Allerdings können da- bei manche zeithch und örthch bedingten Umstände die Stellungnahme der Schüler beeinflussen, denen der Bearbeiter solcher Umfragen bei der Ver- öffentlichung immer einige Aufmerksamkeit schenken muß. (Siehe w. unten !)

In Kürze wollen wir die innere Berechtigung und Möglichkeit der Idealforschungen etwas prüfen. Viele Sem. erklärten nach dem Experiment, die Frage sei zu plötzlich an sie herangetreten, sie seien über- rumpelt worden, manche zu verblüfft gewesen, so daß die Ergebnisse recht zufälliger Natur sein müßten. Solche Gründe führen auch interessierte Er- wachsene gegen unsere Versuche ins Feld, und selbst die betr. Experimen- tatoren werden sich nicht dagegen verschließen können. Um so größer ist die Überraschung, wenn bei Sichtung des Materials sich typische Ergebnisse herausstellen, welche die Vorwürfe gegen diese Methode nicht nur mildern, sondern ganz zum Schweigen bringen müssen. Wenn äußere ZufälMgkeiten, Unüberlegtheit, Laune und Willkür bei der Beantwortung eine so große

») a. a. 0. S. 11.

*) Deutsche Psychologie Bd. I, S. 319.

16 Michael Kesselring

Rolle spielten, wie wären eindeutige klare Aufstellungen in den Einzelunter- suchungen überhaupt möglich, und wie könnten sich weitgehende Überein- stimmungen bei verschiedenen Schulen, Klassen, Beobachtern ergeben?

Bei psychologischer Vertiefung und Besinnung in den vorliegenden Frage- komplex stoßen wir auf die elementare Gegebenheit der Wertgefühlsdis- positionen für solche Bekenntnisse und Erkenntnisse. Die Wahl eines Ideals im Momente des Versuchs geht zurück auf frühere Bekanntschaft und Be- rührung mit einer idealen Person (einer konkreten oder abstrakten), wobei das Erlebnis lebhaft betonte Gefühls- und Gemütsbewegungen ausgelöst haben dürfte und zugleich eine Wertung in bezug auf das eigene Subjekt und eine Festsetzung im Gedankenkreis des eigenen Ich erfolgte. Für eine spätere Stellungnahme zu einem Ideal, zu einem Bekenntnis über ein Vor- bild sind also immer Dispositionen vorhanden, die den Inhalt des Urteils ergeben, der durch die Wertgefühle und das gegenständliche Interesse bedingt ist. Nach einem Unterrichtsgespräch in der 2. Klasse im 2. Versuchsjahr ergab sich auch etwa folgendes: Ideale sind oft nicht ganz klar im Bewußt- sein, jedoch liegen der gefühlsmäßige Hintergrund und die Eigenschaften derselben schon fest. Gewöhnlich sind Idealbilder von selbst in uns ge- wachsen und brauchen nur klar ins Bewußtsein gerückt zu werden. Geradezu unmöghch ist es, im Moment der Fragestellung und bei der beschränkten Zeit ein Ideal sich plötzlich zu bilden oder zu schaffen. Wenn viele Züge nicht in uns schon gegeben sind, kann auch keine Stellungnahme erfolgen. Daß Ideale vom 18. Lebensjahre noch wesentlich wechseln könnten, wurde vielfach bestritten. Wir waren schließlich überzeugt von der Berechtigung unseres Experiments, ebenso von der Gewinnung objektiv richtiger Ergeb- nisse unter Berücksichtigung der Ausschaltung mancher Fehlerquellen wie besonderer Zustände, Anonymität. Die Schüler betonten auch, daß die Ideale oft besonders solche Züge enthalten, die dem betreffenden Jugend- lichen mangeln und deren Besitz erstrebt wird. Einige hoben auch hervor, daß genannte Persönlichkeiten z. B. aus Geschichte und Dichtung mehr als Beispiel zu dem im Innern selbst geformten Ideal zu betrachten seien. Über- haupt mußte uns auffallen, daß die Wahl von selbstgebildeten Idealen mit einigem Stolz genannt wurde und die Mehrzahl es als höchste Stufe für die möglichen Arten der Stellungnahme empfand, ein allgemeines, freies Menschen- ideal sich gestaltet zu haben. Solche Vorbilder shid entweder in allgemeineren Umrissen im Sinne eines Humanitätsideals gehalten oder ti'eten geschlossener in der Form des Berufsideales auf; dabei tragen beide Formen den Charakter eines „Strebe-Ideals" an sich. Unsere Untersuchung ist den Strebe-Idealen noch nicht eingehend nachgegangen, doch sind die meisten von ihnen unter der Klasse der Berufs- und der freien Ideale zu finden. Da einige der Sem. innere Unzufriedenheit mit dem erwählten Beruf empfinden, stellten sich auch ein paar reine Wunschideale ein, die sich nicht rubrizieren ließen.

Einige Schülerzeugnisse:

1. Wie Ideale in uns entstehen: „Ein direkt persönliches Ideal habe ich nicht. Das Ideal, das mir vorschwebt, hat sich in mir unwillkürlich (vom Sem. mehrfach unterstrichen) gebildet, d. h. aus allem bisher Gelesenen, Gehörten und Geschehenen hat sich in mir das zum Ideale

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 17

festgesetzt, was mir am besten gefiel, mich am meisten anzog, so Hauptzüge aus konkreten Persönlichkeiten wie Bismarck, Jesus, Goethe." 19 J.

2. Belege für Strebe-Ideale:

a) „Ein persönliches Vorbild habe ich nicht. Aber ein Idealbild, dem ich nachstrebe, schwebt mir deutlich vor. Ich möchte sittlich frei werden, weil ich darin das Hauptziel des Lebens erbhcke. Im Ver- gleich zu früheren Jahren kann ich wohl auch schon einen Fort- schritt bemerken." 18^2 J.

b) „Der verstorbene Lehrer N. N., weil ein gerechter und ehrlicher Mann, wegen seines sittlichen Ernstes, wegen seines unermüdlichen Fleißes und seiner Ausdauer, wegen seiner unermüdüchen Geduld, wegen der offenen Geradheit in seinem ganzen Wesen. Vielleicht könnte ich mir ein noch besseres Ideal vor Augen stellen ; aber mir genügt schon, wenn ich auch einmal so geehrt, geachfet, geliebt und ge- schätzt werden könnte von Schülern, Lehrern und Fremden," 19 J.

c) (Aus dem vierten Kriegsjahre) : „Als mein Vorbild gelte die Person Hindenburgs. Wie dieser durch seinen starken Willen und durch seine Charakterstärke alles vollbringt, was er beginnt, so will auch ich mich bemühen, meinen Willen zu stählen, um mein Ziel als Lehrer zu erreichen.'' 17 "2 J.

d) (Strebe- und Berufsideal zugleich): „Der Lehrer N. N., weil er ein solider, einfacher Mensch ist und daneben ein großes Wissen besaß. Danach strebe ich auch am meisten : möglichst viel zu lernen. Neben der Bildung eines guten Charakters ist mein einziges Trachten in den Spuren dieses Herrn zu wandeln,'' 18 J.

Die Frage, ob der Jugendliche über Ideale verfügt, braucht wohl keine längere Erörterung zu finden. Daß sie vorhanden sind, ist nicht nur eine feste Tatsache für Dichter und Künder des Menschenherzens, sondern auch für Durchschnitts-Erwachsene, die wohl über frühere phantastische Ideale lächeln können, aber dabei doch irgendeinem innig gehegten Ziele nachstreben, ja nachstreben müssen, wie es Ibsens „Wildente" er- schütternd zeigt ist noch mehr eine Selbstverständlichkeit für die befragten Schüler, von denen nur einzelne trägere Naturen in sich keine Ideale ent- decken können.

Alle bisherigen Untersuchungen gewannen ihr Material in den betreffenden Orten, Schulgattungen und Klassen durch eine einmalige Erhebung. Des Verfassers Bestreben war es nun, in verschiedenen Schuljahren die gleichen Klassen zu befragen. In derselben Klassen- und Altersstufe unterzogen sich also jeweils andere Vpn. der Untersuchung, so daß zunächst Einflüsse zu- fälliger Art sich ausmerzen können, zugleich aber ein objektiveres Bild der Stellungnahme der Schüler sich ergeben muß. Es war uns möglich, in der 1, Klasse das Experiment in drei aufeinanderfolgenden Jahren, in der 2. Klasse in zwei folgenden Jahren vorzunehmen. Die praktische Erwägung, daß in höheren Schulen die Klassenfrequenzen geringer sind imd die Menge der gleichzeitig in einer Stadt oder Provinz zu erreichenden Stimmzettel gegen- über Volksschulenqueten eine kleine bedeutet, nötigt zu einer mehrmaUgen Durchführung des Experiments in jährlichen Abständen. Die Einbuße an

Zeitsclirill f. pädagog. Psychologie. 2

18 Michael Kesselring

Zuverlässigkeit der Ergebnisse aus dem Material von weniger Vpn. wird durch den höheren objektiven Wert der Aussagen Jugendlicher aus mehreren Jahren dann wieder wettgemacht.

Äußerst wertvoll wäre natürlich ein Einblick in die Entwickelung der Vpn. von einer Klasse zur andern und den Wechsel in der Wahl der Ideale, welchen Einblick wir uns leider schwer verschaffen können, da wir an der Forderung unbedingter Anonymität festhalten. Nur wenn die Schüler von der Wahrung der Anonymität vollständig überzeugt sind, geben sie rückhaltlos Auskunft, obwohl sie auch dann noch eine gewisse Scheu vor der Niederschrift zu überwinden haben. Manche schrecken zuerst zurück, Bekenntnisse aus ihrem persönlichsten Innenleben dem Papier anzuvertrauen, und gehen schließlich doch an die Beantwortung, weil sie diese ohne Namens- nennung abgeben können, wozu allerdings noch das Vertrauen zum Experi- mentator, daß kein Mißbrauch mit ihren Arbeiten getrieben werde, und die Überzeugtheit, daß« die Bekenntnisse mit einer gewissen Achtung behandelt werden, zu einer wahrhaften Antwort ergänzend hinzutreten müssen. Wenn Rey. in seiner 1. und wohl auch 2. Untersuchung außer dem Alter der Schüler noch den Vornamen und die Berufsstellung des Versorgers auf die Zettel schreiben ließ, so ist damit nur eine teilweise Anonymität ver- bürgt, und die Schüler werden nicht mit der gleichen Unbeengtheit wie im anderen Falle an die Beanhvortung gehen.

Die Methode der Berechnung der Versuchsergebnisse ist immer in gleicher Weise geübt worden : in Prozenten auf die Zahl der Vpn. So wurden dann nach einem Schema die Werte in einer Tabelle über die gewählten Persönlichkeiten und einer solchen über die Eigenschaften auf Grund der Motivierung festgelegt und der Behandlung untergelegt. Bezüglich der Ver- rechnung der Eigenschaften der Idealbilder kamen uns jedoch Bedenken und wir stellten neben das bisherige Verfahren der Beziehung auf die Zahl der Vpn. ein solches, bei dem die Verteilung der Charaktereigenschaften auf die Gesamtzahl der Nennungen von Einzelzügen prozentual berechnet wurde. Bei den Begründungen wurde nämlich selten nur eine Eigenschaft genannt, welche zur Wahl eines Vorbildes führte. Besonders die freien Menschen- ideale sowie die Berufsideale waren in viele Einzelzüge zerlegt, so daß die 'Heraushebung eines Hauptzuges nur schwierig und mit Willkür zu vollziehen gewesen wäre. Da von unseren 435 Vpn. 7,8 Proz. gaben keine Aus- kunft — 775 Nennungen von Gründen vorliegen, stellten wir neben die bisher aufgestellten Tabellen eine neue, wobei versucht wurde, beide Be- rechnungsmethoden einander gegenüber zu stellen und für eine Entscheidung über ihre Brauchbarkeit den Grund zu legen.

n. Die gewählten Vorbilder.

Um über den Inhalt der Ideale eine Übersicht zu gewinnen, schlug Goddard eine Gruppierung vor, welche die späteren deutschen und nordischen Untersuchungen beibehielten, vorzüglich wohl aus dem Grund, die Ergebnisse leichter in Vergleich bringen zu können. Doch hat jene Tabelle auch ihre innere Berechtigung, indem den Persönlichkeitsidealen aus dem persönlichen Bekannten- und Umgangskreis solche aus dem breiteren öffentlichen Leben gegenübergestellt werden, wozu dann noch die Gruppen

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 19

von Gestalten aus dem Gebiete der Religion und aus dem Bereiche der Dichtung und Sage treten. So ergeben sich vier Hauptgruppen für Persön- lichkeitsideale, welche \e nach der Schulart, dem Entwickelungsstandpunkt und Lebensalter der Vpn. verschiedene Unterabteilungen notwendig machen. Nach der ersten Sichtung des Materials aus unseren Versuchen stellte sich die Notwendigkeit einer fünften Gruppe heraus, welche neben die Persön- lichkeitsideale als ein allgemeingestaltetes Idealbild, als allgemeines Menschen- vorbild oder als „freies Ideal" tritt.

Die Gruppen des Bekanntenideals und der öffentlichen Persönlichkeiten verlangten zunächst wohl die Zweiteilung in Lebende und Tote, welche Grenzen jedoch schwer zu ziehen sind, besonders hinsichtlich der Bekannten- ideale. Bei dieser Gruppe mußten wir auf Grund unserer Antworten folgende Klassifikation eintreten lassen: Eltern Verv^^andte Bekannte Lehrer Freunde (Mitschüler). Bezüglich der öffentlichen Personen ließe sich leichter eine Teilung in große, ungekannte, verstorbene und bedeutende, un- gekannte, lebende Persönlichkeiten durchführen. Zur ersten Abteilung ge- hörten dann die großen Gestalten der Religionsgeschichte, der historisch- pohtischen und der Kulturgeschichte (Dichter, Künstler, Philosophen, Päda- gogen), zur zweiten markante Persönhchkeiten unserer Zeitepoche, die den Jugendlichen im Gemeindeverband (Land oder Stadt), in Provinz und Kreis, im engeren und weiteren Vaterland, aus dem internationalen Leben ent- gegentreten, aus Gesprächen, Berichten, Zeitungen und Zeitschriften bekannt werden, wie Fürsten, Forscher, Techniker, Erfinder, Dichter, Musiker. Aber auch diese Scheidung Ueß sich vorerst nicht reinlich genug durchführen; in unserm Schema sind für lebende Persönlichkeiten nur die Rubriken ^Fürsten" und „Techniker'* vorgesehen. In unserer Untersuchimg zerlegte sich die Gruppe der „öffentHchen Personen" folgendermaßen: Geschichte (eigenes und fremdes Land) Dichter (eigene und fremde) Fürsten Philo- sophen — Künstler Wissenschaft und Forschung Technik Erziehung (Pädagogen), Die bei uns als neu notwendig gewordene Gruppe der „freien Ideale" erfuhr noch keine genauere Klassifizierung, da noch ähnhche Experi- mente im höheren Jugendalter erwartet werden sollen. Bis jetzt schälten sich heraus als Untergruppen: allgemein-sitthches Menschentum Berufs- ideal — Wunschideal. Während bei den Bekanntenidealen subjektive Ent- scheidungen die Wahl beeinflussen, greift bei den öffentHchen Charakteren eine objektiv-gültige Wertung ein; bei den selbstgestalteten Vorbildern vereinigen sich für die Stellungnahme objektive und subjektive Wert- schätzungen.

Bevor wir die Tabelle der idealen Vorbilder der Seminaristen bringen, sei eine Übersicht über den Versuch mit Präparanden gegeben, ausgeführt an 45 Vpn. einer Präparandenschule in einem fränkischen Mainstädtchen. Die Begründung des Urteils war leider nicht verlangt worden.

Besonders auffallen muß die hohe Zahl an Idealen aus öffentlichen Per- sonen, welche diese 14— 16 jährigen wählen. Von 41 Nennungen fallen nur zwei auf Dichtung und Sage (Zriny, Teil), gar keine auf das rehgiöse Ge- biet und auch aus dem Bekanntenkreis ergibt sich nur ein Vorbild. Gegen- über den Volksschulergebnissen im allgemeinen ist die geringe Wahl von Bekanntenidealen ganz überraschend, obwohl eine absteigende Tendenz derselben sich schon aussprach.

20 Michael Kesselring

Von den 37 öffentlichen Persönlichkeiten entfallen 7 Vorbilder auf den Künstlerkreis, besonders in der 3. Klasse, die wohl mehr nach inneren auf- tauchenden Neigungen wählt. Genannt wurde dabei Mozart 3 mal, Beethoven 1 mal, Dürer 1 mal, je 1 Sänger und Violinkünstler. Von den Dichtern finden sich Körner 5 mal, Schiller 3 mal, Goethe, Lessing, Hauff je 1 mal. Pestalozzi soll 2 mal Idealbild sein, Zeppehn 3 mal, France 1 mal. Unter den geschichtlichen Persönhchkeiten erfahren Bismarck und Blücher die häufigste Nennung (je 4 mal), Schill 2 mal, Armin, Scharnhorst, Jahn je 1 mal. Frauen sind nie als Ideal genannt. (Vergl. Tab. S. 22.)

Wenn auch unser Versuchsmaterial für diese Stufe ein ganz geringes ist, so können wir einen vergleichenden Blick auf die Ergebnisse bei 14 jährigen Volksschülern nicht unterlassen. Bei Goddard i) haben sich 64 Knaben (Kn.) geäußert; wenn auch keine genauen Zahlenangaben zu entnehmen sind, so läßt sich ersehen, daß öffenthche Persönlichkeiten die Bekanntenideale über- wiegen. Bei den 254 befragten Kn. dieser Altersstufe in Richters"^) Unter- suchungen finden sich als Prozentsätze für Bekannte 8, für öffentliche Personen 61, aus der Dichtung 8, aus dem religiösen Gebiet 13. Bei Rey. l.^) nannten von 197 Kn. 37 Bekannte, 120 öffentliche Personen, 8 dichterische Gestalten, 13 religiöse. Bei aller Vorsicht, keine voreiligen Folgerungen zu ziehen, scheint es uns doch der Feststellung wert, daß bei den Jugendlichen von 14 16 Jahren Bekanntenideale in auffallend geringer Zahl auftreten.

Indem wir uns nun unserer Untersuchung der Ideale der Seminaristen zuwenden, fassen wir zuerst Tab. I (S. 23) über die gewählten Vorbilder ins Auge.

Für die Methodik der Idealforschungen interessiert wohl in erster Linie, ob die Befragungen in den verschiedenen Jahren wesentlich andere Ergeb- nisse zeitigten. Bei dem geringen Umfang des Materials können natürlich Folgerungen nur mit allem Vorbehalt gezogen werden. Bei der 1. Klasse ergibt sich, daß in den Hauptgruppen ungefähr dasselbe Nennungsverhältnis sich findet und sich nirgends ein stärkerer Ausfall geltend macht. Wesent- lich dasselbe Bild in den drei Versuchsjahren zeigt sich hinsichtlich der Vater-Ideale, Dichter des eigenen Landes, Männer aus Wissenschaft und Forschung, religiösen Gestalten. Ein mehr wechselndes Bild tritt uns ent- gegen bei der Wahl von Lehreridealen, da in den einander folgenden Jahren stets weniger Vorbilder dieser Gruppe genannt werden, was auch von der Wahl historisch-politischer Persönlichkeiten gilt. Aus der Künstlergruppe bringt besonders das dritte Jahr mehr Vorbilder, während es gegenüber der Fürstengruppe im ersten und zweiten Jahr keine Nennung aufweist. Ge- stalten aus Dichtung und Sage traten besonders im ersten Jahr mehr hervor. Freie Ideale sind vom ersten zum zweiten Jahr gewachsen und blieben letzteren im dritten Jahr an Zahl gleich.

Bei Betrachtung des verschiedenen Jahresbildes der 2. Klasse empfindet man es zunächst als Mangel, daß aus einem dritten Jahre keine Ergebnisse vorliegen. Die Stellungnahme innerhalb der Hauptgruppen ist jedoch auch hier im wesentlichen die gleiche. Übereinstimmend ist die Wahl bei den Bekanntenidealen, besonders hinsichtUch des Lehrervorbildes. Außerdem sind Künstler, historische Persönlichkeiten, Erzieher, religiöse Gestalten in beiden Jahren in gleicher Weise zu Vorbildern genommen. Auffallende

1) a. a. 0. S. 160. ») a. a. O. S. 255. ») a. a. O, S. 231.

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 21

Verschiebungen als idealspendender Quellen drängen sich bei den Gruppen der Dichter und der freien Ideale hervor.

Es läßt sich also nicht verkennen, daß zur Gewinnung typischer Bilder über die Wahl von Idealen innerhalb von Alters- und Klassenstufen die ein- malige Befragung nicht ausreicht. Aus manchen Gruppen können manchmal keine Vorbilder entnommen sein, z. B. Verwandte, Philosophen, Fürsten, Erfinder, während in einem anderen Jahre um die Hälfte und mehr Ideale aus einer Gruppe gewählt sein können, wie in der 1. Klasse bei den Rubriken Lehrer, Dichtung und Sage, freie Ideale und in der 2. Klasse bei Dichtern, Dichtung und Sage, freie Ideale. Die Schülerindi viduaM täten , welche die Klassen jeweils zusammensetzen, können andere Gruppenverhältnisse hervor- rufen, der Unterrichtsstoff kann verschieden weit gefördert und von Einfluß geworden sein '), im Lehrkörper ist ein beeinflussender Wechsel von Lehrern möglich, und endlich können besondere Zeitereignisse nachdrücklich auf be- deutende Persönlichkeiten hinlenken. So müssen wir in letzterer Beziehung darauf hinweisen, daß die neun Nennungen der Abt. „Fürsten" in der 1. Klasse auf den damals noch lebenden in Bayern hochverehrten, allgemein geliebten, ehrwürdigen Prinzregenten Luitpold fielen, dessen 90 jähriger Ge- burtstag in größerem Rahmen gefeiert wurde. In die Herzen der Mittelschüler grub sich sein Andenken damals besonders tief durch die Schaffung eines allgemeinen Turn- und Spielfestes, mit dem Wettkämpfe unter den Mittel- und höheren Schulen verbunden waren. Auch das Jahrhundertgedenken der deutschen Befreiungskriege führt auf manches ideale Vorbild hin.

Allgemein zeigt sich also, daß eine einmalige Befragung nicht genügt, um die charakteristische Stellungnahme von Schülergruppen zu erkunden, daß aber schon eine einmalige Erhebung in den Hauptzügeu typische Er- gebnisse der besonderen Stufen und Gruppen festzuhalten vermag.

Nun wollen wir uns eine Gesamtübersicht über die Wahl der Vorbilder in den Hauptgruppen von den beiden Seminarklassen verschaffen, wobei die Werte gleich in Prozenten festgehalten sind. (S. die Tab. auf S. 22 u. 23.)

(Im 4. Kriegsjahr wiu-den von 27 Vpn. der 1. Klasse 11 Bekannten-Ideale, 7 öffentHche Personen, 9 freie Ideale, keine aus Religion oder Dichtung gewählt von 21 Vpn. der 2. Klasse 4 Bekannten-Ideale, 4 öffentUche Per- sonen, 13 freie Ideale, 2 religiöse Ideale, keine aus Dichtung.)

Bei der immerhin kleinen Zahl unserer, Vpn. lassen sich nach den geringen Zahlendifferenzen keine auffallenden Unterschiede zwischen den gewählten Vorbildern bei der 1. und 2 Klasse feststellen, und es erweckt fast den An- schein, daß für die 17 19 jährigen die Altersdifferenzen sich nicht besonders geltend machen, was sich fast auch auf die Klassendifferenzen ausdehnen ließe. Doch dürfte dies Ergebnis nur hinsichtlich der Hauptgruppen gelten ; denn nach Tab. I zeigen sich beim Aufstieg zur 2. Klasse Vorbilder aus den historisch-politischen Persönlichkeiten (18,4 9,4) in viel geringerem Grade, während Ideale nach großen Erziehern (0,4—6,1) und freie Ideale (22,0—24,4) mehr gewählt wurden. (Im 4. Kriegsjahre ergab sich bei der 2. Kl. die doppelte Zahl von freien Idealen.) Das allgemeine Berufs- und Menschen- ideal ist aber bei der 2. Klasse deutlich mehr vertreten als bei der 1. lOasse:

*) Der Versuch des 1. Jahres wurde im Januar, der des 2. und 3. im Mai ausgeführt.

22

Michael Kesselring

nehmen wir die Gruppen: Lehrer, Erzieher, freie Ideale zusammen, so er- gibt sich ein Verhältnis von 33 : 38 O/o.

Vorbilder der Präparanden.

Klassen

I

II

III

Zu- sammen

Zahl der Vpn

Keine Antwort

11

15 .

1

19 3

45 4

I. Bekanntenkreis:

Eltern

Verwandte

Bekannte

Lehrer

~

1

1 ^ 1

n. Öffentliche Personen: Geschichtliche Personen .

Dichter

Künstler

Wissenschaftler ....

Erfinder

Erzieher

5 4

1

1

5 3 2

1

3 4

4 1 1 2

13 11

7 1 3 2

[ 37

III. Religiöse Gestalten . . .

~

--

IV. Dichtung und Sage . .

1

1

2

2

V. Freie Ideale

1

1

i

1

Wenden wir uns nun den Ergebnissen über den Inhalt der Ideale unserer Seminaristen zu, indem wir die Gruppe ins Auge fassen

1. Bekannte als Vorbilder.

Solche zeigen sich in der 1. Klasse mit 17,3 O/o, in der 2. Klasse mit 20,0 o/o, insgesamt mit 18,4 O/'o vertreten. Gegenüber Rey. II (Vergleiche mit dieser Untersuchung werden, wie auch mit allen übrigen, nur mit dem Zahlen- material der männlichen Vpn. angestellt), bei dem im höheren Jugend- alter nur Werte zwischen 4 8^/0, insgesamt 50/o Bekannten-Ideale sich er- geben, zeigt sich bei unseren Sem. eine wesentlich höhere Zahl dieser Ideale. Für die Kurve des Bekannten-Ideals in den verschiedenen Lebens- jahren, das bei Rey. 11^) aufgestellt ist, bedeutet unser Ergebnis für die männliche Jugend eine wertvolle Ergänzung. Bis zum 14. Lebensjahre zeigt sich nämlich bei allen Experimenten eine starke Abnahme dieser Ideale, so bei Rey. (für männliche und weibliche Vpn.) von 76 o/o bis 18 o/o (20 jährige) und 240/0 (25 jährige), beiGodd. 2) sowohl in Preußen, New-Yersey, London,

») a. a. 0. S. 17.

-) a. a. 0. S. 161

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter

23

Tab. 1.

Tabelle der gewählten Vorbilder.

Klassen

IL Sem.- Klasse

L u. IL Klasse

Versuchsjahre

1.

2.

3.

£^

«3 CS

•/o

1.

1

2.

^ ü l|

"/o

G

c

<

«/o

•/o

I. Bekanntenkreis:

Vater

Mutter

Verwandte

Bekannte

Lehrer

Mitschüler

2

1

2

14 2

2 1 9

2

1 1 5 2

6 1 2 3

28 4

2,3 0,4 0,8 1^ 11,0 1.6

1

2

1

13

1

2

2 13

1

3

2

3

26

2

1,7

1,1

1.7

14,4

1,1

9 1

4

6

54

6

2,1 0.2 0,9 1.4 12,4 1,4

18,4

IL Öffentliche Personen: Geschichte, eigenes Land

fremdes Dichter, eigenes Land fremdes

Fürsten

Philosophen

Künstler

Wissenschaft u. Forschung

Technik

Erziehung

20 2 8

4 3

2

1

15

1 12

5

1 1

1

12 12

6 2

47

3

32

9 3

5

1 1

18,4

12,5

3,5 1^ 2,7 2,0 0,4 0,4

9

2

16

1

2

7

8

7 1 2 2 3 4

4

17 2

23 2 2 2 5 4

11

9.4 1,1 12,7 1,1 1,1 1,1 2,8 2,2

6,1

64 5

55 2

11 5

12 9 1

12

14.7 1,1 12,7 0.4 2,6 1,1 2,7 2,1 0.2 2,7

40.3

in. Religiöse Gestalten:

Jesus '

Biblische Personen . . .

1 1

1

2

1

0,8 0,4

1

i 1

2

1,1

4

1

0,8 0,2

}.,o

IV. Dichtung und Sage

12

5

5

22 8,6

11

7

18

10,0

40

9,2

9,2

V^. Freie Ideale

12

22

22

56 22,0

15

1 29

44

24,4

100

23,0

23,0

Keine Antwort

7

5

10

221 8,6 7

'

12

6,7

34

7,8

7.8

Gesamtzahl der Schüler

92

82

81

255

89

91

180

t35

1

Kleissifizierung

KlEissen

Gesamt-

1 ! 2

werte

I. Bekannte

17,3« j 20,0

18,4

IL Öffentliche Personen . .

42,3

37,6

40,3

III. Aus der Dichtung . . .

8,6

10,0

9,2

IV. Religion

1.2

1,1

1.0

V. Freie Ideale

22,0

24,4

23,0

VI. Keine Antwort ....

8,6

6,7

7,8

24 Michael Kesselring

Minnesota, New Castle abnehmend von 66^/0 bis zu 36 O/o bzw. 6 0/0 als niedrigstem, beiRi. i) von 50 0/0 (9 löjährige) sinkend bis 13 0/0 (14jährige). Für das 14. 16. Lebensjahr liegt noch keine ausreichende Untersuchung vor außer unserem geringwertigen Anhaltspunkt der Befragung der Präp., wobei von 45 Vpn. nur 1 Bekannten-Ideal genannt wurde, und zwei kleinere Umfragen vom Verf. in einer Mädchenfortbildungsklasse, wo 23 Vpn. kein Bekannten-Ideal brachten, und einer ländlichen Fortbildungsschule, w^o bei beiden Geschlechtern (zusammen 34 Vpn.) auch kein Bekannten-Ideal her- vortrat. Dies legt uns die Vermutung nahe, daß die Kurve des Bekannten- ideals vom 11. Lebensjahre fallende Tendenz zeigt, zwischen dem 14. bis 16. Jahre ihren Tiefstand erreicht und dann wieder schv/ach aufsteigende Richtung gewinnt.

a) Eltern -Ideale. Als Vorbild erfolgt die Wahl der Eltern anderen Gruppen gegenüber seltener. Von den 10 Fällen, wo von 435 Vpn. direkt Eltern als Vorbild genannt sind, wird der Vater 9 mal, die Mutter 1 mal genannt. Bei den selbstgeschaffenen Idealen spielt allerdings das Vatervorbild in bestimmten Einzelzügen mit herein, welcher Einfluß jedoch in der Personentabelle zahlen- mäßig nicht weiter zum Ausdruck kommt. Bei Rey. II finden wir Eltern- ideale nur in 2 O/o der Fälle bei den männlichen Vpn. (bei weiblichen da- gegen 140/0), so daß die nordische und unsere deutsche Untersuchung bezüglich des idealbildenden Einflusses der Eltern übereinstimmende Ergebnisse zeigen : dort 20/0 und hier 2,3 O/o. Für Rey.s II Vermutung 2), daß der Einfluß früherer Generationen, wie Großvater und Großmutter für die Wahl besonders auffallen, bieten sich bei uns keine Belege; denn auch die Verwandtenvor- bilder beziehen sich auf Vetter und Onkel. Schülerzeugnisse, die das Vater- vorbild begründen, muß man wiederholt mit wärmerer Anteilnahme lesen, wenn die Liebe und die Achtung des Sohnes hervorleuchten. So deutet ein Schüler an:

„Durch Fleiß schuf er sich eine gute Existenz; innige Liebe und Fürsorge für uns alle"; und ein anderer berichtet: „. . . durch unermüdliches Schaffen zu etwas gebracht. Gegen die Seinen zeigt er Liebe; noch nie vernahm ich ein böses Wort aus seinem Munde. Seine Kinder macht er, obwohl ich ihm selbst schon manchen Kummer bereitet habe, wenig Vor- würfe; er verzeiht. Mit echt väterlicher Sorge überwachte er unsere Jugend, ist besorgt für unser Wohlergehen. Er tut alles für andere, für sich nichts! Man schätzt ihn in der Gesellschaft und oft kommen Leute zu ihm und ver- trauen ihm ihr Leid und erbitten Rat."

b) Mitschüler und Freunde als Vorbilder. Als Quelle für Ideale kommen solche Bekannte wenig in Betracht, in der 1. Klasse 1,6 O/o, in der 2. nur 1,1 0/0. Auch bei Rey. II finden sich nur 2 0/0 Bekanntenideale, worunter also die Mitschüler sich befinden müßten. Mit echten Busen- freundschaften, die zur Nachahmung des Freundes führen, ist also bei den männlichen Jugendlichen kaum zu rechnen. Für weibliche Vpn. ergab sich bei Rey. 11^) die hohe Zahl von 15 0/0 für den idealbildenden Wert dieser Gruppe, welcher Umstand für die Mädchenerziehung Beachtung verlangt und auf Kultivieren solcher Beziehungen hindeuten mag.

In den Begründungen für solche Ideale finden sich folgende Eigenschaften

a. a. O. S, 257. *) a. a. 0. S. 18. ^) a. a. 0. S. 18.

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 25

herausgehoben: An Wollen und Körper ein starker Mensch; wenn er spricht, hat es Gehalt; nicht eitel, immer einfach und sauber; viel Freude an der Natur sein Eifer überträgt sich auf mich; wird erst beruhigt, wenn ich den gleichen Standpunkt habe und auf der Höhe bin Mensch, der nach einer idealen Anschauung lebt und in der Erinnerung der meisten Schüler gerne behalten wird keine Gebundenheit an den Stoff und viele Freiheit; aber doch geht ihm PfhchterfüUung vor und ein fester Charakter lebt in ihm.

c) Lehrer als Vorbilder. Gegenüber Rey. II, wo nur 1 o/o Knaben und 2,5 o/o Mädchen Lehrerideale auftraten, zeigt sich bei uns ein wesentlich höherer Prozentsatz, für die 1. Klasse 11,0 o o, für die 2. 14,4 O'o. Verf. hätte den ideal- bildenden Einfluß der Lehrerpersönlichkeiten nicht so hoch zu veransclilagen gewagt. Doch schon bei seinen Untersuchungen über die Beliebtheit der Unter- richtsfächer 1) fiel es auf, daß besonders für die Unbeliebtheit die Lehrerper- sönlichkeit von ziemlichem Rückschlag sein kann. Diesmal zeigt sich nun der Einfluß in positivem Sinne als ein erfreulicher, zumal die letzte Klasse mehr Lehrervorbilder als die 1. Klasse aufweist. Bei dem Kontrollversuch in einem Kriegs] ahr ergaben sich in der 1. Klasse bei 27 Vpn. 6 Lehrer- ideale, in der 2. lüasse von 21 Vpn. 3. Eine kleine Steigerung hätte unsere Gesamtzahl noch erfahren, wenn auch die verschiedenen Lehrer, die neben anderen Persönlichkeiten Züge zum freien Ideal liehen, hierzu rubri- ziert wärer.. Jedenfalls bilden die Lehrer oft den Typus für das eigene Berufsideal, das sich die Sem. schaffen, öder bilden den konkreten Ausgangs- punkt für das im Gemüt verankerte Lehrerideal. Sachlich gerichtete Lehrer- gestalten mit überragender intellektueller oder künstlerischer Autorität ge- winnen meist den stärksten Einfluß auf die Schülerseele, am meisten eine geschlossene Persönlichkeit mit „körperlich-geistig-sitthcher Harmonie". In dem geschlossenen Anstaltscharakter unserer Lehrerbildungsanstalten mit teilweisem In'ernatsbetrieb scheint uns ein Hauptfaktor vorzuliegen für die häufigere Wahl von den gegenwärtigen Lehrern, weil hier zwischen Lehrern und Schülern mehr persönhche Berührungspunkte gegeben sind und ein Geist der Arbeitsgemeinschaft leichter herrschend wird und erziehhche Be- deutung gewinnen kann.

Von den 54 Nennungen der Lehrerideale entfallen 23 auf frühere und 31 auf Anstaltslehrer. Unter den früheren Leiu-ern gewannen bleibenden Einfluß in 2 Fällen der 1. Lehrer der Knabenzeit, 20 mal sonstige VoUcs- schullehrer, 1 mal ein Rektor einer höheren Schule; von den damaligen Anstaltslehrern wurden 7 ohne Namen angegeben, 24 namentlich aufge- zeichnet, darunter eine Lehrkraft allein 13 mal. Hinsichtlich früherer Lehrer- persönlichkeiten möge in StlchworLen folgendes aus den Charakterisierungen herausgehoben sein:

Strafe und Lob so, daß jeder wußte warum; gleichmäßige gerechte Behand- lung — Lebensfreude und Humor Gerechtigkeit und Liebe, verabscheute Anzeigerei sicheres Auftreten, unnachsichtige Strenge, gerechtes Wesen, pädagogische Fertigkeit lebhafter Unterricht; man mußte Freude am Lernen gewinnen Willenskraft, Abstinenzler freundlicher, offener Charakter; fesselt durch seinen Umgang: weiß über alles Auskunft zu geben; bewandert

•) Deutsche Psychologie Bd. I und D.

26 Michael Kesselring

in Musik und Kunstgeschichte ; betrachtet alles tief von der religiösen Seite alter Lehrer, schon 60 Jahre im Dienst; alle seine Schüler hängen mit Liebe an ihm tüchtiger strebensvoller Mann und auf das Wohl der Schule bedacht Klarheit der Unterrichtsweise, Pfhcht- und Rechtsgefühl erfahren, freund- lich, gerecht, beliebt tüchtig im Beruf, unabhängig, politisch tätig tiefer Eindruck aller seiner Worte und auch schon seiner Erscheinung; denn sein Grundsatz: Je weniger man genießt, desto unabhängiger wird man.

Warum Ideale aus dem Lehrkörper der Schule gewählt werden, mögen folgende Zeugnisse kundtun:

FreundHchkeit, umfangreiches Wissen, Selbständigkeit gerecht, beliebt, zu Scherz aufgelegt; gewandt im Unterricht harmonischer Mensch höflich und fleißig; große Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe gibt klaren, leichtverständlichen Unterricht; hält zu gründlichem Studium an; Benehmen gegeu die Schüler musikalische Begabung und großes Wissen; Liebe und Güte zu Schülern (Religionslehrer): riesige Geschichtskenntnis, nicht nur in Religion; sein Wissen auf allen Gebieten muß man anstaunen; prahlt nicht mit seinem Wissen; bei den Schülern großer Respekt und keiner wagt un- vorbereitet zu kommen (!).

Die Begründungen, warum die eine Lehrerpersönlichkeit so oft genannt wurde, lesen sich zusammen wie ein ehrender, unbewußt gegebener Nachruf auf den leider durch Kriegsstrapazen viel zu früh Vollendeten: anziehendes Wesen, praktische Gelehrsamkeit feiner Unterricht, der vom früheren so gut absticht gute Methode, ausgezeichnete Schülerkenntnis Theorie und Praxis stimmen überein; schlägt nicht den Schulton an be- handelt alles vernünftig; gewährt Freiheit in Denken und Vortrag Kinder- freund, richtige Schülerbehandlung, gute Lehrmethode kann etwas aus einem machen unser Freund und Führer; gerechter Lehrer; große Auto- rität — kennt seine Schüler, ist offen und ehrhch gegen alle; großes Wissen; treibt Sport; kann sich auch mit dem Geringsten unterhalten intensive Beschäftigung mit seiner Wissenschaft; Körperpflege, humanes Wesen ist eben das Ideal eines Erziehers und Lehrers.

Interessieren wird schließlich noch der Hinweis, daß besonders Lehrer, welche in künstlerischen Fertigkeiten (hier besonders Musik) unterrichten, mehr persönlichen Einfluß besitzen können als Lehrkräfte anderer Sparten.

2. öffentUche Persönlichkeiten.

Aus dieser Gruppe wählen unsere Sem. 40 o/o ihrer Vorbilder, gegenüber 18 0/0 Bekannten-Idealen. Der idealbildende Einfluß öffentlicher Persönlich- keiten dürfte danach bei den Jugendlichen ein weit größerer sein als der von Personen des direkten Bekanntenkreises.

Es reizt natüriich wieder, die Ergebnisse von Rey. II mit den unsrlgen in Parallele zu setzen. Doch ist dabei nicht ohne weiteres das Zahlen- material zu vergleichen, da Rey. II in der Personentabelle bei der prozentualen Berechnung nur die Anzahl der Beantwortungen in Betracht zog und die Gruppe der Nichtbeantwortungen wegfallen ließ, ein Verfahren, das sich rechtfertigen läßt. Für unsere;;Untersuchung stellen sich dann für Vergleiche folgende Prozentwerte heraus-" I. Bekannte = 20 O/o, II. öffentliche Persön- lichkeiten = 440/0, m. Religiöse Gestalten = iV^^^/o, IV. Dichtung = 10 0/0,

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 27

V. Freie Ideale = 25 o/o. Nun ergibt sich bei Rey. II ein Verhältnis von 95 o/o öffentlichen Personen gegenüber 5 ^ o Bekannten, wogegen sich bei uns nur ein Verhältnis von 44 0;o zu 200,0 erblicken läßt. Rey. 11 hat jedoch unter der Gruppe „Öffentliche Personen sonstiger Art" auch die Ideale nach rehgiösen Gestalten und aus der Dichtung hinzugenommen, so daß sich für uns ein Wert von 55 O'o für die „öffentlichen Persönlichkeiten" herausstellt, der sich noch vergrößert bei Einbeziehung unserer freien Ideale auf 80 0/c. Da sich die freien Ideale im Anschluß an Persönlichkeiten aus der Geschichte, der Dichtung, der Religion und großen Männer der verschiedensten Kultur- gebiete (allerdings auch Bekannten) zusammensetzen, können wir sie auch in die Hauptgruppe der öffentMchen Personen mit einigem Rechte einstellen. Sonach wäre das Verhältnis der idealbildenden Wirkung von Bekannten zu öffenthchen Personen wie 1 : 4 (bei unseren Vpn. in jenen Jahren unter den damaligen Umständen), während sich bei Rey. das von 1 : 19 gegen- überstellt. Bei Betrachtung der Bekannten-Ideale wurde der das Verhältnis verschiebende Faktor der Lehrerideale schon erkannt.

Bei den Volksschulknaben, welche Goddard untersuchte, stehen sich hinsichtUch der Ideale von Bekannten und öffentlichen Personen 47 O/o und 350/0 gegenüber, bei Hinzunahme der Gruppen Religion, lebende Deutsche, Dichtung die Werte 47 und 67, also ein Verhältnis wie 2 : 3 etwa. Nach den Ergebnissen Richters in Sachsen stehen sich für Bekanntenkreis und öffentliche Personen 25 0/0 und 41 0,0 gegenüber; wenn Ideale aus Rehgion und Dichtung dazukommen: 25 Oo und 57 0,0, also etwa das Verhältnis 5 : 11. Für Rey. I zeigt sich ein Verhältnis von 48 0/0 zu 47 0/0, also 1 : 1, wonach also bei den deutschen Volksschülem die öffentlichen Persönlich- keiten von weit größerem Einfluß auf ihre Ideale sind als bei den nor- wegischen. Mit dem zunehmenden Alter tritt in allen Untersuchungen eine Zunahme der idealbildenden Kraft der öffentlichen Persönlichkeiten hervor, so daß also ein Fortschreiten von engeren zu weiteren Idealen, von persön- lichen zu abstrakten Autoritäten, von alltäglichen zu historisch allgemein anerkannten Vorbildern festzustellen ist. Im höheren Jugendalter tritt end- lich zu den enger umgrenzten Persönlichkeiten das selbstgeschaute und selbstgestaltete freie Ideal als ein allgemeines Humanitätsideal. Für das Jugendalter von 14 16 Jahren liegen noch keine Erkundungen über unser Gebiet vor, doch scheint es nicht ausgeschlossen, daß in diesen Jahren der Einfluß der öffentlichen Persönhchkeiten als Quelle für die Ideale seinen Höhepunkt erreicht, um im höheren Jugendalter wieder etwas zurückzugehen. Die Kurve dieser Entwicklung dürfte sonach ansteigen bis zum 14. 16. Lebens- jahre und dann etwas fallende Tendenz zeigen. Freilich sprechen die Er- gebnisse Rey. lU) bezüglich der Seminaristen gar nicht dafür, während die unsrigen wenigstens drängen, auf diese vermutliche Entwicklungskurve hin- zuweisen. Die Volksschüler im 14. Lebensjahre wählen öffentliche Personen zu Vorbildern bei Goddard -) in Preußen 53 0/0, in den Vereinigten Staaten ^) bis 84 0/0, bei Richter^) 61 0/0 (13jährige 93 o/o), bei Rey. P) 54 0/0 (15jährige = 66 0/0) mit Einrechnung von Dichtung, Religion, anderer Art jedoch 76 0/0 (15 jährige = 88 0/0), und beim Material unserer Präparanden ist es immer-

') a. a. O. S. 15, Tabelle. =*) a. a. O. S. 160, TabeUe I, ^ a. a. O. S. 162, Fig. 2.

*) a. a. 0. S. 255, Tabelle I. ») a. a. O. S. 231.

28 Michael Kesselring

hin auffallend, daß von 41 Beantwortungen 39 Ideale nach öffentlichen Persönlichkeiten gewählt sind.

a) Geschichte des eigenen Landes. Von den Vorbildern nach öffentlichen Persönlichkeiten entfallen die meisten Nennungen auf diese Gruppe, nämlich 20^/0 in der 1. Klasse und 10 o/o in der 2., IG^/o also für all unsere Vpn. Bei Key. II treffen auf diese Gruppe 9 o/o, so daß bei ihm die geschichtlichen Größen weit hinter die Vorbilder nach Dichtern des norwegischen Landes zurücktreten müssen. Unsere Sem. wählten die Deutschen der Vergangenheit, darunter weniger die kriegerisch Gewaltigen als mehr die Männer, welche politisch-soziale Höhepunkte bedeuten und in deren Lebensführung und Lebensarbeit gewaltige Persönlichkeits- und Charakter- werte enthalten sind. Bismarck und Friedrich der Große stehen in der nachahmenden Würdigung obenan, dann folgen Luther, Moltke, Blücher, Karl der Große. Die 1. Klasse erwählt sich Bismarck 17 mal, die 2. 3 mal zum Vorbild. Friedrich der Große wird von der 1. Klasse 13 mal, von der 2. 5 mal genannt, Luther dort 4 mal, hier 2 mal, Moltke dort 3 mal, hier 1 mal, Blücher wird im ganzen 2 mal genannt. Je 1 Stimme erhalten Karl der Große, Ludwig I. von Bayern, York, Körner, Ziethen. Auffallen muß dabei, daß geschichtliche Persönlichkeiten idealbildend wirken, die besonders in der 1. Klasse im Geschichtsunterricht gar nicht zur Behandlung standen, ein Beweis dafür, wie nachhaltig früherer Unterricht gewirkt haben kann oder wie sehr durch eigene Lektüre das Vorbild großer Männer sich in die jugendlichen Seelen eingräbt, ganz abgesehen vom Fortwirken ihrer Ge- stalten im nationalen Bewußtsein des Volkes überhaupt.

Während bei uns nur historisch gewordene Persönlichkeiten als Vorbilder auftreten, muß Key. II ausdrücklich betonen, daß häufig große lebende Nor- weger, darunter Minister und radikale Politiker, als Idealbilder vorschweben. Da seine Vpn. in der Hauptsache mehrere Jahre älter als die unsrigen sind, läßt sich diese Erscheinung einigermaßen begreifen. Als wichtigstes er- klärendes Moment tritt allerdings die Eigenart der norwegischen Verfassung hinzu, die den engsten Zusammenhang innerhalb des Familien-, Gemeinde-, öffentlichen Lebens mit der Verwaltung des Königreiches hergestellt hat. Die Altersstufen, welche Key. 11. untersucht hat, stehen schon in näherer Beziehung mit dem politischen Leben des Landes, wobei noch der junge Bestand des Reiches interessefördernd wirken kann und endlich die Neu- einführung des allgemeinen staatsbürgerlichen und kommunalen Stimmrechts der Frauen eine stärker betonte Fühlungnahme bedingt. Wie fern stehen nach unserem Experiment die deutschen Besucher höherer Schulen dem politischen Getriebe, worin vielleicht nach wie vor kein Nachteil unseres Bildungsganges zu erblicken sein dürfte!

b) Persönlichkeiten fremder Geschichte. Solche sind unter den Vorbildern mit 1^/4 ^/o vertreten. In der 1. Klasse tritt Karl XII. 1 mal auf (begründet : Mut, Entschlossenheit, eiserner Wille, ungeheuere Ausdauer), Na- poleon I. 2 mal ; letzterer ebenso oft in der 2. Klasse. Aus diesen wenigen Anleihen in fremder Landesgeschichte ersehen wir den großen Reichtum der deutschen Geschichte an vorbildlichen Stoffen, besonders im Hinblick auch auf Rey.s Untersuchung, bei welcher 20^/0 der norwegischen Schüler ihre Idealpersonen in ausländischer Geschichte suchen. Dazu stehen die genannten »Ausländer" in engster Verknüpfung mit den Geschicken unseres

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 29

Vaterlandes und sind besonders durch ihre formalen Willenseigenschaften von beeinflussender Wirkung. Allerdings ersehen wir beim Vergleich mit Rey., wo z. B. Sokrates, Washington, Cäsar, Gladstone, Lincoln, Demosthenes aufgeführt sind, daß bei uns manche Charakterköpfe fremder Geschichte kaum nähere Beleuchtung finden.

c) Dichter eigenen Landes. In unseren beiden Seminarklassen ist der Prozentsatz für die Wahl von deutschen Dichtern der gleiche: 13,70/o, womit von den öffenthchen Personen die Dichter an idealbildender Kraft unmittel- bar hinter den historisch-politischen Persönlichkeiten stehen. Goethe erfährt in der 1. Klasse 15, in der 2. 6 Nennungen, Schiller tritt in der 1. Klasse 8 mal, in der 2. 5 mal auf, Körner in der 1. Klasse und 2. Klasse je 5 mal. Die 1. Klasse erwähnte noch F. Dahn 2mal, 0. Ernst Imal, und Imal klingt die Sehnsucht durch, ein Schriftsteller für die Heimat werden zu können wie etwa Rosegger und der Pfälzer A. Becker. Welchen Einfluß behandelter Unterrichtsstoff aus der Literaturgeschichte gewinnen kann, beweist der Um- stand, daß in der 2. Klasse folgende Dichter neu genannt werden: Lessing 4mal, Freiheitsdichter Imal, Hebbel Imal. Goethe und Schiller sehen wir in der 1. Klasse öfter zu Vorbildern erw'ählt, obwohl sie im Literaturunterricht noch nicht aufgetreten waren, nur bei der Klassenlektüre von Werken dieser Dichter. Gegenwärtig lebende Dichter scheinen unseren Vpn. noch ziemlich fremd zu sein und können ihnen wohl auch ganz ferne gehalten werden durch die intensive Beschäftigung mit den Schulstoffen. Zugleich aber zeigt sich damit, in welch hohem Grade unsere großen Klassiker die Jugend immer wieder in ihren Bannkreis schlagen und die Wahrheit eines Ausspruches C. Flaischlens damit bestätigen: „Alte Fragen aus alten Tagen und längst erledigt wie sie sagen; jede neue Jugend aber wird sich immer wieder durch sie durchzukämpfen haben."

Die norwegischen Seminaristen wählen mehr als die 2fache Zahl unserer Vpn. heimische Dichter zu Vorbildern; gegenüber den 31 o/o bei Rey. II treten unsere 13,7 o/o ziemlich zurück. Dabei gelten bei Rey. II lebende, z. Z. noch umsh-ittene Schriftsteller als Ideale, was nach Rey. mit den nationalen und sozialen Verdiensten eines Wergeland, Björnson aufs engste zusammenhängt. Es muß also bei Rey. II manchmal zweifelhaft sein, ob große heimische Dichter wegen ihrer national-politischen Bedeutung oder ihrem Künstlertume zuliebe als Vorbilder genommen wurden.

d) Fremde Dichter. Die Zahl derselben ist bei uns kaum nennenswert; denn die in dieser Gruppe verzeichneten Lenau 2mal, Stifter und Grillparzer sind kerndeutsche Dichter, und auch der Imal genannte Shakespeare kann nicht als Ausländer gelten. Fast möchte es scheinen, daß unsere Seminaristen wenig läsen, besonders Werke fremder Dichter; eine ergänzende Umfrage in dieser Richtung über behebte Lektüre und Schriftsteller förderte aber die Kenntnis anderer Literatur in vielfacher Richtung zutage. (Z. B. G. Keller, Storm, Mörike, Freytag, R. Wagner, Sudermann, Herzog, Frenssen, P. Keller, E. Strauß, Ganghofer, Ibsen, Shakespeare.)

Bei Rey. 11 finden sich 4 O/o Dichtervorbilder nach ausländischen Mustern, darunter z. B. Homer, Tolstoi, Goethe. Die älteren Vpn. Rey.s werden über- haupt über eine größere Belesenheit verfügen als unsere 18 20jährigen.

e) Fürsten. Solche wm-den bei uns in 3 O/o der Fälle als Ideale hingestellt, in der 1. Klasse mit 9, in der 2. Klasse mit 2 Nennungen. Prinzregent Luitpold

30 Michael Kesaelring

von Bayern vereinigte 10 Stimmen auf sich (sieh. Bem. S. 18!), der deutsche Kronprinz Wilhelm tritt 1 mal auf wegen „Sportsliebe und Volkstümlichkeit". Bei Rey. II finden wir Ideale nach lebenden Fürsten überhaupt nicht vor.

f) Philosophen. Sie finden sich nur mit II/4O/0 vor: Nietzsche und Schopen- hauer zusammen genannt 2 mal, Schopenhauer allein Imal, Kant Imal. Rey. IT brauchte diese Gruppe nicht aufzustellen.

g) Künstler. Bei 3 0/0 unserer Vpn. treten uns Künstlervorbilder entgegen, nämlich 7 Nennungen in der 1., 5 in der 2. Klasse. Beethoven wurde 3mal zum Ideal erwählt; alle übrigen fanden nur 1 Nennung: Bach, Reger, Rieh. Wagner, Dürer, Kainz, ein Musiklehrer, ein Violin-, ein Klavier-, ein „Musik"- Künstler. Rey. II hat ungefähr den gleichen Zahlenwert für diese Gruppe.

h) Wissenschaft und Forschung, Technik. Rey.s und unsere Seminaristen wählen aus dieser Gruppe in gleich geringer Zahl ihre Musterbilder, 2^/0 und 2^/40/0. Als Personen finden sich Kolumbus, Liebig, Hedin; einige Male heißt es allgemein „ein Naturforscher". Als Vertreter der Technik wäre Zeppelin mit 1 mal. Nennung hierherzustellen.

i) Große Erzieher. Beide Klassen griffen dabei nach Pestalozzi 8 mal, Comenius 2 mal, Rousseau Imal, so daß zusammen 3^/0 unserer Vpn. großen Pädagogen nacheifern wollen. Rey. II hat den Wert von 6^/0 für diese Gruppe, wobei auch 2 lebende norwegische Schulmänner zu Idealen dienen. Von deutlichem Einfluß zeigt sich bei unserer 2. Klasse der Wert des Unter- richts in Geschichte der Pädagogik und pädagogischer Lektüre; denn den 11 Nennungen großer Erzieher steht bei der 1. Klasse nur eine gegenüber.

3. Ideale aus Dichtung und Sage.

Bei Rey. 11 sind Personen der Dichtung, welche idealbildend gewirkt haben, leider nicht festgehalten oder es müßte der Wert von l^/o sowohl bei M, als Fr.i) der dafür genügende sein. Dann wäre bei unserer Untersuchung die Dichtung eine weitaus wichtigere Quelle für Ideale; stammen doch 10 0/0 der Ideale aus derselben! Der Einfluß der freien Lektüre ist dabei bedeutend und es zeigt sich, welche Sorgfalt den SchülerbibUotheken angedeihen muß. Die Gestalt des Helmut Harringa aus dem gleichnamigen Romane Poperts im Dürerbundverlag wird am meisten als ideales Vorbild gewählt (7 mal), dann folgen die Freunde aus „Ernst von Schwaben" (4mal), Tellheim (3 mal), Hermann ^aus „Hermann und Dorothea" (2 mal), Siegfried (2 mal), Markus Paltram aus Heers „König der Bernina" (2 mal). Von übrigen Gestalten seien noch hervor- gehoben: Gotenfürsten, Attinghausen, Max Piccolomini, Moros, Teil, Anton aus „Soll und Haben", Jürg Jenatsch, Fehx Notvest, Nettenmeier, Gottfried Kämpfer, Hauslehrer in „Oberhn", Einsiedler in Herzogs „Burgkinder" usw.

4. Religiöse Gestalten.

Religiöse Charaktere zeigen sich mit dem Werte von 1^/4 Oo bei unseren Vpn. von geringem Einfluß als idealbildender Quelle. Allerdings rechneten wir Luther unter die geschichtUchen Persönlichkeiten, wozu uns die Begrün- dungen drängten. Nehmen wir seine Gestalt in diese Gruppe herein, so kommen wir doch über 30/0 nicht hinaus. Jesus ist 4 mal zum Vorbild er-

») A. a. 0. s. 21.

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 31

koren, Jonathan 1 mal. Von den Motivierungen für die Wahl Jesu seien an- geführt: Er war der Gewaltigste und Größte inbezug auf Selbstbeherrschung; hervorstechend sind noch seine Bescheidenheit, Friedfertigkeit, VerzeihUchkeit Jesus ist ein vollkommenes Wesen; da ich ihm nachfolgen will, werde ich von meinen Mitschülern immer mehr angegriffen. Mir ist es dann eine Freude, ihn zu verteidigen: „Das tat ich für dich; was tust du für mich?" Nicht weil Jesus ein religiöser Mann war, sondern ein sittenreiner Charakter; ein Mann, der alle Menschen gleichstellte. An ihm sehe ich meine Grundsätze verkörpert: „Tue recht und scheue niemand!" und „So hoch gestellt ist keiner in der Welt, daß ich mich neben ihm verachte."

Bei Rey. n haben 8^0 der Vpn. religiöse Charaktere als Ideale angegeben. Da auf seinen Wunsch Jesus nicht genannt werden sollte, fielen sicher einige Nennungen von Jesus als Idealbild weg. Von unseren Vpn. scheinen keine von Paulus, Johannes, Joseph, Abraham, Moses so tief gepackt worden zu sein, um ihr Vorbild nach ihnen zu orientieren.

5. Freie Ideale.

Diese Gruppe mußte bei imserer Untersuchung ganz neu aufgestellt werden und beanspruchte 25 ^o der Antu'orten, bei der 1. Klasse 24^0, bei der 2. Klasse 270/0. Auch bei Rey. II dürften einige freie Ideale aufgetreten sein, denen er wohl nicht näher nachzuforschen brauchte, weil sie vereinzelt blieben. Oder sollte seine Fragestellung nach Persönlichkeitsidealen die Vpn. be- stimmt haben nur solche zu nennen? Dies ist aber nach unseren Vorunter- suchungen schwer anzunehmen. Auch deuten die Proben von Schülerantworten bei Rey. U S. 12 14 auf das Vorkommen allgemeiner Musterbilder hin, z. B. bei dem 24jährigen und der ersten von den 25jährigen.

Abgesehen von ausgesprochenen Möchte- oder Wunschidealen mit 2,7 O/o, reinen Genuß Vorbildern mit 0,8 Oo und mehreren Nennungen, die sich nicht rubrizieren lassen, stellen sich aus dieser Gruppe 2 Arten von freien Idealen klar heraus: ein allgemeines Menschenideal von 10,00/0 der Vpn. gewählt und ein allgemeines Lehrer- (Beruf s)ideal von 7,0 0 0 genannt.

a) Allgemeine Menschenideale. Zwei charakteristische Schülerzeugnisse mögen zunächst die Notwendigkeit der Aufstellung unserer neuen Gruppe darlegen :

1. „Ich habe keine bestimmte Persönlichkeit zum Vorbild. Überall mußte ich Eigenschaften finden, die mir nicht zusagten. Wo aber eine edle Tat vollbracht wurde, wo die Menschenrechte und Menschenpfhchten vollkommen geachtet und erfüllt \^-urden, dorthin fand ich mich mit dem innersten Wesen meiner Seele gezogen. Die edle, reine Menschlichkeit war es, die mich an- sprach und mein höchstes Ideal, das mir immer vor der Seele steht, ist ein edler Mensch zu werden." 2. „Ein einziges Ideal habe ich nicht; denn ich strebe verschiedenen nach. Was mir an dem einen gefällt, suche ich mir anzueignen; was mir nicht gefällt, schalte ich aus. Ehrlich, wahr und fromm zu sein, entnehme ich dem Charakter Jesu. Dem Charakter meines Vaters entnehme ich die Strebsamkeit; denn er hat sich aus kleinen Anfängen zu einer ganz annehmbaren Stellung emporgearbeitet, ohne eine Mittelschule besucht zu haben. So habe ich noch verschiedene Persönhchkeiten, von deren Charakter ich mir verschiedenes anzueignen suche."

32 Michael Kesselring

Unter den allgemeinen Menschenidealen fallen solche auf, welche die Einzel- züge verschiedenen Persönlichkeiten entnehmen und das Gesamtbild nicht fest umrissen zusammenfügen. Einige Beispiele mögen solche Ideal- bilder erläutern:

Wie Bismarck, Goethe und Rousseau; ersterer entschlossen, mutig; man konnte Felsen auf ihn bauen; letztere Gefühlsmenschen, die alles offen be- kannten — Teja und Pestalozzi Goethe und Rheinberger (Musiker) Kombination von Männern aus der Geschichte der Pädagogik und aus der Musik Luther, W. Teil und der Wirt aus Roseggers „Wirt an der Mahr" Siegfried, Napoleon, York,

Dazu treten dann kurz gezeichnete Charakterbilder, für deren Einzel- züge auf große Personen als Träger derselben verwiesen ist. Von den häufig interessanten Schilderungen geben wir wieder nur einige Andeutungen in Stichworten :

Willenskraft und feste Grundsätze, wie Napoleon, Markus Paltram u. a. Schaffensfreude und Ausdauer, wie Zeppelin, Bach, Schiller, Beethoven das Große und Heldische, wie bei Bismarck, Gestalten aus den „Ahnen", Ivanhoe, Ludwig I. von Bayern nach dem Vorbild vieler Männer; im Lehrerberufe Tüchtiges leisten; liebevoller Familienvater; im öffentlichen Leben eintreten für soziale Hebung aller Stände wie in Wilh. Meister Streben nach Weisheit und Vervollkommnung, wie bei meinem Vater, bei Schiller und Bismarck ein ganzer Mensch mit höchster körperlicher und geistiger Wohl- geratenheit wie etw'a Nietzsches Übermensch. (Die Beispiele für diese Gruppe freier Ideale finden sich fast ausschließlich im Material der 1. Klasse.)

EineS.Abteilungfreierldealeweist nur Allgemeinbilder charaktervoller Menschlichkeit auf ohne Beispiele oder sonstige Beziehungen. Aus der 1. Klasse folgende Belege:

Mann von Pflichttreue naturliebender, sportliebender, offener und treuer Mensch nach jeder Hinsicht ein gebildeter Mensch nachzustreben dem Wahren, Schönen und Guten und überall dem Fortschritt zu huldigen; auch Freimaurer möchte ich sein ehrlich und recht handeln, wenig um andere kümmern ein freier Mann; Herr über mich selbst mit starkem Charakter ein Mann voll Kraft und Energie, edlem Sinn und stolzem Charakter, klarer, unverdorbener Geist, besonders nicht entstellt durch eingepflanzte Bücher- weisheit.

Aus dem Material der 2. Klasse seien hervorgehoben: Konsequentes Wollen und Handeln; große Willensstärke; Wahrheit; auch Freude an Sport Verträglich, gutherzig, mildtätig, vorwärts streben, auch wenn die Arbeit nicht immer von Erfolg gekrönt Entfaltung des eigenen Menschentums eine Originalität möchte ich sein Idealfamilie : alle gesund und arbeiten; vertrauensvolles Verhältnis zwischen Eltern und Kindern; Offen- heit und Wahrheit. Ein 18 jähriger möge noch ganz zu Worte kommen: „Mein Ideal ist ein Mensch, der niemals heuchelt, stets graden Sinnes ist, nur das ausführt, was er vor sich verantworten kann. Der ein tiefes Gemüt besitzt. Der sich unterordnet, aber nur dann, wenn er es selbst für richtig hält; der aber auch seinen Willen durchsetzt, wenn er weiß, daß er im Recht ist; er muß aber auch sofort ablassen, wenn er im Unrecht ist. Endlich muß er eine tiefe Liebe besitzen für alles was lebt. Energie, Liebe. und Gemüt müßte der Grundzug seines Wesens sein." Schließlich haben wir noch freie Ideale

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 33

in solchen Äußerungen zu erkennen, welche durch Grundsätze ihr Vorbild kennzeichnen, z. B. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut Rastlos vor- wärts mußt du streben usw. Ich habe keine Zeit müde zu sein; Lebe, wie du es vor jedermann verantworten kannst! mens sana in corpore sano; auch: prüfe, bevor du handelst!

b) Allgemeines Berufs-(Lehrer)ideal. Dieses Ideal zeigt auch ver- schiedene Ausgangspunkte und gewinnt darnach verschiedene Gestalt. Zu- nächst kann es sich anlehnen an ein besonderes Vorbild, wie lebende Lehrer der früheren oder jetzigen Schulzeit, große Pädagogen (wie Pestalozzi) und Gestalten der Dichtung (wieHauslehi-er inLienhards„Oberlin" undFlemming in O. Ernst's „Flachsmann als Erzieher"). Sodann wird ein Musterbild nach verschiedenen Personen aufgestellt, zu welchem noch selbstgeformte Musterbilder (freie) treten, teilweise mit einem Hinweis auf Beispiele zur Verdeutlichung, teilweise ohne jede Beziehung in ganz freier Gestaltung. Einige Zeugnisse seien herausgehoben: Ein tüchtiger Lehrer ganze Kraft dem Beruf zuwenden und mit Liebe arbeiten Volksschullehrer in des Wortes eigenster Bedeutung; alle Schichten heraufziehen ans Licht möchte nach allen Kräften als Lehrer meinen PfUchten nachkommen ein recht guter Schulmann zu werden : pädagogische Lektüre und Pädagogikunterricht haben mein ganzes Interesse beliebter, gerechter Lehrer, wie es von Bruns hieß: „Er war ein Lehrer" ein tüchtiger, liebevoller Lehrer; mit Freude an den Kinderherzen arbeiten. Gibt es eine schönere, heiligere Arbeit als die, das Kind emporzuheben; eine feinere Freude, sich mit ihm zu freuen, durch es nochmals Kind zu werden?

Jugendpsychologisches Material.

Das Studium der freien Ideale ist für den Versuchsleiter wohl ein sehr fesselndes, weil es tiefere Einblicke in das Gewebe des jugendlichen Seelen- iebens gewährt. Während mancher geschickt einem Bekenntnis auszuweichen versteht, schreiben andere mit größter Offenheit und Ehrlichkeit, ja, manche Zeugnisse über ideale Musterbilder muß man geradezu mit einem Gefühl der Dankbarkeit lesen, weil sie oft geheimste Regungen und Strebungen des Jünglingsherzens enthüUen. Neben Begeisterungsfähigkeit und idealem Schwung finden wir Oberflächlichkeit und sinnliche Begierden, neben großen produk- tiven Arbeitsplänen erschreckende Nüchternheit, neben phantastischen Hoff- nungen und Wünschen eine pessimistische Weltanschauung und skeptische Stellung zum Leben. Wenn Rey. von dem häufigeren Auftreten des Peer- Gynt-Typus, des Träumers und Chancenmenschen bei seinen Vpn. spricht, so zeigt sich bei den unsrigen ein mehr realer Blick für Leben und Menschen- tum, für die Notwendigkeit zäher und zielbev^nißter Arbeitsamkeit, so daß wir wohl behaupten können, daß ein frischer gesunder Geist durch unsere Jugend hindurchweht (und wie herrlich sich dessen Früchte zeigten, hat uns der gewaltige Krieg in bewunderungswürdigen Taten genugsam offenbart).

Zunächst einige Belege für ausweichende Antworten: Kann kein Ideal sagen, dem ich direkt zustrebte schwebt mir immer vor; doch es zu nennen, ist mir unmöglich ein Ideal existiert nur in meinem Geiste ein eigen- tümliches Gefühl hat mich noch nicht zur Entscheidung kommen lassen bilde erst ein Ideal wenn ich den Schulstaub von meinen Füßen geschüttelt

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 3

34 Michael Kesselring

habe ich habe mehrere Vorbilder, aus denen ich mir ein Phantasiebild gebildet habe mir ist bis jetzt noch kein vollkommenes Ideal aufgetaucht.

Manche pochen auf ihre Selbständigkeit und rühmen ihren nüchternen Blick, wobei etwa zu lesen ist: IdeaHsten mag ich nicht; möchte mehr Reahst sein, ungefähr nach den Anschauungen Nietzsches ich brauche keines; mir sind ja auch, -wie sog. „Idealmenschen", Einsicht, Vernunft und freier Wille gegeben bin noch zu jung, mich für eines zu entscheiden; nur die Er- fahrung soll mich leiten habe kein Ideal; bin ein viel zu nüchterner Mensch und sehe die Welt an, wie sie ist, strebe dem zu, was mein besseres Innere mir vorschreibt. Auch die Zeitverhältnisse sind nicht ideal.

Der pessimistische Zug, der manchmal durch die Jugend geht, leuchtet aus folgenden Belegen heraus: Menschen können nie ideal sein, weil sie nie vollkommen werden ich strebe nach einem unbestimmten Etwas, das ich nie erreichen kann. Wie kann man Menschen, unter denen es vielleicht nur zwei oder drei wahrhaft Gute gibt, überhaupt ideal nennen? kein Ideal deckt sich mit meinen Vorstellungen; am liebsten Pessimismus ich habe leider kein Ideal wie Lenau tiefernst, pessimistisch, weltflüchtig, zurück- gezogen, sich selbst lebend ; auch bei mir Hang zur Einsamkeit vollkommen Pessimist wie Schopenhauer philosophierend und eingesponnen lebend, „aber vor einem jeden solcher Bekenntnisse schäme ich mich und bereue oft jedes Wort, das mein Innerstes offenbart".

Von den Wunsch- und „Möchte"-Idealen verraten manche kühne Pläne, andere zeichnen sich durch einen Zug ins Phantastische aus, und manche überraschen durch ihre Naivität. So berichtet uns einer in warmen Worten von seiner Trilogie „Gudrun", die ihn beschäftigt; ein anderer ist an der Vollendung seines Jugendwerkes „Der Punier" gerade tätig; ein dritter hofft, in der Malerei etwas zu erreichen, da bei ihm kleine Erfolge nicht ausge- blieben seien, und verschiedene setzen ihr ganzes Streben ein, um einst als Violin- oder Klaviervirtuosen wirken zu können. Ein Begeisterter will Kämpfer sein im Heere des Lichts, während ein zweiter ein Ideal in sich werden fühlt, das ein großes Durcheinander von Merkmalen darstellt, das erst gären muß und: „in voller Majestät wird ihm mein Ideal entsteigen!" Versichertunsein Jüngling, daß er ein Geistesheld wie Rousseau sein will, um die verschrobenen Gedanken aus den Köpfen der Menschen zu verjagen, so bescheidet sich sein Freund damit, daß er „eine Originalität" geben will; ein Dritter möchte uns folgende Überzeugung beibringen: „Das christliche Ideal der Liebe, die sich bis zur Feindesliebe ausdehnen soll, ist nicht das höchste. Dieses Ideal bezieht sich nur auf den Umgang; aber der Mensch hat eine höhere Auf gäbe : für sein eigenes Selbst zu wirken". Bei den Beispielen, die wir noch hierher stellen, dürfte die Neigung unserer Jugend zum Naturalis- mus etwas auffallen: Naturmensch sein Koloniallehrer Gutsverwalter oder Forstmann im Ausland große Reisen mit Büchse und Kamera; nie- mand Untertan und jedermanns Freund Entdecker und Forscher wie Filchner, Stanley Soldat bei der Marine schneidiger Reiteroffizier wie Körner und Ziethen Naturmensch, ohne gesellschaftHchen Zwang, in die Urwälder versetzt. Ohne jede objektive Religion. Verkehr mit der sinnlichen Natur, ihrer Sprache lauschen, die mächtiger und reiner ist als die jedes Menschen Freude an der Natur, fühle mich heimisch in der Stille des Waldes; das tolle Treiben der festlichen Gelegenheiten ist mir ebenso verhaßt wie übermäßiges

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 36

Trinken und Rauchen; von weiblichen Personen fühle ich mich nicht ange- zogen, eher abgestoßen Wandern, Turnen, Fußball, Kegeln.

Ausgesprochene Genußideale traten 0,8 0,0 auf und beziehen sich auf Selbständigkeit, Naturfreude und Geselligkeit. Es waren folgende: Ich lebe in den Tag hinein, das andere ist mir gleich; nur Behaglichkeit, Liebe und Freundschaft sind nötig zu meinem Glück Sportsmann und Kavalier Junggeselle in der Stadt: abwechslungsreiches Leben, ohne darüber Vorwürfe zu bekommen; kann große Reisen unternehmen; unabhängig von jedermann und viele Vergnügen Lehrer in stillem schönem Dorfe in aller Gemütlichkeit

Frauenideale wurden von unseren Vpn. viermal genannt. Große Ge- stalten aus der Geschichte oder Dichtung finden sich nicht darunter. Die bei unserer Untersuchung erwähnten scheinen zugleich Ideale der Liebe der Sem. zu sein. Einmal ist ausgeführt: . . . nach Seite des Gefühlslebens ein be- stimmtes weibliches Wesen, in meinen Augen das edelste Wesen überhaupt", ein anderes Mal: „Mein Ideal ist ein durch und durch edles Wesen, mit dem ich zum Wohle der anderen leben kann, ein Leben nach dem Grundsatze: Willst du die Welt genießen, so entsage ihr!..." Ein Sem. schrieb: „Kein Mann!" und hüllte sich dann in Schweigen. Ein Schüler der 1. Kl. bringt ein Frauen- und Berufsideal zugleich: „Die Lehrerin N. N. Sie ist wohl ein Weib(!), und es könnte scheinen, als ob ein Mensch, der einmal ein Mann werden will, sich kein Weib zum Vorbild nehmen sollte. Sie ist aber als Mensch so vornehm und edel und als Lehrerin im Umgang mit den Kindern erst recht, daß ich ihr immer nachstreben und so zu werden suche wie sie.**

An dieser Stelle wollen wir zunächst noch eine kurze Betrachtung über die Alters- und Klassendifferenzen bei den Lehrerseminaristen ein- schalten. Für endgültige Schlüsse ist freilich das Material bei Rey. und noch mehr bei uns, wo nur eine Lehrerbildungsanstalt in Betracht kommt, ein ziem- lich geringes. Für Rey.s männliche Vpn. (398) zwischen dem 18. und 25. Lebens- jahr nimmt die Klassenfrequenz von 60 über 90 (im 20. Lebensjahr) ab bis 84, bzw. 44. Besonders auffallende Schwankungen für die Stellungnahme seiner Vpn. ergaben sich eigentlich bei keiner Gruppe der möglichen Persön- lichkeitsideale; nur treten Bekanntenideale vom 23. bis 25. Jahre überhaupt nicht mehr auf, während in der Abteilung für fremde Dichter die Nennungen etv^-as zunehmen. In unserer Untersuchung, bei der nur zwei Klassen und das 16. 20. Lebensjahr in Betracht zu ziehen sind, tritt weniger eine Alters- ais eine Differenz nach den Klassen heraus. Diese Unterschiede sind durch die Klassenstoffe und -ziele mit beeinflußt und äußern sich in einem Hervor- treten ethischer Ansichten und lebhafterem Berufsinteresse. Bei Beleuchtung der Gründe müssen wir die Frage nach spezifischen Klassen- und Altersunter- schieden nochmals berühren.

Bei einer Gesamtgegenüberstellung der Versuchsergebnisse zwischen den norwegischen und den deutschen Lehrerseminaristen können wir uns dem Eindruck nicht verschließen, daß letztere in der geistigen Entwicklung weiter seien. Zum Teil läßt sich diese Erscheinung aus der geringen Vorbildung der norwegischen Lehrerseminaristen erklären, worauf Rey. II S. 23 hinweist; doch könnte auch eine allgemeine Entwicklungserscheinung der nordischen Jugend gegenüb^ der von südlicheren Breiten vorliegen, zu welch geographischer Begründung auch Gründe des Volkscharakters und der kulturellen Eigenart und Weltlage erklärend treten müßten. Auch Rey. I wies auf die typische

36 Michael Kesselring, Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter

langsamere Entwicklung norwegischer Volksschulkinder gegenüber den eng- lischen, sächsischen, amerikanischen Schulkindern hin bei seiner Zusammen- fassung in den Punkten 4 und 5, a. a. 0. S. 247/248.

Schließlich gilt es noch, den Einfluß besonderer Zeitumstände zu prüfen. Es ist klar, daß die Nichtbeachtung solcher Umstände zu einer wich- tigen Fehlerquelle werden kann. An der Hand der Schülerbeantwortungen lassen sich manche Zeiteinflüsse herausfinden. So wiesen wir schon auf den Beweggrund für die häufigere Wahl des verblichenen Prinzregenten Luitpold von Bayern hin, dessen Geburtstag sowie die Stiftung eines Schulturn- und Spielfestes möglicherweise zur öfteren Nennung führte. Die jeweilige Zu- sammensetzung des Lehrkörpers zur Zeit der Versuche, insbes. der Fachvertreter im Pädagogikunterricht, in Religion, deutscher Sprache und Literatur, in Musik und Turnen spielt in bezug auf Lehrerideale eine bedeutende Rolle. Auch zeigt jede Klasse in jedem Jahre einen anderen Mischtypus von Schülerindi- vidualitäten, örtliche Umstände mögen auch hereinspielen, also woher ein Schüler stammt, wo er aufwuchs, in welchen Kreisen er sich jetzt aufhält (Land und Stadt, Wald und Gebirge oder Ebene und Ackerbau). Einmal wurde Siegfried als Ideal angegeben, da einige Tage vorher Hebbels „Nibelungen" aufgeführt waren. Ein Vikar mit gutem Organ und Rednerpathos regte in zwei Fällen zur Ergänzung freier Ideale an. Vor dem Kriege hatte der Roman „Helmut Harringa" einiges Aufsehen erregt, wurde von den Sem. gelesen und der Titelheld wiederholt zum Musterbild des eigenen Strebens erhoben. Wie die Bereicherung des Gedankenkreises zu neuen Idealgestalten führt, beweisen uns die nur von der 2. Kl. genannten Vorbilder Lessing und Hebbel, sowie der Name Pestalozzis, welcher gegenüber der 1. Kl. mit einer Nennung in der 2. Kl. 7 mal vorkommt. Auch innere Erlebnisse besonderer Art können sich geltend machen; so sind zwei Zeugnisse von Mißtrauen gegen Freundes- ideale erfüllt, weil einer sich verleumdet fühlte, und einem anderen Treue und Freundschaft gebrochen worden waren. Bei Rey. I ist hingewiesen auf den Einfluß des Wintersports für die Bekanntenideale ; trafen doch von 94 abge- gebenen Stimmen für lebende norwegische öffentliche Personen 57 auf Ver- treter des Sportlebens, da jener Versuch im Winter ausgeführt worden war.

Im vierten Kriegsjahr war es uns möglich, eine Befragung nach Idealen vorzunehmen, wozu uns besonders das Interesse bewog, den Kriegseinfluß festzustellen. Allerdings ist die Zahl der Vpn. eine verschwindend geringe gewesen, da manche zu landwirtschaftlicher Hilfeleistung beurlaubt waren, nämlich in der 1. Kl. 27 Vpn., in der 2. Kl. 21 Vpn. Eine realistischere Lebensauffassung und ein größerer Ernst scheinen sich in den Schülerantworten auszuprägen. Ein direkter Einfluß der Kriegszustände läßt sich jedoch nur bei vier Vpn. nachweisen. In der 1. Kl. schwebt Hindenburg in einem Falle als Strebeideal wegen seiner W^illenskraft und Charakterstärke vor, und in einem anderen Falle besteht nur ein loser Zusammenhang: ein pfUchttreuer Lehrer gilt als Ideal, wenn er sich in der Kriegszeit mit Aufopferung in den Dienst der Schule und der Gemeinde stelle. In der 2. Kl. (5 davon waren im Heeres- dienst) zeigen sich 2 mal Zusammenhänge in freien Idealen mit dem Kriege: Soldat, der für die Heimat sein Leben gewagt hat, und ein früherer Volks- schullehrer sollen zusammen das vorbildhche Menschenbild Ägeben ein all- gemeines Musterbild nach den Männern Bismarck, Hindenburg und Luden- dorf f; „die Willensstärke Bismarcks, der zugleich mit weitschauendem Bhck

Beziehungen zwischen Intelligenz u. Moralität bei jugendl. Verwahrlosten. 37

das Gute seines Handelns voraussah und sich davon nicht abbringen Ueß, vereinigt sich mit der Klarheit Ludendorffs und der Tatkraft Hindenburgs zu einem Ideal."

Daß besondere zeitliche und örtliche Umstände bei der Vornahme unserer Experimente die Stellungnahme und Wahl der Vpn. beeinflussen können, läßt sich wohl nicht verkennen. Zahlenmäßig jedoch nahmen solche Zeiteinflüsse nur geringen Raum ein; an dem allgemeinen Gesamtbild der Versuchsergeb- nisse vermögen sie kaum bedeutende Änderungen herbeizuführen. Solche Einflüsse machen sich als Fehlerquelle nur in geringem Grade geltend, sodaß wir in dem jeweils mit methodischer Gründlichkeit gesammelten und gesich- teten Material von Schülerantworten tj'pische jugendkundliche Äußerungen zu erblicken haben. Selbst ein voreingenommener Kritiker solcher Ideal- forschungen muß zugeben, daß die zufälligen Umstände bei der großen Zahl von Vpn. und bei wiederholter Befragung derselben Klassen in verschiedenen Jahren nur mit den geringsten Werten anzusetzen sind, ja sich ganz aus- gleichen können. (Schluß folgt.)

Über die Beziehungen zwischen Intelligenz und Moralität bei jugendlichen Verwahrlosten.

Von Paul Riebeseil.

1. Ergebnisse früherer Arbeiten.

In den „experimentellen Beiträgen zur Psychologie der moralisch verkommenen Kinder'* von Margit Dosai-Revesz sind im Jahre 1911 zum ersten Male Untersuchungen über die Beziehungen zwischen den verschiedenen Seelenfunktionen unternommen 1). Die früheren Arbeiten können, da ihnen nur geringe experimenteile Erfahrungen zugrunde liegen, nur als Meinungsäußerungen einzelner Autoren gewertet werden. So wurden denn auch die Ansichten, daß völlige Abhängigkeit von Moral und Intelligenz oder völlige Unabhängigkeit beider Funktionen bestehe, je nach dem Standpunkt der Verfasser in etwa gleicher Zahl vertreten. Die erwähnte ungarische Arbeit bezieht sich auf 40 Knaben im Alter von 9 16 Jahren. Geprüft wurden Rechenfähigkeit, Ge- dächtnis, Auffassungs- und Aussagefähigkeit. Der Vergleich wurde an einer etwas größeren Zahl von Nichtverwahrlosten geführt. Bei beiden Gruppen, den Verw^ahrlosten und den Nichtverwahrlosten, wurden bei einzelnen Teilversuchen die intellektuell Schwachbefähigten abgetrennt und besonders gewertet. Leider ist aber diese Trennung nicht überall durchgeführt, so daß das Ergebnis, daß die moralisch Schwachen durch- weg ein viel schlechteres Resultat ergeben als die Normalen, nicht einwandfrei erscheint. Schon das Ergebnis, daß im Gegensatz zu dieser Feststellung nach den Tabellen die moralisch und intellektuell Schwachen durchweg besser abschneiden als die nur intellektuell Schwachen, dürfte zu denken geben. Der geringe Umfang des Materials, der Vergleich mit teilweise von andern Forschern stammenden Untersuchungen nor-

') Vgl. Ztschr. f. ang. Psychologie, Bd. 5, 1911.

38 Paul Riebeseil

maier Kinder, die 1911 noch keineswegs einwandfreie Eichung der Tests geben zu weiteren Bedenken Anlaß. Ähnliches gilt von einer ebenfalls ungarischen Arbeit des Jahres 1918. Bela Tabajdi-Kun kommt in seiner „Intelligenz-Prüfung der kriminellen Jugend" i) zu dem Er- gebnis, daß die Intelligenz der kriminellen Jugendlichen weit unter der der Hilfsschüler liegt. Auch hier sind zur Kontrolle der Ergebnisse andere Autoren benutzt, außerdem hielt sich der Verfasser streng an die Binet-Simonschen Vorschriften, die bekanntlich für die Lebensalter über 10 unbrauchbar sind. Eine Differenzierung des Materials der Verwahrlosten fand nicht statt. Zu einem ganz andern Ergebnis ist 1918 Gregor gekommen, der auf Grund ausgezeichneter Einzelcharakter- analysen den Satz aufstellte , „daß die Funktion des Wollens eine selbständige Anlage und Entfaltung hat, die in keiner direkten Be- ziehung zur Anlage und Entwicklung des Intellekts steht." 2) Es er- schien daher erwünscht, durch Anstellung von Massenexperimenten eine Klärung dieser Meinungsverschiedenheiten herbeizuführen, zumal die bereits 1913 von F. Kramer 3), allerdings an einem kleinen Beob- achtungsmaterial, vorgenommenen Untersuchungen die Gregorsche Ansicht zu bestätigen schienen.

2. Methodik der eigenen Untersuchungen.

Für die Verwahrlosten stand folgendes Material zurVerfügung: 46 Schüler der ersten Klasse der damals 6 stufigen Waisenhausschule, 24 Schüle- rinnen der ersten Klasse der 6 stufigen Waisenhausschule, 29 schul- entlassene Zöglinge der Erziehungsanstalt für Knaben, 26 schulent- lassene Zöglinge der Erziehungsanstalt für Mädchen. Als normales Vergleichsobjekt wurde die zweite Klasse einer 8 stufigen Volksschule mit 24 Knaben benutzt. Mit der einzigen Ausnahme der Erziehungs- anstalt für Mädchen wai'en auf beiden Seiten die Hilfsschüler aus- geschlossen. Als Tests wurden mit geringen Änderungen die für die betreffende Altersstufe bereits bei der Begabtenauslese in Berlin <) be- währten Aufgaben benutzt &). Geprüft wurden: 1. Aufmerksamkeit. Es handelte sich um einen Ausstreichversuch. Auf einem gedruckten Formular waren in 20 Minuten alle a, e und n auszustreichen. Im ganzen waren es etwa 600 zu streichende Buchstaben. 2. Die Kon- zentrationsfähigkeit. In 10 Minuten sollten möglichst viele Dingworte hingeschrieben werden, die sich auf Gegenstände der Straße beziehen und in denen kein e vorkommt. 3. Das Gedächtnis. In 5 Minuten sollte in einzelnen Worten alles das hingeschrieben werden, was dem Prüfling bei dem Worte „Baum" einfällt. Eine Einübung mit dem Beispiel „Vogel" ging voraus. 4. Die gebundene Kombination. Ge- wählt wurde der Textlückenversuch nach Ebbinghaus in der in Berlin

») Vgl. Ztschr. f. Kinderforschung, Bd. 23, 1918.

") Vgl. A. Gregor und E. Voigtländer, Die Verwahrlosung. Berlin 1918, S. 160. 3) Vgl. Monatsschr. f. Psychol. und Neurologie, Bd. 33, S. 500, 1913. *) Vgl. Moede-Piorkowski-WolH, Die Berliner Begabtenschulen, Langensalza 1918. ') Die Hamburger Tests (vgl. Ztschr. f. päd. Psychologie, Bd. 19, 1918) waren zu der Zeit, als die Versuche angestellt wurden, noch nicht erschienen.

Beziehungen zwischen Intelligenz u. Moralität bei jugendl. Verwahrlosten 39

verwandten Form. Als Zeit wurde eine halbe Stunde gewährt 5. Die freie Kombination. Die drei Worte Spiegel -Mörder -Rettung sollten zu einer, oder wenn möglich mehreren Geschichten zusammengesetzt werden. Zeit: 20 Minuten. Die Methode wurde an dem Beispiel Spiel- Tränen-Freude geübt. 6. Die Urteilsfähigkeit. Es wurde eine Geschichte vorgelesen, deren Abschluß von den Prüflingen zu erraten w-ar. Zeit: 15 Minuten. 7. Die Anschauung. Es wurde ein Foliobogen genommen, vor der Klasse einmal in der Mittellinie vertikal geknickt, alsdann noch einmal horizontal geknickt, dann an der gefalteten Ecke ein recht- winklig-gleichschenkliges Dreieck abgeschnitten. Frage: Zeichnet die Figur oder die Figuren hin, welche entstehen, wenn ich das doppelt gefaltete Blatt wieder auseinandernehme. Zeit: 3 Minuten.

Von den Waisenhauszöglingen w^aren etwa 50 Prozent Fürsorgezög- linge, die übrigen 50 Prozent moralisch normal. Irgendein Unterschied in der Intelligenz der Normalen und Verwahrlosten innerhalb derselben Klasse war weder nach den Schulleistungen noch nach den Ergebnissen der Prüfung zu erkennen. In den Erziehungsanstalten waren ledig- lich schwerer Verwahrloste, von denen die Mehrzahl bereits kriminell oder sexuell verwahrlost war.

3. Die Ergebnisse.

Um die Auswertung und einen Vergleich zu ermöglichen, wurden für die Einzelleistungen Zensuren gegeben, bei einigen Tests von 1 7, bei andern von 1 5. Da es sich um Vergleiche handelt, wird gegen dieses Verfahren kaum etw^as einzuwenden sein. Die Variationsbreite war bei allen Tests eine genügend breite, so daß sie, obwohl ursprüng- lich für die Begabtenauslese aufgestellt, auch für unsern Zweck, bei dem es sich um die Aufstellung eines Mittelwertes für eine Gesamtheit handelt, sehr gut zu brauchen sind. Die Ergebnisse sind in den Ab- bildungen graphisch veranschaulicht, w^obei die normale Volksschule mit einem Strich, die Waisenhausknabenklasse gestrichelt, die Waisen- hausmädchenklasse punktiert, die Erziehungsanstalt für Knaben durch kleine Kreise und die Erziehungsanstalt für Mädchen durch kleine Kreuze dargestellt ist. Auf den Abszissenachsen sind die Zensuren, auf den Ordinatenachsen die Zahl der zu den Zensuren gehörigen Prüflinge in Prozent gegeben. Wegen der Raumnot sind nur einige Ergebnisse vollständig graphisch wiedergegeben.

1. Die Aufmerksamkeit. Bei der Bewertung wurde nur die Zahl der richtig ausgestrichenen Buchstaben berücksichtigt. Falsche Streichungen waren selten. Wenn auch bei der Beurteilung die Schnelligkeit der Arbeitsleistung eine Rolle spielt, so ist diese doch von untergeordneter Bedeutung, da die Zeit so lang gewählt war, daß nur wenige Aus- nahmen nicht bis zum Ende des Textes gekommen sind. Das Ergebnis zeigt Abb. 1 S. 40. Wir sehen aus der Zw^eigipfligkeit der Kurven sowohl bei dem normalen als auch bei dem anormalen Material eine deutliche Inhomogenität. Wesentliche Unterschiede sind bei den SchulpfHchtigen der beiden Gruppen nicht zu entdecken. Die Erziehungsanstalt für Knaben weist ein bedeutend besseres Ergebnis auf, entsprechend dem

40

Paul Riebesell

höheren Alter und der Art der Verwahrlosung, die durchweg in kriminellen Handlungen besteht. Die Erziehungsanstalt für Mädchen, bei der die in den Gruppen befindlichen Hilfsschülerinnen mit geprüft wurden, schneidet am schlechtesten ab, was durch die Art der Verwahrlosung, die hauptsächlich in Herumtreiben und Männerverkehr besteht, ihre Erklärung findet.

2. Die Konzentrationsfähigkeit. Wie die Kurve für das normale Material zeigt, ist die Zensierung diesem angepaßt. Es wurde die Zahl

Zeichen -Erklärung für Abb. 1—4 :

normale Volksschule

ooooeooo Erziehungsanstalt für Knaben

Waisenhausknabenklasse

Erziehungsanstalt für Mädchen Waisenhausmädchenklasse

2 J <► 5

Abb. 1.

i: 3 it

2. Konzen^psfionsßhigkeit.

Abb. 2.

der niedergeschriebenen Worte gewertet. Wesentliche Unterschiede in den Kurven sind nicht zu entdecken, nur daß das anormale Material lange nicht so einheithch zusammengesetzt ist wie das normale, was dadurch erklärlich ist, daß die in einer Klasse vereinigten Zöglinge aus den verschiedensten Klassen der Volksschulen gekommen sind. (Abb. 2.)

3. Das Gedächtnis. Die verschiedenen Gebiete, aus denen die Be- griffe gewählt waren (Arten, Teile, Eigenschaften, Verwendung usw.), wurden gewertet. Nennenswerte Unterschiede zeigten sich nicht. Es

fiel nur das schlechte Ergebnis bei den Mädchen des Waisen- hauses und in der Erziehungs- anstalt für Knaben auf. (Abb. 3.) 4. Die gebundene Kombi- nation. Die Zahl der richtig ausgefüllten Lücken im Text wurde gewertet. Während hier die anormalen Schulpflichtigen und die schulentlassenen Mäd- chen, letztere infolge der mitge- rechneten Hilfsschüler, wesent- lich hinter den Normalen zurück- ^ s e T bleiben, zeigt der Durchschnitt * ßebunlrre iiomL3twn der schulentlasseueu Knaben ein

^^Ij 3 weit besseres Resultat. (Abb. 4.)

Beziehungen zwischen Intelligenz u. Morahtät bei jugendl. Verwahrlosten 41

5. Die freie Kombination. Zahl und Güte der Erzählungen w-urde gewertet. Nennenswerte Unterschiede sind nicht zu entdecken.

6. Die Urteils! ähigkeit. Die Zensierung richtete sich nach der Art der Einfühlung. Das anormale Material zeigt auf der ganzen Linie bessere Werte als das normale. Ob dies daher kommt, daß die meisten bereits durch verschiedene Schicksalsschläge enger mit dem praktischen Leben in Berührung gekommen sind, mag dahingestellt bleiben.

7. Die Anschauung. Es zeigte sich in dem Ergebnis das erwartete schlechte Resultat bei den Mädchen, aber auch die Knaben des Waisen- hauses schneiden auffallend schlecht ab.

8. Das Gesamtergebnis. Um sämtliche Resultate miteinander ver- gleichen zu können, wurden für jeden Prüfling die Einzelzeugnisse addiert. Daß bei

diesem Verfahren einzelne Leistun- gen andern gegen- über zu hoch ge- schätzt werden, na- mentlich diejeni- gen , bei denen 7 Zensuren zur Verfügung stan- den, ist selbstver- ständlich. Da es sich aber nur um einen Vergleich handelt und bei allen Gruppen in gleicher Weise ver- fahren w^urde, dürf- ten kaum Einwendungen gegen dieses Vorgehen zu erheben sein. Abb. 4 zeigt das Ergebnis. Auf der Abszissenachse sind die Zahlen, die sich als Summe der Zensuren ergaben, aufgetragen. Das Bild zeigt außer dem schlechten Ergebnis bei den Mädchen nur die Inhomogenität des anormalen Materials. Größere Unterschiede, die bei der Größe der Variationsbreite von 10—36 sicher erkennbar gewesen wären, lassen sich nicht nachweisen. In folgender Tab. sind für jeden Test die Durchschnittswerte berechnet:

73-i1 2Z-2't 23-27

Gesimtergetnis

Abb. 4.

Ze-30 37-33

V(24)

W. H. K. (46) j W. H. M. (24) | E. A. K. (29) | E. A. M. (26)

12,3—13,2—14,0

11,8—13,4—14,3 11,4— 13,4— 14,1 1 14,3 16,7 19,0}l5,3 17,5 19,10

1.

4,7

4,5

4,2 ' 3,1

5,1

2.

2,8

2,3

3,3 1 2,8

2,8

3.

2,6

2,2

3,3 ; 3,2

2,5

4,

4,1

4.8

5,2 3,9

4,8

5.

3,3

3,1

3,5

.3,2

3,0

6.

3,6

3,1

3,1

3,2

3,0

7.

2,3

3,2

33

2,2

2,5

1 23,4

23,2

25,9 1 21,6

23,7

! m.

I IL

V.

i I.

IV.

42 Paul Riebesell

Außer der Zahl der Prüflinge für die Volksschule (V), die Knaben- klasse des Waisenhauses (W. H. K.), die Mädchenklasse des Waisen- hauses (W. H. M.), die Erziehungsanstalt für Knaben (E. A. K.), die Erziehungsanstalt füi- Mädchen (E. A. M.) enthält die Tabelle das Alter der Prüflinge in Jahren und Monaten, und zwar jedes Mal zuerst das geringste, dann das Durchschnitts- und zuletzt das höchste Alter. Zum Schluß sind die Durchschnittswerte der Zensuren addiert und danach eine Rangordnung der Gruppen aufgestellt. Sie lautet: 1. E. A. K., 2. W. H. K, 3. V., 4. E. A. M., 5. W. H. M. Nebenher wurde für jede Klasse eine Rangordnung der Prüflinge berechnet und zwar ebenfalls einfach durch Addition der Einzelzensuren. Ich bin mir wohl bewußt, daß dieses Verfahren nicht einwandfrei ist, sondern daß die endgültige Ranglinie aus den Rangordnungen für die Einzelteste hätte berechnet werden müssen. Da aber diese Untersuchung nur beiläufig zur Prüfung der Brauchbarkeit der Teste gemacht wurde, mag dieses Verfahren ausreichen. Gleichzeitig mit der Übersendung der Aufgaben waren die Klassenlehrer gebeten, eine Intelligenzreihe für die Prüflinge nach ihren Schätzungen aufzustellen und anzugeben, ob es sich um einen guten oder schlechten Jahrgang handle. Ein Vergleich mit den von mir berechneten Ranglisten ergaben folgende Abweichungen: Der durchschnittliche Unterschied der von mir berechneten und der vom Lehrer geschätzten Klassenplätze betrug in der Volksschule 5,1; in der W. H. K. 6,1; in der W. H. M. 3,2; in der E. A. K. 2,7 und in der E. A. M. ebenfalls 2,7. Bei der geringen Anzahl der Teste dürfte das Ergebnis als durchaus befriedigend bezeichnet werden können. Bemerkenswert ist noch, daß der Jahrgang der Volksschule als normal, der der Knabenklasse des Waisenhauses als (in bezug auf die Schul- leistungen) schlecht bezeichnet wurde. Werden in der E. A. M. die Hilfsschülerinnen weggelassen, so wird das Ergebnis auch dort be- deutend besser.

4. Schlußfolgerungen.

Aus den Ergebnissen sieht man, daß von einem allgemeinen Zurück- bleiben der Intelligenz bei Verwahrlosten keine Rede sein kann. Auch ein Stehenbleiben der Intelligenz auf der Stufe etwa des' 10. Lebens- jahres, wie es vielfach, in Analogie mit den Schwachsinnigen, be- hauptet wird, ist durch die Tatsachen widerlegt. Scheidet man die geistig Defekten aus, so lassen sich die moralisch Defekten von den moralisch Normalen in ihrer Intelligenz nicht unterscheiden. Eine andere Frage ist die, ob der Prozentsatz der moralisch Defekten unter den geistig Intakten derselbe ist wie unter den geistig Defekten. Von vornherein ist nicht einzusehen, warum dies nicht der Fall sein sollte. Eine Untersuchung darüber ist noch nicht gemacht. Es scheint aber so, als wenn Psychopathen mit Gefühls- und Willensdefekten unter den intellektuell Normalen ebenso häufig sind wie unter den intellektuell Defekten. Die Frage 'könnte auch umgekehrt dadurch geprüft werden, daß die Zahl der geistig Defekten und Normalen einerseits bei den Verwahrlosten, andererseits bei den moralisch Normalen untersucht würde. Zu diesem Zwecke wurde die Zahl der Hilfsschüler unter samt-

Beziehungen zwischen Intelligenz u. Moralität bei jugendl. Verwahrlosten 43

liehen Hamburger Volksschülern festgestellt. Sie betrug nach dem letzten von der Oberschulbehörde veröffentlichten Jahresbericht von 1914 rund 1,4 Prozent. Andererseits war die Zahl der Hilfsschüler unter den im Jahre 1917 von der Behörde für öffentliche Jugendfür- sorge in Zwangs- oder Fürsorgeerziehung genommenen Minderjährigen etwa 7 Prozent. Im Waisenhause waren im August 1918 etwa 10 Prozent Hilfsschüler, in der E. A. K. etwa 5 Prozent, in der E. A. M. etwa 6 Prozent. Das scheint nun zunächst den bisherigen Ergebnissen zu widersprechen und ein Zeichen dafür zu sein, daß Intelhgenz und Moralität in der Weise miteinander verknüpft sind, daß ein moraUscher Defekt in der Regel mit einem intellektuellen verbunden ist. Bei ge- nauerem Zusehen erkennt man aber, daß dieser Schluß falsch ist und daß er auch die Ursache für die Fehlschlüsse früherer Autoren abgibt. Eine einwandfreie Prüfung für morahsche Quahfikation gibt es nicht. Daher darf das Material der Volksschule dem der Fürsorgezöglinge nicht als moralisch normal gegenüber gestellt werden. Es werden zweifellos in der normalen Volksschule sich Individuen befinden, die morahsch weit unter manchen Fürsorgezöglingen stehen. Sie werden aber durch ihre Intelligenz davor bewahrt, daß der moralische Defekt offenkundig wird und zur staatlichen Erziehung führt. Praktisch nachweisbar ist eben allein die moralische oder amoralische Handlung, die ein Ausfluß des Charakters, des Zusammenwirkens von Intelligenz, Gefühl und Wille, ist. Wenn ich also Normalschüler mit Fürsorgezöglingen ver- gleiche, so stelle ich nur Charakternormale den Charakterdefekten gegenüber. Daß dann unter den letzteren die Zahl der intellektuell Schwachen überwiegt, ist selbstverständlich. Als ein Beweis dafür, daß Intelhgenz- und Moraldefekte miteinander verbunden sind, dürfen aber diese Ergebnisse nicht angesehen werden. Zusammenfassend läßt sich also Folgendes sagen: Reine Moralprüfungen, wie sie von mir in der Ztschr. f. päd. Psychologie i) beschrieben und inzwischen gesondert auf Voll- und Hilfsschüler angewendet sind, geben bei gleichem Lebens- alter und verschiedenem Intelligenzalter keine Unterschiede in der Moralität. Reine Intelligenzprüfungen, wie sie hier beschrieben v^oirden, geben bei gleichem Lebensalter und verschiedenen Moralitätsstufen keinen Unterschied in der Intelligenz. Nur wenn verschiedene Charakter- stufen gewählt werden, die eine Hälfte also von vornherein mit Intelli- genz- und Willensdefekten behaftet ist, ergeben sich sowohl Unter- schiede in der Intelligenz wie in der Moralität.

Daß die Fürsorgezöglinge bei allen Intelligenzprüfungen schlechter abschneiden als die normalen Schüler, hat auch seinen Grund darin, daß ihre Schulbildung außerordentlich lückenhaft ist. Ganz ausschalten lassen sich die Schulkenntnisse bei den Testen nicht, ganz abgesehen davon, daß die Ausbildung der Intelhgenz zweifellos durch den Schul- unterricht beeinflußt wird. Wie stark das anormale Material in bezug auf die Schulbildung von der Norm abweicht, zeigt die Abb. 5 S. 44. In ihr ist zusammengestellt, aus w^elchen Klassen die Volksschüler nach dem Jahresbericht der Hamburger Oberschulbehörde von 1914 die Schule

') Vgl. ztschr. f. päd. Psychologie und experimentelle Pädagogik, Bd. 18, 1917.

44

Paul Riebeseil, Intelligenz u. Moralität bei jugendl. Verwahrlosten

3i -

25-

10 -

verlassen haben (Kurve V). Auf der Abszissenachse sind die Klassen aufgetragen: Selekta, 1, 2, 3, 4, t (tiefere Klassen). Auf der Ordinaten- achse finden sich die zugehörigen Prozentzahlen. Die gestrichelte

Kurve F. Z. gibt die Verhältnisse bei den im Jahre 1917 aufgenommenen schul- entlassenen Fürsorge- und Zwangs- erziehungszöglingen wieder. Ob das auffallende Zurückbleiben in den Schul - leistungen eine Ursache oder eine Folge der Verwahrlosung ist, soll hier nicht weiter untersucht werden, zumal das Fortkommen in der Schule nicht allein von der Intelligenz abhängt.

Daß aus der Unabhängigkeit von Wille und Intellekt wichtige Folge- rungen in bezug auf die Auslese in den Schulen, die Tätigkeit der Lehrer, die Methoden der Fürsorgeerziehung, die Anforderungen an die Reform des Jugendstrafrechts zu ziehen sind, sei hier nur angedeutet.

Der hamburgischen Oberschulbehörde, die die Prüfung der Teste an ihren Anstalten gestattete, sowie den Leitern und Lehrkräften der Volksschule und der Anstalten der Behörde für öffentliche Jugendfür- sorge, die mich bei den Arbeiten unterstützten, sei auch an dieser Stelle bestens gedankt.

Abb. 5.

Muster eines Tagebuches über Kinder.

Von Stefan von Mäday.

Eine der wichtigsten Methoden der Kinderforschung ist und bleibt die freie Beobachtung des Kindes. Mögen die experimentellen Methoden noch so ver- feinert und vermehrt werden, mit diesen allein kann das Wesen des Kindes niemals erschöpfend erforscht werden. Die meisten Entdeckungen verdanken wir der freien Beobachtung, während die Versuche nur dem Zwecke dienen, die durch Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse zu kontrollieren, zu sichern und anzuwenden.

Die Beobachtung ist entweder eine unsystematische oder eine systematische. Gebildete, denkende Eltern und Lehrer werden selbst dann wertvolle Be- obachtungen sammeln können, wenn ihnen gesagt wird: sie mögen alles auf- schreiben, was ihnen am Kinde auffällt. Es ist jedoch ein großer Nachteil solcher unsystematischen Beobachtungen, daß oft gerade Dinge, auf die der Bearbeiter Wert legen würde, nicht notiert werden; andererseits beanspruchen die unsystematischen, tagebuchartig z. B. in ein Buch eingetragenen Beobach- tungen eine mühsame Sichtungsarbeit.

Wertvoller für die Forschung sind die systematischen Aufzeichnungen. Die vom Bearbeiter im vorhinein gestellten Fragen werden vom Beobachter täg- lich beantwortet. Außerdem können auch unsystematische Beobachtungen ge- sammelt werden; diese werden in die Rubrik „Anmerkungen" eingetragen.

Stefan von Maday, Muster eines Tagebuches über Kinder 45

Da ich in der Absicht, gewisse physiologische und psychologische Zusammen- hänge zu studieren, seit 1909 ein tabellarisches Tagebuch über mich selbst führe, habe ich zur Zeit der Geburt meines älteren Sohnes (1912) ein ähn- liches Tagebuchscheina zur Beobachtung von kleinen Kindern entworfen (I. Muster;. Als mein Sohn sein 3. Lebensjahr vollendete, entwarf ich ein neues Schema (11. Muster), und in schulpfhchtigem Alter werden vielleicht wieder neue Rubriken nötig sein. Die Tagebücher werden von meiner Frau geführt. (Das ei-ste Muster war bereits in der pädagogischen Abteilung der Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik in Leipzig 1914 ausgestellt.) "'"

Auf Grund der nach diesen Mustern geführten Tagebücher gelang es mir, manchen wertvollen Vergleich zwischen dem Entwicklungsgange der in der Literatur geschilderten Kinder mit dem meiner Kinder zu ziehen. Es wiu-den jedoch bis heute nur über ganz wenige Kinder systematische Aufzeichnungen geführt, so daß der durchschnittliche Rhythmus der seelischen Entwicklung hieraus nicht festgestellt werden kann. Zur Erforschung desselben ist es wünschenswert, mindestens einige hundert Fälle systematisch zu beobachten. Ich veröffentliche meine Tagebuch-Muster in der Erwartung, daß sich meine Leser in Würdigung des hohen wissenschaftlichen Wertes einer solchen Sammel- forschung mein Ziel zu eigen machen, und daß auf diese Weise die erw'ünschten 400 500 Kindertagebücher, als eine reiche Fundgrube der Kinderforschung, in einigen Jahren einlangen werden.

Anleitung zur Führung eines Tagebuches über Kinder.

Zur Herstellung des Tagebuches wird monatlich je ein Bogen Icm-Quadrat- liniertes Schreibpapier (Größe 34x42 cm) benötigt. Ein solcher Bogen dient als Umschlag; in dessen oberste drei Zeilen werden die Überschriften der Rubriken eingetragen, während die übrigen Zeilen frei bleiben. Von den übrigen Bogen werden die obersten drei Zeilen weggeschnitten, damit sie die Überschriften des Umschlagbogens sichtbar werden lassen. So bleiben auf jedem Bogen gerade 31 Zeilen übrig, und jede Zeile ist für einen Tag bestimmt. Man .braucht demnach monatlich einen Einlagebogen ; die Bogen werden nicht geheftet. (Benutzt man an Stelle des 1 cm -Quadrat -Papiers das überall er- hältliche 1 2 cm-Quadrat-Papier, so dienen je zwei Zeilen dieses Papiers je einen Tag.)

Die Nacht wird zum nachfolgenden Tag gerechnet, so daß je eine Zeile des Tagebuches die Zeit von einem Abend bis zum nächsten Abend in sich faßt.

Im Stabe ,,Befinden" wird der Zustand des Kindes klassifiziert. Die Schätzungs- skala ist von mir nach langjähriger Erfahrung in der Weise aufgestellt worden, daß es fünf Haupt- und vier Zwischenstufen (bezw. Klassifikationsnoten) gibt : das Beste wird mit der höchsten Zahl, das Schlechteste mit der niedrigsten Zahl bezeichnet:

5 = vorzüghch (z. B. „nur selten fühlte es sich so wohl") 0.4 = sehr gut 4 = gut (z. B. „fühlt sich wohl") 4/3 = gut mittel

3 = mittel 3/2 = schwach mittel

2 = schwach (z. B. krank) 2/i = sehr schwach

1 = schlecht (z. B. sterbenskrank).

Bis man in der Anwendung der Skala genügende Übung erlangt, benutze man bloß die (durch ganze Zahlen ausgedrückten) Hauptstufen.

46

Stefan von Mäday

I. Muster. 1. Beispiel, aus dem !

___ *

H

Ö

■»:> es C O

Befinden

'S

■§

ü

M Ö 4) "O

0 0 CO •'^

Vi

ü

IS

Aufenthalt

Nahrung , |

"S

s

"5

0)

n

00

S

X. o OS

J?5

k

H

'■5 <5

'S o

■»3

"S

■«3

1

tc es H

,0

c

0

T3

C 3

C

.s

u

.S

X

0

CO

u

©

ü

U

Schlaf

1

o >

3

Ml 0

©

©

-»3

S-l

©

© ■5

1913. 1.3.

'/»

4

3

2

^/.

4

./»

23»»

4.15

goo '

10

1

Bett

Divan, Arm

1 2

7 1

. Beispiel, aus dem

1917. XI. .

3

4

3

3

3

*/3

3

1900 1200 1700

7»5 1400 1730

12V»

22/4

3

©

© c

1"

p/4

2

6

0

0.2 c

II. Muster.

3. Beispiel, aus dem

H

-p oS

a o

XI »-3

Befinden

c

^

ä

ü

^

©

© .0

H

0

©

to

ä

<5

fa

Sc!

ilaf

to

©

©

O

ß 'S s g

.2 02

6C

H

© c

Stuhl

Ol b

ca 3

© & :0 ©

.'S c

© ©

^ tc

F^ CD

TJ t-,

CS ©

© ö

« .2 fe ß

1917. XII. 1.

12

Bad

Wo Zeitangaben verlangt werden (z. B. in dem Stabe Schlaf zeiten"), da rechne man die Stunden fortlaufend von Mitternacht bis Mitternacht, damit die Wörter „Vormittag", „Nachmittag" usw. weggelassen werden können. Man schreibe also 1300 für 1 Uhr nachm., 19^5 für 73/4 abends.

Im Stabe „Schlafzeiten" kann man sich mit der Eintragung der nächtlichen Schlafzeiten begnügen, insbesondere, wenn die Tages-Schlafzeiten kurz und unregelmäßig sind; es kann sogar diese Rubrik unausgefüUt bleiben; sie bildet hauptsächlich nur eine Hilfe zur Ausfüllung des folgenden, „Schlaf menge" überschriebenen Stabes, auf dessen annähernd richtige Ausfüllung mehr Ge- \\ächt gelegt werden soll. In diesem Stabe werden ganze und Viertel-Stunden verzeichnet; um zur Berechnung des Monatsmittels bequemer addieren zu können, wird die 1^2 Stunde als 2 4 geschrieben.

Muster eines Tagebuches über Kinder

47

Tagebuche über Bela v. M. (geb. 1912, XI. 3.)

, c

Stuhl

JS ©

eS'C

f^, c

.

a

. 3

SS

•S.S

1

ermäße poratur

•s §

PQ

S

a .2

oQ es

o

es

3

0?

Körp Tom

s

a

:e! 60

S

C

5 i q -2 geformt

5200 g

Ausschlag

30

giä.

"

1 breiig

60 cm

am 1. Arm

bä,rl

«

:<J

Anmerkungen

Streu- pulver 1 Tee

Schüttelt das Kollerl. Hält in Bauchlage den Kopf minutenlang hoch

Tagebuche über Laslo v. M. (geb. 1917, V. 7.).

9 1 2 j geformt

61 cm

Sehr brav , spielt lange mit der Puppe. Zieht Mutter und das Kindermädcben beim Haar. Beobachtet fremde Leute scharf. Schläft leicht ein.

Tagebuche über Bela v. M. (geb. 1912, XI. 3.).

Spiele

Träume

Geistige Fort- schritte

Anmerkungen

Krieg, Baukasten, Kochen.

Bin sehr schnell mit der Eisen- bahn gefahren und suchte den Papa und fand ihn.

Beginnt seinen

Vornamen allein zu

8chreit)en.

j Sehr lebhaft, spricht viel vom I Weihnachtsmann, und wünscht sich ein Ariston. Fragt, wie man Ochs, ' Kuh und Stier voneinander kennt.

Die Untergruppen des Stabes „Nahrung" werden nach Verlassen der Milch- diät nicht mehr besonders ausgefüllt; auch können die Überschriften nach Bedarf abgeändert werden.

„Körpermaße" werden monatlich einmal (am Geburtstage) aufgenommen. Das Körpergewicht wird in den ersten Wochen täglich bestimmt. Körper- temperatur wird niu* bei Krankheit gemessen ; es \^ird Stunde und Minute des Messens, sowie die gemessene Körperstelle (z. B. „im Mastdarm") angegeben.

Der Stab „Anmerkungen" enthält die unsystematischen Beobachtungen. Wird uns hier der Raum zu eng, so schreiben wir auf eine Beilage (auf einen Zettel oder in ein Buch) und ver^^eisen darauf im Stab „Anmerkungen".

Die wichtigste Regel des Tagebuches über Kinder ist aber diese: die Au f- zeichnung her übe auf Beobachtung, nicht ab er auf Befragung des

48 Stefan von Maday, Muster eines Tagebuches über Kinder

Kindes. Würde eine Mutter die Tagebuchtabelle in der Weise ausfüllen wollen, daß sie etwa ihr 5 jähriges Kind Jeden Abend oder auch nur ein einziges Mal zu ihrem Schreibtisch ruft und fragt: „Wie hast du dich heute ge- fühlt? Hast du Appetit gehabt? Wie hast du geschlafen? Was hast du geträumt? usw." so würde sie nicht bloß un verläßliche, für eine wissen- schaftliche Bearbeitung wertlose Angaben anhäufen, sondern sie würde gegen die Grundsätze der Kindererziehung verstoßen. Niemals darf ein Kind bemerken, daß es beobachtet wird, daß man sich in besonderer Art mit ihm beschäftigt, daß es der Mittelpunkt des Interesses der Erwachsenen ist. Denn dadurch würde das Kind zur Anmaßung, zum Egoismus, zum Eigen- dünkel verleitet und zur Hysterie erzogen. Ein viel kleinerer Fehler ist es, wenn die Rubriken des Tagebuches unausgefüUt bleiben. Man notiere daher nur, was man sieht, oder was das Kind unaufgefordert erzählt (z. B. Träume) ; die Unterabteilungen des Stabes „Befinden" fülle man aber mit lauter Sern aus, wenn nichts besonderes beobachtet werden konnte.

Schließlich bitte- ich alle diejenigen, die meine Tagebuchmuster benutzen werden, mir ihre damit gemachten Erfahrungen mitzuteilen und mir die fertigen Tagebücher mindestens leihweise zur Verfügung zu stellen.

Die unterrichtliche Behandlung Kopfschußverletzter.

Von Artur Stößner.

Die besondere Fürsorge für Kopfschußverletzte ist Neuland der Kriegs- beschädigtenfürsorge. Aber die große Zahl der Kopfschuß verletzten dieses Krieges, die die Zahl der Amputierten noch übersteigt, machte einen möglichst raschen Ausbau dieses Teiles der Kriegsfürsorge zur gebieterischen Pflicht, und gegenwärtig bestehen wohl in allen Korpsbezirken besondere Einrichtungen für Kopfschußverletzte: Schulen, Werkstätten, Beratungsstellen. Es ist selbst- verständlich, daß bei Verletzungen des Gehirns Störungen des Seelenlebens in langer Kette und in allen möglichen Stärkegraden auftreten, von der vielleicht ganz eng umgrenzten Ausfallserscheinung an, die sich nur eingehender ex- perimenteller Prüfung erschließt, bis zu den schwersten Intelligenzmängeln, durch die die Verwundeten auf die Stufe von Schwachsinnigen herabgedrückt werden. Deshalb muß in der Heilbehandlung dem Unterrichte eine besonders bedeutsame Rolle zufallen. Wenn es nun schon bei normalen Schülern not- wendig ist, daß der Lehrer zunächst deren Anlagen und Fähigkeiten genau kennen lernen muß, ehe er den Hebelarm seines Unterrichts ansetzen kann, so wird diese Forderung eines möglichst tiefen Einblickes in das Gesamt- gefüge der geistigen Persönlichkeit bei den Kopfschußverletzten eine ganz unerläßliche Vorbedingung. Wir wenden uns deshalb in den folgenden, dem Unterricht an Hirnverletzten gewidmeten Ausführungen, die auf die an sich außerordentlich wichtige Werkstättenbehandlung nicht eingehen wollen, zu- nächst der Frage zu:

I. Welcher Art sind die Störungen des Seelenlebens?

Darüber wird neben manchen anderen Hilfsmitteln vor allem auch eine mit dem Rüstzeuge der experimentellen Psychologie arbeitende Prüfung die

Artur Stößner, Die iinterrichtliche Behandlung Kopfschußverletzter 49

wünschenswerte Aufklärung bringen. Es sei auf die Methodik solcher Ver- suche nicht eingegangen. Sie werden natürhch in jedem einzelnen Falle besondere Ergebnisse zeitigen; gröbere und feinere Abweichungen vom Durch- schnitt, Berg und Tal in der Wellenlinie der Variationsmöglichkeiten werden in unendlicher Mannigfaltigkeit am geistigen Auge des Beobachters vorüber- ziehen. Aber andererseits lassen sich doch auch in dem Geflecht gewisse Grundlinien als ziemlich regelmäßig wiederkehrend erkennen. Von diesen Störungen sind für den Unterricht besonders wichtig: Seh-, Hör-, Sprech-, Lese-, Schreib- und Rechenstörungen, Gedächtnisschwäche, große Ermüdbar- keit, herabgesetzte und sehr wechselnde allgemeine Widerstandsfähigkeit, Leistungspessimismus, Aufmerksamkeitsmängel, Reizbarkeit, Affektanfälligkeit. Unter diesen Störungen tritt die Herabsetzung der Merkfähigkeit be- sonders häufig auf, und wie schon beim Altersgedächtnisschwund der Satz gilt: „Das Neue stirbt vor dem Alten", so findet man auch bei Kopfschuß- verletzten den tief eingegrabenen alten Gedächtnisbesitz verhältnismäßig wenig angegriffen, während die Neuaufnahme von Vorstellungen in auffallendster Weise erschwert ist. Auch geistig sehr gebildete Kopfschußverletzte tragen deshalb häufig ein Notizbuch bei sich zum Eintrag einfachster Alltagserlebnisse. So ist z. B. schon das Nachsprechen einstelliger Zahlen oder einsilbiger Wörter eng begrenzt; während der gesunde Erwachsene von 10 etwa im Abstand von 2 Sekunden vorgesprochenen Wörtern mittleren Umfangs und geringer Auf- fassungsschvderigkeit 6 7 sofort zu reproduzieren vermag, sinkt beim Kopf- schußverletzten die Gedächtnisspanne oft auf 2 3 herab. Dazu hat eine leichte Ablenkung der Aufmerksamkeit geradezu verheerende Wirkungen für die eben aufgenommenen Vorstellungen; die Gedächtnisspuren werden voll- ständig ausgelöscht, so daß die Ziehensche Prüfungsmethode der disparaten Aufgabe und der 3. Teil des Viereggeschen Versuches, bei deren Dui'chführung solche Ablenkungen der Aufmerksamkeit absichtlich eingeschoben werden, nicht gelingen.

Einen nachteiligen Einfluß übt die Hirnverletzung auch auf den Vorstellungs- ablauf aus; es treten auffallende Verlängerungen der Assoziationszeiten ein ; die inhaltliche Beschaffenheit der Reaktionswörter deutet entv^-eder auf einen sehr sprunghaften Vorstellungsablauf, der mehr oder weniger schon an die Auflösung aller Vorstellungsverbände, an Be\\aißtseinszerfall, erinnert, oder auf ebenso unnormales Festhalten der Ausgangsvorstellungen. Ebenso ist das Streuungsmaß der Reproduktionszeiten sehr groß; es folgen die Wörter in ganz verschiedener Schnelligkeit, ohne daß etwa in der Gesamtbewußt- seinslage oder in der Geläufigkeit der Verbindungen oder in der inhaltlichen Wertigkeit der Wörter eine hinreichende Erklärung für solche Schwankungen gegeben, ist.

Eine Schädigung, die etwa in derselben Regelmäßigkeit auftritt wie die Minderung der Merkfähigkeit, ist die leichte Ermüdbarkeit. Prüft man mit einer der KraepeUnschen fortlaufenden Arbeitsmethoden, so überdeckt in sehr vielen Fällen die Ermüdung fast von Anfang an alle Übungseinflüsse, obwohl diese wegen mangehider Vorübung als ziemlich hoch einzuschätzen sind.

Häufig wird man auch eine Herabsetzung der Intelligenz feststellen können; das denkende Durchdringen der Wirkhchkeit ist erschwert und ver- langsamt, die Klarheit des Urteils getrübt: die Verbindung von Stichwörtern zu Sätzen, die Ausfüllung eines lückenhaften Textes, die Einfügung fehlender

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 4

50 Artur Stößner

Bindewörter, die Erkennung von logischen Widersprüchen, die Aufstellung von Begriffsleitern gelingen nicht oder nur ganz ungenügend, so daß man einen Intelligenzrückstand annehmen muß. Immerhin dürfte gerade bei der Messung und Eichung der Intelligenz einige Vorsicht am Platze sein, da viele der gebräuchlichen Formen der Intelligenzprüfung an dem Fehler leiden, daß sie zu viel rein schulmäßiges oder verwandtes Wissen prüfen und damit eine unerläßliche Voraussetzung aller experimentellen Untersuchungen, nämlich die Gleichheit der Versuchsbedingungen, nicht erfüllen, da natürlich die Schul- bahnen der zu Untersuchenden ganz verschiedene Richtungen aufweisen.

Zu diesen allgemeinen Störungen gesellen sich noch besondere. Unter diesen ist das weitverzweigte Gebiet der Aphasie oder Stummheit zu nennen. Die Grundformen sind mro torische und sensorische Aphasie. Die erstere zeigt sich in der Aufhebung des Sprechvermögens. Die Ursache ist die Verletzung der dritten linken Stirnwindung, wodurch die Wortbewegungs- vorstellungen, d. h. die Erinnerungsbilder der beim Aussprechen eines Wortes zu vollziehenden Bewegungen der Sprechmuskulatur, verloren gehen. Die sensorische Aphasie zeigt sich in der Aufhebung des W^ortverständnisses in- folge des Verlustes der Wortklangbilder. Das Hörvermögen ist vorhanden, aber die Wörter erscheinen wie Wörter einer fremden Sprache. Oft handelt es sich auch nur um leichtere Erscheinungen, z. B. um Erschwerung der Wortfindung. Dazu kommen mancherlei andere Störungen verwandter Ai't, so im Lesen, Schreiben, wobei etwa das Schreiben nach Diktat, das Spontan- schreiben oder das Abschreiben gesondert gestört sein können. Wegen der verhältnismäßig großen Ausdehnung der im Dienste des Sprechens stehenden Rindenteile sind bei Kopfschüssen Sprachstörungen sehr häufig, weshalb stets auch Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen zu prüfen sind.

Sehr häufig sind auch Sehstörungen; wir finden sie nicht nur bei Ver- letzung des Hinterhauptlappens, in dem die Sehsphäre liegt, sondern auch bei Beschädigung anderer Hirnteile, weil die Sehbahn ein außerordentUch weit- verzweigtes Nervenleitungssystem darstellt. Das Hauptkennzeichen ist die Halbseitenblindheit, der halbseitige Gesichtsfeldausfall. Mit der RindenbUnd- heit darf die Seelenblindheit nicht verwechselt werden. In diesem Fall ist das Verständnis für Gesehenes erloschen; Farbe, Form, Größe, räumhche Beziehungen werden wahrgenommen, aber die Gegenstände werden nicht erkannt. Aus dieser kurzen Übersicht über die am häufigsten vorkommen- den Störungen ergibt sich schon, wie vielseitig der den Hirnverletzten zu erteilende Unterricht sein muß.

II. Wie ist der Unterrieht zu gestalten?

Ohne weiteres ergeben sich drei Klassen, nämlich für Sprachgeschädigte, für Sehgeschädigte und die allgemeine Abteilung. Auch die vor Ostern 1918 im Reserve -Lazarett Arnsdorf bei Dresden durch die Stiftung Heimatdank ins Leben gerufene Hirnverletztenschule weist diese drei Klassen auf; zu ihnen haben sich dann später noch drei Fachklassen gesellt, nämhch für kaufmännische und Büroberufe, für Zeichner und Arbeiter in technischen Büros und für Land- wirte. Ein verhältnismäßig dankbares Gebiet der Übungsbehandlung stellen die motorischen Sprachstörungen dar; durch Stimmbildungs-, Artikulations- und Sprechübungen, Lesen und Wiedererzählen wird man ver-

Die unterrichtliche Behandlung Kopfschußverletzter 51

suchen, dem Geschädigten die Lautsprache als das ideale Verständigungsmittel, das in der Menschheitsentwicklung den Sieg über alle anderen dem Mitteilungs- bedih'fnisse dienenden Hilfsmittel davongetragen hat, wieder zu erobern. Besonders gute Dienste leistet dafür das linkshändige Schreiben; es trägt zur Ausbildung eines neuen Sprachzentrums in der rechten Hirnhälfte bei. Da unser Denken in der Hauptsache mit Wortvorstellungen arbeitet, die die Stützen, Hilfen, Träger, Fixierungs- und Angelpunkte des Denkvorganges sind, da die Wörter gewissermaßen die sinnlichen Symbole der Begriffe sind, so bewahren wir den Sprachgeschädigten zugleich auch vor der ihm sonst drohenden Ge- fahr der allmählichen Verblödung. Die Rückbildungsaussichten der motorischen Aphasie sind günstig; in sehr vielen Fällen verbleiben bei genügend langer Behandlung wenigstens für den Nichtkopfarbeiter keine die Erw^erbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigenden Rückstände. Auch die Spätstörungen, die nach Beseitigung der eigentlichen Aphasie in der Form des Stotterns auftreten, sind erfolgreich zu bekämpfen.

Nicht so günstige Aussichten bieten die sensorische Aphasie und die Seelen- blindheit; am zweckmäßigsten weist man diese Fälle der Abteilung für Seh- geschädigte mit zu. Bei dem halbseitigen Gesichtsfeldausfall ist die Lokalisierung der Gegenstände im Räume und die Bewegung im Räume er- schwert; so wird z.B. bei Halbiei"ungsaufgaben stets der Teilungspunkt nach der Ausfallsseite hin verschoben, so daß dieser Teil der Linie zu klein wird. Wenn irgendwo, so gilt in der Sehklasse der alte pädagogische Satz: „An- schauung ist das absolute Fundament aller Erkenntnis." Daneben müssen Lesen und Schreiben geübt werden; bei rechtsseitigem Ausfall sind die dem fixierten Worte nachfolgenden Wörter der Zeile unsichtbar ; diese Verküizung des Lesefeldes, also des durch einen einzigen Bewußtsein Vorgang aufgefaßten Teiles der Lesezeile, macht sich bei der Zusammenschheßung der Wörter zu größeren sinngemäßen Einheiten sehr störend geltend. Bei der Über- windung dieser Schwierigkeiten leistet ein Lesestäbchen gute Dienste; beson- ders empfehlenswert ist es für die Erweiterung des Restgesichtsfeldes, wenn das Stäbchen bei linksseitigem Ausfall mehr an den Wortanfang, bei rechts- seitigem mehr an das Wortende gesetzt mrd. Da Halbseitenblindheit den Lesevorgang erheblich erschwert, so bleibt für das Eindringen in den Sinn des Gelesenen wenig Kraft zur Verfügung, woraus sich die allgemeine Klage dieser Geschädigten erklärt, daß sie nicht verstehen, was sie lesen. Deshalb muß das Durchsprechen von Lesestücken und im Anschluß daran die inhalt- liche Wiedergabe derselben fleißig gepflegt werden. Aufsuchen einzelner Gegenstände und Figuren in einer großen Anzahl gleichzeitig dem Auge sich darbietender Eindrücke, sowie Laubsägearbeiten und Ausschneideübungen sind weitere wichtige Hilfsmittel der Übungsbehandlung.

Der allgemeinen Abteilung, die man gegebenenfalls in eine Unter- und Oberklasse gliedern wird, werden diejenigen zugewiesen, die keine der bis- her erwähnten besonderen Störungen, sondern nur eine Herabsetzung der formalen geistigen Leistungsfähigkeit aufweisen. Man wird hier schulmäßiges und verwandtes Wissen und Können durch den Unterricht zu beleben suchen; man wird etwa Rechnen, Lesen, Schreiben, beschreibenden, erzählenden und stiUstischen Anschauungsunterricht, Bürgerkunde, Buchführung erteilen. In erster Linie aber muß die Bekämpfung der durch möglichst genaue psycho- logische Analyse festgestellten Mängel der geistigen Leistungsfähigkeit stehen.

52 Artur Stößner, Die unterrichtliche Behandlung Kopfschußverletzter

Die Merkfähigkeit ist durch Gedächtnisübungen zu bessern; die Fehler der Aufmerksamkeitsspannung werden durch Übungen am Tachistoskop beseitigt; der Vorstellungsablauf wird durch künstliche Erweckung von Assoziationen beeinflußt; die Messungsmethoden der Intelligenz können zugleich auch als Übungsmittel dienen ; die Ermüdbarkeit wird durch allmählich sich steigernde Aufgaben nach den fortlaufenden Arbeitsmethoden bekämpft. Solche zweck- mäßig aufgebaute Übungen bewirken eine vielseitige Inanspruchnahme der assoziativen Nervenleitungsbahnen, ihre rechte Abstimmung und Ausschleifung, die Zuleitung von Erregungswellen nach den gewünschten Richtungen, die Umbiegung und Erneuerung von Dispositionsrichtungen und die Beseitigung von Hemmungswiderständen aller Art. Solche rein formale Übungen sind ganz besonders zu empfehlen, obwohl sie das unmittelbare Interesse der Hirnverletzten naturgemäß nicht leicht zu gewinnen vermögen; sie schaffen und verbessern aber das Handwerkszeug für spätere Anforderungen und machen sich deshalb reichlich bezahlt.

Selbstverständlich muß jeder Unterricht in allen seinen Teilen und Maß- nahmen auf die eigenartige Geistesverfassung der Kopfschußverletzten genau eingestellt werden. Die Klassen sind nur schwach zu besetzen ; häufig wird Einzelunterricht nötig sein. Vor allen Dingen sind sie vor zu hohen Anforderun- gen zu bewahren; die Gefahr der Überanstrengung liegt nahe, weil sie nach Abschluß der chirurgischen Behandlung auf den ersten Blick keinen ungün- stigen Eindruck machen. Der leichten Ermüdbarkeit ist durch häufige Ein- schiebung von Pausen Rechnung zu tragen, damit nicht verbleibende Ermüdungs- reste sich allmählich in bedrohlicher Weise anhäufen und zu einer Ermüdungs- narkose mit allen ihren gefährlichen Begleiterscheinungen führen. Weiter empfiehlt es sich, bei der Aneignung irgendwelcher Wissensstoffe die dazu nötigen Wiederholungen auf einen längeren Zeitraum gleichmäßig zu verteilen. Nach Erledigung einer Arbeit darf nicht sofort wieder die geistige Kraft in anderer Weise in Anspruch genommen werden, weil sonst eine bedrohliche Lockerung der eben geschaffenen Vorstellungsverbände eintritt. Zu berück- sichtigen ist ferner die außerordentliche Empfindlichkeit der Kopfschußver- letzten gegenüber äußeren Einflüssen, die den Gesunden in seiner Arbeits- fähigkeit gar nicht berühren; im besonderen wirken schnelle Veränderungen des Barometerstandes stark herabsetzend auf die Leistungsfähigkeit ein, weil sie eine Änderung der Druckverhältnisse innerhalb der Schädelkapsel hervor- rufen. Vollständige Enthaltsamkeit vom Alkohol ist ein wichtiges Mittel zur Sicherstellung der Unterrichtserfolge. Bei der Erneuerung und Ergänzung des schulmäßigen Wissens ist immer mit den untersten Stufen zu beginnen; man wird dabei oft ganz unvermutet auf engumschriebene Ausfallserscheinungen stoßen, die erst beseitigt werden müssen, bevor der Unterricht nutzbringend weitergeführt werden kann.

in. Welche ünteiTichtserfolge dürfen wir erhoffen?

Für viele Gebiete des normalen Seelenlebens gilt der Satz, daß ein Aufstieg irgendwelcher Art zunächst ziemlich schnell erfolgt, dann ein langsameres Zeitmaß einschlägt und endlich einen Punkt erreicht, über den hinaus er trotz aller Anstrengungen nicht weitergeführt werden kann. Die Form einer solchen Kurve scheinen im allgemeinen auch die Unterrichtserfolge bei Hirn-

W. Carrie, Statist. Erheb, über sprachgebrechl. Kinder in d. Hamburger Volkssch. 53

verletzten anzunehmen. Im Anfang sind gewöhnlich recht befriedigende Ergebnisse zu verzeichnen. Das hat verschiedene Gründe. Das nichtzerstörte Gewebe erholt sich und wird wieder arbeitstüchtig; die Reste des zerstörten Herdes werden in ihrer Leistungsfähigkeit über das bisherige Maß heraus- gehoben; ki-aft des im Bereiche der Nerventätigkeit geltenden Gesetzes der stellvertretenden Arbeitsleistung ti-eten auch benachbarte Rindengebiete ein, und auch die entsprechenden Felder der anderen Hirnhälfte übernehmen einen Teil der Aufgaben. Es folgt danach eine Zeit langsamen Fort- schreitens, während der es ganz besonders auf unermüdhche Arbeit ankommt, weil Lehrer wie Schüler durch die immer deutMcher in die Erscheinung tretende Verlangsamung des Heilungsvorganges in ilu-er Arbeitsfreudigkeit herabgestimmt werden; wird aber aus solcher Unluststimmung heraus der Unterricht vorzeitig abgebrochen, so findet sich der Hirnverletzte mit seinem Schicksal ab und richtet weiterhin seine Kraft mehr auf das Verbergen als auf das Ausgleichen der Schädigung. So ist Geduld auf beiden Seiten von nöten. Im allgemeinen sind engbegrenzte Ausfallserscheinungen, sogenannte Herdsymptome, leichter zu beeinflussen als die gewissermaßen das gesamte geistige Leben überschattenden Erscheinungen der Ermüdbarkeit, des Gedächt- nisverlustes und der Dickflüssigkeit der Vorstellungsbewegungen. Doch sind auch diese letzteren Schädigungen zum mindesten in demselben Maße beeinflußbar als die leichten und mittelschweren Lähmungen. Der Unter- schied zwischen dem Ergebnis einer Selbstlieilung und dem eines methodischen Unterrichts ist ganz beh'ächthch. Allerdings darf man sich über das Höchst- maß des Erreichbaren keiner Täuschung hingeben; nur in Ausnahme- fällen dürfte es gelingen, einen Kopfschußverletzten wieder zu einem ganz vollwertigen Menschen zu machen; aber auch in den schwersten FäUen ver- mögen die Verletzten so weit gebracht zu werden, daß sie sich verständlich unterhalten, einen Brief schreiben, die Zeitung lesen und die notwendigen Rechenaufgaben des läghchen Lebens lösen können.

Groß ist leider die Zahl der Arbeitslosen unter den Hirnverletzten, doppelt so groß als die der Armamputierten; mehr als ^,3 war nach einer statistischen Erhebung ohne Beschäftigung. So wird es immer die vornehmste Aufgabe des Unterrichtes sein müssen, an seinem Teile zur Besserung dieser ungün- stigen Sachlage mit allen Kräften beizuh-agen.

Statistische Erhebungen über sprachgebrechliehe Kinder in den Hamburger Volksschulen.

Von W. Carrie.

Im Januar 1917 veranlaßte die Hamburgische Oberschulbehörde die Auf- nahme einer Statistik über sprachgebrechliche Kinder in den Hamburger Volksschulen, die das auf S. 54 tabellarisch bearbeitete Ergebnis brachte.

Die bis jetzt über die Verbreitung von Sprachdefekten aufgenommenen Statistiken zeigen fast ausnahmslos den Übelstand, daß sie sich lediglich auf die Feststellung der Zahl der sprachgebrechlichen Schüler beschränken. Über Heil versuche und Heilerfolge, Hemmungen in unterrichtlicher und beruf-

64

W. Carrie

N

02

C3

a

l—i

to

CO

*>-

CJ»

OS

-v]

Klasse

SQ

i^

1— 1

1— "

CO

t—t

1-^

H'

»-■

to

to

u- W

C oq 3 >

t-"

<«J

*>.

c;i

-J

-4

*->

Ol

Ol V p

CD 5 c. ta

Ol

CO

OS

1— '

OS

CO

cn

00

0 p

g^ ? ^ g

«j ® ►O £3'

a ^ 2. a

)(^

H-1

j3 CL

Ü\

lO

>^

Cn

CS

00

OS

o

^^

Ol

OS

00

dl

00

o

-a

-J

0 0 =r ®

C5

i

1

I

1

1

OS

P

lO

1-^

4^

i

1

j

1

tc

o

--3 tE

'

1

^

-J

r>-

1—

i

I

i

1— 1 CD

00

00

CD

CD

to

h-

3

cc

1

^^

o

co

H-

*o

4».

1

00

CO

-J

to

00

1

P < o

1— '

1-^

CO

ba

00

1

00

1— 1 CO

1— <■

bO

OS

Ol

CO

, ,

1

^ a §

to

1— '

CO

Oi

tC)

HW

■D

^' CD

OS

OS

4^

to

1

o

Ol

OS

CO

1—'

CT

CO

1

to ffi

et-

^

*-

It^

t*«.

to

1

1

- 2

CO P

H-

1— '

CO

rf>.

CO

OS

1

1

1—' Ol

t—

Ol

*-

_

1

~l

t— 1

<o

w

K)

CO

00

*-

1

1

tp>

Oi

et- 00

H-

^

Ol

OS

cn

Ol

CO

CO

HO»

ft

Ol

>(^

«o

o

cn

Ül

h-t

00

ri^

S'

'^ 1

k^ cn

If^

t— '

^

3 g

5? P ^ CT) <;

o

H^

t—t

CO

Ol

^^

00

CD P er M tri O 1

Ol

^

>—'

Oi

t— '

*-

®

^ ?

'^ ii: p g p

s* ^ §

p ü

1— '

to

K>

tf».

Ol

*-

00

2 «q 'S O.

rii

CD

3

*^

OS

CO

lf>>

Ol

CO

►Ji.

tf».

C!l

CH

1—'

,

i B s

*>

1— 1

CO

-J

OS

o

t-^

to

^

tf».

o

CO

*<

CO

CO

CO

^j;

g. (w r

H^

S &

Ol

^

OS

•^

^

CO

~J

3

^ d, CD P ffi M

o

'"'

00

OS

Ol

o

)(^

to

If^

s: 2: OD § i

et-

267 j

]

to

fe

cn tu

o

CO

Ol

*-

to

3

5

i

1

rf».

CO

00

CO

1— " OS

rf^

3c"

2- ö 3

>-* &

h-

CD O"

CO

»f^

rf^

Oi

CO

»^

3

P* CD

•-^ S »

C: 2 C <3 "^ P CD OQ c

P" CD B

^ M ST P' ^ p; CD a>

'"'

o

CO

00

00

CO

o

c;i

1— '

o

CS

t—t

CO OS

g

OS

»— '

c;«

>f^

to

bo

3

p

""^

S^ 5" ^ 3 g :3 != 2 §

CD >-j 5 P l-J M 2. 00 03

3c"

a S 3 S^ O- P

Ol

OS

1

OS

1— ' 4^

«?

00

Ol

►f»

1

•1 ►—

a* QQ 00

M w. a-^a.

1

CO

1—'

lO

i

-

i

1

o^'S j? g- 0 ß- 5: S" w 5: S' < 1

S o ►« E^'^ a> ^ o ^2 P 1

CLtr CD

f^ ►i P-^^ i3 1

CD '

p !l

QC

an

tf

<3>

O* 0 B

er?

o*

CB OS

•-»

es*

CD

CB «

o

(B

0

P. (9

»

B

CT

crq

o

Statist. Erheb, über sprachgebrechl. Kinder in den Hamburger Volksschulen 55

Scheidung nach dem Alter:

Es standen im voll- endeten

Stotterer

Stammler

Mit anderen Sprachgebrechen

Kn.

M.

Sa.

Kn. j M.

Sa.

Kn. 1 M.

Sa.

6. Lebensjahr . . .

9

0

9

28

10

38

12 i 2

14

7.

36

13

49

74

49

123

35 j 17

52

8.

70

17

87

56

30

86

36 ! 15

51

9.

106

26

132

39 18

57

31 1 14

45

10.

97

34

131

23 17

40

31 1 14

45

11.

111

29

140

14 10

24

11 1 9

20

12.

129

27

löG

9 7

16

18 i 13

31

13.

102 36

138

8 4

12

13 11

24

14.

99 24

123

6 3

9

5 i 7

12

759

206

965

257

148

405

192 1 102

294

ficlier Hinsicht, die für die Beurteilung der Notwendigkeit und des Wertes therapeutischer Maßnahmen unerläßlich sind, geben sie meist keine bestimmte Auskunft. Über Heilerfolge findet man höchstens hin und wieder mehr oder weniger verschleierte Angaben.

Allgemein verbreitet ist wohl die durchaus irrige Annahme, daß Sprach- gebrechen, welche geeignet sind, das Lebensglück eines Menschen stark zu beeinträchtigen, seine Bildungsfähigkeit zu hemmen, seine Erwerbsfähigkeit herabzusetzen und ihn von der Verwendung in bestimmten Berufen gerade- zu auszuschließen, verhältnismäßig selten sind. Wie irrig diese Annahme ist, zeigt die vorstehende Statistik; sie ergibt, daß rund 1,45 <>/o der ham- burgischen Volksschüler mit Sprachgebrechen behaftet sind, darunter befinden sich 0,840/0 Stotterer. Das Material zu dieser Statistik ist nicht von Schul- ärzten, sondern von den Lehrkräften der einzelnen Schulen zusammengetragen worden. Die Zahl der Stotterer beträgt 965, der Stammler 405, mit an- deren Sprachgebrechen waren 294 Schüler behaftet, so daß die Gesamtsumme 1664 beträgt.

Nach den Erhebungen, die bereits in früheren Jahren in Braunschweig, Potsdam, Elberfeld, Stettin, Königsberg, Zürich und anderen Orten auf- gestellt wurden, sollen dort mindestens l^/o der Schulkinder stottern, in Dresden sollen es sogar 2 0/0 sein. Die im Jahre 1886 an den Berliner Gemeindeschulen aufgenommene Statistik ergab, daß unter 155000 Kindern 1550 Stotterer waren, also genau lo/o. Dort befanden sich an Stotterern unter den Kindern

von 6 bis 7 Jahren = 0,5 0/0

7 8 = 1,170/0

8 9 = 1,110/0

9 10 = 1,350/0

von 10 bis 11 Jahren = 1,43 0/0

11 12 = 1,370/0

12 13 ,, = 1,440/0

13 14 = 1,610/0

Diese Statistik ergibt außerdem, daß das Stottern während der Schulzeit noch zunimmt; während sich unter den Lernanfängern nur 0,5 0/0 Stotterer befanden, stotterten beim Verlassen der Schule nach erfüllter Schulpflicht bereits 1,61 0/0. Die Zahl der Stotterer hat sich also im Laufe der 8 Schul- jahre reichlich verdreifacht.

56 W. Carrie

Im Jahre 1910 wurden seitens des städtischen Medizinalamtes in Amster- dam Zählungen sprachgebrechlicher Kinder vorgenommen, die ergaben, daß 1,19 o/o der beobachteten Schulkinder an Stottern litten, davon waren 80,5 o/o Knaben und 19,5 o/o Mädchen. Während sich die Zahl der Stotterer im Laufe der Schulzeit auch hier vermehrt und erst gegen das Ende hin fällt, geht die Zahl der Stammler zusehends zurück. Zum Belege dafür diene nachstehende Tabelle:

Stotterer:

Stammler

6 Jahre

alt

== 6,36 o/o

(nicht gezäh!

7

= 6,140/0

» »

8

= 11,550/0

= 23,87 0/0

9

)j

= 14,15 0/0

=- 20,69 0/0

10

J3

= 16,51 0/0

= 22,55 0/0

11

}>

= 17,220/0

= 15,38 0/0

12

!>

\

= 16,750/0

= 11,410/0 ,

13

und

älter

= 11,320/0

= 6,10 "/o

Wie in fast allen Städten, so bestehen auch in Amsterdam sogenannte Heilkurse für stotternde Schüler, die aber, wie die Statistik zeigt, nicht ein- mal vermocht haben, das Übel auf seinen ursprünglichen Umfang zu be- schränken, denn es zeigt sich, daß sich bereits unter den elfjährigen Schülern dreimal soviel Stotterer befinden als unter den Lernanfängern. Die jetzt vorliegende Hamburger Statistik zeigt die gleiche Erscheinung. Auch hier befinden sich nach Zusammenstellung I unter den sieben Jahre alten Schülern nur 49, unter den zwölfjährigen aber bereits 156 Stotterer, also ebenfalls reichlich dreimal soviel. Die Zahl der in den Hamburger Schulen ermittel- ten Stotterer beträgt nur 0,84 0/0, bleibt also hinter den anderwärts ermittel- ten Zahlen etwas zurück, jedoch ist anzunehmen, daß hier mehrfach Fälle beginnenden Stotterns, also Fälle, die sich von Laien nicht immer leicht und sicher diagnostizieren lassen, in der Rubrik 4c als „andere Sprachgebrechen" registriert wurden. Man muß dabei bedenken, daß den meisten Lehrern die Sprachheilkunde leider noch ein unbekanntes Gebiet ist, eine Lücke, die die Lehrerbildungsanstalten möglichst bald ausfüllen müssen. Ich habe mehr- fach feststellen können, daß Lehrer nicht imstande waren, anzugeben, ob ein Schüler an Stottern oder an Stammeln litt. Man darf sich daher nicht wundern, wenn die Schule bis jetzt in der Bekämpfung von Sprachgebrechen wenig oder gar nichts leisten konnte. Und dabei ist die Pflege des münd- lichen Gedankenausdrucks eine der Hauptaufgaben der Schule.

Die geringe Zahl der Stotterer im 6. Lebensjahre in der Hamburger Statistik ist darauf zurückzuführen, daß die Erhebungen im Januar, also am Schlüsse des Schuljahres, vorgenommen wurden, mithin die meisten Kinder der untersten Klasse das 7. Lebensjahr bereits überschritten hatten. Eben- so wie in Amsterdam wird auch durch die Hamburger Statistik festgestellt, daß die Zahl der Stammler (Zusammenstellung II) zusehends zurückgeht. Die Zahl der Stotterer erreicht auch nach den Hamburger Erhebungen im 12. Lebensjahre ihren Höhepunkt, im 13. und 14. Jahre nimmt ihre Zahl, ebenso wie in Amsterdam, ein wenig ab. Es scheint demnach, als wenn mit dem allmählichen Übergang ins Pubertätsalter einzelne leichte Fälle von

Statist. Erheb, über sprachgebrechl. Kinder in den Hamburger Volksschulen 57

selber zur Heilung gelangten, während C4utzmann behauptet, daß das vor- handene Stottern zur Zeit des Eintritts der Pubertät sich steigern soll. Nach Kußmauls Beobachtungen soll der Eintritt der Pubertät sogar Stottern hervorrufen.

Wie sehr die unterrichtliche Förderung unter dem Sprachgebrechen leidet, zeigt Rubrik 5. Wer jemals Stotterer behandelt, unterrichtet und aufmerk- sam beobachtet hat, den wird diese Tatsache nicht überraschen. Stotterer fürchten in der Regel, wegen ihres Gebrechens aufzufallen. Ein Angstgefühl befällt sie, sobald sie sich zum Sprechen gezwungen sehen. W^erden sie im Unterricht gefragt, so kommt es häufig vor, daß sie es vorziehen, sich un- wissend zu stellen, lediglich aus dem Grunde, weil sie fürchten, wegen ihres Gebrechens die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und dadurch die Spott- lust ihrer Mitschüler herauszufordern. Der auf sprachheilkundlichem Gebiete nicht bewanderte Lehrer glaubt wohl gar, daß die mangelhafte Sprachfertig- keit auf Nachlässigkeit zurückzuführen sei, und fühlt sich veranlaßt. Strenge anzuwenden, wodurch das Leiden nur verschlimmert werden kann. Gar zu oft wird noch verkannt, daß es sich beim Stottern um eine Krankheit durchaus ernsthafter Natur handelt, die durch unverständige Behandlung nur gesteigert werden kann. Kein Wunder, wenn solche bedauernswerte Kinder sich schließlich immer weniger am Unterricht beteiligen, daß sie, ab- gesehen von der unterrichtlichen »Schädigung, durch eine derartige Behand- lung auch noch schweren Schädigungen in der Charakterbildung ausgesetzt sind. Allgemein sind daher auch die Klagen der Eltern, daß die Kinder in der Schule grundfalsch behandelt würden, daß sie infolge ihres Gebrechens zurückblieben, daß die Zeugnisse von Halbjahr zu Halbjahr schlechter und die Kinder schließlich nicht versetzt würden. Ein Schüler aus den Ober- klassen, der stark stotterte, berichtete mir noch vor kurzem in meiner „Sprechstunde für sprachgebrechliche Kinder", daß sein Lehrer Rücksicht auf sein Gebrechen nehme; zur Beantwortung einer Frage würde er nicht he^rangezogen, er brauche in der Schule nicht zu sprechen. Der Knabe sitzt also während des Unterrichts schweigend und infolgedessen wohl auch teilnahms- los da. Ja, es wird nicht selten vorkommen, daß Stotterer, wenn sie zum Antworten gezwungen werden, oft mit Absicht etwas Unrichtiges sagen, ledig- lich aus dem Grunde, um möglichst schnell mit der Antwort fertig zu werden. So berichtete mir die stotternde Mutter eines stotternden Knaben, daß sie früher als Dienstmädchen ihrer Herrschaft auf Befragen oft die Unwahrheit gesagt habe, wenn sie annehmen konnte, auf diese Weise vor längeren, münd- lichen Auseinandersetzungen bewahrt zu bleiben. An ähnlichen Vorkomnmissen fehlt es im Schulleben nicht, das habe ich oft genug als Lehrer sprach- kranker Kinder erfahren, namentlich dann, wenn es sich um ehrgeizige und empfindliche Kinder handelt. Das Zurückbleiben stotternder Kinder im Unterricht ist daher eine allgemeine Erscheinung, die vielfach zu der irrigen Annahme führte, daß die mangelhaften geistigen Fähigkeiten zu den prädis- ponierenden Ursachen des Stotterns gehören. Auf Grund der langjährigen Erfahrungen, die ich im Unterricht sowohl Sprachkranker als auch Schwach- befähigter und Schwachsinniger gesammelt habe, muß ich entschieden in Abrede stellen, daß sich unter den schwachbefähigt^n Schülern mehr Stotterer

58 W. Carrie

befinden als unter den Norraalveranlagten. Unter den wirklich Schwach- sinnigen und Halbidioten sind mir Stotterer nie begegnet, obgleich ich zehn Jahre lang an einer Hilfsschule für Schwachbefähigte amtiert habe. Die wenigen Stotterer, die ich dort vorgefunden habe, standen ausnahmslos hart an der Grenze der Normalität. Ich neige auf Grund des recht um- fangreichen Schülermaterials, das ich im Laufe der Jahre zu beobachten Gelegenheit hatte, zu der Annahme, daß sich unter den Schwachsinnigen prozentual weniger Stotterer befinden als unter den Normalbegabten. Stammeln, Poltern, Agrammatismus kommen dagegen unter Hilfsschülern sehr häufig vor. Wenn nun trotzdem die Hamburger Statistik nachweist, daß der weitaus überwiegende Teil der sprachgebrechlichen Kinder nicht regelmäßig versetzt werden konnte, also unterrichtlich zurückblieb, so ist diese bedauerliche Erscheinung hauptsächlich auf ihr Gebrechen, nicht auf ihre geistige Ver- anlagung zurückzuführen. Noch mehr als in der Schule wird der Sprach- defekt im Berufsleben hemmend wirken; leider läßt sich hierüber keine Statistik aufstellen. Tatsache ist aber, daß der Stotterer in zahlreichen Berufen überhaupt nicht oder nur in höchst untergeordneter Stellung zu gebrauchen ist.

Was nun die Heilerfolge in den sogenannten Kursen für stotternde Volks- schüler (Rubrik 6) betrifft, so zeigt sich, daß die Rückfälligkeit ungefähr eine Regel ohne Ausnahme bildet. Die Zahl der bis zu dreimal und noch öfter in den Heilkursen ohne dauernden Erfolg behandelten Kinder (244+ 116-1-56 = 416) deckt sich fast genau mit der Zahl der sprachkranken Schüler, die im vorher- gehenden Jahre in den Heilkursen behandelt wurden. Dabei erstreckt sich die Behandlung in den Hamburger Heilkursen über den Zeitraum eines Jahres. Im ersten Halbjahre (Hauptkursus) erhalten die Kinder wöchent- lich vier Stunden, im letzten Halbjahre (Nachkursus) wöchentlich eine Stunde Unterricht außerhalb der Schulzeit. In den Abschlußprüfungen vermögen ■dann auch die meisten dieser Kinder unter Anwendung der erlernten Sprech- regeln, einfache, an sie gerichtete Fragen ohne Anstoßen zu beantworten, aber bald nachher stottern sie wieder, wie die Statistik zeigt, genau so wie früher. Der Erfolg ist in der Regel nur ein vorübergehender, ein Schein- erfolg. Es ist offenbar ein großer Unterschied, ob jemand nur Vorgesprochenes oder Auswendiggelerntes wiederholt, oder ob er auf einfachste, rein gedächtnis- mäßig zu beantwortende Fragen Antwort gibt, oder ob er, wie es der strenge Schulunterricht erfordert, nicht nur Wörter zu bilden und aneinanderzureihen, sondern zuvor und zugleich deren geistigen Inhalt zu suchen und kritisch zu prüfen hat. In den Heilkursen steht die rein physiologische Seite des Sprechens naturgemäß im Vordergrunde. Und doch braucht der Stotterer seinen Sprachheillehrer nie nötiger, als wenn er auch schwierigeren Denk- prozessen gerecht werden soll. Das rein mechanische Sprechen läßt sich in den Kursen in den meisten Fällen bald fließend gestalten, wenn auch nur vorübergehend, da die Schüler unter Anwendung von Einsicht und Energie gelernt haben, das Übel zu unterdrücken. Von einer Heilung kann aber dann noch lange nicht die Rede sein. Der Fehler liegt eben auf dem Gebiete der inneren Sprache und tritt nur an den peripheren Stellen in die Erscheinung. Atmungs-, Stimm- und Artikulationsübungen, rein mechanisch

Statist. Erheb, über sprachgebrechl. Kinder in den Hamburger Volksschulen 59

angewandt, wie es in den Kursen notgedrungen geschehen muß, können da- her das Übel allein nicht beseitigen; dazu gehört vor allen Dingen auch noch die psychische Behandlung, die in Kursen nicht konsequent und stän- dig angewandt werden kann. Einen Stotterer heilen heißt, ihn auch psychisch gesunden zu lassen. Wie die Statistik beweist, vermögen das die Kurse nicht.

Aus dieser Erkenntnis heraus begami man in Hamburg vor fünf Jahren damit, für schwer stotternde Kinder unter vorläufiger Beibehaltung der Kurse für die leichteren Fälle eine Sonderschule für Sprachleidende einzurichten, in der Unterricht nach dem allgemeinen Lehrplan der Volksschule erteilt wird, der aber zugleich in individualisierender heilpädagogischer Behandlung auf systematische Bekämpfung des Leidens gerichtet ist. Die Therapie geht in dieser Schule mit dem lehrplanmäßigen Unterricht Hand in Hand. Der Unterricht ist Therapie, und die Therapie in der Hauptsache Unterricht. Die unterricht- liche Förderung der Kinder erleidet hier durch ihr Gebrechen keinerlei Be- einträchtigung; sie werden ebenso schnell und gut gefördert wie die Schüler der Normalschule. Ihr Leiden kann hier nicht durch psychische Ansteckung auf gut sprechende Mitschüler übertragen werden, für die der Stotterer stets ein gefährlicher Nachbar ist. Sämtliche der vorerwähnten Statistiken stellen die bedauernswerte Tatsache fest, daß die Zahl der Stotterer sich während des schulpflichtigen Alters trotz aller Heilkurse verdreifacht; zweifels- ohne ist diese Erscheinung in zahlreichen Fällen auf psychische Ansteckung zurückzuführen.

Sobald Grund zu der Annahme vorhanden ist, daß die Schüler dieser Sonderschule für Sprachkranke von ihrem Gebrechen restlos befreit sind, werden sie wieder den Normalschulklassen überwiesen. Bis jetzt sind ins- gesamt 76 Schüler nach durchschnittlich 1 2 jährigem Besuch der Sonder- schule zur Normalschule zurückgeschult worden; die Statistik meldet 16 Rückfällige (einer schied vorzeitig aus). Hier liegen also wirkliche und dauernde Erfolge vor (Rubrik 7). Die Tatsache aber, daß 16 Rückfällige gemeldet werden, zeigt, wie schwierig und wie langwierig die Heilbehand- lung ist. Sie muß vor allen Dingen möglichst früh einsetzen; wer nur ein- mal Gelegenheit gehabt hat, ein beginnendes Stottern mit einem veralteten zu vergleichen, wird mir darin beipflichten. Auch darf die Heilbehandlung nicht zeitlich begrenzt werden. Die Zurückschulung nach der Normalschule darf, wie ich in meiner Arbeit über „Sonderklassen für sprachkranke Schul- kinder" (Verlag von Hermann Beyer und Söhne, Langensalza, 1916) mit besonderem Nachdruck empfohlen habe, zunächst nur versuchsweise vor- genommen werden. Erst dann, wenn nach Ablauf einiger Zeit von der Normalschule die Nachricht eintrifft, daß der Schüler sich auch dort am Unterricht in fließender Sprache beteiligt, darf die Zurückschulung als end- gültig betrachtet werden. Wenn diesen Forderungen Rechnung getragen wird, wird diese Sonderschule ihre Erfolge noch günstiger gestalten können. Die Fehler lassen sich durch organisatorische Maßnahmen beseitigen. Jeden- falls zeigt die Statistik, daß die Einrichtung von Sonderklassen, die hin- reichend ausgebaut werden müssen, damit sie ihrer Aufgabe in vollstem Maße gerecht werden können, der einzige Weg ist, der volle Aussicht auf Erfolg verspricht.

60 W. Carrie, Statist. Erheb, über sprachgebrechl. Kinder in d. Hamburger Volkssch.

Mit Recht hat der Staat für Taubstumme, Blinde, Schwerhörige und Schwachsinnige gesonderte Schuleinrichtungen getroffen, die sehr segensreich wirken, obgleich die heilpädagogische Behandlung bei diesen Individuen die vorhandenen Defekte nur mildern, aber nicht beseitigen kann. Bei Stotterern handelt es sich aber um vollsinnige, in geistiger Hinsicht durchaus normal bildungsfähige Schüler, die durch Spezialbehandlung ohne nennenswerte Kosten vollwertige Glieder der Gesellschaft werden können. Sie gehören mit zum Kapital der Nation, daher ist die Arbeit gerade auf diesem Gebiete nicht nur doppelt lohnend, sondern auch doppelte Pflicht.

Wertvoll würde es sicherlich sein, wenn auch in andern Städten gleiche oder ähnliche Erhebungen vorgenommen würden. Neben dem Experiment gehört ja die Statistik zu den Hauptwaffen der Wissenschaft. Auch die Sprachheilkunde wird, wenn sie sich zu einer exakten Wissenschaft erheben will, deren Forschungsergebnisse nicht mehr anzuzw^eifeln sind, derartige Statistiken nicht entbehren können.

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule.

Von Ernst Haase.

Durch die Menschenverluste, die der Weltkrieg unserm Volke zugefügt hat, ist eine Frage brennend geworden, die schon immer zu den wichtigsten, aber auch zu den schwersten im Schulwesen gehört hat, die Frage: Wie steuern wir dem Sitzenbleiben?

Ganz besonders bedeutsam ist diese Frage in ihrer Anwendung auf die Volksschule. Denn für den Schüler einer höheren Schule bedeutet das Sitzenbleiben nur, daß er ein Jahr oder mehrere Jahre später «um Abschluß seiner Bildung gelangt, daß er einen Beruf, den er in Aussicht genommen hatte, gegen einen andern vertauschen muß usw. Das ist für den, den es trifft, persönhch sehr schmerzlich. Aber die Gesamtheit wird dadurch wenig berührt. Im schlimmsten Falle tritt der Mensch, der sich für einen Beruf als ungeeignet erwiesen hat, in einen andern als vollwertige Kraft ein. So bedeutet das Sitzenbleiben letztlich fast immer nur einen Zeitverlust.

Anders in der Volksschule. Sie ist für den weitaus größten Teil des Volkes die einzige Bildungsstätte. Ein Bildungsmangel, den sie hinter- läßt, ist für die meisten nicht wieder gut zu machen. In ihr bedeutet selbst ein mehrmaliges Sitzenbleiben keinen Zeitverlust; denn es kann nicht ausgeglichen werden. Es wird vielleicht von dem Beteiligten auch nicht besonders schmerz- lich empfunden. Aber es hat zur Folge, daß in unser Volk ein un- fertiges, geistig nicht vollwertiges Glied eintritt, das geeignet ist, den Wert des Volksganzen herabzusetzen. Denn das Schhmmste ist, daß es sich bei der Volksschule immer um Massenerscheinungen handelt, die in der Gesamtheit eine spürbare Wirkung hervorbringen. Das Sitzenbleiben in der Volks- schule als Massenerscheinung bedeutet einen merklichen Quali- tätsverlust für unser Volk. Nun bedarf es keines Beweises, daß unser Volk in dem wirtschaftlichen Kampfe, der seiner in der Zukunft harrt, nur dann Aussicht auf Erfolg hat, w^enn es in allen seinen GUedern

Ernst Haase, Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule ßl

seine Mitbewerber auf dem Weltmarkte an innerem Werte übertrifft. Es darf also kein Menschenwert verloren gehen oder verkümmern.

Dadurch hat die Frage des Sitzenbleibens in der Volksschule aufgehört, eine bloße Schulangelegenheit zu sein; ihre Lösimg wird zu einer Sache, die in sehr bedeutsamer Weise unser ganzes Volk angeht: die Frage, wie dem Sitzenbleiben in der Volksschule beizukommen ist, ist also tatsächlich brennend geworden.

Das Sitzenbleiben ist der Ausdruck einer Unstimmigkeit zwischen der Leistungsfähigkeit des kindlichen Geistes und den Anforderungen der Schule. Sie kann also zwei Ursachen haben: entweder die Anforderungen der Schule sind zu hoch, oder in der Entwicklung des kindlichen Geistes liegen Hemmungen vor. Diese wiederum können von verschiedener Art sein. Gewisse Hemmungen, die durchaus indi\idueller Natm- sind und demgemäß nur einen kleinen Bruchteil der Schüler betreffen, werden nie ganz bekämpft werden können. Das Zurückbleiben Einzelner hinter der Gesamtheit läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Aber es gibt eine breite Masse von Grenzfällen, die der Einwirkung durchaus zugänglich sind. Wenn es auch nur gelänge, aus diesen heraus 10'^ o der Gesamtmasse besser vorwärts zu bringen, so würde das in zehn Jahren einen vollen Schülerjahrgang be- deuten; d. h. z. B. für unsere Stadt Halle: 2000 bis 2500 Menschen würden in dieser Zeit vor dem geistigen Zurückbleiben bewahrt bleiben. Das wäre ein schöner Gewinn, und seine Erzielung liegt durchaus im Bereiche der MögUchkeit.

Aus Laienkreisen hört man heute oft den Ruf: Versetzt milder! Damit wäre aber das Übel durchaus nicht behoben, sondern nur verschleiert. Ein Kind, das für die nächste Stufe nicht reif ist, erleidet durch eine unzeitige Versetzung viel mehr Schaden, als ihm oder der Gesamtheit durch das Vorwärtsschieben ge- nützt wird. Bei dieser Forderung wird Ursache und Wirkung verwechselt. Das Versetzen oder Nichtversetzen hängt ja nicht von der Willkür des Lehrers ab, sondern ist durch den Zwang der Verhältnisse geboten. Ich setze als selbstverständüch voraus, daß bei jeder Versetzung streng nach den Erforder- nissen des Unterrichts verfahren wird, ohne Einmischung persönlicher Zu- neigung oder Abneigung. Ein „milderes" Versetzen würde ein Akt der Will- kür sein, der in keiner Weise dem Übel abzuhelfen geeignet wäre: die zu Unrecht bevorzugten Kinder würden doch bald auf der Strecke bleiben.

Wenn Abhilfe geschafft werden soll, dann kann es in sachlich einwand- freier Weise nur dadurch geschehen, daß die Unstimmigkeiten zwischen der kindlichen Leistungsfähigkeit und den Anforderungen der Schule nach Möglichkeit ausgeglichen werden, d. h.: die Anforderungen der Schule müssen überall da, wo sie zu hoch erscheinen, herabgesetzt werden, und alles, was die Entwicklung der Leistungsfähigkeit unserer Kinder hemmt, muß nach Möglichkeit beseitigt werden.

Dazu aber ist es erforderlich, daß man die Ursachen jener Unstimmig- keiten und ihre Größenverhältnisse genau kennen lernt. Dieser Aufgabe sind die folgenden Untersuchungen gewidmet.

Bei der Untersuchung über die Ursachen des Sitzenbleibens habe ich zwei verschiedene Wege eingeschlagen: den der Einzeluntersuchung und den der Statistik.

62 Ernst Haase

Die Einzeluntersuchungen sollen in erster Linie über die Art der inneren Hemmungen aufklären. Sie sind noch nicht abgeschlossen; ihre Veröffent- lichung muß ich mir daher für später vorbehalten.

Die statistischen Erhebungen sollten vor allem über die äußeren Ursachen Auskunft geben, besonders auch darüber, in welchem Maße äußere Faktoren mitwirken. Durch die Statistik lassen sich auch solche Beziehungen zahlen- mäßig nachweisen, die der Einzeluntersuchung gar nicht zugänglich sind, die höchstens ganz ungenau abgeschätzt werden können. Im Ganzen des statistischen Zahlenmaterials werden nämlich gewisse kleine Einflüsse, die im Einzelfalle überhaupt nicht nachweisbar sind, durch die vervielfachende Wirkung der großen Zahlenmassen vergiößert und dadurch deutlich erkenn- bar gemacht.

Anfangs habe ich bei meinen statistischen Erhebungen immer nur mit geringem Zahlenmaterial gearbeitet, bis ich im November 1917 Gelegenheit erhielt, einen ganzen Schülerjahrgang der hallischen Volksschulen sta- tistisch zu erfassen und dadurch ein abgerundetes Bild seiner Versetzungsverhält- nisse zu erhalten. Ich verdanke diese Möglichkeit dem Kgl. Kreisschulinspektor Herrn Schulrat Brendel, dem ich auch an dieser Stelle für seine gütige Mit- wirkung meinen besten Dank ausspreche.

Das Material wurde in der Weise gewonnen, daß in jeder Klasse, in der Schüler saßen, die Ostern 1918 entlassen werden sollten, ein Fragebogen über diese Schüler ausgefüllt wurde. Die Fragen hatten folgenden Wortlaut:

Fragebogen über die Konfirmanden in den deutschen Volksschulen in Halle.

1. Zahl der Konfirmanden:

2. a) Wieviel von ihnen sind s. Z. als Schulneulinge auswärts eingeschult und erst im Laufe der Schulzeit nach Halle übergesiedelt? b) Wieviel von denen, die in Halle eingeschult sind, haben ein Jahr lang und darüber eine auswärtige Schule besucht? c) Wieviel von den unter 2 a und b genannten Kindern haben auswärtige Schulen besucht: aa) in Großstädten, bb) in Mittel- und Kleinstädten, cc) in Dörfern?

3. Wieriel von den übrigen Konfirmanden sind in Halle: a) nie umgeschult worden, b) ein- mal umgeschult worden, c) zweimal umgeschult worden, d) dreimal umgeschult worden, e) vier- mal umgeschult worden, f) öfter als viermal umgeschult worden?

4. Wieviel von sämtlichen Konfirmanden sind in Halle: a) nie sitzen geblieben, b) einmal sitzen geblieben, c) zweimal sitzen geblieben, d) dreimal sitzen geblieben, e) viermal und öfter sitzen geblieben?

5. Wieviel Konfirmanden sind sitzen geblieben in Klasse 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2?

6. Wieviel Konfirmanden haben: a) keine Geschwister, b) 1 Geschwister, c) 2 Geschwister,^ d) 3 Geschwister, e) 4 Geschwister, f) 5 Geschwister, g) 6 Geschwister, h) 7 Geschwister, i) 8 Geschwister, k) 9 Geschwister, 1) 10 Geschwister, m) mehr als 10 Geschwister?

7. Wieviel Konfirmanden sind erwerbstätig (gewerblich, im Haushalte usw.)?

8. Von wieviel Konfirmanden sind die Eltern: a) ungelernte Arbeiter, b) Fabrikhandwerker (Former, Dreher, Modelltischler, Fabrikschlosser usw.), c) sonstige Handwerker, d) Kaufleute oder Gewerbetreibende aller Art, e) Beamte, f) einzelstehende Frauen (Witwen, uneheUche Mütter usw.)? g) Wieviel Konfirmanden sind Vollwaisen?

Der Erhebung lag folgender Gedanke zugrunde: Zunächst sollte überhaupt eine Übersicht über die Versetzungsverhältnisse gewonnen werden. Sodann aber sollte ein Vergleich vorgenommen werden zwischen den Verhältnissen der Kinder, die die erste Klasse erreichen, und derer, die aus niedrigeren Klassen entlassen werden. Da, wo sich unver-

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule fiS

kennbare Zahlenbeziehungen zwischen den äußeren Verhältnissen der Kinder und dem Maße des Zurückbleibens zeigten, mußten ursächliche Beziehungen zwischen beiden vorliegen. Dabei war es von vornherein klar, daß die Einflüsse der verschiedenen Faktoren in den Zahlenreihen in geringerem Maße zum Ausdruck kommen mußten, als ihrer wahren Wirkung entspricht. Denn die Statistik stellt den einzelnen Faktor nicht für sich allein dar, sondern immer im Zusammenhange mit allen andern, so daß seine Wirkung zum Teil durch andere Einflüsse ausgeglichen wird: dadurch erscheint sein Einfluß abgeschwächt. Trotzdem war es von vornherein klar, daß diese Abschwächung bei der Fülle des Materials nicht bis zur völligen Vernichtung gehen konnte und daß die Verhältnisse der Zahlenreihen untereinander da- durch nicht erheblich gestört werden konnten.

Die Erhebung erstreckte sich auf 2205 Kinder der (achtstufigen) Volks- schule und 71 Kinder der Hilfsschule, also zusammen auf 2276 Kinder.

1.

Die erste und wichtigste Frage war die, wieviele von den Konfirman- den die erste Klasse und damit das Ziel*der Volksschule erreichen und in welchem Maße die übrigen dahinter zurückbleiben. Die hierbei sich ergebenden Zahlen mußten als Durchschnittszahlen bei allen weiteren Aufrechnungen als Maßstabdienen. Hierbei ergab sich folgendes :

Es erreichen: Kl. I Kl. U Kl. IH Kl. IV Kl. V

560/0 230/0 150/0 50 0 10 ö

Dabei zeigte es sich, daß die Mädchen über dem Durchschnitt standen, die Knaben darunter. Es erreichten nämlich Kl. I Kl. II

Mädchen: 59 0/0 22,5 0/0

Knaben: 53 0/0 23 0/0

Für diese Tatsache lassen sich wohl mancherlei Gründe anführen. Der wichtigste und letztlich ausschlaggebende dürfte der sein, daß die Mädchen z. T. aus „besseren" Familien stammen als die Knaben. Es schicken in Halle viele Leute die Mädchen in die Volksschule, die ihre Knaben zur Mittelschule gehen lassen. In dem Unterschiede zwischen den Zahlen der Knaben und der Mädchen kommt also in erster Linie der Einfluß der Lebenskreise zum Ausdruck.

Ein eigenartiger Unterschied zeigte sich ferner zwischen den Schulen der Randbezirke und der Innenbezirke. Als Randschulen sind alle die Schulen aufgefaßt worden, deren Bezirke am Rande der Stadt liegen, als Innenschulen die, deren Bezirke allseitig oder fast allseitig von anderen Schulbezirken begrenzt werden.

Es erreichten in den Randbezirken:

Kl. in

m. IV

KLV

13,50/0

- 40/0

lO'o

16o'o

6,50/0

1,50/0.

Kl. I

Kl. II

Kl. m

Kl. IV

Kl. V

620/0

18 0/0

130/0

5,50/0

0,500;

in den Innenbezirken:

KLI

Kl. H

Kl. m

Kl. IV

Kl. V

510/0

260/0

150/0

50/0

20/0.

Die Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen sind noch stärker als die zwischen Knaben und Mädchen. Sie sind unzweifelhaft darauf zurückzuführen,^

64 Ernst Haase

daß in den Innenschulen mehr Kinder vorhanden sind, die häufiger die Schule gewechselt haben. Der Schulwechsel hat alles in allem einen er- heblicheren Einfluß auf das Sitzenbleiben als der Lebenskreis, dem das Kind entstammt, und dieser stärkere Einfluß des Schulwechsels findet seinen Aus- druck in der größeren Verschiedenheit der beiden Zahlenreihen.

Aus der Hilfsschule wurden 71 Kinder entlassen, also 3,1 o/o der Gesamt- heit. Unter Einrechnung dieser 71 Schüler gestalten sich die Prozentzahlen fol- gendermaßen:

Kl. I Kl. II Kl. III Kl. IV Kl. V Hilfsschule

540/0 220/0 140/0 50/0 10/0 30/0

In den folgenden Darlegungen sind in der Regel die Konfirmanden der Hilfsschule nicht eingerechnet, und die Schüler der V. Klassen sind in den meisten Reihen mit denen der IV. zu einer Einheit zusammengezogen. Diese Zusammenfassung ist deswegen vorgenommen, weil die Zahl der Konfirman- den in den V. Klassen nur 24 beträgt. Das hat einerseits zur Folge, daß manche Gruppen von Kindern gar nicht, andere nur lückenhaft darunter vertreten sind und andernfalls, daß jeder einzelne Schüler mehr als 4^/0 der Gesamtzahl ausmacht. Infolgedessen können kleine Zufälle in der Zusammensetzung der einzelnen Gruppen so aufgebauscht erscheinen, daß sie das Gesamtbild stören und unklar gestalten, ja, es geradezu als falsch erscheinen lassen. Wo die Klassen IV und V auseinander gehalten sind, ist dies besonders bemerkt. Desgleichen sind die Zahlen der Hilfsschule immer besonders angeführt.

Bevor wir uns der Frage nach den Ursachen des Sitzenbleibens zuwenden, sei noch eine Einschaltung gestattet: Zu dem Fragebogen wurde in den 2.— 5. Klassen ein Ergänzungsbogen ausgegeben, auf dem die Klassenlehrer fest- stellen sollten, welche Gründe nach ihrer Meinung bewirkt hätten, daß die Kinder das Ziel der Volksschule nicht erreicht hätten. Nun ist es am Ende der Schulzeit für einen Lehrer nicht möglich, mit voller Sicherheit anzugeben, warum ein Kind im Laufe der acht Schuljahre sitzen geblieben ist. Die Mehrzahl seiner Kinder kennt er erst seit einem Jahre, und die Entgleisungen liegen oft um viele Jahre zurück. Es handelt sich hierbei also um Meinungen, nicht um Tatsachenangaben. Und ferner konnten nur die ins Auge fallenden Erscheinungen angegeben werden. Der Einfluß der versteckter mitwirkenden Faktoren entzieht sich der Beobach- tung in den meisten Fällen, sofern sie nicht in Form einer gründlichen Einzel- untersuchung ausgeführt wird, was bei Massenfeststellungen nicht möglich ist. Deswegen sind die auf diesem Wege gewonnenen Zahlen in dieser Arbeit nicht mit den übrigen verwertet. Die Angaben waren aber wichtig für die Beantwortung der Frage, welchen Anteil die äußeren und welchen die inneren Faktoren am Sitzenbleiben haben. Das Zahlenmaterial des Ergänzungs- bogens soll erst später einmal eingehender verarbeitet werden, da es in engster Beziehung zu den Einzeluntersuchungen steht. Einige dieser Angaben aber haben auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit Bedeutung und sollen darum hier mit aufgeführt werden.

Von den 44 0/0 der Kinder, die die 1. VolksschuUdasse und damit das Ziel der Volksschule nicht erreicht haben, sind 13,5 0/0, also ein knappes Drittel

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 65

durch äußere, 30,5 "/o, also weit über 2/3, durch innere Gründe verhindert worden, ihren Weg glatt zu durchlaufen. Unter inneren Gründen verstehe ich ausschließlich die in der seelischen Veranlagung des Kindes liegenden Hemmungen, also jene Erscheinungen, die man unter die Sammelnamen „Dummheit" und „Faulheit** zusammenzufassen pflegt. Genauer liegen die Verhältnisse so, daß bei ll^o nur äußere' Hemmungen, bei 28^0 nur innere Hemmungen, bei 5 0/0 äußere und innere Hemmungen zugleich wirken. Rechnet man die 5 0/0 nach ihren prozentualen Anteilen auseinander und zählt diese zu den beiden anderen Zahlen hinzu, so ergeben sich die an- geführten Zahlen: 13,5 und 31,5, da nach den vorliegenden Angaben bei dem Zusammentreffen mehrerer Faktoren die äußeren und die inneren Gründe nahezu gleichwertig wirksam sind.

Uns interessieren an dieser Stelle nur die 13,5 ^ 0 der Fälle, in denen äußere Gründe allein (11'' u) oder zusammen mit inneren Gründen (50/o) als Ursache des Sitzenbleibens angegeben worden sind.

Es haben die erste Klasse nicht erreicht:

a) 1,5*^/0 w-egen verspäteter Einschulung (hierzu ist der einzige Fall vor-

zeitiger Entlassung gerechnet);

b) 60/0 wegen Schulwechsels;

c) 3,5 ''ü wegen längerer Versäumnis infolge von Krankheit;

d) 1,50,0 wegen unregelmäßigen Schulbesuchs (Schwäazerei);

e) 1 0/0 aus sonstigen Gründen, insbesondere wegen körperücher Mängel.

a) Die verspätete Einschulung wird fast ausschließlich durch körperüche Mängel bedingt. Sie wird in der Regel nur dann genehmigt, w^enn der Arzt festgestellt hat, daß das Kind noch nicht schulfähig ist.

Bei vorzeitiger Entlassung sprechen in der Regel häusUche Verhältnisse mit; doch können auch körperliche und sonstige Gründe ausschlaggebend sein. Sie wird nur in ganz besonderen Ausnahmefällen genehmigt, kann bei unseren Erw^ägungen also völlig außer Betracht bleiben.

Die verspätete Einschulung läßt sich dadurch wettmachen, daß das Kind noch bis zum Durchlaufen der ersten Klasse in der Volksschule behalten wird. Das ist nur dann mögUch, wenn die Eltern einverstanden sind. Sitzen- bleiber im eigentlichen Sinne sind diese Kinder nicht; sie kommen also für uns im Rahmen dieser Arbeit nicht in Frage. Immerhin mußten sie mit er- wähnt werden, da sie einen wenn auch kleinen Teil der 44 "o, die uns hier beschäftigen, ausmachen.

b) Von der Bedeutung des Schulwechsels wird später noch die Rede sein. Wenn w'ir erfahren, daß volle 6*^ 0 der Kinder (das sind 14 ^o aller Sitzenbleiber oder etwa 40" 0 der durch äußere Gründe am Aufstieg verhinder- ten Kinder, ihm zum Opfer fallen, dann dürfte seine Bedeutung als Hemmnis für den Aufstieg schon von vornherein hinreichend gekennzeichnet sein. Die späterhin noch anzuführenden Zahlen geben ein genaueres Bild von seiner schädlichen Wirkung. Diese greift sehr weit über die 6^\o hinaus. In dieser Zahl sind ja nur die Fälle wiedergegeben, in denen er ausschließlich das Sitzenbleiben bewirkt oder in denen seine Mitwirkung noch nachträg- lich deutlich erkennbar ist. In den meisten Fällen wird sich diese Mit- wirkung später nicht mehr durch bloße Beobachtung nachw-eisen lassen, so

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 5

QQ Ernst Haase

daß die am Ende der Schulzeit auf 6 o/o festgestellte Wirkung nur die alier- schlimmsten Fälle umfaßt. Dieser kurze Hinweis mag an dieser Stelle genügen.

c) Längere Versäumnisse infolge von Krankheiten rufen einerseits Stofflücken hervor und bewirken andererseits, daß die Kinder sich schwer wieder an die geistige Arbeit gewöhnen und dadurch den Anschluß verlieren. Sehr oft bleibt auch eine der eigentlichen Krankheit folgende körperliche Schwäche zurück, die die Fortschritte des Kindes hemmt. Es handelt sich der Hauptsache nach um folgende Krankheiten i):

1. Lungentuberkulose: Diese Krankheit macht längere Heilstättenkuren erforderlich, die ein Vierteljahr und darüber dauern. Außerdem hat besonders diese Krankheit die Wirkung, daß sie den kindlichen Körper sehr schwächt und daß sie dadurch monate- bis jahrelang die geistigen Leistungen des Kindes stark beeinflußt. Bei tuberkulösen Kindern ist mir noch eine andere Er- scheinung aufgefallen, die in erziehlicher Hinsicht bedeutsam ist: solche Kinder entstammen häufig Familien, in denen die Tuberkulose erblich ist. Das Hinsterben der Kinder in solchen Familien und das eigene Leiden der Eltern führen zu einer gewissen Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit gegen alle Erziehungsfragen. Für die Klasse bilden deshalb die Kinder aus solchen Familien eine schwere Gefahr, nicht nur in gesundheitlicher, sondern in er- ziehlicher Hinsicht. Wo die Zahl tuberkulosekranker Kinder groß genug ist, wäre aus diesen Gründen die Einrichtung besonderer Schulen (Waldschulen) für solche Kinder in Erwägung zu ziehen.

2. Scharlach: Er erfordert eine Versäumnis von etwa sechs Wochen.

3. Diphtherie: Die Versäumnis beträgt bei Erkrankten vier Wochen und mehr. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß auch die Bazillenträger oft wochen- lang vom Unterricht ferngehalten werden müssen.

4. Bei Keuchhusten beträgt die Versäumnis bis acht Wochen.

5. Bei Masern (sofern sie ohne Komplikationen verlaufen), Windpocken und Ziegenpeter ist nur eine Versäumnis von 2 3 Wochen erforderlich; diese Krankheiten werden die Versetzung wenig beeinflussen.

Außer diesen Krankheiten gibt es noch solche, die weniger durch die Ver- säumnisse, die sie verursachen, als durch die Schwächung des Körpers und die damit verbundene Herabminderung der geistigen Leistungen auf die Versetzung einwirken; es sind vor allem Rachitis, Mittelohrkatarrh, Wucherungen im Nasen-Rachenraum und Skrophulose. Diese gehören eigent- lich nicht an diese Stelle, weil sie meist keine längeren Versäumnisse ver- anlassen. Sie mußten aber hier mit angeführt werden, weil sie als äußere Faktoren des Sitzenbleibens mit in Frage kommen und weil sich später keine Gelegenheit mehr bietet, sie zu erwähnen.

d) Das Schwänzen steht auf der Grenze der inneren und äußeren Hemmungen des Aufstiegs; denn es kann einerseits durch die häuslichen Verhältnisse bedingt sein, und andererseits kann es der Ausdruck einer degenerativen Ver- anlagung sein. Als einziger Grund kommt es nur bei etwa 0,4 o/q aller Fälle in Frage. Hingegen spielt es eine verhängnisvolle Rolle als mitwirkende Ursache. Besonders häufig ist es mit Faulheit vereint, in geringerem Maße mit mangelhafter Begabung. Auf einen Fall, in dem das Schwänzen mit mangelhafter Begabung verknüpft ist, kommen mehr als drei, in denen es

') Nach freundlicher Mitteiking des Herrn Stadtschularztes Dr. Strauch.

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 67

mit Faulheit zusammentrifft. Dieser Umstand deutet darauf hin, wie stark hierbei innere Gründe mitspielen; denn die degenerative Veranlagung, auf die das Schwänzen zurückzuführen ist, wirkt sich in der Regel anderv^ärts im Unterricht als Faulheit aus.

An dieser Stelle interessieren uns nur die äußeren Gründe, also die häus- lichen Verhältnisse, in denen das Schwänzen begründet ist.

Viele Eltern unterstützen ihre Kinder bei unrechtmäßigen Schul Versäum- nissen, indem sie ihnen unbedenklich Entschuldigungszettel schreiben, die den Tatsachen nicht entsprechen. Es ist erstaunhch, wie leicht es viele Eltern in solchen Fällen mit der Wahrheit nehmen. Meist sind es schwache Mütter, die es tun, um ihr Kind, das die Schule versäumt hat, vor einer wohlverdienten Strafe zu bewahren. Die Wirkung solcher Schwäche greift weit über den Fall selbst hinaus : Das Kind erfährt, daß es die Mutter mit der Wahrheit nicht genau nimmt und daß man überhaupt der Schule gegenüber die Wahrheit nicht immerzu sagen braucht, ferner daß es auch im Falle eines offenbaren Unrechts bei der Mutter Schutz und Hilfe findet usw. Das alles lockt zur Wiederholung, und die Mutter muß weiter helfen, nachdem sie einmal angefangen hat. Die Väter geben sich seltener zu solcher Hilfe her. Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich Männer im allgemeinen der öffentlichen Ordnung A\illiger und mit größerer Selbstverständlichkeit einfügen als Frauen. Den Müttern erscheint eine Umgehung der Schulordnung geringfügiger als den Vätern, und die Mutter- liebe, die das Kind vor jedem Übel, auch vor dem heilsamen, bewahren möchte, tut das Ihrige. Die verheerenden Folgen dieser Schwäche für die sitthche Entwicklung des Kindes kommen der Mutter nicht zum Bewußtsein, oder sie werden von ihr unterschätzt. Was in solchem Falle noch erschwerend wirkt, das ist der Umstand, daß derartige Versäumnisse meist straflos aus- gehen, weil sich das Unrecht in der Regel nicht nachweisen läßt. Dadurch ladet das Verfahren geradezu zur Wiederholung ein.

Wenn Eltern ihre Kinder bei unrechtmäßigen Versäumnissen nicht nur unterstützen, sondern sie geradezu dazu anhalten, so schützen sie in der Regel eine wirtschaftliche Notlage vor. Wer eine reichere Erfahrung auf diesem Gebiete hat, der läßt sich dadurch nicht täuschen. In ordentlichen Familien kommt auch bei schwerster Not ein Schwänzen der Kinder nur dann vor, wenn eine seelische Anlage dazu beim Kinde vorhanden ist. Wo es anders ist, da ist die Notlage genau wie das Schwänzen die Folge einer schlechten Wirtschaftsführung, die ihrerseits in mangelndem Ordnungssinn oder in der Arbeitsscheu und Liederhchkeit der Eltern ihren Grund hat. Das Schwänzen ist in dieeen Fällen nicht die Folge der Notlage, sondern beide sind die Folgen dieser tieferen Gründe und stehen untereinander nicht im Verhältnis von Grund und Folge. Die Not wird aber gern als Aushänge- schild benutzt, das die Schuld verdecken soll. Für das Kind wird auch in solchem Falle die schlechte Erziehung verhängnisvoll: Die Umwelt, in der es aufwächst, erschwert oder verhindert die Entwicklung der Wahrheitshebe, des Fleißes, des Ordnungssinnes. Die gegen die Schule gerichtete Erziehungsarbeit des Hauses vernichtet die erziehhchen Wirkungen der Schularbeit. Das alles wirkt noch schUmmer auf das Kind ein als die Stofflücken, die durch die Versäumnisse hervorgerufen werden.

Es ist also in jedem dieser Fälle nicht die Versäiunnis an sich, die für das Kind verhängnisvoll wird, sondern einerseits kann eine unglückliche Veran-

68 Ernst Haase, Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule

lagung vorliegen, und andererseits wirken sich die Folgen einer schlechten Hauserziehung aus.

Das Schwänzen hat also der Hauptsache nach innere Gründe auch dann, wenn äußere Faktoren es veranlassen. Die Gegenmaßnahmen müssen also möglichst die Wurzel des Übels treffen. Vor allem müssen die Eltern beeinflußt werden, sei es auf dem Wege der Belehrung und Ermahnung, sei es mit allen Mitteln des gesetzlichen Zwanges.

e) Der Rest der Zurückbleibenden, es ist noch 1 o/o, wird größtenteils durch körperliche Mängel am Fortkommen gehindert. Unter ihnen sind am stärksten die schwerhörigen Kinder vertreten. Der Schwerhörigkeit muß also besondere Beachtung geschenkt werden. Mit allen Hilfsmitteln sollte man ihre Wirkungen auszugleichen suchen. Hörrohre, Megaphone usw. sollten zu Gebote stehen. Im Notfalle sollte auch Ableseunterricht erteilt werden. Ob Schwerhörigenklassen einzurichten sind, das wird von der Zahl der schwerhörigen Kinder abhängen.

Die nächste Gruppe sind die Kurzsichtigen. Hier handelt es sich darum, daß das Übel rechtzeitig erkannt wird und daß den kurzsichtigen Kindern aus öffentlichen Mitteln Brillen zur Verfügung gestellt werden, wenn die Eltern nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, solche zu beschaffen.

Besondere Beachtung verdienen auch Sprachgebrechen. Sprachgebrech- liche Kinder lernen meist schwer lesen und bleiben in der Rechtschreibung Stümper. In Halle hat sich die Einrichtung von Sprachheilklassen für die beiden ersten Schuljahre ausgezeichnet bewährt, so daß die Sprachfehler als Hemmnisse für den Aufstieg bei uns nur wenig in Betracht kommen. Doch sei auf eine eigenartige Beziehung verwiesen, die wir in diesen Klassen und an anderen Stellen in der Schule beobachtet haben: Mit Sprachfehlern ist nicht selten ein Intelligenzmangel verknüpft; sprachgebrechliche Kinder müssen also nach dieser Richtung sorgfältig beobachtet werden.

Allgemeine Körper schwäche, Kränklichkeit, chronische Leiden haben gleichfalls in einzelnen Fällen Anlaß zum Sitzenbleiben gegeben. Erfreulicher- weise ist die Zahl solcher Kinder, die hierdurch im Aufstieg gehemmt werden, außerordentlich klein.

Zu dieser Gruppe von l^/o sind dann noch einige Fälle gerechnet, bei

denen die Gründe des Zurückbleibens nicht mehr nachweisbar sind. Es

mag sich dabei um Störungen in der geistigen Entwicklung der Kinder

handeln, die vor Jahren aufgetreten sind und zum Sitzenbleiben geführt

haben, die aber später völlig überwunden sind.

(Fortsetzung folgt.)

Kleine Beiträge und Mitteilungen.

Vertretung der Psychologie und Pädagogik au den deutschen Uni- versitäten im Winterhalbjahr 1918/19 ')• Berlin. Mahling: Religionsunterr., Seelsorge christl. Liebestätigkeit (4). Katechet. Semin. (2). Prakt. Sozietät: Besprechung pädagogischer Probleme und Strömungen (2). Jacobsohn

•) Erklärung der Abkürzungen: med. F. = medizinische Fakultät, theol. F. = theolo- gische Fakultät, naturw. F. = naturwissenschaftl. Fakultät, jur. F. = juristische Fakultät.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 69

(med. F.): Das geistesschwache und das nervöse Kind (1). Forster (med. F.): Psychiatrie des Kindesaiters (3). Stier (med. F.): Psychol. und ner\-Ö8e Störungen des Kindesalters (1). Schaefer (med. F.): Mediz. Psychol. (2).

Korff-Pe tersen (med. F.): Schulhygiene (1). Grotjahn (med. F.): Schulhygien. Übungen, n, Verabr. Stumpf: Psychol. mit Demonstrationen (4). Theoret. Übungen im psychol. Inst. (1). Wertheimer: Rechtspsycho- logie (2). Experiment.-psychol. Übungen für Anfänger (2). Vierkandt: Übimgen zur ethnolog. Soziologie und Psychol. (2). F. J. Schmidt: Gesch. der Päd. (4). Übungenü. J. P. Richters „Levana" (1^ 2). - Wulff: Die Kunst des Kindes (1). Sa. = 33' 2, außerdem Übungen b. Grotjahn. Bonn. Pfennigsdorf (ev.-theol. F.): Katech. Seminar (1). Lauscher (kath.- theol. F.): Katech. Seminar (1). Hübner (med. F.): Geistig abnorme Kinder (1). - Dyroff : Psychologie (4). Störring: Experiment. Pädagog. (1). Wentscher: Pädagogik (2). - Selz: Psychol. im prakt. Leben (1).

Erismann: Einführung in die experiment. Psychol. (2). Kutzner: Psychologie der Sprache (1). Psychologie in Anwendung a. d. prakt. Leben (1). Bedeutung der Pädag. (1). Einführung in die experiment. Psychol. (2).

Sa.= 18 Std. Breslau. Steinbeck (ev.-theol. F.): Katech. Semin. (2).

Hönigswald: Aligemeine Psychol. (4). Im psychol. Semin.: Übungen über die philos. Grundlagen der Pädagogik (1' 2). Provinzialschulrat Dr. Otto Miller: Das Lehramt an höheren Schulen (Hodegetik) (2). Übungen im Anschluß an das Kolleg (1). Sa. = 10' 2 Std. Erlangen. Gas pari (theol. F.): Allgem. Pädag., mit besond. Berücksichtigung d. Volkssch. (4). Katech. Semin. (2). Pädag. Praktikum (2). - Weichardt (med. F.): Schul- hygiene (1). Sa. = 9. Frankfurt a. M.* Hahn (med. F.): PsychopathoL des Kindes (1). Ziehen: Grundfr. d. staatsbürgerl. Erziehung (2). Gesch. u. System d. Volksbildungsw. (1). Lesen u. Erklären ausgew. Quellenstücke im Päd. Sem. (1). - Schultze: .Indi\'idualpsychol., Teil I, Charakterologie (1). Besprechung pädag. Tagesliteratur (1). Schumann: Psychol. m. Demonstrationen (3). Einführungskursus i. d. exp. Psychol. mit Gelb (2). Im philos. Sem.: Psychol. Übungen f. Anf. (1). Henning: Tierpsychologie (2). Pape (\\drtsch.- u, sozialw. F.): Methodik d. kaufm. Unterrichtsfächer (1). Semin. f. Handelsschulpäd. : Lehrübungen u. Bespr. päd. Fragen (3j. Lühr (wirtsch.- u. sozialw. F.): Einf. i. d. Handelsschulpr. : Hospitierübungen und Bespr. (2). Klumker (wiitsch.- u. sozialw. F.): Gesch. d. Kinder- fürsorge (1). Sa. = 22. Fi'eiburg i. B. Kehrer (med. F.): Kriminal- psychol. und Psychol. d. Aussage (1). Geyser: Psychol. (4). Cohn: Das jugendl. Seelenleben und seine Beeinfl. (psychol. Päd.) (2). Psychol. Arbeiten n. Verabr. Sa. = 7, außerdem Arb. b. Cohn. Gießen. Schian (theol. F.): Gesch. d. Pädagog. (3). - Sommer (med. F.): Experiment. Psy- chologie und Psychopathologie (1). Messer: Psychologie (4). Koffka: Einführung i. d. Psychologie (2). Psychol. Übungen (1). Strecker: Gesch. d. Pädagog. im Altertum (2). Sa. = 13. Göttingen. Meyer (theoL F.): Luthers kl. Katechism. (2). Katechet. Übungen (1). Rosenthal (med. F.): Schulhygiene (1). G. E. Müller: Psychologie (4). Methodik d. Unter- suchung d. Gedächtn. u. d. Vorstellungsverl. nebst Demonstr, (1). Experimt. psychol. Arbeiten. Sa. == 9, außerdem Arb. b. Müller. Greifswald. V. d. Goltz (theoL F.): Katechet. (1). Katechet. Semin. (2). Rehmke: Konversatorium ü. d. Seele des Menschen (2). Schmekel: Einf. in die

70 Kleine Beiträge und Mitteilungen

experiment. Psycholog. (2). Sa. = 7. Halle. Eger (theol. F.): Katechet, (d. Lehre v. d. christl. Erziehung) (2). Katechet. Abteilung (2). Kauff- mann (med. F.): Psychol. des Verbrechens (1). Frischeisen-Köhler: Angewandte Psychol. (2). Pädagog. Semin.: Fichtes Pädagog., i. noch z. best. Std. Weltanschauung und Bildungsideal (1). Menzer: AUgem. Pädagog. (2). Ziehen: Experimentell-psychol. Übungen z. Ästhetik (2). * Walther: Ziele und Wege des geolog. Unterrichts (1). Sa. = 13, außer- dem Übung, über Fichtes Päd. bei Frischeisen-Köhler. Hamburg. Boden: Kriminalpsychol. Kolloquium. Stern: Psychol. und Leben (1). Übungen zur Jugendpsychol. Werner: Einführung i. d. exper. Psychol. (2). Bi- schoff: Psychol. des Wirtschaftslebens (1). Kriminalpsychol. Kolloquium. C 1 a ß e n : Prakt. Jugendpflege (2), vor Weihnachten. Staatsbürgerl. Erziehung (2), nach Weihnachten. Sa. = 8. Außerdem Kolloquia u. Übungen. Heidelberg. Dibelius (theoL F.): Geschichte, Sage und Mythus im Lebensbilde Jesu (1). Bauer (theoL F.): Gesch. der neueren Pädag. (3). Übungen für den Unterrichtsstoff in der Oberst. (2). Niebergall (theol. F.): Katechetik (3). Stadtschulrat Rohr hurst: Katechet. Übungen über den Unterrichtsstoff in der Mittelst. (1^2)- Geschichte d. badischen Volksschule (1). Grüble (med. F.): Pädag. Psychol. (2), Jaspers: Psychol. der Weltanschauungen (2). Psycholog. Übungen über Kierkegaard (2). Curtius (nw.-mathem. F.): Che- misches Praktikum für Lehramtskanditaten (5 Tage halbtägig). Sa. =171/2. Jena. Thümmel (theol. F.): Katechet. Semin. (2). Schultz (med. F.): Psycho- therapie (2). Linke: Beobachten und Schauen (1^2)- Nohl: Ein- führung in die Pädag. (1). Eucken: Übersicht d. Gesch. d. neuern Pädag. (1). Weiß: Allgem. Unterrichtsl. unter Berücksicht. neuerer Strömungen (1). Pädag. Strömungen der Gegenwart (2). Schulorganisationsf ragen der Gegenwart (1). Rein: Job, Fr. Herbarts Leben und Lehre (2). Spezielle Didaktik I: Die humanist. Lehrfächer (2). Mit Weiß: Prakt. Übungen im päd. Semin. Sa. == I51/2, außerdem Übungen bei Rein und Weiß. KieL Baum- garten (theol. F.): Katechet. Übungen (2). Deußen: Psychol. und System der Philos. (4). Martius: Psychol. Semin. (2). v. Brockdorff: Gesch. der neueren Pädag. (2). Comenius, näher zu bespr. Sa. = 10, außerdem über Comenius bei v. Brockdorff. Königsberg. Uckeley (theol. F.): Ka- techet. Seminar (1). Ach: Psychologie (4). Experiment.-psychol. Übungen (12). Kowalewski: Russische Pädagogen (1). Sa. = 8. Leipzig. Frenz el (theol. F.): Pädagog. auf gesch. Grundl. (5). Katechet. Abteilung d. Semin. f. prakt. Theologie (2). Semin. f. Pädagog. : Prakt.-pädag. Übungen und Besuche von Lehr- und Erziehungsanst. (2). Gregor (med. F.): All- gem. PsychopathoL (1). Döllken (med. F.): Kriminalpsychol. (1). Lange (med. F.): Schulkrankheiten und Schulhygiene (1). Brahn: PsychoL (3). Übungen zur experiment. Pädag.: Didaktik des Elementarunterr. (IV2). Wissenschaf tl. Arbeiten zur experiment. Pädag. (25). Wirth: Psychophysik der höheren seelischen Funktionen (Aufm., Ged., Willensh.) (2). Psychoph. Semin.: Zur Einführung (1). Leitung selbst. Arb. (10). Krueger: Übungen zur Entwicklungspsych. (IV2). Inst, für exper. Psych.: Leitung selbst. Arb. mit Kirschmann (21). Spranger: Pädag. IIL Teil (Kinderpsychol. und systeraat. Pädag.) (4). Bergmann: Das klassisch-deutsche Bildungsideal (1). —Jungmann: Gesch. d. gelehrt. Unterr. von der Reformation bis zur Gegenwart (2). Prakt. pädag. Semin. mit Hartmann und Hünlich (4).

Ideine Beiträge und Mitteilungen 71

Kirschmann: Einführungsk. zur experim. Psychol. (2). Lipsius: Übungen über die Fragen der mod. Schulreform (IV2). John: Untemchtslehre für Landwirtschaftslehrer (2). Theoret. Seminarübungen (2). Experiment. Vor- bereitung für den Unterr. (2). Unterrichtserteilung in der Übungsschule (20).

Wagner: Chem. Übungen für Lehrer (44). Didakt. Besprechungen zu den ehem. Übungen für Lehrer (1). Sa. = 41' 2, außerdem 20 Std. Übungssch., 90 Std. wissensch. Arbeiten. Marburg. Bornhausen (theol. F.): Religionspsychol. (2). Bornhäuser (theol. F. : Prakt. Theol.: Katechet., Seelsorge, Kirchenverf. (4). Katechet. Semin, (2). Natorp: Allgem. Päd. (3). Übungen über Herbarts Philos. und Pädag. (2). Jaensch: Psychol. Abt. des philos. Semin., in noch zu verabr. Std. Leitung psychol Vers. n. Verabr. Sa. = 13, außerdem Arb. und Vers, bei Jaensch. München. Göttler (theol. F.): Gesch. der Päd. mit besonderer Berücksicht. des bayi-. Schulwesens (4). Didakt. Praktik. (2). Katech. Praktik, mit Mayer (1). Päd. Semin. (1). Mayer (theol. F.): Grundr. der Heilpäd. iPädag. Psychopath.) (1). Hecker (med. F.): Grundlagen der körperl. EIrziehung (1). Uffen- heimer (med. F.): Soz. Jugendfürsorge (1). Schneider (med. F.): Schul- hygiene (2). Iss erlin (med. F.): Klin. Experimentalpsych. (1). Psych. Störungen nach Hirnverletzungen (1). Psychotherapeut. Kursus (2). Goett (med. F.): Nervenkrankheiten und Psychopathol. des Kindesalt. (2). Die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes (1). Becher: Psychol. (4). Seminarübungen über psychol. Fragen (1). Experiment.-psychol. Arbeiten mit Bühler tägl. Foerster: Grundfragen der Charakterbildung (4). Päd. Semin: Die Arbeitssch. (2). Joachimsen: Übungen zur Didaktik der Reformationsgesch. (l'/i) Aster: Philosophisches und Psychologisches in der modernen Liter. (1). Fischer: Grundzüge der Didaktik (2). Erziehungs- und Schulfragen der Gegenwart (1). Matthias Meier: Übungen zur tho- mist. Psychol. (1). Sa. = 37 > '2, außerdem täglich Arb. bei Becher und Bühler. Münster: Smend (ev.-theol. F.): Einf. in den evangel. Rehgions- unterr. an höheren Schulen (3). Katechet. Semin. (1). Rosenfeld (jur. F.): Jugendstrafrecht, einschließlich Fürsorgewesen (2). Kriminalpsychol. (1).

Goldschmidt: Grundbegriffe der Völkerpsychol. (1). Psychol. Übungen und Arb., nach Vereinb. Cauer: Pädagog. auf prakt. Grundl. (2). Braun: Allgem. Grundlegung und Gesch. der Päd. vom Altertum bis zum 18. Jahrh. (4). Pädag. Hauptströmungen der Gegenwart (2). Plaßmann: Methodik des Unterr. in mathem. Geographie und elementarer Astronomie (1). Sa. = 17, außerdem Übungen und Arbeiten bei Goldschmidt. Rostock. Hashagen (theol. F.): Evangel. Pädagog. (2). Hilbert (theol. F.): Ka- techet. Semin. (2). Walter (med. F.) u. Utitz: Einführung in die allge- meine und patholog. Psychol. (2). Psychol. Übungen (1). Sa. = 7 Std. Straßburg. Naumann (ev.-theol. F.): Katechet. Semin. (1). Pfersdorff (med. F.): Die Psychose des Kindes (1). Baensch: Vorfragen d. Psychol. (1). Schneider:*Gesch. der Pädag. im Umriß (l). Goetsch (mathem. - naturw. F.): Psychol. der Tiere, II. Teil (Insekt, und Wirbelt.) (1). Sa. = 5. Tübingen, v. Wurster (ev.-theol. F.): Katechet, und Kirchenverf. (4). Luthers kleiner Katechismus und seine unterr. Behandl. (2). Katechet. Semin. mit Übungen in der Volkssch. (2). Schilling (kath.-theol. F.): Homilet, imd Katechet. (1). Mezger (jur. F.): Psychol. Fragen aus der gerichtl. Praxis (1). Busch (med. F.): Die psychisch, und nervös Folgen der Gehimver-

72 Kleine Beiträge und Mitteilungen

letzungen (1). Wolf (med. F.): öffentl. Gesundheitspflege besonders für die Kandidaten des höheren Lehramts (1). Adickes: Psychologie (4). Spitta: Ausgew. Abschnitte a. d. vergl. Psychologie (2). Ritter: Gesch. und System des Unterrichts an den höheren Schulen Deutschlands (3). Deuchler: Bildungswerte und Bildungsideale (3). Pädag. Semin.: Über das Wesen der Erziehungswissenschaft (1). Sa. = 25. Würzburg, Stölzle: Übungen zur Pliilos. und Pädag. (1). Anleit. zu wissensch. Arbeiten in Philos. und Pädag., nach Bedarf. Marbe: m. Peters: Experiment. Übungen zur Einf. in die Psychol., Pädag. und Ästhet. (3). Im psychol. Inst.: An- leitung z. wissensch., auch pädag. und ästhet. Arb. (48). Peters: Die geist. Entwicklung des Menschen (2). Psychol. und pädag. Besprechungen (1). Sa. = 7, außerdem Arb. bei Marbe (4S) und bei Stölzle n. Bedarf. Leipzig. Hermann Götz.

Eine Wiener Hauptstelle für Unterricht und Erziehung ist im Entstehen begriffen. Im Anschluß an die vor 20 Jahren begründete Lehrmittelzentrale wird sie an erster Stelle eine Mustersammlung von Lehrmitteln für alle Schul- arten ausbauen. Sie soll dann ferner eine ständige Ausstellung von kindlichen Beschäftigungsmitteln erhalten, wobei insbesondere die Spiele für alle Alters- stufen zu sammeln und auszustellen sind. Auch die Musterschulbüchereien der Lehrmittelzentrale gehen in die Hauptstelle über und werden dort eine Ergänzung durch Musterlehrerbüchereien erfahren. Weiter soll in der Haupt- stelle auch der Wunsch nach einer pädagogischen Zentralbibliothek, für die ein Grundstock schon vorhanden ist, Erfüllung finden. Geplant ist schließhch auch, das „Österreichische Schulmuseum" mit der neuen Gründung zu verbinden und so einen geschichtlichen Überblick über das Gebiet des Lehrmittelwesens zu bieten.

Die Auskunftsstelle für Kleinkinderfürsorge, die der pädagogischen Abtei- lung des Zentrahnstituts für Erziehung und Unterricht angegliedert ist, bückt jetzt auf ein dreijähriges Bestehen zurück; sie wird fortschreitend immer stärker in Anspruch genommen. Besonderer Nachfrage erfreuen sich die Leihmappen, die das Wichtigste über Gesundheitspflege und Beschäftigung des Kleinkindes, über Einrichtung und Betrieb von Kindergärten und Kleinkinder- schulen, Buchführung, Kinderspeisung, Mütterabende u. a. m. enthalten und kostenlos zur Einsicht gesandt werden. Auch die Lichtbilder-Reihen „Körper- liche Entwicklung und Pflege" und „Der Volkskindergarten" sind ständig ausgeliehen. Auf Wunsch werden gegen geringe Leihgebühr Lehr- pläne von Kinderpflegerinnen-Schulen, Kindergärtnerinnen- und Jugend- leiterinnen-Seminaren vermittelt und Bildermappen sowie Baupläne zur Ver- fügung gestellt. Näheres ist durch das Zentrahnstitut für Erziehung und Unter- richt, Berlin W 35, Potsdamer Straße 120, zu erfragen.

Nachrichten. 1. Von der Dörpfeldstiftung sind zwei Preisaufgaben zur Wahl gestellt: „Dörpfelds Schulverfassung in ihrer Bedeutung für die Gegen- wart" und „Dörpfelds Erziehungsgedanken und die moderne Jugendbewegung und Jugendfürsorge". Arbeiten im Umfange von 3 4 Quartbogen sind bis zum 1. Juli 1919 an den Vorsitzenden der Stiftung, Rektor W. Vogelsang in Barmen-Wichlinghausen, unter Kennwort einzusenden.

Literaturbericht 73

2. Prof. Dr. Aloys Fischer woirde zum Professor der Pädagogik an der

Universität München ernannt.

3. Dr. Georg Weiß, Privatdozent an der Universität Jena, hat die Be- rufung zum obersten Leiter des Volksschulwesens in S.-Weimar erhalten, wird jedoch seine akademische Tätigkeit zunächst noch weiterführen.

4. In der pädagogischen Osterwoche, die das Zentral-Institut für Er- ziehung und Unterricht in der Zeit vom 10. bis 16. April 1919 veranstaltet, ist für Pädagogik in Aussicht genommen: Spranger (Leipzig), „Die Ansicht über den Bildungswert des Altertums von Winckelmann bis zu Wiiamowitz" und Fischer (München), .Organisation und Technik der Berufsberatung an höheren Schulen".

Literaturbericht.

Dr. August Messer, o. Prof. der Phil. u. Päd. a. d. Univ. Gießen, Ethik. Eine philosophische Erörterung der sittlichen Grundfragen. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 132 S. geb. 4,20 M.

Messer fügt mit dieser Schrift einen bedeutsamen Baustein in sein umfängliches literarisches Werk. Er gibt in ihr, nachdem er sich wiederholt schon ethischen Einzelfragen zugewendet hatte, einen gut geschlossenen Abriß der Lehre von der Sittlichkeit. Die Vorzüge, die seinen Darstellungen der Psychologie und der Geschichte der Philosophie (Sammlung „Wissenschaft und Bildung") die so l)eifälhge Aufnahme gebracht haben, zeichnen auch dieses Buch aus. Vor allem eignet ihm eine durchsichtige Klarheit, ein meisterlicher didaktischer Zug (auf den ersten Seiten vielleicht etwas za stark hervortretend), eine schön aufsteigende Linie der Gedankenführung und ein architektonischer Aulbau. Den Inhalt ausführlich zu kennzeichnen, verbieten die psychologischen Aufgaben dieser Zeitschrift. Es sei nur unter den Hinweisen, daß Messer sich auch von den jüngsten Anschauungen (Scheler, Stern u. s, f.) l>efruchten läßt, daß er vielfach auf Erscheinungen der Gegenwart die Blicke lenkt und daß er in den sachlichen Erörtenmgen die persönliche Note nicht unterdrückt, in aller Kürze die Gliederung angegeben.

Nach einleitenden (leider nur etwas knappen) Darlegungen ül>er die Aufgaben der Ethik han- delt ein ausgedehnter Hauptteil über das Wesen und die Geltung der Sittlichkeil. Daß in ihm mit aller Sorgfalt und in gutem didaktischen Sinn von der Klärung der wichtigsten Begriffe ausgegangen wird, fördert ersichtlich die angeschlossenen Betrachtungen über das Verhältnis der Sittlichkeit zu Religion, Sitte und Recht imd über die Gegenstände und Bedeutung des sittlichen Bemteilens. Dankenswert ist den folgenden Abschnitten über Gesinnung, Wille und Neigung und über den Sinn der sittlichen Wertung der hervortretende psychologische Einschlag. Gründlicher wird dem Freiheitsproblem, dem Messer schon früher eine selbständige Darstellung gewidmet hat, nachgegangen. In dem Kapitel über die Prinzipien der Sittlichkeit kommt die bekannte Reihe der ethischen Theorien zu kritischer Betrachtung, wot)ei schließlich das Gewissen als entscheidende Instanz erkannt wird. Ein neuer Hauptteil tritt imter der Überschrift „Individual- und Sozial- ethik" auf. Wieder eröffnet hier eine begriffliche Darlegung die Auseinandersetzungen. Es wird nach Erörterungen über den Einzelnen und die Gemeinschaft das Sittliche in seinem Verhältnis zu den Lebensgebieteu untersucht : zu Recht und Staat, zu Religion, Kunst und Wissenschaft und zum Wirtschaftsleben. Der Schlußteü ist alsdann der Verwirklichung der Sittlichkeit ge- widmet. Er hat eine pädagogische Einstellung und erörtert u. a. das Verhältnis der Ethik zu Pädagogik und Psychologie (wobei auch ein paar richtige Bemerkungen über die Grenze der experimentellen Richtung einfließen), zeigt die Wege zur sittlichen Einsicht und zum sittlichen Handeln, betrachtet die Erziehung unter dem Freiheitsproblem und gipfelt in dem Versuch einer Verbindung des individual- und sozialethischen Wirkens. Angefügt ist ein trefflich zu- sammengestelltes Schriftenverzeichnis.

Die Messersche Ethik ist dem Handbuch für höhere Schulen, herausgegel)en von Provinzialschulrat Dr. R. Jahnke, eingereiht. Diese bedeutsame Sammlung will der planmäßigen Einführung der künftigen Oberlehrer in das Wesen und die Aufgaben ihres Berufes dienen einer Ein- führung, die nach der Ordnung der praktischen Ausbildung für Lehrer an den höheren Schulen in Preußen (vom 2S. Juli 191T) nun endlich wohl ernster als bisher betrieben werden wird. Die Wert- und Ziellehre der Pädagogik erfordert dabei eine gründliche Vertiefung in die ethischen

74 Literaturbericht

Grundfragen. Wir wüßten für diesen Zweck kaum eine bessere Schrift als die von Messer za nennen. Sie hat übrigens neben ihrem Platz in dem Handbuche von Jahnke auch durchaus selbständigen Wert und^sei darum außer den Anwärtern für das höhere Schulamt auch weiteren Kreisen sehr empfohlen. Vor allem kann sie der schulmäßigen Pflege der philosophischen Propä- deutik, die wohl in der heraufkommenden neudeutschen Schule eine bedeutendere Stellung ge- winnen wird, treffliche Dienste leisten.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

Dr. Kurt Grau, Grundriß der Logik. (Natur und Geisteswelt. 637. Bd.). Leipzig 19t8 Teubner. 140 S. 2 M.

Als wissenschaftlicher Leitfaden genommen stellt das Buch eine sehr tüchtige Leistung dar. Es ist in ihm gelungen, das Lehrgebiet der Logik nach dem herkömmlichen Aufbau über- sichtlich auszubreiten, die verschiedenen Lösungsversuche der Probleme aufzuzeigen und zu erörtern und dal>ei immer an den Stand der Forschung heranzuführen. Wo der logische Stoff zur Hinwendung nach Psychologischem drängte, wie z. B, bei den Betrachtungen zur Denk- psychologie (S. 7 und S. 16—20), geschieht dies mit der reinlichen Trennung, die erforderlich ist, wenn die logische Betrachtung nicht durch die Vermengung mit Psychologie offenbaren Schaden leiden soll. Ebenso ist die Einbeziehung erkenntnistheoretischer und grammatischer Fragen mit aller Vorsicht betrieben. Auch Grau's Grundriß wagt nicht mit der Überlieferung zu brechen, die Elementarlehre gegenüber der Methodenlehre unverhältnismäßig ausführlich abzuhaadeln. Das angefügte inhaltlich geordnete Literaturverzeichnis, das unter seinen reich- lichen Anführungen die bedeutsameren Schriften besonders heraushebt, wäre für die Zwecke des Buches dienstbarer, wenn es sich Beschränkung auferlegte und dafür die einzelnen Werke nach ihrer Eigenart kurz kennzeichnete.

Der Verfasser dachte sich seine Arbeit als Einführung für Schüler (!), Studenten, ja für philosophisch Interessierte überhaupt und wollte bei der Abfassung didaktische Gesichtspunkte vor die theoretisch -wissenschaftlichen stellen. Ein solches Buch wäre in der Tat höchst wünschenswert. Wir habea es aus Bedürfnissen des Seminarunterrichtes wiederholt gefordert. Aber Grau mag sich nicht täuschen, daß für solche löbliche Absicht sein Grundriß denn doch zu sehr mit Einzelnem überlastet ist und eine Anlage und Formung gewonnen hat, die schon ein beträchtliches Maß von Vorkenntnissen im Gebiete und von wissenschaftlicher Kraft beim Studierenden voraussetzt. (Vergl, z. B. den Abschnitt „Die geschichtlichen Voraussetzungen der neueren Logik*.) Jedenfalls zählt er kaum zu den wissenschaftlich gemeinverständ- lichen Darstellungen, die sonst die Sammlung „Natur und Geisteswelt" vereinigt. So bleibt auch nach Grau's Logik der Wunsch nach einem deutschen Seitenstück zum Leitfaden von Stanley Jevons noch offen. Offenbar ist das logische Lehrgebiet, wenn man seiner stofflichen Natur durchaus gerecht bleiben will, ganz besonders schwierig didaktisch zu meistern. Viel- leicht, daß der Versuch eines mehr untersuchend gehaltenen und nicht rein darstellenden Ver- fahrens leichter zum Ziele führte. Die Durchsetzung mit noch so vielen und guten Beispielen, die Grau übrigens in reizvoller Auswahl sehr geschickt einfügt, erfüllt allein noch nicht die didaktische Aufgabe, die sich der Verfasser nach den Erklärungen im Vorwort gestellt hat. Doch sei wiederholt, daß wir seinen Grundriß als eine wissenschaftliche Darstellung hoch ein- zuschätzen wissen und allen denen empfehlen, die nicht gerade eine bequeme Einführung suchen.

Leipzig. Otto Scheibner.

Hermann Ebbinghaus, weiland Prof. der Philosophie an der Universität Halle, Abriß der Psychologie. 6. Auflage, durchgesehen von Prof. Karl Bühler in Dresden. Leipzig 1919. Veit u. Co. 206 S. 7,00 M.

Wir haben wiederholt den fest in sich geschlossenen und wohlgeformten Abriß von Ebbinghaus im schnellen Erscheinen seiner Neuauflagen es sind nun ihrer sechs in einem Jahrzehnt gewürdigt. Wie vorher Ernst Dürr, so hat auch der neue Herausgeber das Werk nicht umge- staltet, sondern nur dort ganz sparsam und vorsichtig Eingriffe vorgenommen, wo es der Fort- schritt der Einzelerforschung nunmehr erforderte. Seh.

D. Dr. h. c. E. v. Sallwürk, Die Seele des Menschen. Psychologische und pädagogische Grundbegriffe. Karlsruhe 1918. G. Braun. 134 S. 4,50 M.

Die Vorzüge, die den zahlreichen Schriften Ernst v. Sallwürks eignen: Schöpfen aus der Fülle des in einer langen Lebensarbeit erworbenen Stoffes, Geschicklichkeit in neuen eigen- artigen Gruppierungen, klare Flüssigkeit in der Darstellung diese Vorzüge sind auch dem jüngsten Buche des nunmehr bald Achtzigjährigen erhalten. Es bietet einen Aufriß des

Literaturbericht 75

seelischen Lebens, gegliedert in die Hauptteile: Wesen der Seele, Vorstellung und Anschauung, Gefühle und Handlung. Zwischendurch sind in die psychologischen Darlegungen ausgedehntere pädagogische Betrachtungen eingegliedert. So widmet sich ein Abschnitt der erzieherischen Forderung, das Seelenleben zur Erkenntnis zu bringen; so wird der Begriff Anschauung in seiner schillernden Auffassung von Pestalozzi bis Herbart behandelt; so klingt das Buch aus in erziehliche Folgerungen aus Einsichten in die psychologische Natur des Fühlens und Wollens. Zahkeiche Anführungen aus führenden Werken der älteren und neueren pädagogischen und psychologischen Wissenschaft leiten an die Quellen hin, aus denen Sallwürk die Tatsachen schöpft, die er zu schöner Gedankeneiaheit verbindet.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

R. Gaupp, Prof. a. d. Univ. Tübingen, Psychologie des Kindes. 4., vielfach veränderte AolL Natur und Geisteswelt Bd. 213/14. Leipzig 1918. Teubner. 172 S. 2 M.

Gaupps gut eingeführte Kinderpsychologie verrät nicht so auffällig, als man in der Richtxmg physiologischer Auffassungen und Betrachtungen erwarten könnte, die Hand des Arztes. Immerhin wird sie durch die Bevorzugung bestimmter Teilgebiete noch deutlich spürbar. Vor allem ist ihr ein schätzensw^erter Anhang über die seelisch abnormen Kinder zu danken. Der Verfasser aber weist selbst darauf hin, daß er sich in Stoffkreisen, die ihm fern liegen, der fachmännischen Führung von Forschern wie Meumann, Stern und Groos anvertraut hat.

Das Buch ist erstmals vor einem Jahrzehnt erschienen. Es war in seiner ersten Gestalt aus einem Kursus für Lehrer erwachsen. Diese Herkunft macht es verständlich, daß der Schwerpunkt auf die Psychologie des Schulkindes verlegt ist und daß besonders auch psychologische Fragen, denen eine hervorragende pädagogische Bedeutung innewohnt (Schulneuling, Typen der Auf- merksamkeit, Lernen und Behalten, Aussage, Leistungsfähigkeit und Ermüdung, Intelligenzprüfung), betont worden sind. Leider wird die reifende Jugend, die gerade bei der besonderen Einstellung des Buches zu gründlicherer Behandlung drängte, nur auf knapp drei Seiten abgetan bedauerlich um so mehr, als gerade hier die neuere Forschung wichtige Ergebnisse erzielt hat und diese zur Lösung vieler wichtigen Erziehungsfragen dringend gebraucht werden. Im übrigen aber ist das Buch auf dem Wege zu einer vierten Auflage den Fortschritten der wissenschaftlichen Jugend- kunde, so weit als es der Rahmen gestattete, anerkennenswert gefolgt.

Stollberg. ' Paul Ficker.

J. Jacob, Ein Beitrag zur Frage nach der psychischen Rasseunterschieden. Leip- ziger medizinische Doktordissertation. 21 S.

Die Frage , ob sich in den Schulleistungen jüdischer Schüler Abweichungen von denen ihrer nichtjüdischen Mitschüler zeigen, die auf einen typischen Unterschied der Rassen hin- weisen, ist in dieser Zeitschritt schon mehrfach behandelt worden (vgl. die Zusammenstellung der Literatur in Bd. 17 Seite 332 335). Die vorliegende kleine Abhandlung, die merkwürdiger- weise als medizinische Doktorarbeit erscheint, beschäftigt sich mit dem gleichen Thema, freilich nur bei Knaben einer einzigen Altersstufe (4. Schuljahr), so daß Verallgemeinerungen nicht er- laubt scheinen. Es handelt sich um 327 nichtjüdische und 81 jüdische Schüler von Bürger- und Bezirksschulen einer mitteldeutschen Großstadt, für welche J. eine Zensurenstatistik an- stellte. Es ergab sich, daß das durchschnittliche Zeugnisprädikat in Rechtschreibung imd Rechnen bei beiden Gruppen gleich, in den anderen Fächern, sowie in Fleiß und Aufmerksam- keit bei der jüdischen Gruppe ein wenig geringer war. Die Häuf igkeits Statistik zeigte, daß bei den Juden die guten, aber auch die schlechten Leistungen prozentual etwas stärker ver- treten waren als bei den NichtJuden, während bei diesen sich wiederum mehr mittlere Leistungen fanden.

Hamburg. William Stern.

Stabsat zt a. D. Dr. Max Christian, Abteilungsvorsteher an der Zentralstelle für Volkswohl- fahrt, Psycho-physiologische Berufsberatung der Kriegsbeschädigten. Leipzig 1918. Leopold Voß. 80 S. 3,50 M.

Die auf breiter Grundlage ruhende Schrift faßt ihren Gegenstand an den verschiedensten Seiten an. Sie erörtert einleitend seine Stellung innerhalb des weiten Gebietes der Kriegs- beschädigtenfürsorge, legt dann Sinn und Begriff der beruflichen Eignung dar, gibt einiges zur Methodik der Berufsberatung an, beschreibt die Tätigkeit sowie die Ausbildung der Berul3t)erater und beschäftigt sich schließlich mit organisatorischen Fragen. Wo es möglich war, schließt sie an Erfahrungen an. Durchweg geht sie den reichen Beziehungen zu der allgemeinen Berufsberatimg nach. In anregender Art, aber mitunter zu ausgedehnt, 2Üeht sie

76 Literaturbericht

auch Sozialwissenschaftliches, Volkswirtschaftliches und Biologisches, das sich mit den Fragen der Berufsberatung berührt, zur Erörterung heran. Überzeugend wird insbesondere heraus- gearbeitet, wie den behandelten Aufgaben nicht nur für das Wohl der Kriegsbeschädigten, sondern auch für die Förderung unseres Volksganzen eine vielfach noch nicht genügend ge- würdigte Bedeutung innewohnt. Die hervorragenden Verdienste, die die Berufsberatung durch die psychologische Forschung erfahren hat und vor allem noch erwarten darf, sind hinreichend betont.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

Karl Bürklen, Das Tastlesen der Blindenpunktschrift. Nebst kleinen Beiträgen zur Blindenpsychologie von P. Grasemann, L. Cohn, W. Steinberg. Mit 16 Abbildungen im Text und 6 Tafeln, 16. Beilieft zur Zeitschrift f. angew. Psych. Herausgegeben von W. Stern u. O. Lipmann. Leipzig 1917. Barth. 94 S. 6 M.

Es ist ein schätzenswertes Unternehmen, aus den jüngeren Jahrgängen einer Zeitschrift die Arbeiten des gleichen Problemgebietes in Sammelschriften zu vereinigen und sie auf solche Art bestimmten Fachkreisen bequemer zugänglich zu machen. So wird das vorliegende Beiheft zur Zeitschrift für angew. Psych., das eine Reihe von Beiträgen zur Blindenkunde bringt, sicherlich von den Blindenlehrern und wohl auch den Augenärzten, von den psychologischen Forschem und den Vertretern des Psychologieunterrichtes willkommen geheißen werden. In den Büchereien der Berufsberatungsstellen wird es nicht fehlen dürfen.

Den Körper des Heftes bildet eine experimentelle Untersuchung über die technischen, physiologischen und psychischen Vorgänge beim Tasllesen der Punktschrift, die zumeist schon früher Bekanntes erneut imd endgültig bestätigen, manches Strittige entscheiden und auch einiges Neue bringen. Der Verfasser ist Karl Bürklen, Direktor der Blindenanstalt in Purkersdorf bei Wien. Nach einleitenden Ausführungen über die Punktschrift in ihrer Kennzeichnung und ge- schichtlichen Entwicklung, über das Leseorgan und den Lesevorgang, über frühere Unter- suchungen zur Lesbarkeit und zum Lesetempo stellt er eigene Versuche dar, in denen einer Reihe scharf herausgestellter Fragen nachgegangen wird. Aus den Ergebnissen sei hier nur einiges wiedergegeben. Nach wie vor ist im allgemeinen die besondere Eigiiung der Punkte als Elemente der Blindenschrift und im besonderen . die Anordnung im aufrechten Sechspunktefeld erwiesen. Dabei zeigt sich die Lesbarkeit der Schriftzeichen nicht abhängig' von der Zahl der auftretenden Punkte, sondern es ist die Lesbarkeit bedingt durch die Eigenart der Buchstaben- gestalt. Zur Feststellung des günstigsten Abstandes der Punkte, der sicher zwischen 2 und und 3 mm liegt, bedarf es noch eingehenderer Versuche. Die gebräuchliche Größe der Zeichen (bis zu 7 mm Höhe und 4,5 mm Breite) wird wohl die obere, nicht aber die untere Grenze bezeichnen. Eine Verringerung der üblichen Maße erscheint möglich und wäre im zutreffenden Falle vorteilhaft. Nicht immer übersteigt die Größe der Lesetastfläche die Höhe der Schrift- zeichen. Die Möglichkeit zum Tastlesen ist bei allen Fingern gegeben ; ihre be%'orzugte Stellung macht aber Mittel- und Zeigefinger besonders geeignet. Von besonderer Wichtigkeit für den Lesevorgang sind Hand-, Arm- und Körperhaltung. Das Lesen von Wörtern und Sätzen erfolgt durch Erfassung von Wortbildern, also synthetisch, nicht analytisch. Allerdings führen Lese- schwierigkeiten zur Zerlegung des Wortbildes. Am schnellsten wird mit beiden Händen ge- lesen. Arbeitet nur eine Hand, so verdoppelt sich ungefähr die Lesezeit. Die linke Hand liest allein besser als die rechte. Der äußere Vorgang besteht in artverschiedenen Tastbewegungen der Finger und Hände, teils dienen sie dem Aufsuchen, teils dem Erkennen. Die Linie der Tastbewegungen, aufgezeichnet mittels eines von, Bürklen hergestellten ,, Tastschreibers", nähert sich bei guten ruhigen Lesern der wagerechten Geraden, nimmt bei weniger guten Lesern die Form des Sägeblattes an und führt schließlich bei schlechten Lesern zu einem völlig unregel- mäßigen, verworrenen Zuge. Lesen zwei Finger, so weisen sie mehr oder minder gleich- laufende Bewegungsba^nen auf, doch tritt stets die größere Beweglichkeit des einen, der unter gehäufteren Bewegungen die Hauptarbeit leistet, deutlich hervor. Der Fingerdruck, der mit den Tastbewegungen verbunden ist, steht in Verbindung mit der Lesefertigkeit: er ist gleichmäßig und gering bei guten Lesern, stark und schwankend bei den schlechteren Lesern, bei denen die Leseschwieiigkeiten zu vermehrten Tastbewegungen und erhöhten Anstrengungen führen. Eine Abnahme der Tastempfindlichkeit ist selbst nach stundenlangem Lesen kaum nachweisbar. Auch die aligememe Ermüdung wird durch das Tastlesen, das demnach wenig anstrengend ist, nur gering beeinflußt.

Eine Ergänzung zu den Untersuchimgen bildet die kleinere Arbeit von P. Grasemann, gegenwärtig Leiter der Blindenanstalt in Frankfurt. Sie prüft vorwiegend die Frage, welche Aufgabe im Lesen der Blinden dem linken und dem rechten Zeigefinger zufällt und kommt

Literaturbericht 77

durch einen Versuch, in dem von beidhändigen, links- und rechtshändigen Lesern bei jeder der drei Möglichkeiten des Lesens die Lesezeit, die Verlesungen und Wiederholungen zahlenmäßig ermittelt wurdeu, zu der Entscheidung, „daß der rechte Zeigefinger durchaus nicht als der eigentliche Lesefinger bezeichnet werden kann, vielmehr mit größerem Rechte der linke".

In anderer Richtung bewegen sich die beiden Aufsätze, die Dr. Ludwig Cohn in Breslau imd stud. Wilhelm Steinberg in Hamburg beisteuern. Beide sind Blinde mit akademischer Bildung und geben, während bisher die Psychologie der Blinden vorwiegend von Sehenden be- arbeitet wurde, nach ihren Selbstbeobachtungen und nach den Erfahrungen an Schicksalsgenossen ein Gesamtbild über die psychische Eigenart des Blinden. Neue Darstellungen, die erwünschte Beiträge zur Psychologie der Persönlichkeit abgeben, sind besonders in unserer Zeit von be- sonderem Wert, muß doch den zahlreichen Kriegsblinden mit letzter Sorge alles geboten werden, was nur irgend an Hilfe erreichbar erscheint. Freilich streben die beiden Verfasser in dem Ziele der Blindenpädagogik auseinander. Während Cohn das Trennende zwischen dem Blinden und den Sehenden möglichst überbrücken möchte , vertritt Steinberg die Anschauung , daß der Blinde nun einmal „ein besonderer Typus" sei und demgemäß die Entwicklung auf eine ganz eigenartige, seinem besonderen Erleben entsprechende Persönlichkeitsform erforderlich sei ein Gegensatz, in dem der Herausgeber William Stern eine- psychologische Scheidung zweier Blindentypen vermutet. Von Sternbergs 'recht schön verfaßter Abhandlung sei der Schluß wiedergegeben. Es „kann nicht genug betont werden, daß der Blinde ebensowenig ein Sehender ist, der nicht sieht, wie der Sehende ein Blinder ist, der sieht. Der Ausfall des wichtigsten Sinnes schafft nun einmal so besondere Bedingungen, daß sich das gesamte Seelenleben eigen- artig gestalten muß. Sein Anderssein macht es dem Blinden unmöglich, sich zu einer wert- vollen Persönlichkeit heranzubilden, solange er ihm nicht in seiner Stellung zum Leben Rech- nung trägt. Entschließt er sich aber zu innerer Umkehr, die um lehrt, sein Dasein nach seinen besonderen Bedürfnissen und Glücksmöglichkeiten einzurichten, dann findet er für die mannig- fachen kleinen Mißgeschicke, die ihm unvermeidlich begegnen, ein Lächeln, das ihn über sie erhebt, dann gewinnt er die Seelenstärke, ernste Schwierigkeiten zu überwinden und dort zu entsagen, wo er seine Grenzen erkennen muß; dann kann sein Leben für ihn und andere ein Segen werden. Er soll sich nicht vor der Welt der Sehenden verschließen, sondern dankbar empfangen , was sie ihm zu bieten hat , und so manche Bereicherung vermag er aus ihr zu schöpfen. Er lebt mitten unter normalen Menschen und muß sich in vielem nach ihnen richten. Nicht nur äußeres Benehmen kann und soU er von ihnen lernen, auch wahre Güter haben sie ihm zu geben. Sein Dasein ist viel zu innig mit dem ihren verflochten, als daß er jede Grenzüberschreitung vermeiden könnte. Ohne Schaden mag er sich auch gelegentlich tröst- lichen Illusionen hingeben; frei von Schwächen und Illusionen sind Schwächen ist ja keiner. Dann aber werden sie zu einer Gefahr für die Echtheit seiner Persönlichkeit, wenn er den Wert seines Lebens von ihnen abhängig macht. Denn in die Mauer, die ihn von den Sehenden trennt, legt wohl Liebe und Treue manche Bresche, gänzlich fallen aber kann sie nie. Es hilft ihm nichts, sich über diese Tatsache hinwegzutäuschen; er muß sich seiner Besonder- heit und ihres Eigenwertes bewußt werden und so die Schranken, die ihm ein unerbittliches Schicksal setzte, in freier Tat der Persönlichkeit als Grenzen achten lernen.'-

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

Dr. Georg Schneidemühl, Prof. der vergL Pathologie a. d. Universität Kiel, Die Hand- schriftenbeurteilung. Eine Einführung in die Psychologie der Handschrift. 2., durchges. und verb. Aufl. Leipzig 1919. Teubner. 83 S. 2 M,

Wir haben die 1. Aufl. dieses von ernstem wissenschaftlichen Sinn getragenen Buches, das uns nur die praktische Verwertbarkeit der Handschriftenbeurteilung, so z. B. im Schul- betrieb, zu überschätzen scheint, im XVU. Jahrg. dieser Zeitschrift ausführlich angezeigt. Daß es nach kurzer Frist zum zweitenmale ausgeschickt werden kann, wird nftht bloß zum Beweis für die Güte der Schrift, sondern auch für das während des Krieges gesteigerte Interesse an der angewandten Psychologie. Aus der Not der Zeit ist der psychologischen Wissenschaft und ihrer Verwertung im Leben ein Ansehen erwachsen, das sie nicht wieder verlieren wird. Seh.

Dr. W. A. Lay, Experimentelle Pädagogik mit besonderer Rücksicht auf die Erziehung durch die Tat. 3. verb. Aufl. Leipzig 1918. Teubner. 124 S. 2 M.

Für einen ersten Einblick in die zukunftssichere experimentelle Pädagogik, weniger in ihre Arbeitsweise als in die Breite ihrer Arbeitsgebiete, bietet Lays Darstellung einen zuver- lässigen Führer, der geschickt den Weg bahnt zu den Hauptwerken der jungen Wissenschaft: zu Meumanns »Vorlesungen" (Leipzig, Engelmann) und zu Lays „Experimenteller Didaktik*

78 Literaturbericht

(Leipzig, Quelle & Meyer). In der einleitenden geschichtlichen Entwicklung erhalten Meumann, Stern, Fischer und Lobsien vor anderen Forschern, besonders ausländischen, nicht die volle Würdigung, die ihnen zukommt. Inmitten der kurzen, aber für die Zwecke der Bandes ge- nügenden Beschreibung der Forschungsmethoden, findet sich eine zureichende Widerlegung der Einwände gegen die experimentelle Pädagogik, bei der nur Lays bekannte Meinung, daß die neue Richtung einst zur Pädagogik überhaupt zur Gesamtpädagogik sich erheben werde (S. 17), wohl schwerlich Zustimmung finden wird. Jedenfalls bietet unter diesen Ansprüchen der Aufr.ß des „Arbeitsfeldes und Arbeitsplanes der experimentellen Pädagogik als Gesamt- pädagogik", vrie ihn Lay S. 25 und 26 entwirft, zwar ein ungewöhnliches, aber für ein ge- schultes erziehungswissenschaftliches Denken unbefriedigendes Bild. Was Lay aus den Ergeb- nissen der experimentell-pädagogischen Forschungsarbeit hinstellt, zeugt von guter Belesenheit in den wissenschaftlichen Abhandlungen des Gebietes, sollte an manchen Stellen aber mit der Warnung vor Verallgemeinerungen und mit dem Hinweis der doch manchmal durchaus erforder liehen Nachprüfung versehen sein. Gegliedert ist dieser Hauptteil des Buches in die Abschnitte Forschungen zur allgemeinen Erziehungslehre und zur Unterrichtslehre. Es ist verständlich daß Lay in diesen Darstellungen seine eigenen Untersuchungen nicht hinter andere zurück- treten läßt.

Leipzig. Rieh, Tränkmann.

Dr, Ernst M,eyeV, Vom pädagogischen Lebenswege. Erfahrungen und Ergebnisse. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 110 S. 1,50 M.

Der Zweck dieser kleinen Schrift ist nach den Worten des Autors „Zeugnis abzulegen für den Sinn und Geist, in dem ich auf die meiner Aufsicht unterstellten höheren Schulen zu wirken gesucht habe". Es ist unmöglich, diesen Geist in den Rahmen eines kurzen Referats zu bannen; aber jeder Pädagoge wird das Buch nicht ohne Anregung aus der Hand legen, ein Buch, das uns zeigt, daß M. bis zu seinem Tode sich die jugendliche Frische erhallen hat, die zu einem vollen Verständnis der pädag. Probleme der Gegenwart nötig ist. Das kommt auch zum Ausdruck in seiner Stellung zur Psychologie, von der er S. 33 sagt: „Psychologie ist die oberste und vornehmste Fachwissenschaft des Lehrers, mit deren lebendiger Entwicklung gerade in der Gegenwart dauernd Fühlung halten, deren Ergebnis er durch eigene Beobachtung für sich von neuem feststellen muß."

Bonn. Oskar Kutzner.

Dr. Artur Buchenau, Die deutsche Schule der Zukunft. Berlin 1917. Otto ReichL 58 Seiten. 1 M.

Ausgehend von dem allseitig sich geltend machenden Bedürfnis, neue, bessere Zeiten vor- zubereiten, weist B. zunächst darauf hin, daß im Gebiete der Bildung dieses Neue nicht durch „Revolutionen" zu erreichen sei, also auch die Schule der Zukunft „an die Vergangenheit, an Traditionswerte gebunden sei (5). Entfaltung des geistigen Wesens des Menschen, den Menschen auf die Höhe des Menschentums zu bringen, ist Ziel der Erziehung, und zwar darf dieses Ziel nicht für einen bestimmten Stand gelten, sondern für die ganze Nation. Das ist nur möglich, wenn die Schule der Zukunft die Merkmale der Vereinheitlichung, Differenzierung und des stetigen Überganges an sich trägt. Fern von aller Gleichmacherei begrüßt B. freudig die An- sätze zu solchem stetigen Übergang, wie sie in Mannheim, München, Straßburg, Berlin vorliegen. Um aus den höheren Schulen den umiötigen Ballast unbegabter Schüler zu entfernen, empfiehlt er „wenigstens in den giößeren Städten neben die Goten mit vollen Anforderungen solche mit Mittelschulanforderungen zu stellen, etwa in Michaelisklassen, die aber mit Rücksicht auf die Eitelkeit und den Ehrgeiz der Eltern als organische Bestandteile der höheren Schule gelten und mehr Berechtigungen erhalten müßten, als die bestehenden Mittelschulen" (16). Höhe und Qualität der Begabung soll scharf unterschieden werden, namentlich auch in der Wertung der Begabung. „Ein Kapitän, ein Kaufmann, ein Ingenieur kann eine ebenso hohe Bildung haben wie der Pastor, Oberlehrer, Hochschulprofessor" (19). Daher sollte jede Schule mit Einrichtungen für Berufsberatung verbunden sein. Von einer gemeinsamen Grundstufe fürchtet B. nicht eine Verschärfung, sondern erhofft eine Versöhnung der sozialen Gegensätze; das Zusammensein mit „Armenkindern" sollte Staat und Gemeinde veranlassen, dafür zu sorgen, daß alle Kinder so gekleidet und genährt sind, daß es an nichts fehlt. Die öffentliche Wohltätigkeit müsse sich vor allem denjenigen zuwenden, die die Gaben des Geisfes, des Gemüts und des Willens haben, denen aber sonst die Mittel fehlen, aus den kleinen Verhältnissen herauszukommen. Diese „Auffrischung des Blutes" sollte geradezu organisiert werden. Auch die Fragen der sozialen Stellung, der Vorbildung und des Studiums der Volksschullehrer werden berührt. Überhaupt

Literatürbericht 7 9

ist die kleine Schrift so reich an Problemen, daß sie im Auszuge nicht alle genannt werden können: von Pestalozzischem und Flchteschem Geiste durchweht, ist sie wegen ihrer Kürze. aber Tiefe sehr zu empfehlen.

Bonn. Oskar Kutzner.

Prof. Dr. Wilh. Asmus, Gymnasialdirektor, Notstände au höheren Schulen. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 145 S. 3,20 M.

Es sind vorwiegend äußere, aber darum für eine gedeihliche Wirksamkeit doch nicht minder bedeutsame Angelegenheiten des Schulwesens, die hier ein erfahrener Schulmann be- spricht und für deren Regelung er erprobte Ratschläge gibt. Beispiele sind: Die Schüler- bücherei; Das Schauen in der Schule und Schaugerät; Der Dienst älterer Oberlehrer; Der Stundenplan. Bei der Neuordnung unseres Bildungswesens, bei der mit dem Geiste auch so vieles Geschäftliche des Schulbetriebes sich wandeln muß, wird das Buch in manchen Stücken er- wünschte Hilfe bieten können und nicht bloß in der Beschränkung aiif höhere Schulen. Für eine Neubearbeitimg seines Schlußkapitels se' dem Verfasser eine gründliche Beschäftigung mit der Psychologie des Stundenplanes empfohlen.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

Arno Fuchs, Die heilpädagogische Behandlung der durch Kopfschuß verletzten Krieger. Abhandlungen aus dem Lehrkörper der Berliner Schule für Kopfschußverletzte. Halle a. d. S. 1918. Karl Marhold. 143 S., geh. 5 M., geb. 6 M.

Wer die großen Schwierigkeiten bei der heilpädagogischen Behandlung Kopfschußverletzter aus eigener Anschauung kennen gelernt hat, wird für jede Bereicherung der zur Zeit noch wenig umfangreichen Literatur dankbar sein. Die in dem vorliegenden Buche zusammengefaßten Abhandlungen sind aus der Praxis hervorgegangen und wollen in erster Linie auch der Praxis dienen. Dieses Ziel können sie auch voll und ganz erreichen. Während in der 1. Abhandlung der Herausgeber der verdienstvollen Arbeit einen sehr lehrreichen Überblick über die Gesamt- heit der Ausfallserscheinungen gibt, wird in der 2. Abteilung die Feststellung der seelischen Schädigungen durch E.xperiment und Allgemeinbeobachtung besprochen. Die experimentelle Prüfung kann meiner Meinung nach noch etwas reicher ausgestattet werden; die Methoden der ortlaufenden Arbeit nach Kraepelin (Übungsfähigkeit und Ermüdbarkeit), Assoziationsversuche, tachistoskopische Versuche (Aufmerksamkeitstypus), der Bourdonsche Versuch, Trefferversuche, Präzisionsarbeiten (Ordnen von Kästchen nach dem Gewicht) gewähren nach meiner Erfahiiing sehr schätzenswerte Einblicke in den psychischen status praesens der Kopfschußverletzten. Die weiteren 12 Beiträge behandeln die Bekämpfung der wichtigsten Störungen (Sprach-, Denk-. Rechen- und Bewegungsstörungen). Sie geben ein anschauliches Bild von der Unsumme wohl- durchdachter Kleinarbeit, wie sie in den Räumen einer Kopfschußverletztenschule zur Erzielung auch der bescheidensten Erfolge geleistet werden muß. Mit dem Charakter des Buches als eines aus der Feder verschiedener Verfasser hervorgegangenen Sammelwerkes hängt es zusammen, daß sich manche Gedanken wiederholen. Auf Seüe 10 wird von Gefühlsstörungen gesprochen, während Störungen der Druck- und Bewegungsempfindungen gemeint sind. Das Verzeichnis der einschlägigen Literatur kann noch durch Bayerhaus, Die Rückleitung Him- verletzter zur Arbeit (Münchn. med. Wochenschr. 1917 Nr. 31) und vor allen Dingen durch die außerordentlich wertvolle und besonders auch prinzipielle Fragen eingehend erörternde Schrift von Aschaffenburg: Lokalisierte und allgemeine Ausfallserscheinungen nach Hirnverletzungen und ihre Bedeutung für die soziale Brauchbarkeit der Geschädigten (HaUe, 1916) ergänzt werden. Dresden. Artur Stößner.

N.Faßbinder, Am Wege des Kindes. Ein Buch für unsere Mütter. Freiberg L Breisgau 1916 Herdersche Verlagsbuchhandlung. 396 S. 3,00 M.

Auf diese schönsinnig gehaltene Schrift sei aufmerksam gemacht, weil sie sich in den Dienst der seit Comenius und Pestalozzi und Fröbel immer wieder versuchten, aber ohne nach- haltigen Erfolg gebliebenen .Mutterbildung" stellt, einer pädagogischen ForJerung, die während d^ Krieges mit immer stärkerer Dringlichkeit nach Verwirklichung drängte. Faßbinder versucht in stimmungsvoller, gewinnender Weise wichtige Erscheinungen und Angelegenheiten, Veran- staltungen und Schicksale des Mutterberufes und des Kinderlebens darzustellen imd dabei mehr oder minder merkbar pädagogische Belehrungen zu geben. Fast durchgehend verwendet er als literarische Form die novellistische Gestaltung oder auch die vor einem Jahrhundert bei päda- gogischen Darlegungen besonders beliebten Gespräche. Beispiele sind: Die sprachlose Zeit; die erzählende Mutter; Nachbarskinder; Kinderfujcht; Jugendlektüre; Aufklärung. Bei der Behand-

80 .Literaturbericht

hing bezeugt der Verfasser eine nicht gewöhnliche schriftstellerische Gabe wenn gleichwohl der bekannte ästhetisierende Ton der Jungmädchenbücher Zuweilen vorklingt und eine feine Erzieherweisheit und Erzieherg -^sinnung. Mag auch dem, der sich wissenschaftlich um die Pädagogik bemüht, die novellistische Behandlung der pädagogischen Fragen wenig genug ge- fallen, so haben doch Bücher solcher Art ihre Berechtigung, weil das erziehliche Tun, das sich so schwer auf Formeln und Vorschritten bringen lassen will, solche Darstellung in gewissen Gebieten verträgt und weil viele Frauen, denen es um ihre „Mutterbildung" ernst ist, darnach verlangen. Für die Auseinandersetzung über Anschauungen im einzelnen, die wir mit Faß- binder nicht teilen, ist hier nicht der Ort.

Leipzig. Otto Scheibner.

Der vorbeugende Kinderschutz in Stadt und Land. Bericht über die Kinderschutz- tagung des Deutschen Kinderschutzverbandes am 21. und 22. Juni 1918 in Magdeburg. Berlin 1918. Heymanns Verlag. 116 S. 4 M.

Große Tagungen, wie sie für die Geschichte pädagogischer Richtungen, Gebiete und Gedanken in den letzten Jahrzehnten kennzeichnend geworden sind, bringen sich um ein gut Teil ihrer Wirkung, wenn sie nicht ausführliche Verhandlungsberichte in der Art des vorliegenden der Öffentlichkeit darreichen. Das gilt insbesondere für die Versammlungen, die inmitten der Kriegs- zeit nicht die Beteiligung erfahren konnten, deren sie in günstigerer Zeit sicher gewesen wären. Die Gegenstände, über die in Magdeburg verhandelt wurde und für die der Bericht neben den Vorträgen auch die teilweise ausgebreiteten Aussprachen vorlegt, waren: Die Stellung des Kinder- schutzes innerhalb der Jugendfürsorge (PoUigkeit) ; Kinderschutz in städtischen und in ländlichen Bezirken (Bahnson, Kißling); die Kreisfürsorgerin im Dienste des Kinderschutzes (Nollau); Mög- lichkeiten vorbeugenden Kinderschutzes (Rupprecht) ; Kinderschulz und Schulpflegschaft (Achilles, Haselhuhn). Die neue Zeit wird die Frage des Kinderschutzes mit mehr Eifer noch, als ea bislang geschah, durchdenken müssen und manchen Forderungen des Gebietes schnellere Er- füllung bringen, als man noch vor kurzem zu hoffen wagte. Der Versaramlungsbericht der Magdeburger Tagung mit seiner Fülle der hingestellten Tatsachen und vorgebrachten Vorschläge ist für die Weiterentwicklung der wichtigen Sache ein Quellenwerk. Seh.

Dr. Herbert Ruscheweyh, Die Entwicklung des Deutschen Jugendgerichts. 2. Heft d. Schrift, d. Ausschusses f. Jugendgerichte u. Jugendgerichtshilfen. Weimar 1918. 190 S. 3 M. Nach einer Einleitung über Strafrechtsreform überschaut der Verfasser in geschichtlicher Darlegung den Rechtszustand vor Errichtung der Jugendgerichte, ferner die amerikanische Be- wegung und die Forderungen in Deutschland. Er behandelt dann die Verwaltungsvorschriften in den verschiedenen Bundesstaaten, erörtert die reichsgesetzlichen Reformarbeiten und die wechselnden Formen der Jugendgerichtshilfen. Ein ausführliches Schriftenverzeichnis schließt dies aus bester Kennerschaft des Gebietes verfaßte Buch ab. Tr.

Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. 3. erweiterte Aufl. Herausgegeben und in einem Anhang fortgesetzt von Dr. Rud. Lehmann. L Bd. Leipzig 1919. Veit & Co. 636 S. 24,75 M.

Wir erfüllen die Verpflichtung, die neue Auflage von Paulsens Hauptwerk anzuzeigen, mit den Hinweisen, daß in Rud. Lehmann ein pädagogischer Forscher, der dem Verfasser persönlich nahestand, das bedeutsame Werk betreut und weiterführt, daß Paulsen selbst die Förderung des Buches durch zahlreiche Einlagen und Einträge in sein Handexemplar eifrig betrieben hatte und daß es der Herausgeber aus wohlbegründeten Erwägungen für richtig fand, sich aller Eingriffe in Sache und Darstellung zu enthalten. Paulsens „Geschichte des gelehrten Unterrichtes" hat so die eigenen Worte „Stürme des Unwillens" erregt. Nun ist an Einzelnem in der Tat nicht weniges unhaltbar geworden; in der leitenden Grundanschauuug aber hat Paulsen die Genugtuung erleben dürfen, daß die geschichtliche Bewegung besonders durch die große Schulreform vom Jahre 1901 den Gang genommen hat, den er voraussah. Rudolf Lehmann aber blieb die Aufgabe, in dem noch nicht ausgegebenen IL Bd. nach Paulsens eigener Absicht die jüngste Entwicklung jenseits der Schwelle des XX. Jahrhunderts darzustellen. Wir werden über diesen Abschnitt, wenn er vorliegt, ausführlicher berichten müssen, weil er als wichtiges Stück aus dem besonderen Arbeitsgebiete dieser Zeitschrift auch die Fortschritte in der „Aka- demisierung" der Pädagogik zu behandeln hat.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.

Zur Sammlung jugendkundlicher Beobachtmigen in der Zeit des deutschen Staatsumsturzes.

Von Aloys Fischer.

Als im Sommer 1914 der Krieg ausbrach, die Jugend unseres Volkes zu den Fahnen strömte und ihre vielen Tadler aus der älteren Generation Lügen strafte, hatten nicht wenige Patrioten einen frohen Zukunftsglauben wieder- gewonnen. Es ist damals ein jetzt abgeschlossenes Kapitel der psycholo- gischen Jugendkunde begonnen worden, das in William Sterns Sammelschrift „Jugendliches Seelenleben und der Krieg** seine Überschrift fand. Wir überblicken heute vollständig und teilweise auch in ihrer ursächüchen Zu- sammenhängigkeit die Einwirkungen der Zeitereignisse, der Vorbilder, des Geistes der Erwachsenen auf die verschiedenen Altersstufen und Klassen der Jugend ; wir ahnen das selbständige Leben der Jugend unter aller Abhängig- keit von dem allgemeinen Geiste und die Rückwirkungen dieses Jugend- geistes, der im Krieg nachgewachsenen Generationen auf den Gang der Dinge selbst. Aber noch ehe wir zu wissenschaftlicher Festlegung der gemachten Erfahrungen Abstand und Muße finden, fordern die neuen, grundstürzenden Ereignisse zu weiteren jugendkundhchen Beobachtungen und Studien heraus, die, wenn ich recht sehe, nur teilweise in der Linie der gehegten und geweck- ten Erwartungen liegen, teilweise vor allem das auch in der Kriegsbeobachtung nur ausnahmsweise richtig gewürdigte Eigenleben der Jugend und ihre Bedeutung im Gang der Gesellschaftsentwicklung betreffen.

Wenn ich mit den folgenden Zeilen zur Sammlung jugendkundücher Be- obachtungen aus den Revolutionstagen, die hinter uns liegen, und zu jugend- kundlicher Beobachtung in den noch möglichen Umstürzen einlade, so darf ich das mit dem gleichen Recht tun, mit dem ich seinerzeit für das Studium der Kriegswirkungen auf Schule und Jugend eingetreten bin. Ich habe aller- dings den Eindruck, als ob die Mehrzahl unserer Volks- und Zeitgenossen zu unbefangener und nachdenklicher Betrachtung der Dinge ungeeignet und ungewillt wäre und sich Heber handelnd in den Gang der Ereignisse ein- schalten wollte, als betrachtend abseits stehen. Die Einladung darf auch nicht dahin mißverstanden werden, als mutete ich dem Einzelnen zu, die Urasturzzeit wie ein Schauspiel und seltene Studiengelegenheit für die Ex- zentrizitäten der menschlichen Natur zu betrachten. Ich bin der letzte, der es mißbiUigen wird, wenn man in einer tumultuarischen Zeit, in der Hand- granaten an Stelle von Argumenten treten und die leidenschaftliche Selbst- sucht — einerlei welcher Klassen und Kreise das Ziel des politischen Denkens, die Idee der Gemeinschaft und des Gemeinwohls verdrängen, auch der Wissenschaft eine Generalpause diktiert, oder wenn man persönlich in den Kampf eingreifen, statt erkennend abseits stehen will. Aber wir sind doch nicht unaufhörlich und in jedem AugenbUck Partei; Zeiten der per- sönlichen Erregtheit und der handelnden Stellungnahme wechseln mit besinn-

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 6

b2 Aloys Fischer

lieber Betrachtung der Anderen und hoffentlich auch unseres eigenen Selbst; die gläubige Überzeugtheit vom Recht und der Güte des eigenen Wollens und Zieles wird uns nicht immer blind und gehässig machen gegen die Über- legungen und Einstellungen des Anderen, des Gegners und Feindes. Soweit der Einzelne die durch lange Jahre der wissenschaftlichen Schulung erwor- bene Gewohnheit des Denkens noch nicht abgestreift hat, wie man einen Anzug oder eine Mode wechselt, wird er auch inmitten aller Versuchungen der Gewalt und des Egoismus, den Verführungen zu Übereilung und schiefer Deutung widerstehen und brauchbare Beobachtungen sammeln können. Solche Beobachtungen vor allem über das Jugendleben und seine Äußerungen zu sichern, ist von großem Werte. Wenn ich hier ein persönliches Bekenntnis ablegen darf, so gestehe ich, daß nicht wenige Eindrücke der beiden letzten Monate ^) meine Wertung des Menschen und meine oft ausgesprochene Hoch- wertung der Jugend in einem Maße beeinflußt haben, das ich nicht voraussah. Wenn ich noch eines Beweises bedurft hätte, daß die sittliche und politische Erziehung nicht nur auf Stetigkeit der Tradition, sondern auch auf die in der Jugend sich ankündigenden Erneuerungstendenzen der Nation gegründet werden müsse, so hätte die Revolution mir diesen Beweis geben können. Ich bekenne auch, daß erst der Umsturzzeit geglückt ist, was der Krieg vergeblich gesucht hat: mich vorübergehend in Versuchung zu führen, die allem pädagogischen Optimismus zuwiderlaufende grundsätzliche Menschen Verachtung der großen politischen Denker für die angemessene Wertung des Durchschnitts zu halten und damit zu Grundlagen der Menschenordnung mich zu bekennen, wie sie die antike Kultur für sinnvoll und berechtigt hielt. Ich glaube keineswegs mit diesen Erfahrungen allein zu stehen. Aber auch wenn das Studium der Jugend keine Bedeutung für unser Erziehungsdenken hätte, dürften die psychologischen Tatsachen, zu denen die Beobachtungen in der Umsturzzeit hinführen, als Bestätigung und Bereicherung unserer Erkenntnis Wert genug besitzen, um ihre Sammlung zu rechtfertigen.

Ich sehe von einem Fragebogen, einem Schema, nach dem Erhebungen zu machen oder Einzelerfahrungen zu buchen wären, mit voller Bewußtheit ab; ein Fragebogen geht notwendig von bestimmten theoretischen Grund- begriffen aus, schUeßt Erwartungen entweder ein oder aus und verleitet zu einer Angleichung des Neuen an das Bekannte, Anerkannte. Mir scheint, daß Fragebogen deshalb nur dort sinnvoll werden, wo seelisches Leben unter relativ gleichartigen und konstanten Voraussetzungen auf seine gleichartigen Züge hin untersucht werden soll. Ich gestehe aber offen, daß ich ohne eine künstliche Typisierung von vornherein festzulegen mich außerstande fühle, auch nur Beobachlungsrichtungen anzugeben. Es kommt vor allem darauf an, nicht das wieder zu bestätigen, was wir in der Jugendpsychologie schon wissen (und wofür selbstverständlich das jugendliche Seelenleben in der Revolutionszeit auch bestätigende Belege bietet), sondern das festzu- halten und zu formulieren, was dem jugendkundlichen Beobachter an Neuem, Überraschendem, Auffälligem begegnete, was ihm sein mehr oder minder fest- stehendes Bild von der Jugend verwirrte, zweifelhaft machte. Es erscheint mir zu diesem Behuf zweckmäßig, ohne eine künstliche Einheit der Begriffs- sprache festzulegen, jeden Einzelnen, der über solche Beobachtungen ver-

M Ich erlaube mir zu bemerken, daß der Aufsatz in den letzten Tagen des Monats Dezember 1918 verfaßt worden ist.

Sammlung jugendkundL Beobacht. in der Zeit des deutschen Staatfiumsturzes 83

fügt, zu genauem unzweideutigen Bericht einzuladen. Ob das Material dann später in einer übersichtlich ordnenden Bearbeitung zusammengefaßt werden oder in der Urgestalt erhalten bleiben soll, mag billig füi- den Augenblick zurücktreten.

Nach meinen eigenen Beobachtungen kommen vor allem drei Gruppen von Erfahrungen in Betracht: 1. solche, aus denen erhellt, wie weit Kinder imd JugendUche an den Umstiu-zvorgängen erlebend teilgenommen haben, wieviel von den Ursachen und Folgen der Ereignisse ihnen be\^Tißt, gar ver- ständlich geworden ist, bzw. wie unvollkommen, schief und bruchstückhaft ihre Auffassung der Ereignisse, deren Zeitgenossen sie sind, blieb; wie sie mit ihrer fühlenden und wertenden Teilnahme Stellung suchten zu den Ein- zelheiten, wie die Eieignisse auf ihr Stimmungsleben, ihre Schulfähigkeit, ihre Erziehbarkeit zmückwirkten. 2. Häufiger werden Beobachtungen und Er- fahrungen darüber zu machen gewesen sein und künftig zu machen sein, wie Kinder und Jugendliche von den Gewalten behandelt, absichthch beeinflußt werden, die im Umsturz in die Höhe kamen. Ich erinnere nur daran, daß bald die neuen provisorischen Herren allerlei Einrichtungen trafen, um der angeb- lichen oder wirkhchen Schultyrannei ein Ende zu bereiten und insbesondere die älteren Jugendhchen für sich und ihre pohtischen Zwecke einzufangen. Schülerräte wurden eingerichtet, in Bayern durch ministerielle Anordnung den Eltern dagegen bewilligte man keinen derartigen Rat. Sprechstunden und Beratimgsstellen außerhalb der Anstalten tauchten auf. In eigenen Vor- trägen und Revolutionsfeiern für die Jugend suchte man ihr nicht nm* Auf- klärung zu vermitteln, sondern ich möchte auch sagen: Begeisterung und Zustimmung zu suggerieren. Aus den Bibliotheken wurden geschichtüche und oft auch belletristische Werke entfernt, die eine Glorifizierung des ge- stürzten Regimes zu enthalten schienen. Es ist äußerst wichtig, diese Maß- regeln, in denen man der geistigen Vergewaltigung der besetzenden Feind- mächte noch zuvorgekommen ist, zu sammeln und vor allem auch die Stellung der Jugend zu diesen recht einschneidenden Beeinflussungsversuchen zu ver- folgen. 3. Versteckter und schwerer zu beobachten dürfte endlich das Eigen- leben der Jugend selbst sein, besonders ihr Anteil an den Umsturzvor- gängen. Natürlich liegen diese Dinge örtMch sehr verschieden; es ist auch gewiß, daß nicht aus den Reihen der Jugendlichen selbst die Initiative stammte, sondern daß sie wesentlich als Gefolgsmannen und hörige Massen von Führern und Verführern zur Mittäterschaft kamen, aber es darf auf der anderen Seite nicht gering angeschlagen werden, daß unter den Demonstranten und ersten Stützen der A. und S.-Räte Jugendhche beiderlei Geschlechts eine Hauptmasse gebildet haben, daß die neuen Ideen bei der Jugend ein ganz anderes Echo fanden als sagen wir militärisch bei den Menschen im Land- wehralter. Die hier gemachten und noch zu machenden Erfahrungen möchte ich für die wichtigsten halten; sie legen den Gedanken nahe, daß die jungen Generationen nicht nur reöht betrauern, was im Umsturz zusammenbricht das ist keineswegs bloß der Militarismus , sondern auch nicht begreifen, welche migeheuerste Wende er einleitet, und jedenfalls im weitem Umkreis gar nicht mehr gewillt waren, in der Linie der Entwicklung von 1813 1913 fortzuschaffen.

Zur Illustration der Beobachtungsrichtungen möchte ich bsispielsmäßig Einzelzüge aus der eigenen Erfahrung anführen. Ich wähle so aus, daß

84 Aloys Fischer

dabei auch die verschiedenen Altersstufen und die sozialen Schichten inner- .halb der Jugendlichen noch einigermaßen berücksichtigt werden.

Für die Kinder (der Großstadt wenigstens) ist der Umsturz ebenso Anlaß zum Spiel, wie es der Krieg war. Das „Revolutionsspiel" der Gassen- und kleinen Schuljugend ist harmlos. Als einen Beleg möchte ich das Er- lebnis eines elfjährigen Gymnasiasten mitteilen. In seiner Familie wurden ihm die schmerzlichen Ereignisse, der Rückzug des deutschen Heeres, das Friedensangebot, die gefährUche Stimmung im Volk mehr oder minder ver- borgen; das Kind sollte den großen Eindruck der Zeit im Gedächtnis be- halten. Ebenso wurden Gespräche über den Umsturz in seiner Gegenwart vermieden. Nach einigen Tagen überraschte er seine Eltern mit folgender Erklärung: ,,Ihr sagt mir ja nichts, ihr meint auch, ich weiß nichts, aber wir haben in unserer Klasse auch einen Klassenrat, eine rote und weiße Garde, und heute war Schülerversammlung am . . . denkmal" (einem dicht bei der Lehranstalt gelegenen Monument). Er fügte dann, mit der ganzen frommen Einfalt guter Artung und Gleichgültigkeit bei: „Dann ist leider der Professor gekommen, und wir mußten auseinander laufen". In einem der engsten Gäßchen Münchens (in der Altstadt, Hottergasse) habe ich lange den Kampf der roten Garde gegen die „andere" (diese hatte bezeichnenderweise keinen Namen) zugesehen, den 4 8 jährige beiderlei Geschlechts lieferten. Es war das typische Soldatenspiel, nur mit dem Unterschied, daß ein Teil der Kinder rote Fähnchen, rote Schleifen oder Papierrosetten als Abzeichen trug.

Als einen Beitrag zur Psychologie der älteren Jugendlichen (zugleich als Beleg für die Ergiebigkeit aller Bemühungen um staatsbürgerlichen Unterricht) möchte ich einiges aus der Nacht vom 7. 8. November notieren. Durch die Straßen zogen in den Abendstunden größere und kleinere Trupps von Demon- stranten ; manchmal unter Vortrag einer Papptafel mit Sprüchen, immer ohne richtige Ordnung. Wie bei den katholischen Prozessionen schrie ein „Vor- beter**: „Hoch die Republik" und der Chor wiederholte „Hoch die Republik! Nieder mit dem König Nieder mit dem König!" usw. Die Teilnehmer waren zum allergrößten Teil jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen; die Stimmen teilweise noch im Bruch der Mutation begriffen. Ein Bekannter, sehr unbefangener Beobachtung, erlebte den Einbruch eines solchen Trupps in ein Kaffeehaus. Der Führer, ein knapp 17 jähriger Bursche, schrie: „Nieder mit den Dynastien!" Der Bekannte fragte ihn: „Was sind denn die Dynastien?** und erhielt die Antwort: „Die Hamsterer."

Durch die Presse ging Anfang Dezember die Meldung von einer Demon- stration der Jugendlichen in Berlin, die selbst mit der Waffe den Mehrheits- sozialisten gedroht haben. Ähnliche Vorkommnisse, wenn auch nicht in gleichem Umfang und gleicher Exzentrizität wurden von Stuttgart und anderen Städten berichtet. Leider sind die Pressenachrichten ohne Wert für die Jugendkunde, denn sie enthalten nur das Faktum, nicht Anlaß, Vorbereitung, Helfershelfer, Teilnehmer. Wer deshalb als Augenzeuge oder Teilnehmer über diese Vor- gänge noch berichten kann, wird erst das Wesentliche aufzudecken in der Lage sein.

Ein besonders wichtiges Gebiet sind Beobachtungen über die militärische Jugend, die akademische Jugend und die Mädchen. Nach meinen Erfahrungen haben an den Tumultszenen vor allem die weiblichen Jugendüchen hervor- ragenden Anteil gehabt; die eigentümhche Frechheit dessen, der sich im Not-

Sammlung jugendkundl. Beobacht. in der Zeit des deutschen Staatsumsturzes 86

fall durch sein Geschlecht geschützt weiß, gab ihnen die größere Freiheit der aufreizenden und hetzerischen Reden und Zurufe, und der von dunklen se- xuellen Instinkten genährte Wunsch sich auszuzeichnen, sich hervorzutun, riß die männliche Jugend zu Gewalttätigkelten, Plünderungen und (meist nur als Abreaktion gegenstandslosen und grundlos geschwellten Selbstgefühls oder als Zeichen der Angst aufzufassenden) Schießereien hin, die ohne die An- wesenheit der instinktiv umworbenen Mädchen kaum vorgekommen wären.

In den Kreisen der reiferen Jugend spielte bald die Auseinandersetzung mit den neuen Ideologien eine Rolle; namentlich das Verhalten der aka- demischen Jugend bietet hierfür Belege. In den ersten erregten Tagen waren auch die Studenten in großer Erregung umworben und verdächtigt zugleich, unentschieden und uneinheitlich in ihrer Stellungnahme, und seltsamerweise vielfach gewillt, die Konsequenzen für ihr eigenes studentisches Leben zu ziehen und die Demokratisierung der Hochschulen gründlich in die Hand zu nehmen. Nach und nach setzte dann die Diskussion, die Klärung und Scheidung der Geister und damit die Bildung fester studentischer Parteien ein. Im Gegensatz zur bürgerlichen Freiheitsbewegung im älteren Deutschland, die nach einem sarkastischen Urteil von „Studenten, Professoren und Literaten" getragen war, ist im gegenwärtigen Umsturz der Student bisher weder führend noch in großer Masse beteiligt gewesen. Auch Zeichen, daß es anders werden könnte, vermisse ich. Allerdings darf man über der geringen äußeren Teil- nahme die tiefe Bereitschaft der Jugend für einen neuen Geist des öffent- lichen Lebens nicht übersehen, der vor dem Umsturz schon im Entstehen begriffen war. Und ebensowenig darf die Existenz von großen Gegensätzen innerhalb der akademischen Jugend verkannt werden. Auch zu diesem Punkt sind Beobachtungen von Augenzeugen aus den verschiedenen Teilen Deutsch- lands notwendig, wenn sich auch aus den gedruckten Kundgebungen der reiferen Jugend manches erschheßen läßt.

Die Nachahmung der von den Erwachsenen gegebeneu Beispiele hat selt- same Erscheinungen gezeitigt, bedenklich fast mehr für Lehrer und Erzieher als für die Jugendlichen selbst. Ich erinnere an die Beschlüsse von Schüler- räten, denen zufolge der Lehrer weder innerhalb noch außerhalb der Anstalt gegrüßt wird man weiß nicht und zwetfelt: ist's Ernst? ist's spielerische Nachahmung der Pöbelmanieren gegen die Offiziere? oder an einen anderen Beschluß, der, wemi ich nicht irre, von Regensburg berichtet wird, daß der Lehrer vor dem Eintritt ins Klassenzimmer anzuklopfen habe. Noch ein- schneidender, aber auch noch lächerlicher ist der Beschluß, daß ein Lehrer, gegen den sich zwei Drittel des Schülerrats ausgesprochen haben, von der Anstalt entfernt werden müsse. (Übrigens ist der von den Studenten er- hobene Anspruch, durch ihre Vertreter künftig bei der Berufung von aka- demischen Lehrern entscheidend mitzuwirken, eine Fortsetzung der gleichen Tendenz.) In einzelnen Anstalten ist es zu Ausschreitungen gegen mißUebige oder in ihrer Pflichtauffassung strenge Lehrer gekommen; sie woirden mit Pfuirufen aus dem Schulzimmer genötigt. An anderen wurde die Auslegung der Schulpflicht in das Beheben der Schüler gestellt; sie „streikten" oder verabredeten, in welcher Reihenfolge die Einzelnen dem Unterricht fern- bleiben konnten, ohne daß ihre Abwesenheit allzu auffälhg wurde.

Genug der Einzelheiten ; ich bin gewiß, daß ruhige Beobachter ohne weitere Mühe sie vermehren können. Ich möchte insbesondere auch solche Lehrer

86 Aloys Fischer

aller Schulgattungen zur Mitteilung ihrer Erfahrungen einladen, die die „an- geordnete Selbstregierung" der Schüler durch ihre Räte inszenieren helfen. Ich weiß aus einigen Fällen, daß die Verlegenheiten der Schüler durch ihre neue Freiheit größer waren als die der Lehrer.

Schwer zu belegen wird jetzt noch die aktive Teilnahme der Jugend an der Vorbereitung und Durchführung des Umsturzes sein. Alle Nachrichten über den Anteil der Heimat-Garnisonen an dem Umsturz und ebenso auch die Meldungen über die allmähliche Auflösung der Frontarmee lassen er- kennen, daß die ungefestigte,* unfertige Natur der Jungmannen der Bundes- genosse der Sozialrevolutionären Propaganda der Matrosen gewesen ist. Die älteren Männer haben zum größten Teil nicht „mitgemacht", sind stillschweigend nach Hause gegangen oder haben, namentlich bei den Fronttruppen, sich widersetzt; die 18- und 19 jährigen Mannschaften, die ihrer ganzen Unfertig- keit und Halbbildung nach heute blau und morgen rot gesinnt sind, je nach- dem sie „gestimmt" werden, in denen zugleich die moralischen Folgen von vier Kriegsjahren am ausgesprochensten in Erscheinung treten, konnten durch die Lügen (Foch ist tot, die englische Flotte liegt unter roten Wimpeln vor Kiel und Wilhelmshaven, die französischen Truppen verbinden sich mit uns), durch die Schlagworte und Gefühlsparolen am leichtesten verwirrt und eingefangen werden sie haben in ihrer Ahnungslosigkeit wohl nie begriffen, daß Meuterei der Anfang vom Ende ist und unaufhaltsam die Auslieferung Deutschlands an den guten oder bösen Willen der Feinde nach sich ziehen muß. Sie haben auch keine Vorstellungen und Erfahrungen besessen, die als Hem- mungen wirken konnten. Im Taumel der Freiheit von Dienst und Disziplin, berauscht von den Verheißungen der schürenden Männer (deren innere Un- glaubwürdigkeit reife Männer sofort einsehen, aber Jünglinge unmöglich durch- schauen konnten) haben sie die letzten eisernen Klammern, die unser Volk noch zusammenhielten, zerschlagen denn nicht der Militarismus, dieses Prinzip der Überordnung der militärischen Gewalt und des Machtstandpunkts über alle Erwägungen politischer Klugheit und sittlicher Rücksicht, wohl aber das Heer haben die Einheit des Vaterlandes bis zuletzt aufrecht erhalten, und Deutschland zerfiel, als die Auflösung in das Heer getragen wurde. Wie weit die „Reife" für diese Auflösung in der Unerzogenheit, Selbstsucht und Gedankenkürze der jungen Generation lag, in ihrer Sehnsucht nach friedlichem Leben um jeden Preis, in ihrer größeren Gleichgültigkeit gegen rein nationale Werte, das vermag augenblicklich niemand endgültig zu sehen und zu sagen.

Gewiß ist jedenfalls, daß Jugendliche in den Garnisonen und Fabriken vom ersten Anfang an bei den Umsturzbewegungen beteiligt waren aber wahr- scheinlich dabei ebenso geführt, wie sie in ihrer Kriegsbegeisterung wenigstens teilweise geführt waren. Andererseits kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Jugend vielfach schon geistig ganz anders gestimmt, ver- faßt und gerichtet war, als wir älteren uns einredeten. Die Jugend war schon vor dem Krieg vielfach ganz anders gesinnt und auf das Leben eingestellt als frühere Jugendgeschlechter. Bekannter geworden sind vor allem die in der bürgerlichen wie in der proletarischen Jugendbewegung zu Tage getretenen Anzeichen einer neuen Zeit und Forderungen eines gerade auf den Unterschied von den Vätern bewußt bauenden neuen Geschlechtes von Söhnen; ich erinnere daran, daß die freideutsche Jugend Freiheit für ihr eigenes Leben erstrebte, daß die Jugendbünde pädagogische Reformforderungen stellten oder über-

Sammlung jugendkundl. Beobacht. in der Zeit des deutschen Staatsumsturzes 87

nahmen, die darauf hinauslaufen, die Jugend nicht einseitig nur als Objekt der Erziehung zu behandeln, sondern ihr Mitarbeit und Mitwirkung an ihrer Bildung einzuräumen, Mitverantwortung für ihr Schicksal, Mitbestimmungs- recht für ihr Leben. Aber auf dem Boden all dieser Bestrebungen lag eine gegen frühere Zeiten schärfer ausgeprägte Selbsteinschätzung der Jugend. Sie begnügte sich nicht bloß damit, bessere Behandlung und giößere Freiheit zu fordern, die neue Jugend wollte und will bewußt ein Faktor im öffentlichen Leben sein. Aus diesem Grundwillen werden die oft un- zusammenhängend erscheinenden Einzelheiten der Jugendbewegung einheit- hch verständlich.

Man wird gewiß nicht in Abrede stellen können, daß in unserer europäischen Gesellschaft eine gewisse Verjüngung Bedürfnis war, vor allem aus bevölkerungs- politischen Gründen. Viele unserer Einrichtungen trugen dazu bei, das Alter der Selbständigkeit in Beruf und Erwerb, der Gründung eines eigenen Haus- standes, der Erlangung eines befriedigenden Wirkungskreises immer höher hinaufzurücken; durch diese soziologischen Tatsachen wurde unserem poli- tischen, wirtschafthchen und gesellschaftlichen Leben viel Initiative und Schwung- kraft entzogen. Dieser Fehler und seine Gefahren w-aren bereits erkannt, wurden bekämpft und hätten sich durch eine organische Reform überwinden lassen. Allein die Jugend wartete das langsame Reifen und Bessern nicht ab ; mit der Revolution vollzog sich die von ^ielen freilich in ganz anderem Sinn befikwortete Verjüngung sozusagen über Nacht. Die Jugend brach in das öffentliche Leben ein, und man wird kaum bestreiten können, daß es mehr die Jugend unter 20 Jahren als die eigentliche iuventus w^ar, auf deren Wert und gesellschaftliche Bedeutung es tatsächüch ankommt. Man wird auch kaum bestreiten können, daß d i e Jugend, die im Krieg erst volljährig geworden ist. für eine Verantwortlichkeit weder Vorbildung und Erziehung noch Tragkraft genug besaß. Bedingung für soziale Verantwortlichkeit ist seine Zucht und Selbstzucht, die den naiven Egoismus, der aller Jugend natürlich ist, in sich überwunden hat.

Wie das kam und kommen konnte, wird einer späteren Auswertung des Kiieges als geistigen Wendepunktes Europas durchsichtig werden. Die Kriegszeit hatte von Anfang an eine unheimhche Doppeldeutigkeit an sich : wie sie einerseits die höchste Zusammenraffung und Anspannung aller Kräfte w^ar, so auf der anderen Seite auch die Verkehrung aller geltenden Ordnungen. Bricht aber die objektive d. h. in den Einrichtungen der Gesellschaft enthaltene, vom Urteil der Mitmenschen getragene Moral und Rechtlichkeit zusammen, so besteht bei dem einzelnen Menschen eine doppelte Möglichkeit: entweder zergeht in dem all- gemeinen Zusammenbruch auch seine persönliche Moralität, oder aber er hat eigenes Gewissen genug, mn seine morahsche Existenz zu behaupten, dann ist eine solche Situation des allgemeinen Zusammenbruches eine der besten Gelegenheiten des moraüschen Fortschrittes selbst. Es kann ein neuer Geist, eine neue Gesinnung um so leichter entstehen, je weniger ein alter als ob- jektive Norm und gesellschaftüche Tatsache ihn einengt und hindert. So sind Verfallszeiten, Zeiten der Lockerung imd Auflösung aus inneren Gründen eine Vorbedingung für die geistige und sitthche Erneuerung und blüht das Leben, wenn auch nicht aus Ruinen, so doch inmitten von Trümmern einer üt)erlebten Weltordnung. Das Verhalten der Jugend im Umstm-z imd zum Umsturz scheint mir großenteils darauf zurückzuführen, daß in den halb-

88 Aloys Fischer, Sammlung jugendkundl. Beobachtungen usw.

wtichsigen Generationen schon eine geistige Wendung vorbereitet war, die folgerichtig zur Abkehr von unserer und unserer Väter Lebens-, Wirtschafts- und Arbeitsgesinnung führen und im Zusammenhang damit auch zum Über- druß und zur Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen und politischen Formen, in denen sich das Leben und Arbeiten seit der Gründung des Deutschen Reiches bewegt hatte. Jedenfalls ist in dem Gesinnungswandel, der sich in der Jugend schon länger ankündigte, eine gewisse Gewähr gegeben, dafi wir wenn auch zunächst entrechtet und v^ergewaltigt, durch unsere politische Dummheit der Weltklugheit unterlegen und durch den mächtig um sich greifenden Genußhunger auch im innersten Kern bedroht doch noch eine Zukunft haben können. Die Weltgeschichte endigt Gott sei Dank auch mit diesem Weltkrieg nicht, und ich zweifle nicht daran, daß wir für alle Vergewaltigungen, denen wir jetzt wehrlos preisgegeben sind, ein ebenso gutes Gedächtnis besitzen, wie es Frankreich oder Polen besaß.

Als die größte Gefahr eines längeren Krieges habe ich im Frühjahr 1915 die mangelnde Erziehungsfürsorge für die Jugend bezeichnet. Ich dachte dabei weniger an die Bildungslücken, an den notwendigen Rückstand der Kenntnisse und Fertigkeiten, an die verringerte Übung der geistigen Funk- tionen, so gewiß auch diese Mängel der Schulbildung .beklagenswert und gefährlich sind. Vor allem schwebte mir der Einfluß einer Ausnahme- und Notzeit mit ihrer Verschiebung aller Wertmaßstäbe auf die sittlichen Ge- wöhnungen der Jugend vor. Die bei Ausbruch des Krieges ältere Jugend war gegen diese Schädigungen einigermaßen sicher. Sie hatte noch in einer Friedenszeit gelebt und maßgebende Richtungen empfangen. Wer 18- oder 20 jährig vom Ausbruch des Krieges überrascht wurde, mußte wenigstens noch soviel Unterscheidungsfähigkeit besitzen, den Krieg und alles, was er mit sich brachte, für die Ausnahme, nicht für die Regel zu halten, für ein Mittel, nicht für einen Selbstzweck, für einen Übergang, nicht einen Endzusland. Wessen Bildung und Erziehung noch in die Friedensjahre gefallen war, der wußte, daß es letzten Endes in der Menschheit auf den Aufbau, nicht auf die Zerstörung, auf die Arbeit, nicht auf den Kampf, auf die Verträglichkeit und den Austausch der Völker, nicht auf ihren Haß und ihren Abschluß an- komme. Und vor allem hatte die ältere Jugend noch Gelegenheit gehabt, die durchschnittliche Höhenlage der geistigen Kultur wenigstens zu ahnen; sie war von einer großen und intensiven Kultur der geistigen und wirt- schaftlichen Arbeit umgeben und fühlte die Leistungen der Erwachsenen als anspornende Vorbilder. Gewiß enthielt die Welt vor dem Krieg auch alles Falsche, Böse und Verkehrte; gewiß gab es in ihr Selbstsucht, Neid, Haß, Heuchelei, Schein aber doch als mißbilligte Gegebenheiten, nicht als durch das Gebot der Notwehr entschuldigte Übel, wenn nicht gar geheiligte Tugenden. Gerade darin schuf der Krieg im öffentlichen Bewußtsein tiefstgehende Wand- lungen. Was vorher sittlich gebrandmarkt war, wurde nicht nur geduldet, sondern geradezu empfohlen. Ich erinnere nur an den alle kriegführenden Völker be- herrschenden Utilitarismus der Moral, der jedes Kriegsmittel billigte, wenn es gegen den Feind Erfolg versprach, den Utilitarismus in England, der durch seine Hungerblockade uns auf die Knie zu zwingen hoffte und alle Rücksicht gegen Nichtkombattanten selbstverständhch außer Acht und Ansatz ließ, wie den Utili- tarismus bei uns, der gegen diese Maßnahme und zur Entscheidung des Krieges den rücksichtslosen Untei-seebootkrieg glorifizierte; ich erinnere an die absieht-

Michael Kesselring, Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 89

liehen wie die unwillkürlichen Gehässigkeiten der Völker gegeneinander, an den Feldzug der Lügen, Verleumdungen, unberechtigten Verallgemeinerungen, den ebenfalls alle Nationen ohne Ausnahme gegeneinander geführt haben, jede mit dem besten Gewissen bei ihren eigenen, mit dem x\bscheu des Phaiisäers über den Splitter im Auge des Nächsten bei den feindlichen Kundgebungen. Denken wir uns Kinder und unfertige Jugendliche in diese Wertverkehrung lüneinversetzt, jahrelang in ihr festgehalten, denken wir noch an die vielen, oft gewiß unabsichthchen Bestärkungen durch die Träger der Erziehung in Haus und Schule was mußte die Folge sein? Die Jugend in der Periode der größten Bildsamkeit entbehrte der unerschütterlichen Maßstäbe und un- bezweifelten Gewißheiten. Das Rechtsbewnißtsein schwand dahin unter dem Einfluß der Vielregiererei und der damit notwendig verbundenen Laxheit des Publikums; namentlich alle mit der Rationierung der Lebensmittel verbun- denen Gesetze wurden, man kann sagen, allgemein übertreten. Der Jugend entschwand überall die Höhenlage des geistigen Lebens und kulturellen Schaffens aus dem Auge, auf der einst das deutsche Leben stand. So ließ sie ruhig die revolutionären Kräfte unsere Ordnung zerbrechen, ohne Bedauern, ja mii dem BeA^iißtsein, daß der Geist der letzten 50 Jahre deutscher Geschichte voll von Irrtümern und Verderbtheiten gewesen, Schuld am Krieg, unser Fluch, ja mit dem Bewußtsein, daß ein neuer Geist mit seinen sozialen und poMtischen Ordnungen uns erlösen müsse, ehe wir würdig wären, in die sogenannte Gemein- schaft der Völker wieder aufgenommen zu werden. Die Jugend leistete dem Um- sturz keinen Widerstand so gelang er. Man kann sich des Eindi'ucks nicht erwehren, daß auch hier eine verborgene Logik waltet: statt des mit Worten ver- kündeten und versprochenen Rechtsfriedens bringt er die Vergewaltigung, stall der Freiheit die Knechtung, statt der Ordnung das Chaos. Damit legt die Welt- geschichte auf die Schultern der Jugend, die nicht wußte, was sie tat, als sie die alte Ordnung zerbrach, die Pflicht, aus Not und Chaos die neue Ordnune mühsam aufzubauen und für den Frevel, den sie im vorschnellen Glauben an ein unmittelbar nahes Glück beging, mit dem Opfer eines leidensreichen Sklaventums Sühne zu tun, W^ohl ihr und unserem Vaterland, wenn sie diese Sühne willig leistet.

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter.

Vorgenommen in einem bayrischen Lehrerseminar.

Von Michael Kesselring.

(Schluß.)

m. Die Begründungen.

Besonders die Begründungen zu den gewählten Vorbildern gewälu-en uns wertvolle Einblicke in die Psyche unserer Jugendlichen und können ims Beiträge liefern zum besseren Verständnis des Gefühls- und Willenslebens der- selben. In vielen Fällen enthalten die Schülerantworten aufrichtige Bekennt- nisse einer ringenden Jünglingsseele. Sie geben nicht nur Aufschluß über

90 Michael Kesselring

den individuellen Entwicklungsstandpunkt der Vpn., über die Beeinflussung des Gedankenkreises durch die Unterrichtsfächer, sondern auch in gewissem Sinne über den Bildungsgrad der Einzelnen. Auch einen Maßstab für die sittliche Entwicklung der JugendUchen können wir aus ihnen entnehmen. Die schon mehrfach eingestreuten, ausführlichen oder angedeuteten Schüler- beantwortungen legten manches Zeugnis ab für den Wert einer solchen Er- kundung für das Kennenlernen der Verfassung der Schülerseele im höheren Jugendalter. Tatsächlich sind die idealen Musterbilder, welche ureigenstes Gut jedes individuellen Geistes- und Willenslebens bilden, in mehr oder minder weitgehender Weise ein Willensimpuls für das persönliche Wachstum der Charakterkräfte im Sinne des Rückertschen Wortes : „Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll; solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll." Bei der eigenartigen Beschaffenheit der meisten Ideale als Strebe-Ideale sind sie für die Selbstprüfung der einzelnen Menschen gewissermaßen Spiegel, in denen sie sich betrachten können, und bilden zugleich einen nicht zu unter- schätzenden Ansporn zur Besserung und Emporläuterung der eigenen Per- sönlichkeit. Sie dürfen wohl als Mittel der Autosuggestion anzusprechen sein, welche oft in unbewußter Weise jedes Menschenkindes Arbeit an sich im Sinne der eigenen Vervollkommnung fördernd beeinflussen und regeln, in bes. Grade im höheren Jünglingsalter.

Meumannl) betrachtet unsere Idealforschungen unter dem Gesichtspunkte der sittlichen Entwicklung, wie etwa auch experimentelle Forschungen über die Stellungnahme der Schüler zu Lüge und Diebstahl oder zur Freundschaft. Den Wert solcher Erhebungen sieht er zunächst mehr in der Anregung zu kritischer Beleuchtung bestehender Zustände im Erziehungs- und Schulwesen; führt er doch S. 621 aus, daß wir durch solche Erhebungen nicht nur die Entwicklung einer der wichtigsten Seiten des jugendlichen Seelenlebens kennen- lernen, sondern zugleich auch „wertvolle Maßstäbe zur Beurteilung unseres ganzen Erziehungssystems und der idealbildenden Kraft unserer einzelnen Schüler" gewinnen. So weit wie Meumann, welcher auf Grund einiger weniger Untersuchungen ein ungünstiges Urteil über die deutsche Volksschule bezüg- lich ihrer idealbildenden Kraft fällte, darf man aber jetzt unmöglich schon gehen, w^eil die Zahl der Vpn. viel zu gering ist, weit mehr Orte der ver- schiedensten deutschen Landschaften zu Erhebungen benutzt werden müssen und eine großangelegte Erhebung in unseren verschiedenen Schulgattungen niederer, mittlerer und höherer Art von einem psychologischen Institut oder einer pädagogisch -psychologischen Arbeitsgemeinschaft zur Durchführung kommen müßte. Erst dann könnte auch der Gedanke Meumanns, die Aus- wahl großer Persönlichkeitsvorbilder nicht dem Zufall zu überlassen, sondern wenn wir ihn recht verstehen einen lehrplanmäßigen Kanon von Ideal- persönlichkeiten aufzustellen, in nähere Erwägung gezogen werden.

Wenn wir nun die Begründungen unserer Sem. näher beleuchten, liegt es klar, daß wir bei dem für Volksschuluntersuchungen beachteten Schema der Motive nicht bleiben konnten und uns mehr den von Key. 11 gewählten Gruppen anschlössen, welcher aUerdings keine zusammenfassende Tabelle für die Begründungen aufstellt, wie für die gewählten Persönlichkeiten. Da wir dies als einen Mangel empfanden und die Beziehungen der möglichen Gruppen

') Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik, Bd. I^, S. 820—629.

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 91

untereinander klar erkennen wollten, gestalteten wir im engsten Anschluß an unser Material eine genauere Tabelle, wie sie auf S. 94 einzusehen ist.

Besonders auffallend war bei der ersten Durchsicht der Begründungen, wie oft die Größe des Willens, die Vollkommenheit an Kraft, die Ausdauer und Beharrhchkeit, die Geschlossenheit, Konsequenz und Selbständigkeit, der zähe Wille, der Wagemut und die Unbeirrbarkeit durch Hindernisse als vorbildlich angeführt \s'urden, also formale W^illenseigenschaften als stark beein- flussendes Moment bei der Wahl der Ideale mitspielen. Diesen stellten sich naturgemäß materielle W^illens- und Charakterzüge an die Seite, von denen sich eine merkwürdige iVuslese in der Tabelle vorfindet. Zu diesen rein ethisch betonten Einzelzügen mußten noch Sammelabteilungen kommen. Zunächst eine Abteilung formaler Willenseigenschaften im allgemeinen, wenn in den Motivierungen etwa «,fester Charakter", „geschlossene, starke Persön- lichkeit", „rücksichtsloses Durchsetzen begonnener Arbeiten" u. ä. angegeben war, wozu materielle ethische Züge im allgemeinen treten mußten, wenn es etwa hieß: „gute Eigenschaften", „pflichtbewußter, edler Mensch", „zeigte treue Pflichterfüllung". Schließlich machte sich noch eine allgemeingehaltene Ab- füllung notwendig für Äußerungen, daß z. B. das ganze Verhalten eines Vor- bildes sich durch Harmonie in Denken, Fühlen und Wollen auszeichne oder daß das gemeinte Vorbild in seinem Handeln das W^ahre, Schöne und Gute als höchste Maßstäbe genommen habe. Durch die schärfere Auseinander- haltung von ethisch-formal und ethisch-material betonten Gründen wollten wir zugleich einen orientierenden Einblick in das Verhältnis der Bewunderung und Nacheiferung der Willens- und Charakerstärke nach der Seite des guten oder des großen, starken Willens gewinnen.

Hin und wieder leuchteten in den Schülerzeugnissen auch andere ethische Wertschätzungen durch, die teilweise tieferen Blick für das Getriebe des Menschenlebens mit seinen tragischen Konflikten bekundeten. So wurde hin- gewiesen auf die nötige Urteilsklarheit und Einsicht bei großen Taten, z. B. bei Bismarck oder Moltke ; Bewunderung erregte das unentwegte Weiterstreben auch bei VerkanntAverden und sonstigen Hemmnissen. Daß die Tugend der Gesundsinnigkeit, also die Tugend des Trieblebens als Mäßigkeit, Besonnen- heit keine besondere Rubrik erforderte, ist nur ein Beweis für die gesunde, geradlinige Entwicklung unserer 16 20 jährigen. Doch klingt auch die vor- bildliche Kraft dieser Tugend manchmal durch, wenn genannt werden: Rein- heit und Gesundheit; Reinheit und Überlegenheit; hatte sich in der Gewalt. Jedoch stellten wir beim vereinzelten Auftreten solcher Begründungen dafür keine besondere Rubrik auf.

Neben die ethischen Gründe ließe sich als weitere große Hauptgruppe die der kulturell-geistigen Eigenschaften stellen, wozu auch bei unserer Erhebung die religiösen Ideale zu rechnen wären. Bei letzterer Gruppe machte sich eine vorgesehene Trennung für Ideale in rein religiöser Hin- sicht oder nach der religionsgeschichtlichen Seite hin überflüssig, weil nur im letzten Sinne Entscheidungen vorUegen. Bei den intellektuellen Gründen wird besonders die Geisteskraft als Vorbild hervorgehoben. Diesem freigeistigen, formal-intellektuellen Streben im Sinne geistiger Selbständigkeit stellt sich der' vorbildliche Einfluß des großen, umfangreichen Wissens, der Gesichtspunkt der materiellen Bildung und die Bewunderung der Geistes- größe an die Seite, wozu noch als Sonderabteilung die erhaltene bildende

92 Michael Kesselring

Förderung der geistigen Kräfte und des Wissensschatzes durch den guten Unterricht des Lehrers tritt. Als künstlerisch vorbildliche Züge traten auf : Dichtkunst, Musizieren, Malerei, Beredsamkeit, Für die nationalen Gründe ließ sich die Teilung in rein kriegerische, politische, soziale, vaterländische Motivierung durchführen durch fast zu strenge Beachtung der Schülerausdrücke selbst, welche es damit ermöglichte, gegenüber der Abteilung: Wohlwollen, Opferwilligkeit, " Fürsorge die vaterländischen und sozialen Gründe hervor- zuheben.

Eine schwankende Stellung zwischen den beiden Hauptgi-uppen der kulturell- geistigen und der ethisch betonten Gründe nehmen unsere lebenspraktischen Gründe ein. Bei Rey. II scheinen solche gar nicht aufgetreten zu sein oder sind vielleicht in die Gruppe „Ehre und Ruhm" einbezogen. Wenn Natur- und Heimatliebe, eine richtige Schätzung der .Gesundheit und körperlichen Betätigung bei diesen Begründungen hervortreten, sind damit wertvolle sekun- däre Bedingungen einer idealen Lebensführung erkannt. Ziemlich rege scheint der Sinn für gesellschaftliche Vorzüge zu sein; denn wir finden oft erwähnt: feines Benehmen, feiner Takt, Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit und Gewandt- heit, gewinnendes Benehmen, ritterliche Gesinnung u. a., wobei einesteils einige Besprechungen mit den Vpn. über den guten Ton nachgewirkt haben können, andernteils mancher Oberklässer, der in einem Vierteljahr als Schulamtsbewerber aus der Anstalt entlassen wurde, den Besitz solcher Vorzüge als besonders erstrebenswert halten mag. Auch Anerkennung und Erfolg bei tätiger Berufs- erfüllung möchten manche nicht missen; Ruhm- und Ehrsucht als solche fiel in keiner Beantwortung auf.

Schließlich finden sich noch besondere Wunschideale aufgeführt. Zu den auf S. 34 erwähnten wären noch folgende zu rechnen: Ich möchte über- haupt dichten können mein einziger und höchster Wunsch ist der, nach Afrika gehen zu können weltflüchtig, einsam, zurückgezogen und ein solcher Pessimist wie Lenau mein größter Wunsch aber wäre der, ein Leben wie Goethe führen zu können: reich an irdischem Gut, philosophieren, berühmt werden, die Menschheit für das Schöne und Edle zu begeistern.

Als Bewunderungsideale wurden z. B. folgende Äußerungen be- wertet: Ich muß emporschauen zu einem Schauspieler wie Kainz; denn er muß doch viel tiefer alles erleben als andere so oft ich den Namen Schiller höre, durchfährt mich ein heiliger Schauer ein Geist zu sein wie Goethe oder Schiller, wer das doch könnte! An Personen, die ausgesprochene Be- wunderung erregen, seien noch genannt : Könier, Nietzsche und Schopenhauer, einmal auch Otto Ernst.

Bezüglich der Berechnung sahen wir uns gedrängt, auf zweifache Weise ein Bild der Motivierung der gewählten Ideale zu gewinnen. In Tabelle 11 sind die Begründungen auf die Zahl der Vpn. bezogen, wobei jeweils das am stärksten hervortretende Motiv für die Wahl eines Vorbildes die Eintragung in die betreffende Abteilung bewirkte. Da diese Berechnungsweise auch bei Rey. II vorliegt, gingen wir den Ergebnissen dieser Art im einzelnen nach und stellten auch manche Vergleiche her, obwohl uns die Schwierigkeiten für solche Gegenüberstellungen bei experimentellen Forschungen in verschiedenen Ländern nicht verborgen sind. In Tabelle III liegt dann eine Berechnung der angegebenen Einzeleigenschaften auf die Zahl dieser Nennungen überhaupt vor. Nachdem wir uns in deren Ergebnisse vertieft hatten, war natürlich eine

Untersuchungen über Ideede im höheren Jugendalter 93

-Gegenüberstellung der Untersuchungsergebnisse nach den beiden Berechnungs- weisen geboten, die sich aus Tab. 2 und 3 leicht gewinnen läßt.

In einer Veröffentlichung über die Ideale schwedischer Schulkinder von Dr. G. Brandelli) wird auch die Erscheinung betont, daß bei der Begründung oft mehrere Eigenschaften als wahlbestimmend angeführt werden, so daß Brandeil die Aufstellung einer „Gesichtspunktfrequenz" für notwendig erachtete nach

der Formel:

'Anzahl der Gesichtspunkte (G) ^--

Gesichtspunktfrequenz = -^solute Zahl der Begründungen (B) "^ ^^' Für unsere 1. Klasse wäre nach Abzug der Zahl der Nichtbeantwortungen und der Nichtbegründungen G = „22 ^ ^^ ^ ^^^' ^^ die 2. Kl.: ^^ X 100 = 232. Die 2. Klasse weiß also \iel mehr Gesichtspunkte aufzustellen als die 1., was dem Bildungsstandpunkt auch entsprechend wäre. Gegenüber den Schülern Brandells, bei denen sich für die Knaben die Gesichtspunkt- frequenz 118, für die Mädchen 130 herausstellte, weisen unsere Jugendlichen ■6\e doppelte Frequenz auf.

Betrachtung der Haupterscheinungen dieser Tabelle

a) Innerhalb der 1. Klasse: Für die Versuche in den verschiedenen Jahren ergibt sich ein auffallend anderes Bild bei den ethisch formalen Be- gründungen, da das erste Jahr die doppelte Nennungszahl gegenüber den beiden folgenden Jahren bringt. Auch der Sinn für gesellschaftliche Vorzüge zeigt sich im 1. Jahre stärker, wogegen die Bevorzugung künstlerischer Züge im 2. Jahre besonders stark hervortritt. Im übrigen lassen sich keine wesent- lichen Verschiedenheiten nachweisen.

b) Innerhalb der 2. Klasse: Besondere Schwankungen sind nicht fest- zustellen. Jedoch ergaben sich in einem Jahre Angaben für Eigenschaften, die im anderen gar nicht genannt sind, so fehlen im 2. Jahre „Wohlwollen", „Liebe und Treue", die im 1. Jahre 4mal, bzw. 3mal aufgeführt sind. Im 1. Jahre fehlen religiöse Begründungen, werden aber im 2. Jahre 3 mal an- gegeben, Imal in positivem Sinne der Nachfolge Christi, 2 mal mehr in frei- geistigem Sinne.

Eine einmalige Erhebung reicht also nicht aus, um vollen Einblick in die Gesinnungen und die sittliche Ent\^icklung der Jugendlichen zu erhalten. Doch zeigt sich im Hinblick auf die Übereinstimmung in den wesentlichen Zügen dieser Schülerbekenntnisse, daß selbst eine einmalige Befragung den Charakter einer verläßlichen Stichprobe für die gleichen Altersstufen inner- halb der gleichen Schulgattungen trägt, da die Jahresschwankungen nicht so hoch zu sein scheinen, daß sie das Allgeraeinbild der Ergebnisse wesentlich verändern könnten.

c) Vergleich der 1. und 2. Klasse: Bei unserem Versuch in jenen Jahren gab die 2. Klasse viel weniger Begründungen als die 1., nämlich 12,80/o gegen 4,30/0. Diese Erscheinung liegt wohl begründet in der größeren Zahl ausführ- licher, kritischer und ausweichender Antworten, sowie in der vielleicht größeren Zurückhaltung der ältesten Seminaristen, Gesellschaftliche Vorzüge werden in der 2. Klasse gar nicht mehr aufgeführt, wogegen das allgemeine Humanitäts-

*) MitgeteUt bei Rey. I, S. 243 und S. 250.

94

Michael Kesselring

Tab. 2. Tafel der

BegTÜndungen (berechnet auf Vpn).

Keine Antwort

1 1 7 i 5 10

22

8,6

7

5

12

6,6

34

7,8

J 1

1

Ohne Begründung 3 ! 5 3

11

4,3

12

11

23

12,8

34

7,8

Allgemein edles Menschentum

17 13

21

51

20,0

23

24

47

26,1

98

22,5

22.5

Ethische Gründe Allgem. formal

17 3 2

1 4

3

9

8

1

34 4 2 1

10 2

3 4

25 6

13,3 1,5 0,8 0,4 3,9 0,8

1,1 1,5

9,8 2,3

8 6

7

3 4

8

1

11 2

4 13

19

8

11

3

4

12

10,5 4,4

6,1

1,6

2,2 11,6

53

12

2

1

21

2

6

8 46

7

12,2 2,7 0,4 0,2 4.8 0,4

1,3

1,8

10,6

1,7

Kraft u. Konsequenz . Beharrlichkeit

.20,3 1 20,5

Mut u. Tapferkeit . . allgem. material . . .

i 2 1 4

Wahrheit, Offenheit . Gerechtigkeit .... Gemütstiefe .... Liebe u. Treue . . ,

2

1 9 2

>2-

Wohlwollen u. Fürsorge Berufserfüllung . .

2 1 5 11

sittl. Grundsätze. . .

4

Äuß. lebenspraktische Gründe Gesellschaftl. Vorzüge . . Anerkennung u. Erfolg . . Naturliebe u. Heimat. . . Gesundheit, Reisen, Sport . Lebensgenuß

10

1

2

2

1 1

?,

1

2

1

13

1 3 4 2

5,0 0,4 1,1 1,5 0,8

1

1 1

1 2

0,5 1,1

13 1 3

5 4

3,0 0,2 0,6

1,1

0,8

' 5,7

,

Nationale Gründe

Kriegerisch

politisch

sozial . . .

vaterländisch

1

2

5 4

2 6

4

2

1

3

10

0.8 2,3 0,4 3,9

1

3

5

1

8

1,1

4,4

2 0,4

7 1,6

1 0,2

18 4,1

, 6,3

Intellektuell

Selbständigkeit, Freiheit . Geistesgröße, großes Wissen guter Unterricht der Lehrer

3 3

2 1

21

3 6 2

1,1 2,3

0,8

2

2

1,1

13

3,'^

. 3,0

Künstlerisch

Dichtung

Alusik

3

10

3

16

6,3

2

5

7

3,8

23

5,3

l 5,3

bildende Künste

1

1

0,4

3

3

1,6

4

0,8

0,8

1

3

1

4

8

3,1

2

2

4

2,2

12 2,7

Wünsche

2

2

0,8

1

2

3

1,6

5

1.1

'

I. Klasse

12 « =9

0)N(

O

"/o

II. Kl.

ll

o;

,0

!"• -/ol'

l.J.

2.J.

3.J.

l.J.

2.J.

o . 1

1

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 95

ideal in dieser Klasse mit höherem Prozentsatz als in der 1. auftritt, 26 o/o 200/0, Nach den sonstigen Zahlen Verhältnissen mit Schwankungen bei den Einzelzügen zwischen 2 3^0 kann von stärker auffallender verschiedenartiger Stellungnahme kaum gesprochen werden; dies gilt für Gründe ethisch-formaler und ethisch-materialer Art, hinsichtlich derBerufserfi'illung und der künstlerischen Eigenschaften. Intellektuelle Eigenschaften erfahren von der 1. Klasse eine höhere Wertschätzung als von der 2. Klasse.

Eine Gesamtübersicht mag folgende Tabelle geben:

Gründe ; 1. Kl. i 2. Kl. •' Vereinigt j :, Rey H

Ethische

formal 18,3 18.6 18,-, 1 ,o 1 '^ ^-,

material 22,5 26,9 24,-, ff '

allgem. edles Menschentum ' 23,o 32,4 26,7 J 69,:

Lebenspraktisch .... 10,o 2,o 7.o "

Religiös 0,5 2,o ' l,o 1 10

Intellektuell 5,o 1.* 3.5 Kg 13

Künstlerisch 7,, 4,s 6.3 ( ' 6

National 8,5 6,2 7.^ I 20

Um mit Rey. II Beziehungen herstellen zu können, mußten wir von seinen Prozentangaben in den Einzeltabellen die Hälfte der Werte einsetzen, da seine Angaben die Summe von 198 ergaben und zugleich unsere Prozentzahlen wie S. 26 angegeben, umrechnen. Rein ethisch betonte Gründe scheinen zunächst von unseren Vpn. mit 43^0 weit mehr gewählt zu sein, als bei R. mit 27; noch mehr verschiebt sich dies Verhältnis bei Hinzunahme des Wertes für das allgemeine Humanitätsideal, wonach wir 69 0 0 ethischer Gründe überhaupt festzustellen hätten. Bei R. folgt bei Zusammenstellung der „rein ethisch betonten Gründe", mit seinen Gruppen „Mut" und „Opferwilligkeit" der Gesamtwert 48. Nach der formalen Seite überwiegen bei uns die ethischen Begründungen (18,5 gegen 13 bei R.), während sich nach der materialen Seite bei R. ungleich mehr Nennungen finden; stehen sich doch die Werte 35 gegen 24,5 bei uns gegenüber! Die Gruppe „Opferwilligkeit und Ver- langen, andern zu helfen'' führt bei R. dieses Überwiegen herbei. Wenn wir allerdings zu unserer Gruppe „Wohlwollen" die sozial-vaterländischen Gründe nehmen, dann stellt sich dem R. Werte 8 ein solcher von 7,3^ 0 gegenüber.

Lebenspraktische Gründe drängen sich bei uns wesentlich mehr hervor mit 7,00/0, denen sich bei R. nur der Wert 3 für „Ehre und Ruhm" entgegen- stellen läßt.

Bei den religiösen Begründungen zeigt sich der gi'ößte Gegensatz in den beiden Untersuchungen, wobei sich die Werte von 10 bei R. dem von 1,0 gegenüberstehen. Intellektuelle Gründe nehmen bei R. mit dem Werte 13 einen breiteren Raum ein als bei uns mit 3,5. Bezüglich der künstlerischen Eigenschaften weisen die Untersuchungen die gleichen Werte auf: R. 6, bei uns 6,3. Die Gründe verteilen sich dabei in folgender Weise: Musik (1. Kl. 11 mal, 2. Kl. 7 mal), Dichhmg (1. Kl. 5 mal, 2. Kl. 7 mal), Malerei (2. Kl. 3 mal), Beredsamkeit im ganzen 3 mal.

96 Michael Kesselring

Nationale Gesinnung und Betätigung werden von den norwegischen Se- minaristen in ungleich höherer Zahl als bei uns geschätzt, 20 : 7,6! Dazu mitgewirkt haben wohl die starken Einflüsse des Weltkrieges auch auf neu- trale Länder und die Jugend des norwegischen Königreiches als Staatswesen überhaupt. Da auch internationale Gründe mit 3,5 bei R. sich zeigen, so scheint das völkische und nationale Interesse bei den norwegischen Jugend- lichen reger als bei den unsrigen zu sein. Doch läßt sich ein solches Urteil nur bedingt aussprechen, da unsere Vpn. jünger als die norwegischen waren und in diesem Alter vom öffentlichen Leben oft in übertriebener Weise fern- gehalten werden. Die Werte, welche bei unseren Seminaristen für diese Gruppe gleichsam ausgefallen sind, treten besonders stark auf in der uns so charak- teristisch erscheinenden Begründung durch das allgemeine edle, charaktervolle Menschentum, einer Art der Idealbegründung, welche die R.schen Vpn. gar nicht zu kennen scheinen.

Bei einem abschweifenden Blick in das angewandte Gebiet der Erziehung, des Unterrichts und der Schulen können wir feststellen, daß das Gesamtbild, welches die beiden Erhebungen über die Ideale ergeben, hinsichtlich der Gemüts-, Willens- und Charakterentwicklung unserer Jugendlichen kein uner- freuhches ist: das höhere Jugendalter ist durch ein ernstlich sittlich gerichtetes Streben ausgezeichnet. Die Pflichtvorstellung ist als ein für alle Menschen gültiges Gebot erkannt. Die Tugend der Sachlichkeit hat sich festgesetzt und der Gedanke von der Heiligkeit der Arbeit und des Strebens hat seine Grund- legung erfahren. Begeisterungsfähigkeit, Sinn für Großes und Edles pulsieren im jugendlichen Geistesleben, das nach objektiven Werten die Lebensführung zu gestalten sucht. Grundsätze der Moralität sind bei den Jugendlichen herrschend geworden, und selbst der Standpunkt der sittlichen Autonomie ist von manchen erreicht, wenn sie in ihren freien Idealen aus innerer Über- zeugung und eigenem Gewissensentscheid in freiem Gehorsam sich objektiven Werten unterordnen wollen, also sich zum Standpunkt der inneren Freiheit durchgerungen haben, welcher für das jugendliche Gemüt als eine Versöhnung zwischen der Macht der Autorität und dem Verlangen nach Freiheit angesehe werden muß. Auch drückt sich wiederholt in den Bekenntnissen die Er- kenntnis aus, daß in der eigenen Brust des Schicksals Sterne schimmern, daß das Sittliche immer und zuerst den einzelnen Menschen organisiert. Daher auch die vorwiegenden Zeugnisse für charaktervolle Persönlichkeiten als Vor- bilder unter Hervorhebung der formal-ethischen Züge, wie Beharrlichkeit, Geradheit, innere Widerspruchslosigkeit, Stärke, Kraft und Freiheit. Dazu treten dann erst die Tugenden für die Gemeinschaft, die ethischen Eigen- schaften der Gerechtigkeit, des Wohlwollens und der Nächstenliebe, der Berufs- erfüllung und nationalen Tätigkeit. Es bahnt sich also in den jugendlichen Seelen das Persönlichkeitsstreben an, der individuellen und sozialethischen Kulturaufgabe gerecht zu werden.

Freilich fließen subjektive und objektive Wertschätzungen und -maßstäbe. Verlangen nach Befriedigung individueller Neigungen und Streben nach ge- schlossener beruflicher Lebenstätigkeit noch vielfach ineinander über; aber die höheren Werte sind klar erkannt und geben die Richtpunkte des idealen Strebens. Unsere experimentelle Erhebung verlangt zunächst eine intellektuelle Entscheidung und wendet sich in erster Linie an die Vernunft. Aus den Ergebnissen kann so viel gefolgert werden, daß die jugendliche Einsicht

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 97

richtig geschult und auf das Gute, Wahre und Schöne gelenkt wurde. Wenn Kerschensteiner für die Aufgabe der öffentlichen Schule die Pflege der Ideale der BerufserfüUung, der Ideale der Versittlichung der Berufsbildung und der Ideale der Versittlichung des Gemeinwesens erklärt hat, so scheinen uns die Lehrerbildungsanstalten als höhere Fachschulen ihre Aufgabe richtig an- gepackt zu haben und der Vorwm^ vereinseitigender Gelehrtenbildung kann ihnen nicht in dem Grade wie den höheren Schulen gemacht werden.

In den Tabellen der Begründungen aus den Volksschuluntersuchungen liegt wertvolles Material zur Feststellung der geistigen und sitthchen Entwicklung unserer Jugendlichen vor. In der folgenden Übersicht sind die Ergebnisse von Goddard, Rey. I und Richter angeführt, wobei nur die auf die männhchen Vpn. sich beziehenden Zahlen ausgewählt wurden.

Gründe i Goddard Rey. I i Richter

Gut, gütig [i 20 i 31 8

Charaktereigenschaften h 30 | 32 | 27

Macht haben, Dinge zu tun j 6 15 16

Intellektuelle und künstlerische . . . . ' 2 6 12

Materieller Besitz | 14 4 | 19

Äußere Bedingung der Erscheinung . . . \ 7 6 i C

Die norwegischen Volksschulkinder zeichnen sich danach besonders aus durch das geringe Verlangen nach materiellem Besitz und den hervorstechen- den Zug der Güte und des Wohlwollens. In zwei Motivgruppen lassen sich die Volksschülerbegründungen \ielleicht zusammenfassen: äußere, materielle und innere, sittlich-ideelle Gründe. Danach zeigt sich:

Gründe

! Goddard

Rey. I

Richter

Materielle .... Sittlich-ideelle . .

. . ll 27 . . II 52

25 69

41

47

Daß die Volksschüler die Hälfte ihrer Begiündungen aus dem sittlich-idealen Gebiet entnehmen, mag ein Beweis für die idealbildende Wirkung des Unter- richts sein. Immerhin fällt der hohe Prozentsatz der ethischen Begründungen auf, und künftige Untersuchungen müssen uns genauer nachweisen, welche Einzeizüge in der Sammelgruppe „Charaktereigenschaften" untergebracht wurden. Auch die „Macht, Dinge zu tun" verlangt eine Scheidung nach den Richtungen, ob diese Macht materiell oder ideell ausgenützt werden soll.

Gegenüber den Volksschülern fällt bei unseren Jugendlichen in erster Linie das starke Zurückweichen äußerer, lebenspraktischer Gründe, welche bei Rey. II unter „Ehre und Ruhm" mit dem Werte 3 und bei uns mit 70/0 auftreten. Die intellektuell-künstlerischen Gründe weisen bei den Seminaristen gegen- über den schwankenden Werten der Volksschüler eine Mehrung auf, obwohl sich für erstere auch recht verschiedene Werte (19 bei Rey. gegen 8 bei uns) ergaben. Die sitthchen Gründe scheinen auf beiden auseinanderUegenden Stufen der Jugendentwicklung in ungefähr gleicher Stärke für die Wahl der Ideale bestimmend zu sein, wobei die der Jugendlichen mehr Mannigfaltigkeit der Eigenschaften, mehr Tiefe und Geschlossenheit aufzeigen. Stellen wir

Zeitaciirift f. pädagog. Psychologie. 7

98

Michael Kesselring

Tab. 3. Tafel der Begründungen (berechnet auf Nennungen).

Ethische Gründe . . . allgemein formal . . .

Kraft und Konsequenz

Beharrlichkeit . . .

Mut und Tapferkeit . allgemein material . .

Wahrheit, Offenheit .

Gerechtigkeit ....

Gemüt

Liebe und Treue . .

Wohlwollen und Fürsorge

Berufserfüllung ....

4,5

7,9 2,9 4,4 5,0 2,5 2,5 2,3 6,4 5,0

1,2 4,4 6,2 5,3 2,9 5,6 5,3 2,6 1,8 4,4 6,5 5,6

24

3,1

15

2,0

64

8,2

23,1

53

6,8

1

23

3,0

38

5,0

40

5,1

20

2,6

17 25

2,2 3,3

29,7

50

6,4

41

5.1

>52,J

Lebenspraktische Gründe Gesellschaftliche Vorzüge Anerkennung und Erfolg Natur und Heimat . . . Gesundheit, Reisen, Sport Lebensgenuß

58 j7,5 15 1,9 20 2,6 27 3,6 6 0,7

\ 16,2

Nationale Gründe Kriegerisch . . politisch . . . sozial .... vaterländisch .

10

16 13

39

8,9

16

23

6,8

62

8,0

8,0

Intellektuell

Selbständigkeit und Freiheit Geistesgröße, umfangreiches

Wissen

guter Unterricht der Lehrer

10

Künstlerisch

Dichtung. . . .

Musik

bildende Künste.

14

12

35

7,9

18

5,3

53

11,3

6,8

Religiös

10

2,3

2,0

17

2,2

2,2

Bewunderung.

1,6

Wünsche

0,2

1,2

12

1,4

2,0

0,9

L Klasse

164134140

438

II. Kl

1691168

33"

%

o

aber bei den Jugendlichen alle ideellen Gründe zusammen, so zeigt sich klar der bedeutende Entwicklungsaufstieg vom Knaben- zum höheren Jugendalter; stellen sich dann doch neben den durchschnittlichen Volksschulwert 56 bei

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 99

Rey. n ein solcher von 97 und bei uns ein solcher von 78, der sich bei Berechnung ohne Rücksicht auf die Nichtbeantw-ortungen und unbegründeten Antworten auf 93 0 o erhöht. So zeigt sich also ein klarer Entwicklungsgang von der Schätzung äußerer materieller Güter hin zu den objektiven Werten nationaler, intellektueller, künstlerischer, religiöser und ethischer Art.

Vergleich der beiden Berechnungsarten.

Die geringe Anführung materieller Gründe gegenüber den Volksschulknaben mußte bei den Jugendlichen stark auffallen. Bei Berechnung auf die Gesamt- zahl der Einzelgründe fällt eine viel größere Nennungszahl lebenspraktischer Gründe auf; natürlich treten dieselben gegenüber den Volksschülerbegrün- dungen in verfeinerter Weise auf, so durch den Hinweis auf Gesundheit, Körperpflege, leibliche Schönheit, Gewandtheit oder durch das Hervorbrechen der Natur- und Heimatliebe und Behaglichkeit, der Neigimg zu Reisen, durch das Verlangen nach Anerkennung und Erfolg und nach gesellschaftlicher Gewandtheit. Nach der Berechnung auf Vpn. fanden sich 7^0 Stimmen für diese Gruppe, nach der Nennungsmethode dagegen 16,20'o. Als Idealpersonen werden solche mit nur gesellschaftlicher Sicherheit und gutem Benehmen, mit Berufserfolg und -glück, werden Lebensgenießer kaum genannt; in den Be- gründungen bei Aufführung der Einzelzüge aber bricht der Sinn für solche äußeren Güter durch; damit \vird wohl die Moti\ierung zugleich echter und der Jünglingsent«'icklung entsprechend. Nach unserer 1. Berechnung könnte man glauben, daß die Schüler der 2. Klasse gar kein Interesse z. B. an ge- sellschaftlichen Vorzügen besitzen, wogegen sich aber nach der 2. Berechnung eine Vorliebe dafür mit 8^ o ergibt.

Die ethischen Gründe insgesamt sind wenig zurückgegangen mit 53 ^ 0 gegen 58^ 0 bei der 1. Berechnung. Jedoch das Verhältnis der ethischen zu den lebenspraktischen Begründungen, nach der Vpn.-Berechnung 9:1, hat sich sich jetzt wesentlich verschoben, etwa 7 : 2. Beim Vergleich mit Rey, II fiel besonders die geringere Anführung von intellektuellen Motivierungen in die Augen, welche Erscheinung sich jetzt ziemlich ausgleicht, da den norwegischen 130 0 nun 11 0/0 sich an die Seite stellen. Auch die religiösen Begründungen zeigen eine schwache Zunahme von 1,0^ 0 auf 2,2° 0, Gründe mehr künstlerischer Natur stellen sich nach beiden Methoden in ungefähr gleiche Höhe, wobei auf Musik die doppelte Zahl der Nennungen fällt wie bei der Dichtung.

Beim Blick auf Untergruppen unserer Begründungstafel ist festzustellen, daß die Tugend des Wohlwollens und der Fürsorge nach der Nennungsmethode auch bei den deutschen Jugendlichen etwas höher in der Schätzung steht, so daß wir unter Einbeziehung der Gruppe „Liebe und Treue" dem Rey.schen Werte 8 jetzt 9^ 0 gegenüberstellen können. Das Verhältnis der material- ethischen zur formal- ethischen Motivierung blieb sich v.ohl gleich (auf Vpn. 240'o 180 0, auf Ang. 29 0/0 20ö 0); aber bemerkenswert mag es immerhin erscheinen, daß kein einzelner der ethischen Züge einen solchen Prozentsatz von 8,2 aufweist wie die Kraft und Konsequenz ; auch überwiegt die Zahl der Gruppe „Beharrlichkeit" um ein geringes noch die des Wohlwollens. Die Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit stellt sich nach der 2. Berech- nung mit mehr Entschiedenheit heraus ; finden wir doch vorher nur den Wert 0,4, jetzt aber 5,1 und 2,6. Dies mag den Erziehern der Jugendlichen zeigen, welch großer Sinn und feines Empfinden für Gerechtigkeit und Wahrheit bei

100 Michael Kesselring

diesen vorhanden ist (vgl. auch einige Begründungen für die Wahl von Lehrer- idealen !). Das Streben nach Berufserfüllung hat unter den ethischen Gründen immer noch hohen Kurswert, ist aber gegenüber der 1. Berechnung nicht mehr so hervorstechend.

Nach den beiden eingeschlagenen Berechnungsraethoden der Begründungen ergibt sich also ein etwas verschiedenes Bild der Ergebnisse. Bezüglich der Gründe künstlerischer, nationaler, auch ethischer Art erblicken wir ungefähr die gleichen Verhältnisse ; dagegen ergibt sich für die Begründungen lebensprak- tischer und intellektueller Art eine merkbare Verschiebung. Nach der Berechnung auf Nennungen gewinnt die geschlossene fast ernste Lebensauffassung, welche nach der Berechnung auf Vpn. für unsere Jugendlichen auffiel, einige mildere Züge, indem sich damit einige Schwächen des Wertmaßstabes im Jünglings- alter deutlicher herausheben. Das Gesamtbild der jugendlichen Seelenver- fassung nähert sich nach unserer 2. Berechnung dem von der allgemeinen Seelenkunde für das Jünglingsalter entworfenen.

Nach unserem bisher alleinstehenden Versuch soll keine Entscheidung für oder gegen die eine Berechnungsmethode getroffen werden. Die Ergebnis- reihen beider Methoden werden zusammenzuhalten sein und die mittleren Werte aus ihnen dürften das treueste, objektivste Bild solcher Untersuchungen für die Jugendkunde ergeben. Wenn hohe Gesichtspunktfrequenzen für die Begründungen vorliegen, muß aber unbedingt deren Berechnung auf die Gesamtzahl der Einzelangaben erfolgen.

Unterschiede innerhalb der beiden Klassen (vgl. hierzu Tabelle 3!).

Schon bei der Tabelle der Berechnung auf Vpn. zeigte sich bei Erkundung in nur einem Versuchsjahr die Möglichkeit des Ausfallens der einen oder anderen Gruppe, z. B. 2. Klasse 2. Jahr, Wohlwollen und Füreorge oder in- tellektuelle und religiöse Ideale. Bei der neuen Rechnungsweise scheint diese Gefahr kleiner, wenn die Zahl der Vpn. nicht gai- zu gering ist; doch fehlen hier z. B. im 3. Jahre für die 1. Klasse religiöse Begründungen und bei der 2. Klasse ethisch-formale Züge, allgemein ausgedrückt. Aus der 1. Klasse sind merkliche Schwankungen kaum hervorzuheben, höchstens im 1. Jahre die häufigere Nennung der gesellschafthchen Vorzüge und im 2. Jahre eine solche der Berufserfüllung. Auch die Nennungstabelle für die 2. Klasse zeigt wenig wesentliche Veränderungen; doch ergeben sich im 1. Jahr mehr An- gaben für das Wohlwollen, im 2. Jahr mehr für Berufserfüllung. Lebens- praktische Gründe führten die Vpn. des 2. Jahres viel mehr als die des 1. auf, während nationale Eigenschaften bei den Vpn. des 1. Jahres mehr zur Nach- eiferung als im 2. anregten.

Vergleich der 1. und 2. Klasse.

Keine nennenswerten Unterschiede finden sich bezüglich der ethischen Begründungen, wie wir aus gegenübergestellten Zahlen erkennen: formal 20,6 18,8, material 28,1 31,8, überhaupt 53,2 51,8. Auch hinsichtiich der Wahl religiöser und intellektueller Gründe, der künstlerischen und Be- wunderungsmotive ergibt sich das gleiche Bild. Bei den intellektuellen Be- gründungen schätzen beide Klassen die Größe und den Umfang des Wissens, die Gelehrsamkeit höher ein als die formale geistige Bildung. Hinsichtlich

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 101

der äußeren lebenspraktischen Begründungen fällt die stärkere Nennung durch die 2. Klasse auf (190/o gegen 130 o), wobei die stärker hervortretende Natur- und Heimatliebe mitwirkt, sich zugleich aber auch der Blick für den baldigen Schritt ins Leben und die Berufsaufgabe mit geltend macht, so daß ein Ver- langen nach gesellschaftlichen Vorzügen, nach Erfolg und Anerkennung rege geworden sein kann. National betonte Gründe weist die 1. Klasse etwas mehr als die 2. Klasse auf. Der Ertrag der nationalen Beeinflussung unseres Unterrichts stellt sich damit gar nicht als so umfangreich heraus als gemein- hin angenommen wird. Bei den norwegischen jungen Männern zeigten sich 200/0 nationaler Motivierungen, bei uns nur 7,6 und früher sahen wir schon, daß hinsichtlich der historischen Persönlichkeiten in Norwegen 30 ^o als Ideale vorschweben (90/o des eigenen Landes und 21^/0 fremder Länder) und bei uns sich niu* 15,80/0 ergaben (14,7 o/o des eigenen Landes, lO;o fremder Länder). Damit sind wir weit entfernt von einem „Kultus vaterländischer Erinnerungen" und es darf wohl hervorgehoben werden, daß gerade der Geschichtsunterricht im höheren Jugendalter sich eines vornehmen Erziehungsmittels der Per- sönlichkeits- und Charakterbildung begibt, wenn er nicht lebensvolle Bilder der großen historischen Persönlichkeiten in fruchtbringender Weise zu ge- stalten versteht. Der pragmatischen Geschichtsauffassung und anderen Forde- rungen der Geschichtswissenschaft und -methodik geschieht dabei sicherlich kein Abbruch ; dazu aber sollte berücksichtigt werden, daß das Jünglingsalter die Zeit der hohen Gedanken und Begeisterungsfähigkeit für Ehre und Frei- heit, Volk und Vaterland, Menschheit und Gottheit ist!

In kurzer Übersicht wollen wir noch das Verhältnis der ethischen zu den kulturell-geistigen und lebenspraktischen Begründungen nach den beiden Metho- den aufzeigen : - ,- __

^ auf Vpn. 58 : 15 : 6

auf Ang. 53 : 28 : 16

Endlich sei noch der Altersdifferenz unserer beiden Klassen eine kurze Erörterung gewidmet. Nach der Tabelle II finden sich in der höheren Klasse mehr ethische Begründungen, auch solche auf Berufserfüllung gerichtete, während eine geringere Zahl lebenspraktischer Motive und die Nichtnennung gesell- schafthcher Vorzüge auffiel. Nach Tabelle III ergeben sich kaum bemerkbare Unterschiede zwischen den Klassenergebnissen, und auch die in Tabelle HI hervorgetretenen Sonderzüge der Vpn. der 2. Klasse sind zurückgetreten und im einzelnen sogar stärker vertreten als bei der 1. Klasse, so daß die Nennungs- methode hier ausgleichende Wirkung zeigt. Für unsere Vpn. ergibt sich somit kein Moment bei der Stellungnahme zu den Idealen, welches charakteristische Alters- und Klassendifferenzen aufzeigt, und wir dürfen für das Jugendalter vom 17.— 20. Lebensjahre ein ziemlich gleichbleibendes Verhalten ohne besondere Entwicklungsunterschiede annehmen, urasomehr als sich auch Unterschiede, die durch die verschiedenen Klassenziele bedingt sind, ausgleichen.

Zusammenfassung.

a) allgemein-methodische Ergebnisse.

1. An der Möglichkeit der Durchführung von Idealforschungen nach der Ausfragemethode ist nicht mehr zu zweifeln, da immer wieder solche Erhebungen in größerem Maßstabe mit Erfolg durchgeführt werden und sich

102 Michael Kesselring

dabei typische Ergebnisse herausstellen. Diese zeigen bezüglich der Volks- schülerbefragungen verschiedener Länder große Übereinstimmung in den Haupt- linien, und selbst die wenig umfangreichen Untersuchungen über die Ideale Jugendhcher liefern ein in den Hauptzügen ähnliches Bild. Auch theoretische Überlegungen über den zugrunde liegenden seelischen Tatbestand für die Stellungnahme und Bekenntnisse der Vpn. ergeben die Berechtigung solcher Experimente, sodaß also die experimentelle pädagogisch-psychologische For- schung Vertrauen zu solchen Untersuchungen und ihren Ergebnissen haben kann und eine brauchbare Methode für ihren jugendkundlichen Forschungs- kreis darin zu erblicken hat.

2. Zur Verbesserung und Verfeinerung der Methode wird es bei- tragen, wenn zunächst zur Ausschaltung von zufälligen Einflüssen, insbesondere solchen zeitlich bedingter Art wiederholte Befragungen in jährlichen Abständen vorgenommen werden. Dazu hat bezüglich der Begründungen eine doppelte Berechnung einzutreten a) auf die Zahl der Vpn., b) auf die Zahl der Begründungsangaben überhaupt, da erst ein Zusammenschauen der Ergebnisse beider Reihen ein objektives Bild ermöglicht.

3. Da im höheren Jugendalter stets eine geringere Zahl von Vpn. aus den einzelnen Schulgattungen zur Verfügung stehen wird, sind unbedingt mehrere Befragungen der einzelnen Alters- und Klassenstufen in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren erforderlich. Die ohnehin größere Zuverlässig- keit der Aussagen im höheren Jugendalter läßt sich vielleicht noch dadurch steigern, daß solchen Vpn, kurz Einsicht in die Bedeutung solcher Unter- suchungen gegeben wird.

b) Jugendkundlich-pädagogische Ergebnisse.

1. Der Anteil der Gedankenwelt des Unterrichts als Quelle der Ideale ist ein ganz bedeutender. Sowohl nach der Pers9nen- als nach der Begrün- dungstabelle sind zirka 80 O/o der Vorbider dem Bildungsgut der Schule ent- nommen (bei Key. II sogar 950/o), so daß der in Frage stehenden Schulart idealbildende Kraft nicht abgesprochen werden kann. Von den Fächern haben als Quelle der Ideale besonders zu gelten: Weltgeschichte, Muttersprache und Literaturgeschichte, Erziehungslehre und Geschichte der Pädagogik, wozu noch die im Unterricht angeregte Lektüre überhaupt tritt.

2. Die Bekanntenideale sind bei uns mit 180/0 (Key. II nur 5 o/o) vertreten. Unter diesen Vorbildern zeigt sich gegenüber allen bisherigen Untersuchungen besonders auffallend der idealbildende Einfluß von Lehrerpersönlichkeiten mit 12,40/0. Darin bekundet sich die hohe Bedeutung und der tiefgehende Einfluß der LehrerpersönUchkeit in Erziehung und Unterricht besonders in den höheren Schulen.

Ob sich in der Entwicklung unserer Jugend der Einfluß der Bekannten- ideale im früheren Jugendalter (14 lejährige) gegenüber dem Knabenalter am geringsten zeigt und im höheren Jugendalter wieder zunehmenden Wert gewinnt, muß noch entschieden werden.

3. Nach unserer Untersuchung wurde für die Jugendlichen (16 —20jährige) die Neuaufstellung von freien, selbstgebildeten Idealbildern und von Berufsidealen notwendig. Erstere machen 230/o aller Nennungen, also 1/5 aus; letztere treten mit 7 0/0 in die Erscheinung. Die Gruppe der freien Ideale

Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 103

scheint uns einen wichtigeren ergänzenden Beitrag zur Psychologie des Jugend- lichen zu hefem, wobei nur die Strebe-Ideale nach Berufserfüllung mit 10,6^0 erwähnt seien. Gegenüber den norw^egisehen Jugendlichen ist damit zugleich eine frühere Reife unserer Vpn. festgestellt. Hinsichtlich der Entwicklung des Jugendalters zeigt sich ein natürlicher Aufstieg von persönhchen Vor- bildern aus zu unpersönlichen, objektiven Werten hin und der häufige An- schluß allgemeiner Musterbilder an lebende oder geschichthche Persönlichkeiten läßt zugleich auf eine gesunde Entwicklung der Gedanken- und Ideenwelt der befragten Jünglinge schließen.

4. Große Dichter und Schriftsteller tragen ungefähr in gleicher Weise wie hervorragende geschichtliche Persönlichkeiten zur Idealbil- dung bei.

5. Die beeinflussende Wirkung der Lektüre ist noch nicht eindeutig festgestellt; unseren Gestalten aus Dichtung und Sage mit 9^0 entsprechen bei Rey. II nur lO/o.

6. Für die Erziehung ergibt sich somit, daß als Hauptquellen für die Wahl von Idealen Personen des realen Umganges auch im höheren Jugend- alter noch von Bedeutung sind, jedoch in weitaus größerem Maße Personen des ideellen Umganges. Letztere Erscheinung mag die Lehrer in Religion, Weltgeschichte, Literaturgeschichte, im Pädagogik- und muttersprachüchen Unterricht, sowie die Leiter von Schülerbibliotheken darauf hinweisen, welch hohe Mission sie im Dienst der werdenden PersönUchkeit zu erfüllen haben.

7. Aus der Betrachtung der Begründungen folgt, daß rein ethische Vorzüge am höchsten geschätzt und gestellt werden. Bei Berechnung auf Vpn. und auf Angaben zeigten sich bei uns die Werte 630/0 bzw. 50^, o, worin wir mit der norwegischen Untersuchung eine ziemlich genaue Übereinstimmung erblicken können. Die material-ethischen Hinweise überwiegen dabei die ethisch-formalen; doch treten Gründe letzterer Art im Verhältnis zu den in- haltlichen Charaktereigenschaften in verhältnismäßig hoher Zahl auf.

8. Begründungen religiöser Art finden sich bei uns nur mit 2^0 aufgeführt, während sie bei Rey. II mit 19 ^jo hervortreten. Damit bestätigt sich wieder die gleiche Erscheinung wie bei den Volksschulkindem, daß menschliches Bei- spiel \iel unmittelbarer und nachhaltiger auf das sittliche Hoffen und Wünschen der Jugend wirken dürfte als religiöse Belehrung. (Das religiöse Interesse unserer JugendUchen ist jedoch ein sehr tiefgehendes und reges, wie uns Material über die Probleme, welche Geist und Gemüt unserer Vpn. bewegen, beweisen konnte ; der idealbildende Einfluß selbst scheint ein ganz auffallend geringer zu sein.)

9. Von den künstlerischen Eigenschaften erfährt musikalisches Können höhere Schätzung als Schriftstellern und Dichten, was sich z. T. aus der stark betonten Pflege der Musik in den Lehrerbildungsanstalten erklärt.

10. Der Sinn für das Nationale scheint nicht besonders stark entwickelt, da er mit einem Werte von S^/o nicht weiter auffallen kann.

11. Reine Geisteseigenschaften werden mit lli/20'o höher gewertet als künstlerische Eigenschaften mit 7 O/o. Die Schätzung materialer Bildung steht höher als die der formalen, obwohl in Einzelzeugnissen die geistige Selbständigkeit und Freiheit oft sehr impulsiv gerühmt wird.

104 William Stern

Die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen.

Eine Besprechung von William Stern.

Bei der großen Rolle, die der fremdsprachliche Unterricht in unserem Schulwesen spielt, erscheint es fast unbegreiflich, daß die pädagogische Psychologie unserer Zeit diesen Gegenstand so sehr vernachlässigt hat. Woh arbeiten die Schulreformbestrebungen auf sprachdidaktischem Gebiet fast alle mit psychologischen Gesichtspunkten und Ausdrücken; aber an einer wissenschaftlichen Analyse mit Hilfe psychologischer Methoden fehlt es so gut wie ganzi), und die Psychologen selbst haben dieses Problem von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen leider noch unbeachtet gelassen. So ist es bezeichnend, daß von den 2400 Seiten der Meumannschen „Vor- lesungen" nur 9 den Methoden des Sprachunterrichts gewidmet sind. Die ausführlichste psychologische Abhandlung des Gegenstandes in deutscher Sprache ist das 1915 erschienene Buch von Rektor H. Kappert: „Psycho- logische Grundlagen des neusprachlichen Unterrichts" 2) ; aber auch hier handelt es sich mehr um eine theoretische Konstruktion der beim Sprach- unterricht mitspielenden seehschen Faktoren, als um eine wirklich empirische Erforschung des Tatbestandes und seiner einzelnen Bedingungen. Was an experimentell-psychologischen Untersuchungen vorliegt, bezieht sich fast aus- scMießlich auf das Erlernen von Vokabeln (Peterson, Schuyten, Netschajeff, Luise Schlüter) und ist, wie Kapper mit Recht bemerkt, noch nicht geeignet, eine wirkliche Grundlage für die wichtigen didaktischen Fragen zu liefern.

Nun liegt ein aus der französischen Schweiz stammendes Buch von I. Epstein über „das Denken und die Vielsprachigkeit" vor, auf das ich die Aufmerk- samkeit der deutschen Psychologen und Pädagogen lenken möchte. 3) Es stützt sich zwar auch nicht in erster Linie auf die psychologische Erforschung des Fremdsprachen lernenden Schülers, zieht aber sehr bemerkenswerte und auch für die Didaktik wichtige Folgerungen aus einem empirischen Material anderer Art, nämlich aus dem sprachlichen Verhalten vielsprachiger Er- wachsener. Der Verfasser hatte in Lausanne Gelegenheit, mit zahlreichen Persönlichkeiten zu verkehren, die außer ihrer Muttersprache eine oder mehrere Fremdsprachen gut beherrschten : es waren dies größtenteils jüdische Studierende, welche neben ihrer Muttersprache den jüdisch-deutschen Jargon, Hebräisch, Französisch, Deutsch, Russisch konnten, femer schweizerische Gelehrte, wie Forel und andere. An diesen machte er Beobachtungen und erzielte von ihnen Beantwortungen eines Fragebogens. (Daneben hat E. auch einige experimentelle Untersuchungen an Schulkindern über das Erlernen von Vokabeln angestellt.)

Der Verfasser beginnt mit der Feststellung der Tatsache, daß bei einem Vielsprachigen die einzelne fremde Sprache (F Sp.) eine gewisse Autonomie

') Der Hauptgrund für diese Vernachlässigung ist wohl darin zu sehen, daß die höhere Lehrerschaft (die ja in erster Linie am fremdsprachlichen Unterricht interessiert ist) so wenig Teilnahme für die moderne Jugendpsychologie bekundet hat.

2) Pädagogische Monographien, herausgegeben von Meumann, Bd. 15, Lpzg. Nemnich 1915. Mit Literaturverzeichnis.

^ Izhac Epstein. La Pensee et la Polyglossie. Essai psychol. et didactique. Lausanne, Librairie Payot et Cie. 216 S. 1918.

Die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen 105

besitzen kann, d. h. nicht erst auf dem Wege der Übersetzung in die Mutter- sprache (M Sp.) verstanden und angewandt wird. Der Sprecher assoziiert unmittelbar das FSp.-Wort mit dem Gedanken, er „denkt" in der FSp. Dies gilt in höherem Maße von der sprachlichen Rezeption (dem Hören, Lesen, Verstehen), als von der sprachlichen Aktion (dem Seibst-Sprechen oder Schreiben), weil hier bei dem Suchen nach dem zum Gedanken passenden Ausdruck das geläufigere Wort der MSp. sich vordrängt und dann erst das FSp.-Wort auf dem Wege der Übersetzung herbeiführt. Die Scheidung dieser beiden Sprachphasen, der „impressiven" (Eindrucks-) Phase und der „ex- pressiven" (Ausdrucks-) Phase spielt bei E. überhaupt eine große Rolle.

Diese Autonomie einer Fremdsprache kann sich auch in der „inneren Sprachform", also dem stummen Sprechdenken, bekunden. Der Vielsprachige überrascht sich selbst dabei, daß sich ohne Absicht und Willkür sein Vor- stellen und Denken, sein Träumen und Phantasieren in einer FSp. vollzieht, ohne daß irgendwelche sonst so geläufige Sprachgebilde der MSp. auch nur von fern auftauchten. Folgende Bedingungen begünstigen dies spontane Denken in der FSp.: 1. Die Vorstellung einer Umgebung, in der jene Sprache gesprochen wird, oder von Menschen, welche sie sprechen. 2. Das gedank- liche Verweilen bei einem Spezialgebiet, welches man in der FSp. aufge- nommen hat (wer als Fremder auf einer deutschen Universität eine bestimmte Wissenschaft studiert hat, wird leicht bei der Beschäftigung mit dieser Wissen- schaft in deutscher Sprache denken). 3. Die Nachwirkung einer länger fortgesetzten Lektüre oder Unterhaltung in der FSp.

Diese Bedingungen, welche das Verweilen in einer FSp. begünstigen, wirken zugleich ungünstig auf die Verwendung einer anderen Sprache (zuweilen sogar der Muttersprache); und so begegnen wir hier zum ersten Male dem sehr wichtigen Begriff der gegenseitigen Interferenz oder Hemmung verschiedener Sprachen. Beim plötzlichen Übergang aus einer Sprache in die andere machen sich diese Hemmungen deutlich bemerkbar, ebenso, wenn man mit jemandem in einer anderen Sprache spricht, als in der man sonst mit ihm verkehrt.

Dieser Antagonismus der verschiedenen von einer Person gesprochenen Sprachen wird nun nach verschiedenster Richtung analysiert. Stets übt die Sprache, die im Vordergrund des Bewußtseins steht, eine interferierende Wirkung auf die andere aus, mindestens mit dem Ergebnis einer Verlang- samung des Sprechaktes, oft auch mit dem Ergebnis einer Fälschung. Die Hemmungswirkungen erstrecken sieb: 1. Auf die Aussprache. Nicht deswegen, weil die Muskulatur mit steigendem Alter starrer wird, findet eine steigende Erschwerung in der Aneignung von Aussprachenuancen statt, sondern des- wegen, weil die von der Muttersprache bedingte Einstellung der Sprech- muskulatur sich überall hineindrängt. Auch schon die akustische Auffassung bewegt sich in der Linie der von der Muttersprache her geläufigen Klang- weisen, man überhört Abweichungen und kann sie daher auch nicht wieder- geben. 2. Auf EinSchiebungen von Wörtern der einen Sprache in das Gefüge der anderen (man denke an das Elsässer Deutsch oder an den mit hebräischen Worten durchsetzten deutsch-jüdischen Jargon). 3. Auf die ver- schiedenen Begriffsformulierungen: der Deutsche sagt: „Heller Tag", und ist geneigt, deshalb beim Gebrauch des Französischen „clair jour" zu sagen, w^ährend es „grand jour" heißt. E. bringt gerade hierfür eine große Reihe

106 William Stern

von Beispielen, so z. B., daß die Bedeutungen von „bouton" und „Knopf* sich nur zum geringsten Teil decken, in den weitaus meisten Anwendungen aus- einander gehen usw. 4. Auf die verschiedenen grammatischen Formen (Beispiel: „Kommen Sie, wann sie wollen", aber „venez quand vous voudrez"). 5. Auf Gedankenverkettungen und Wortstellungen.

Auf dieser Tatsache der sprachlichen Interferenz baut nun E. seine weiteren, insbesondere auch didaktischen Betrachtungen auf. Warum lernt das kleine Kind so viel leichter eine fremde Sprache als das ältere Kind und der Er- wachsene? Nicht weil das kleine Kind, wie oft behauptet wird, das bessere Gedächtnis habe dies ist vielmehr schwächer als in höherem Alter , sondern weil die Verbindung von MSp. und Gedankeninhalt noch nicht fest ist und daher keine so stark hemmende Wirkung auf das Sprechen der FSp. auszuüben vermag. Die größere Leichtigkeit im Erwerb der FSp. ist also eine Funktion der geringeren Beherrschung der MSp ! Die Folge ist, daß die FSp., wenn sie stark gepflegt wird, in kürzester Zeit die MSp. bis zum Ver- schwinden unterdrücken kann was häufig bei Kindern, die in ein fremd- i sprachiges Land kommen, beobachtet worden ist.

Das Nebeneinanderbestehen verschiedener Sprachen in einem Individuum ist demnach für E. im Wesentlichen eine Störungserscheinung: die feste, eindeutige und klare Verbindung von Gedanken und Ausdruck in der MSp. wird durch die FSp. gehemmt, verwirrt und gelockert; andererseits wird die wirkliche Beherrschung der FSp. durch die andersartige Sprachkonstellation der interferierenden MSp. unmöglich gemacht. Demnach ist das Erlernen von Fremdsprachen nach E. ein soziales Übel, das freilich zum Verständnis fremder Kulturen und zum Verkehr mit fremdsprachigen Menschen unver- meidUch ist, aber in seinen Einwirkungen möglichst auf ein Mindestmaß

(beschränkt werden sollte. Daraus ergeben sich für E. zwei hauptsächliche didaktische Folgerungen.

Die erste lautet: „polyglossie impressive et monoglossie expressive" (Viel- sprachigkeit im Aufnehmen, Einsprachigkeit im Anwenden der Sprache). Da sich die schädlichen Wirkungen der Hemmungen vor allem auf der Ausdrucksseite, beim Selbstsprechen und -schreiben, bekunden, so isoll diese Seite möglichst eingeschränkt, alles Gewicht dagegen auf die Ein- /drucksseite, das Hören, Lesen und Verstehen gelegt werden. Nur so viel soll an expressiver Betätigung gelehrt werden, als zur elementarsten praktischen Verständigung nötig ist (wovon auch noch das Wesentlichste dem Aufent- halt im fremden Land selbst überlassen werden kann). Aller sonstige Selbst- gebrauch der FSp.: in Aufsätzen, Extemporahen, Übersetzungen usw. ist zu unterlassen, da hierdurch das fortwährende Dazwischenkommen mutter- sprachUcher Einstellungen nur eine Fälschung beider Sprachen zur Folge hat. (Auch die ganz freie unsystematische Konversation wird verworfen.) Dagegen soll sehr viel Lektüre und Vortrag des Lehrers getrieben werden. (Charakteristisch ist, daß der Verfasser hier selbst auf die Methode des alten Ratichius hinweist, der ja auch das silentium pythagoricum des Schülers empfiehlt. Das von E. geforderte Prinzip steht im starken Gegensatz zu dem modernen Gi-undsatz der Selbsttätigkeit des Schülers.)

Das zweite Prinzip lautet: der Sprachunterricht muß möglichst günstige Bedingungen schaffen, um die fremde Sprache zur Autonomie zu führen, d. h., um die Interferenz zwischen MSp. und FSp. auf das geringste

Die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen 107

JMaß zu bringen. Deshalb bekämpft er vor allen Dingen die Übersetzungs- imethode; und hier legt E. den Finger in der Tat auf eine Wunde unseres TSp.-Unterrichts. Wenn der Schüler in seinem Übungsbuch oder seinem Schriftsteller jeden Satz übersetzt, so bedeutet dies, daß er während einer Stunde vielleicht hundertmal zwischen der FSp. und MSp. hin- und herpendelt, daß fortwährend die Assoziationen, Begriffsgruppieningen, Wortstellungen, Aussprechweisen der einen die andere durchkreuzen, daß dadurch viele Fehler im Gebrauch der Fremdsprache erst hervorgerufen und befestigt werden, daß ferner an die Aufmerksamkeit die aufreibende Zumutung gestellt wird, fort- während zwei Einstellungsgebiete zu wechseln. Will man dagegen die Auto- nomie der FSp. pflegen, so treibe man viel Lektüre, erst an einfacheren Stücken, dann an Schriftstellern, aber immer so, daß man in der FSp. selbst darüber reden kann; man sorge, daß das Verständnis aus dem Zusammen- hang des Textes selbst mit Hilfe von Deutungen und gefühlsmäßigen Ver- mutungen und unterstützt durch Bilder und Realien erwachse. Man benutze die früher erwähnten Bedingungen, welche die Autonomie und das spontane Denken in der FSp. unterstützen: daß sich die Stoffe der FSp. auf das fremde Land, seine Geschichte" und Kultur beziehen, daß die Person des Lehrers selbst / sofort die Einstellung auf die FSp. herbeiführe (derselbe Lehrer sollte also / nicht in mehreren FSp. unterrichten) usw.

i ^"Kuf weitere Einzelheiten der didaktischen Vorschläge braucht hier nicht eingegangen zu werden, zumal sie zum großen Teil den rein theoretischen Ursprung nicht verleugnen. Hier galt es, nur in großen Zügen die Gedanken- gänge des Verfassers zu zeichnen. Sie sind stark einseitig; aber sie bieten doch wertvolle Anregungen für eine weitere Bearbeitung des wichtigen Problems. Ihre Einseitigkeit beruht darauf, daß E. erstens fast nur Beobachtungen an Erwachsenen benutzt, um von da aus auf den Schulbetrieb der FSp. zu- rückzuschheßen, und daß zweitens seine Psychologie eine reine Assozia- Itionspsychologie ist. Deshalb arbeitet er nur mit den Assoziationen, die sich zwischen Gegenstand und Wort, zwischen Eindruck und Ausdruck zwischen FSp.-Wort und MSp.-Wort bilden; Festigung der Assoziationen be- trachtet er als einzige Aufgabe der Spracherlernung, die durch die Ver- schiedenheit der Sprachstruktur bewirkte assoziative Hemmung sieht er als , ein Übel schlechthin an. Was ihm fehlt, ist der Einschlag von Denk- \psychologie, durch die wir den assoziationspsychologischen Standpunkt überwunden haben. Die Abweichungen verschiedener Sprachen voneinander in Wortbedeutung, Syntax, Phraseologie, Grammatik führen nicht nur zu der assoziativen Erscheinung der Interferenz, sondern sind außerdem ein mäch- tiger Anstoß zu eigenen Denkakten, zu Tätigkeiten des Vergleichens und Unterscheidens , des Sich-Rechenschaftgebens über Umfang und Begrenzung der Begriffe, des Verstehens feiner Schattierungen der Wortbedeutung. Aus diesem Grunde haben viele Sprachpädagogen, in genauem Gegensatz zu E., behauptet, daß die Abweichungen der Sprachen voneinander nicht zu einer seehschen Hemmung, sondern zu einer seelischen Förderung führen, und daß das wahre Verständnis der MSp. erst gerade durch die FSp. und die Verschiedenheit beider hei beigeführt werde.

Mir scheint, daß in beiden Standpunkten Wahres steckt. Zweifellos ist es aber ein Verdienst von E., daß er den bisher vernachlässigten Gesichtspunkt der gegenseitigen Hemmungswirkung der Sprachen nun mit Nachdruck betont

108 William Stern, Die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen

hat, während bisher von den Sprachpädagogen fast immer nur der Gesichts- punkt der gegenseitigen Förderung hervorgehoben worden war. Besonders wichtig erscheint mir sein Nachweis, daß diese Hemmung nicht nur von der MSp. auf die FSp. ausgeübt wird (was er an den Schwächen der Über- setzungsmethode überzeugend nachweist), sondern daß auch umgekehrt die Muttersprache durch die Fremdsprachen geschädigt werden kann. Es ist noch gar nicht so lange her, daß der lateinische Aufsatz und die übermäßige Cicerolektüre unserer Gymnasiasten den deutschen Ausdruck in Sprache und Schrift ganz erheblich in ungünstigem Sinne beeinflußt hat; und daß ein übermäßiger oder verfrüht einsetzender FSp.-Betrieb auch jetzt noch entsprechende Folgen haben kann, erscheint mir zweifellos. Gerade der Hinweis E.'s, daß bei kleinen Kindern das Erlernen einer FSp. die Sicherung und Beherrschung der MSp. gefährdet, verdient Beachtung. Leider findet sich das verfrühte Parlierenlassen ganz kleiner Kinder nicht nur in 1 der allmähHch absterbenden Bonnen- und Gouvernantenerziehung; auch der I auf modernsten pädagogischen Grundsätzen aufgebaute Münchner Versuchs- I kindergarten läßt die 3 6 jährigen Kinder abwechselnd von deutschen I Kindergärtnerinnen in deutscher und von enghschen Kindergärtnerinnen in ^ englischer Sprache erziehen!

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule.

Von Ernst Haase.

(Schluß.)

3.

Wir wenden uns nun den Angaben des Fragebogens wieder zu.

Die erste Frage nach den Umständen, die Einfluß auf die Versetzung&- ergebnisse haben, war die: In welchem Maße wirkt der Wechsel der Schule auf die Versetzung ein? Es mußte dabei auseinandergehalten werden, ob der Schulwechsel gleichzeitig ein Wechsel des Schulsystems war oder ob er sich innerhalb unseres hallischen, also eines und desselben Systems abspielte. Daß ein Kind, das aus einer wenig ausgebauten Dorf- schule kommt, hinter den gleichaltrigen Genossen der Großstadt zurückbleibt, ist eine bekannte Erscheinung. Schwieriger ist schon die Frage, ob und in- wieweit die aus einem fremden Orte mit sieben- oder achtstufigen, also gleich- wertigen Systemen kommenden Kinder im allgemeinen mit den Altersgenossen Schritt halten, und noch schwieriger die, ob innerhalb der Stadt der Schul- wechsel, der also nur ein Wechsel des Schulhauses ist, Einfluß auf die Ver- setzung hat.

Bei den von auswärts kommenden Kindern ist im Fragebogen auseinander- gehalten, ob das Kind auswärts eingeschult und erst nachträgUch nach Halle gezogen ist oder ob es in Halle eingeschult, aber mindestens ein Jahr in einer auswärtigen Schule gewesen ist. Beide Gruppen zeigten bei der Aufrechnung wesentliche Übereinstimmung in den Versetzungs- zahlen, so daß es sich nicht lohnte, sie auseinanderzuhalten. Die Abweichungen waren ganz geringfügig und glichen sich überdies teilweise aus. Die Abtrennung der nur 15 o/o aller Auswärtigen umfassenden Gruppe derer, die nur vorüber-

Ernst Haase, Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 109

gehend auswärts gewesen sind, unterbleibt daher aus Gründen der Übersicht- lichkeit bei den folgenden Darlegungen.

Insgesamt machen die „Auswärtigen", wie wir diese Gruppe kurz bezeichnen wollen, fast 21 o/o der Gesamtmasse aus; davon kommen fast ISo/o auf aus- wärts Eingeschulte.

Von diesen 21^0 sind etwa 2 o/o aus Großstädten, etwa 6 o/o aus Mittel- und Kleinstädten, etwa 13 "/o aus Dörfern zugezogen.

Dabei haben die Innenbezirke einen stärkeren Zuzug zu verzeichnen als die Randbezirke, nämlich:

Innenbezirke: 267 Kinder (= 22 o/o) Randbezirke: 193 Kinder (= 19 o/o)

Die überschießenden 3 o/o der Innenbezirke entfallen ausschließUch auf Zuzug aus Städten, während der Zuzug aus Dörfern sich gleichmäßig auf Rand- und Innenbezirke verteilt (13 o/o).

Von den Auswärtigen erreichen:

(Die in Klammern beigefügten Zahlen sind die Durchschnittszahlen der Gesamtmasse).

Kl. I

350/0

(56)

II

28o'o

(23)

m

200/0

(15)

IV

130/0

(5)

V

40/0

(1)

Sie bleiben also ganz erheblich hinter dem Durchschnitt zurück. Natürlich sind an diesem schlechten Ergebnis vorwiegend die aus Dörfern kommenden Kinder beteiUgt. Die Zahlen der aus Städten kommenden sind nicht so un- günstig, aber auch sie stehen weit unter dem Durchschnitt, Es erreichen

Kl. I Kl. n Kl. m Kl. IV Kl. V von den Städtern: 49 0/0 26 0/0 16 0/0 70/0 2"/o;

von den Dörflern: 27 -/o 30 0/0 22 Oo I60/0 5 0/0.

Der Schulwechsel wirkt also auf alle Fälle ungünstig auf die Versetzung ein, auch wenn die Schulsysteme einander sehr nahe stehen. Ganz gewiß überstehen manche Kinder den Wechsel spielend. Aber wo bereits irgend- welche Schwäche vorhanden ist, da tritt er als mitwirkender Faktor hinzu und steigert die Wirkung der Schwäche dermaßen, daß sie zum Sitzenbleiben führt. Das zeigen uns schon die Zahlen der aus Städten zugezogenen Kinder deuthch genug.

Die Versetzungsverhätnisse der ehemaligen Dörfler sind überaus traurig; die Kinder, die den schweren Übergang aus der einfachen Dorfschule in die Großstadtschule ohne jede Zwischenstufe durchmachen müssen, sind zu beklagen. Das Heraustreten aus einfachen Verhältnissen in das ausgebaute System der Großstadtschule wird für viele von ihnen verhängnisvoll. Und zwar dürften es im allgemeinen weniger die Stofflücken sein, die das Kind mitbringt, als das Ungewohnte der größeren Leistungen, die die mehr ins Einzelne gehende Behandlung in der reicher gegliederten Schule erfordert, und das schnellere Tempo, in dem das Fortschreiten erfolgt.

Dabei darf eins nicht übersehen werden : Von der im allgemeinen seßhafteren Bevölkerung des Landes sind es nur die beweglichsten Elemente, die in die Großstadt ziehen, und das sind nicht immer die besten. Hier spiegelt sich also bis zu einem gewissen Grade der Einfluß des Lebenskreises in den Zahlen wieder. Statistisch ist diese Nebenwirkung nicht erfaßbar. Sie kann

110 Ernst Haase

auch ohne Schaden vernachlässigt werden, da das Verhältnis beider Ein- wirkungen aus anderen Zahlenreihen klar und sicher zu ersehen ist.

Unsere Schule würde ohne die belastenden Elemente der Auswärtigen günstigere Versetzungszahlen aufweisen, wie sich aus folgender Übersicht ergibt. Von den Ostern 1918 entlassenen Kindern machen in Kl. I m. II Kl. III Kl. IV/V die Auswärtigen: I30/0 26 0/0 28 0/0 55 0/0 aus, und zwar

Städter: 70/0 90/0 9 0/0 11 0/0

Dörfler: 6 0/0 17 0/0 18 0/0 44 0/0.

Die Versetzungszahlen der stets in Halle verbUebenen Kinder sind: Kl. I Kl. II Kl. m Kl. IV/V 620/0 220/0 130/0 30/0.

Sie sind also wesentlich günstiger als die Durchschnittszahlen. Die Zahl unserer Konfirmanden wih-de in den untersten Klassen noch nicht halb so groß, die in den 2. und 3. noch nicht 2/4 mal so groß sein, als sie jetzt tatsächlich ist, wenn der Zuzug von außen fortfiele.

Das legt fast den Gedanken nahe, für die aus sehr einfachen Schulverhält- nissen zuziehenden Kinder einige einfache Schulsysteme in der Stadt ein- zurichten, in denen sie nach einem vereinfachten Lehrplane unterrichtet würden. Die hohe Zahl dieser Kinder würde eine solche Einrichtung durchaus ermöglichen. Für uns erübrigen sich indessen vorläufig besondere Maßnahmen, da bereits vor dem Kriege die Einrichtung von Förderklassen nach dem Mannheimer System geplant und beschlossen war. Die Ausführung des Planes ist lediglich des Krieges wegen aufgeschoben. Die Schüler, von denen hier die Rede ist, würden wohl in erster Linie den Förderklassen zug bevölkern, und es muß nun erst abgewartet werden, wie weit diese Maßnahme für solche Kinder genügt.

Die nächste Frage ist die, welchen Einfluß die Umschulungen inner- halb der Stadt haben.

Die Statistik hat ergeben, daß die Kinder, die die Schule nie gewechselt haben, am günstigsten versetzt werden; die Kinder, die die Schule häufig gewechselt haben, am ungünstigsten. Von den Bodenständigen bis zu denen, die am häufigsten umgeschult sind, führt eine fast gleichmäßig ansteigende Stufenleiter der Verschlechterung über die einmal, zweimal, dreimal usw. Umgeschulten. Der Übersicht halber fasse ich die Kinder in drei Gruppen zusammen. Die erste umfaßt die nie Umgeschulten, die zweite die ein- bis zweimal, die dritte die dreimal und öfter Umgeschulten.

Es erreichen Kl. I Kl. H Kl. III Kl. IV/V aus Gruppe I: 71 0/0 140/0 I2O/0 3o/o

aus Gruppe II: 57o/o 26o/o 14 0/0 30/0

aus Gruppe III: 48 0/0 27 0/0 17 0/0 8 0/0.

Gruppe II, also die Gruppe der ein- bis zweimal Umgeschulten, entspricht annähernd dem Durchschnitt. Das kann nicht wundernehmen, da diese Gruppe von den Kindern, die nicht von auswärts gekommen sind, über 47 0/0, also beinahe die Hälfte ausmacht und daher die Durchschnittszahl am stärksten beeinflußt.

Im übrigen ist der Einfluß der Umschulungen ganz unverkennbar: Gruppe I hat sehr günstige Versetzungszahlen, Gruppe III bleibt erhebUch hinter dem Durchschnitt zurück.

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule IJl

Ich habe oben darauf hingewiesen, daß die günstigeren Versetzungszahlen in den Schulen der Randbezirke im Zusammenhange damit stehen, daß die Kinder der Randbezirke weniger häufig die Schule wechsehi als die der Innen- bezirke. Es muß an dieser Stelle der Beweis dafür erbracht werden, daß dieser Unterschied tatsächlich vorliegt.

Unter den Kindern, die Ostern entlassen wurden, sind

in den Randschulen : in den Innenschulen :

nie umgeschult 42 «/o 24®/o"

ein- bis zweimal 31®/o 44®/o

dreunal u. öfter 8«/o 10 o/o

(von auswärts sind 19^ ja gekommen) (22 o/o von auswärts).

Daß tatsächlich die Umschulungen es sind, die die Versetzungszahlen an dieser Stelle beeinflussen, geht noch daraus hervor, daß die Kinder der Rand- schulen in stärkerem Maße aus Lebenskreisen stammen, deren Versetzungszahlen nicht günstig sind, als es bei den Innenschulen der Fall ist. Der ungünstige Einfluß der Lebenskreise wird also nicht nur wettgemacht, sondern be- deutend überholt durch den Einfluß des Schulwechsels.

Der ungünstige Einfluß des Schulwechsels \^drkt sich natürhch in der Zusammensetzung der Konfirmandengruppe in den einzelnen Klassenstufen aus. Es werden entlassen aus

Kl. I

KI. n

Kl. ffl

Kl. IV/V

nie Umgeschulte:

41o'o

230 0

250 0

170/0

ein- bis zweimal Umgeschulte:

390/0

420/0

36 0/0

170/0

dreimal und öfter Umgeschulte:

8 0/0

100/0

110/0

110/0

(Auswärtige:

130/0

260'o

28o'o

550/0).

Geht man den Ursachen dieser Einwirkungen nach, so muß man zweierlei auseinanderhalten: Ein Teil dieser Umschulungen ist die Folge von Woh- nungswechsel, bei einem andern Teile handelt es sich um Zwangsum- schulungen, die von der Schule zum Ausgleich der Schülerzahlen der Klassen angeordnet werden.

Was den häufigen Wohnungswechsel angeht, so könnte man etwa folgende Vermutungen aussprechen : Leute, die häufig umziehen, sind zumeist solche, die wenig Ruhe an einer Stelle haben, oder die leicht mit Nachbarn in Unfrieden kommen, oder endlich, die wegen Unsauberkeit oder Liederlichkeit von den Hauswirten nicht lange geduldet werden usw. Die häuslichen Ver- hältnisse sind also der Erziehung nicht sehr günstig, und das wird sich naturgemäß in dürftigen Schulleistungen auswirken, die schließlich zum Sitzen- bleiben führen. Die Umschulung wäre dann nicht die Ursache der schlechten Leistungen, sondern sie wäre nur der Ausdruck für ungünstige häusliche Verhältnisse, und die Ursache des Sitzenbleibens wäre letztlich in diesen zu suchen.

Das trifft zweifellos in den meisten Fällen nicht zu. Der Gedankengang ist an sich ganz richtig, aber er erklärt nur einen Teil des Einflusses. Von den Zugvögeln ziehen nicht alle in andere Schulbezirke; ein Teil der Umzüge verläuft also ohne Schulwechsel. Die aber wirklich keine bleibende Stätte haben, sind nicht in sehr großer Anzahl vorhanden. Auf die äußersten Fälle des häufigen Schulwechsels mögen diese Erklärungen zutreffen.

Aber der Einfluß macht sich ja auf der ganzen Linie bemerkhch, nicht nur in einigen äußersten Fällen. Und der Vorsprung der nie Umgeschulten

112 Ernst Haase

vor den wenig Umgeschulten ist größer als der der wenig Umgeschulten vor den oft Umgeschulten. Also auch bei einem weniger häufigen Schulwechsel macht sich der Einfuß bemerklich. Die Voraussetzung ungünstiger häushcher Verhältnisse trifft auch auf eine sehr große Anzahl, wahrscheinlich auf die überwiegende Mehrzahl der Schulwechsler nicht zu. Sie fällt ganz fort bei den Zwangsumschulungen.

Die Zwangsumschulungen sind ein notwendiges Übel der Groß- stadtschulen. Infolge des Sitzenbleibens verringert sich bei ihnen die Zahl der Schüler nach den oberen Klassen hin. Das ganze Schulsystem verengt sich nach oben. Dadurch kommt es an einzelnen Stellen, die nicht für alle Schulen der Stadt gleich sind, zu Anhäufungen von Kindern, während an andern Lücken entstehen. In Schulen, die auf der Unterstufe und Mittelstufe mehr als zwei Parallelklassen auf einer Klassenstufe haben, ist es wohl oft möglich, diese Verschiedenheiten auszugleichen. Bei andern muß der Ausgleich von Schule zu Schule erfolgen, d. h. die Schule, bei der auf irgendeiner Klassenstufe bei der Versetzung eine Anhäufung von Kindern entsteht, muß ihren Überschuß abgeben an eine Nachbarschule, die an dieser Stelle Lücken aufweist. Es müssen also Umschulungen vorgenommen werden, die nicht im Anschluß an einen Umzug und ohne den Willen der Beteiligten erfolgen. Das sind die Zwangsumschulungen. Unter ihnen leiden am stärksten die Schulen, die im Innern der Stadt liegen, weil sie nach allen Seiten hin die Möglichkeit des Schüleraustausches haben, während die Randschulen immer nur nach wenigen Seiten hin austauschen können. Der Überschuß an Schulwechslern, den die Innenschulen gegenüber den Randschulen auf- weisen, dürfe ausschließlich oder fast ausschließlich auf die Zwangsumschulungen zurückzuführen sein.

Und hier zeigt sich genau dieselbe Wirkung auf das Sitzenbleiben wie bei den Randschulen, d. h. der größeren Zahl der Umschulungen entsprechen schlechtere Versetzungsverhältnisse. Es ist also hinsichtlich der Wirkung kein wesentlicher Unterschied zwischen Zwangsumschulungen und anderen Umschulungen zu erkennen; beide wirken in gleicher Weise schädlich.

Worin ist die Ursache dieser Wirkung zu erblicken? Da die zwangs- umgeschulten Kinder überall nach demselben Lehrplane unterrichtet werden, dieselben Bücher benutzen und auch sonst unter äußerlich ganz gleichen Bedingungen ihren Unterricht empfangen, so kann der Grund nicht in mangel- haftem Wissen oder Können an sich zu suchen sein. Auch die Stofflücken, die für Schüler, die von auswärts kommen, immerhin verhängnisvoll werden können, kommen hier nicht in Frage. Es kann sich nur um innere Gründe handeln.

Diese liegen zum Teil in der geringen Anpassungsfähigkeit vieler Kinder. Es ist eine bekannte Tatsache, daß viele Kinder erst lange Zeit brauchen, ehe sie sich in neue Verhältnisse schicken können. Die Ein- stellung nimmt ungewöhnhch lange Zeit in Anspruch, auch ohne daß tiefere Gemütserschütterungen mitsprechen. Ist nun der Rhythmus des geistigen Lebens überhaupt langsam, dann kann es kommen, daß ein solches Kind den Anschluß nicht rechtzeitig findet, und der geringste Mangel im Gebiete der Begabung bewirkt dann, daß es im Laufe des .Jahres das Klassenziel nicht erreicht.

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 113

Nicht unterschätzen darf man auch folgendes: Es gibt Kinder, die zur Unachtsamkeit oder zur Nichtbeteiligung neigen, und auch solche, die infolge von mangelhafter Begabung einer ständigen Nachhilfe bedürfen. Kommen diese häufig in andere Hände, so vergeht immer eine gewisse Zeit, bis der neue Lehrer die Eigenart des Kindes richtig erkannt hat und dem Kinde so viel Stütze gewähren kann, als es braucht. Dieser Umstand macht sich schon beim Klassenwechsel innerhalb einer Schule bemerklich; aber da ist ein Austausch der Meinungen und Erfahrungen unter den Lehrern leicht möglich, und der Schaden bleibt im ganzen gering. Beim Wechseln der Schule wird die notvv'endige Beobachtungsieit zu lang, und das wird für viele verhängnisvoll.

Bei vielen aber kommt hinzu, daß die neue, fremde Umgebung ihr Gemüt bedrückt und dadurch nicht nur verzögernd, sondern geradezu umgestaltend auf das Seelenleben einwirkt. Die „Impressionabilität des Kindes unter dem Einfluß des Milieu" (Baginsky) ist es, die bei vielen so stark einwirkt, daß sie sich erst spät, oft genug zu spät, in die neuen Verhältnisse einfühlen können. Dazu kommt das Zerreißen persönMcher Bande : Liebe zu dem Lehrer, zu Freunden, zum Schulzimmer. Stark gemütvoll veranlagte Kinder stehen lange unter dem Drucke eines Wechsels und leiden unter der Sehnsucht nach den seitherigen Verhältnissen, unter einem Heimweh nach der alten Schule. Solche Kinder empfinden etwas wie Groll gegen die neuen Verhältnisse, ver- halten sich ablehnend, zuweilen sogar widersetzlich. Das alles wirkt auf ihre Leistungen in der Schule ungünstig ein. Diese Einwirkung ist bei gewissen Kindern, besonders bei hysterisch veranlagten Mädchen von 12 14 Jahren oft außerordentUch nachhaltig und kann dann selbst einem normed begabten Kinde schädlich werden.

Es handelt sich bei dem ungünstigen Einfluß der Umschulungen also in erster Linie mn Gefühlswirkungen. Damit stimmt die Tatsache völlig über- ein, daß bei den Mädchen, die ja ganz allgemein mehr gefühlsmäßig ver- anlagt sind, die ungünstige Einwirkung der Umschulungen sehr viel stärker hervorh-itt als bei den Knaben.

Man vergegenwärtige sich noch einmal die Vereetzungszahlen der stets in Halle verbliebenen Kinder:

Kl. I Kl. n Kl. m Kl. IV/V 620/0 220/0 130/0 30/0

und messe daran die folgenden Zahlenreihen:

Gruppe I: Gruppe II: Gruppe III:

(nie Umgeschulte) (1 2mal Umgeschulte) (3 mal u. öfter Umgeschulte)

Md.

56o/o

290/0

120'o

30/0

nicht allzu viel vom Durchschnitt ab. Die der Gruppe I entspricht dem Durchschnitt ziemlich genau, die von Gruppe II und III verschlechtern sich stufenweise um einige Prozent. Gruppe III hat wesentlich dieselben Zahlen wie die Gesamtheit der Kinder einschließlich der Auswärtigen. Ganz anders die Zahlen der Mädchen. Die Versetzungs-

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. g

Kn.

Md.

Kn.

K1.I 620/0

800,0

580/0

n 200/0

8 0/0

220/0

m 130/0

100/0

170/0

IV/V 50/0

20/0

30/0

Die Reihen

der Kna

iben

weiche

Kn.

Md.

56o/o

400/0

230/0

320/0

140/0

200/0

70/0

8«/o.

114 Ernst Haase

zahlen der Gruppe I sind geradezu glänzend. Es ist bei weitem die beste Zahlenreihe in der ganzen Statistik. Aber schon die Gruppe II bleibt erheblich hinter dem Durchschnitt zurück; sie steht nur wenig über Gruppe III der Knaben. Die Gruppe lU aber weist ganz ungünstige Versetzungszahlen auf. Sie kommt dem Durchschnitt der Auswärtigen bedenklich nahe und bleibt hinter dem der aus anderen Städten kommenden Kinder zurück.

Der Einfluß der Umschulungen ist also unverkennbar ungünstig. Es wird Sache der Schule sein müssen, die Umschulungen nach Möglich- keit einzuschränken. Sie kann das nur, indem sie die Umschulung bei Umzügen erschwert und indem sie die Zwangsumschulungen einschränkt. Welche Maßnahmen hierzu im einzelnen zu ergreifen sind, das sind rein örtliche Fragen, die hier nicht zu behandeln sind. Nur zwei Gesichtspunkte will ich an dieser Stelle geben, die auch über den Rahmen unserer Stadt hinaus Bedeutung haben könnten: 1. Jede Schule muß so viel Klassen haben, daß ohne Zustrom von außen das Vorhandensein aller IClassenstufen in gleich- mäßiger Abnahme von unten nach oben gewährleistet ist. Das dürfte beim achtstufigen System etwa bei 16 18 Klassen der Fall sein. Jede Knaben- und jede Mädchenschule im achtstufigen System müßte also mindestens 16 Klassen umfassen. 2. Das Schulhaus solle möglichst mitten in seinem Schul- bezirk liegen und dieser soll möglichst kreisförmig sein. Dann werden bei Umzügen die Schulwege nicht leicht so stark wachsen, daß jedesmal ein Schul- wechsel erfolgen muß. Liegt das SchuUiaus am Ende eines langgestreckten Bezirkes, so kann schon der Umzug in einen Nachbarbezirk den Schulweg so ungebührhch verlängern, daß der Wunsch der Eltern nach Umschulung berechtigt erscheint. Diese zweite Forderung wird sich nirgends restlos durchführen lassen, weil man selbstverständlich überall mit den gegebenen Verhältnissen zu rechnen hat. Aber anzustreben ist ihre Erfüllung überall, und Annäherungen werden sich überall ermöglichen lassen.

4.

Die nächste Frage lautete: Hat etwa der Lehrplan eine Stelle, ander sich Schwierigkeiten häufen?

Es ist klar, daß jede sprunghafte Steigerung der Anforderungen von den Schülern, deren Versetzungsfähigkeit fraglich ist, einen Teil zum Sitzen- bleiben verdammt, der bei gleichmäßiger Steigerung das Klassenziel wohl er- reicht haben würde. In solchen Klassen, in denen die Anforderungen sprung- haft aufsteigen, muß natürlich die Zahl der Sitzenbleiber größer sein als in den andern.

In der einzelnen Schule ist die Frage, ob auf einer Klassenstufe die An- zahl der Sitzenbleiber infolge von Lehrplanschwierigkeiten abnorm hoch ist, gar nicht entscheidbar. Die verschiedene Zusammensetzung der einzelnen Klassen und die persönliche Eigenart des Lehrers schaffen in ihrem Zusammen- treffen eine solche Fülle von Zufallsmöglichkeiten, daß oft gerade die Klasse, in der die Planschwierigkeiten am größten sind, bei der Versetzung besser abschneidet, als eine andere, im Lehrplan wesentlich günstiger dastehende Klasse. Es bedarf einer großen Menge von Einzelfällen, wenn diese Zu- fälligkeiten ganz ausgeglichen werden sollen. Ob der Ausgleich erfolgt ist, ob also die Zahlen als einwandfrei betrachtet werden können, das zeigt sich darin, daß verschieden gelegte Durchschnitte durch die Zahlenmasse im wesent-

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschiile 115

liehen dieselben Verhältnisse aufw'eisen. Gerade an dieser Stelle, wo der Zufall so mannigfach mitspielen kann, war doppelte Vorsicht geboten. Das Ergebnis kann ich nach sorgfältiger Nachprüfung als einwandfrei bezeichnen.

Es sind sitzen geblieben:

in m. 8 Kl. 7 Kl. 6 Kl. 5 KL 4 Kl. 3 Kl. 2

7,50/0 10,20/0 8,80 0 11,50/0 8,70/0 6,70/0 2,6 0/0 der Gesamtheit.

Der Durchschnitt für jede Klasse beträgt 7,97, also rund 80 0. Für Knaben ist er etw'as höher, nämlich 8,6, für die Mädchen niedriger, nämUch 7,2. In der vorstehenden Übersicht stehen erheblich über dem Durchschnitt die Klassen

7 und 5; weniger hoch, aber immer noch über dem Durchschnitt Klasse 6 und 4. Die Klassen 8, 3 und 2 stehen unter dem Durchschnitt. (Für Klasse

8 ist diese günstige Stellung aber nur scheinbar vorhanden, wie sich später zeigen wird.) Das gleiche Ergebnis erhalten wir, wenn wir die verschiedenen

Durchschnitte

nebeneir

lan

der stellen:

in Kl.

Knaben :

Mädchen :

Randschulen :

Innenschulen:

8

8,10/0

6,9 Oo

6,60 0

8,3 Oo

7

10,3 Oo

10,0

9,8^/0

10,5 ^0

6

10,50/0

(!)

7,20/0

8,70/0

8,9 Oo

5

13,40/0

9,70/0

12,20/0

10,90/0

4

9,50/0

8,00/0

8,00/0

9,20/0

3

6,90/0

6,50/0

4,70/0

8,30/0

2

2,80/o

2,40/0

1,6 0/0

3,50/0

Es k

ann

keinem

Zweifel unterlieg

en: An allen

Stellen haben die

Klassen 7 und 5 die höchsten Zahlen. Eine einzige Ausnahme tritt bei den Knaben hervor, insofern, als Klasse 6 um 0,2 0 0 ungünstiger dasteht als Klasse 7. Eine andere Abweichung, die aber keine Ausnahme von der obigen Regel darstellt, zeigt sich darin, daß bei den Mädchen Klasse 7 ungünstiger dasteht als Klasse 5, während sonst das Verhältnis umgekehrt ist.

Indessen bedürfen die Zahlen einer Berichtigung, ehe man Schlüsse aus ihnen ziehen kann. Es sind nämlich erstens die Kinder nicht mit ein- gerechnet, die aus Klasse 8 6 zur Hilfsschule gekommen sind, und zweitens ist dem Umstände nicht Rechnung getragen, daß die Kinder, die aus Klasse 5 3 entlassen werden, keine Möglichkeit mehr haben, in einer der höheren Klassen sitzen zu bleiben. Zieht man die Hilfs- schüler hinzu (bis Klasse 6) und vermindert man die Gesamtzahl der Schüler von Klasse zu Klasse um die Zahl der Konfirmanden, die aus der betr. Klassen- stufe entlassen werden, so ergeben sich folgende Zahlen:

Kl. 8 Kl. 7 m. 6 Kl. 5 Kl. 4 Kl. 3 Kl. 2 12,10/0 12,OOo 8,90/0 11,50/0 8,8o/o 7,10/0 3,30/„

Der Durchschnitt beträgt dann 9,1 "/o. Hier zeigt sich wieder das Hervor- treten der Klassen 7 und 5 und zwar überwiegt diesmal Klasse 7 über 5. Zugleich aber tritt Klasse 8 sehr stark hervor. Bei diesen Zahlen kann man wiederum Bedenken hegen, ob man sie so, wie sie sind, zu weiteren Schluß- folgerungen verwenden soll; obgleich sie zweifellos die Verhältnisse am ge- nauesten wiedergeben. Man kann nämlich darüber im Zweifel sein, ob man die Hilfsschüler mit berücksichtigen soll oder nicht. Es kann das Bedenken geltend gemacht werden, daß die meisten von ihnen abnorm seien und da- her bei Feststellung des Planes für normale Kinder nicht berücksichtigt werden

116 Ernst Haase

dürften. Aber selbst unter voller Würdigung dieses Einwandes erscheint mir die Zahl der Sitzenbleiber in Klasse 8 so hoch, daß ich Bedenken trage, sie mit diesem Hinweis abzutun. Die Hilfsschüler sind ja nicht alle abnorm. Manche von ihnen werden sicher nur Kinder mit langsamer Ent- wicklung sein; von diesen wären die Grenzfälle zweifellos noch zu gewinnen, wenn die Anforderungen im 1. Schuljahr herabgesetzt würden. Unter dieser Voraussetzung bleiben also drei „scharfe Ecken" im Lehrplane zu berück- sichtigen: Klasse 8, 7 und 5.

Die Statistik hat also ergeben, daß tatsächlich ein Teil des Sitzenbleibens auf schwierige Stellen des Lehrplans zurückzuführen ist

Bei einer Neubearbeitung des Lehrplans wird auf diese Stellen ein beson- deres Augenmerk gerichtet werden müssen. Diese Klassen bedürfen einer Entlastung. Die eingehende Untersuchung darüber, worin diese Entlastung bestehen muß, würde zu weit in eine rein örtliche Angelegenheit hineinführen. Doch kann ich so \äel andeuten, daß in Klasse 8 und 7 sowohl das Lesen als auch das Rechnen reichlich besetzt sind. Im Lesen ist in 8 und im 1. Halbjahr von 7, also in 1 '2 Jahren die gesamte Druckschrift deutsch und lateinisch, ein- schheßlich der für die Kleinen m. E. ganz entbehrlichen Lautzeichen qu, chs, ch, ph, y, ti (= zi) und x zu erledigen. Infolgedessen bleibt bei vielen Kindern die Lesefertigkeit mangelhaft. Im Rechnen hat die 8, Klasse die Zahlenkreise 1 10 und 1 20 zu erledigen, so daß die für Anfänger so überaus schwierigen Überschreitungen des Zehners beim Zusammmenzählen und Abziehen in das Stoffgebiet des 1, Schuljahres fallen; die 7. Klasse, die den Zahlenramn 1 100 durchzurechnen hat, krankt dann an der Unsicherheit der grundlegenden Übungen, da die Überschreitung der 10 in der 8. Klasse für einen Teil der Schüler zu schwer gewesen ist. In Klasse 5 dürfte die Schwierigkeit aus- schließlich im Rechenplane liegen, der den ganzen unbegrenzten Zahlenraum mit den schwierigen Formen des schriftlichen Rechnens und das gesamte Rechnen mit mehrfach benannten Zahlen vorschreibt. Die Einführung aller Währungszahlen, auch der über Raumgrößen, zu einer Zeit, wo die Raumvor- stellungen nur sehr dürftig entwickelt sind, wie dies im vierten Schuljahre noch der Fall ist, ist zum größten Teile vergebliche Mühe, wie die ewigen Verwechslungen der Flächen- und Körpermaße in den oberen Klassen zeigen. Für viele Kinder aber wird der Rechenstoff dadurch so überlastet, daß sie das Klassenziel nicht erreichen.

5.

Die nächste Frage: Hat die Geschwisterzahl Einfluß auf das Sitzenbleiben? könnte befremden. Und mancher Lehrer wird geneigt sein, diese Frage aus seiner Erfahrung heraus dahin zu beantworten, sie beeinflusse die Versetzung günstig. Es ist eine bekannte Erfahrungstatsache, daß in manchen kinder- reichen Familien ein Kind vom andern lernt.

Dennoch ist im allgemeinen das Gegenteil richtig. Die große Geschwister- zahl scheint hemmend zu wirken. Das war mir schon bei früheren Erhebungen über das Sitzenbleiben aufgefallen, und die Statistik bestätigt es. Allerdings ist der Einfluß gering und die Wirkung zweifellos indirekt. Vorhanden ist die Beziehung aber sicher.

Bevor wir der Frage selbst nachgehen, müssen wir erst im allgemeinen die Kinderzahl in den Familien unserer Schüler kennen lernen. Nach der vorliegenden Erhebung gestaltet sie sich an den Volksschulen so :

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in' der Volksschule 117

Es stammen aus Familien mit

einem Kinde: 101 Konfirmanden == b^io

2 Kindern: '313 ^ = 14 »/o

3 423 = 19 »/o

4 455 =-~- 21 o/o

5 .. 332 ., = 150/0

6 . 245 . = 110/0

7 142 = 6O/0

8 115 . = 5»/o

9 . 52 , 20/0

10 19 = fast lo'ö

mehr als 10 8 = ^3^/o.

Hiemach sind FamiUen mit vier Kindern am reichsten vertreten. Die FamiUen mit 3 5 Kindern machen fast genau 55 0 0 der Gesamtmasse aus, also über die Hälfte. Die durchschnittliche Kinderzahl des Jahrganges ist 4,36. Das ist eine erfreuUche Höhe in einer Zeit, in der der Geburten- rückgang in Deutschland anfängt bedrückend zu werden. Auch das ist ein erfreuliches Zeichen, daß die Zahl der FamiUen mit einem Kinde so gering ist, daß erst die Familien mit 8 Kindern eine ähnlich niedrige, aber immer noch höhere Zahl erreichen.

Interessant ist, daß die Randschulen mit 4,6 eine höhere durchschnitt- liche Kinderzahl aufweisen, als die Innenschulen mit 4,2, und die Knaben- schulen mit 4,38, eine etv^'as höhere als die Mädchenschulen mit 4,34. Das dürfte damit zusammenhängen, daß die kinderreicheren Arbeiterfamihen in den Randschulen und in den Knabenschulen verhältnismäßig stärker vertreten sind. Auch sprechen vielleicht für die Randschulen die gesünderen Wohnverhält- nisse und die damit zusammenhängende weniger große Kindereterblichkeit mit.

Nach dieser Übersicht, die, wie schon bemerkt, noch kein unerfreuliches Bild bietet, wenden wir uns nun den Versetzungsverhältnissen zu. Zur Ver- einfachung fassen wir die Schüler in drei Gruppen zusammen. Ursprünglich hatte ich vier Gruppen vorgesehen: solche aus kinderarmen Familien mit 1 2 Kindern (Gruppe A), solche aus normalen Familien mit 3 5 Kindern (Gruppe B), solche aus kinderreichen Famihen mit 6 8 Kindern (Gruppe C), und solche aus kinderreichsten Famihen mit mehr als 8 Kindern (Gruppe D). Da aber in Gruppe D keine wesenÜiche Abweichung von C, besonders keine merkhche Verschlechterung festzustellen ist, so können beide als Gruppe C zusammengefaßt werden. Es erreichen von

Gruppe A: Gruppe B: Gruppe C:

(Kinderarme Famihen). (Normale Famihen). (Kinderreiche Famihen).

Kl. I: 620/0 58 0/0 48 «Vo

200/0 21 "/o 26 0/0

I30/0 140/0 18 0/0

40/0 60/0 70/0.

Aus diesen Reihen geht unzweideutig hervor, daß zwischen der Kinder- zahl der Familie und der Versetzungsfähigkeit des Kindes eine ganz bestimmte Beziehung besteht in der Weise, daß Kinder aus kinder- armen Familien bessere Versetzungszahlen aufv^'eisen als solche aus kinder- reichen Famihen.

II

ffl

IV/V

118 Ernst Haase

Demgemäß setzen sich die Konfirmandengruppen der einzelnen Klassen folgendermaßen zusammen :

Kl. I:

Kl. H:

Kl. ni:

Kl. IV:

Kl. V:

Gruppe A

21 «/o

17 "'/o

170/0

150/0

40/0

« B

56 "/o

530/0

510/„

570/0

500/0

. c

230/0

30<'/o

320/0

28 0/0

46 "/o.

Diese Zahlenreihen

würden

ganz

gleichmäßige

Steigerungen aufweisen.

enn nicht eine

Zahl störte.

Es sind

die 570/0

der Gruppe

B in Kl. IV.

Diese Zahl ist zu hoch, schätzungsweise 6 7"/o. Würde man diese noch auf Gruppe C verrechnen, so wäre die Steigerung völlig gleich- mäßig. Es handelt sich hier offenbar um eine zufällige Erscheinung: In Kl. IV bedeuten 6 70/„ 7—8 Kinder. Diese Zahl würde beispielsweise in Kl. I oder 11 nur ein Mehr oder Minder von höchstens 1 Vä'Vo bedeuten, also die Zahlenverhältnisse kaum beeinflussen. Bei der geringen Zahl der Kon- firmanden in Kl. IV erscheint dagegen durch diesen Zufall das Verhältnis erheblich gestört.

Worin mag der Grund für die Beziehungen zwischen der Kinder- zahl der Familien und den Versetzungszahlen zu suchen sein? Sicher ist wohl anzunehmen, daß unter den kinderreichen Familien vorwie- gend die Familien der ungelernten Arbeiter sind. Wenn das auch nicht im einzelnen aus der Statistik nachgewiesen werden kann, so geben doch die oben mitgeteilten Zahlen Aufschluß darüber, daß diese Vermutung zutrifft; denn es sind hinsichtlich der hohen Kinderzahlen im Übergewicht:

1. die Randschulen (4,6 0/0) gegenüber den Innenschulen (4,2 "/o),

2. die Knabenschulen (4,38 "/<)) gegenüber den Mädchenschulen (4,34 0/0). Das Übergewicht bei den Randschulen gegenüber den Innenschulen ist er- heblicher als das der Knabenschulen gegenüber den Mädchenschulen.

Das entspricht ganz dem Zahlenverhältnis der Kinder der ungelernten Ar- beiter, die

in den Randschulen 28 ."^/o, in den Innenschulen nur 21 0/0, ferner

in den Knabenschulen 27 0/0, in den Mädchenschulen 22 0/0 betragen.

Hier ergibt sich also ein ParalleUsmuB der Zahlen, der sicher nicht zu- fällig ist, da er bei keiner anderen Gruppe von Kindern wiederkehrt.

Wir entnehmen daraus, daß die größten Kinderzahlen im allgemeinen in der Gruppe der ungelernten Arbeiter auftreten. Diese Gruppe aber ist zugleich die, deren Kinder (nächst den wenigen Vollwaisen) die ungünstigsten Versetzungszahlen aufweisen. Hätten andere Lebenskreise höhere Kinder- zahlen, dann würde unsere Übersicht sicher anders aussehen.

Die größere Kinderzahl in der Familie ist also sicher nicht unmittelbar der Grund für das häufigere Sitzenbleiben, sondern sie ist nur das Symptom für das reichlichere Auffa-eten einer Gruppe von Kindern, die aus anderen Gründen zum Sitzenbleiben neigen.

Daneben mögen allerdings zwei Gründe auch unmittelbar mitwirken:

a) Die große Kinderzahl ist in manchen Familien nur der Ausdruck eines ungebändigten Trieblebens der Eltern. Hier mag Vererbung dieser ungünstigen Naturanlage die Leistungen des Kindes unmittelbar beeinflussen. Auch wird in solchen Familien die Erziehung leicht im argen liegen.

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 119

b) Die Eltern können bei einer großen Kinderzahl sich um das einzelne Kind nicht so kümmern, wie es wünschenswert wäre. Dieser Grund erscheint so einleuchtend und so naheliegend, daß er wohl stark überschätzt werden dürfte. Ich messe ihm keine allzu hohe Bedeutung bei. In einer Familie, in der Ordnung herrscht und in der sich die Eltern um die Erziehung der Kinderkümmern, pflegt die große Reihe der Kinder eher bildungfördernd als bildunghemmend zu \^^rken. Das einzelne Kind wächst in eine straffere Ordnung hinein, wird, da es den anderen helfen muß, früher selbständig, ist weniger verwöhnt, wächst, weil es auch zu Hause ein Glied einer Masse ist, leichter in das Schulleben hinein, empfängt von den andern mancherlei Hilfe usw. Das alles ist nicht zu unterschätzen, und jeder Lehrer kennt kinderreiche Familien, deren Kinder stets zu seinen besten Schülern gezählt haben. Wo die Kinderzahl ganz besonders hoch ist, da mag allerdings der Umstand mitsprechen, daß die Mutter so überarbeitet ist und von häusüchen Sorgen so in Anspruch genommen wird, daß sie die Ordnung nicht so straff zu halten vermag, wie sie möchte. Sonst aber dürfte in ordentlichen Familien eine hohe Kinderzahl eher günstig als ungünstig wirken. In solchen Familien hingegen, wo der Erziehung wenig Wert beigelegt wird und wo die häusUche Ordnung gering ist, wird auch die kleinste Kinderschar vernach- lässigt. Es ist wahrscheinlich, daß in diesem Falle eine große Reihe von Kindern noch stärker leidet als wenige Kinder; aber die Kinderzahl selbst wirkt dann höchstens steigernd oder herabsetzend: den eigentlichen Aus- schlag geben die häusUchen Verhältnisse.

Es ist hiernach dreierlei zu beachten :

1. Die Kinderzahl der Famihe wirkt unmittelbar wohl nicht auf die Ver- setzungsfähigkeit der Kinder ein. Wenn also eine Beziehung zwischen beiden vorhanden ist, wie es nach unserer Statistik tatsächlich der Fall ist, so ist diese nur mittelbar.

2. Die Unterschiede zwischen den Versetzungszahlen der Kinder aus kinder- armen und kinderreichen Familien sind nicht groß. Das spricht dafür, daß die Beziehungen zwischen Kinderzahl und Versetzungsfähigkeit nur lose sind, daß sie also überhaupt nur mittelbar sind, oder sofern sie doch unmittelbar sein sollten, auf eine nur schwache Einwirkung hinweisen.

3. Nicht unbeachtet darf bleiben, daß die Kinder aus Familien der Gruppe B, also bis zu 5 Köpfen günstiger abschneiden als der Durchschnitt.

6.

Die Frage, ob es ungünstig auf die Versetzung der Kinder einwirkt, wenn sie erwerbstätig sind, müßte auf Grund unserer Statistik eigentlich glatt ver- neint werden. Wir wollen uns vorsichtigerweise so ausdrücken : Ein ungün- stiger Einfluß der Erbwerbstätigkeit der Kinder läßt sich zahlemnäßig nicht nachweisen.

Es sind erwerbstätig:

von der Gesamtheit: von den Knaben: von den Mädchen: Kl. I: 18,50/0 210/0 160/o

170/0 21 »/o 14»/o

130/0 150/0 11 «/o

n m

IV V

":;: | -»/» ii:;: j >«»/» ^:{: j »»/.

120 Ernst Haase

Hier ist nach den unteren Klassen hin keine Steigerung, sondern eher eine Abnahme zu bemerken.

Aber gerade diese Zahlen führen leicht irre; denn sie beziehen sich auf die Erwerbstätigkeit zur Zeit der statistischen Erhebung, also im letzten Schuljahre der Kinder, Bei den Fällen früheren Sitzenbleibens hat diese Beschäftigung überhaupt nicht mitgewirkt. Hinsichtlich der Erwerbstätigkeit der früheren Jahre aber geben diese Zahlen keinen Anhalt. Es ist bei uns in vielen Familien üblich, daß die Kinder im letzten Schuljahre mit verdienen helfen, während sie bis dahin keine Nebenarbeit zu verrichten hatten. Ja, manche Familien verschieben dieses Mitverdienen auf das letzte Halbjahr vor der Entlassung mit dem ausgesprochenen Zwecke, das Kind solle sich seine „Konfirmationskleidung " (gemeint ist ganz allgemein die Ausrüstung für den Eintritt ins Leben), selbst verdienen oder mitverdienen helfen.

Das eine läßt sich mit voller Bestimmtheit sagen: Die hier angeführten Zahlen sind wesentlich höher als die, die sich ergeben würden, wenn die Er- werbstätigkeit in früheren Jahren, die also Einfluß auf die Versetzung gehabt haben könnte, zahlenmäßig erfaßt würde. Und da diese viel zu hohen Zahlen durchweg nicht über 21 o/o (im Durchschnitt 17,3 o/o) betragen, so wird der Einfluß der Erwerbstätigkeit im allgemeinen nur gering zu veranschlagen sein.

Das widerspricht der landläufigen Meinung. Aber es ist dabei folgendes zu bedenken : Die Kinder, die zu geregelter Arbeit herangezogen werden, ent- stammen nicht den allerschlechtesten Verhältnissen, und die Erwerbstätigkeit, die sich überhaupt zahlenmäßig erfassen läßt, ist meist nicht derartig, daß sie das Kind übermäßig in Anspruch nimmt. Kinder, die sich den ganzen Tag auf der Straße umhertreiben, ohne daß sich die Eltern um sie kümmern, sind in Hinsicht der geistigen Entwicklung viel schlechter ge- stellt als solche mit mäßiger und vor allem geordneter Erwerbsarbeit.

Meist werden die Kinder der Famihen, in denen übermäßige Heimarbeit herrscht, Opfer der Nebenarbeit. Bei uns wurde im Frieden viel leichte Papier- arbeit betrieben, die von Kindern ausgeführt werden konnte, aber im allge- meinen wenig lohnte und daher zu übermäßiger Ausdehnung veranlaßte.

Das Kinderschutzgesetz gewährt den Eltern in solchen Fällen verhältnis- mäßig viel Freiheit, und noch mehr nehmen sich manche von ihnen eigen- mächtig heraus, ohne daß ihnen beizukommen wäre. Oft ist es wirklich wirtschaftliche Not, die zu solcher Ausbeutung der Kinderkraft zwingt. Nicht selten aber ist Arbeitsscheu der Eltern die Ursache. Nach meinen Erfahrungen sind arbeitsscheue Eltern die allerschlimmsten und rücksichtslosesten Ausbeuter der Kinderkräfte.

Ganz schlimm sind die Kinder daran, die systematisch zum Betteln an- gehalten werden. Auch das kommt fast nur in Familien vor, in denen der Vater oder die Mutter oder beide Eltern arbeitsscheu sind.

Diese beiden Fälle, Anhalten zu übermäßiger Heimarbeit und ziu- Bettelei, sind aber diwchaus als Ausnahmen zu betrachten. In unserer Statistik sind sie nicht besonders erfaßt worden, sie würden nur einen ganz geringen Prozentsatz ausmachen.

Die Heranziehung der Kinder zur Erwerbstätigkeit ist bei uns alles in allem nicht so groß und, wie noch einmal betont sei, ihr Einfluß auf das Sitzenbleiben ist zahlenmäßig nicht nachweisbar. Abgesehen von einer kleinen

Die äoßeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 121

Gruppe trauriger Ausnahmefälle dürfte ihr Einfluß nur gering zu veran- schlagen sein.

7. Eine sehr wichtige Frage war die, welchen Einfluß der Lebenskreis auf die Versetzungsfähigkeit des Kindes hat. Zu diesem Zwecke waren die Konfirmanden gruppiert in Kinder von:

a) ^Arbeitern (ungelernt),

b) Fabrikhandwerkern (und angelernten Fabrikarbeitern),

c) sonstigen Handwerkern.

d) Kaufleuten und Gewerbetreibenden aller Art,

e) Beamten,

f) alleinstehenden Frauen (Wit\\-en, ledigen Müttern, eheverlassenen Frauen).

g) Die Vollwaisen bildeten eine besondere Gruppe.

Gruppe d ist als Sammelgruppe für die Berufe gedacht, die sich ander- weitig schwer unterbringen lassen. Von dem handeltreibenden Element schicken im allgemeinen höchstens Kleinhändler (Inhaber von Gemüseläden, Viktualienkellern usw.) ihre Kinder, wenigstens ihre Mädchen, zur Volksschule. Deren Zahl aber ist gering. Deshalb ist ihnen keine Sondergruppe eingeräumt; selbst mit allen sonstigen Berufen zusammen ist die Gruppe d noch immer nicht groß.

Die Gesamtmasse der Schüler setzt sich folgendermaßen zusammen:

a

b

c

d

e

f

g

(Ar-

(Fabrik-

(Hand-

(Gewerbe-

(Be-

(alleinst.

(Voll-

beiter)

handw.)

werk.)

treibende)

amte)

Frauen)

waisen)

Gesamtheit .

240 0

I900

24O0

70/0

130/0

120/0

10/0

Knaben . . .

270,0

190 0

240,0

50/0

110/0

130/0

lO/o

Mädchen . .

220/0

190 0

250/0

8O/0

140/0

110/0

10/0

Randschulen

280;0

210 0

200 0

60/0

130/0

100/0

10/0

Innenschulen

21o'o

I6O.0

280/0

70/0

120/0

I4O0

lO/o

Hilfsschule .

540/0

70 '0

40/0

30/0

30/0

220/0

70/0

Geringe Unterschiede, die aber sehr bezeichnend sind, bestehen zwischen den Lebenskreisen, aus denen die Knaben, und denen, aus denen die Mäd- chen stammen: die kleinen Handwerker, mehr aber noch die Gewerbetreiben- den aller Art und die Beamten schicken verhältnismäßig mehr Mädchen als Knaben zur Volksschule. In diesen Kreisen, die die Schulbildung zu schätzen ^vissen, werden bei uns in der Regel die Knaben zur Mittelschule geschickt, während man die Mädchen, bei denen man eine geringere Bildung für aus- reichend hält, mit Rücksicht auf die Kosten zur Volksschule gehen läßt. Teil- weise hieraus erklärt sich der niedrigere Prozentsatz der Arbeiterkinder unter den Mädchen. Doch ist bei diesen auch die absolute Zahl kleiner als bei den Knaben. Die Mädchen entstammen also im allgemeinen „besseren" Lebenskreisen als die Knaben.

Der Unterschied der Randschulen gegenüber den Innenschulen ist in erster Linie charakterisiert durch ein starkes Übergewicht der Kinder von Arbeitern und Fabrikhandwerkem in den Randschulen. Das hängt natürlich damit zusammen, daß die Arbeiter und Fabrikhandwerker meist in den Außen- teilen der Stadt wohnen.

Sehr bemerkenswert ist das mächtige Vorherrschen der Kinder ungelernter

122 Ernst Haase

Arbeiter in der Hilfsschule: Mehr als doppelt so groß als in der Volksschule ist ihr Prozentsatz, während die Gruppen b e stark zurücktreten.

Arbeiter: Gruppe b e:

Volksschule: 24 o/o 630/o

Hilfsschule: 54 o/o 10 o/o

Ferner fällt das starke Übergewicht der Kinder alleinstehender Frauen und der Vollwaisen in der Hilfsschule auf:

Kinder alleinst. Frauen: Vollwaisen: Volksschule: 12 o/o lO/o

Hilfsschule: 220/o 70/0

Über die Gründe dieser Zahlenverschiebungen vergleiche man die folgen- den Abschnitte.

Wie verhält es sich nun mit der Versetzungsfähigkeit der einzelnen Gruppen? Es erreichen:

a

b

c

d

e

f

g

(Ar-

(Fabrik-

(Hand-

(Gewerbe-

(Be-

(alleinst.

(Voll-

beiter)

handw.)

werker)

treibende)

amte)

Frauen)

waisen)

I

490/0

600/0

600/0

600/0

61 0/0

490/0

480/0

II

190/0

220/0

230/0

200/0

280/0

260/0

140/0

ni

210/0

130/0

130/0

150/0

100/0

150/0

240/0

IV/V

100/0

50/0

40/0

50/0

10/0

90/0

140/0

Kl.

Diese Übersicht zeigt, daß die sieben Gruppen sich in zwei scharf vonein- ander getrennte Hauptgruppen scheiden lassen: eine Gruppe besserer Kinder, umfassend die Gruppen b e, und eine Gruppe weniger guter, um- fassend die Gruppen a, f und g.

Die bessere Gruppe, sie möge als I bezeichnet werden, umfaßt die Kinder der Fabrikhandwerker, Handwerker, Gewerbetreibenden aller Art und Beamten, also alle die, deren Väter einen Beruf ausüben, für den sie irgendwie vor- gebildet sind, sei es durch regelrechte Lehre, sei es durch Anlernen usw. Diese Kinder erreichen zu 60— 61 0/0 die I. Kl., und in der IV/V bleiben höchstens 50/0 hängen.

Die schlechtere Gruppe (II) umfaßt die Kinder ungelernter Arbeiter, also die Kinder von Leuten, die keinen Beruf erlernt haben, und die vielfach nicht einmal geregelte Arbeitsverhältnisse haben (Gelegenheitsarbeiter), ferner die Kinder alleinstehender Frauen und die Vollwaisen. Diese Kinder erreichen nur zu 48 49 0/0 die I. Klasse, und in der IV/V, bleiben über 9 0/0 hängen.

Bemerkenswert ist hier wieder die Tatsache, daß die Mädchen etwas stärker durch die Lebensverhältnisse beeinflußt werden als die Knaben.

Es erreichen nämüch:

Aus Gruppe I: Aus Gruppe II:

Kn.

Md.

Kl. I:

560/0

630/0

n:

240/0

230/0

ni:

140/0

110/0

IV/V:

50/0

30/0

In beiden Gruppen ist für die Mädchen etwas größer als die bei den Knaben.

Kn.

Md.

480/0 220/0 190/0 110/0

500/0

210/0

190/0

90/0

Jtreubreii

te der Zahlenreihen

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 1 23

Sehr bezeichnend ist

natürUch wieder

die

Z

usam m ensetzung der

Klassen :

Gruppe I:

Gliippe 11:

KL I

670 0

330,0

n

640/0

860/0

m

: 510,0

490/0 .

IV/V

390/0

610/0

Hilfsschule

170/0

830/0

Das ständige Abnehmen der Gruppe I und das entsprechende Zunehmen der Gruppe II, von Klasse 1 bis zur Hilfsschule hin, vollzieht sich anfangs in kleinen, dann in größeren Schritten, zuletzt sprunghaft, ganz entsprechend den übrigen Zahlenreihen, die sich auf die Lebenskreise beziehen.

Die Gruppen bedürfen nun noch einer kurzen Charakteristik, wenn die Sprache der Zahlen verständlich werden soll.

1. Die I. Hauptgruppe umfaßt die Lebenskreise, die die Hauptmasse der Eltern von Volksschulkindern ausmachen. Es sind 630tt der Gesamtheit. Diese Leute haben einen Beruf gelernt und wissen daher meist die Schulbildung zu schätzen. Sie haben erfahren, was sie ihnen und anderen im Leben bedeutet hat. Und wenn zuweilen gerade aus diesen Kreisen die bittersten Urteile über den geringen Wert der Volksschulleistungen kommen, so spricht das durchaus dafür, daß sie die Bildung an sich hochschätzen. Solche Urteile kommen meist aus dem Munde einzelner verbitterter Männer, deren geistige Veranlagung hoch genug gewesen wäre, um eine höhere als Volksschulbildung empfangen zu können und die nun den Widerspruch zwischen ihrer Fähigkeit und ihrer Bildung als fortwährendes Hemmnis empfinden. Es handelt sich um Begabte, denen der Aufstieg versperrt geblieben ist. Aus ihrer Geringschätzung gegen die Schule spricht aber Hoch- schätzung der Bildung selbst; denn ihr Vorwurf geht dahin, daß die Schule ihren Beruf als Bildungsstätte nicht erfüllt. Daß sie die Schule als solche verantwortlich machen, ist unverständig; sie messen die Bildung, die die Schule nach ihrer Meinung vermitteln sollte, an ihrer Sonderbefähigung und vergessen ferner, daß sie das, was sie aus eigenen Kräften hinzugelernt haben, in reiferem Alter und in unbeschränkter Zeit geleistet haben.

Sehen wir von solchen Einzelnen, die durchaus Ausnahmen sind, ab, so pflegen die Eltern aus dieser Gruppe am besten mit der Schule Hand in Hand zu arbeiten. Mindestens sind aus dieser Gruppe offene Auflehnungen gegen die erziehhchen und unterrichtlichen Anordnungen der Schule ebenso selten wie grobe Fälle von geistiger Vernachlässigung der Kinder. Wo diese vor- kommen, da handelt es sich meist um Angehörige von solchen Berufen, die wenig Vorbildung erfordern und deren Leistungen nicht wesentUch höher stehen als die Handarbeit des ungelernten Arbeiters.

Für jene bessere Gruppe ist zweierlei bezeichnend:

a) Die Leute schicken, wenn es irgend möglich ist, die Knaben in die Mittel- schule, um ihnen eine weitergehende Ausbildung zu geben. Daher umfaßt diese Gruppe

bei den Knaben nur 59 0/0, bei den Mädchen aber 660/q, also volle 70/q mehr.

124 Ernst Haase

b) Unter den Kindern der Hilfsschule tritt diese Gruppe ganz auffallend zurück. Den

630/q in der Volksschule stehen nur 170/q in der Hilfsschule gegenüber.

Wie mir der Leiter der hiesigen Hilfsschule mitteilt, sind diese 1 7 o/o durch- weg psychopathisch veranlagt. Der Fall, daß ein normal veranlagtes, aber schwach befähigtes Kind dermaßen geistig vernachlässigt wird, daß es in seinem Können unter die Stufe des normalen Kindes herabsinkt, kommt bei dieser Gruppe nicht vor.

2. Die II. Hauptgruppe läßt sich nicht als eine Gesamtheit behandeln.

a) Was die ungelernten Arbeiter anlangt, so ist diese Gruppe nicht einheitlich zu bewerten. Es muß unterschieden werden zwischen solchen, die aus wirtschaftlicher Notlage keinen Beruf haben erlernen können, und solchen, die wegen ihrer mangelhaften Befähigung für einen Beruf ungeeignet sind.

Unter den letzteren sind die, die aus den niederen Klassen der Volksschule oder aus der Hilfsschule entlassen worden sind und von denen man daher weder eine Wertschätzung der Schulbildung, noch so viel Verständnis erwarten kann, daß sie das, was für die Zukunft ihrer Kinder wichtig und bedeutsam ist, richtig zu bewerten verständen. Sie sind daher weder in der Lage noch gewillt, die Schule in ihrer Erziehungsarbeit zu unterstützen und legen keinen Wert auf regelmäßigen Schulbesuch oder gar auf pünktliche Erledigung häus- licher Arbeiten. Zumeist handelt es sich um stumpfe Gleichgültigkeit, die aber oft genug, besonders wenn die Schule notgedrungen von Zwangsmitteln Gebrauch macht, in offene oder versteckte Widersetzlichkeit umschlägt. Da die Kinder infolge von Vererbung zumeist sehr schwach beanlagt sind, so wäre bei ihnen in besonderem Maße Hilfe erforderlich ; da sie nun aber eher vom Lernen abgehalten als dabei gefördert werden, so sinken diese armen Geschöpfe in- folge geistiger Verwahrlosung oft genug bis unter die Stufe des normalen Kindes hinab, bleiben in den unteren Klassen hängen und landen vielfach in der Hilfsschule. Daraus erklärt sich der außerordentlich hohe Prozentsatz der Kinder ungelernter Arbeiter in der Hilfsschule (540/o), der mehr als doppelt so hoch ist als der Prozentsatz dieser Kindergruppe in der Volksschule. In der Hilfsschule werden sie oft die besten Schüler, da sie ja nicht psychopathisch veranlagt, sondern nur geistig vernachlässigt und verwahrlost sind. In günsti- geren häuslichen Verhältnisse würden diese Kinder ganz zweifellos eine höhere Stufe der geistigen Entwicklung erreichen, wenn sie auch hinter dem Durch- schnitt der übrigen Kinder zurückbleiben würden.

Für geistigeV er w ah rlosung infolge vonNachlässigkeitder Eltern sieht übrigens das Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900 die Unterbringung des Kindes in Fürsorge -Erziehung vor 1 Abs. 1 § 1666 BGB.). Fälle, in denen dieser Paragraph in der Praxis an- gewandt worden wäre, sind mir allerdings bis jetzt nicht bekannt geworden.

Eine noch enger begrenzte Sondergruppe bilden die Kinder der Leute, die infolge von Leichtsinn und Haltlosigkeit aus wirtschaftlich b esserer Stellung in die des ungelernten Arbeiters hinabgesunken sind. Diese Kinder sind meist ausgesprochene Faulpelze und Schulschwänzer. Infolge von Vererbung ist ihre Konzentrationsfähigkeit stark herabgemindert.

Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 125

und sie siud völlig unfähig, sich in eine feste Ordnung einzufügen, weil ihnen dazu jede Anleitung und Gewöhnung in der Familie gefehlt hat.

Die Arbeiter, die lediglich infolge von wirtschaftlicher Notlage ihrer Eltern keinen Beruf haben erlernen können, bilden die Oberschicht der ungelernten Arbei ter. Ohne sie würden die Versetzungs- zahlen der Arbeiterkinder wohl ganz erheblich schlechter stehen, als sie ohne- hin sind. Wie umfangreich diese Oberschicht ist, ist aus der Statistik nicht zu ersehen. Nach der Übersicht auf Seite 125 darf man sie wohl auf 60 70^,0 schätzen.

b) Bei den einzelstehenden Frauen handelt es sich um Witwen, ehe- verlassene Frauen und ledige Mütter. Die Witwen und eheverlassenen Frauen gehören zuweilen Lebenskreisen an, die sonst über denen stehen, die ihre Kinder zur Volksschule zu schicken pflegen. Oft genug sind es tapfere Frauen, die ihre Familie besser diu*chbringen, als es der Vater getan hätte. Vielfach aber sind sie, da sie sich mühsam durchs Leben schlagen, genötigt, die Wohnung oft zu wechseln; ihren Lebensverhältnissen fehlt die Stetigkeit, und darunter leidet die Erziehung der Kinder. Bei eheverlassenen Frauen hegen meist zerrüttete Familienverhältnisse vor, die natürlich gleich- falls auf die Erziehung ungünstig einwirken. Die unehelichen Kinder sind häufig städtische Pfleglinge, die oft die Pfleger wechseln, umhergeworfen werden und daher ohne festen Halt aufwachsen. Auch die, die in den eigenen Familien aufwachsen, erfahren häufig genug wenig Liebe. Ihre Geburt hat Schande und Ärger in die Familie gebracht, und das beeinflußt das Verhältnis der Angehörigen zu ihnen sehr stark. Die eigene Mutter empfindet sie oft genug als lästiges Ehehindernis, und darunder leidet ihre Liebe zu dem Kinde, und ihre Sorgfalt in der Erziehung wird dadurch stark beeinträchtigt. Noch schlimmer steht es um die Familien, in denen man über die Geburt eines unehelichen Kindes keine Scham und keinen Groll empfindet, sondern sie in stumpfer Gleichgültigkeit als eine natürliche und selbstverständ- hche Sache hinnimmt. In solcher Umgebung werden meist psychopathisch veranlagte, stumpfsinnige Kinder geboren. Und wenn sie schon an sich nicht erblich belastet wären, so würden doch in der Stick- und Sumpfluft ihrer Umgebung ihre Anlagen rettungslos verkümmern. Die Gruppe f um- faßt also Kinder der besten und der schlechtesten Lebenskreise, die für die Volksschule in Frage kommen. Daher nimmt diese Gruppe auch eine gewisse Mittelstellung ein, was sich aus den verhältnismäßig günstigen Zahlen der niederen Klassen ergibt: es erreichen zwar nur 490,0 die I. Klasse, aber volle 25« o die IL, so daß für IIL nur 15 ^0, für IV. nur 9 o/o bleiben.

c) Die Vollwaisen werden bei uns in Familien als Pfleghnge gegeben; denn die Stadt Halle besitzt nur ein kleines Mädchen-Waisenhaus, das etwa vier- zehn verwaiste Mädchen aufnehmen kann (die Geschwister Röser- Stiftung). Die Unterbringung der Waisenkinder in Familen ist theoretisch ganz gewiß der Anstaltserziehung vorzuziehen. In der Praxis aber steht und fällt ihr Wert mit dem Werte der Familie, in der das Kind aufwächst. Dabei macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob das Kind bei Verwandten oder bei fremden Leuten untergebracht ist. Nicht selten wird das Pflegekind lediglich als Erwerbsquelle betrachtet und als Arbeitskraft ausgenutzt. Genügt es in dieser Hinsicht den Ansprüchen der Plegeeltern nicht, so versuchen sie, es wieder los zu werden. Eine sorgsame Erziehung genießt auf diese Weise

126 Ernst Haase, Die äußeren Ursachen des Sitzonbleibens in der Volksschule

offenbar nur ein kleiner Teil der Waisenkinder; sonst wäre der geistige Tiefstand, der aus der Zahlenreihe der Vollwaisen spricht, nicht zu erklären. Daß diese Kinder ausschließhch ein Opfer dieser Pflegeverhältniase werden, unter- liegt für mich keinem Zweifel.

8. Fassen wir rückblickend die Ergebnisse zusammen, so zeigt sich folgendes:

1. Der Schulwechsel hat einen sehr ungünstigen Einfluß auf die Versetzung, Besonders stark ist sein Einfluß auf die Mädchen. Er kann, besonders wenn er nicht innerhalb des Schulortes geschieht und daher mit einem Wechsel des Schulsystems verknüpft ist, für sich allein schon die Versetzung stark beeinflussen, ohne daß innere Gründe in Frage kommen. Er ist daher als der bedeutendste und schwerstwiegende äußere Faktor für das Sitzenbleiben zu betrachten.

2. Die Verhältnisse der Lebenskreise, denen die Kinder entstammen, üben gleichfalls einen ganz erheblichen Einfluß aus. Dieser steht hinter dem des Schulwechsels etwas zurück. Die Mädchen leiden auch unter diesem Einfluß stärker als die Knaben; doch sind die Unterschiede weniger beträchtlich.

Die Verhältnisse der Lebenskreise (Stand des Vaters, Kinderzahl der Familie) wirken indirekt ein, indem sie auf die Entwicklung der Intelligenz, der Konzentrationsfähigkeit usw. hemmend oder fördernd einwirken. In dem Maße, in dem das Kind äußeren Einflüssen zugänglich ist, ist diese Einwir- kung stärker oder schwächer, günstiger oder ungünstiger.

3. Wenn der Lehrplan Stellen hat, an denen sich die Schwierigkeiten sprunghaft steigern, so wird dadm'ch die Versetzung der Kinder aus diesen Klassen ungünstig beeinflußt.

4. Keinen merklichen ungünstigen Einfluß übt eine mäßige, geregelte Erwerbstätigkeit der Schüler aus.

Über die Maßnahmen, durch die die Versetzungszahlen günstiger gestaltet werden können, mögen hier einige Andeutungen folgen.

1. Hinsichtlich des Schulwechsels empfiehlt es sich,

a) nicht bei jedem W^ohnungswechsel ohne weiteres auch einen Wechsel der Schule vorzunehmen und lieber den Kindern einen etwas weiteren Schul- weg zuzumuten.

b) den Klassenausgleich und damit die Zwangsumschulungen auf ein Mindestmaß zu beschränken. Wie das im einzelnen geschehen kann, das ist eine rein örtliche Frage,

c) alle Bestrebungen zu unterstützen, die der Wohnungsnot entgegen- arbeiten. Diese Maßnahme wirkt zwar nicht unmittelbar bessernd ein; aber ihre Wirkung ist gegebenenfalls um so gründlicher und nachhaltiger. Je seßhafter die Bevölkerung gemacht wird, je mehr insbesondere die ungesunde Abwanderung der Dorfbevölkerung nach den Großstädten hintangehalten wird, desto besser wird die Wirkung der Volksschule auf die Volksbildung und Volkserziehung sein können.

2, a) Die Hebung der Lebensverhältnisse ist unmittelbar nur bei zwei Gruppen möglich: bei den Halbwaisen (und den ihnen gleichzuachtenden unehelichen Kindern) und bei den Vollwaisen, sofern deren Verpflegung Obliegenheit der Gemeinde ist. Daß für die Erziehung dieser Kinder alles

Kleine Beiträge und Mitteilungen 127

geschehen muß, was geschehen kann, daß sie als vollwertige Glieder des Volkes anerkannt und behandelt werden müssen und nicht als unbequeme Gemeindelast nebensächUch behandelt werden dürfen, ist schon eine For- derung rein menschhcher und auch praktisch vaterländischer Erwägungen. Durch die Versetzungszahlen erhält sie von der Seite der Schulerziehung her besonderen Nachdruck.

b) Mittelbare Einwirkung auf die Hebung der Lebensverhältnisse würde wiederum wie bei der Wohnungsfrage gründlicher, aber in absehbarer Zeit nicht spürbar helfen und bessern.

Was seitens der Schule nach dieser Richtung schon jetzt geschehen kann, das ist die Bemühung, möglichst alle dazu befähigten Kinder zu veranlassen, einen Beruf zu erlernen. Es ist bedauerlich, wenn aus den I. und IL Klassen der Volksschule Kinder ins Leben treten, die von vornherein beruflos bleiben. Hier gilt es, die Eltern zu beeinflussen, daß sie nicht aus Nachlässigkeit oder Verständnislosigkeit es versäumen ^ ihre Kinder Berufe erlernen zu lassen. Scharf muß dabei dem Gedanken entgegengetieten werden, der Knabe solle „vorläufig" Laufbursche werden und nachträglich noch einen Beruf erlernen. Erfahrungsgemäß verbleibt es in solchen Fällen bei der vorläufigen Ent- scheidung, und der Knabe lernt nichts.

Daneben sollte die Gemeinde solche Eltern, die ihre Kinder ohne Berufs- bildung lassen müssen, weil sie infolge wirtschaftlicher Not auf deren Arbeits- verdienst angewiesen sind, ein Fall, der besonders bei kinderreichen Familien oft vorkommt, mit Geldmitteln unterstützen, damit dem Kinde der Weg in die Zukunft geebnet wird,

3. Die Lehrplanfrage ist natürhch eine reine Schulfrage, die leicht in befriedigender Weise zu lösen ist.

Die Statistik zeigt also, daß manche der äußeren Hemmnisse für die Fort- schritte unserer Kinder durch rein schultechnische Maßnahmen zu beheben sind, während andere tiefere Wurzeln haben, indem sie teils in der wirt- schaftlichen Notlage, teils in dem geistigen Tiefstande der Eltern unserer Kinder begiündet sind.

In dem Maße, wie die wirtschaftliche und geistige Not des Volkes beseitigt wird, werden auch diese Hemmungen schwinden. Nicht nur pädagogisch - organisatorische, sondern auch soziale Aufgaben ergeben sich also hieraus für die Schule.

Wenn alle Kräfte zusammen wirken, die hier helfen und fördern können, dann wird es gelingen, das Sitzenbleiben auf die Fälle zu beschränken, die rein seelisch begründet sind und die im engeren Sinne der päda- gogischen, vielleicht der heilpädagogischen Behandlung vorbehalten bleiben müssen.

Kleine Beiträge und Mtteilungen.

über krankhaftes religiöses Erleben führt eine Untersuchung, die Dr. S. Loeb in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift über „Dienstverweigerung aus religiösen Gründen und ihi'e gerichtsärzthche Beurteilung" (Nr. 31/32 1918/19) veröffentlicht, zu folgenden auch für die Pädagogik bedeutsamen Ergebnissen: „Wir sollten nach Möglichkeit den Ausdnick „religiöse Wahn-

128 Kleine Beiträge und Mitteilungen

idee", der zwar sehr volkstümlich geworden, venneiden und an seine Stelle „Wahnglaube" setzen. In dem Ausdruck „religiöse Idee" bezw. „religiöse Wahnidee" liegt, da Idee im psychiatrischen Sprachgebrauch nicht die pla- tonische Idee, die letzte begriffliche Grundgestalt, auf die jedes Erscheinende zurückzubeziehen ist, sondern die spätere Gleichsetzung mit Vorstellung be- deutet, eine zu starke Betonung des sinnlich Wahrnehmbaren und gedank- lich Verarbeiteten, was dem reUgiösen Erleben widerspricht. Hingegen liegt in den Worten „Glaube" und „Wahnglaube", daß das zu bezeichnende Er- leben nicht auf dem Wege wissenschaftlichen Erkennens oder gedanklicher Verarbeitung von sinnlich Wahrnehmbarem, sondern durch unmittelbare, innere Erfahrung geschieht, die sieh auf des Menschen persönliches Verhält- nis zu Über- oder Außersinnlichem bezieht.

In seiner allgemeinen Psychiatrie ') spricht sich Kraepelin über Glauben und Wissen ti*effend aus und legt hier dar, wie die beiden entgegengesetzten Quellen unserer Erkenntnis sich im einzelnen Erleben bald berühren, bald verquicken, bald verdrängen, innere Vorgänge, für die auch die Sprache nach Ausdrücken ringt, etwa in den Worten: vermuten, für wahr halten, überzeugt sein, wissen. Halten wir uns diese Gegensätze Wissen und Glaube in ihrer reinen Form einmal klar vor Augen, so kennzeichnet das erstere das getreue Abbilden der Welt durch unmittelbare, nüchterne Angliederung der Erfahrung, während letzterer das große Gebiet unserer Erkenntnis, auf dem sinnliche Erfahrung uns keine Ergebnisse zu liefern vermag, auf Grund tiefgreifender Gefühlsbeziehungen zu unserer gesamten Persönlichkeit durch freie Erfindung ausfüllt, beziehungsweise derart Erfundenes übernimmt. In dieser Unterscheidung und in der Übernahme des präziseren Ausdrucks ,, Wahnglaube" liegt es also schon begründet, daß die wesenthchen Charak- t3ristika einer Wahnidee gegenüber einer Vorstellung, also mangelhafte Übereinstimmung mit dem Erfahrungsmaterial, Unkorrigierbarkeit durch Gründe der Vernunft, nicht passen zur Abgrenzung von Wahnglaube und Glaube.

Wenn es ein Vorrecht des Gläubigen ist, daß er, zwar gebunden durch den heihgen Drang nach Wahrheit, jedoch sicher vor der Kontrolle des sinn- lich Wahrnehmbaren, seinen Inhalt suchen und finden darf, so liegt in diesem Vorrecht auch die Schwäche, daß er von der Wissenschaft eine scharfe Scheidung seiner Ergebnisse, der Glaubenssätze von dem Wahnglauben nicht verlangen darf.

Glaubenssätze, Dogmen, religiös-geschichtliche Überlieferungen sind für verschiedene Völker und verschiedene Zeiten verschieden. Wesentliche Ab- weichungen, sogar GegensätzHchkeit von Lehrmeinungen reichen keineswegs aus, den Andersgläubigen wegen dieser Gegensätzlichkeit für geistig krank zu halten. Sofern wir wissen, daß der Gläubige sich mit dem von ihm vertretenen Dogma in einer anerkannten religiösen Gemeinschaft befindet, pflegen wir keinen Anstoß an der geistigen Gesundheit des Betreffenden zu nehmen. Daß etwa ein Katholik den Papst für den Stellvertreter Gottes auf Erden hält, würde man ihm ebensowenig als krankhaft auslegen wie etwa einem Chinesen den Glauben der Seelenwanderung in Tieren. Ebenso können wir den Römer nicht für wahngläubig halten, wenn er aus den Ein-

») Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl., 1. Bd., S. 307 ff.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 129

geweiden seiner Opfertiere oder aus dem Flug der Vögel Auskunft über sein Geschick zu erfahren hofft. Selbst bei einem und demselben Volk wechseln, wenn auch selten, religiöse Anschauungen und Lehren: das Austreiben der Teufel oder der bösen Geister aus einem von ihnen besessenen Menschen unter Anrufung des Namens Gottes oder Christi war in früheren Jahren so üblich, daß es für diesen Beruf eine eigene Klasse von Kirchenbeamten, „die Exorzisten", gab. Groß ist auch die Wandlung im Hexenglauben. Während vor fünf- bis sechshundert Jahren die Hexenprozesse an der Tages- ordnung waren (Papst Innocenz VUI. bestätigte durch seine Bulle „Summls desiderantes" vom 3. Dezember 1484 die Lehren vom Zauber^'esen und den dafür erf orderhchen , durchgreifenden Inquisitionsprozessen), würde heute jeder, der etwa einen Hexenprozeß anstrengen wollte, zunächst vor das Fonun eines Psychiaters geführt und hier als geistig krank bezeichnet werden. Ebenso würde keiner von uns anstehen, das Streuen von Papier- pfennigen bei Beerdigungen oder das Drehen von Gebetmühlen, Gebräuche, wie sie im fernen Osten heute noch gang und gäbe sind, für Wahnglauben zu halten, würde er einen Europäer bei solchem Brauch beobachten. Um- gekehrt müssen wir uns vorstellen, daß ein Buddhist fiu" geistig abnorm gehalten würde, wenn er etwa das Abendmahl nehmen würde.

Aus dieser kurzen Betrachtung ergibt sich also, daß religiöse Ideen ihrem Inhalt nach kaum in gesund und krank geschieden werden können oder mit anderen Worten : nicht das religiös Gewordene, das Ergebnis, der Glaubens- satz oder Wahnglaube kann losgelöst vom Träger wissenschafthch als ge- sund oder krank begutachtet werden, sondern wir müssen das seelische Er- leben, das psychische Geschehen zu beurteilen versuchen. Hier sei noch einmal Selbstverständliches kurz erwähnt: daß es im Gesunden eine ganz erhebhche Breite religiösen Erlebens- gibt. Vom Aufgeklärten, der sich be- wußt gegen alles abschließen will, was ihm Sinne und Intellekt nicht geben können, über den Durchschnittskirchgänger, der sich des Sonntags morgens, vor jeder Mahlzeit und vor dem Schlafengehen einmal andächtig in sich ver- senkt, bis zum eifrigen Gläubigen, der andächtig, tief in sich versunken die Umwelt vergißt und in dem Aufgehen im Übersinnlichen Wonneschauer empfindet, ist eine weite Strecke seelischen Erlebens, das wir alles als gesund bezeichnen. Das zuletzt erwähnte religiöse Einzelerleben können wir uns nun extensiv und intensiv noch gesteigert vorstellen. Dauerte etwa eine solche gemütliche Erregung stunden- oder gar tage- und wochenlang in gleicher Weise an, so würden wir in dieser ungewöhnlich langen Dauer doch etwas Abnormes sehen. Auch die Intensität religiösen Erlebens kann sich so weit steigern, daß v,ir nicht mehr von normalen Vorgängen sprechen können. Gefühlsausbrüche wie Seufzen, Weinen, Stöhnen, jubelndes Singen pflegen wir in gewissem Umfang noch in die Grenzen des religiös Gesunden ein- zubegreifen; auch eine gewisse Einengung des Bewußtseins, wie sie jedes starke, gefühlsreiche Erleben mit sich bringt, halte ich für regelrecht. Da- gegen sind eine deutliche Trübung des Bewußtseins, stärkere echte Gefühls- ausbrüche, wie Tanzen, sich Geißeln, als anormal anzusehen.

Wir sagten oben, daß jedes, auch das gesunde religiöse Erleben auf Grund tiefgreifender Gefühlsbeziehungen der gesamten Persönlichkeit zum Über- sinnlichen geschieht. Diese Definition ist der beste Wegw'eiser zum Auf- finden weiterer Merkmale, die religiöses Erleben zu krankhaftem stempeln.

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 9

130 Kleine Beiträge und Mitteilungen

Die allgemeine Psychologie lehrt, daß auch beim gefühlsmäßigen Erleben Begriffe, mit denen wir notwendig operieren, aus dem Erfahrungsschatz des Intellekts genommen werden, und daß wir auch unsere Gefühlserlebnisse dem Streben nach Vereinheitlichung unserer Gesamtpersönlichkeit, wenn oft auch nur lose unterordnen, daß wir also genau genommen nur von vor- wiegend gefühlsmäßigem Erleben sprechen können. Je mehr das Gefühl im Einzelerlebnis vorherrscht, desto unklarer und verschwommener werden die aus dem Intellekt entliehenen Begriffe, desto mangelhafter arbeitet die ein- ordnende und verbindende Verstandestätigkeit. Gefühl und Kritik stehen in reziprokem Verhältnis zueinander. So nimmt es uns nicht wunder, wenn wir schon im normalen religiösen Erleben allzu oft logische Schlußfolge- rungen und Kritik vermissen. Stärker tritt Kritiklosigkeit in die Erscheinung, wenn das Glaubensgefühl sich steigert zu jenem persönlichen Heils- und Glücksgefühl, da für den Gläubigen alle zu innerst gefundenen und die übernommenen Glaubenswahrheiten mehr bedeuten als alles Wissen zu- sammen. ^ Ein solch erhebendes Glücksgefühl öffnet dem Autoritätsglauben Tür und Tor, man schwört in die Worte des Meisters: leitet die jüdische Lehre eine scharfe Trennung der mit Milch bereiteten Speisen von denen mit Fleisch bereiteten aus einer Bibelstelle: „Du sollst das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen" ab, so folgen hierin die Strenggläubigen mit einem seligsicheren Gefühl, das einzig Rechte zu tun, selbst wenn in einer solchen Schlußfolgerung keine oder nur eine ganz lose gedankliche Verkettung aufgefunden werden kann. Im allgemeinen kann man sagen, je unklarer die religiösen Begriffe, je weniger logisch religiöse Gedanken unter- einander verknüpft sind und je sicherer und überzeugter trotzdem das Er- lebnis hingenommen wird, desto krankhafter ist es. Wenn z. B. jemand aus Kor. 3, 16: „Wisset ihr nicht, daß ihr Tempel Gottes seid?" mit über- legenem Lächeln und heilssicherem Auge ableitet, daß er nicht rauchen darf, so dürfte diese Verknüpfung trotz* der unangreifbaren Überzeugung ihres Trägers wohl als zu lose geschürzt von uns als krankhaft bewertet werden. Das Vorwiegen des Gefühlsmäßigen im religiösen Erleben erklärt uns auch seinen ungeheuren Einfluß auf das menschliche Handeln. Ich brauche nur an den Märtyrertod, die Verfolgungen der ersten Christen, die Juden- verfolgungen und die Religionskriege zu erinnern, um den Einfluß des Glaubens auf Handlungen gebührend zu würdigen. Gewiß, die ebengenannten sind keine alltäglichen Erscheinungen, aber krankhaft? Es würde zu weit führen, alle jene geschichtlichen Erscheinungen aus ihrer Zeit zu analysieren und dann psychiatrisch zu bewerten; uns kann es heute nur darauf an- kommen, aufzuzeigen, wann der Einfluß religiösen Erlebens auf mensch- liches Handeln in der Jetztzeit wohl als krankhaft zu bezeichnen wäre. Auch da gibt es keine absolute Antwort, vielmehr : je erheblicher der Wider- spruch mit unseren geltenden Rechts-, sozialen und ethischen Pflichten ist, in den uns religiöses Erleben bringt, desto eher darf an krankhaftes religiöses Erleben gedacht werden. Wenn etwa jemand, wie einst Abraham, seinen Sohn Gott zum Opfer darbringen wollte mit der Begründung, er wisse, dies

') Mir kommt es in diesem Augenblick nicht darauf an, mit dem Ausdruck „Kritiklosigkeit* persönlich Stellung zu dieser Bewertung zu nehmen, sondern nur darauf, das seelische Erleben mit seinen Nebenerscheinungen zu zeichnen.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 131

sei Gottes Wunsch, oder wenn jemand, um seinen Beglücker zu entschä- digen, sein ganzes Vermögen einem sektiererischen Prediger vermachte und hierdurch seine Familie an den Bettelstab brächte, würden wir einen krank- haften Einfluß feststellen müssen.

In dem bisher besprochenen kranken religiösen Erleben trat ein Faktor in den Hintergrund : der Ichkomplex. Schon unsere Definition weist darauf hin, daß er leise selbst in dem neutralsten Glaubenssatze mitsibriert: wenn jemand den religiös-geschichtlichen Satz gläubig ausspricht, „die Israeliten zogen mit Hilfe Gottes trockenen Fußes durchs Rote Meer", so verknüpft er hiermit, daß sie, ein Werkzeug in Gottes Hand, aus der Knechtschaft befreit werden mußten, um bald am Sinai die Lehre zu empfangen, der er sich selber unmittelbar oder mittelbar als der götthchen Offenbarung teilhaftig fühlt. In den meisten religiösen Erlebnissen tritt das persönliche Element stärker hervor. Auch diesmal können wir sagen: je stärker der lehkomplex im reUgiösen Erlebnis betont wird, um so eher dürfen \snr an krankhaftes Erleben denken. Schildert einer, daß Gott sich seine Werkzeuge " aussuche, daß die Menge mit Blindheit geschlagen, wenige unter ihnen auch er erleuchtet seien, so darf uns das stets krankheitsverdächtig vorkommen. Manche Kranken gehen noch weiter, indem sie etw-^a sagen : „In mir personi- fiziert sich der heihge Geist", oder „Ich bin Gottes Sohn.''

Zusammenfassend können wir also sagen:

1. Religiöse Ideen können ihrem Inhalt nach kaum in gesunde und kranke geschieden werden.

2. Auch eine scharfe Scheidung des religiös-gesunden und -kranken Er- lebens ist nicht möghch.

3. Rehgiöses Erleben darf als krankhaft bezeichnet werden:

a) bei ungewöhnlicher Dauer und Intensität des Einzelerlebnisses;

b) je unklarer religiöse Begriffe, je unlogischer die Gedankenverknüpfung, je sicherer trotzdem der Gläubige;

c) je erheblicher der Widerspruch zwischen Handlungen, die durch den Glauben beeinflußt sind einerseits und den geltenden Rechts-, sozialen und ethischen Pflichten andererseits;

d) je stärker der Ichkomplex im Erleben betont ist.

Manchen wird diese Abgrenzung wenig befriedigen, weil er kräftige Unter- scheidungsmerkmale erwartete und nun mit feinen Abstufungen abgespeist wird. Dem ist entgegenzuhalten, daß Wahnglaube bei ausgesprochenen Psychosen aus dem Gesamtbild leicht als solcher erkannt werden kann, daß aber bei psychischen Grenzfällen das Kranke meist nur quantitative Unter- schiede gegenüber normalem seelischen Geschehen erkennen läßt, ja, daß wir sogar bemüht sind , quahtative Unterschiede in quantitative umzuformen (Farbenempfindungen in Äthersch\vingungen verschiedener Wellenlängen). Genaue Meßmethoden gibt es für Bas religiöse Erleben nicht. Daher wird auch dem Urteil eines Gutachters immer etwas Subjektives anhaften.

Die Förderung und Pflege der Erziehungswissenschaften betreffen in den «Schulforderungen" des Deutschen Lehrervereins die folgenden Leitsätze: 1. Zur Prüfung und Verbesserung aller inneren und äußeren Schul- verhältnisse : der Erziehung, des Lehrverfahrens, der Auswahl und Gestaltung der Unterrichtsstoffe, der Lehrmittel, der Schulgebäude usw., zur erziehungs-

132 Kleine Beiträge und Mitteilungen

wissenschaftlichen Bearbeitung der Schulzählungen, zur Beobachtung der Ent- wicklung des Schul- und Erziehungswesens im Auslande, ist ein ständiger Ausschuß aus Lehrern aller Schulgattungen und Nichtschulmännern der ver- schiedensten Lebensgebiete und Gesellschaftsschichten einzusetzen, der sich, je nach dem Beratungsgegenstande, durch Sachkundige ergänzt. 2. Diesem Ausschuß liegt es auch ob, neue Vorschläge in erziehungswissenschaftliche a Schriften zu behandeln, sowie ihre Erprobung in Schulversuchen anzuregen, insbesondere auch alle von anderer Seite kommenden Vorschläge zu prüfen.

Mitteilungen über die „Schülerbewegung". Das miterlebende und stellung- nehmende Eingehen unserer Jugend in die Zeit der großen Umwälzung ist ein hervorragendes jugendkundUches Beobachtungsgebiet. In ihm hebt sich eine engere Erscheinungsgruppe heraus, bei der es sich um das eigentätige Eingreifen der Mittelschüler in die äußere und innere Umgestaltung der höheren Schulen handelt und für die der Name „Schülerbewegung" nicht unzutreffend gewählt worden ist» Eine genaue Kenntnis dieser Strömung, die sich in Versammlungen, in Demonstrationszügen, in Streiks, in öffentlichen Erklärungen usf. hier und da ausgiebig der revolutionären Technik bediente, hat neben dem wissen- schaftlichen Interesse vor allem auch nicht geringe praktische Bedeutung. Noch aber ist ein genaues Gesamtbild, das zuverlässig Einsicht in den Um- fang, die Wurzeln, die Triebkräfte, die Erscheinungsformen, die Ziele, die Führer der ausgebreiteten Bewegung gäbe, nicht zu gewinnen. Die oberen Schulbehörden werden hoffentlich nicht versäumen, das dazu erforderhche Material in amtlich einzufordernden Berichten aus den einzelnen Schulen bereit- zustellen. Vorerst ist der Beobachter noch angewiesen auf die vereinzelten und zufälligen Mitteilungen der Fach- und Tagespresse. Wir stellen einiges daraus, ohne selbst Stellung zu nehmen, zur Kennzeichnung zusammen.

I. In Wien fanden am 16. Dezember 1918 unter außerordentlichem An- dränge mehrere große Mittelschülerversammlungen statt, in denen von den verschiedenen Schülergruppen gemeinsame Forderungen begründet wurden. Einmütig wurde verlangt: 1. Volle Koalitionsfreiheit in den Oberklassen. Den Mitschülern soll es gestattet sein, nach den Bestimmungen des Vereinsgesetzes nichtpolitische Vereine zu bilden. Es ist daher zunächst die Aufhebung aller Paragraphen der Mittelschul -DiszipHnarvorschriften zu verfügen. 2. In den Mittelschulen sind Schulgemeinden zu bilden. In Orten, wo sich mehrere Mittelschulen befinden, werden diese zu Zentralschülerausschüssen zusammen- geschlossen. 3. Volle Gewissensfreiheit. Kein Mittelschüler soll fürderhin wegen seiner politischen oder religiösen Überzeugung in seinem Schulfortgange behindert werden. Der Zwang zur Teilnahme an religiösen Übungen hat an allen Mittelschulen aufzuhören. 4. Durchführung einer Schulreform. Der Lehrplan der Mittelschulen soU so umgestaltet werden, daß die Absolventen den Anforderungen des praktischen Leben94)esser entsprechen. 5. Insbesondere ist der Lehrplan der letzten Klassen sofort noch vor Wiederaufnahme des Unterrichts, entsprechend den rein praktischen Forderungen der Zeit, provi- sorisch zu ändern.

Es wurde beschlossen, diese Fordemngen dem nied.-österr. Landesschul- rate zu überreichen und ihnen durch Veranstaltung eines Demonstrations- zuges Nachdruck zu verleihen. Zu dieser Kundgebung vereinigten sich die Mitglieder des Deutschen Mittelschülerbundes, der Freien Vereinigung soziali-

Kleine Beiträge und Mitteilungen 133

stischer Mittelschüler, der Zionistischen und Militärdienst leistenden Mittel- schüler, der Wandervögel, der Pfadfinder, des Reformrealgjmnasiiuns für Mädchen und anderer Mädchenmittelschulen, Hörer der Wiener Handels- akademien sowie Abordnungen aus Wiener -Neustadt, Mödling und anderen Orten. Der Zug bewegte sich vom Schwarzenbergplatz in vollster Ordnung nach der inneren Stadt. Hier kam es leider, während eine Anzahl von SchOIer\'ertretem beim Landesschulrate weilte, um diesem die Wünsche der Schülerschaft vorzutragen, zu beklagenswerten Zusammenstößen mit der Polizei, die in ihren Ursachen noch nicht völlig aufgeklärt erscheinen. Beim Landesschulrate selbst fanden die Schülervertreter einen durchaus freundlichen und entgegenkommenden Empfang, und in dieser ersten wie in einer zweiten, am nächsten Tage abgehaltenen Besprechung wurden in den meisten Punkten weitgehende Zugeständnisse erreicht. (Zeitschr. f. Kinderschutz u. Jugend- fürsorge. XI. Jahrg. Nr. 1.)

II. Hohen Wert für die spätere wissenschaftliche Erforschung der Schüler- bewegung haben zahlreiche öff enthche und geheime, unterzeichnete und namen- lose Flugblätter und Zuschriften, die in den höheren Lehranstalten von Hand zu Hand gingen. Die Sammlung dieser Quellenstücke wäre ein dankens- wertes Unternehmen. Wir drucken als Beispiel einen Aufruf aus dem No- vember 1918 ab, den die Freideutsche Dürergemeinde an der Dürer- schule Hochwaldhausen unter der Überschrift „An die Jugend der höheren Schulen" ausgegeben hat.

Liebe Kameraden! An Euch, die Schüler der oberen Klassen der höheren Lehranstalten, wenden wir uns in Deutschlands Schicksalsstunde als an unsere Kameraden.

Auf den Trümmern der alten Zeit wird Neu-Deutschland aufgebaut. Ein neuer Geist, frisch imd jugendlich, soll die neuen Formen des nationalen Lebens erfüllen. Ungezählte Hände sind am Werk, Überlebtes, Minderwertiges, das ernster Prüfung nicht standhält, fortzuräumen und Lebensstarkes, Wertvolles an seine Stelle zu setzen. Nun ist es auch Zeit, daß die gesamte Jugend lerne, mit innerer Wahrhaftigkeit und vor eigener Verantwortung ihr Leben zu gestalten. Vor allem sollte sie sich in der Schule bewußt, durch eigene Arbeit, eine Heimat schaflen, in der Stätte, die bisher den größten Teil ihrer Zeit und Kraft verlangte, ohne daß die Jugend recht wußte, wozu.

Jugend, noch allzu oft eine tote Masse, die sich formen und bilden ließ, ohne den eigenen Willen dafür einzusetzen, soll nicht nur gut genug dazu gewesen sein, fürs Vaterland zu stert)en : sie soll ihm auch zu seinem Aufl)au im Frieden ihre Kraft leihen.

Die neue Schule, eine kulturbewahrende und kulturschöpferische Gemeinschaft von Jugend- lichen und Er^'achsenen, ist das Gebiet, auf dem die zum Selbstbewußsein erwachte Jugend zu- nächst mitarbeiten muß.

Darum zögert nicht! Nehmt die Reform des Lebens Eurer Schule selbst in die Hand! Geht an die W^urzel der Schäden heran : Tilgt Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit gegen das Geistige, schafft eine Schulmoral gegenseitiger Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Kameradschaftlichkeit. Macht aus Eurer Schule eine Arbeitsgemeinschaft. Eine Gemeinschaft aber ist nicht möglich, wenn Schüler und Lehrer, wie bisher noch allzu oft, gegeneinanderstehen. Gemeinsam muß der Weg gehen; ladet Eure Lehrer zu gemeinsamer Arl)eit ein, versucht mit ihnen gemeinsame Sache zu machen! Zeigt ihnen, daß Ihr nach der wahren Freiheit strebt, nicht nach Willkür und ZügeUosigkeit, daß Ihr Euch freiwillig unter selbstgeschaffene GSesetze stellt, daß Eurer Tat- willen ernst ist, daß Ihr dem Geiste Gefolgschaft leisten wollt.

Viblleicht wißt Ihr nicht, wie Ihr dahin kommen sollt. Wir, die älteren Schüler der Dürer- schule Hochwaldhausen, arbeiten seit Jahren an der Ausgestaltung unserer Schule in Gemein- schaft mit unseren Lehrern und Erziehern, die imsere Kameraden und Freunde sind. Wir wollen Euch gern kameradschaftlich helfen, wenn es Euch ernst ist, daß die neue Schule durch Euch an der Neuschaffung Deutschlands mitarbeitet.

Schreibt uns, wenn Ihr tinseren Rat wollt ; wir werden Euch antworten ; wir wollen auch zu Euch kommen, und Ihr sollt zu uns kommen zu gemeinsamer Beratung.

134 Kleine Beiträge und Mitteilungen

Die gesamte Jugend wird heute verlangt; stellt nicht beiseite, versäumt nicht den Augen- blick, der über Deutschlands Schicksal entscheidet !

Aus demselben Kreise und derselben Zeit stammt ein zweites Flugblatt, gerichtet an die Schüler und Schülerinnen der oberen Klassen der höheren Lehranstalten Hessens. Es gibt vornehmlich praktische An- weisungen zur Verwirklichung der Gedanken und Ziele der Jugendbewegung und bietet damit ein anschaulicheres Bild des Erstrebten. Unterzeichnet haben es der Leiter der Anstalt G. H. Neuendorff und i. A.: A. u. Gl. Brügelmann. Es lautet:

Kameraden! Kameradinnen! Gründet Schülerausschüsse! Die Schule im neuen Deutsch- land muß von den Schülern mit geschaffen werden. Überlegt Eure Forderungen und verwirk- licht sie mit Verantwortlichkeitsgefühl, Eifer und Uneigennützigkeit. Helft Sicherheiten schaffen, daß der neue Geist auch in den Schulen zur Herrschaft kommt ! Die neue Schule ist das wich- tigste Stück am kulturellen Neubau Deutschlands. Laßt persönliche Beweggründe: Ehrgeiz, Ver- geltungssucht beiseite!

Wie kommt ein Schülerausschuß zustande?

Jede Klasse von Untersekunda aufwärts, an den Lehrerseminaren alle Klassen, an den Lyzeen die zwei oberen Klassen, wählen drei ihrer tüchtigsten und innerlich vornehmsten Mitglieder als Angehörige des Schülerausschusses. Sie suchen sich wenn vorhanden einen inner- lich jung gebliebenen Lehrer, der ihr Vertrauen hat, möglichst nach Verhandlung und im Ein- verständnis mit dem Direktor als einen Vertreter des Lehrerkollegiums. Wenn Ihr keinen findet, müßt Ihr die Arbeit allein tun. Dieser so gebildete Schülerausschuß wählt das geeignetste Mit- glied zum Leiter der Versammlungen; es braucht nicht der Lehrer zu sein. Der Schüleraus- schuß veranstaltet regelmäßig Aussprachesitzungen, zu denen kein anderer Lehrer oder Schüler Zutritt hat. Rückhaltlose Offenheit! Keine Furcht vor Schulstrafen oder Gegnerschaft der Lehrer! Alle freiheitlich Gesinnten stehen hinter Euch!

Zu den regelmäßigen Gegenständen der Besprechungen gehören:

1. Vorbringen von Wünschen an die Leitung oder die Lehrerkonferenz über bildende Ver- anstaltungen, die sonst in der Schule nicht stattfinden, z. B. Besprechungen über Alkohol- frage, Geschlechtsfrage, Berufsfrage, staatsbürgerliche Fragen, politische Angelegenheiten, Hochschulwesen, Frauenfrage, Fragen der Hygiene usw. Für solche Veranstaltungen steht Euch jederzeit ein Vertreter der Erzieher oder der älteren Schüler der Dürerschule zur Ver- fügung.

2. Veranstaltung von Schülerversammlungen zur Orientierung über die Jugendbewegung. Lest dazu die Zeitschrift „Freideutsche Jugend" (Verlag Adolf Saal, Hamburg) und die Veröffent- lichungen der Dürerschule: „Bücher der Dürerschule I— III " (Verlag B. G. Teubner, Leipzig. Berlin), Vierteljahrschrift „Dürerschule" (Verlag Ehrenklau, Lauterbach, Hessen, auch durch die Geschäftsstelle der Dürerschule Hochwaldhausen zu beziehen). Auch hierfür stehen wir Euch zur Verfügung.

3. Anträge an die Schulleitung oder die Lehrerkonferenz über Einrichtungen der Schule: Schülerlesezimmer mit Bücherei, Zeitschriften und Zeitungen (Vorschläge machen wir Euch nötigenfalls), Spiel- und Sportplätze.

4. Anträge über Veranstaltungen der Schule: Wanderungen, Besichtigungen, Schulfeste. Wie sie gefeiert werden sollten, seht Ihr im Dritten Buch der Dürerschule: „Das Fest".

5. Aufbauende Kritik an den bisherigen Einrichtungen und Veranstaltungen der Schule. Vor- schläge zur Besserung. Beispiele im Zweiten Bericht der Dürerschule, Kapitel Gemein- schaftserziehung.

6. Der Vervollkommnung der Schule dienende, nicht aus persönlichen Motiven entspringende Kritik an Unterrichtsmethoden und Unlerrichtsgegenständen, Vorschläge zur Besserung.

7. Ehrliche, offene Aussprache über das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Herbei- führung gemeinsamer Aussprachen mit den Lehrern. Habt den Willen zur Verständigung, kämpft aber gemeinsam gegen Ungerechtigkeit und Vergewaltigung!

8. Schaffung einer neuen Schulmoral, ohne die Euch entwürdigenden Mittel des Abschreibens, Vorsagens, überhaupt aller auf Täuschung berechneten Mittel, die bisher im Schwünge waren. Geht dabei Euren Kameraden mit gutem Beispiel voran!

Wie kommen Beschlüsse des Schülerausschus%ßs zustande? Die Ergebnisse der Besprechungen werden zu Anträgen zusammengefaßt. Über die Anträge

Kleine Beiträge und Mitteilungen 135

■wird darch Handaufhebung mit '/s oder ^/4 Mehrheit entschieden. Jedes Mitglied des Schüler- ausschusses hat 1 Stimme. Die Besctilüsse des Schülerausschusses werden wenn vorhanden durch Vermittelung des ihm angehörenden Lehrers, sonst durch den Vorsitzenden des Schüler- ausschusses dem Direktor als Anträge an die Leitung oder die Lehrerkonferenz vorgelegt. Falls ein Antrag nicht entgegengenommen werden sollte, wendet Euch an die Schulabteilung des Hessischen Ministeriums des Innern und gebt uns Nachricht.

Gemeinsame Tagungen von Schülerausschüssen.

Die verschiedenen Schülerausschüsse in den einzelnen Städten veranstalten gemeiosame Sitzungen; die Vertreter sämtlicher Schülerausschüsse Hessens laden wir zu einer gemeinsamen Besprechung nach der Dürerschule Hochwaldhausen ein. Genaueres darüber in kurzer Zeit. Gebt uns sofort nach Bildung der Schülerausschüsse die Anschriften Eurer Vorsitzenden an '. Unterrichtet uns über jedes wichtige Vorkomnmis! Besprecht die Gründung einer gemeinsamen den Interessen der Schüler dienenden hessischen Schülerzeitschrift!

.Jugendbünde.

Wenn Ihr Euch in gemeinsamem Wollen gefimden habt, erwägt Euren Zusammenschluß zu örtlichen Jugendbünden, die gegenseitiger Anregung, Stärkung, Erziehung zu adeliger Gesinnung und jugendlichem Tun dienen sollen. Der Beitritt zu solchen Jugendbünden wird Euch von der Schulbehörde genehmigt werden. So wird die Erweiterung der Selbstverwaltung der Schüler angebahnt werden. Ziel ist: Jede Schule eine Schul gemeinde; eine durch einen eigenen Stil und durch selbstgeschaffene' Gesetze zusammengehaltene Lebensgemeinschaft grundsätzlich gleichberechtigter Persönlichkeiten, eine in Kameradschaftlichkeit verbundene Gemeinde ohne Unterschied des Geschlechtes, Standes, Besitzes. Ihre gesetzgel)ende Gew£ilt liegt in den Händen der Gesamtheit der Lehrenden und Lernenden. Sie erfaßt den ganzen Menschen; die Schule wird zur wirklichen Heimat ihrer jugendlichen Glieder. Sie arbeitet durch Freimachung der Produktivität aller ihrer Angehörigen mittelt)ar und unmittelbar am geistigen Fortschritt der Menschheit mit, schafft selbst Kultur, wird ein geistiges Zentnim im Leben des Volkes.

Den Schülerbünden gehören grundsätzlich nur Jugendliche an. Innerlich jung gebliebene Lehrer sollen nicht ausgeschlossen sein. Auch ehemalige Mitschüler und -Schülerinnen und An- gehörige anderer Schulen können aufgenommen werden. Eine strenge Auslese muß gewähr- leistet sein; es kommt auf die innerlich vornehme Gesinnung an. Neue Mitglieder wären des- halb nur mit großer Mehrheit bei der At)stimmung aufzunehmen.

Aufgaben der Schülerbünde.

1. Körperliche Durchbildung durch: rhythmische Gymnastik, künstlerischen Tanz (kein kritik- loses Tanzen von Volkstänzen I), Turnen, Schwimmen, Skilaufen, Sport, Spiel aller Art.

2. Geistige Bildung: Vorträge, Diskxissionsabende über alle Fragen des Lebens und der Er- kenntnis, von denen Ihr glaubt, daß sie Euch angehen.

3. Kunstpflege: Veranstaltimg von .\usst eilungen, Musikaufführungen, literarischen Abenden. Wir wollen Euch dabei gern durch Nachweis von Schriften und Noten, Aufstellen von Pro- grammen usw. behilflich sein. Gemeinsame Veranstaltungen zur Erarbeitimg künstlerischer Kenntnisse, dadurch Bildung eines klaren Urteils und eines unbestechlichen Geschmacks: Ihr sollt das neue Publikum werden, das ein bewußtes Verhältnis zu den wirklich großen Künstlern der Gegenwart hat und nicht mehr abhängig ist von fremdem Urteil.

4. Pflege einer stilvollen jugendlichen Geselligkeit. Kein gedankenloses und stilloses Ge- nießen! Gnmdsätzlicher Ausschluß von Alkohol und Nikotin.

5. Erweckung und Pflege von Vaterlandsliebe ; das soll nicht heißen : blinder, lauter „Patrio- tismus'', das soll heißen: Liebe zur Heimat; sie erwächst aus gemeinsamen Wanderungen, Ferienreisen, Besichtigungen von kulturell bedeutsamen Stätten.

6. Erziehung zu sozialem Denken und Handeln innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft, überhaupt Schaffung eines neuen jugendlichen Lebens vor eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit

„Laßt Euch den Freundschaftsbund Eurer Jugend, den Jugendbundesstaat, ein Bild werden des vaterländischen Staates, dessen Dienst Ihr bald Euer ganzes Leben weihen wollt! Haltet fromm bei Tapferkeit, Ehre und Gerechtigkeit! . . . Lasset uns aus dem Freimdschaftsbund Eurer Jugend den Geist kommen in das Leben unseres Volkes ; denn jünglingsfrisch soll nns erwachsen deutscher Gemeingeist, für Vater- land, Freiheit und Gerechtigkeit" (I.F.Fries, 1817.) Nehmt Euch nicht alles zu gleicher Zeit vor, sondern sucht Euch das aus, was Eurer Lage, den Verhältnissen in Eurer Stadt, Euren Neigungen und Fähigkeiten am nächsten liegt!

136 Kleine Beiträge und Mitteilungen

3. Das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung; hat wie an die höhere Lehrerschaft so auch an die Schüler und Schülerinnen der höheren Schulen Preußens eine Verfügung gerichtet, unterzeichnet von Konrad Haenisch. In ihr werden die Bestimmungen für die neuen Ein- richtungen der „Schülergemeinde und des Schülerrates" mitgeteilt. Voran- gestellt und angefügt aber sind die folgenden ermunternden und mahnenden Ausführungen :

Die neue Regierung des Freistaates Preußen wendet sich an Euch, die Schülerschaft der höheren Schulen Preußens, insonderheit an die Älteren unter Euch, um Euch zu sagen, was sie der Schule und der Jugend zu bringen hat und was sie von Euch erwartet.

Aus der Schule sind in schöner Begeisterung Tausende hinausgestürmt in den Krieg, um ihr junges Leben dem Vaterland zu weihen. Sie haben voll Sehnsucht nach letztem Ernst und wirklicher großer Pflicht die Gelegenheit zu höchster Bewährung und Treue ergriffen, die ihnen der Krieg zu bieten schien. Erschüttert und dankbar gedenken wir noch einmal dieses Auf- flammens jugendlichen Opfermutes, tief erschüttert der furchtbaren Opfer, die dieser Krieg gerade aus den Reihen der Jugend gefordert hat. Eine Jugend, die so ihre Treue mit ihrem Blute be- siegelt hat, können und wollen wir nicht mehr als eine unreife und unmündige Masse behandeln. Auch Ihr, die Jugend und die Schule, sollt teilhaben an der neuen Freiheit und Selbstbestim- mung unseres Volkes. Und wir hoffen, daß vieles, was unter einem veralteten und toten System der Unfreiheit in Eurer Seele noch hungern, kranken und verkrüppeln mußte, in der neuen Welt der Freiheit gesunden und aufblühen wird.

Um einen Anfang zu machen mit der Befreiung schlummernder und gebundener Kräfte der Jugend, um ihr eine erste Möglichkeit zu eröffnen, aus innerer Wahrhaftigkeit und unter eigener Verantwortung an der Gestaltung ihres Lebens mitzuwirken, und um die Richtung zu bezeichnen, in der sich unsere Arbeit an der öffentlichen Erziehung bewegen wird, für die alle Erziehung nur Hilfe zur Selbsterziehung ist, bestimmen wir:

An jeder höheren Schule (Vollanstalt) sowie an den Lehrer- und Lehrerinnenseminaren, Präparandenanstalten, Oberlyzeen und Studienanstalten wird bis Ende dieses Jahres eine Ver- sammlung sämtlicher Lehrer und sämtlicher Schüler, an den höheren Schulen von der Klasse Obertertia an aufwärts, einberufen. Diese Versammlung wählt in geheimer Wahl mit gleichem Stimmrecht der Lehrer und Schüler einen Lehrer zum Versammlungsleiter. Dieser liest den vor- liegenden Aufruf an die Schüler vor und stellt die Frage zur Verhandlung, ob man die im folgenden angegebenen neuen Einrichtungen an der betreffenden Schule einzuführen wünscht. Es findet eine freie Aussprache darüber statt und zum Schluß eine geheime Abstimmung über die Einführung. Annahme oder Ablehnung geschieht mit einfacher Mehrheit. Im Fall der Ab- lehnung muß die Versammlung, jedoch frühestens nach Ablauf von 4 weiteren Wochen, wieder holt werden, wenn entweder mindestens 30 Schüler oder 5 Lehrer dies verlangen. Über die Versammlung ist Protokoll zu führen. Wo mit der Demobilisierung zusammenhängende Um- stände eine Abhaltung der angeordneten Versammlung in der angegebenen Frist nicht gestatten, kann beim Ministerium um Verlängerung der Frist nachgesucht werden.

Die zur Einführung freigegebenen Einrichtungen sind die ^Schulgemeinde" und der Schüler- rat. Es gelten für sie folgende Bestimmungen:

1. An jeder höheren Schule (Vollanstalt), bei jedem Lehrerseminar, jeder Präparandenanstalt, jeder Studienanstalt und jedem Oberlyzeum findet alle zwei Wochen einmal zu einer zum lehrplanmäßigen Unterricht gehörenden Stunde eine „Schulgemeinde" statt, d. h. eine völlig freie Aussprache von Lehrern und Schülern über Angelegenheiten des Schullebens, der Disziplin, der Ordnung usw. Die Leitung der Versammlung hat ein v-on der Schüler- schaft in geheimer, gleicher Wahl ernannter Lehrer zu übernehmen. An der Schulgemeinde hat der Leiter der Schule und das ganze Kollegium teUzunehraen, sowie alle Schüler, in den höheren Schulen und Studienanstalten von der Obertertia an aufwärts. Die Schul- gemeinde kann ihre Wünsche und Meinungen in der Form von Entschließungen zum Aus- druck bringen, anordnende oder gesetzgebende Befugnis hat sie jedoch zunächst nicht. In der Schulgemeinde hat jeder Schüler und Lehrer eine Stimme ; sie beschließt mit einfacher Mehrheit. Ihre Geschäftsordnung beschließt die Schulgemeinde selbständig. Über die Ver- handlungen und Beschlüsse wird Protokoll geführt.

2. Die Schulgemeinde wählt aus der Schülerschaft einen Schülerrat, der ständig die Inter- essen der Schülerschaft zu vertreten und im Einvernehmen mit Schulleitung und Lehrer-

Kleine Beiträge und Mitteilungen 137

Schaft für Ordnung zu sollen hat. Der Schülerrat gibt sich selbst eine Arbeitsordnung^ und legt sie der Schulgemeinde zur Genehmigung vor.

Von jetzt ab wird den Schülern völlige Freiheit zur Bildung unpolitischer Vereine (z. B. Wandervogelgruppen, Sportvereine, Sprechsäle, Vereine zur Pflege geistiger Interessen oder künst- lerischer Betätigung usw.) im Rahmen des geltenden Rechts gewährt. Auch dürfen die Schüler- schaften verschiedener Schulen miteinander in Verbindung treten. Durch die Schuldisziplin findet keinerlei Beeinträchtigung staatslxirgerlicher Rechte statt. Wir machen es jedoch der Schüler- schaft zur Pflicht, daß sie dem Ernst dieser Zeit entsprechend für immer absage der Nacli- äffiing eines veralteten studentischen Verbindungswesens und der Durchseuchimg ihrer Gesellig- keit mit dem Alkoholismus, über den wir uns eine besondere Aufklärung vorbehalten.

Wir erwarten von der Jugend, daß die neue Freiheit nie zur Entfesselung niederer Triebe mißbraucht wird, insonderheit würde es einer edlen Jugend unwürdig sein, sie zu irgendeiner Ungehörigkeit oder gar zur Rache für früher erlittenes Unrecht zu benutzen. Nie werden wir dazu die Hand bieten. Euer Blick sei nach vorwärts gerichtet Wir erwarten von einer Jugend, die die furchtbarsten Zeiten unseres Volkes mit Bewußtsein miterlebt hat, die Tausende ihrer Kameraden als Opfer hat fallen sehen und die jetzt teilhat an dem großen Aufatmen des Volkes, daß sie den weltgeschichtlichen Ernst dieser Stunde und die große Verantwortung, die auf ihr ruht, begreife. Wir verlangen von Euch noch keine Stellungnahme zu der politischen Umwälzung und Neuordnung. Und wo man versuchen sollte. Euch zu einer Entscheidung gegen die neue Freiheit zu verleiten, da vertrauen wir auf die Macht der Wahrheit und sind gewiß, daß der gesunde und unverbogene Sinn der reiferen Jugend bald selbst die richtige Stellung zu den Ereignissen finden wird. Wir wollen keine politisierende Jugend; wir wollen ein freies, freudiges und unbefangenes Leben der Jugend ; aber kindischer Unfug und leere Gedankenlosigkeit dürfen darin keine Stätte mehr haben. Wir hoffen, daß die neuen Möglichkeiten zur Mitwirkung an der Gestaltung Eures Schul- und Gemeinschaftslebens Euch mit einem neuen Gefühl der Mit- verantwortung für die Zukunft unseres Volkes und mit einem freudigen Eifer zur inneren Er- neuerung von Schule und Jugend erfüllen werden. Möge ein neues Verhältnis von Kamerad- schaft zwischen Euch und Euren Lehrern entstehen, möge die Luft der Schule gereinigt werden von dem Ungeist der toten Unterordnung, des Mißtrauens imd der Lüge. Alle Kräfte unseres Volkes müssen angespannt werden, um ihm aus furchtbarem Zusammenbruch ein neues, schöneres Leben zu erringen. Unermüdliche Arbeit und strengste Pflichterfüllung ist das Gebot der Zeit auch im Lebens- und Wirkungskreis der Jugend.

Wir aber versprechen, daß wir die Arbeit der Jugend nicht nur von einem den Körper schädigenden Übermaß, sondern auch von allen sinnlosen und verrotteten Resten einer über- lebten Zeit befreien und nach den Forderungen der neuen Zeit und der ewigen Werte der Mensch- heit umgestalten wollen. Wir hoffen, der Jugend bald die innere Gewißheit geben zu können, durch ihre Bewährung in Arl)eit und Freiheit an ihrem Teile mitzuschaffen am Wiederaufbau unserer Volksgemeinschaft und an der Wiedergebiui unserer Kultur. Möge die Jugend durch Ernst und Treue ein Vertrauen rechtfertigen, wie es ihr bisher in der Geschichte noqh nie ent- gegengebracht worden ist.

4. Quellen material für das Studium der Schülerbewegung bietet die Halb- monatsschrift „Der neue Anfang Zeitschrift der Jugend". Sie will eine Weiterfühnmg des von G. Barbizon und S. Bemfeld begründeten „Anfang" sein, der am April 1913 erschien, zu Kriegsausbruch aber ein- gestellt wurde. Als Schriftleiter nennt sich Hermann Schlicht. Ebenso hat in den „Politischen Rundbriefen", herausgegeben von Karl Bittel (Karlsruhe), die Schülerbewegung ein Organ, das ihre Bestrebungen vertritt und über die Vorgänge fortlaufend Bericht erstattet. Als Flugblatt unter der Überschrift „Die Jugend im neuen Volksstaat" ist ein Sonderabdruck von Nr. 10 verbreitet worden. Auch „Der Aufbau", Flugblätter an die Jugend, herausgegeben von der Freien Hochschulgemeinde Berlin (zu beziehen durch Hermann Schüller, Berlin, Bauhofstr. 7) unterstützt (wie seine Nr. 9 „An die Schüler: Gründet Schulgemeinden!" zeigt) die Schülerbewegung. Von öster- reichischen Zeitschriften und Blättern seien genannt: Sozialistische Jugend, Organ der sozialistischen Mittelschüler Wiens (erscheint wöchenthch); Die kommunistische Jugend, Organ der kommunistischen Proletarierjugend (halb-

138 Kleine Beiträge und Mitteilungen

monatlich); Mitteilungen an alle* Mittelschüler, herausgegeben vom Komitee zur Bildung eines zentralen Mittelschülerausschusses (wöchentlich).

Elternbund „Neue Schule" nennt sich eine jüngst gegründete Vereinigung, die im Unterschied zu den schon bestehenden Schulreformgesellschaften eine Erneuerung des deutschen Jugendbildungswesens auf völlig veränderter Grund- lage erstreben möchte. Aus ihrem Arbeitsplane ist zu begrüßen und zu unter- stützen, daß beabsichtigt ist, auch die Versuche zu Schul Verbesserungen in allen Kulturländern zu prüfen und die neuen Gedanken in Versuchs- klassen und Versuchsschulen praktisch zu erproben zwei Bestrebun- gen, die innerhalb des pädagogischen Lebens der letzten Jahrzehnte immer wieder angeregt und auch allerdings nicht in befriedigender Weise verwirklicht worden sind. Welche Anschauungen die Gründer des Eltern- bundes leiten, wird ersichtlich aus den „Leitsätzen", die sie verbreiten. *) In ihnen wird die deutsche Schule in den folgenden Maßlosigkeiten herab- gewürdigt :

Was aber leistet die bestehende Schule? Sie unterdrückt den selbständigen Willen zugunsten einer zwecklosen, ja verderblichen Disziplin, sie verdirbt den Charakter (schon indem sie einen Interessengegensatz zwischen Schülern und

Lehrern züchtet), sie läßt angeborene Fähigkeiten ganz oder teilweise verkümmern, hindert Begabungen, sich frei

zu entfalten, sie gibt an Stelle von Bildung (d. h. demjenigen Verständnis der Außenwelt, welches dazu be- fähigt, bewußt Stellung zum Leben und seinen Problemen zu nehmen) eine Fülle von Buch- weisheit, die weil ohne Beziehung zum Leben meist schnell wieder vergessen wird, die eine enorme Belastung des kindlichen Gehirns ist und die überdies in einer Form ge- lehrt wird, welche meist für ein ganzes Leben die Freude am Lernen ertötet, sie unterdrückt selbständiges Denken, Urteilen und Kritisieren,

sie lähmt, ja vernichtet die Arbeitsfreudigkeit, so daß das Kind das Nichtstun bald als das Fest- tägliche empfindet, sie macht aus glücklichen Kindern sorgengequälte, oft verbittterte Halberwachsene.

Dieser schroffe Gegensatz erklärt sich aus dem Charakter der bisherigen Schule als Instru- ment des Staates, dessen Bestreben weit mehr darauf hinauslief, sich ruhige, unterwürfige, bequem zu behandelnde Staatsbürger zu züchten, als harmonische, vollkommene Individualitäten zu ent- wickeln.

Zu den Zeiten des schärfsten Schulkampfes ist die deutsche Schule nicht schlimmer geschmäht worden wie in diesen Anklagen. Ganz gewiß bedarf die deutsche Schule, um die das Ausland uns beneidet hat, in wesentlichen Stücken tiefgreifender Erneuerung; sie hat ihre Mängel auch selbst erkannt und an ihrer. Abstellung gearbeitet. Der Richterspruch aber, den sich der deutsche Elternbund über sie anmaßt, trifft sie zu Unrecht. Die Öffentlichkeit sollte gegen solche vernichtenden Urteile die schärfste Verwahrung einlegen.

Eine Kundgebung deutscher Hochschullehrer fordert, daß bei der Neu- ordnung des Bildungswesens die weitesten Kreise aller Lehrenden zuvor be- ratend gehört werden. Sie lautet: „Eine durchgreifende Schulreform für Preußen kündigt sich an. Allem Anscheine nach wird bereits im neuen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung daran gearbeitet. Bei der entscheidenden Wichtigkeit, die eine solche Maßregel für ganz Deutsch- land hat, dürfen die grundlegenden Arbeiten nicht einer kleinen Gruppe von Reformern überlassen bleiben. Die unterzeichneten Lehrer der Erziehungs- und Bildungswissenschaft an deutschen Hochschulen halten sich für ver-

1) Anschrift: R. M. Grunwald, Berlin W, Linkstraße 39.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 139

pflichtet, auf die bestehende Gefahr hinzuweisen. Gerade nach den freiheit- lichen Grundsätzen, die fortan in unserm Staatswesen maßgebend sein sollen, ist unbedingt zu fordern, daß über eine umfassende Neuordnung die weitesten Kreise derer, die sie als Lehrende an Universitäten, höheren Schulen und Volksschulen später zu vertreten und durchzuführen haben, vorher in freiester Meinungsäußerung gehört werden. Nur aus der gemeinsamen Arbeit aller Beteiligten kann, wenn es gehngen soll, ein so ungeheuer ver- antw'ortungsvolles Werk hervorgehen."

Barth (Leipzig), Baumgarten (Kiel), Becher (München), Bergmann (Leipzig), Bernheim (Greifewald), Braun (Münster), Budde (Hannover), Cauer (Münster), Cohn (Freiburg i. B.). Ettlinger (Münster), Eucken (Jena), Fries (Halle), Frischeisen-Köhler (Halle), Hensel (Erlangen), Hönigswald (Breslau), Jaeger (Kiel), Kabitz (Münster), Kerschensteiner (München), Koppelmann (Münster), Kowalewski (Königsberg), Lehmann (Posen), Litt (Bonn), Maier (Heidelberg), Marbe (Würzburg), Mausbach (Münster), Messer (Gießen), Misch (Göttingen), Natorp (Marburg), Nohl (Jena), Rehm (München), Rehmke (Greifswald), Rein (Jena», Riehl (Berlin), F. J. Schmidt (Berlin), Scholz (Breslau), Schwarz (Greifewald). Stern (Hamburg), St öl zle (Würzburg), Troeltsch(Berlin),Wentscher(Bonn), Ziehen (Frankfurt).

Nachrichten. 1. Die Auskunftsstelle für Kleinkinderfürsorge im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Berlin W 35, Potsdamer Str. 120, versendet neue Verzeichnisse ihres Leih gut es. In 30 Lesemappen sind Richthnien, Beschreibungen und Berichte vorbildlicher Einrichtungen der Klein- kinderfürsorge gesammelt, Anregungen z. B. für die Veranstaltung von Mütter- abenden, sowie Lehrpläne von Ausbildungsstätten für Pflegerinnen und Er- zieherinnen des Kleinkindes zusammengestellt worden. Die Mappen stehen gegen Ersatz der Portokosten zm* Verfügung. Eine Ausnahme bilden Lehr- pläne, Zeichnungen von Kindergartenmöbeln, Baupläne und Bildersammlimgen, für die geringe Leihgebühren erhoben werden. Für aufklärende Vorträge über die Entwicklung, Pflege und Erziehung des Kleinkindes in Anstalt und Fa- milie werden Lichtbilder verliehen.

2. Mit Beginn des nächsten Sommerhalbjahres wird an der Universität Leipzig ein Institut für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde begründet und der Leitung des ordentlichen Professors der Philosophie und Pädagogik Dr. phil. Eduard Spranger unterstellt. Diesem Institute werden vom gleichen Zeitpunkte ab das Philosophisch-pädagogische Seminar und das Praktisch-pädagogische Seminar der Universität eingegliedert.

3. Das Psychologische Institut des Leipziger Lehrervereins hat seine durch den Krieg unterbrochene Tätigkeit wieder aufgenommen. Unter Leitung des 2. Vorsitzenden Joh. Schlag führt der „Ausschuß zur Untersuchung der Begabten" seine Arbeit weiter. Der wissenschaftliche Leiter Dr. Max Brahn kündigt drei Vorträge über „Spiritismus und Okkultismus" an. Weiter wird eine Vortrags- und Übungsreihe „Intelhgenz und Wille in ihrer sozial- psychologischen und sozialpädagogischen Bedeutung" durch Dr. Brahn ver- ■anstaltet.

4. Der ordenthche Professor der Philosophie und Pädagogik und Direktor des philosophisch-pädagogischen Seminars an der Universität Leipzig Dr. phil. Eduard Spranger ist vom Sächsischen Kultusministerium ermächtigt worden, zu seiner Information dem Unterricht an den höheren Schulen einschließlich der Lehrer- und Lehrerinnenseminare beizuwohnen, eine Maßnahme, die wegen der unerläßlichen Fühlungnahme der erziehungswissenschaftMchen Forschung und Lehre mit der Wirklichkeit des Schullebens sehr zu begrüßen ist.

140 Kleine Beiträge und Mitteilungen

5. An der Berliner Technischen Hochschule habilitierte sich Dr. Walter *Moede für das Gebiet der industriellen Psychotechnik ; gleichzeitig erhielt

er die Leitung des Institutes für industrielle Psychotechnik, das als Abteilung des Versuchsfeldes für Werkzeugmaschinen und Betriebslehre (Pro- fessor Dr. Schlesinger) errichtet wird.

6. Ein deutscher Verein zur Fürsorge für Jugendliche Psycho- pathen ist im Anschluß an die Tagung für Psychopathenfürsorge im Ok- tober 1918 gegründet worden. Er will der Erforschung der psychopathischen Konstitutionen dienen und die praktische Fürsorgearbeit in Deutschland an- regen, ausbauen und zusammenfassen. Die Geschäftsstelle befindet sich in Berlin, Monbijouplatz 3.

7. Aus dem psychologischen Institute des Leipziger Lehrerver- eins sind Rudolf Schulze und Paul Schlager zu einer Vortragsreise nach Schweden eingeladen worden. Sie werden vor den Professoren und Studenten der Universität üpsala, vor den Schulinspektoren Schwedens, vor der Lehrerschaft Stockholms, vor der Schwedischen Pädagogischen Gesell- schaft und anderen Körperschaften über experimentelle Psychologie und über Begabtenf orschung sprechen.

8. In der 2. Hälfte des Handelshochschulkursus der Stadt Nürn- berg für den Winter 1918/19 findet sich die Psychologie vertreten mit der Vorlesungsreihe „Grundzüge der Wirtschaftspsychologie" (mit einem Über- blick über Aufgaben, Verfahren und Hilfsmittel der Eignungsprüfungen für das Berufsleben). Dozent ist Prof. Dr. Aloys Fischer, München, der außer- dem noch die Vorlesungen über „Philosophische Strömungen der Gegenwart" übernommen hat.

9. Die Pflegschaft der Robert Rißmannstiftung (Anschrift: Rektor Pretzel, Berlin, Prenzlauer Allee 277) setzt in diesem Jahre vier Preise für Arbeiten wissenschaftlichen Gepräges aus. Die Wahl des Gegenstandes steht frei; erwünscht ist die Behandlung von erziehungswissenschaftlichen Fragen, die durch die Zeitbewegung in den Vordergrund gerückt sind.

Literaturbericht.

Prof. Dr. M. Lazarus, Das Leben der Seele in Monographien über seine Er- scheinungen und Gesetze. I. Band. Unveränderter Neudruck der dritten Aufl. Berlin 1917. Dümraler. 414 S. 7,50 M. Das dreibändige Werk, das trotz seines hohen Alters der erste Bd, erschien 1855 in erster, 1883 in dritter Auflage noch immer im Buchhandel verlangt wird, liegt mit diesem Neudrucke nun wieder vollständig vor. Es sind heute seltener die Fachpsychologen, die es fur Hand nehmen, als solche Kreise, die bestimmte Probleme des Geisteslebeus in allgemeinerer Betrachtungsweise besehen und durchdenken wollen. In der Tat findet sich in den Monographien von Lazarus die psychologische Seite seines Gegenstandes oft weniger berücksichtigt als die ethische, soziologische und kulturphilosophische. Heute wie vor Jahrzehnten bildet dabei neben der geistvollen Durchdringung vor allem die Kunst des Darsteliens einen besonderen Reiz. Bd. I enthält die Abhandlungen über Bildung und Wissenschaft, über Ehre und Ruhm, über den Humor und über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit; Bd. II untersucht Geist und Sprache; Bd. III handelt über Takt, Kunst, Freundschaft und Sitten. Tr.

Max Dessoir, Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer

Betrachtung. Stuttgart 1917. Ferd. Enke. (Inzwischen 2. Aufl.) VI u. 344 S. 12,60 M.

Dessoir ist der einzige Psychologe an deutschen Universitäten, der sich seit langer Zeit mit

allen Erscheinungen des Okkultismus beschäftigt. Es gibt wenige in der Welt, die über eine

Literaturbericht 141

größere Erfahrung verfügen wie er, und so darf man von einer umfangreichen Veröffentlichung bei ihm erwarten, daß sie Besonderes gibt. In der Tat ist das ganze Gebiet zusammengetragen und kritisch durchleuchtet. Dabei merkt man Dessoir an. wie er mit den Jahren sich von dem Treiben der Spiritisten immer abgestoßener fühlt und mit großer Härte über sie urteilt. Die Berichte aus seiner eigenen Erfahrung, sowie solche aus der Literatur zeigen in gleicher Weise, wie alle spiritistischen Erscheinungen in gleichem Maße uDler den Fingern zerrinnen, wenn man sie scharf untersucht. Die Erscheinungen des Unterbewußtseins, des seelischen Automa- tismus, der Fernwirkung sind ebenfalls ausführlich dargestellt; doch wird hier wohl mancher Leser eine systematische Zusammenfassung der Begriffe etwas vermissen. Manchmal löst sich die Darstellung in sehr interessante und aufklärende Einzelerscheinungen auf, und ich würde eine Auseinandersetzung über das Wesen des Mediums sehr begrüßen.

Etwas ganz Besonderes ist die Darstellung der Geheimwissenschaft ; eindringlich und amüsant zugleich die Darstellung des Kabbalistischen, ein wahres Meisterstück. Bei der Darstellung der Theosophie dagegen muß selbst D. logisch versagen: denn diese Dinge logisch darzustellen, ist selbst dem größten Meister nicht möglich. Er betont mit Recht die ethische Bedeutung dieser Richtung, zeigt aber dem Leser aufs schärfste, daß sie wohl selbst auf logische Begründung keinen Wert legt. Der Versuch, die ganzen Geheimwissenschaften in die geistige Entwicklung hineinzustellen und imter dem Titel des magischen Idealismus ihren Zusammenhang mit dem philosophischen Idealismus zu zeigen, bietet etwas ganz Neues. Die Denkmittel des magischen Idealismus vrtrken aufklärend für das Verständnis dieser Dinge vom tiefsten Altertum bis zur heutigen Zeit. Dessoir nennt richtig diese ganze Bewegung „den im Wachstum zurückgebliebenen Bruder des logischen und ethischen Idealismus" und fordert zur philosophischen Besinnung dringend auf. Jeder Leser wird durch Zustimmung imd Ablehnung zu dem Einzelnen sich tief bereichert fühlen.

Leipzig. Max Brahn.

Rudolf Lehmann, Lehrbuch der philosophischen Propädeutik. Vierte, neubearbeitete und vermehrte Aufl. Berlin 1917. Reuther u. Reichard. 178 S. 4 M.

Das Lehmannsche Lehrbuch will dem Anfangsunterricht in der Hochschule wie dem Abschluß der Bildungsarbeit in den höheren Lehranstalten dienen. In abgerundeten Teilen behandelt es die Grundzüge der Logik, gibt dann einen Ausblick auf die Erkenntnistheorie und bewegt sich etwas länger in der Psychologie, um schließlich die Grundbegriffe der Ethik zu erörtern und mit einer Einführung in die Ästhetik abzuschließen. Die große Schwierigkeit, aus diesem ungeheueren Gebiete das Wesentliche so aufzugreifen, daß in engem Rahmen ein einigermaßen geschlossenes Ganze ersteht, hat Lehmann ausgezeichnet gemeistert, und wir sind ihm im eigenen Unterricht streckenweise gern gefolgt. Seine Darstellung ist durchgängig hinstellender Art; von ihr darf also vorwiegend nur die Vermittlung von Wissen und nicht auch die Anregung zum philo- sophischen Denken, wie sie eine mehr untersuchend gehaltene Gestaltung ermöglicht, erwartet werden. Seh.

Max Frischeisen-Köhler, Grenzen der experimentellen Methode. Berlin 1918. Union, Deutsche Verlagsgesellschaft. 30 S. Preis 1 M.

Verf. will „die Eigenart der experimentellen Methode, die nicht unterschätzt, aber auch nicht ül)erschätzt werden darf, und die Grenzen ihrer Anwendbarkeit und Tragweite grundsätzlich dar- stellen". Schon innerhalb der Naturwissenschaften ist das Experiment nicht das einzige Hilfs- mittel; es gibt Gebiete, wo es überhaupt nicht oder nur beschränkt anwendbar ist (kosmische Vor- gänge) und wo es gegenüber anderen Betrachtungsweisen an Bedeutung zurücktritt. In der allgemeinen Psychologie ist die Anwendung des Experiments zweifellos schwieriger, ihre Möglichkeit aber heute nicht metir mit stichhaltigen Gründen anfechtbar. Damit ist al)er noch keineswegs erwiesen, daß es auf alle Erlebnisse in gleicher Weise angewandt werden kann. Jeder psychologischen Versuch-anordnung eignet eine absichtliche Künstlichkeit und Lebensfeme, aber auch wo sie in eine größere oder geringere Lebensnähe gebracht wird, kann sie in das Leben selbst (unmittelbar) nicht eingreifen, ohne die Vorteile, die in ihrer Künstlichkeit liegen, aufzuheben. Es ist immer scharf zu sondern zwischen dem eigentlichen Experiment und all den absichtslosen oder planmäßigen Einflüssen, Einwirkungen imd Wagnissen, in denen das praktische Leben fortschreitet. Es ist in der Gegenwart nicht mehr fraglich, daß die experi- mentell zu prüfenden Elementarfunktionen nur die niederste Schicht unseres Seelenlebens dar- stellen, denen gegenüber die seelischen Kräfte, auf denen der Aufbau der Gesellschaft und der geistigen Gemeinschaft beruht, als Kräfte höherer Ordnung und von selbständiger Gesetzmäßig- keit angesehen werden dürfen, denen wir mit den Mitteln der experimentellen Methode und der

1 42 ' Literaturbericht

Laboratoriumstechnik nicht beikommen können. Hier sieht sich die Psychologie zu einer grund- sätzlichen Erweiterung ihrer Methoden gezwungen ; denn wir können aus den elementaren Funk- tionen das konkrete seelische Leben mit seiner Inhaltlichkeit, seinen Werten, seinen schöpfe- rischen Synthesen, seinem geschichtlichen Wachstum, seinen Gemeinschaftsbildungen nicht wieder aufbauen. Auch wird die Anwendung des Experiments, wenn es in seinem streng methodischen Sinne verstanden wird, auf die Pädagogik, auf den eigentlichen BUdungs Vorgang wenig Erfolg erwarten lassen. Ausdrücklich muß zugegeben werden, daß sich die Einwirkung von Unter- richtsmethoden auf das Kind nach gewissen Seiten hin systematisch erproben läßt, aber nur, wenn es nach dem Vorbilde des psychologischen Experiments, auf die möglichste Isolierung der Wirkungen, auf die Analyse der Elementarfunktionen bedacht ist, und deshalb wird es, allem Protest und allen Voraussetzungen zum Trotz, auf den elementaren Unterricht beschränkt bleiben. Dennoch wird niemand verkennen dürfen, was ein Durchgang durch die experimentelle Pädagogik für den Pädagogen bedeutet: abgesehen von allen positiven Kenntnissen verleiht sie eine Schulung und Unbefangenheit in der Würdigung der Tatsachen, die nicht verloren gehen kann, aber sie verführt gar leicht dazu, die Seiten der Sache, die einer exakten Methodik nicht er- faßbar sind, zu sehr zurücktreten zu lassen. Sie begünstigt eine einseitige Berücksichtigung des Erwerbes von Fertigkeiten, während das emotionale und das Willensleben mit seiner Fülle, seinen Tiefen, seinen Problemen von ihr aus nicht erfaßt werden kann. Man wird nicht um- hin können, zu betonen, daß der Verfasser bei aller Vorsicht und Eindringlichkeit die Grenzen zumal des pädagogischen Experiments, etwas weit nach links gerückt hat.

Kiel. Marx Lobsien.

Dr. Alois Höfler und Dr. Stephan Witasek, Hundert psychologische Schul- versuche mit Angabe der Apparate. 4. Auflage. Leipzig 1918. Ambrosius Barth. 55 S. 3,00M.

Das vor zwei Jahrzehnten erstmals erschienene Heft verlangt einen neuen Hinweis durch die Zugabe, die ihm durch Dr. WUlibald Kammel, den Leiter des pädagogisch -psychologischen Laboratoriums in Wien, geworden ist. Ohne diesen Nachtrag wäre die Aufzählimg von 100 Versuchen, die überwiegend der Sinnesphysiologie und -psychologie entnommen sind und zumeist mit dem Rüstzeuge der physikalischen Kabinette arbeiten, kaum noch für einen Psycho- logieunterricht brauchbar, der mit der Entwicklung der experimentellen Seelenlehre und Pädagogik in jüngerer Zeit die Fühlung halten will. Kammeis Auswahl in seiner Beigabe ist gut; wir haben die von ihm empfohlenen Versuche neben vielen anderen fast ausnahmslos in unserem eigenen psychologischen Unterrichte erprobt und durchweg brauchbar gefunden. Eine 5. Auflage des Buches müßte eine völlige Umarbeitung bringen, die eine Anzahl Versuche geringeren bildenden Wertes ausscheidet, viel reichlicher das Gebiet der höheren Funktionen bedenkt und dabei die Ausführung mit möglichst einfachen Mitteln zeigt. Aufnahme verdienen u. a. einige neue Versuche, die Rupp in seiner Arbeit „Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik" (Zeitschrift f. päd. Psychologie, Bd. XV— XX) beschreibt.

Leipzig. Otto Scheibner.

Dr. Hermann Roth, Das sittliche Urteil der Jugend. Nach Experimenten an höheren Lehranstalten. Borna- Leipzig 1915. Noske. 78 S. 1,20 M.

Roths Arbeit ist ein schätzenswerter Beitrag zu den noch wenig zahlreichen moralpsycho- logischen Untersuchungen an Jugendlichen. Die Versuchspersonen stellten die Sexta, Unter- tertia und Obersekunda aus einem Realgymnasium und zwei Gymnasien der Rheingegend. Roth legte ihnen eine Reihe von anschaulichen „Fällen" aus der Geschichte und dem Leben vor und schloß an einen jeden eine Frage an, deren Beantwortung ein sittliches Urteil abverlangte. So wurde z. B. gefragt: „Verdiente der Feldherr Strafe?" „Wie stellst du dich zu dem Tun des Primaners?" „Hat der junge Mann recht gehandelt?" Die Antworten waren namenlos ein- zugeben. Empfehlenswerter ist es, aus leicht ersichtlichen Gründen die Texte nicht, wie es Roth tat, vorzutragen, sondern gedruckt vorzulegen. Jeder der drei Schulen waren überwiegend ver- schiedene Fälle zur Entscheidung gegeben, wodurch nun eine einwandfreie vergleichende Be- handlung und eine Aufstellung von Entwicklungsreiben leider verhindert ist. Geprüft wurden in der Sexta, um nur diese als Beispiel anzuführen, der Sinn für Gehorsam, Selbstgefühl, Nächstenliebe, Heldenmut, Vergeltung, RechtUchkeit, Gerechtigkeit, innere Wahrheit. Das um- fangreiche Versuchsmaterial hat Roth nun so behandelt, daß er für jede der drei Altersstufen seiner Versuchspersonen die für sie kennzeichnenden sittlichen Prinzipien herausarbeitet und diesen eine besondere, mit statistischen Angaben reichlich durchsetzte Darstellung widmet. Gra- phische VerbUdlichungen fehlen leider. Die Ergebnisse sind in Kürze diese : Im Alter des Sex-

Literaturbericht 143

taners tritt besonders deutlich Gehorsam, Selbstgefühl und Kameradschaft hervor; beim Unter- tertianer entwickeln sich in deutlicherer Weise der Sinn für Nächstenliebe und Heldenmut; die sitthchen Urteile des Primaners aber sind vorwiegend motiviert durch die Grundsätze der Ver- geltung, Pietät, Rechtlichkeit, Gerechtigkeit, WUligkeit, innere Wahrheit und Treue. Die Ver- suchsbefunde bestätigen darnach das Bild, das uns aus der freien Beobachtung über die sittliche Entwicklung der Jugend geläufig und verständlich ist. Einen auffallenden Unterschied in den Urteilen zweier Untertertien will Roth auf die verschiedene Begabungshöhe der beiden Klassen zurückführen. Er vertritt also gegen andere Meinungen (z. B. die von Riebesell) die Ansicht, daß reiferes sittliches Urteil von der Intellektuaiität abhängt eine Anschauung, die von Gizyckis Untersuchungen über den Funddiebstahl bestätigt wird. Jedenfalls wagt Roth es nicht, im Blick auf sein ganzes Material den Unterschied der beiden Klassen, deren eine der Groß- stadt angehört und vorwiegend dem Kaufmannsstande und akademischen Kreisen entstammt, während die andere eine kleinstädtische einen stärkeren Einschlag von Handwerkers- söhnen aufweist, aus den Verhältnissen sozialer Schichtung zu erklären.

Leipzig. Otto Scheibner.

Franz X. Schönhuber, Das Kino im Lichte von Schülerantworten. Leipzig 1918. A. Haase. 38 S. 1,25 M.

Schönhuber bearbeitet in seiner aufschlußreichen Abhandlung, die vom Leiter des päda- gogisch-psychologischen Instituts in München angeregt worden ist, das Material einer Umfrage. Sie wurde veranstaltet unter den 31 Schülern einer Münchener achten Volksschulklasse und bezog sich auf Anleiß, Häufigkeit, Motive, Nachwirkungen und Kosten des Besuches. Ein- bezogen in das Material sind auch freie Aufsätze, die einer früheren Klasse entstammten. Die Beantwortungen der Fragen werden von Schönhuber in sachgemäßer tabellarischer Verarbeitung vorgelegt und kurz besprochen. Sie bes'ätigen im allgemeinen die auch anderorts so jüngst in Bern erhaltenen wenig erfreulichen Befunde. Den angeschlossenen pädagogischen Folgerungen und Fordenmgen Schönhubers, der das Kino nur unter bestimmten Voraussetzungen als wertvolles BUdungsmittel anerkennen will, darf restlos zugestimmt werden. Die Aus- dehnung über eine weit größere Anzahl von Schülern imd Schülerinnen und die Heranziehung der einschlagenden Literatur wäre wünschenswert gewesen.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

Dr. Jakob van den Wyenbergh, Die Organisation des Volksschulwesens auf differentiell-psychologischer Grundlage. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 102 S. 3,60 M. Auf Grund einer vorsichtig abwägenden Darstellung und Beurteilung der Tatsachen und Ur- sachen der differentiell-psychologischen Unterschiede, die uns die wissenschaftliche Begabungs- forschung und die Erfahrungen der pädagogischen Praxis in engem Zusammen einwandfrei er- geben, gelangt der Verfasser zu der Forderung, daß für die Volksschule nur eine Differenzierung nach der allgemeinen Leistungsfähigkeit in Frage kommen könne. „Bei der Feststellung dieser Leistungsfähigkeit sind in erster Linie die konkreten Schulleistungen maßgebend, jedoch ist die Verwertung von psychologischen Fähigkeits- und insbesondere Intelligenzprüfungen sehr zu wünschen, in zweifelhatten Fällen dringend erforderlich." Den psychologischen Tatbeständen entsprechend, fordert er an organisatorischen und unterrichtlichen Maßnahmen: Trennung der Schüler nach der natürlichen Leistungsfähigkeit und Organisation eines differenzierten Volks- schulsystems, das neben der hergebrachten Höhengliedenmg des Schulkörpers in acht Klassen eine differenzierte Breitengliederung (Parallelabteilungen) zur Individualisienmg des Unterrichts aufweist. Das differenzierte Volksschulsystem muß haben, außer einem Klassenaufbau für die Normalbegablen, besondere Klassenzüge für die weniger Schwachen, die abnorm Schwachen und die Hochbegabten, außerdem auf der Oberstufe Sonderkurse für die Höchstbefähigten und die Schüler mit Spezialbegabimg in technischen Fächern. Daneben müssen ungünstige äußere Einflüsse durch organisatorische und unterrichtliche Maßnahmen möglichst kompensiert werden, um die Abspaltung der Schwachen auf ein Minimum zu l)eschränken (obligatorische Schulkindergärten, erweiterter Arbeitsunterricht im ersten Schuljahre bei zeitlicher Hinaua- sehiebung des Unterrichts im Lesen, Schreiben und schulgemäßen Rechnen, wohlorganisierter Nachhilfeimterricht sowie sukzessiver Abteilungsunterricht, maßvoll gehaltene Klassenbesetzung). „Denn soll dem einzelnen Individuum ein wirklicher Fortschritt und der Schule als Gesamt- orgemismus ein voller Erfolg beschieden sein, dann darf sich die besondere Fürsorge weder allein auf die ,Sorgenkinder', noch allein auf die ,Hoffnungskinder' beschränken, vielmehr haben sich die praktischen pädagogischen Maßnahmen zur Hebung der Volksschule auf ihre einheit- liche Gesamtheit zu erstrecken."

144 Literaturbericht

Mit großer Eindringlichkeit und Sachlichkeit weist der Verf. nach, daß für eine Neuordnung unseres Schulwesens nicht sowohl wirtschaftliche und sozialpolitische Momente als vielmehr pädagogisch -psychologische, in erster Linie die individuellen Begabungsdiiferenzen maßgebend sein müssen.

Die sehr treffliche Arbeit darf für die wissenschaftliche wie praktische Behandlung des er- örterten Problems warm empfohlen werden.

Kiel. Marx Lobsien.

Peter Zillig, Die innere Einheit aller Lehrenden. Ein Beitrag zur pädagogischen Gesellschaftslehre. Leipzig 1917. Schulwissenschaftl. Verlag A. Haase. 58 S. 1,00 M.

Es ist ein Zeugnis für die Innerlichkeit und Würde, mit der die Herbartianer das Schulwerk erfassen, daß sie über alle Enttäuschungen hinweg immer wieder ihren Glauben an die innere Einheit aller derer, denen von Berufs wegen die Erziehung in der Schule anvertraut ist, bekennen und verteidigen. Angesichts der großen und schweren Zeit, die unser Volk für alle Zukunft aufs innigste einen sollte, nimmt neben anderen auch Peter Zillig seine schon vor einem Vierteljahr- hundert und späterhin wiederholt noch vertretenen Gedanken erneut auf. Und seinen Darlegungen ist anzuspüren, daß er die wahrhaftig nicht geringe Angelegenheit lange im Kopf und Herz be- wegt hat. Er zeichnet zunächst das wenig erfreuliche BUd der Wirklichkeit, dabei noch still vorübergehend an der verletzenden gesellschaftlichen Abschließung, die unsere Lehrerschaft der Volksschule ertragen muß. Den Hauptteil der Schrift bilden dann Ausführungen über all das, worin sich alle deutschen Lehrer der Jugend eins fühlen sollten : es müßten einigen das gleiche Ziel und die gleichen Antriebe, die gleichen Pflichten und die gleichen ethischen, psychologischen und sachlichen Merkmale des Bildungsverfahrens und vieles andere mehr. Eine Betrachtung über den Wert solcher Einheit führt weiter zu soziologischen Erörterungen, und der Abschnitt über die Verwü-klichung der Forderung gipfelt in großen Erneuerungsgedanken. Ein Blick auf die ge- schichtliche Entwicklung der Frage bildet den Schluß.

Stollberg i. Sa. Paul Ficker.

Prof. Dr. Chr. J. Klumcker, Fürsorgewesen. Einführung in das Verständnis der Armut und der ^rmenpf lege. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 119 S. 1,50 M.

Das Wesen und der Wert der Armenpflege wird hier von dem hervorragendsten Fachmann des Gebietes dargelegt. Der erste Abschnitt erfüllt eine wissenschaftliche Aufgabe : er behandelt die „Theorie der Verarmung und der Fürsorge". Es folgen dann die „Hauptstücke des Armen- rechts und der Armenverwaltung". Den Beschluß bildet eine Einführung in die „praktische Für- sorgearbeif*. Es ist hier nicht der Ort, das Buch zu würdigen. Daß es eine Darstellung ersten Ranges bietet, verbürgt der Name des Verfassers. Wir zeigen es hier an, weil sein Gegenstand bei näherem Zuschauen mit mehr psychologischen und pädagogischen Problemen durchsetzt ist, als es von ferne scheinen mag. Schon in manchen Strecken der Geschichte der Pädagogik kann nur tiefer eingedrungen werden so in das Wirken Pestalozzis aus einem erschlossenen Verständnis für die Armut. Ich möchte der Lehrerschaft auch darum dies Quelle- Meyer-Bändchen mit besonderer Wärme empfehlen, weil aus ihr viele Kräfte für die Armen- pflege gestellt werden. Für weiteres Studium weist das Buch dann die Wege in einem aus- führlichen Schriftenverzeichnis.

Leipzig Rieh Tränkmann.

Fedor Lindemann, Beiträge zur Geschmacksbildung. Ein Buch zur Besinnung und Belehrung. Mit 53 Abbildungen. Leipzig 1917. Dürr. !25 S. Geh. 3,00 M.. geb. 4,00 M.

Theoretischen Erörterungen über das Wesen des Geschmacks und psychologischen Dar- legungen über die Natur und die Entwicklung des ästhetischen Gefühls geht das Buch nur soweit nach, als sie seinem pädagogischen Hauptzweck dienen, die praktischen Wege zur Ge- schmacksbildung zu ebnen. Vor allem ist es der „geschmackliche Anschauungs- unterricht", dem der Verfasser auf Grund seiner reichen Erfahrungen zu einer erhöhten Pflege verhelfen will, einem Anschauungsunterricht, der die Dinge des alltäglichen Umganges im Lichte des Schönen sehen läßt An zahlreichen Beispielen wird seine Ausführung in reiz- vollster Weise gezeigt, nachdem vornweg ein aligemeiner Teil das ästhetisch-pädagogisch Grund- sätzliche erläutert hat. Wir wünschen dem Buch, das selbst mit feinem Geschmack für sprach- liche und bildliche Darstellung abgefaßt ist, nicht bloß in der Lehrerschaft, der es zunächst zugedacht sein soU, sondern auch in weiteren Kreisen eine weite Verbreitung und nachhaltige Wirkung und bekennen gern, daß wir ihm viel Gewinn verdanken.

Leipzig. Otto Scheibner.

Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.

Psychologie und Schule ').

Von William Stern.

Schon einmal, vor ungefähr hundert Jahren, ist der Versuch gemacht worden, zwischen Psychologie und Pädagogik eine engere Verbindung her- zustellen, dies geschah durch J. Friedrich Herbart; wie stark dessen auf die beiden Stützen der Sittenlehre und Seelenlehre gegründetes System der Päda- gogik im 19. Jahrhundert und bis in unsere Zeit hinein wirksam gewesen ist, darf als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Aber eine angewandte Psychologie der Schule in unserem Sinne hat doch Herbart nicht geschaffen; denn die Psychologie, die er entwickelte, war nicht die Erfahrungswissen schaft von der Seele des Kindes oder der Seele des Erziehers, sondern eine allgemeine Psychologie des Menschen, teils auf Selbstbeobachtung, teils auf philosophischer Konstruktion beruhend. Sie konnte dmch ihre klare Nüchternheit und durch- sichtige Deutlichkeit dem Lehrer zunächst einen bedeutenden Eindruck machen und auf einem wichtigen Teilgebiet, dem des Voi-stellungslebens, auch dauernd wert\^olle Einsichten vermitteln, aber sie wurde weder der qualitativen Fülle anderer Seelenregungen gerecht, noch der Mannigfaltigkeit seelischer Differen- zierungen und Entwicklungen, noch der Grundtatsache der inneren Veranlagung und angeborenen Beschaffenheit des Kindes; denn Herbart bekämpfte die „Vennögens'* -lehre in jeder Form und glaubte an die Allmacht der von außen her auf die Seele einwirkenden Reize.

So hat denn die pädagogische Psychologie unserer Zeit im wesentlichen wieder von vorn anfangen müssen (wobei ihr selbstverständhch die vom Herbartianismus herkommende Mitarbeit wallkommen und wertvoll war). Sie hat mit dem geschärften Blick füi' das erfahi-ungsmäßig Gegebene und mit der neuen psychologischen Methodik unmittelbar die seelischen Probleme zu erfassen gesucht, die im Kinde, im Lehrer und in der pädagogischen Tätigkeit, in den Schulreformaufgaben schlummern. Eine große Reihe neuer Einsichten hat sie bereits trotz ihrer Jugend zutage gefördert; manche alten Meinungen praktischer Erziehungserfahrungen exakt formuliert und ausgebaut, andere widerlegt und überwunden. Doch wichtiger als das schon Erreichte ist, daß sich für die Zukunft unenvartete Ausblicke eröffnen in eine Psycholo- gisierung unseres Erziehungswesens, und daß den Erziehern eine neue vertiefte Einstellung auf die seelischen Probleme ihres Berufs gegeben wird. Die pädagogische Psychologie soll die Einsicht erwecken und zum inneren

1) Die Abhiindlung bildet das II. Kapitel eines später erscheinenden Buches, das unter dem Titel .Psychologie und Schule" als Abteilung des „Handbuches f. höhere Schulen", herg. v. Richard Jahnke, veröffentlicht werden wird. Die Niederschrift des Kapitels stammt aus der Zeit vor der Umwälzung; auf die neuen Beziehungen zw tschen Psychologie und Schule, welche durch die veränderten Verhältnisse und die schnell einsetzenden Reformen herbeigeführt werden, ist daher im Text noch nicht Bezug genommen.

Zeitschrift f. pädagog. Psycliologie. 1')

146 William Stern

Eigentum und Leitgedanken jedes Lehrers machen: „Werdende Persönlich- keiten sind es, deren seelische Reifung und geistige Bereicherung mir an- vertraut ist; seelische Hilfsmittel sind es, deren ich mich beim Lehren, Er- ziehen und Leiten, beim Organisieren und Reformieren bediene; seelische Tätigkeiten meiner selbst sind es, durch die ich meinen Beruf erfülle. Und deshalb ist eine fruchtbare Erfüllung meiner Erziehungsaufgabe gar nicht möglich ohne Verständnis für diese seelischen Unwägbarkeiten, ohne Ein- fühlung in die so andersartige Psyche der Schüler, ohne Selbstanalyse meines Strebens und Könnens, kurz ohne psychologische Einstellung."

Auch äußerlich betrachtet ist die pädagogische Psychologie schnell zu einer bedeutenden Kulturbewegung angewachsen, insbesondere, seitdem eine weit- gehende Arbeltsgemeinschaft zwischen praktischen Schulmännern aller Gat- tungen einerseits und Wissenschaftlern (Medizinern und Psychologen) anderer- seits zustandegekommen ist. Als solche führenden Psychologen seien St. Hall in Amerika, Binet (Frankreich) und E. Meumann (Deutschland) genannt. Es entstanden Vereine, Kongresse, Zeitschriften, die ausschließlich oder vor- nehmlich der pädagogischen Psychologie gewidmet waren; an Universitäten und Seminaren, in Lehrervereinen und Fortbildungskursen wurden Vortrags- reihen über das neue Gebiet abgehalten; staatliche psychologische Institute und eigens von Lehrervereinen gegründete Institute stellten sich in den For- schungsdienst der neuen Aufgaben; in jüngster Zeit haben auch Schulbehörden für unmittelbare praktische Aufgaben (z. B. für die Auslese unternormaler und übernormaler Schüler) die Mitarbeit derPsychologie in Anspruch genommen. 0

Und dennoch ist das alles erst als Anfang zu betrachten. Noch stehen weiteste Kreise der Lehrerschaft und nicht zum mindesten gerade der höheren Lehrerschaft dem neuen Gebiet gleichgültig und verständnislos, ja oft ablehnend gegenüber; hier wird nur durch langsame und unbeirrbare Arbeit Wandel geschaffen werden können, insbesondere dadurch, daß die jungen Lehrergenerationen ausnahmslos eine vertiefte Schulung in pädagogischer Psychologie erhalten. Ebenso aber wie der Unterricht muß auch die For- schungsarbeit erheblich ausgebaut werden; denn die wenigen, meist gering dotierten Institute mit ihrem an Zahl ganz unzureichenden Mitarbeiterstabe vermögen auch nicht annähernd die umfassenden Aufgaben zu bewältigen.

') über die Gesamtheit der Veranstaltungen und Organe der pädagogischen Psychologie unter- richtet bis zum Jahre 1911 das Verzeichnis: Forschung und Unterricht in der Jugendkunde. (Arbeiten des Bimdes für Schulreform. 1. Leipzig 1912); bis zur Gegenwart führen die ständigen Berichte in der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie" (früher Meumann und Scheibner, jetzt Scheibner und Stern), in der Zeitschrift für angewandte Psychologie (Lipmann und Stern) imd in der Zeitschrift für Kinderforschung (Trüper). Auch auf die Kongresse für Jugendbildung und Jugendkunde sei in diesem Zusammenhang hingewiesen, die vom Bunde für Schulreform in Dresden 1911, München 1912, Breslau 1913 veranstaltet wurden. (Berichte bei Teubner, Leipzig.) An zusammenfassenden Werken über das Gesamtgebiet der pädagogischen Psychologie seien genannt:

E. Meumann: Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik. 3 Bände.

2. Auflage 1912—1916, Abriß der experimentellen Pädagogik. 1914.

K. Groos: Das Seelenleben des Kindes. 4. Auflage 1913.

Gaupp: Psychologie des Kindes (Aus Natur und Geisteswelt. Nr. 213/4). 4. Auflage 1918. A, Binet: Die neuen Gedanken über das Schulkind. Leipzig 1912.

R. Schulze: Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie und Pädagogik. 3. Auf- lage 1913.

Psychologie und Schule I47

Institute für Jugendkunde sollten daher an möglichst vielen Orten aus öffent- lichen Mitteln geschaffen werden, teils als freie Forschungsveranstaltungen, teils als unmittelbare Organe der Schulverwaltung, da ein „schulpsychologischer Dienst" ähnlich dem schulärztlichen in absehbarer Zeit eine unabweisbare Notwendigkeit werden wird. ^)

Da unser Thema „Psychologie und Schule" heißt, so können die mannig- faltigen anderen Beziehungen, welche die Psychologie zur Kindheits- und Jugenderziehung hat, beiseite gelassen werden. Unser Buch wird also nicht bezugnehmen auf das ganze Gebiet der frühen Kindheit bis zum 6. Lebens- jahre, das seit Preyers Vorgehen vor einem Menschenalter sein- vielseitige psychologische Pflege gefunden hat. 2) Ebenso lassen wir die Bestrebungen beiseite, die einer Erforschung des außerschulischen Jugendlebens gelten; hier haben ja gerade Kulturerscheinungen der neuesten Zeit wie Jugend- bewegung und Jugendkultm-, Jugendgerichtsbarkeit und Jugendfürsorge, Jugendpflege und Jugendmilitarisierung brennende Probleme gestellt, die ohne psychologische Methoden nicht lösbar sind. Es bleiben für uns trotz- dem noch genug Fragen und Tatbestände übrig, die sich auf die Schule als solche erstrecken wobei wir freilich alle Schulgattungen und beide Ge- schlechter ins Auge fassen.

Dreifach geordnet sind diese Beziehungen zwischen Psychologie und Schule; denn wir haben eine Psychologie des Schülers nötig, eine der Fächer und pädagogischen Methoden, eine des Erziehers.

Die Psychologie des Schülers ist ein Teil der „Jugendkunde". Unter dieser verstehen wir die Wissenschaft von der Jugend in der Gesamt- heit ihrer Erscheinungen; sie umfaßt also auch die Erforschung der kind- lichen und jugendlichen Körperbeschaffenheit, der Gesundheit und Krank- heit, der jugendlichen Kriminalität und Sozialität, der biologischen Erbhch- keits- und der sozialen Umweltbedingungen, unter denen die Jugend steht. Aber immerhin bildet doch die Erforschung des jugendhchen Seelenlebens das eigentliche Zentralgebiet der Jugendkunde, schon deshalb, weil ja auch alle Einwirkung auf die Jugend den Weg über seelische Bahnen nimmt und seelische Formung zum letzten Ziel hat. Das jugendliche Seelenleben soll uns hier beschäftigen, soweit es das Schülerdasein, also das Jahrzwölft vom 7. bis zmn 18. Jahre umfaßt. Man wird hier zimächst an diejenigen see- lischen Vorgänge und Inhalte denken, die der Schüler in seiner Eigen- schaft als Schüler zeigt. In der Tat muß sich ja dem Pädagogen vor allem die Frage aufdrängen, wie das Kind seehsch auf die Anfordenmgen der Schule reagiert und ihnen gewachsen ist, mit welchen geistigen Mitteln es die gestellten Aufgaben löst (z. B. auffaßt, auswendig lernt usw.), welche Begabungen und Interessen es dem Lehrgut und der Unterrichtsmethode ent- gegenbringt, mit welchen Regungen des Willens- und Gemütslebens die Schul-

*) Zur Begründung obiger Forderungen vergleiche man die Prograuimschrift des Verfassers: Jugendkunde als Kulturforderung. Leipzig, Quelle & Meyer 1916.

^) Preyers grundlegendes Werk ,Die Seele des Kindes" erschien erstmalig 1882, seitdem in vielen Auflagen; doch ist es heut im wesentlichen überholt. Über den gegenwärtigen Stand orientieren die beiden zusammenfassenden Bücher: W. Stern, Psychologie der frühen Kindheit. Leipzig 1914. K. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes. Jena 1918.

10*

148 William Stern

zucht zu rechnen hat. Das Eingehen auf diese Fragen wird schon sehr dazu beitragen, dem Lehrer innerhalb der Praxis seiner täglichen Schularbeit jene erwünschte psychologische Einstellung zu erleichtern; er erkennt, daß nicht lediglich ein sachliches Objekt, das Lehrgut des Faches, auf den Schüler sachlich übertragen und von diesem rezipiert wird, sondern daß beseelte werdende Persönlichkeiten auf seine Tätigkeit reagieren und in diesen Reak- tionen die Eigenart ihrer Entwicklungsstufe, ihres Geschlechts, ihrer Indivi- dualität zu bekunden suchen.

Aber immerhin es sind doch auch nur Reaktionen, von denen wir eben sprachen; und es ist eine der Hauptthesen der neuen Persönlichkeits- lehre, daß das Reagieren nur die eine Seite persönlichen Tuns und zwar die von außen her bestimmte, darstellt. Daneben und darüber erhebt sich die Spontaneität, das von innen quellende Tun; und sie ist noch viel tiefer im Wesenskern des Menschen verankert als das bloße Reagieren; sie steht diesem aber auch nicht schroff gegenüber, sondern durchtränkt es und ver- flicht sich mit ihm in mannigfacher Weise. Daraus ergibt sich für uns die Folgerung, daß wir das Seelenleben des Schülers nicht nur kennen lernen müssen, sofern es reagierend unter den Schulanforderungen steht, sondern auch in seinen natürlichen, ungezwungenen und unerzwungenen Betätigungen^ in den inneren Gesetzmäßigkeiten der geistigen Entwicklung, im freien Spiel der Interessen und in den spontanen Regungen des Gemüts und Willens. Wollten doch die Pädagogen mehr, als es gewöhnlich geschieht, dieser Seite des Jugendlebens ihre Aufmerksamkeit zuwenden! Sie würden bemerken, daß die bloße Reaktion auf die unmittelbare Schuleinwirkung nur einen un- vollständigen Ausschnitt aus der Schülerpsyche zur Erscheinung bringt und Avürden staunend ganz neue Seiten an ihren Schülern entdecken, die auch erst ein tieferes Verständnis für die im Unterricht bemerkten und oft falsch beurteilten Reaktionen vermitteln so wenn sich zeigt, daß ein als „faul" geltender Schüler in Wirklichkeit mit zähem, unbeirrbarem Fleiß begabt ist, der sich aber nur auf einem Gebiet spontanen Interesses, etwa dem Basteln oder einer Kunstbetätigung oder der Hilfe im väterlichen Geschäft, zu be- tätigen vermag. Er würde endlich auch bei allen Organisationsfragen, Lehr- planfestsetzungen, Schulreformen usw. Rücksicht nehmen auf die spontanen Lebens- und Entwicklungsbedingungen der jugendhchen Seele und dadurch vermeiden, daß dem Kinde Stoffe und Methoden, die ihm innerlich fremd bleiben müssen, aufgezwungen werden. Damit soll natürlich nicht im ent- ferntesten einem wild wachsenden Aufsprossenlassen der Kinderseele, etwa im Rousseauschen Sinn, das Wort gesprochen werden; Pädagogik darf nicht nur geschehen lassen und die natürliche Entwicklung unbeeinflußt sich aus- wirken lassen nichts wäre unnatürlicher als solche „Rückkehr zur Natur". Aber sie soll, indem sie spendet und fördert, erzieht und belehrt, stets sich dessen bewußt sein, daß sie nicht gegen die Schüler, sondern mit ihnen und mit den in ihnen ruhenden Kräften arbeiten soll, daß diese spontanen Stre-: bungen und Anlagen nur darnach dürsten, verwertet und veredelt und da- mit selbst zu den stärksten Hilfsmitteln des pädagogischen Erfolgs erhoben zu werden.

Das Interesse der Schule am jugendUchen Seelenleben ist einerseits individualisierend, andererseits typisierend. Im ersten Falle handelt es sich darum, die einzelnen Schülerindividualitäten richtig zu erkennen und

Psychologie und Schule 149

auf Grund dieser Erkenntnis richtig zu behandeln, zu würdigen, zu beraten. Eine solche individualisierende „Menschenkenntnis" ist ja auch ohne Wissen- schaft möglich und nötig; sie kann aber durch Gesichtspunkte der psycho- logischen Wissenschaft erhebUch vertieft und durch ihre exakten Beobach- tungs- und Prüfungsmethoden bedeutend verfeinert werden. Im zweiten Falle gilt es, die für bestimmte Gruppen von Kindern oder Jugendhchen gemein- samen Wesensmerkmale festzustellen, um darauf die für jene Gruppen be- stimmten Unterrichts- und Organisationsmaßnahmen gründen zu können. So müssen wir die t>-pischen Seelenbilder der verschiedenen Altersstufen kennen, um den Lehrplan durch die Schuljahre hindm-ch „entwicklimgstreu'' aufzu- bauen. Wir müssen die typischen Unterschiede und Übereinstimmungen der Mädchen- und Knabenpsyche studieren, um die Reform der Mädchenschul- bildung nicht in einer geistlosen Nachahmung des Knabenunterrichts ver- ebben zu lassen. W^ir müssen die t>T)ischen Untei-schiede der Begabungen nach Art und Grad untersuchen, um die besonderen Schuleinrichtungen für Untemormale, Normale und Übernormale, sowie für die verschiedenen ein- seitigen Begabungsrichtungen zweckentsprechend organisieren zu können.

Geht die bisherige Betrachtung vom Schüler aus, so kann man nun auch von der anderen Seite herkommen, nämlich von den sachlichen und metho- dischen Bedingungen des Unterrichts; wir kommen so zu einer Psychologie der Fächer und Methoden. Die Bildungsgüter, die dem Schüler über- mittelt werden sollen, sind sehr verschieden nicht nur nach ihrem äußeren sachlichen Gehalt und ihrer kulturellen Bedeutung, sondern auch nach ihrer ,.psychologischen Struktur". Damit ist das Folgende gemeint. Jeder Bil- dungsstoff, z. B. die euklidische Geometrie oder die lateinische Grammatik, ist zunächst das Erzeugnis psychischer Leistimgen derjenigen, die jenes Ge- biet geschaffen haben. Darüber hinaus aber sind in ihnen dauernd gewisse psychische Inhalte und Funktionen niedergelegt, die notwendig aktiiell werden müssen, wo auch immer dieser Stoff zum Gegenstand menschlicher Tätigkeit gemacht wird. So setzt die Geometrie ganz bestimmte Betätigungen der visuellen Anschauung, der Abstraktionsfähigkeit, der konstruktiven Phantasie, der Fähigkeit logischen Scliließens notvs^endig voraus; eine Fremdsprache er- fordert Wortgedächtnis ^akustisches für den Klang der Worte, motorisches für die Aussprache, visuelles für die Schrift), assoziatives Gedächtnis für die Beziehung zwischen Wort und Bedeutung, Verständnis für sprachlich-logische Zusammenhänge, Einfühlung in den andersartigen Sprachgeist usw. Werden nun solche Bildungsstoffe zu Unterrichtsfächern, so erhebt sich sofort die Zielfrage: welche psychischen Funktionen sollen durch das Fach ins Spiel gesetzt, entwickelt und ausgebildet werden, und wie nmß Stoffauswahl, Unter- richtsweise usw. gestaltet werden, um diese Werte aus dem Fach herauszu- holen? Man denke etwa nur an die verschiedenen Bewertungen des deut- schen Aufsatzes: bald w^ird die schrifüiche Beherrschung der Muttersprache, bald die Fähigkeit zu straffer logischer Ghederung eines gegebenen Stoffes, bald der freie Ausdruck eigenen phantasievollen Erlebens als Ziel hingestellt. Und wenn auch die Psychologie selbst niemals das Ziel als solches zu recht- fertigen und zu begründen vermag, so liefert sie doch erst mit ihrer Analyse des Fachgebietes die Einsicht in die Vielheit und die Verknüpfungen der da- bei beteiligten seeUschen Funktionen und damit eine empirische Grundlage

150 Wüliam Stern

ür die sonst leicht im Abstrakten und Einseitigen verschwimmenden Ziel- betrachtungen, Um nur ein Beispiel zu nennen : die ganze moderne Reform des Zeichenunterrichts wäre nicht denkbar gewesen ohne die eingehende Untersuchung der beim Zeichnen ins Spiel tretenden psychischen Betätigungen und Leistungsformen.

Entsprechendes gilt von der Unterrichts methodik. Es gibt gewisse ganz allgemeine Verfahrungsweisen, die unabhängig vom Fach den ganzen Unter- richt durchziehen, und deren jede ihre besondere psychische Beschaffenheit hat. So ist das wörtliche Memorieren auf zum Teil anderen seelischen Funk- tionen aufgebaut als die sinnhafte Einprägiing, die nicht an den Wortlaut ge- bunden ist. Das sokratische Verfahren hat andere psychologische Voraus- setzungen als der zusammenhängende Vortrag usw. Bei allen Stoffen spielt die methodische Kette von der Vorbereitung und Darbietung über die Ver- knüpfung und Einordnung hin bis zur Einübung eine Rolle; diese Kette ist zugleich eine Abfolge verschiedener seelischer Tätigkeiten, sowohl beim Lehrer wie beim Schüler (bekanntlich ist diese Kette in der Lehre von den Herbarti- anischen „Formalstufen" schematisch festgelegt und zum Teil zu einer un- erh'äglichen Fessel der unterrichtlichen Tätigkeit ausgestaltet worden).

Die allgemeine Methodik aber spezialisiert sich nun wieder nach den Fächern und nach deren vorhin besprochenen psychologischen Merkmalen. Die Rolle, welche die Anschauung beim Rechenunterricht zu spielen hat, ist eine ganz andere als diejenige, die ihr etwa in der Naturkunde zukommt; das moderne Prinzip der „Selbsttätigkeit" kann anders beim Aufsatz als etwa in der Grammatik zur Geltung kommen. Die spezielle Didaktik der Unter- richtsfächer war ja bisher und ist zum Teil noch das Gebiet, auf dem eine unsystematische und unbedachte Reformwut sich besonders breit macht; und da ist es doch als großer Fortschritt zu betrachten, daß die Psychologie, zum Teil auch mit Hilfe experimenteller Methoden, exakt untersuchte, welche psychologischen Mittel am schnellsten, sichersten und nachhaltigsten be- stimmte unterrichtliche Zwecke zu verwirklichen geeignet sind. Die Ökonomie und Technik des Anschauens und Auffassens, des Lernens und Behaltens, des Wiederholens und Einübens wurde für eine ganze Reihe von Fachgebieten eingehend untersucht, und so manche praktisch wichtige Anweisungen und Ausgestaltungen der Unterrichtsmethoden konnten bereits daraus abgeleitet werden; weitere sind in Zukunft zu erhoffen.

Die Gesamtheit der eben besprochenen Bestrebungen, die vor allem auf eine psychologische Durchforschung, Begründung und etwaige Umformung der Unterrichtsstoffe und Methoden gehen, hat man als „experimentelle Didaktik" (Lay) und in erweitertem Sinne als „experimentelle Pädagogik" bezeichnet (Meumann). Es waren gar zu hoch fliegende Hoffnungen, die man anfangs auf dies neue pädagogische Arbeitsgebiet setzte; glaubten doch manche Heiß- sporne, daß überhaupt die ganze Pädagogik von dieser psychologisch orien- tierten Betrachtungsweise her grundstürzend gewandelt werden würde, ja daß Pädagogik sich ganz und gar in angewandter Psychologie erschöpfen würde. Diese Verstiegenheiten haben vielen Schaden angerichtet. Heut wissen wir, daß die anderen Betrachtungsweisen der Pädagogik : die kulturphilosophische und die werttheoretische, die soziologische und staatswissenschaftliche, die didaktische und organisatorische ihr Recht auch in Zukunft behalten werden, daß aber neben ihnen, als gleichberechtigte und unentbehrhche, früher

Paychologie und Schule 151

ungebührlich vernachlässigte Betrachtungsweise, die psychologische Pädagogik Beachtung und Pflege erheischt.

Aber die Psychologie des Schülers und die psychologischen Bedingungen des Unterrichts machen noch nicht das Ganze der seelenkundlichen Probleme aus, die uns die Schule stellt; die Psyche des Lehrers ist eine nicht minder wichtige Voraussetzung für das Gedeihen unseres Schulwesens. Merk- würdigerweise hat man bisher kaum bemerkt, daß hier eine Frage verborgen ist, deren Behandlung an Bedeutung der Erforschung der Schülerpsyche eben- bürtig ist. Wir hoffen, daß die Zukunft diese bedauerliche Lücke der päda- gogischen Psychologie bald ausfüllen möge; und vrir haben ein Recht zu dieser Hoffnung, da jetzt die Frage der psychischen Berufseignung zu einer der dringendsten unseres sozialen Lebens geworden ist.

Es ist eine elementare Forderung der heute unumgänghchen Menschen- ökonomie, daß in der beruflichen GUederung unseres Volkes überall „der rechte Mann an die rechte Stelle" komme. Wenn jemand in einen Beruf eintritt, in dem er nicht sein Bestes zu leisten vermag oder in den er sich innerlich nicht hineingehörig fühlt, dann ist das nicht nur ein Unglück für das Individuum, sondern auch ein Kraftverlust für die Allgemeinheit und eine jahrzehntelange Schädigung derer, die ihm von Berufs wegen anvertraut sind. Wendet man diesen Gesichtspunkt auf den Beruf des Pädagogen an, so ent- stehen die Fragen: W^er ist zum Lehrer innerlich geeignet? Welche Forde- rungen müssen an die Psyche desjenigen gestellt werden, der den Unter- richtsberuf ergreifen soll? Ganz befriedigend werden diese Fragen erst be- antwortet werden können, wenn die eigentümliche seehsche Struktur der pädagogischen Aufgabe und Tätigkeit vielseitig durchforscht sein wird. Aber eines darf schon jetzt hervorgehoben werden. Erziehung und Unterricht sind Tätigkeiten, in denen unmittelbar Mensch auf Mensch wirkt. W^enn auch stets ein Sachgebiet (Mathematik, Fremdsprache, Musik usw.) hier mitspielt nie handelt es sich lediglich um Pflege, Bearbeitung und Übermittlung dieses Sachgebiets, sondern um seine Verwertung im Dienste werdender Per- sönlichkeiten; nicht die „Sache", sondern diese Persönhchkeiten selbst also, ihre geistige Bereicherung, ihre sittliche Vervollkommnung sind die eigent- lichen Ziele der pädagogischen Tätigkeit. Daher ward zum Lehrer nur der- jenige psychisch geeignet sein, dem das Interesse am lebendigen Men- schen und seiner Entwicklung noch höher als das Interesse an der zu übermittelnden Sache steht. Damit ist nicht etwa ein Wert- urteil ausgesprochen, sondern nur eine psychologische Differenzierung fest- gestellt. Es gibt einen Menschentyp, der durchaus „sachUch" gerichtet ist: sein Interesse geht auf diejenigen Seiten der Welt, die er gegenständhch er- forschen und analysieren, logisch bearbeiten, mechanisch beheiTschen und organisieren kann. Und es gibt einen anderen Typ, dessen Neigung und Eignung vorwiegend „personalistisch" ist: in lebendige Wechselwirkung mit Menschen zu treten, sie nicht als bloße Objekte nach eigenen Wünschen zurechtzukneten, sondern sie unter Anerkennung ihrer persönlichen Wesen- heit zu beeinflussen und zu fördern, ist ihm freudige Lebenserfüllung. Wer vornehmhch zum ersten Typ gehört, kann ein vorzüglicher Fachgelehrter, ein hervorragender Organisator werden aber zum Lehrer, der zugleich stets ein Erzieher sein muß, wird er weniger geeignet sein. Nun besteht ins-

152 William Stern, Psychologie und Schule

besondere für den Oberlehrerstand die große Schwierigkeit, daß in ihm eine weitgehende Sach- und Fachbeherrschung mit dieser personaUstischen Ein- stellung und Interessenrichtung verbunden sein muß; es wird noch so manches an der akademischen Vorbildung der Oberlehrer geändert werden müssen, damit neben der vortrefflichen Fachausbildung, die die Universität gewährt, auch jenes eigentliche Berufsethos und die Berufspsychologie des Lehrers zur Geltung komme.

Des weiteren wird die Psychologie des Lehrers die besonderen seelischen Funktionen zu untersuchen haben, die bei der Wechselwirkung zwischen Lehrer und Schüler ins Spiel gesetzt werden. Welches sind die gnmdlegenden psychischen Bedingungen der unterrichtlichen Ai'beit und der „didaktischen Fähigkeit" ? Welche Eigenschaften des Pädagogen bestimmen das Autoritäts- und das Kameradschaftsverhältnis zu den Schülern? Wodurch vermag er die Klasse als Ganzes zu beherrschen und wodurch wiederum wird er zu indivi- dualisierender Behandlung der einzelnen Schüler fähig? Soviel Fragen, so viel Aufforderungen zu künftiger psychologischer Untersuchung, die nur in enger Arbeitsgemeinschaft von Psychologen und praktischen Kennern des Lehrerberufs wird geleistet werden können.

Endhch werden wir eine differentielle Psychologie des Lehrers ent- wickeln müssen. Zweifellos gibt es nicht nur einen Menschen typ, der als der spezifische Typ des Pädagogen betrachtet werden darf, sondern deren mehrere; und nun ward wieder zu prüfen sein, wie die verschiedenen Typen den so verschiedenen Aufgaben innerhalb der Schultätigkeit anzupassen sind. Dies gilt zunächst für die Fächer: der ideale Religionslehrer und der ideale Mathematiklehrer unterscheiden sich nicht allein durch das Fachwissen und den Unterrichtsgegenstand, sie müssen vielmehr in ihrer ganzen Persönlich- keitsstruktur, in ihrem psychischen Wechselverhältnis zum Schüler völlig von einander abweichen. Und es gilt für die Schulgi'uppen : so fordern Knaben- schulen und Mädchenschulen recht verschiedene pädagogische Einstellungen und Fähigkeiten, und es ist bedauerhch, daß die Entscheidung fiu- diese und Jene Schulgattung meist viel mehr aus äußeren oder aus Zufallsmotiven, als aus Rücksicht auf die besondere psychische Eignung erfolgt. Auch für die Altersstufen der Schüler differenzieren sich die Lehrertypen; es gibt Päda- gogen, die ihr Bestes gerade in der Erziehung und Unterweisung jüngerer Kinder geben können, andere, die für die reifere Jugend geeignet sind ist es recht, daß hier das Dienstalter ohne Rücksicht auf Psychologie allein maß- gebend ist? Und um ein ganz modernes Problem zu nennen : die jetzt be- ginnende Gruppierung der Schüler nach Begabungen kann nur dann zu günstigen Erfolgen führen, wenn auch die Lehrerwahl dieser Differenzierung entspricht. Schon bildete sich für die Schwachen im Geiste der besondere Typ des Hilfsschullehrers aus, der ganz andere Fähigkeiten haben muß als der Lehrer der Normalklassen. Und wenn jetzt nach der anderen Seite hin Klassen für besonders befähigte Kinder geschaffen werden, so wird sich bald zeigen, daß nicht jeder Pädagoge mag er sonst noch so tüchtig sein zum Lehrer einer solchen Begabtenklasse paßt; auch hier wird der erforder- hche psychologische Typ festgestellt und im konkreten Fall herausgefunden werden müssen.

So sei sich denn jeder Lehrer dessen bewußt, daß die Schulpsychologie, die ihn angeht, nicht erst beim Schüler einzusetzen hat, sondern bei ihm selber.

Otto Lipmann, Das Zusammenwirken der Schule und des Psychologen usw. 153

Das Zusammenwirken der Schule mid des Psychologen bei der Begabungs- und Eignungs-Auslese*).

Von Otto Lipmann.

Jede systematische Erziehung und jeder geordnete Unterricht hat zwei psychologische Voraussetzungen : Kenntnis des zu erziehenden und zu unter- richtenden Individuums und Kenntnis der Büttel, mit denen solche Individuen erziehhch und unterrichtlich beeinflußt werden können. Zu diesen jeder Pädagogik ursprtinghch anhaftenden psychologischen Voraussetzungen treten in neuester Zeit von außen her psychologische Forderungen anderer Art, Forderungen, die über die innerhalb einer Schule zu erfüllenden erzieh- lichen und unterrichthchen Aufgaben hinausgreifen: der Lehrer soll nicht nur mehr seine Zöglinge kennen, um sie bestmöglich erziehlich und unter- richtlich beeinflussen zu können, sondern er soll diese Kenntnisse auch einer Prophezeiung über ihr künftiges Lebensschicksal zugrunde legen; er soll unter Umständen und in gewissem Maße sogar dieses Schicksal mitbestimmen.

Ich spreche nicht davon, daß der Lehrer als solcher etwa, einen Berufs- rat erteilen soU; die Schule ist nicht in der Lage, auch als Berufsberatungs- stelle zu dienen. Denn wenn wir auch annehmen mögen, daß sie dem psy- chologischen Teil dieser Aufgabe, demjenigen Teil, der sich auf der Kenntnis der Schüler aufbaut, zu entsprechen vermag, so ist sie doch keinesfalls ohne weiteres in der Lage, auch über die einzelnen Berufe, ihi-e wirtschaftüche Lage usw. ausreichend unterrichtet zu sein. Dies kann nur eine Berufsberatungsstelle, die darauf eingerichtet ist, sich über diese Ver- hältnisse und ihren ständigen Wechsel dauernd auf dem Laufenden zu er- halten. Der Berufsberatungsstelle aber fehlt andrerseits wieder der genaue Einblick in die besonderen seeUschen Fähigkeiten und Eigenschaften des zu Beratenden, und wenn jeder Arbeitsuchende in denjenigen Beruf gestellt werden soll, für den er nach Maßgabe seiner psychischen Kiäfte bestgeeignet ist, wenn bei der Berufsberatung nicht, wie bisher, nur die wirtschaftlichen Aussichten berücksichtigt werden sollen, so muß der Berufsberater von anderer Seite her instand gesetzt werden, sich auch über die besondere Veranlagung der Ratsuchenden ein Bild zu machen. Diese Vorarbeit kann niemand besser leisten als die Schule; sie besteht hier in einer psycho- logischen Charakteristik der einzelnen Schüler, die sich zu erstrecken hat auf alle die fiu* eine künftige Berufswahl in Frage kommenden Eigenschaften, soweit der Lehrer in der Lage ist, eine besonders hohe Entwicklung oder einen auffallenden Mangel durch Beobachtung festzustellen.

In viel unmittelbarerer und verantw^ortlicherer Weise wird ein psycholo- gisches Urteil der Lehrer bei der Begabten auslese mit herangezogen und dem Übergang einzelner Schüler einer Schulgattung in eine andere zugnmde gelegt. Freilich hat auch hier gewöhnlich der Lehrer nicht das letzte aus- schlaggebende Wort. Handelt es sich um schwach begabte Schüler, so trifft der Schularzt die Entscheidung, ob eine Überweisung in die Hilfsschule an- gezeigt erscheint. Handelt es sich um übernormale Begabungen, so be- halten sich die Schulverwaltungen gewöhnhch vor, unter den von den Schulen

') Vortrag, gehalten am 20. März 1919 in einer von Stadtschulrat Dr. Buchenau in Neukölln bei Berlin veranstalteten Rektoren-Konferenz.

154 Otto Lipmann

für einen Aufstieg vorgeschlagenen Schülern eine engere Auslese zu treffen, und als Mittel einer solchen endgültigen Auslese wird dann gewöhnlich das psychologische Experiment verwendet, und mit seiner Durchführung wird ein „Schulpsychologe" beauftragt.

Solche Prüfungsexperimente sind notwendig,

1. wenn die Zahl der von den Schulen vorgeschlagenen Schüler größer ist als die Zahl derjenigen, welche die Schulverwaltung für einen Aufstieg in Aussicht genommen hat;

2. wenn die Schulverwaltung glaubt, dem Lehrerurteil allein in dieser wichtigen Frage nicht trauen zu dürfen;

3. wenn die Urteile der Rektoren und der verschiedenen Lehrer und die Schulleistungen in Widerspruch zueinander stehen, vielleicht auch, wenn der gesetzliche Stellvertreter eines nicht vorgeschlagenen Schülers glaubt, daß dieser gleichfalls ein Anrecht darauf gehabt hätte, mit vorgeschlagen zu werden.

Die Ausführung solcher Ausleseprüfungen muß natürlich einem Fach- psychologen überlassen sein, da nur eine Vertrautlieit mit der Technik des psychologischen Experimentierens überhaupt und eine gründhche Kenntnis der speziellen anzuwendenden Methoden und ihrer Fehlerquellen eine sach- gemäße Durchführung der Prüfungen selbst und eine brauchbare Wertung der Ergebnisse gewährleistet. Aber auch hier wird schon ein Zusammen- wirken des Psychologen mit der Lehrerschaft insofern erforderlich sein, als der Psychologe allein nicht imstande ist, sämtliche Prüfungen in der erforder- lichen Schnelligkeit durchzuführen und auszuwerten. Es wird sich eine unter Leitung des Psychologen stehende Arbeitsgemeinschaft bilden müssen, in der die Methoden der Prüfung und der Wertung genau besprochen werden und deren Mitglieder dann einen Teil der Durchführung übernehmen können, ohne daß Exaktheit und EinheitHchkeit der Prüfung darunter leidet.

Eine solche Arbeitsgemeinschaft zwischen dem Psychologen und den Lehrern ist auch noch aus einem weiteren Grunde erforderlich : Das Ziel der Begabten- prüfung ist, wie ich schon vorher andeutete, die Grundlage für eine Prophe- zeiung darüber zu schaffen, ob der Prüfung gewissen Anforderungen, die in Zukunft an ihn herantreten werden, zu entsprechen imstande sein wird. Wenn diese Anforderungen qualitativ anderer Art sind, als diejenigen, die bisher an den Prüfling gestellt wurden, so können die bisherigen Leistungen des Prüfhngs naturgemäß keine genügende Grundlage für jene Prophezeiung gewähren; daraus, daß einer in den Elementarfächern Genügendes oder auch sehr Gutes leistete, kann man nicht ohne weiteres schließen, daß er sich auch Fremdsprachen oder der Mathematik gegenüber ebenso bewähren wird. Man hat nun in der „Intelligenz" eines Schülers diejenige Eigenschaft zu finden geglaubt, die ihn befähigt, ganz allgemein sich neuen Anforderungen anzupassen und neu an ihn herantretende Aufgaben bewältigen zu können, und man hat dementsprechend jene Prophezeiung auf eine Prüfung der all- gemeinen Intelligenz aufbauen zu können vermeint. Dem gegenüber glaube ich: wir müssen unser Ziel enger stecken, wir können nicht prophezeien, ob ein Schüler einmal allen neuen Anforderungen, die das Leben an ihn stellen wird, entsprechen wird; wir können das schon deshalb nicht, weil der Schüler ja noch kein fertiger Mensch ist, weil seine Intelligenzentwick- lung ja noch nicht abgeschlossen ist, weil eine solche InteUigenzentwicklung nicht stetig verläuft und weil kein Mensch, und auch kein Psychologe, über-

Di3 Zusammenwirken der Schule und des Psychologen usw. 155

sehen kann, in welcher Weise diese Entwicklung z. B. durch die Pubertät gefördert oder gehemmt werden wird. Aus diesem Grunde müssen wir uns damit begnügen, eine Prophezeiung nur für die allernächste Zukunft auszu- sprechen; die Prüfung darf dementsprechend nicht auf eine abstrakt-all- gemeine Intelligenz gerichtet sein, sondern sie muß diejenigen Eigenschaften betreffen, welche die nächste Zukunft von dem Schüler verlangen wird. Unsere Aufgabe bei der Begabten-Prüfung ist also die, zu entscheiden, ob ein Schüler diejenigen Eigenschaften besitzt, welche die neue Schule, in die er gegebenenfalls eintreten soll, ihrer Art nach von ihren Schülern verlangt, also z. B. diejenigen Eigenschaften, welche die Grundlage für das Erlernen fremder Sprachen, für das mathematische Verständnis, für technische Fertig- keiten usw. bilden. Diese Anforderungen aber kennt der Psychologe, der nicht zugleich Schulpraktiker ist, nur sehr unvollständig, und nm* die Arbeits- gemeinschaft mit Lehrern kann dazu verhelfen, das Prüfungsverfahren möglichst genau dem anzupassen, was es eigentlich leisten soll.

Ich will nur nebenbei erwähnen, daß meine vorigen Ausfühi-ungen nicht etwa einen Widerspruch gegen die Tendenz der neueren Schulorganisation bilden, die unter dem Schlag worte „Aufstieg der Tüchtigen" steht. Nur meine ich, die Schule und der Psychologe sind nicht imstande, diejenigen zu erkennen, die später einmal schlechthin „die Tüchtigen" sein werden. Wohl aber kann es als Grundsatz der Schulorganisation hingestellt werden: Jedem Schüler dasjenige Höchstmaß von Schulbildung zuteil werden zu lassen, dem er nach Maßgabe seiner jeweiligen Leistungsfähigkeit eben gewachsen ist Man wird nicht annehmen können, daß die oben erwähnten Unstetig- keiten der Entwicklung in der Mehrzahl der Fälle das Verhältnis zwischen den heute Tüchtigen und heute Untüchtigen gradezu umkehren werden, und man wird so, selbst wenn man sich auf kurzfristige Prophezeiungen be- schränkt, damit meist wohl auch gleichzeitig die Lebens tüchtigen von den weniger Lebenstüchtigen scheiden. Daß dies nicht völlig geschieht, be- trachten wir als kein Unglück. Die Unstetigkeiten der Entwicklung werden dann immer dafür sorgen, daß einerseits auch Intelligente, zwar ohne be- sondere Schulbildung, den niederen Berufen erhalten bleiben, und daß ihnen andrerseits auch weniger Intelligente, die zwar eine höhere Schulbildung genossen haben, aber doch in einem höheren Berufe nicht weiterkommen, wieder zuströmen.

Ich habe nun ziemlich ausführlich über das Zusammenwirken der Lehrer und des Psychologen bei der Begabten prüf ung gesprochen, und doch be- tiachte ich diese Aufgabe letzten Endes nicht als die wichtigste. Sie setzt, wie ich sagte, immer ein aktives Mitwirken des Psychologen voraus, und ich muß gestehen, daß dies vom Standpunkte des Lelu-ers aus angesehen, als eine Eimnischung in seine allereigensten Angelegenheiten betrachtet werden muß. Mir scheint allerdings diese Mitwirkung des Psychologen heute noch unumgänglich; aber andrerseits müssen wir doch an dem Ziel fest- halten, sie allmählich überflüssig zu machen. Wie kann das geschehen?

Von den Zwecken, denen eine Begabtenprüfung zu dienen hat, erwähnte ich vorher die, daß sie eine engere Auswahl unter den von der Schule vor- geschlagenen Schülern treffen soll. Dieser Zweck wird hinfällig, wenn die Vorschläge der Schule so gut begründet sind, daß mit Recht von der Schul- verwaltung verlangt werden kann, ihnen sämtlich ohne weiteres Rechnung

156 Otto Lipmann, Das Zusammenwirken der Schule und des Psychologen usw.

zu tragen, d. h. allen denjenigen Schülern, die von ihren Lehrern als dazu geeignet erklärt werden, den Übergang in eine höhere Schule zu ermög- lichen, und wenn die vorhandenen Schulen und Klassen nicht ausreichen, neue zu schaffen. Wenn die Vorschläge der Schule den hierfür erforder- lichen Grad der Zuverlässigkeit erlangen, so wird damit auch der weitere Zweck der Prüfungen hinfällig, daß sie nämlich der Schulverwaltung eine Nachprüfung der Schulvorschläge ermöglichen soll. Es bleibt dann also nur der dritte der genannten Zwecke übrig, eine Entscheidung im Falle von Widersprüchen und Einwendungen herbeizuführen; auch dies würde nur noch in äußerst seltenen Fällen in Frage kommen, wenn die eben genannten Vor- bedingungen erfüllt sind.

Es liegt also im eigensten Interesse der Lehrerschaft, ja es ist gewisser- maßen eine Ehrensache für sie, daß es ihr gelingt, auch ohne das Hilfs- mittel experimenteller Prüfungen zu einem entscheidenden Urteil über die Befähigung der Schüler zu kommen. Das Mittel, dessen sie sich dabei zu bedienen hat, ist die eingehende und systematische psychologische Beob- achtung der Schüler. Den Lehrer zu einer solchen Beobachtung instand zu setzen, darin erblicke ich die zweite und die wichtigste Aufgabe eines Schulpsychologen.

Man wird mir hier vielleicht einwenden: Der Lehrer, der tagein, tagaus, jahrein, jahraus mit den Schülern zusammenlebt, stellt ja schon ganz von selbst immerfort Beobachtungen an und braucht dazu nicht erst eine psy- chologische Anleitung. Dies ist richtig und falsch zugleich. Richtig insofern, als in der Tat auch nach meiner Überzeugung die jahrelang fortgesetzte Beobachtung mehr und zuverlässigere Ergebnisse zeitigen kann als ein ein- maliges Prüfungsexperiment; falsch, insofern die Beobachtung seitens des Lehrers einmal eine unsystematische, nicht durch psychologische Gesichts- punkte geleitete, und zweitens meist nicht auf die Begabung, sondern auf Leistungen des Schülers gerichtete ist. Die Aufgabe des Psychologen ist also, die Aufmerksamkeit des Lehrers auch auf die Begabungen, auf die psychischen Eigenschaften der Schüler einzustellen und dem Lehrer zu zeigen, auf was alles er zu achten hat, um zu einem begründeten Urteil über die Eignung des Schülers, sei es für den Besuch einer bestimmten höheren Schule, sei es für einen Beruf zu gelangen. Denn wenn die Schulverwaltung oder der Berufsberater diesem Urteil über die Eignung ohne weiteres ver- trauen soll, so genügt es natürlich nicht, wenn es nur zusammenfassend lautet : X ist für diese oder jene Schule oder für diesen oder für jenen Beruf geeignet; es muß vielmehr auch ersichtlich sein, auf welche Einzelbeob- achtungen bzw. auf die Beobachtung welcher Eigenschaften sich dieses Urteil stützt.

Der Psychologe wird also dem Lehrer eine Beobachtungsanweisung in die Hand zu geben haben, die in systematischer Aufzählung alle diejenigen Einzeleigenschaften nennt, deren Vorhandensein für die Eignung für den Besuch einer höheren Schule oder für verschiedene Berufe maßgebend ist. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die meisten dieser Eigenschaften in der Tat durch den Lehrer beobachtet werden können, sei es im Untenicht selbst, sei es bei Turnspielen, sei es bei Schulausflügen. Im Zusammenarbeiten zwischen dem Psychologen und der Lehrerschaft, in der oben erwähnten Arbeitsgemeinschaft, wird man dazu gelangen, in die Beobachtungsanweisung

Lobsien, Höh. Intelligenzprüfung an Jugendl. mit Hilfe des Bindoworttests j 5 ,

auch noch bei jeder der zu beobachtenden Eigenschaften eine Aufzählung der Beobachtungsgelegenheiten mitaufzunehmen.

Ich will nicht leugnen, daß dem Lehrer eine behächthche Mehrarbeit er- wächst, wenn er in der geforderten Weise gründliche Beobachtungen über seine Schüler anstellt und sorgfältig aufzeichnet. Aber diese Mehrarbeit ist nicht so bedeutend, Wie es zunächst scheinen mag, wenn man die Aufgabe darauf beschränkt, nur das auffällige Verhalten eines Schülers in dieser oder jener Richtung zu beachten, und wenn die Beobachtungen nicht etwa nur auf die Zeit unmittelbar vor einer Entscheidung beschränkt, sondern über die ganze Schullaufbahn des Schülers ausgedehnt werden. Was daraus dennoch dem Lehrer an Mehrarbeit erwächst, muß er, wie mir scheint, gern in Kauf nehmen, aus dem Gefühl heraus, daß er, wie keine andere Instanz berufen ist, die Verantwortung für das künftige Schicksal seiner Schüler zu Obernehmen und zu tragen.

Der Psychologe erblickt seine Hauptaufgabe darin, den Lehrer dazu instand zu setzen, und damit seine eigene aktive Mitwirkung mit der Zeit mehr und mehr überflüssig zu machen. Er wird schließlich nur noch in besonderen Fällen mit heranzuziehen sein und seine Tätigkeit im übrigen darauf be- schränlven können, das durch Beobachtung und gegebenenfalls auch durch Piiifungen gewonnene Material 'wissenschaftlich zu verarbeiten und die Er- gebnisse der Beobachtungen und der Experimente mit der weiteren Schul- und Lebensbahn der beobachteten und geprüften ^Schüler zu vergleichen.

Höhere Intelligenzprüfung an Jugendlichen mit Hilfe des Bindeworttests.

Von Marx Lobsien.

Die praktische Dui'chführung des Einheitsschulgedankens 'ward dem Prüfungs- wesen eine höhere Bedeutimg zuweisen als bisher. Es kann keinem Zweifel imteriiegen, daß die wissenschaftHche Intelligenzprüfung durch diese Tatsache vor verantwortungsvolle Aufgaben gestellt wird: Als deren erste dürfen wir hinstellen, das eindringliche Bemühen um das Gewinnen zuver- lässiger Prüfungstests. Tests, die sich bisher als wertvoll erv.iesen haben, müssen in neuen umfänglichen Untersuchungen eine Bewährung, eine sorgsame Eichung erfahren, neue müssen ersonnen und ei-probt werden. Es kann nicht geleugnet werden, daß wir inmitten dieser Arbeit von der Verwirklichung der neuen Umgestaltung überrascht worden sind.

Methode.

Die nachfolgenden Untersuchungen stellen sich in den Dienst der Eichung eines noch jungen,aber, wiemirscheinen>\Tll,außerordentlich vielversprechenden Tests, des Bindeworttests. Er ist eine besondere Form des seitEbbing- haus bekaanten Ergänzungstests, stellt aber an den Prüfling weit höhere An- forderungen, weil er das streng logische Verhältnis benachbarter Gedanken- einheiten zu einander fordert, als dessen Ausdruck die Konjunktionen dienen.

158 Marx Lobsien

Um dieser Schwierigkeit willen eignet sich der Test nicht für jüngere Schüler, sondern erst für Prüflinge, die zwölf Jahre und darüber alt sind, Lipmann*) hat die Methode ersonnen. Der von ihm entworfene Text ist für die vorliegenden Untersuchungen zu leicht. Ich benutze den von Stern "^j mitgeteilten Minkus-Test; der gesamte Wortlaut des ziemlich langen Textes ist an der genannten Stelle nachzulesen; hier sei nur noch einmal der An- fang abgedruckt:

Der Freund aus der Unterwelt.

In einer größeren Stadt Chinas lebte einst ein strebsamer Beamter namens Tien. (1.) .... sein Gehalt für ihn und seine junge Frau kaum ausreichte, hätte er sich gern eine besser besoldete Stellung erworben. (2.) .... er hatte wenig Hoffnung, die hierzu nötige Prüfung zu bestehen, (3.) .... ihm nicht geradezu ein Wunder zu Hilfe kam. Oft war er nahe daran zu verzweifeln, (4.) .... er sich alle erdenkliche Mühe gab, wollte in seinem armen Kopfe nichts haften bleiben : stets vergaß er das mühsam Gelernte (5) . . . . überhaupt wieder völlig, .... er behielt es nur verworren in seinem Gedächtnis. (6.) .... glaubten seine Freunde, die sich (7.) .... für diese Prüfung vorbereiteten, er werde nichts erreichen, und redeten oft lange auf ihn ein, (8.) .... ihn endlich einmal von der Aussichtslosigkeit seiner Anstrengungen .... überzeugen. Aber (9.) .... ihn seinem Vorhaben abspenstig .... machen, spornte ihn solche Reden, weit entfernt ihren Zweck zu erreichen, gerade an. und gegen aller Erwarten erreichte er trotz seines schlechten Gedächt- nisses auch wirklich sein Ziel. Er bestand schließlich die Prüfung (10.) .... als bester von allen und mit großer Auszeichnung. Das ist eine wunderliche Geschichte. (11.) .... ihr mir zuhören wollt, erzähle ich euch, wie es sich zugetragen hat. Aber glauben werdet ihr mir wohl kaum, so seltsam klingt alles. Und doch ist (12.) .... irgend etwas übertrieben .... hinzu- gedichtet. Usw. usw.

Die besten Lückenausfüllungen lauten: 1. da, 2. aber, 3. wenn, 4. denn obgleich, 5. ent- weder — oder, 6. daher, 7. gleichfalls, 8. um zu, 9. anstatt zu, 10. sogar, 11. wenn, 12. weder noch, 13. nachdem, 14. während, 15. denn, 16. obgleich, 17. so daß, 18. nicht einmal, 19, ebensowenig, 20. ehe, 21. statt dessen, 22. vorher, 23. währenddessen, 24. damit, 25. dann, 26. denn wenn, 27. nachdem, 28. wenn, 29. entweder, 30. so daß, 31. dann (hierauf), 32. da (weil) 33. währenddessen, 34. nur zu, 35. anstatt zu, 36. nicht einmal, 37. vorher, 38. damit, 39. weder noch. 40. statt dessen, 41. sogar, 42. trotzdem, 43. denn, 44. wenn, 45. ebensowenig (auch nicht), 46. auch (ebenfalls), 47. obgleich, 48. daher, 49. während, 50. ehe.

Der Minkus-Test ist mit außerordenthchem Scharfsinn aufgebaut worden. Es kam darauf an, möghchst alle Denkbeziehungen, die durch Bindewörter vertreten werden, in den Text hineinzuarbeiten und, damit der Zufall nicht entscheide, die Denkbeziehungen wiederholt und in verschiedenen Satzver- bänden zu bringen. Trotz der Sorgfalt ist nicht vermieden worden, daß die Lücken eine mehrdeutige Ausfüllung zulassen. Neben den genannten Binde- wörtern können andere eine durchaus gleichwertige Anwendung finden. „Die Denkmöglichkeiten sind eben mannigfaltiger und lassen sich nicht in eine bestimmte grammatische Kategorie einzwängen." Damit ergeben sich für die Beurteilung der Lückenausfüllungen manche Schwierigkeiten, aber keineswegs so starke, daß man Melchior zustimmen müßte, wenn er urteilt: „Die Text- ergänzungen vermögen einwandfreie Ergebnisse nicht zu bieten." Man muß sich nm- vor einer lediglich grammatischen Bewertung hüten. Man darf nicht

1) Vergl. Otto Lipmann: Die Entwicklung der grammatisch-logischen Funktionen; Zeitschr. für aug. Psychol. XH., S. 347 ff.

2) W. Stern, Höhere Intelligenztests zur Pi-üfung Jugendlicher. Diese Zeitschr. Bd. 19, (Heft3/4) S. 71 ff. (S. 7 der Sonderausgabe: Das psychol. päd. Verfahren der Begabtenauslese. Leipzig 1918). Über bisherige Anwendungen des Minkus-Tests berichten: O. Melchior, Die Methode der Bindewortergänzung. A. a. 0. S. 103 (Sonderausgabe S. 39); W. Minkus (f) und W, Stern, Die Bindewortergänzung. Beiheft 19 zur Zeitschr. für ang. Psychol. 1910.

Höhere Intelligenzprüfung an Jugendlichen mit Hilfe des Bindeworttests 150

danach fragen, ob die „am besten passenden fünfzig Ergänzungen vollkommen treffend von den Prüflingen angewandt worden sind'^, sondern muß sich mit der Feststellung begnügen, ob das gewählte Bindewort, nicht sowohl gram- matisch voll einwandfrei, wohl aber mit vollkommener DeutHchkeit erkennen läßt, daß die Denkbeziehung klar erfaßt und ausgedrückt ist. Wir wollen mit der Methode nicht in erster Linie die grammatisch geschulte sprachliche Ausdrucksfähigkeit, sondern die Intelligenz prüfen, die den logischen Zu- sammenhang der Gedankenglieder klar erfaßt. Dazu ist unbedingt notwendig, daß der Versuchsleiter zumal wo es sich um Prüflinge handelt, die nicht in geschulter sprachhcher Hochkultur stehen genau über die landläufige Ausdrucksweise und den durch den Dialekt gebundenen Gebrauch der Kon- junktionen unterrichtet ist. Ich gebe aus meinen Versuchsprotokollen eine kleine Beispielssammlung, die zeigt, wie streng grammatische Bindungen durch die Umgangssprache für den Kundigen so ersetzt werden, daß sie von der logischen Erfassung des Zusammenhangs deutlich genug Zeugnis ablegen :

grammatisch volkstümlich grammatisch volkstümlich

nicht nur schon bevor ehe

daher deshalb, darum während wie, als

währenddessen . . . währenddem, nun ehe vordem, erst

da nachdem gleichfalls auch, ebenfalls

anstatt zu ohne nicht einmal .... sogar, schon

als wie, nachdem obgleich wenn auch

trotzdem obgleich, statt dessen denn dann

Unter Berücksichtigung der sprachlichen Schwierigkeiten bem-teilen wir die Ergänzungen nach folgenden drei Gesichtspunkten: 1. die Denkbeziehung wird richtig erkannt (Treffer), 2. sie wird falsch gedeutet (Fehler), 3. sie wird nicht erfaßt (Auslassung).

PrüfUnge waren 86 Schüler einer gewerbUchen Fortbildungsschule, die gelegentlich einer umfassenden Untersuchung ihrer physischen Berufseignung auch auf ihre Intelhgenz geprüft wurden. Sie standen im Alter von sechzehn bis neunzehn (achtzehn) Jahren und gehörten der Mittel- und Oberstufe an.

Der Minkustext wurde ihnen vorgelegt, und sie füllten nach ruliiger Über- legung, ohne an einen Zeitraum gebunden zu sein, die Lücken nach bestem Können aus. Sie waren allesamt mit großem Eifer bei der Sache.

Ergebnisse. 1. Beziehungen zum Lebensalter.

In der folgenden Übersicht finden sich für ganze Schulgi*uppen und Prozent- angaben der Treffer und Fehler die Häufigkeit der angewandten Kategorien. Die Auslassungen ergeben sich durch eine Subtraktion der Summe der Treffer und Fehler von Hundert. (Siehe Tab. S. 160.)

Fassen wir zunächst die untere Summenreihe ins Auge, die die Leistungen der einzelnen Altersgruppen ohne Rücksicht auf die verschiedenen Arten der Denkbeziehungen erkennen läßt, dann sehen wir mit zunehmendem physischen Alter ein langsames Steigen der Leistungen und finden, daß die Trefferzahlen der Siebzehnjährigen hinter denen der übrigen zurückstehen.

160

Marx Lobsien

Kategorie

16j ährig 17j ährig

18 jährig

Summe

adversativ . kausal . . . final .... komparativ . konsekutiv . konzessiv . . konditional . disjunktiv koordinierend temporal . .

26,3 62,2 61,8 19,7 34,2 50,5 67,1 28,9 36,8 60,9

67,9 32,2 26,3 63,2 46,1 34,4 21,5 34,2 44,7 32,9

31,5

62,5 67,8 27,9 41,7 36,9 79,3 19,0 52-4 58,1

54,2 27,9 19,6

57,7 42,3 51,2 15,5 46,4 23,8 34.9

26,4 61,1 67,5 34,7 25,0 33,3 86,1 22,2 36,1 37,9

56,9 27,8 29,2 37,5 54,2 55,6 6,9 41,7 22,2 28,5

28,1 61,9 65,7 28,1 33,6 40,2 77,5 23,4 41,8 52,3

563 29,3 25,0 52,8 47,5 47,1 14,6 40,8 30,2 32,1

iSumme

45,1 39,3

47,4

37,4

42,0 I 36,1 I 44,9 •)' 37.6

Vernachlässigen wir die Altersunterschiede, indem wir allein auf die Be- vorzugung der zehn Kategorien untereinander achten und sie aufsteigend nach der Anzahl der richtigen Lösungen, also der Treffer ordnen, dann ergibt sich folgendes Bild.

10 20 30 9-0 50 60 70 60 90

Disjunffh'y KomparaHy

Konsekuh'k'

Hoordinierend

Temporal

Kausal

Final. Kond'iHonal

- Treffer

- Fehler

' Treffer u. Fehler

•) Die Differenz von 0,02 in den wagrechten und senkrechten Schlußsummen erklärt sich .ans den üblichen Erhöhungen.

Höhere Intelligenzprüfung an Jugendlichen mit Hilfe des Bindeworttests \Qi

Die Zeichnung ergibt folgende Reihenfolge in der Häufigkeit und Schwierig- keit der zehn Denkbeziehungen: adversative, komparative, disjunktive, kon- sekutive, konzessive, koodinierende, temporale, kausale, finale und kon- ditionale. Man beobachtet deutlich zwei Fünfergruppen, die durch einen recht großen Prozentabstand voneinander getrennt sind, nur die koodinierenden Denkbeziehungen stehen auf der Grenze; zählt man sie der ersten Gruppe zu, dann ergeben sich als arithmetische Mittelwerte dort 35,1, hier 64,4 Treffer auf je Hundert.

Jetzt fragen wir, ob die physischen Altersunterschiede bemerkenswerte Unterschiede in der Bevorzugung der Kategorien erkennen lassen. Wir fassen zunächst die beiden Gruppen ins Auge.

Gruppe j 16 jährig 1 17 jährig

18 jährig

1 I 32,6 ! 34,9 29,6

2 i 63.0 I 66,9 ! 63,2

Wir finden bestätigt, daß auf allen Altersstufen die Leistungen in der zweiten Gruppe über die der ersten nahezu um das Doppelte hinausgehen. Im besonderen zeigen sich die siebzehnjährigen Prüflinge den beiden anderen Altersstufen etwas überlegen.

Im einzelnen erkennen wir die Altersdifferenzen aus folgender Übersicht.

10 20 30 ^0 50 60 70 80 90 700

—^ \ \ \ \ \ \ \ r

Dispunkt-Jy Homparatit'

Honsekuh> i^onzessiw

/koordinierend Temporal Kausal Final

Konditional

- Ourch^chnittöleistung

= 16 jährige Prüflinge

. 17 : . •.

^ 18 ' ' '

Wir erkennen, wie im großen und ganzen auf allen Altersstufen ein über- einstimmender Aufstieg der Ordinalen innegehalten wird. Das hindert aber

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 1 1

162 Lobsien, Höh. Intelligenzprüfung an Jugendl. mit Hilfe des Bindeworttosts

nicht, daß im einzelnen eigentümliche Abweichungen hervortreten; sie ergeben sich aus der Zeichnung von selbst und bezeugen, daß der physische Alters- fortschritt für den Wechsel nicht allein verantwortlich gemacht werden kann.

2. Beziehungen zur Intelligenz.

In der folgenden Übersicht ordne ich die Schüler erneut, nun aber gieife ich die gut- und die schlecht veranlagten Prüflinge heraus, ohne Rücksicht auf deren Alter zu nehmen.

!

■73 G

■>

>

'-2

>

CS

G

>

2

Kategorie

■s

c6

m

o

e

e8

(S

u

ee

Oh

o

0

G

O

g

<D

03

,—1

B

m

s

'C

fi

«;

Ph

s

>

p

G

G

G

o

S

TS

d

G

o

O

O

o

o

c

^

•ü

M

M

J4

'S

^

•4^

^

Schüler begabt . .

57

85

85

35

68

57

78

65

80

73

68

Schüler schwach-

begabt ....

18

48

42

8

32

23

50

5

10

57

27

Die Leistungsunterschiede sind ganz erheblich größer, als wenn nur die Altersunterschiede verglichen werden. Daraus ist zu schließen, daß die richtige Auffassung der Denkbeziehungen zur Intelligenz in weitaus engerer Beziehung steht als zu den Altersdifferenzen.

KomparaHy

Honzess'ii/

Di3Junh/-/y

Monsekat/y

Temporal

Konditional

Koordinierend

final

Kausal

10

T"

20

30 1-0 50 60 70

80

90

Albert Huth, Die Nebensätze in der Kindersprache

163

Im einzelnen stellen die Denkbeziehungen an die beiden Gruppen sehr ungleiche Anforderungen.

Übereinstimmend stoßen die komperativen, adversativen und konzessiven Denkbeziehungen beiderseits auf große Schwierigkeiten, bezeichnenderweise aber sind es die disjunktiven und koordinierenden, die nur die wenigsten schwächer Befähigten zu erkennen vermögen. Alle drei stellen an die Intelligenz die höchsten Anforderungen.

Endlich möge noch in einer Übersicht gezeigt werden, daß auf den ver- schiedenen Altersstufen die gut und schwach Begabten eigentünüiche Leistungsschwankungen zeigen :

Kategorie

Gute Schüler 16 jähr, j 17 jähr. I 18 jähr.

Schwache Schülar 16 jähr, j 17 jähr. | 18 jähr.

adversativ .

. I 40

[ 70

60 jl

15

15

25

kausal . . .

. ' 85

80

90 1;

45

45

55

final . . ,

. 1! 75

100

80

55

50

20

komparativ .

. ü 25

40

40 '

10

5

10

konsekutiv .

. r 60

75 .

70

25

35

35

konzessiv .

. ' 55

80

35

25

15

30

konditional .

60

90

85

60

30

60

disjunktiv .

70

45

80

10

5

0

koordinierend

70

90

80 .

10

10

10

temporal . .

90

85

45

35

40

35

Durchschnitt

63

75,5 '

66,5 i

28

25

28

Der Unterschied der guten und schlechten Schüler ist überall sehr bedeutend, ist aber bei den Siebzehnjährigen besonders deutlich ausgeprägt.

Rückblickend dürfen wir auf Grund unserer Untersuchung feststehen, daß der Minkus-Test ein vorzügUches Mittel zur Prüfung der Leistungsunter- schiede ist; nicht nur, daß er als Gesamtleistung betrachtet, die Begabungs- unterschiede deutlich zu erfassen vermag er bietet auch in der Verteilung und Abstufung der verschiedenen Denkbeziehungen eine Handhabe, feineren Tntelhgenzunterschieden nachzugehen .

Die Nebensätze in der Kindersprache. ^)

Von Albert Huth.

Die vorhegende Untersuchung stellt sich zur Aufgabe, unsere wissenschaft- liche Kenntnis der Nebensätze in der Kindersprache za ergänzen und einer um- fassenden Untersuchung übsr die Entwicklung des Satzbaues durch eine kritische Übersicht über die dazu dienlichen Methoden vorzuarbeiten. Es handelt sich also um die verschiedenen Formen lediglich des Nebensatzes; der Hauptsatz wurde nicht behandelt, weil wir über die einzelnen Phasen seiner Entwicklung relativ besser unterrichtet sind als über den ,,fiir die Psychologie des logischen Denkens so bedeutungsvollen Nebensatz" (Aloys Fischer). Das Material

*) Die Arbeit ist aus Besprechungen in der wissenschaftlichen Arbeitsgemein- schaft des pädagogisch-psychologischen Instituts München unter der Leitiuig von Herrn Professor Dr. Aloys Fischer hervorgegangen.

II*

164

Albert Huth

wurde geschöpft aus dem Umgang mit den Kindern des Versuchskindergartens München mid zwar aus den Schuljahren 1911/12, Klasse II und 1912/13, Klasse III. Es beteiligten sich Kinder von 4^2 bis 6 Jahren beiderlei Geschlechts, verschie- denster Begabung und aus allen Bevölkerungsschichten. Da es sich um vorschul- pflichtige Kinder handelt, kann nur die Sprechsprache in Frage kommen; hie und da, wenn es die äußeren Umstände erlaubten, wurden systematische Auf- zeichnungen gemacht. So ist das Material gewonnen aus 11 Protokollen von provozierten Lebensgesprächen an ein weitgefaßtes Thema gebunden (z. B. eine Unterhaltung über das Karussell); 8 Protokollen der Ergebnisse von Aufforderungen zu sprachlichen Aussagen (z. B. „erzähle mir vom Ok- toberfest"); 6 Stenogrammen von Nacherzählungen von Märchen und dem Ergebnis eines zwecks eines anderen psychologischen Versuchs angestellten Verhörs über einen Ausflug. Eigens zum Zweck der Sprachbeobachtimg wurden keine Versuche angestellt, ebensowenig wurde irgendwelches Material im Hin- blick auf üe Möglichkeit sprachlicher Untersuchungen notiert es sind also lauter unabsichtliche Beobachtungen, es ist tatsächlich die lebendige Sprech- sprache des Kindes. Die einzelnen Kinder wurden nach dem alphabeti- schen Verzeichnis durch Buchstaben imterschieden und zwar die Knaben durch große, die Mädchen durch kleine Buchstaben. Über die Begabung der Kinder und den Stand des Vaters gibt folgende Tabelle Aufschluß.

Tabelle 1. Begabung und soziales Milieu der Versuchspersonen.

Kind

Begabung

Stand des Vaters

Kind

Begabung

Stand des Vaters

A

mittelmäßig

Monteur

d

mittelmäßig

Stukkateur

B

gut

Beamter

e

sehr gut

Fabrikant

C

mittelmäßig

Trambahnschaffn.

f

mittelmäßig

Schreinermeister

D

mittelmäßig

Schauspieler

g

gut

unbekannt

E

ausgezeichnet

Schreiner

h

gut

Kaufmann

F

sehr gut

Schlosser

i

gut

Maurer

G

gut

Schreiner

k

sehr gut

Lampenwärter

H

gut

Eisendreher

1

sehr gut

Kaufmann

I

sehr schlecht

Friseur

m

sehr gut

Bankbeamter

K

gut

Redakteur

n

mittelmäßig

Taglöhner

L

schlecht

Tapezierer

o

gut

Trambahnführer

M

sehr schlecht

Schreiner

P

mittelmäßig

Monteur

N

gut

Polizeisekretär

q

gut

Musiker

O

mittelmäßig

Metzgermeister

r

mittelmäßig

Musiker

P

gut

Privatier

8

gut

Briefträger

Q

gut

Hofoffiziant

t

sehr gut

Hausmeister

R

gut

Verlagsbuchhänd.

u

mittelmäßig

Lokomotivführei:-

S

gut

städt. Kassenbote

v

schlecht

Monteur

T

sehr gut

Gastwirt

w

gut

Taglöhner

U

gut

Prokurist

X

schlecht

Schäftemacher

V

sehr gut

Lohnkutscher

y

sehr gut

Kunstmaler

W

schlecht

Milchhändler

z

gut

Schreiner

X

sehr gut

Sekretär

a

sehr gut

Maschinist

Y

schlecht

Ingenieur

ß

sehr gut

Kanalarbeiter

Z

mittelmäßig

Monteur

sehr gut

Milchhändler

A

sehr gut

Postpackmeister

S

gut

Ingenieur

a

sehr schlecht

Buchdrucker

e

schlecht

Schreiner

h .

gut

Küchenchef

gut

Maschinenarbeiter

c

sehr gut

Friseur

V

mittelmäßig

Schriftsteller

I^e Nebensätze in der Kindersprache 165

C. und W. Stern^) geben 2^4 Jalire als das Alter an, bei dem ihre Kinder über die Stufe der ausschließlichen Parataxe hinausgekommen sind; Andeutun- gen von Nebensätzen in mangelhafter sprachlicher Fassung (ohne Partikel) finden sich frühestens im Alter vod 1 Jahr 11 1/^ Monaten, gewöhnlich erst im 3. Tiebensjahr; mit 2^ Jahren sind Nebensätze verzeichnet, deren Hauptsätze unausgesprochen blieben, sei es, daß der Nebensatz eine Frage beantwortet, sei es, daß die Ergänzung des Hauptsatzes dem Zuhörenden überlassen wird. Die frühesten angegebenen Beispiele vollkommener Nebensätze stammen aus dem Anfang des 4. Lebensjahres (S. 70). Ihrer Art nach sind die Nebensätze der Ster n- schen Kinder Subjektsätze, Objektsätze (S. 70, 104, 106) und Adverbialsätze. Von den verschiedenen Adverbialsätzen sind vertreten Temporal-, Kausal-, Konditional-, Final- mid Konsekutivsätze. Bei den ersten auftretenden Neben- sätzen ,, bleiben die charakteristischen Partikel zimächst mehr oder weniger lange latent oder können durch einen undefinierbaren Universallaut (etwa ä oder mm) vertreten werden. Dabei ist für den aufmerksamen Hörer der Nebensatzcharak- ter dennoch zweifellos auf Grund der Betonung, der Modulation und der Wort- stellung." Die ersten Nebensätze drücken mehr äußerliche Beziehungen aas, später erst werden Nebensätze zur Bekundung innerer logischer Beziehungen verwendet. Als schwierigste Nebensatzform bezeichnen C. und W. Stern den irrealen Bedingungssatz.

Mit der durch die Stern sehen Untersuchungen wohl noch nicht endgültig gelösten Frage, in welchem Lebensalter das Kind zur Hypotaxe gelangt, kann ich mich nicht befassen, da meine jüngsten Versuchspersonen 4^ Jahre zählten, also ohne Zweifel schon in das Nebensatzstadium eingetreten waren. Meine Unter- suchungen erstreckten sich vielmehr

1. auf die verwendeten Nebensatzpartikel;

2. auf elliptische Sätze (ohne Partikel), die aus irgendwelchen Gründen ■(Sprechtempo, Stimmmodulation, Zusammenhang usw.) den Verdacht erregen, als Nebensätze gemeint zu sein;

3. auf die mit Nebensatzpartikeln eingeleiteten Redeteile der Eän- dersprache, auch wenn bei genauerer Analyse sich ergab, daß sie keine echten Nebensätze waren.

Angeschlossen wurden Untersuchungen über die Beziehimg zwischen Neben- satzentwicklung und Geschlecht einerseits, zwischen Nebensatzentwicklung und Begab^ing andrerseits.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, dürfte es sich empfehlen, ein Schema der auf die Kindersätze angewandten Einteilung der untergeordneten

^) C. u. W. Stern bieten in ihrer Monographie über die Kindersprache (Leipzig 1907) die beste Zvisammenfassung der Beobachtungen u. Forschungen über die Sprach- entwicklung des Kindes bis zur Schulreife. Zu den fast durchweg musterhaften Aufzeichnungen über die Entwicklung der eigenen Kinder ziehen sie mit kritischer Vorsicht eine große Anzahl von Veröffentlichungen anderer Beobachter heran und •widmen den methodischen Hilfsmitteln wie den Parallelen zwischen der Sprach- entwicklung des Individuiuns und derGattung volle Aufmerksamkeit. Über die Neben- sätze handeln die Seiten 190 f, ihres Werkes. Wie jede Arbeit über Kindersprache ist auch die vorliegende sich bewußt, vielfach durch das Stern sehe Werk gefördert worden zu sein.

166 Albert H«th

Sätze zu geben. Ich entnehme es aus dem „Abriß der deutschen Sprachlehre von Madel, Dr. Micheler, Dr. Reidelbach, Dr. Roth, Schöttl, Dr, . Stöckel".

1. Subjektsätze, z. B. Wer an den Weg baut, hat viele Meister,

2. Objektsätze, z. B. Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll.

3. Prädikatsätze, z. B. Die Taten sind es, woran man den Menschen erkennt.

4. Adverbialsätze und zwar

a) Lokalsätze, z. B. Wo viel Freiheit, ist viel Irrtum.

b) Temporalsätze, z. B. Wie er winkt mit dem Finger, auf tut sich der Zwinger,

c) Finalsätze, z. B. Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange lebst und es dir wohl gehe auf Erden.

d) Kausalsätze, z. B. Dadurch, daß er sich zurückzog, zeigte er seine Mutlosigkeit.

e) Modalsätze, z. B, Er tat, als ob ich ihn beleidigt hätte.

f) Restriktivsätze, z. B. Soweit ich ihn kenne, ist er ein Edelmann.

g) Komparativsätze, z. B. Je mehr Feinde, desto mehr Ehre.

h) Konsekutivsätze, z. B. Er ist so schwach, daß er das Bett nicht verlassen

kann, i) Konditionalsätze, z. B. Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie

der Mensch bezähmt, bewacht, k) Konzessivsätze, z. B. Ob auch die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt

am Himmelszelt.

5. Attributsätze und zwar

a) bestimmende, z. B. Hunde, welche viel bellen, beißen nicht.

b) ergänzende, z. B. Die Frage, ob unser Werk gelingen wird, macht mir viele Sorgen.

Mit der Aufstellung dieses Nebensatzschemas soll aber durchaus nicht gesagt sein, daß ich in meinem Material die angegebenen Arten von Nebensätzen wieder- zufinden hoffe ganz im Gegenteil leiteten mich bei meinen Untersuchungen psychologische Erwägungen, und erst wenn seelenkundliche Einteilungsgründe versagten, traten grammatikalisch-logische an ihre Stelle.

Die Kinder sprechen im großen und ganzen den etwas abgeschliffenen Dialekt ihrer erwachsenen Umgebung („Altersmundart" würde Berthold Otto sagen), es ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die Eigenheiten des oberbayeri- schen Dialekts in den Kreis unserer Betrachtungen zu ziehen, weil es uns sonst passieren könnte, (laß wir Erscheinungen auf Konto der kindlichen Sprach- entwicklung setzen, die in Wirklichkeit in der Mundart ihreErklärung finden. Ich habe darum das Büchlein ,,Die deutschen Mundarten" von Prof. Dr. Hans Reis, sowie den zweiten Abschnitt des zweiten Teiles des Lehrbuches der deutschen Sprache von Lippert daraufhin durchsucht, ob die Nebensatzbildungthrif-c derS spräche und die der Münchener Mundart Unterschiede aufweisen, konnte aber nur die Feststellung der ohnehin bekannten Tatsache finden, daß „wo" als beziehendes Fürwort bevorzugt wird (,,die Fiau, wo ich gesehen habe") und daß sich mit „wo" noch hinweisende Fürwörter verbinden können („der Mann, der wo da war") (Reis S. 99). Eine für uns bedeutungslose Anmerkung besagt (S. 108) über die Wortstellung im Nebensatz^ daß eine Wiederholung der Füj-~

Die Nebensätze in der Kindersprache 167

Wörter „mir" und „ös" hinter dem Zeitwort im Nebensatz niemals vorkommt (,,mir geamer wohimer wollen" = wir gehen, wohin wir wollen). Eine Art Syntax des Münchnerischen, die mit unseren Ergebnissen über die Synt«x der Kindersprache verglichen werden könnte, war nicht beizubringen; ich selbst war nicht in der Lage, dieseAufgabe der Dialektforschung mit zu bearbeiten.

Bevor wir die Besprechung unserer Ur tersuchungen beginnen, ist noch eine klare Festlegung des Begriffes Nebensatz notwendig. Es handelt sich darum, was wir noch als Nebensatz gelten lassen wollen denn daß wir nicht den Maßstab der Gramnratik anlegen dürfen, zeigen schon die Sternschen Untersuchungen, die Sätze wie 'pa'pa sieh mal hilde macht hat oder eisenbahn hüterug hauch haus is (d. h. Vater soll malen : eine Eisenbahn, einen Güterzug, wo der Rauch raus kom.mt) unbedenklich als Nebersätze bucht. Es tritt die Not- wendigkeit an uns heran, ,,die Psychogenesis in erster Linie nicht auf die Worte, sondern auf die Sätze" (und ich füge hinzu, sicher ganz im Sinne Sterns : auch auf Tonfall, auf Sprechtempo, auf den Zusammenhang) zu giünden" (Stern, S. 194).

Das allgemeinste Merkmal des Nebensatzes, die Unselbständigkeit des in ihm ausgedrückten Gedankens weist auf einen psychologischen Prozeß zurück; eben diesen Prozeß müssen wir kennen und düifen dann Phrasen, sprach- liche Zusammenhänge, die durch ihn getragen sind, als Nebensätze in Anspruch nehmen. Die einfachsten Beispiele von Nebensätzen (,,W'.-lches schön ist", ,,ab er kam", ,,daß er gestraft werden soll") sind grammatisch geschlossene, vollständige und korrekte Wortfolgen, die für sich allein keinen Sinn haben, mindestens keinen klaren und eindeutigen Sinn. Sie erweisen sich damit als Ausdruck eines Teilgedankens und werden ihrem Simi nach erst dann klar und eindeutig, wenn der ganze Gedanke vorliegt, dessen Teil oder Fragment sie bilden (,,Ein Buch, welches schön ist, verdient Schonung"; ,,der Freim.d begrüßte mich, als er kam"; ,,der Hund merkt, daß er gestraft werden soll"). Wemi nun ein mehrere Teile oder Momente umfassender Gedanke nicht einfach durch eine Folge von Hauptsätzen in einfacher Aneinanderreihung oder durch einen zusammengezogenen Satz, sondern in einer Periode, in einer Vcrbindvnig von Haupt- und Nebensätzen zum Ausdruck gebracht wird, so ist dafür ein bestimmtes Verhalten, eine Weitung der einzelnen Gedankenteile maßgebend. Ich könnte (unter Verwendung von nur einem der angeführten Beispiele) so den- ken: ,,das Buch ist schön", ,,das Buch verdient Schonung". In einer Gedanken- bewegung, wie sie durch die asyndetische Reihung von Hauptsätzen zum Ausdruck kommt, ist zwar der Gegenstand, über den ich denke, festgehalten, als identisch derselbe dauernd gemeint, aber die einzelnen Gedanken, die ich mir über diesen identischen Gegenstand mache, sind jeder für sich selbständig, gegeneinander isoliert. Das Denken bewegt sich in immer neuen An- und Absätzen ; jetzt wird diese Seite, jetzt eine andere des Gegenstandes erfaßt; jede jeweils erfaßte Kom.- ponente wird als Aussage, als Prädikat des identischen Subjektes formuliert. Alle diese Aussagen stehen als Schöpfungen selbständiger Denkakte gleichge- ordnet nebeneinander.

Die Sachlage wird anders, sobald das Denken auf die gegenseitigen Beziehungen der Merkmale eines Gegenstandes achtet; von diesem Augenblick an kann manche Erkenntnis untergeordnet werden einer anderer ; es kann demgemäß

168 Albert Huth

auch die eine Aussage als nebensäclilicli im Verhältnis zur anderen, der Haupt- aussage, behandelt werden. So mag es dem ermahnenden Lehrer wesentlich nur auf die Erkenntnis ankommen, daß das Buch Schonung verdiene, er will die Kinder nur zur Unterlassang der Beschmutzupg, Zerreißung usw. bringen. In der ganzen Folge von Aussagen über das Buch liegt für ihn (im gegebenen Augen- blick) der innere Nachdruck auf dem Anrecht des Buches auf Schonung. Zugleich abar stellten sich diejenigen Erkenntnisse über das Buch als Stützen und Unter- stützungen ein, die geeignet sind, dieses Anrecht zu motivieren: ,,Da3 Buch ver- dient Schonung, weil es schön ist". Der Nebensatz ist damit vorhanden. In einem späteren Zusammenhang mag dieser Sachverhalt in anderer sprachlicher Wendung ausgeprägt werden, etwa in relativischer : ,,Das Buch, welches schön ist,, verdient Schonung", oder meinetwegen sogar in attributivischer ,,Das schöne Buch (b3tont, mit innerlich anklingendem Gegensatz zum häßlichen) verdient Schonung". Auch in diesem Attribut, genauer : im Tonfall dieses Attri- butes steckt noch der Nebansatz.

Freilich müßte eine weiterdringende Analyse noch mehrere Fälle auseinander- halten. Der NebsDsatz enthält immer einen vollständigen Gedanken, enthält ihn absr immer in einer für sich genommenen unverständlichen Form. Diese Tatsache weist darauf hin, daß es lediglich die Stelle in der Architektur eines Gesamtgedankens ist, die dem anderen Gedanken die Sslbständigkeit raubt. So ist in dem Gesamtgedanken der Schonungsbadürftigkeit des Buches ein anderer Gedanke unselbständig enthalten : der der Schönheit des Buches; in dem Gesamt- gedanken der Bagrüßung des Freundes als unselbständiges Moment der Zeit- punkt und Anlaß enthalten. Wie man aus dem Unterschied der Beispiele ersieht, kann die sachliche Beziehung der Momente ganz verschieden sein; bald ist die Folge, bald der Grund untergeordnet, bald die Ursache, bald die Wirkung, bald der Umstand der Zeit oder des Ortes. Deshalb ist die sachliche Beziehung der durch die Teilgedaaken erfaßten Gegenständlichkeiten die entferntere Voraus- setzung für die Nebensatzbildung. Diese selbst vollzieht sich nun, indem ein möglicher selbständiger Gedanke, der ein Moment des Sachverhalts ausdrückt, das in irgendeiner Beziehung zu dem mir gerade wesentlichen Momente steht, in den Ausdruck dieses Momentes eingeordnet wird. Man bezeichnet deshalb mit Recht Nebensätze als untergeordnete Sätze. Das Bewußtsein dieser Untergeordnetheit eines Gedankens im Aufbau eines Gesamtge- dankens ist das volle entfaltete Nebensatzbewußtsein.

Drücken wir das Gesagte noch einmal anders aus : auf der einen Seite stehen die gedachten Momente eines Sachverhaltes und ihre (bald mitgedachten, bald nur vorausgesetzten, bald übersehenen) sachlichen Beziehungen zueinander (z. B. : das Buch, seine Schönheit, sein Recht auf Schonung, der sachliche Zusammen- hang, der zwischen Schönheit und Anspruch auf Schonmig besteht). Auf der anderen Seite stehe ich, steht der auffassende, sprechende, auf andere wkende Mensch. In rein erkennender Geisteshaltung würde ich nach und nach alle Mo- mente eines Gedankens erfassen und die Teilstücke in ihrer sachlichen Ordnung nachbilden; für meine praktischen Zwecksetzungen ist mir aber von den ge- dachten Momenten des Sachverhaltes gerade eines (jetzt dieses, ein andermal ein anderes) vordringlich. Dieses aus praktischen Motiven vordringliche Moment wird übergeordnet, wird Inhalt des Hauptsatzes ; ein mit ihm sachlich verknüpftes

Die Nebensätze in der Kindersprache

169

Moment wird um seiner sacMichen Bsziehung willen in den Gesamtgedanken auf- genommen, aber als untergeordnetes Moment, in der Rolle, eventuell auch in der Form des Nebensatzes.

Diesen Überlegimgen zufolge bezsichnen wir als Nebensatz jedes sprachlicbe Gebilde, von dem angenommen werden muß, daß es der Ausdruck eines Beziehungsbewußtseins ist gleichgültig, ob die spracMichen Par- tikel vorhanden sind oder ob sich die Annahme eines Beziehungsbewußtseins we- sentlich auf die Beobachtimg der Nebenumstände stützt, unter denen der in Frage stehende Ausdruck gesprochen wurde. In dieser Definition des Neben- satzes ist über die Art des Bsziehungsbewußtseins nichts enthalten, wir müssen uns aber darüber klar sein, daß dai sachliche und sprachliche Beziehungsbewußt- sein auseinanderzuhalten ist und daß über diesen beiden noch das eigentliche grammatikalische Bsziehungsbewußtsein steht, zu dem sich naturgemäß Kinder im vorschulpflichtigen Alter nicht aufschwingen können. Um einen Wort- komplex als Nebensatz zu kennzeichnen, genügt es also, wenn ein sachliches Beziehungsbewußtsein in einer ,, einheitlichen Stellungnahme zu einem Bewußt- seinsinhalt" (so definiert Stern den Satz, a. a. 0. S. 164) vorhanden ist. Schon eine höhere Stufe der Sprachentwicklung ist erklommen, wenn das Kind für das sachliche Beziehungsbewußtsein einen sprachlichen Ausdruck findet.

Tabelle 2. Verteilung der Nebensatzpartikel auf die einzelnen Altersstufen.

A. Fürwörter

4

V, Jahre

ö Jahre

, S'/a Jahre

6 Jahre

der, die, das

den

1, 1

48.8% 1

30,0%

1 12.5%

3,*%

B. Umstsmdswörter

j!

1 i

wo, won, die wo ■) 2,3 %

da, dada 2,3 'o

na, nacha (= hierauf, nachher) 4,6 ^^

dann 7.0 \',

C. Bindewörter {

aber 4,7%

als ,, 2,3%

bal (= wenn oder sobald als)

bis i 2,3%

daß 4,7%

derweil (ungefähr während) i 4,7%

ob i 2,3%

so ;!

sonst '

weil I

wenn li.'' 'o

wie

■yraa

27,0% 3,0% 6.0%

12,5%

27,4%

10.7%

3.4%

0,7%

3.0 ?o

6.0% 3.0%

6.0%

6,0% 10.0 V

12.504 12,5% 12,5%

12,5% 25,0 %

2,0% 0,7%

M%

07% 25,4 o/b

4.7%

18,8%

0.7%

Fragen wir uns nun zunächst, welche Nebensatzpartikel das Kind überhaupt anwendet, so ergibt mein Material, daß die Kinder die Fürwörter

170

Albert Huth

der, die, das und den, die Umstandswörter wo, da und dann und die Binde- wörter weil, wie, wenn, daß, aber, ob, als, so, sonst, bis und was gebrauchen; außerdem die im Hochdeutschen nicht vorkommenden Umstandswörter won und „die wo" (statt wo), dada, na und nacha (für da und dann), sowie die ebenfalls in der Schriftsprache fehlenden Bindewörter derweil (am besten mit ,, während" zu übersetzen) und bal (= wenn; auch: sobald als). Die Viereinhalbjährigen gebrauchen mit Vorliebe das Fürwort der (die), öfter auch wenn; bei den Fünf- jährigen ist wo vorherrschend, auch die Fürwörter der, die, das sind häufig; mit 5^ Jahren findet sich schon weil; die Sechsjährigen gebrauchen haupt- sächlich wo, weil und wie, dann auch da, w-enn und na. Über die genauere Ver- teilung gibt Tabelle 2 S. 169 Aufschluß.

Es wäre eine ungemein reizvolle Aufgabe, die Häufigkeit des Vorkommens der Nebensatzpartikel in der Dialektsprache der erwachsenen Umgebung der Kinder mit den vorstehenden Zahlen zu vergleichen leider war es mir nicht möglich, die erforderlichen Unterlagen aus der Mundartforschung zu erhalten. Ich muß mich darauf beschränken, einen zusamn^enfassenden Überblick über die vorkommenden Partikel zu geben (Tabelle 3).

Tabelle 3. Häufigkeit der auftretenden Partikel.

der, die, das, den . wo, won, die wo da, dada .... na, nacha ....

dann

aber

23,7 %

17,3%

3,5% 1,9%

1.7%

als

bal . . bis

daß . derweil ob .

0,8%

so

0,8%

sonst . . .

; 0,0 0/^

weil . . . .

! 6,1 <%

wenn . . .

, 5,0%

wie . . . .

1 3,9%

was . . . .

1,50;,

3,3 % 12.6% 6.2% 7,2 <% 0.2%

Nach meinem Material sind die Fürw^örter der, die, das, die Um^standswörter wo, won imd die wo und ferner das begründende Bindewort weil die beliebtesten Partikel der Kinder. im Kindergartenalter. Spätere Untersuchungen werden erst entscheiden können, wieweit diese Verteilung der Partikel der Schrift- sprache oder der Mmidart entspricht bzw. was davon Eigenart der kindlichen Sprachentwicklung bildet.

Vom 5. Lebensjahr abfinden sich vereinzelt elliptische Sätze (ohne Partikel), die den Verdacht erregen, als Nebensätze gemeint zu sein. Der Schüler Konrad zeigt auf eine orangefarbige Kapuziner blute und sagt: Die ist gelb. Sofort rufen andere in überlegen -entrüstetem Tone : Der Konrad sagt, das ist gelb, gleichsam als ob sie fortfahren wollten : wie man nur so eine Dumm- heit sagen kann! Ein anderer Schüler ( Q in Klammern ist jedesmal der Buch- stabe des betreffenden Kindes angegeben vergleiche Tabelle 1 ; wo der Buch- stabe fehlt, ließ sich nicht mehr feststellen, welches Kind den Satz gesprochen hatte) erwidert auf m.eine Frage, was sie damals auf dem Ausfluge gespielt hätten : Katz lind Maus glaub ich. Die beiden Sätze spricht er unmittelbar nacheinander, nach „Maus" macht er keine Pause. In beiden Fällen haben wir es sicher mit elliptischen Deklarative ätzen zu tun (Objektsätze nach dem oben angegebenen Schema), ins Schriftdeutsche übersetzt sollte es heißen: Der Konrad sagt, daß das gelb seif und Ich glaube, daß wir' Katz und Maus gespielt haben. Man sieht

Die Nebensätze in der Kindersprache 171

aber auch, wie die Beurteilung solcher Satzgebilde durchaus abhängig ist von der Art und Weise, wie die Kinder sprechen. Der Konrad sagt: Pause Das ist gelb wäre imbedingt als Hauptsatz (direkte Rede) aufzufassen, ebenso Katz und Maus Pause glauV ich. Alles kommt hier auf die Sprechmelodie, auf die Modulation der Stimme, auf das Tempo an, in dem die Sätze aufeinander folgen. Das sieht man auch aus den übrigen Beispielen, die sich aus meinem Ma- terial ergaben. Ein Mädchen erzählt, daß wir bei dem schon erwähnten Ausflug in den Regen gekommen waren, daß wir dann im Englischen Garten einen Spiel- platz mit Bänken trafen, wo wir rasteten. Aber, fährt sie (a) fort, mir (mundart- lich = wir) sind nicht drauf gesessen, die Bänk^ waren so naß. Wieder war zwischen den beiden Sätzen keinerlei Pause, was mich zu der Annahme berechtigt, daß die Bank waren zu naß als elliptischer Kausalsatz aufzufassen ist. Das Mädchen wollte doch offenbar begründen, warum sie sich nicht setzte, das Kausalbewußt- sein ist vorhanden. Auf das vorhandene Beziehungsbewußtsein schließe ich aus der Sprechweise folglich haben wir es wirklich mit einem elliptischen Kausal- satz zu tun. Einen verkürzten Temporalsatz bildete ein Junge (S), indem er seine Erzählung von der Entstehung des Backsteines (wir waren in einer Ziegelei gewesen) mit den Worten schloß: NacTia is er fertig gtven, hams ihn an Boden hingworfen. Die ganze Art des Sprechens, wie der Knabe nach nacha eine ganz kleine Pause machte, bei gwen mit der Stimme oben blieb und das hams gleich nach gwen brachte, bürgt mir dafür, daß es hätte heißen sollen: Als er fertig war, haben sie ihn auf den Boden geworfen. Nicht so sicher bin ich mir bei einem anderen Knaben (E), der von der Drehorgel eines Karussels auf dem Oktoberfest erzählte : Da dreht allewei der Mo um und inne schpuits, die Musi. Das Grebilde könnte eine Satzreihe sein, eben nichts weiter als ein Stück aus einer in lauter Hauptsätzen fortlaufenden Erzählimg: Auf dem Oktober fest ist ein Karussel. Vorne am Karussel steht eine Drehorgel. Da dreht der Mann immer um. Innen spielt die Musik . . . Daß diese Erklärung nicht zutrifft, geht aus dem Zusammenhang hervor, in dem der Satz gebracht wurde. Es war bei der Vorbesprechung einer Nagelarbeit jedes Kind sollte sich ein Spielkarussell zimmern. Wir hatten festgestellt, daß wir einen runden Boden und ein rimdes Dach brauchen, es war auch schon gesagt worden, daß in der Mitte so a Stange nei muß. Dann war ein Kind vom Thema abgeschweift, E unterbrach es mit den Worten : Inne nei an Stecken in der Mitten drinn. Inna is a so a groß Viereckatets (er meint die Dreh- orgel). D(i dreht allewei der Mo um und inna schpuits, die Musi. Wenn das in Frage stehende Sprachganze aus 2 Hauptsätzen bestehen würde, wäre es zwei- fellos ebenso gebildet v/orden wie die vorhergehenden beiden Hauptsätze. Die Verbindung durch und deutet in diesem Falle an, daß ein sachliches Beziehungt- bewußtsein zwischen der Tätigkeit des Umdrehens imd dem Spielen der Musik vorhanden ist. Dieses Beziehungsbewußtsein kami sein ein temporales (Währefid der Mann umdreht, spielt die Musik) oder ein kausales (Die Musik spielt, weil der Mann umdreht) oder endlich ein konditionales (Die Musik spielt innen, wenn der Mann umdreht). Weder sachliche noch sprachliche Gründe können dafür vorgebracht werden, ob E hier einen elliptischen Temporal-, Kausal- oder Kon- ditionalsatz gesprochen hat; ich persönlich neige zu der Ansicht, daß es sich um einen Konditionalsatz handelt. Das ist aber rein gefühlsmäßig: wenn ich mich in den Schüler E hineindenke, komme ich dazu, hier ein Konditionsverhältnis

172 Albert Huth

anzunehmen. Die elliptischen Sätze machen 2,1% der überhaupt vorkommen- den nebensatzähnlichen Gebilde aus. Festzuhalten ist, daß sich vom 5. Jahr -ab vereinzelt elliptische Sätze finden, die als Nebensätze aufzufassen sind. Sie entpuppen sich als Objekt-, Konditional-, Kausal- und Temporalsätze. Für die Versuchsanordnung ist wichtig, daß Sprechmelodie und Sprechtempo, Pausen usw. mitnotiert we^-den und daß das Protokoll den ganzen Zusammenhang er- sehen läßt.

Bei der Besprechung der mit Nebensatzpartikeln eingeleiteten Rede- teile der Kindersprache betrachten wir zunächst das gesamte Material nach Altersstufen geordnet, um dann daraus Typen der kindlichen Nebensatzentwick- lung abzuleiten. Von den 39 nebensatzähnlichen Gebilden der Vi er einhalb - j ähri gen entpuppen sich nicht weniger als 29 als verkappte Hauptsätze, bei einem Satz läßt sich kaum entscheiden, ob er als Haupt- oder Nebensatz anzusprechen ist, auf jeden Fall ist er sprachlich falsch gebildet; 9 Nebensätze sind auch sprachlich einwandfrei. Auf die Hauptsätze entfallen 74,4%, der sprachlich verfehlte Nebensatz zählt mit2,6 % und für die sprachlich richtig gebildeten Neben- sätze bleiben 23,0%. Betrachten wir zimächst die Hauptsätze. Zweimal findet sich adversative Koordination: (Q) Das CRnstkindl hat mir a Geign bracht, aber die is schon wieder kaput. (Q) Ich hätt ihn fangen wollen und dann ist er gleich davongelaufen, aber nicht so fest, nur a bisserl is er davongelaufen. Zwei Sätze sind mit derweil gebildet. Dieses merkwürdige Wort läßt sich nicht ohne wei- teres durch einen hochdeutschen Ausdruck wiedergeben, in vielen Fällen ist Über- setzung mit statt dessen angängig, manchmal steht derweil für unterdessen, häufig ist Umschreibung mit ivährend notwendig. E erzählt vom Wolf und den sieben Oeißlein : . . . sie ham gmeint, ihre Mutter kommt rein, derweil war^s der Wolf und später : Sie hat gschaut, was im Bauch vom Wolf wackelt, derweil war^n eahnene (= ihre) Kinder drinna. Schriftdeutsch: Sie haben gemeint, ihre Mutter käme herein, indessen war es der Wolf und: Sie hat geschaut, was im Bauche des Wolfes wackelt. (Sie überlegte noch hin und her,) es waren aber ihre Kinder drinnen. In beiden Fällen ist eine Art adversative Koordination herauszufühlen : im ersten +Satz wird die erwartete Mutter dem erscheinenden Wolf gegenübergestellt, im zweiten ist das derweil war^n eahnena Kinder drinna gewissermaßen zum Zu- hörer gesprochen : die Mutter steht da und überlegt, wir aber wissen bereits, daß da ihre Kinder drinn stecken. Beim nächsten Satz ist auch die Deutung als Konditionals atz möglich: Da hat man auftreiben müssen, na is^s rumglaufen{\J.) Dem Sinne nach meint der Knabe : wenn man so aufgetrieben hat, ist es rum- gelaufen — es handelt sich um ein Spielzeug mit Uhrwerk das Abhängigkeits- verhältnis wird gefühlt, kann aber noch nicht sprachlich formuliert werden. Mädchen e erzählt: Ich war bei meinem Onkel und da hab ich ihm erzählt und vor- gesungen und da hab ich so gefragt bis zwei Tag, dann bin ich wieder fortgereist. Bis zivei Tag sollte vielleicht heißen zwei Tage lang, vielleicht aber ist es zu er- gänzen zu: bis zwei Tage um waren. Ic'i vermag nicht zu entscheiden, ob wir es hier mit einem Umstand der Zeit oder mit einem verkürzten Temporalsatz zu tun haben. Es folgt nun eine Anzahl von mit der eingeleiteten Sätzen, die der Form nach zwar Hauptsätze darstellen, bei denen aber ein sachliches Beziehungs- bewußtsein unschwer zu erkennen ist. Sie stammen zum Teil aus einer Unter- haltung über Fasching, zum Teil aus einer Vorbesprechung des Hundes. E:

Die Nebensätze in der Kindersprtwjhe 173

Und am Sonntag da hob ich a Bäuerin gesehen, die hat den Schnaps austrunken. E: Und an Bauern hob ich gsehen, der hat die Maskeradi recht naufghaut. f: Ich hob gestern Maskeradi gsehn und Mädeln und Buben, die haben an Hut ghabt. S : Da is a Mann dort gsessen, der hat Wurst in die Höh' ghebt. S : Und an der Seiten da is einer gsessen, der hat Wursteln gessen. S : Da hob ich an Mann gsehn, der hat brennt. R : Da hob ich an bösen Buben gesehen, der hat den Hund ins Ohr geblasen. e : Ich haV amal an Hund gsehen, der hat eine Rüsche umghabt. X : Ich hab amal an Hund gsehen, der hat eine Schleife ghabt. e : Ich hob amal an Hund gsehen, der hat eine Zipfelhaubn auf ghabt. E: Da war amal a Hund, der is Maskeradi gelaufen. S: Es war amal a Hund, der hat eine Larve ghabt und eine Rüsche. i: Es war ein Hund, der hat mir bald in die Nase gebissen. a : Ich hab einen Hund gsehen, der hat mich gar nicht gebeißt. R : Ich hab einen Hund gesehen, der hat keinen Schwanz gehabt. t: Es war amal a Kasperl, der hat eine Geige gehabt. s : Ich hab einen Hund gesehen, der ist Mas- keradi gewesen. y : Ich hab einen Hund gesehen, der hat mich am Rock gepackt. £ : Ich hab einen Hund gesehen, der hat mich gar nicht gebissen. e : Ich hab- einen Hund gesehen, der hat keinen Schwanz gehabt. X: Ich hab mal einen Hund gesehen, der hat mich in die Hose gebissen. N : Ich hab einen Hund gesehen,

der hat einen Schnurrbart gehabt. Den Satz des Mädchens e : Da hab ich einen

Buben gesehen als Bär habe ich zu den „nebensatzajtigen Grebilden" gerechnet, weil es mir wenn auch nicht als wahrscheinlich, so doch als nicht unmöglich erscheint, daß dem Kind auch hier wieder die Beziehung bewußt geworden ist, daß es dasselbe zam Ausdruck bringen wollte, was wir in der Schriftsprache mit den Worten sagen : Ich habe einen Buben gesehen, der als Bär verkleidet war. Treu unserer Definition des Nebensatzes als dem Ausdruck eines Beziehungs-^ bewußtseins mußten wir die eben betrachteten 29 Sprachgebilde in unsere Unter- suchimg einbeziehen. Wir wollen sie als ,, Hauptsätze mit Nebensatzcharakter" bezeichnen. Unter diesem Namen verbergen sich, wie wir gesehen haben, adversa- tive Satzreihen, unvollkommene Konditional- und Temporalsätze und bestim- mende Attributsätze (Bildung mit der).

Der sprachlich verfehlte Nebensf:tz lautet: Wenn da ein Kind ein übrig Brot oder ein Stückel Apfel hat, das soll's den Vögeln hinwerfen. Durch Übertra- gung ins Schriftdeutsche erhält man einen Konditionalsatz: Wenn ein Kind . ., so soU es das . . .

Sprachlich richtig gebildet sind 3 Objektsätze, 1 Lokalsatz und 5 Kon- ditionalsätze. N erzählt: Ich bin mit meiner Mama zur Krippen gangen und hab geschaut, ob das Christkindel geboren worden ist. Das Kind war jedenfalls schon früher einmal in der Kirche, als die Verkündigungsszene aufgestellt war; jetzt gebautes, ob immer noch dasselbe daist oder ob das Christkindel geboren wor- den ist. E berichtet, wie die Geißenmutter zum schlafenden Wolf kommt: Dann ham sie's gsehen, daß er da liegt. Gleich darauf bildet E noch einen Ob- jektsatz : Dann ham sie's gsehen, daß da was wackelt drinnen (im Bauche des Wol- fes). — Als ich die Geschichte von den drei Weisen aus dem Morgenland er- zählte, rief X dazwischen: Wo das Christkindel geboren wird, da muß auch ein Stern ein. Die 5 Konditionalsätze lauten : X : Wenn's an Schnee fressen, müssen' s ersticken (die Vögel nämlich). X: Wenn aber ein Wind kommt, na treibt er'a weg (das vor das Fenster gelgete Vogelfutter). Die Vögel laufen davon, wenn

174 Albert Huth

luan es ihnen hinwirft. E : Dan7i hat der Wolf gesagt: Wennst ^d mir keine gibst, dann fress ich dich! E : Dann hat der Wolf gsagt: Wennst ^d mir nix nauf streichst, dann fress ich dich.

Das Ergebnis wäxe für die Viereinhalbjährigen: Es findet sich häufig ein sachliches Bsziehungsbewußtsein, das absr noch nicht sprachlich formuliert werden kann. Daher sind drei Viertel der „nebensatzartigen Gebilde" der Vier- einhalb] ährigen als „Hauptsätze mit Nebsnsatzcharakter" anzusprechen. Es kommen abar schon richtig gebildete Objekt-, Lokal- und Konditionalsätze vor. Einer besonderen Untersuchung bedarf die früheste Grenze des Auftretens dieser Sätze.

Die Durcksicht des von fünfjährigen Kindern gewonnenen Materials ergab bai 27 Sätzen ein Unterordnungsbewußtsein. 8 davon sind Hauptsätze (29,6%), 12 sprachlich verfehlte Nebensätze (44,5%) und zwar 2 völlig verfehlte (7,5%) imd 10 mundartlich richtige (37,0%), deren Satzkonstruktion sich zwar nicht in der Schriftsprache, wohl aber im Münchener Dialekt findet und endlich 7 sprachlich einwandfreie Sätze (25,9%).

Als Hauptsätze mit Nebensatzcharakter sind zu bezeichnen: Q: Na is der Kasperl kommen, der hat ihm dann wieder aufgesperrt (ein Wachtposten war ins Schilderhaus eingesperrt worden und wurde vom Kasperl befreit). Aus derselben Kasperli ade : Q : Nacha is der andere kommen mit der grünen Mützen, der hat sich na ins Schilderhaus neigstellt. E : Und da war a Mo draußd, der hat an großen Stecken ghabt. e: Ich hab amal a Pferd gesehen, des is da vor. S: An der Oktoberwiesen draußd, da hab ich a AiUerl gsehn, des is ganz hoch droben vorbeig fahren. Die ebsn angeführten 5 Sätze sind grammatisch natürlich reine Parataxe, psychologisch dagegen ,, Nebensätze", weil ein aufkeimendes Bewußt- sein der verschiedenen Wichtigkeit der zusammengekoppelten Sätze unverkennb^- ist. Bei weiter vorgeschrittener Sprachentwicklung hätten sich bestimmende Attributsätze ergeben. E erzählt von einem Autokarussell auf dem Oktober- fest: Na is mei Vada neigangen, hat zahlt und derwei waren lauter Auto drinna. Hier haben wir wieder die merkwürdige Bildung mit derweil. Der Gedanken- gang ist sicher : Während wir uns Wunder was erwarteten, ivaren nur lauter Autos ■drinnen. In dem Wörtchen derwei steckt also hier ein unausgesprochener Tem- poralsatz. Nebenbei sei auf die völlig richtige Zusammenziehung hingewiesen: Mei Vota is neigangen, hat zahlt ... Die nächsten 2 Sätze enthalten ein Kondi- tionalverhältnis, dessen sprachliche Formulierimg denKindem noch nicht möglich war. T: Na hat ma' so andrücken müssen, na ham's allewei geschwungen. K: Na hat wa' so angedrückt, na is er gehupft. Die nebsnsatzartigen Hauptsätze -der Fünfjährigen verbergen also im ausgesprochene Temporal-, Konditional- imd Attributsätze.

Völlig verfehlt sind 2 Sätze, die anläßlich des Namensfestes einer den Kin- dern bekannten Lehrerin entstanden. Der erste lautet (E): Ich gratulier dir (die Kinder sprachen ihre Erzieher mit „du" an) zu deim Namenstag, daß 'd lang lebst und gsund bleibst. Gratulieren ist hier im Sinne von wünschen gebraucht, wir hätten also einen Objektsatz. Unwahrscheinlicher, aber nicht ganz ausge- schlossen, ist die Deutung als Kausalsatz: Ich gratuliere dir, damit ... Es wäre übrigens auch möglich, daß die Wendung dem Kinde eingelernt wurde, also gar -nicht auf sein Konto zu setzen ist.— Am Tage darauf erzählte ein anderesKind (u) :

Die Nebensätze in der Kindersprache 175

... na ham mir gesagt, daß W recht gesund bleibst. Der Hauptsatz: Ich (oder wir) wünsclie(n) dir, ist ausgelassen, so ergibt sich auch hier die Deutung als Ob- jektsatz.

Mundartlich richtig sind folgende 10 Sätze: Q erinnert sich an seinen Ge burtstag : So vielJahr als man is, so viele Liohter stehen am Kuchen droben. Ein reiner Komparativsatz mit freier Wortfolge. Auf die Frage: Wann sitzt auf iem Pferdkein Reiter droben fentgegaefH.: BaVs im Stall drinn san. Der Konditional- satz ist richtig gebildet, nur steht mundartlich bal statt wenn. Die nächsten 7 Sätze sind Attributsätze mit dem mundartlichen Pronomen ico oder die wo. F: Es gibt auch Soldaten, wo trommeln. k: Soldaten gibCs, wo Trompeten harn die Soldaten auch. Eine interessante Kontamination. Die beiden dem Sinne nach gleichen Sätze: Soldaten gibt's, wo trompeten {oder auch: wo Trompeten ham) und: Trompeten ham die Soldaten auch werden ineinandergeschoben. S: J?s qibt auch Soldaten, die wo an Wagn ham. "C,: Es gibt solchene auch, wo Kanonen ham. t : Es gibt auch Soldaten, die wo marschieren. ¥: Es gibt auch Pferde, die^o an Möbelwagen ziehen. Wo san d'Leut, wo aufsteigen ? (Wir hatten uns ein kleines Karussell gefertigt und wollten nun einige Puppen dazu machen.) Der letzte Satz ergab sich bäi der Bssprechung des Karussells: E: Rund macha und Heiter ( = Pferde) nei macha, wo die Buben hocken ( = sitzen). Ich halte ihn für einen verfehlten Lokalsatz: auf denen Buben hocken. Verfehlt wurden also (wenn man die mundartlichen Sätze als verfehlt bezeichnen will) Objekt-, Komparativ-, Konditional-, Lokal- und Attributsätze.

Sprachlich richtig ist ein Lokalsatz: r: Wo der Strich ist, schneid' icKs aus. Dann vier "Temporalsätze : S : Wie mir ( = wir) von der Kirchen heUngangen sind, da ham mir junge Hasen g sehen. g: Da ham mir erzählt von der Frau Schreyer, wie's klein war. U: Und da steht noch drobn (auf dem Kalender), wenn man die Stiegn zum Wischen hat. E : Und wenn der Kaminkehrer kommt, muß man allewei wischen. Endlich noch 2 Attributsätze: Z,: Es gibt auch Soldaten, die an Wagen ham. K: Es gibt auch Soldaten, die a Gwehr ham.

Das Ergebnis ist für die Fünf jährigen: Wieder ist ein Viertel der Sätze, die ein Unterordnun^bewußtsein erkennen lassen-, sprachlich richtig gebildet; ich glaube aber, daß man ohne Bsdenken die mundartlichen Gebilde zu den rich- tigen rechnen darf, dann ergeben sich etwa zwei Drittel richtige Satzgefüge. Neben den Objekt-, Lokal- und Konditionalsätzen, die schon die Viereinhalb- jährigen bildeten, treten auch Komparativ-, Attribut- und Temporalsätze auf.

Von den Fünfeinhalbjährigen erhielt ich nur 9 Nebensätze, darunter 3, die sich als Hauptsätze entpuppen und 6 sprachlich richtige Nebensätze. Bei den Hauptsätzen mit Nebensatzcharakter findet sich eire Bildung mit derwei: a; Dann hätten'' 8 (oämlich Hansel und Gretel) davonlaufen ivolUn, derweil hat's gesagt: Hokuspokus. Durch Üb3rtragung ins Hochdeutsche sieht man auch hier, daß das derweil einen unausgesprochenen Temporalsatz verbirgt. Ein Satz mit beginnendem Beziehungsbewußtsein : Ich hob' an Soldaten gsehen, den ham's totgeschossen (u). Eine adversativ-koordinierende Satzreihe: n: Du bist unsere Mutter nicht, du bist der Wolf (aus dem Märchen von den sieben Geißlein).

Sprachlich richtig gebildet wurden Lokal-, Konditional-, Objekt- und zum ersten Male auch Kausalsätze, n : Jetzt schauen wir einmal, wo er ist. u :

176 Albert Huth

Geh mir ja nicht den falschen Weg, sonst erwischt dich der Wolf! (aus Rotkäppchen). Dieser riclitige Nebensatz ist wie so mancher andere nicht dem Kind als Ver- dienst zuzurechnen. Die Wendimg war beim Vorerzählen des Märchens ständig gebraucht worden imd wurde ziemlich mechanisch nachgesagt. Es ist noch sehr zweifelhaft, ob u imstande ist, selbständig einen richtigen Konditionalsatz mit sonst zu bilden. Spätere Untersuchungen müssen hierin genau scheiden. y : Nacha hat das Modele gsagt: er soll nimmer Branntwein trinken, weil er wieder krank werden könnte. n: Nacha is er (der Wolf) in (= zum) Brunnen gangen, weil er so Durst ghaht hat. c : Da waren' s wieder froh, daß^s wieder da sind. a: Nacha hat die Hexe gsagt, sie soll in Ofen neikriechen und soll schauen, 06 V Feu£r nei kommt. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die Fünfeinhalb- jährigen schon Kausalsätze bilden.

Meine Sechsjährigen waren fast alle erst 5 Jahre und 10 oder 11 Monate,. nur einzelne hatten schon das 7. Lebensjahr begonnen. Die Sätze wurden gewon- nen als Antworten auf Fragen über einen gemeinsam unternommenen Ausflug nach Oberf öhrin g. Unter den 125 Sätzen befinden sich 10 Hauptsätze mit Nebensatzcharakter (8%), 19 sprachlich verfehlte Nebensätze (15,2%) und zwar 3 völlig verfehlte (2,4%) mid 16 mundartlich richtige (12,8%). Die übrigen 96 Nebensätze sind sprachlich richtig gebildet (76,8%).

Unter den Hauptsätzen mit Nebensatzcharakter fällt ein Ausrufe- satz auf : Q : Wie der Singer Heinz hat laufen können! Zu ergänzen wäre vielleicht : Ich habe mich gewundert . . ., oder Weißt du noch. . . Wie bei den vorhergehen- den Altersstufen war eine adversative Koordination vertreten : U : (Die Ziegelsteine waren) aus Ton, aber nicht aus weißem, aus braunem. Die übrigen 8 Haupt- sätze zeigen deutlich das erwachende Beziehungsbewußtsein : X: Da hat a Mann gerudert, na is '5 Schiff nuberganqen. (wäre bei gesteigerter Sprachfertigkeit ein Konditionalsatz geworden). U: Da war a Mann droben, der hat immer so an Stock in der Hand ghabt. i : Nacha da ham mir so a Häuserl gesehen, da sind auxih Schiff erl rausgstanden im Englischen Garten. (Gemeint ist: ... ein Haus, bei welchem . . . ) ö'- Das war der alte Großvater, der hat allewei so geschrieen. A : A Maus ham mir gsehen, die is in a Lochn neikrabbelt. Z : Und das schöne Loch (habe ich gesehen), da is a Wasser rausgehffen. a: Da war a Tafel, da is Oberf öhring droben gestanden. u : Und Bäume waren da, da ham^s gehtitscht (= geschaukelt). Mit Ausnahme des letzten Satzes, der ein Lokalsatz hätte werden sollen, handelt es sich stets um unentwickelte bestimmende Attributsätze.

Bei den sprachlich verfehlten Nebensätzen unterscheiden wir wie bei den Fünfjährigen zwischen völlig verfehlten und mundartlich richtig ge- bildeten. Zu jenen gehören zwei Lokalsätze und ein Kausalsatz-: ziWeil mir so runtergangen sind, wie mir zuerst waren. Muß ergänzt werden zu : Wir sind wieder über die Isar herübergekommen, weil wir da hinuntergegangen sind, wo wir zuerst waren. h : Wo mir uns untergestellt ham zuletzt und da war a Pumpn. Der Neben- satz wird durch ein kopulatives Bindewort verbunden sehr erklärlich, gebraucht ja das Kind sonst fast ausschließlich koordinierende Konjunktionen. c erzählt von der Entstehung der Ziegelsteine : Der (Hilfsarbeiter) Ugt^s immer auf den Boden hin, aber net zamm, sonst babben's zamm. Das Bindewort weil ist ausgelassen, das Pronomen dem Verbum nachgestellt eine auch in der Mundart vorkom- mende Form des Lifinitivsatzes. Mundartlich richtig gebildet wurden

Die Nebensätze in der Kindersprache 173

2 Temporalsätze iind 14 eigentliclie Attributsätze alles mit wo eingeleitet. Aiif die Frage: ,, Warm haben wir Mittagspause gehalten ?", antwortet ein Bjind(a) Wo da a args Gvntter koynmen is. Das unbekannt« ,,als" wird durch das ver- traute „wo" ersetzt, k: GerieseU, wo mir gspielt kam. Vom Hauptsatz (Es hat schwach geregnet) ist nur das Verb ausgesprochen worden, wo steht wieder für als. Von den Ziegelarbaitem erzählt S: Da tun^s so an habhigen Ding nei, wo man hahben drauf bleibt, wenn man nei steigt. r : (Ein Mädchen trug) ein Paket, wo die H laschen (gemeint ist eine Hängematte) drinn vmr. s (Der Ziegelstein ist) aus Ton, wo man in die Platten (gemeint ist die Form) nei tut. V: Wir haben zu Mittag gegossen in an so an Häuserl, da wo Bierfasserl gicen san. K : Wir haben zum drittenmal gerastet in den Garten, wo die Bank sammbrochen ist. Kann als Lokalsatz gewertet werden. ß: Ich haV solche Blumen gesehen, wo die Blumen, wo der Spescha Albert allwei ghabt ha.t. Das wo die Blumen ist nur eine Verlegenheitswiederholung, die mit dem beliebten wo eingeleitet wurde. ß: An Kahn (habe ich gesehen), wo mir gfahren sind. o: Und ein' Wirt vor dem Haus dorten, won immer die Schifferl sind. (Kann Lokalsatz sein, ebenso der näch- ste): o: Das Haus (habs ich gesehen), wo die Schifferl immer dort sind. o: Und Blumen höh' ich gesehen und Gras und da won die wo immer so gema.cht haben in dem hohen Gras (= die Frösche). Das da won ist wieder Verlegenheitsgestotter. n: So a Ding (habe ich gesehen), wo die Frösche driym icaren (= ein Sumpf). z: Männer (habe ich gesehen), wo Steiner machen. U: Schiff ham mir gsehen, es waren aber not, wo mir drinn gsessen ham. u : Und da ham mir an Berg gsehen, wo Kohlen sind. Die sprachlich verfehlten Nebensätze der Sechsjährigen ergeben also für unsere Untersuchung keine neuen Gresichtspunkte.

Von den sprachlich richtigen Nebensätzen interessieren ims zunächst die Subjektsätze, weil sie die einzige neuauftretende Satzart bilden. Q : Es war recht schön, loie mir heimgangen sind und Katz und Maus gespielt haben. Q: Die erste Pause war au recht schön, wie mir die Frosch g fangt haben. Q : Wie mir heimgangen sind, des war aa schön. q: Wer brav gwen is und sich ruhig hingstellt hat, der is drankommen. Objektsätze fanden sich 2 : i : Und nacha wegtun, was na übrig blieben is (nämlich die gefüllte Form mit dem Draht glätten). y : Das weiß ich noch, tvie mir ein Reh gesehen ham. Die Adverbialsätze bringe ich in der in der Einleitung festgelegten Reihenfolge, also zuerst die Lokalsätze: a: Zu die Steiner sind mir auch hingekommen, wo die Steiner gemacht ivorden sind. u: Die Bank, wo eine Bank derbrochen ist (zu ergänzen : da haben wir Pause ge- halten). — 11 : Wo die Straßen war, da war's. ß : Und solche Bäum, wo die Blumen, wo der Spescha Albert alleweil ghabt hat. Der Satz ist mehrfach verkürzt. Voll- ständig müßte er heißen: Utul solche Bäume habe ich gesehen, wo die Blumen ge- wachsen sitid, welche der Spescha Albert immer gehabt hat. Q: .4 Bu hat ihn (den Backstein) nahiyigetan, wo's aufgestellt worden sind. C : Wie's Schiff da nüber- gefahren sind, wo mir waren, da sind mir eingstiegen. Der Gebrauch der Plural- form des Hilfszeitwortes statt des Singulars ist auf dieser Altersstufe öfters zu finden. S : Wir haben gerastet, wo die Frosch alleweil geschrieen ham. Frage : Wo haben wir das drittemal gerastet ? Antwort des Knaben I : Wo mir d'Hutschen ghabt ham, da? C: Mir san dada lieimgangen, da wo mir herüben waren. V: Wir haben gerastet, da wo die Bank durchbrochen ist. s: Wir haben da ge- rastet, wo mir die Frosch gesehen ham. s: Bei da drüben (haben wir gerastet),

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 12

174 Albert Huth

wo ma heim Schiff übergefahren und. Frage : Was ist da passiert, wo wir das drittemal gerastet haben ? Antwort des Mädchens i : Da wo die Bank waren ? i: Wir haben gerastet, da wo lauter Bäum waren. x: Wir haben gerastet, wo mir hutschen derfa ham. o : Wir haben gerastet, da wo die Fischerl so geschnappt haben. a : Wir haben da gerastet, da wo die Hängematte gemacht worden ist und wo die Bank waren. h: Wir haben da gerastet, wo mir die Schaukel angemacht haben. h : Wir haben da gerastet, y, o wir das Wasser geholt haben. u : Wi? haben da gerastet, wo mir gessen ham. s : Wir haben da gerastet, wo das Wasser war und da war a Bruckn. R: Wir sind über die Isar hinübergekommen, wo mir mit dem Schiff, wie mei Mama dabei war und die Kinder alle (übergefahren sind). Es folgen 25 Temporalsätze : U : Und dann, wenn mir dort waren, ham mir a hissel Katz und Maus gspielt. U: Nacha, wenn's aufghört hat (zu regnen), sind mir heimgangen. y: Wir sind über die Isar hinübergekommen, wo mir mit dem Schiff, ivie mei Mama dabei war und die Kinder alle (übergefahren sind). Dieser, eine Parataxe in der Unter ordnimg enthaltende Satz, mußte natürlich doppelt gezählt werden, als Lokal- wie als Temporalsj^tz. Wir kommen auf diese Gebilde später ausführlicher zurück. v : Wie^s regna wieder aufghört hat, nacha ^an ma wieder weiter gangen. Q : Es war, wie mir so viele Flugapparate gesehen ham. Q: Es war, ivie mir im Wald Pause gehalten ham. y: Mü^m Schiff (sind wir über die Isar hinüber gkommen ), und wie mei Mama kommen is, und wie da Kinder dabei gwesen sind, zerscht die Abteilung und dann die andere (mit der Fähre mußten wir nämlich zweimal übersetzen). C: Wie^s Schiff da^niiber- g fahren sind, wo mir waren, da sind mir eingestiegen. Der Satz ist schon unter den Lokalsätzen aufgeführt. Wir haben gerastet, ( Q) wie die Bank umgfallen ist. I: Wie mir heitngangen sind, ham mir nix mehr gessen. y: Das war, wie ich da das Reh gesehen hob noch. y: Das war, wie mir da weit naus gangen sind. y: Zum Unterstellen (sind wir gegangen), wenns so regnet. Kann, auch als Kausalsatz aufgefaßt werden. V: Das war, wie das Gewitter kommen is. Y: Katz und Maus (haben wir gespielt), wie mei Mama dabei war. Y: Wie mir bei der Stadt raus sind, da ham mir gar keine Häuser mehr gesehen. c : Wie mir „faules Ei'' hätten spielen wollen, hat's hageln ang fangt. a: Wie mir gangen sind, da hätten wir noch (spielen) wollen, derweil sind wir schon gangen. e: Wir hab?n gerastet, wie mir über der Isar drüben waren. e: Wie'st (= wie du) da vor gangen bist, nacha is mei Midter neigangen in den Garten. k : Dann werden' s ganz rot, wenn's trocken sind (die Ziegelsteine). a: Wie mir in Oberföhring waren, da. ham mir gessen und a bissei was trunken. n : Wie's so geregnt hat, da ham mir uns untergestellt, da ham mir Mittag gessen. F: Und dann, wie mir drüben waren, san die andern wieder rüber kemma. Auf die Frage: Warum sind wir in das Wirtshaus neigegangen ?" erhielt ich 29mal die Antwort: WeiVs geregnet Jiai^ weil's so arg geregnet hat, weiVs blitzt hat und weiVs donnert hat. Solche Kaasalsätze notierte ich von den Kn.aben E, I, K, 0, S, U, Z, ^; von den Mäd- chen c, h, i, k, m, o, p, q, r, t, v, x, y, z, a, ß, S, e, C Die übrigen Kausalsätze seien wörtlich wiedergegeben: K: Man tut ihn (den Ziegelstein) hinlegen, daß er trocken wird. C: Da ham mir aa wieder gessen, weiVs so donnert hat und weiVs geregnet hat. d: Wir sind in das Wirtshaus, weil so a Wetter war. B: In dem WirtsJiaus (haben wir zu Mittag gegessen), weiVs so arg geregnet hat. e: Wir sind in das Wirtshaus gegangen, weiVs so geregnet hat und so a Gewitter war. "C,:

Die Nebensätze in der Kindersprache

175

Wir sind über die Isar wieder her übergegangen, weil a Brücken toar. u : Wir haben uns hingesetzt, daß mir Brot gessen Tiam. s: Wir sind über die Isar herübergekommen, weil wir mit dem Schiff gefahren sind. s: Wir sind über die Isar herübergekommen, weil wir so wieder runtergangen sind, wie mir zerst waren. Der Reigen der in meinen Material vorhandenen Nebensätze wird beschlossen durch drei Konditionalsätze und einen Komparativsatz: A: Da war so a Schlauch und wenn der neigfallen is, na hat ma mWm Schlauch raufzogen. Gemeint ist das Ruder, das der Fährmann ins Wasser fallen ließ, um es langsam herüberzadrücken. Wie das Kind dazu kommt, das Ruder als Schlauch anzu- sprechen, ist mir unerklärlich. K: Wenn viel T&n da ist, dann tut man an alten Ton nei\ S: Da tun's so an habbigen Ding nei, wo man babhen drauf bleibt, wenn man neisteigt. o : Aus Ton (werden die Ziegelsteine gemacht), als wie unser Ton ist, aber der ist anders.

Tabelle 4. Typen der aufgetretenen Nebensätze.

I. Hauptsätze mit Nebensatzcharakter

1. Adversative Koordination

2. Bildung mit „derweil"

2. Unentwickelter Objektaatz

4. Unentwickelter LokalsatS

5. Unentwickelt. Temporalsatz

6. Unentwick. Konditionalsatz

7. Unentwickelter Attributsatz

„. . . a Geign, aber die is seho wieder kaput".

„derweil war's der Wolf".

„wie der Singer Heinz hat laufen können".

„Bäiune waren da, da ham's gehutscht".

„ich hab' so gefragt bis zwei Tag".

„Da hat ma auftreiben müssen, na is's rumglauf en".

„Ich hab'anHund gsehn,der hat eineSchleife ghabt".

IL Sprachheh verfehlte Nebensätze

a. Völlig verfehlt

1. Objektsatz

2. Lokalsatz

3. Kausalsatz

4. Konditionalsatz

Wir wünschen, „daß "d recht gsund bleibst", „wir sind so runtergangen,wie(=wo) wir zerst waren", „er legt's net zamm, sonst babbens zamm". „Wenn ein Kind ein Stück Brot hat, das soll's den Vögeln hinwerfen".

b.

Mundartlich richtig

1.

Lokalsatz

,4n dem Garten, wo die Bank zammbrochen is".

2.

Temporalsatz

Wann haben wir gerastet? „Wo a Gwitter kommen is".

3.

Komparativsatz

„So viele Jahr als man ist, so \-iele Lichter stehen am Kuchen droben".

4.

Konditionalsatz

Auf dem Pferd sitzt kein Reiter, „bal'sim Stall san".

5.

Attributsatz

,^E8 gibt auch Soldaten, wo trommeln".

III. Sprachlich richtige Nebensätze

1. Subjektsatz

2. Objektsatz

3. Lokalsatz

4. Temporalsatz

5. Kausalsatz

6. Kompfu-ativsatz

7. Konditionalsatz SS. Attributsatz

„Wie mir heimgangen sind, des war schön".

,J!)a waren's froh, daß's wieder da sind".

„Wo das Christkindel geboren wird, da muß ein

Stern sein"". Das war, „wie das Gewitter kommen is". „Er ist zum Brunnen gangen, weil er so Durst

ghabt hat". Die Ziegel werden „aus Ton gemacht, als wie

unser Ton ist". „Wenn ein Wind kommt, na treibt er's weg". „Es gibt auch Soldaten, die a Gwehr ham".

12*

176 Albert Huth

Das Ergebnis ist für die Sechs jäkrigeD : Dyei Viertel der neb3n3atzähnliclien Gebilde sind spracWich richtig gebildet (mit Einschluß der nur mundartlich richtigen Nebensätze sogar sieben Achtel). Als neue Satzart treten Subjektsätze auf, die Kausalsätze werden häufiger verwendet.

Nachdem wir nun das gesamte Material an unserem Auge haben vorübsr- ziehen lassen, wollen wir die vorgekommenen Typen der kindlichen Nebensatz- entwicklung herausstellen. Der Übersichtlichkeit halber geschehe dies in Form einer Tabelle. (Siehe Tab. 4 S. 175.) Je ein Beispiel ist hinzugefügt.

Ein Vergleich dieser Typen mit den Stern sehen Nebensätzen ergibt das Fehlen der Final- und Konsekutivsätze, da? aber durch einen Blick in Tabelle 1 einiger- maßen erklärt wird: meine Schüler waren zum weitaus größten Teil aus Kreisen, in denen Final- und Konsekutivsätze wohl nur selten gebraucht werden . Immerhin bleibt es verwunderlich, daß hier die Stern sehen Ergebnisse von meinen ab- weichen. Den Umstand, daß meine Schüler Lokal-, Komparativ- und Attribut- sätze bilden, die bei Stern nicht erwähnt sind, führe ich auf Unvollkommen- heiten der Sternschen Aufzeichnungen zurück.

Das oben gebrachte Nebensatzschema enthält eine Reihe von Satzarten, die sich in meinem Material nicht fanden. Es sind dies die Prädikatsätze, Final-, Modal-, Restriktiv-, Konsekutiv- und Konzessivsätze, dann noch die ergänzen- den Attributsätze, Genauere Untersuchungen müssen entscheiden, ob hier lediglich mein Material Lücken aufweist oder ob diese Satzarten auf dieser Alters- stufe im allgemeinen tatsächlich nicht gebraucht werden.

"Wir sind heute noch weit davon entfernt, eine Art Entwicklungsgeschichte des kindlichen Nebensatzes schreiben zu können. Auch meine Untersuchungen bieten nur wenige unvollkommene Anhaltspunkte dazu. Das einzige vorläufig Erreichbare ist die Festlegung einiger Hauptstufen der Sprachentwicklung. Nach A. Fischer sind es folgende: Zunächst stellt das Kind einfach eine Reihe von Hauptsätzen un verbunden oder durch und, na, nacha, dann verbunden neben- einander. Die zweite Stufe ändert nichts am äußeren Bau, aber das sachliche Beziehmigsbe wußtsein ist vorhanden. Zwei Momente werden simultan repro- duziert, können aber nicht gleichzeitig gesprochen werden, darum wird erst i5ie Ursache, dann die Wirkung genannt [Da hat ma auftreiben müssen, na is^s rum- glaujen). Die Stellungsverhältnisse der Sätze können also eine Bedeutung für den sprachlichen Ausdruck von Nebensatz Verhältnissen haben. Auf der dritten Stufe werden schon Nebensatzpartikel verwendet, es unterlaufen aber noch sprachliche Ungeschicklichkeiten aller Art. Die letzte Stufe bildet darm der sprach- lich richtige Nebensatz, wie er in der erwachsenen Umgebimg üblich ist. Es ist anzunehmen, daß jedes einzelne Kind diese 4 Stufen durchläuft darüber, wie lange es auf den einzelnen Stufen verweilt, in welchem Lebansalter es durch- schnittlich in die einzelnen Stufen eintritt, können heute noch keine Angaben gemacht werden. E%ist aber auffällig, daß mein gesamtes Material von 12 Kin- dern keinen einzigen Nebensatz aufweist. Diese 12 Kinder haben doch genau so an unseren Unterhaitangen und Besprechungen, am Verhör usw. teilgenommen wie die anderen 46 und doch wurde von ihnen kein Nebensatz notiert. Da läßt sich trotz aller Beschränktheit meines Materials die Vermutimg doch nicht ganz von der Hand weisen, daß unter diesen 12 Kindern einzelne sind, die überhaupt das Nebensatzstadium noch nicht erreicht haben, sondern noch auf

Die Nebensätze in der Kindersprache

177

der ersten Stufe (aneinandergereihte Hauptsätze) stehen. Auf der anderen Seite habe ich ebenfalls von 12 Kindern überhaupt nur sprachlich einwandfreie Nebensätze erhalten; es ist anzunehmen, daß diese Kinder vor Beginn meiner Untersuchungen schon die vierte Stufe erreicht hatten. Man sieht, hier ist noch ein weites Feld für genauere Untersuchungen, denn bei aller individuellen Verschiedenheit muß es doch möglich sein, eine Anzahl von Typen herauszu- kristallisieren. Die Frage wird noch komplizierter durch die Einbeziehung der

Tabelle 5.

Verteilung der Xebensatztypen auf die Altersstufen.

I. Hauptsätze mit Nebensatz- charak ter

4*/., Jahre! 5 Jahre

S'/a Jahrel 6 Jahre

1. Adversative Koordination

2. Bildung mit „derweil" . . .

3. Unentwickelter Objektsatz .

4. Unentwickelter Lokalsatz

5. Unentwickelter Temporalsatz

6. Unentwickelter Konditionalsatz

7. Unentwickelter Attributsatz

5.1 "o 5.1 %

2.6 ^o

2.6 ^o

58,9 \,

Q 7 o

7.4% 18,5%

11.1% 11.1%

11,1°;,

03%

03%

0.8% 4.8%

IL Sprachlich verfehlte Nebensätze

a. Völlig verfehlt

1. Objektsatz . .

2. Lokalsatz . . .

3. Kausalsatz . .

4. Konditionalsatz

7.5%

I

2.6 '\

1.6% 0,8%

b. Mundartlich richtig

1. Lokalsatz . . .

2. Temporalsatz

3. Komparativsatz

4. Konditionalsatz 6. Attributsatz . .

3J%

3.7%

3,7 %

25,9 %

13%

11.2%

IIL Sprachlich richtige Nebensätze

1. Subjektsatz . .

2. Objektsatz . .

3. Lokalsatz . . .

4. Temporalsatz

6. Kausalsatz . .

6. Komparativsatz

7. Konditionalsatz 8. Attrbutsatz . .

7,7% •23%

3.7% H3%

123% -

740/

- ! 3,2%

22,3% 1 13%

11,1«% i 18,4%

' 20.0%

22,2% 11.1%

30,4% 03% 2A%

verschiedenen Nebensatzarten. Auf der 2. und 3. Stufe wird man stets fragen müssen, was bei vorgeschrittenerer Sprachentwicklung aus dem Ausdruck ge- worden wäre; es muß möglich sein, auf Grund ausgedehnter Untersuchungen innerhalb jeder Entwicklungsstufe eine Reihe festzulegen , nach der im fiJl- gemeinen die einzelnen Nebensatzarten auftreten. Nach meinen unvollkomme- nen Untersuchungen kommen bei den Viereinhalbjährigen Objekt-, Lokal- und Konditionalsätze vor; die Fünfjährigen bilden außerdem Komparativ-, Attribut- und Temporalsätze; bei den Fünfeinhalbjährigen findet sich zum ersten Male

178

Albert Huth

der Kausalsatz. Die Sechsjährigen, von denen schon über drei Viertel die 4. Stufe der Sprachentwicklung erreicht zu haben scheinen, ergänzen die Liste der kind- lichen Nebsnsatzarten durch den Subjektsatz. Bei ihnen finden sich auch schon Nebensätze 2. Grades oder wenigstens dreiteilige Satzgefüge. Ich wiederhole die in Betracht kommenden 5 Sätze: Y: (Wir sind übsrgefahren), wo mir mit dem Schiff, wie mei Mama dabei war und die Kinder alle. Parataxe in der Unter- ordnung: Lokal- und Temporalsatz. ß: Und solche iBäume (habe ich gesehen), wo die Blumen (waren), wo der Spescha Albert alleweil ghabt hat. Ein Lokalsatz, von dem ein Relativsatz abhängig ist. C : Wie's Schiff da nüber g fahren sind, wo mir waren, da sind mir eingstiegen. Temporalsatz, dem ein Lokalsatz unter- geordnet ist. S: Da tun^s so an babbigen Ding nei, wo man babben drauf bleibt, wenn man neisteigt. Attributsatz mit abhängigem Konditionalsatz. s: (Wir sind über die Isar herübergekommen), weil mir so runtergangen sind, wie mir zuerst waren. Kausalsatz, dem ein Lokalsatz untergeordnet ist.

Einen Überblick über das Gesagte gibt Tab. 5 S. 177.

Die drei Hauptgruppen der Nebensatztypen sind zusammengefaßt in

Tabelle 6. Verteilung der Nebensatztypgruppen auf die Altersstufen.

Typ

4V 2 Jahre

5 Jahre

S'/z Jahre

6 Jahre

I. Hauptsätze mit Nebensatzcharakter n. Sprachlich verfehlte Nebensätze . .

a. völlig verfehlt

b. mundartlich richtig .... m. Sprachlich richtige Nebensätze . .

74,3 % 2fi 0/

o/ »" /o

23,1 %

29,6 % 44,5 % 7,5% 37,0 o/„ 25,9 %

33,3 %

66,7 %

8,0 % 15,2 %

2,4% 12,8 % 76,8 %

Kurz sei die Frage gestreift, ob die Neb^nsatzentwicklung bei den Knaben anders verläuft als b3i den Mädchen. Tab3lle 7 zeigt, wie sich die Nebensätze auf die einzelnen Kinder verteilen. In der ersten Rubrik sind die elliptischen Sätze verzeichnet, dann folgen die Hauptsätze, die völlig verfehlten, die mund- artlich richtigen imd endlich die sprachlich einwandfreien Neb3nsätzs. Besonders aufgeführt sind dann nöch die Nebensätze zweiten Grades.

Bei vier Sätzen ließ sich nicht mehr feststellen, wer sie gesprochen; es war ein elliptischer, ein verfehlter, ein mundartlicher und ein richtiger. Addiert man in den einzelnen Rubriken die Zahl der von Knaben gebrachten Sätze, so ergeben sich 3 elliptische, 31 Hauptsätze, 1 verfehlter, 9 mundartliche, 51 richtige Nebensätze und 2 Neb3nsätze zweiten Grades. Bei den Mädchen finden sich 1 elliptischer Nebsnsatz, 19 Hauptsätze, 4 verfehlte, 16 mundartliche und 66 rich- tige Nebensätze, dazu 3 Nebensätze zweiten Grades. Wegen der gar zu geringen Zahl der in Betracht kommenden Sätze ist ein Vergleich der Geschlechter bei den elliptischen, verfehlten und doppelt abhängigen Nebensätzen nicht durch- zuführen; es bleiben die Hauptsätze, die mundartlichen und richtigen Neben- sätze. Von den Hauptsätzen bildete ein Knabe durchschnittlich 1,2; ein Mäd- chen 0,6; die Tendenz, zwei Hauptsätze aneinanderzufügen, die ein Abhängig- keitsverhältnis erkennen lassen, das absr noch keinen sprachlichen Ausdruck findet, ist bei den Knaben noch einmal so stark als bei den Mädchen. Mundartliche

Die Nebensätze in der Kindersprache

179

Nebensätze ergeben sich für den Knaben 0,35, für das Mädchen 0,50; richtige für den Knaben 1,96, für das Mädchen 2,05; die Unterschiede sind zu gering- fügig, als das von einer Differenzierung gesprochen werden könnte. Im ganzen erhielt ich von den 26 Knaben 97 nebensatzähnliche Gebilde, von den 32 Mädchen 109. Das ergibt im Durchschnitt für den Knaben 3,7, für das Mädchen 3,4 also wiederum keine deutliche Differenzierung.

Tabelle 7. Verteilung der Nebensätze auf die einzelnen Kinder.

^ !

1

Elliptisch

i '

m !

1

1

u

O ei j

73

G

Elliptisch

<a

. 1 1

>

u T5

a

1

05

o

A i

__

_

d

-

1

_

B

i

__

_

o

-

5

3

C

4

1

f

1

D

g

.

1

E

1

7

1

1

6

h

1

3

F

,

-

2

1

i

_

1

4

G

1

k

!

2

2

H -

_ 1

1

1

1

-

3

m

'—

1

K

1

1

4

n

1

1

3

L

_

_

o

3

3

M

P

3

J^

1

1

q

2

O

1

r

1

1

2

P

s

1

2

Q

1

5

1

7

_

t

1

1

1

R

2

__

.

u

_

2

1

1

5

_

S

1

5

"1

3

V

2

T

1

_

w

U

3

}

4

X.

2

V

W

X

_

1

2

y

2

1 7

z

3

I

I

3

z

z a

1

2

1

Z

Y

Z

-

1 2

i _

i _

9

1 2

1

ß

1 1

2

2

i

z

S

1

z

1

3

i

a b

1

\ -

V

i

2

1

[

1

1

4 3

1

c

-

-

1

-

4

-

-

-

-

Um zu untersuchen, ob zwischen allgemeiner Begabung und Nebensatzreichtum und -richtigkeit eine Korrelation besteht, mußte ich die nebensatzähnlichen Pro- dukte der Kinder werten. Dabei leitete mich der Gredanke, daßesetwadie gleiche Leistung bedeutet, wenn ein elliptischer Satz, ein Hauptsatz mit Nebensatz- charakter oder ein völlig verfehlter Nebensatz gebildet wurde ; eine höhere sprach- liche Leistung, wenn der Nebensatz mundartlich richtig ist ; daß schon eine höhere Stufe der Sprachfertigkeit erklommen ist, wenn völlig richtige Nebensätze gebraucht werden und daß es die letzte für diese Alterstufe mögliche Steigerung bedeutet, wenn ein Kind Nebensätze zweiten Grades zustande bringt. Deshalb rechnete ich jeden elliptischen Satz, Hauptsatz und verfehlten Nebensatz einfach.

180

Albei;t Huth

jeden mundartlichen Nebensatz doppelt, den richtigen dreifach und den zweiten Grades vierfach. So ergab sich für die Entwicklung des Gebrauchs der Nebensätze bei den einzelnen Kindern folgende Wertung:

Tabelle 8. Wertung der kindlichen Nebensätze.

a

U

CO

73

43

TS

u

a

u

T3

a

(1

Kind

A B

C D E F G H I

16

29

7

2 9

K L M

N O P Q R S 1

15

4 3

29

2

17

T

U

V

W

X

Y

Z

A

a

1

17

8

12

31

4

8

1

b

c d

e

f

. g h i k

13

3

14

1 1

3

10 13 10

1

m n o

P

q

r s t

. 3

12

15

9

6

9

1

u

V

w

X

y z a ß Y

20 6

l

26

12

1

<5 e

c

V

1

16 21 11

Als Mittelwert ergibt sich 7,7. Nun ordnete ich die Kinder nach dem Wert ihrer Nebensätze und verglich die so erhaltene Nebensatzreihe mit der Begabungs- reihe. Tabelle 9 bringt die Buchstaben der Kinder nach der Begabung geordnet, daneben, welche Nummer in der Begabungsreihe das einzelne Kind einnimmt, ao dritter Stelle, welchen Platz dasselbe Kind in der Nebensatzreihe bekleidet.

Tabelle 9. Vergleich der Begabungsreihe mit der N«bensatzreihe.

T3

4

bO

CO

a ©

ü

T3

i

03

c ©

©

a

03

a ©

c

W

Ö

W

©

ö

Ui

©

i

Q

E

1

3

2

i

21

14

H- 7

D

41

51

—10

c

2

15

—13

G

22

50

—28

. A

42

56

—14

e

3

13

—10

H

23

42

—19

n

43

17

+26

1

4

53

—49

o

24

12

^ 12

p

44

24

J20

k

6

20

—15

q

25

32

7

r

45

22

4 23

F

6

28

—22

s

26

25

-^ 1

O

46

37

-4 9

m

7

38

—31

K

27

11

^16

u

47

6

-i41

V

8

27

19

N

28

35

7

V

48

57

9

t

9

33

—24

z

29

36

- 7

z

49

34

-116

y

10

30

—20

S

30

8

4 22

L

50

49

+ 1

a

11

+ 7

ö

31

9

- 22

V

51

31

-|20

ß

12

16

4

u

32

7

- 25

Y

52

1

4 51

T

13

45

-32

f

33

19

-i 14

e

53

5

4 48

X

14

18

4

w

34

47

—13

W

54

58

4

A

15

26

—11

P

35

55

—20

X

55

29

-2tt

V

16

43

—27

Q

36

2

4 34

I

56

23

-f33

b

17

52

—35

R

37

41

4

M

57

48

-1- 9

B

18

54

—36

d

38

40

2

s

68

44

+ 14

g

19

39

—20

C

39

10

4 29

h

20

21

1

f

40

46

6

Die Nebensätze in der Kindersprache ' 181

So läßt sich für jedes Kind feststellen, ob die allgemeine Begabung mit der Ent- wicklung der Nebensätze parallel läuft. Ist die Nummer eines Kindes in der Be- gabungsreihe höher als die Nummer desselben Kindes in der Nebensatzreihe, so dürfen wir daraus schließen, daß die allgemeine Begabung besser entwickelt ist als die Fähigkeit, Nebensätze zu bilden. Darumist in der vierten Spalte der Tabelle 9 die Differenz zwischen der Platznummer in der Begabungsreihe und der in der Nebensatzreihe angegeben. Diese Differenz ist positiv, wenn die Begabung der Nebensatzentwicklung voraus ist, negativ im umgekehrten Falle. Die Betrachtung der Tabelle ergibt die ebenso überraschende wie interessante Tatsache, daß in der ersten Hälfte die Differenz fast durchweg negativ, in der zweiten Hälfte fast durchweg positiv ist; mit anderen Worten, daß die gut be- gabten Kinder weniger und schlechtere Nebensätze gebrauchen als die schlecht begabten. Teilt man (nach Dr. Lipmann, „Die statistische Untersuchung von psychischen Geschlechtsunterschieden" in : Arbeiten des Bundes für Schul- reform) die Kinder in 25% gute, 50% mittlere und 25% schlechte, so ergibt sich für die gutbegabten eine negative Differenz von 249, für die schlecht begabten eine positive von +307; im ganzen divergieren Begabung und Nebensatzbildung für diese 30 Kinder um 556 Platzsf ufen, die durchschnittliche Differenz beträgt 18,5 Platzstufen. Diese Differenz würde 0 betragen, wenn Begabung und Neben- satzreichtum und -richtigkeit parallel laufen würden, sie würde bei 58 Kindern pro Kind 43 Platzstufen aasmachen, wenn das bestbegabteste Kind die aller- schlechtesten Nebensätze gebrauchen würde. Nach meinem Material werden

die Nebensätze um 43% (nämlich '■ '■ %) schlechter bzw. besser gebildet,

43

als man es nach der Begabung erwarten sollte. Ich möchte ausdrücklich darauf

aufmerksam machen, daß dieses Ergebnis aus den tatsächlichen Zahlen meines

Materials imd nicht aus berechneten Prozentsätzen gewonnen wurde, daß also

rückhaltlos ausgesprochen werden könn, daß die gut begabten Kinder weniger und

schlechtere, die schlecht begabten aber mehr und bessere Nebensätze bilden.

Ihre Erklärung findet diese auf den ersten Blick eigenartige Erscheinung darin,

daß die Gutbegabten den engumgrenzten Gedankenkreis, den sie aussprechen

wollen, in einem einzigen Satze, einem Hauptsatze, ausdrücken können, während

die Schlecht begabten ihre Gredanken nicht so bestimmt zu fassen vermögen und

deshalb Nebensätze benötigen. "Wann gebrauchen denn v,iv Erwachsene einen

Nebensatz ? Jedesmal, wenn wir das im Hauptsatz Gresagte noch näher bestimmen

wollen. Es ist ein 2feichen besonderer Begabung, wenn jemand den Lapidarstil

zu meistern versteht. Die lebensvolle Sprechsprache eines Gustav Frenssen, eines

Berthold Otto verschmäht die Nebensätze fast vollkommen. So werden wir

es auch den Kindern als einen Beweis scharfen klaren Denkens auslegen müssen,

wenn sie wenig Nebensätze verwenden.

Die Ergebnisse meiner Untersuchungen lassen sich kurz folgendermaßen zu- sammenfassen.

1. Bei der großen individuellen Verschiedenheit der Kinder läßt sich vorläufig noch keine untere Altersgrenze der Nebensatzentwicklung angeben; es finden sich jedenfalls schon bei Viereinhalbjährigen sprachlich richtige Nebensätze.

2. Als Nebensatzpartikel fungieren bei den Viereinhalbjährigen „der" und

182 AHsert Huth. Die Nebensätze in der Kindersprache

„wenn", bei den Fünfjährigen „wo" und die Fürwörter „der, die, das", bei den Sechsjährigen hauptsächlich ,,wo, weil, wie".

3. Vom 5. Lebensjahr ab finden sich vereinzelt elliptische Sätze, die Nebensatz- charakter tragen.

4. Als Stufen der Nebensatzentwicklung sind anzunehmen: a) die Aneinander- reihung von Hauptsätzen, b) die Aneinanderreihung von Hauptsätzen mit Nebensatzcharakter (sachliches Beziehungsbswußtsein), c) die Bildung sprachlich verfehlter Nebensätze und d) die Bildung sprachlich einwandfreier Nebensätze.

5. Bei den Viereinhalbjährigen ist nach meinem Material nur der vierte Teil der Sätze sprachlich einwandfrei; es sind Objekt-, Lokal- und Konditionalsätze. Die Fünfjährigen gebrauchen außerdem noch Komparativ-, Attribut- und Tem- poralsätze. Der Kausalsatz tritt erstmalig bei den Fünfeinhalbjährigen auf. Bei den Sechsjährigen findet sich auch der Subjektsatz; jetzt sind mehr als drei Viertel der Sätze richtig gebildet.

6. Die Sechsjährigen bilden schon Nebensätze zweiten Grades.

7. Knaben und Mädchen verhalten sich den Nebensätzen gegenüber im allge- meinen völlig gleichartig, nur daß die Knaben mehr zu Hauptsätzen mit Neben- satzcharakter neigen.

8. Allgemeine Begabung und die Häufigkeit des Gebrauches von Nebensätzen scheinen zu divergieren. Je besser die Begabung, desto weniger Nebensätze.

Ich habe schon einleitend bemerkt, daß meine Arbeit lückenhaft ist, daß sie aber späteren, genaueren Untersuchungen zur Unterlage dienen kann. Für solche umfassende Untersuchungen seien folgende Winke gegeben:

1. Ungeklärt sind vor allem noch die Fragen , in welchem Alter da'? Durchschnitts - kind dazu kommt, die einzelnen Nebsnsatzarten der Schriftsprache zu verstehen, in welchem Alter es die ersten Nebensätze gebraucht (gemeint sind hier sprach- lich einwandfreie Nebensätze), auf welchen Altersstufen die obengenannt/cn vier Nebensatzstufen auftreten, welche Typen der individuellen Nebensatzentwick- lung sich hiebei ergeben und in welcher Reihenfolge innerhalb der vier Stufen die einzelnen Nebensatzarten der Schriftsprache gebildet werden. Interessant wären Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen dem sozialen Milieu und der Entwicklung der Nebensätze; besonderes Augenmerk ist auf den von Stern als schwierig bezeichneten irrealen Bedingungssatz zu richten (in meinem Material war er nicht vertreten).

2. Für die Gewinnung des Materials ist es wertvoll, die Versuchspersonen aus allen Bevölkerungsschichten zu entnehmen. Unbedingt müssen auch Kinder unter 4 ^ und über 6 Jahren in den Kreis der Untersuchungen einbezogen wer- den. Die Grundlage sei immer durch Stenogramme der lebensvollen Sprech- sprache des Kindes gebildet. Zum Nachschreiben eignen sich Nacherzählungen von Märchen und anderen Geschichten, ungezwungene Gespräche zwischen Lehr- kraft und Kind oder noch b2sser z-wischen den Kindern unter sich, Reaktionen der Kinder auf einzelne Sätze der Lehrkraft (z. B. auf eine unmögliche Behaup- tung, auf die Erinnerung an ein gemeinsames Erlebnis usw.). Wenn sich dann bei der Durcharbeitung des so gewonnenen Materials die Notwendigkeit ergibt, auf einzelne Fragen besonders einzugehen, wird es sich empfehlen, zur Unter- suchung dieser Fragen besonders geeignetes Material künstlich zu erzeugen

Bergmann, Beiträge zur Untersuch, der sprachl. Entwicklung des Kindes 183

durch Fragen, Nacherzählen eigens erfundenerGeschichten, Ausführung von Hand- lungen mit nachfolgendem Bericht usw.

3. Zur Protokollierung des Materials sei daran erinnert, daß notwendig der gesarate Zusammenhang ersichtlich sein muß, daß Sprechmelodie und Sprech- tempo durch irgendwelche besondere Zeichen mitzunotieren sind.

4. BsiderVerarbeitung des Materials ist stets zu unterscheiden, ob der kindliche Nebensatz nur eine Nachbildung stereotyper Ausdrücke darstellt (Märchen, Glück- wünsche u. dgl.) oder ob er eine Frage beantwortet oder endlich ob er durchaus selbständig gebaut wurde.

Eine solche umfassende Untersuchung würde wohl beträchtliche Arbeit er- fordern, absr mit Sicherheit könnte darauf gerechnet werden, daß sie imser Wissen über das Werden des nebensätzlichen Denkens bedeuteDd erweitern würde.

Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung

des Kindes.

(Nach eigenen Beobachtungen mitgeteilt.) Von Karl Bergmann.

Vorbemerkungen.

Die folgenden Seiten bringen die sprachlichen Beobachtungen, die ich an meinen beiden Kindern, einem Knaben und einem Mädchen, während zehn Jahren gemacht habe. Über das Verfahren, das ich bei diesen Darlegungen einschlage, sei folgendes berichtet. Im allgemeinen werden nur solche Wörter und Wendungen mitgeteilt, die von den Kindern öfters gebraucht wurden. Soweit es sich imi vereinzelt vorkommende Beispiele handelt, wurden sie dann berücksichtigt, wenn sie durch andere Beispiele gleicher Art gestützt werden oder wichtige Schlüsse für die allgemeine sprachliche Entwicklung zulassen. Die Anordnung der Wörter geschieht nicht in zeitlicher Folge, sondern die Beispiele werden nach bestimmten sachlichen Gruppen geordnet, denn es kommt mir bei meiner Arbeit hauptsächüch auf die nachstehenden Punkte an. Zunächst will ich zeigen, welche lautliche Umgestaltung im Munde des Kindes die Wörter erfahren, die dem Kinde vorgesprochen werden oder die es von seiner Umgebung hört und dann nachzuahmen sucht. Hierbei möchte ich vor allem auf die kindliche Aussprache der schwierigen Kon- sonanten hinweisen und auf die interessanten Erscheinungen der Wort- kürzung, der verschiedenen Assimilationen und der Silben Verdoppelung. Die Aussprache wird mit gewöhnlichen Buchstaben dargestellt; ein hoch- gestelltes " bedeutet einen kurzen, dumpfen u-Laut; die Länge der yokale ist die gleiche wie in den entsprechenden schriftsprachlichen Wörtern; wo Ab- weichungen stattfinden, wird durch die bekannten Länge- und Kürzezeichen besonders darauf hingewiesen. Das Kind tritt aber auch als Wortschöpfer auf, und so wird ein zweiter Hauptteil diese wichtige Seite der Sprachent- wicklung behandeln. Schließlich versucht das Kind, seine Gedanken und Empfindungen durch Aneinanderreihen von einzelnen Wörtern zu ganzen Sätzen auszudrücken; wie es dabei verfährt, soll in einem dritten grammatischen

184 Karl Bergmann

Teil an einer Anzahl von Beispielen erläutert werden. Diesen drei Hauptab- schnitten geht eine knappe Darstellung der ersten Sprechversuche des Knaben voran; für das Mädchen kann eine solche nicht gegeben werden, da hier die Gelegenheit zur Beobachtung ungünstig war. Auch sonst fällt der Haupt- teil der Beobachtungen auf den Knaben; soweit sie sich auf das Mädchen beziehen, ist dies durch ein M. in Klammern bemerkt. Die ebenfalls in Klammern mitgeteilten Zahlen beziehen sich auf das Lebensalter, in dem die Beobach- tung gemacht wurde; die erste Zahl bedeutet das Lebensjahr, die zweite den Monat des darauf folgenden Lebensjahres : 3/5 bedeutet somit, daß das Kind zur Zeit der Beobachtung drei Jahre und fünf Monate alt war. Ein Fragezeichen bei dieser Angabe will sagen, daß Zweifel über die Zeit der Beobachtung bestehen. Soweit es mir möglich war, versuchte ich eine Er- klärung der verschiedenen Erscheinungen zu geben, die natürlich bei der Schwierigkeit des Stoffes keinen Anspruch auf unbedingte Geltung machen kann.

Die ersten Sprechversuche.

Die ersten Sprechversuche des Knaben begannen im 8. Monat ; sie lauteten wie bäba, das erste b wurde mit deuthch vorschlagendem m und als starker Explosivlaut gesprochen, die beiden Vokale klangen kurz und dumpf. Die lautliche Entwicklung ging dann über abä (geschlossenes erstes a, b als deut- licher Explosivlaut, kurzes zweites a), bäbä, wawa, waba, bawa, welche drei letzteren Wörter in buntem Wechsel unermüdlich hintereinander gesprochen wurden, zu baba (ohne vorschlagendes m). Im 9. Monat gesellte sich zu diesen ersten Versuchen dada mit deutlichem stimmhaften d; am Ende des 10. Monats sprach der Knabe zum ersten Male ma ma. Bald darauf tritt eine Pause ein, die lautlichen Äußerungen gehen über baba und dada nicht hinaus, mama fällt ganz weg; das Kind bringt nur lallende Laute hervor. Eine in- teressante Beobachtung war im 14. Monat zu machen. Der Knabe hatte dem Gurgeln der Erwachsenen zugesehen, dabei beobachtet, wie mit dem Wasser aus der Wasserflasche die gurgelnden Töne hervorgebracht wurden, ahmte diese Töne nach und ließ sie dann eine Zeitlang immer hören, wenn die Wasserflasche an ihm vorbeigetragen wurde: gleichsam der erste Versuch einer Namengebung. Vom Beginn des 15. Monats stellt sich dann wieder bei starkem Zahnen der Trieb ein, vorgesprochene Worte nachzuahmen; ba' (= Ball), nein, wauwau, hotto. Auch das Wort mama stellt sich, zu- nächst vermischt mit jämmerlichem Schreien, wieder ein. Im allgemeinen aber hat das Kind in der ersten Hälfte des zweiten Lebensjahres nur geringen Trieb, vorgesagte Wörter nachzusprechen. Um so größer ist die Wißbegierde; um sie zu befriedigen, deutet es auf die Gegenstände mit dem Ausruf hä? Im 21. und 22. Monat lernt es wieder eine größere Zahl Wörter. Im 22. Monat spricht es auch seinen ersten, aus mehreren Wörtern bestehenden Satz; (s. 4. Satzbildung Nr. 2 unter „Grammatisches").

Die Lautgestaltung der Wörter.

1. Die Konsonanten f, g, k, 1, r, s, seh, z: a)f:

Fisch bib (2/1) Affe = aba (2) Stiefel = dibi (2/3)

Fuchs -= buk (2/5) Seife = deip (2ß} auf = au (2)

Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes 185

5mal -v^-ird f als b (p) wiedergegeben (2 mal im Anlaut, 2 mal im Inlaut, Imal im Auslaut), Imal fällt f ganz weg.

b) g:

gut = dut (1/11) Geige = deida (2/1) Glas = d»a (2/1)

gut = gut (2) Gutsei = gudu (2/2) groß = grot (2/6)

Geige = geid (2) Gang = gang (2/2)

Die 8 anlautenden g werden 3mal als d, 5mal als g wiedergegeben; zu beachten ist gut als gut und dut, Geige als geid und deida.

c) k:

[Ka>ao = gau (1, 11) Kappe = bab (2) Rock = ot (t/T)

Kahn = dan (2) Kanne = bam (2/2) Bock = bok (1/11)

Kanne = danne, danna (2) Kleid = deid (2) Stock = ok (2/1)

Anlautendes k ist 3mal durch d vertreten (darunter die Doppelkonsonanz kl), Imal durch g, 2 mal durch b; dieses b kann bei bab als regressive Assi- milation erklärt werden. Auslautendes k tritt 2 mal als k, Imal als t auf.

d) 1:

Liebling = Henning (2) lesen = "äde (2/5) dunkel = gtinnu (2/2)

[Sa]lon = hon (2.1) Glas = d"a (2/1) Gutsei = gudu (2;2)

los = hod (2/3) Stuhl = dud (2, 1) Pudel = budu (2/3)

Von 4 anlautenden 1 werden 3 durch h ersetzt, 1 durch °; dieser dumpfe "-Laut auch bei Gl = d"; auslautendes 1 (Stuhl) = d; 1 in der Endsilbe el fällt aus (vgl. auch 3 b ß).

e) r:

Rab = hab (2) Printe == bin (2/2) Reiter = «eida (2,1)

Rab = "ab (2, 6) morgen = mojo (2/5) lieber = liba (2/6)

Rupp = hupp (2/2) Erde = äd (2,7) wieder = widda (2/6)

Reiter = "eida (2/1) Turm = dum (2/2) Zimmer = dimmi (2/7)

[hejrein = "ein (2/6) Erich = Eich (2) immer = immi (2/7)

schreiben •= d"eiba (2/3) bei dir = beidi (2,3) Butterbrot = butterbrod (1/11)

schreien = d^eia (2/3) Uhr = u (2, 3) Bart = bart (2. 2)

drei = duei (2/6) Wasser = wawa (2)2)

hurra = huwa (2/2) Hammer = hamma (2)

Anlautendes r erscheint 2mal als h, 3mal als " ; r als zweiter Bestandteil einer Doppelkonsonanz wird 3mal dm-ch " wiedergegeben, Imal weggelassen: inlautendes r wird 4 mal unterdrückt, einmal durch w ersetzt; auslautendes r wird nie ausgesprochen, die Endung er erscheint als a bzw. i ; 3 mal erscheint r in richtiger Aussprache (bart, butterbrod).

f) a) s:

Suppe = dupp (2/ 1) messen = männä (2/3) heiß = hei (2 1)

Sonne = donne (2/2) Messer = männä (2,/3) Schoß = dop (2/1)

so = do (2/5) lesen = "äde (2/5) los = hod (2/3)

Seife -= deip (2/3) Haus = hau (1/11)

satt = dad (2,/7) Glas = d"a (2/1)

5 mal wird anlautendes s durch d ersetzt; inlautendes s Imal durch d, 2mal

durch n; auslautendes s Imal durch d, Imal dm'ch p, 3mal fällt es aus. ß) seh:

Schoß = dop (2/1) schreiben = d"eiba (2/3) Stuhl = dud (2/2)

Schürze = ded (2/2) schreien = d"eia (2/3) Stoßt = dod (2/2)

schön = den (2/6) Schwan = wan (1/11) Stiefel = dibi (2/3)

Schuh[e] = du (2/6) Schwamm = bam (2/2) Fisch = bib (2/1)

Spinne = binne (2) Stein = dein (111)

186 Karl Bergmann

Wie s wird auch seh gern durch d ersetzt; unter Einrechnung der Ver- bindung st (s. auch h.) haben wir lOmal d für anlautendes seh; 3mal fällt anlautendes seh weg; auslautendes seh erscheint Imal als b. g) z:

= du (2) abc = abd (2/2) Zwieback = didat (2/2)

Zimmer = dimmi (2/7) Zange = ganga (2) zwei = d"ei (2/5)

Unter 6 Fällen tritt 5 mal d für z ein; kann für ganga = Zange regressive Assimilation angenommen werden?

h) Wörter mit doppeikonsonantischem Anlaut: Blätter = habet (1/S) Stein = dein (l/ll) Zwieback = didat (2/2)

blau = gau (2) Stiefel = dibi ajS) zwei = d"ei (2/5)

Pfau = gau (2) stoßt = dot (2/2) Stock = ok (2/1)

Kleid = deid (2) Spinne = binne (2) Schnake = ak (1/10)

Printe = bin (2/2) Schwan = wan (1/11)

Stuhl = dud (2/2) Schwamm = bara (2/2)

Die Wörter dieser Gruppe wurden zum größten Teil schon in den vorher- gehenden Abschnitten betrachtet. Sie werden hier nochmals übersichtlich zusammengestellt, um die Neigung des Kindes zu zeigen, die schwer aus- zusprechenden doppelkonsonantischen Anlaute zu vereinfachen bzw. ganz zu beseitigen; man beachte, wie blau und Pfau in der kindlichen Aussprache zusammenfallen.

2. Der Ausfall anlautender Konsonanten bzw. ganzer Silbenr

a) Der bzw. die anlautenden Konsonanten fallen weg:

Buch = «ch (1/8) Rock = ot (1/7) Bank == ank (2)

Schnake = ak (1/10) Stock = ok (2/1)

Die Erscheinung dieses Ausfalls kann in doppelter Weise erklärt werden. Einmal kann sie in der Schwierigkeit der Aussprache des Anlauts begi'ündet sein ; dem gegenüber steht aber wieder die Tatsache, daß in anderen Wörtern der gleiche Anlaut gesprochen wird, z. B. in hart (2/2). Der Ausfall mag daher besser auf die bei solchen einsilbigen Wörtern, besonders bei Rock^ Stock und Bank stattfindende kurze und scharfe Aussprache zurückzuführen sein, wodurch vor allem die letzten Laute in das Ohr des Kindes hineinklingen (vgl. auch den folgenden Abschnitt).

b) Bei mehrsilbigen Wörtern wird gerne die erste der Tonsilbe voran- gehende Silbe (bzw. die ersten Silben) unterdrückt:

kaputt = but (2) Trompete = pete (2/1) Chokoladchen = lädä (2/2>

Kakao = gau (1/9) Salon = hon (2/1) Harmonika = monika (5/6)

Soldat = dat (2) GemiU = mis (2/2)

In allen diesen Beispielen sind die ersten Silben unbetont, sie fallen somit weniger ins Ohr als die nachfolgenden betonten Silben und kommen daher bei der Nachahmung in Wegfall. Eine beachtenswerte Parallele zu dieser Erscheinung bietet die neuste Soldatensprache. Als unsere Soldaten 1914 in Frankreich eindrangen, bekamen sie auf ihre Frage nach Lebens- mitteln usw. die ständig wiederkehrende Antwort: 11 n'y en^a plus. Sie sprachen das Wort als naplü nach, d. h. sie beschränkten sich auf die Wieder- gabe der besonders stark in ihr Ohr fallenden letzten Sprechtakte: [ilniä]naplü. Das Wort ist zu einem festen Bestandteil der Soldatensprache geworden.

3. Die nächsten Gruppen behandeln die sog. Assimilation, d. h. die aus- gleichende Wirkung, die benachbarte Laute aufeinander haben. Wir unter-

BeiträLge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes 187

scheiden die regressive Assimilation, d. h. die rückwärts wirkende und die progressive, d. h. die vorwärts wirkende Assimilation.

a) Regressive Assimilation:

Tunke = gunnu (2/2) Bleisiüt = scbleischtUt (M. 4)

dunkel = gunnu (2/2) Kaplan = bablan (6/10)

dunkel = gungel (M. 4, 10?) Tablette = bablette (6,7)

photographieren = kotografieren (5,10) verkrumpeln = verbrumbeln (7 9)

Phonograph konograf (M. 6/2) Zwetschen = schwetschen (5/ 1 1)

Harmonika = karmonika (5/6) Infantrist = infrantrist (5 11)

Kaffee = fafe (4/9) die Bube[n] rodle[n] = die buble rodle (M. 4yl0)

b) Progressive Assimilation:

a) Angleichung der Konsonanten:

gut -= gug (2) guten Tag = guda gad > 2 5,i Mauer = Momer (5 ?)

Bad = bab (2) Major = Mamor i5 2)

ß) Angleichung der Vokale:

Apfel = haba (2) Kanne = danna (2) Ochse = oggo (2,3)

Affe <= aba (2) danke = danna (2,2) morgen = mOjO (2/3)

haben = haba (2 8) Stiefel = dibi (2 3) Pudel = budu (2|3)

Wappen = "aba (2/3) Himmel = himm! (2 7) dunkel = gUnnu (2,2)

Hammer = hama (2) Zimmer = dimmi (2 7) Tunke = gUnnu (2; 2)

Zange = ganga (2) immer = immi (2/7) Gutsei = gudu (2/2)

Es mag dahingestellt sein, ob es richtig ist, alle diese Wörter durch pro- gressive Assimilation zu erklären ; denn neben haben = haba haben wir auch schreien = d"eia, schreiben = d"'eiba ; die Formen auf a mögen auch auf die Freude des Kindes an vollklingenden Endungen zurückzuführen sein. Sehen wir aber von diesen Formen auf a ab, so ist bei den Wörtern mit o, i und u eine große Gesetzmäßigkeit zu erkennen.

4. Eine Verdoppelung der ersten Silbe findet bei folgenden Wörtern statt:

Wasser = wawa (2), wauwau (2) Häschen = iäjä (2,3)

Tasse = dada j2: 1) Hilde 1. iiji (2 2), 2. hihi (,2,7 '?)

Tante = dandän (2/1) Engel = engeng (2,1)

5. Die nachstehenden dreisilbigen Wörter müssen sich mit einer annähernden Wiedergabe begnügen ; dabei ist zu beachten, wie das Kind wohl die Vokale ziemlich richtig ausspricht, nicht aber die Konsonanten bzw. Konsonanten- verbindungen; auch die genaue Wiedergabe der Silbenzahl, sowie der Be- tonung ist bemerkenswert :

Äbputztuch = äbedo (1,'S) Weihnachtsmann = "eidabam (2,2)

'Ejlisabeth = betabet, bitabet (2) Offizier = dödidi (2 2)

[auf] Wiedersehn = ninäne (2/3)

6. Vertauschung einzelner Laute:

buchstabieren = buchsbadieren (7) Sattler == Laster C7/5)

Globus = Biogus (6/5) Buchstabieren wurde bis ins 10. Lebensjahr als buchsbadieren gesprochen.

7. Vertauschung ganzer Silben:

Hasenbraten = bratenhas (M. 3,6) Uhrkette = kettenuhr (5;4)

W«lfgang = gangwolf (M. 4/9) Nußknacker = knacknusser (5/11)

Wasserstoff = stoffwasser (M. 5/6) Bleiaufschläge •= aufsbUischläge (6/8) Wurstweck = weckwurst (4/10)

Was die Erwachsenen oft im Scherze tun, wird von dem Kinde unbewußt im Ernste vorgenommen.

188 Bergmann, Beiträge zur Untersuch, der sprachl. Entwickl. des Kindes

8. Verschiedenes:

a) Dissimilation (vgl. oben 3):

Vilbeler Wasser = vilberer wasser (6/9) die Idioten die inloten (M. 7/5)

b) Kürzung der Wörter durch Weglassen von Silben:

Urgroßmama = urmama (M. 3/9) Erbgroßherzog Georg = erbgeorg (M. 3/9)

c) Vermeidung des Hiatus durch Einschieben eines Konsonanten:

Theo = dedo (2/2) (aber auch richtig teo); vgl. auch Erich = Eich (2) adio = adido (2/2) Noack = norak (M. 6/6)

Die weitaus größte Zahl der in diesem Abschnitt über die Lautgestaltung niedergelegten Beobachtungen entstammt der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres und vor allem dem dritten Jahr. Vom vierten Jahre an wird das Kind allmählich Herr der meisten lautlichen Schwierigkeiten. Auffallend sind die Beispiele der Gruppe 3 a (regressive Assimilation) und der Gruppe 7 <Vertauschung ganzer Silben), die sich auf die höheren Lebensjahre (5 8) erstrecken. _ (Schluß folgt.)

Kleine Beiträge und Mitteilungen.

Zur psychologischen Beobachtung der Ftb-sorgezöglinge hat Prof. Dr. Gregor, Oberarzt am Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf bei Leipzig, ein Schema entwickelt, das er für gemeinsame Arbeit an der Erforschung der Verwahrlosten nach ihrer seelischen Struktur und besonders ihrer moralischen Artung und Entwicklung weiteren Kreisen zugänglich machen möchte. Die von ihm vorgeschlagenen Ermittlungen können unabhängig von der psychia- trischen Untersuchung vorgenommen werden. Beide sollen einander ergänzen. Die psychologische Analyse wird dem Psychiater Beobachtungsmaterial zur Prüfung und diagnostischen Verwertung bieten; andererseits vermag die psychiatrische Auffassung die Besonderheiten der Charakterstruktur zu be- leuchten. Bestimmt ist das Schema für folgende Aufgabe: Es soll Lehrer und Erzieher zu umfassender und systematischer psychologischer Beobachtung der Zöglinge anregen; es soll verwertbares Material für ärztliche Diagnosen- stellung liefern ; es soll eine individualisierende Erziehung ermöglichen helfen ; es soll das für die Verwahrlosung kennzeichnende Verhalten aus der Struktur der Zöglinge erklären ; es soll die Grundlage zur Abgrenzung von Charakter- typen Verwahrloster sein. Die Aufstellung der vorgeschlagenen Beobachtungs- richtungen ergibt folgendes Bild.

A. Komplexe psychiatrische Funktionen.

1. Intelligenz, a) Anlage, b) Kenntnisse, c) Fähigkeiten. Gedächtnis Auffassung (schwer leicht Interessen Vorstellungsreichtum und -armut (Phantasie) Denken (oberflächlich tief, langsam rasch).

2. Gemütliches Verhalten, a) Stimmungslage (heiter traurig; gehoben gedrückt; gleich- mäßig — wechselnd; begründete unbegründete (endogene); Verstimmungen, deren Art und Dauer). b) Affekte (erregbar stumpf; dem Reize entsprechend ungewöhrdich oder abnorm in Stärke und Art). c) Höhere Gefühle dem Alter entsprechend entwickelt; soziale und moralische Gefühle.

3. Triebleben, a) Triebhafte Erscheinungen (naschen, stehlen, ausreißen usw.). b) Sexuelles Verhalten. c) Krankhafte Trieberscheinungen und Perversitäten.

Kleine Beiträge und Mitteilungen /^f 193

4. Wollen und Handeln (aktiv-passiv, schlaff, energisch, bratal. überlegt, zielbewußt, zerfahren), Eifer, Ausdauer, Fleiß.

B. Persönlichkeit.

1. Psychische Struktur (fein, empfindlich, derb, niedrig organisiert). 2. Ablauf psychischer Funktionen (anregbar, ansprechend, stumpf, nachhaltig, intensiv, flüchtig, matt). 3. Der äußere Mensch (gehalten, geordnet, nachlässig, unsauber). 4. Benehmen (gesittet, höflich, grobschlächtig). 5. Beziehungen zur Umwelt (offen, zurückhaltend, verschlossen, gut, IkSs- artig; wahr, lügnerisch, prahlerisch, l>eeinflußbar, anstiftend). 6. Haltung (energisch, schlaff, konstant, wechselnd, schwankend, selbstbewußt, kindlich-naiv). 7, Stellungnahme (zum eigenen Schicksal, Kritik und Urteil zu eigenem Handeln und Verfehlungen). 8. Zusammen- hang der Persönlichkeit harmonisch, einseitig, verbildet i.

C. Einfluß des Anstaltsaufenthaltes. 1. Beurteilung der Lage. 2. Vorsätze und Reue. 3. Wiederauftreten alter Fehler, Ansätze oder tatsächliche Besserung. 4. Erfolge des Unterrichts.

D. Körperliche und psychische krankhafte Erscheinungen. E. Ergänzung durch fortlaufende Beobachtung.

Ober die pädagogische Fortbildung der Oberlehrer äußert') sich der Prof. für Philosophie und Pädagogik Dr. Eduard Spranger an der Universität Leipzig in folgenden Ausführungen, die vor allem auch der Bedeutung der Jugendkunde für das höhere Lehramt gerecht werden.

„Wenn von pädagogischer Fortbildung im Lehramte die Rede ist, so könnte dies leicht als ein Iv did övoTv erscheinen. Denn wie ■will man erziehen und unterrichten, ohne sich pädagogisch fortzubilden? Hier aber ist jene Vertiefung gemeint, die nicht nur auf dem Ausprobieren und der jahrelangen Selbstkorrektur beruht, sondern auf zusammenhängendem Nachdenken, ja Forschen und Lesen. Kurz : eine tb'/jt] , nicht eine efiTrsigia im Sinne des Platonischen Gorgias sollte die Kunst der Menschenbildung sein. Es bleibt in ihr etwas Unlernbares, durchaus Geniahsches. Aber mit einer unzulänglichen Analogie: auch die Musik vollendet sich erst durch Mu8ik\^^ssenschaf t , jede Kunst erst im Hindurchgehen durch ästhetische Reflexion.

Damit ist ausgesprochen, daß die Lektüre der zahlreichen didaktischen Ratgeber, ja auch der Aphorismen vom pädagogischen Lebenswege nicht genügt. Vielmehr sollte das pädagogische Tun in seinem ganzen Zusammen- hange zur Besinnung erhoben werden, ein Zusammenhang, der auf der einen Seite in die Welt der Kultiirgüter und Kulturgebiete, auf der andern in die Welt der Jugend und des werdenden Lebens hineinreicht. In erster Linie muß der Erzieher sich klar sein, was er soll imd was er will: das Nachdenken über die Bildungsziele der Gegenwart, ihren Kampf, ihren Ursprung, ihr Recht gehört für ihn nicht zum Fakultativen, sondern das ist, wenn er keine andere haben sollte, seine Philosophie und als solche obli- gatorisch. Diese Richtung des Denkens aber führt in der Regel erst dann zu wirklichem Ertrag, wenn der betreffende im Amte selbst drinsteht und an den Kräften der Wirklichkeit die Probe auf seine Ideale machen kann. Nicht ein Jota soll von der Strenge der fachwissenschaftlichen Ausbildimg des Lehrers fortgenommen werden. Aber so wenig man aus Wissenschaft

') Vergl. Dr. Ed. Spranger. Kultur und Erziehung. Gesammelte 'pädagogische Aufsätze. Leipzig 1919. QueUe & Meyer. S. 103 ff,

Zeitschrift f. pädagog. Psjcliologie. 13

194 Kleine Beiträge und Mitteilungen

allein das Leben oder gar die Kultur aufbauen könnte, so wenig darf der Lehrer glauben, wenn er nur die Wissenschaft habe, werde ihm alles andre von selbst zufallen. Diese Selbsttäuschung pflegt auch nur bei Universitäts- professoren vorzukommen, die von der Schule nur so viel sehen, als an ihr Wissenschaft ist.

Aber es kommt für den Pädagogen nicht nur darauf an, was er lehrt, sondern auch wen er lehrt. Jugendkunde muß er besitzen, sei es als an- geborenes Genie, sei es als erworbene Kenntnis. Je' weniger sie ihm zum starren System oder ziu- statistischen Massenbehandlung wird, um so besser wird sie ihm zur Durchleuchtung seines lebendigen Schaffens dienen, das an sich eine ursprüngUche Gabe und Richtung des Geistes ist. Der bildende Künstler studiert Anatomie: die Lenker der Seele müssen sich um die Ana- tomie und Biologie der Seele kümmern. Es ist eine auffallende und nicht genug zu beklagende Tatsache, daß die Beiträge, die bisher die höheren Lehrer zur Kinder- und Jugendpsychologie geliefert haben, verschwindend gering an Zahl und fast noch geringer an Bedeutung sind. Was wir auf diesem Gebiet besitzen, stammt aus der Arbeit der Volksschul- und Seminar- lehrer. Die Folge ist, daß unsere bisherige Literatur in der Regel mit dem 14. Jahre Schluß macht. Nicht ein einziges Buch über das so ent- scheidend wichtige Pubertätsalter gibt es in deutscher Sprache. Seit der Adolescentia des Wimpfeling scheint diese Forschungsrichtung ausgestorben, obwohl doch seit 100 Jahren ein eigner Stand existiert, dem die seelische Pflege dieses Lebensalters geradezu ausschließUch anvertraut war. Die Fortbildungsschule, so jung sie ist, hat in kurzer Zeit schon viel beachtens- wertere psychologische Forschungen nach dieser Richtung veranlaßt. Auf diese Lücke in der Fortarbeit der höheren Lehrer weise ich mit dem größten Ernst hin, weil sich an dieser Stelle ein Mangel des ganzen bisherigen Systems zeigt, über den man nicht ausführlicher reden könnte, ohne eine Anklage zu schreiben. Das Vertrauen in die Zukunft aber ist um so be- rechtigter, als sich die Jugend inzwischen selbst geholfen hat. Die Jugend- bewegung ist der Versuch des unverstandenen Pubertätsalters, sich selbst zu verstehen. Die künftigen Lehrer, die durch diese Bewegung in ihren gesunden und geläuterten Formen hindurchgegangen sind, werden auf Grund eigner Erfahrung füi' diese Seite ihrer Aufgaben nicht mehr blind sein. Es wird dann auch nicht mehr als geringwertige wissenschaftliche Leistung gelten, wenn sich ein größerer Kreis der Erforschung der jugendlichen Seele, der Anthropologie der Jugend überhaupt zuwendet.

Demgegenüber sind die andern Zweige der pädagogischen Fortbildung weniger dringend. Schulgeschichtliche Forschung hat schon immer als eine Ehrensache der Lehrer gegolten. Freilich muß man auch von dieser Literatur- gattung sagen, daß sie größtenteils das Vertrauen in die Werte einer Wissen- schaft der Pädagogik wenig gefördert hat. Mit dem Auffinden und Ab- drucken von Schulordnungen ist es nicht getan; auch nicht mit der chro- nistischen Treue der Erzählung, wie alles gewesen ist (denn mit dieser falschen Betonung scheinen manche hier das Rankesche Wort gelesen zu haben). Viehnehr kommt es auch hier darauf an, daß eine Frage der Ant- wort vorausgeht und daß in dieser Frage die Bezüge zur allgemeinen Geistes- geschichte, das Bewußtsein für das Typische und das Abstechende, der Sinn für das Lebendige und Wirksame im Kostüm alter Zeiten enthalten

Kleine Beiträge und Mitteilungen 195

sei. Wünschenswert ist es ferner, daß auch die historischen Zweige gepflegt werden, die an den Universitäten heute noch wenig zur Geltung kommen, nämhch die Geschichte der Universitäten selbst, die Geschichte der Wissen- schaften, die Biographik großer Forscher und Lehrer. Geschichte der Schul- verfassung kann heute erst geschrieben werden, nachdem wir eine allgemeine Verfassungsgeschichte besitzen, in die die Schule nur eingeordnet zu werden braucht.

Dieses letzte Gebiet sollte auch in systematischer Hinsicht gepflegt werden: als Schulvervs'altungslehre und Theorie der Schulorganisation. Die Zu- sammenhänge der Schule mit dem Staat, der Gesellschaft und der Wissen- schaft stehen heute sachlich so im Vordergrunde, daß sich auch die Theorie stärker mit ihnen beschäftigen muß.

So wäre denn der ganze Umkreis der pädagogischen Wissenschaft zu kennzeichnen als historische und systematische Behandlung der Bildungsziele, der Bildsamkeit (pädagogischen Psychologie), der Menschenbildner und des Bildungswesens. Wem aber sollte die Pflege dieser umfassenden Bildungs- wissenschaft sonst zufallen als denen, die in einem vielausgesprocheneren Sinne als die Universitätsprofessoren Träger des nationalen Bildungs- gedankens sind, also den höheren Lehrern? Freihch wird für diese große Arbeit so lange die Anregung und der Mittelpunkt fehlen, als es an den preußischen Universitäten keine Ordinariate für Pädagogik gibt. Und doch besteht ein doppeltes praktisches Bedürfnis nach Männern solcher Interessen- richtung: Die Lehrer an den Volksschulseminaren empfinden selbst, wie sehr wir in unsrer wissenschaftlichen Pädagogik allenthalben noch zurück sind. Und geeignet ausgebildet^ Leiter der zweijährigen praktischen Vorbereitungs- zeit für höhere Lehramtskandidaten fehlen bis heute, wie man wohl zugeben wird, so gut wie ganz.

Leitsätze zur Arbeitsschule veröff enthebt der Deutsche Verein für Knabenhandarbeit und Werkunterricht in seinem Organ „Die Arbeits- schule", Heft 1 des Jahrganges 1919. Der Verein findet seine langjährigen Bestrebungen von der Gunst der Zeit getragen und ruft seine Mitglieder auf, die alten Bestrebungen im Angesichte der ungeheuerlichen Kulturwende zu überprüfen. Erforderlich erscheint ihm die Untersuchung der Fragen: Welches ist heute der sicher erkennbare Stand der Arbeitsschulbewegung? Mit welchen Plänen und Forderungen anderer Strömungen steht sie im Einklang? Welche Richthnien für die weitere Durchbildung und Durchführung des Arbeits- schulgedankens ergeben sich aus der neuen Lage?

Die Grundlage für die weiteren Vereinsbesprechungen und -bestrebungen sollen nun die folgenden Sätze geben:

A. Grundsätzliche Anschauungen.

I. Der Verein erstrebt die Verwirklichung und den Ausbau der Arbeitsso-bule. Er ver- steht darunter eine Schulform, in der die Eigentätigkeit des Schülers das Kennzeichen des gesamten Bildungsvorganges ist und in der damit auf die Erziehung zu persönlicher Selbständigkeit abgezielt wird.

II. Unter ihrem Leitgedanken „Durch Selbsttätigkeit zur Selbständigkeit* -will die Arbeitsschule die ganze werdende Persönlichkeit in allen Anlage* und Kräften ihrer Eigen- wesenheit (Individualität) entfalten, in den leiblichen Anlagen nicht minder als in den seelischen, in den lebendigen Kräften des Gemüts und Willens nicht weniger als in denen des Verstandes. Vordringlich ist dabei die Pflege einer echten Arbeitsgesinnung, eines

13»

196 Kleine Beiträge und Mitteilungen

starken Arbeitswillens und einer sicheren Arbeitstechnik, gestützt durch frische Freude am eigenen Tun und an jeglicher tüchtigen Leistung. Als besonders wertvoll wird die Erziehung zu „praktischer Anstelligkeit" betont. Allem voran steht aber die lebenstüchtige Charakter- bildung.

HI. Beherrschen soll die Eigentätigkeit als der Grundsatz der Arbeitsschule das gesamt« deutsche Bildungswesen: auf allen Unterrichtsstufen und in allen Schulformen, vom Kindergarten bis hinauf zu den Hochschulen. Ein in besonderem Maße bedeutungsvolles Wirkungsfeld sind die mannigfachen Formen der Jugendpflege und Jugendfürsorge.

IV. Der Verein erstrebt, die Entwicklung der Arbeitsschule in innigster Fühlung zu halten mit den großen Fragen der Kultur und der Bewegung der Gesamtpädagogik, besonders auch mit den Fortschritten der Erziehungswissenschaft. Von anderen pädagogischen Bestrebungen nimmt er Gleichsinniges vornehmlich aus der Kunsterziehung und der staats- bürgerlichen Bildung auf.

Er unterstützt das schulpolitische Programm der deutschen Lehrerschaft in den Forderungen, von denen eine günstige Beeinflussung der Arbeitsschulbestrebungen zu erhoffen ist

B. Abgeleitete Bestrebungen.

Von der umgestaltenden Wirkung des Grundsatzes der Eigentätigkeit muß die Schule er- griffen werden im Gesamtbereiche ihres äußeren und inneren Lebens, all ihrer Einrichtungen und Veranstaltungen. Wichtigere Einzelforderungen leiten sich insbesondere her für das Unterrichtsverfahren, den Lehrplan, das Gemeinschaftsleben.

I. Forderungen für das Unterrichtsverfahren.

Es ist zu verlangen,

1. daß sich im allgemeinen der Zwang und Druck der Lehrerarbeit im Unterricht mildert zu- gunsten einer selbständigeren geistigen Bewegung des Schülers und der Klasse;

2. daß die schulmäßigen Verfahren des Lernens angenähert werden an die Lebensformen des freien Bildungserwerbes;

3. daß tunlichst das Lehren und Lernen von sinnlicher Erfassung, von Beobachtung und Untersuchung ausgehe und hinführe zu gestaltendem Ausdruck und vielseitiger handelnder Anwendung ;

4. daß sich auf den geistigen Gebieten der Unterricht, wo immer nur möglich und wertvoll, durchsetzt mit handlichem Tun am dinglichen Gegenstande;

.5. daß die Bildungsgebiete, denen bislang als Gruppe der Fertigkeiten und Künste nicht die volle Würdigung wurde, künftig soweit als nur möglich geist-, gemüts- und willens- getragene Arbeitsvorgänge ausprägen, daß sie den Körper zum dienstwilligen Organ des Geistes schulen und daß hier im schaffenden Darstellen der künstlerische Zug der gesamten Schulbildung abgipfelt, n. Forderungen für den Lehrplan.

1. Das Ausmaß an verbindlichem Wissen ist durch Ausscheidung weniger bildenden Stoffes so zu bemessen, daß der arbeitende Erwerb und die freitätige Durchdringung und An- wendung nicht durch Mangel an Zeit und Kraft behindert ist.

2. Bei der Auswahl des Stoffes hat mitzusprechen, wie ergiebig er wertvolle Eigentätigkeit zuläßt.

3. Die Anordnung in den Lehrgängen muß neben den sachlich-systematischen Grundsätzen auch nach arbeitstechnischen und psychologischen Rücksichten erfolgen; sie hat femer zu sorgen, daß im Gesamtbilde des Lehrplanes die Fächer einander sich nicht bloß stofflich sondern auch arbeit lieh wechselseitig fördern (Prinzip der formalen Konzentration).

4. Die wirksame Eingliederung des werktätigen Schaffens in den gesamten Unterricht als Prinzip verlangt, daß in Form eines eigenen , technischen" Lehrganges der Werkunterricht (die Handfertigkeit) als Fach betrieben wird.

in. Forderungen für das Gemeinschaftsleben.

Nach dem Grundsatze der Eigentätigkeit muß in der Schule, die ein Gemeinschaftsleben unter geregelter Ordnung, unter Verwaltung, unter Spiel und Feier, unter Arbeit und persön- lichem Verkehr zu organisieren hat, der älteren Schülerschaft eine begrenzte freiere Mit- wirkung zugestanden werden. Wie weit amerikanische Vorbilder für die anders geartete deutsche Schulkultur anzuerkennen und nachzuahmen sind und wie weit die Einrichtungen und Erfahrungen der Freien Schulgemeinden, die unter wesensverschiedenen soziologischen Be- dingungen stehen, auf öffentliche Schulkörper sich als übertragbar erweisen, bedarf gewissen- haftester Erwägung und Erprobung.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 197

C. Notwendige Vorbedingungen. Zur Verwirklichung des Arbeitsschulgedankens ist erforderlich,

1. daß für die Ausbildung und Fortbildung der Lehrerschaft solche Bildungsstätten geschaffen und unterhalten werden, in denen für die Aufgal>en der Arbeitspädagogik das berufliche Rüstzeug erworben werden kann und in denen insbesondere die in Deutschland noch vernachlässigte Schulung in der Handbetätigung einen Boden hat (Reform der Lehrer- seminare, Ausbau der Lehrerseminare für Handfertigkeit in Leipzig, Berlin a, a. a. 0.);

2. daß sich eine freiheitliche Schulverfassung entwickelt, die dem Lehrer die Freiheit und Selbst Verantwortlichkeit seines unterrichtlichen Schaffens gewährleistet und die auch den Vertretern der kulturellen Lebensgebiete, vor allem der wirtschaftlichen Arbeit, wie auch der Elternschaft einen mitwirkenden Einfluß gestattet;

3. daß nach dem Stande der wissenschaftlichen Jugendkunde alle Mittel zur Erkenntnis des kindlichen Eigenlebens und der Eigenwesenheit des Schülers für die Schule nutzbar ge- macht werden;

4. daß den Schulen von den Behörden und Pflegschaften eine äußere Einrichtung und Ausstattung zu geben ist, die sie zu geistigen .Werkstätten der Bildung" erbeben, und daß allen Schülern die erforderlichen Lern- und Arbeitsmittel unentgeltlich ge- reicht werden.

Das Arbeitsprogramm des Deutschen Ausschusses für KleinkinderfOr- sorge wird im nachstehenden Entwurf veröffentlicht:

1. Als ein Teil der Bestrebungen für den Wiederaufbau deutscher Volks- kraft ist die gesamte Kleinkinderfürsorge nach volkswirtschaftlichen, volks- gesundheitlichen und volkserzieherischen Gesichtspunkten auszubauen. Nur durch eine planmäßige Arbeitsgemeinschaft von Staat, Gemeinde und freier Liebestätigkeit ist dieses Ziel zu erreichen. Die Famihe bleibt dabei der natürliche Träger der Pflege und Erziehung des Kleinkindes. Alle übrigen Einrichtungen sind nur Hilfseinrichtungen für die Familie.

2. Ziu- Besserung der Aufwuchsverhältnisse von Kleinkindern sind volks- wirtschaftliche Maßnahmen zur Hebung der Lage der minderbemittelten und der diu-ch den Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Volksschichten unerläßUch. Insbesondere bedarf es einer zielbewußten Begünstigung von Famihen mit mehreren Kindern in Form von Erziehungsbeihilfen, von Wohnungsfürsorge sov^ie von anderen geeigneten Mitteln.

3. Zur Verhütung und Beseitigung von Schädigungen des Kleinkindes sind zu fordern: a) vom Standpimkte der Volksgesundheitspflege: Aufklänmg über zweckmäßige Ernährung und Pflege des Kleinkindes, Hebung seiner Widerstandsfähigkeit, wirksame Bekämpfung der Entstehungsursachen, der Krankheitserscheinungen und der Folgen der Tuberkulose, der lympha- tischen Konstitution, der Rachitis, der Erbsyphihs sowie der ansteckenden Kinderkrankheiten im Kleinkindesalter; b) vom Standpunkte der Volks- erziehung: Versorgung der aufsichtsbedürftigen, schwer erziehbaren oder nicht vollsinnigen Kleinkinder sowie Rücksichtnahme auf die Eigenart der Kleinkinder innerhalb der öffentlichen Jugendfürsorge (W^aisen, Armenkinder, FürsorgezögUnge und Kostkinder),

4. Form, üreachen und Folgen von Krankheiten und Erziehungsschäden im Kleinkindesalter, soweit sie als Massenerscheinungen auftreten, sind in ihren wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhängen zu erforschen, und es sind entsprechende Mittel der Abhilfe zu erproben. Unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen städtischen imd ländhchen Verhältnissen ist hierbei besonderes Augenmerk der Frage zu widmen, inwieweit die Familie

198 Kleine Beiträge und Mitteilungen

als der natürliche Träger der Pflege und Erziehung der Kleinkinder gestützt und ergänzt werden muß.

5. An Hilfseinrichtungen auf dem Gebiete der Volksgesundheitspflege sind erforderlich: a) Fürsorge- und Beratimgsstellen für Kleinkinder im engen Zusammenhange mit der Säuglingsfürsorge; b) fachlich in der Kleinkinder- fürsorge geschulte Fürsorgerinnen unter ärztUcher Leitung; c) Ausbau von Kinderkrankenhäusern und Kinderheilstätten; d) Bereitstellung von Erholungs- heimen und Tageserholungsstätten für Kleinkinder; e) Ausgestaltung der Fa- milienversicherung von Krankenkassen.

6. An Hilfseinrichtungen auf dem Gebiete der Volkserziehung sind erfor- derlich: a) Tagesheime (Krippen, Kindergärten, Kinderschulen usw.) für aufsichtsbedürftige Kinder in ausreichender Zahl und in einer Form, die berechtigten Mindestanforderungen an Bau, Einrichtungen und Betrieb ent- spricht; b) fachlich geschultes Erziehungspersonal; c) Veranstaltungen zur Einwirkung auf die häusliche Erziehung und Pflege des Kleinkindes; d) Son- derkindergärten oder Sonderkinderheime für schwererziehbare, geistig minder- befähigte oder nicht vollsinnige Kleinkinder.

7. Um in Stadt und Land von Staat, Gemeinden und freier Liebestätigkeit getragenen Bestrebungen der Kleinkinderfürsorge die Sicherheit einer Allge- meinwirkung zu geben, ist anzustreben: a) die Zusammenfassung der öffent- lichen Fürsorge in Jugendämtern und Jugendausschüssen für Stadt- und Landkreise oder ähnliche Verwaltungsbezirke und im Zusammenhange damit Förderung der freien Liebestätigkeit; b) die Schaffung von Zweckverbänden für Wohlfahrtspflege unter Anlehnung an Stadt- und Landkreise oder ähn- liche Verwaltungsbezüke ; c) die stärkere Nutzbarmachung der Hilfsmittel der Sozialversicherung; d) die Gewährung geldlicher Beihilfen an leistungs- schwache Gemeindeverbände aus Mitteln des Reiches, der Bundesstaaten oder der Provinzen.

Die Errichtung einer Ausbildungsstätte für heilpädagogische Lehrberufe

ist in Wien erfolgt. Der Lehrplan dieses „Heilpädagogiums" verzeichnet nachstehende Gegenstände: 1. Halbjahr: Einführung in die Heilpädagogik. Über Pathologie der Sinnesorgane. Methodik. 2. Halbjahr: Geschichte, Kongreßberichte, neue Lehrmittel, Einführung in die Literatur. Anatomie, Psychopathologie. Methodik. 3. Halbjahr: Über Entwicklung der Sprache, Behandlung von Sprachgebrechenr Psychiatrie für Heilpädagogen. 4. Halb- jahr: Behandlung schwierigster Fälle aus dem Taubstummen-, Blinden- und Schwachsinnigenwesen. Methodik. Prakt. Auftritte in der Taubstummen-, Blinden- und Schwachsinnigenschule und -Vorschule. Es ist ferner ein durch alle vier Halbjahre sich erstreckender Kurs über experimentelle Päda- gogik (Vortragender Dr. W. Kammel, Leiter des pädagogisch-psychologi- schen Laboratoriums an der n.-ö. Landeslehrerakademie in Wien) vorgesehen ; außerdem findet eine Reihe ergänzender Einzelvorträge statt.

Zur Heranbildung von Leitern für Stotterklassen und von Lehrern für Absehunterricht bei Schwerhörigen und Ertaubten ist im vergangenen Jahre im Kanton Zürich ein Lehrinstitut begründet worden. An den vorgesehenen Kursen kann jeder Lehrer teilnehmen, der sich in diesem Gebiete vervoll- kommnen will. Zur Behandlung kommen die verschiedenen Alten von

Kleine Beiträge und Mitteilungen 199

Stummheit, das Stottern, Poltern, die verschiedenen Arten des Stammeins, besonders Näseln, Lispeln, Agi'ammatismus und die psychogenen Sprach- störungen, unter den Stimmstörungen die bei Schülern so häufigen Formen von chronischer Heiserkeit, dann die Störungen der Sprech- und Singstimme während der Pubertät und die nervöse Stimmschwäche. Alle diese Stimm- und Sprachfehler kommen fast häufiger im Kindesalter als bei Erwachsenen zur Beobachtimg. Besonders oft zeigen sie sich bei den Insassen der Klassen für Schwachbegabte und Schwerhörige, dann aber auch in allen Volksschulen und zwar bis in die höchsten Schulklassen. Das neue Institut will eine Lücke in den gemeinnützigen Anstalten zum Wohle vieler Schulkinder ausfüllen und will die gewinnsüchtige Ausbeutung solcher Patienten durch herumziehende Sprachheilkünstler verhindern.

Das pädagogisch-psychologische Laboratorium an der niederösterreichischen Landeslehrerakademie Wien legt den Bericht über sein 5, Arbeitsjahr vor. Er wird erstattet vom Leiter Prof. Dr. W. Kammel. Trotz der Schwierigkeiten, die der Krieg auftürmte, konnte der rege Betrieb in vollem Umfange aufrechterhalten werden. Es wurde wie in den Vorjahren eine größere Anzahl von Untersuchungen aus dem Gebiete der empirischen Pädagogik ausgeführt, und es konnten für Lehrer und Lehrerinnen, Uni- versitätshörer und Kandidaten der Lehrerbildungsanstalten wie auch für andere an der Erziehungswissenschaft interessierte Kreise weiterführende Bildungsveranstaltungen geboffen werden. Behörden und Schulen haben dem Institute viel Unterstützung und Anerkennung gegeben.

Nachrichten. 1. Dr. Max Brahn, der das psychologische Institut des Leipziger Lehrerv-ereins seit der Gründung im Jahre 1906 leitete, hat sein Amt niedergelegt. Mit seiner glänzenden Rednergabe, seiner pädagogischen Begabung und seinem vielseitigen Wissen hat er dem Institut in uneigen- nützigster Weise große Dienste geleistet, das Interesse an der experimentellen Psychologie und Pädagogik in weitere Kreise getragen und die wissenschaft- liche Forschung auf diesen Gebieten durch Förderung der Einzelarbeiten im Institut vorwärtsgebracht. Acht stattliche Bände der Institutsveröffent- lichungen sind mit seinem Namen als Herausgeber gezeichnet. Zum Nach- folger Dr. Brahns ist der durch seine wissenschafthchen Arbeiten bekannte Lehrer Rudolf Schulze, der Gründer des Instituts, gewählt worden.

2. Professor Dr. Wilhelm Peters in Würzburg ist auf den neuerrichteten Lehrstuhl für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Mannheimer Handelshochschule berufen worden.

3. Prof. Dr. A. Fischer in München \\ird dem an ihn ergangenen Ruf an die Universität Basel nicht folgen.

4. An der Freibiu-ger Universität ist der nichtetatmäßige a. o. Prof. Dr. Jonas Cohn zum etatmäßigen a. o. Professor für Pädagogik und Phi- losophie ernannt worden.

5. In den wissenschaftlichen Vorlesungen des Berliner Lehrer- vereins im Sommer 1919 (90. Halbjahr) finden sich die folgenden philo- sophischen, psychologischen und pädagogischen Vorlesungen: Dr. A. Liebert, Geschichtsphilosophie; A. Bogen, Zur Organisation der geistigen Arbeit; Dr. Buchenau, Einführung in die Theorie und Praxis der Sozialpädagogik,

200 Literaturboricht

dazu Übungen und Referate im psychologisch-pädagogischen Seminare; Rektor Seinig, Untersuchung für die Erzielung bewußten Denkens in der Volksschule, mit Lehrproben. Rektor H. Rebhuhn: Einführung in die exakte Pädagogik (Fortsetzung der Vorlesungen im Winterhalbjahr: Auf- merksamkeit, Übung, Ermüdung; Anleitung zu Beobachtungen und einfachen Versuchen für die Feststellung der seelischen Eigenart der Schüler und der Ursachen für Fehlleistungen als Grundlage fiu* erzieherische Maßnahmen; neuere Untersuchungen über Anschauungsunterricht, Lesen, Schreiben, Recht- schreibung, Rechnen, Zeichnen).

Literaturbericht.

Johannes Hessen, Die Begründung der Erkenntnis nach dem hl. Augustinus. Münster i. W. Aschendorf f 1916. (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, herausgegeben von Cl. Bäumker. Bd. XIX, Heft 2.) Es handelt sich hier um eine philosophiegeschichtliche Untersuchung; nur am Schlüsse wird versucht, die Augustinische Theorie der Erkenntnis zur Philo- sophie der Gegenwart kurz in Beziehung zu setzen. Dabei zeigt sich Verwandt- schaft zum kritischen Realismus, sofern auch dieser eine Metaphysik für möglich hält und in manchen Vertretern geneigt ist, die Harmonie von Denken und Sein auf ein sie ermöglichendes und verbürgendes göttliches Wesen zurückzu- führen. Ferner berührt sich Eucken mit Augustinus in der Überzeugung, „daß die allgemeingültige Wahrheit ihren letzten Grund in einem absoluten Geistes- leben hat".

Gießen. August Messer.

Dr. Bruno Bauch, Prof. an der Universität Jena, Imanuel Kant, Berlin- Leipzig 1917. Göschen. 475 S., geb. 12 M. .

Der Literaturbericht dieser Zeitschrift kann das philosophische Schrifttum nur so weit eingehender würdigen, als es deutliche Beziehungen zur Erziehungs- wissenschaft unterhält. Auch für ein so bedeutendes Werk wie das vorliegende bleibt ihm nur die Pflicht der Anzeige. Innerhalb der Fülle von Kantschriften aus den letzten Jahrzehnten hat das Buch seinen Platz neben Kuno Fischers Gesamtdarstellung, seit deren Erscheinen aber die Kenntnis der Kant'schen Philo- sophie und ihrer erhöhten Bedeutung für unser Geistesleben doch so wesentlich erweitert worden ist, daß ihr mit Recht ein neuer Versuch, das Ganze der Lehre Kants in einheitlichem Bilde breiter und streng wissenschaftlich zu erfassen, zur Seite gestellt werden durfte. An kürzer gefaßten Schriften, die in Kants Lehre weitere Kreise einführen wollen, ist ja kein Mangel; Bruno Bauch selbst hat vor seinem großen Werke im gleichen Verlage eine solche Darstellung erscheinen lassen, Tr.

Hegels Philosophie. Für die deutsche Bibliothek herÄusgegeben von Karl Paul Hasse. Deutsche Bibliothek in Berlin. 232 S.

Das schmuck ausgestattete Bändchen vereinigt unter einer Reihe philosophischer und kulturwissenschaftlicher Schlagwörter kürzere Auszüge aus Hegels Schriften, vor allem seiner Ästhetik, die so heißt es im Vorwort dem sllgemeinen Verständnis am nächsten liege und zu Unrecht verkannt imd vergessen sei. Um ein dieser Zeitschrift näherliegendes Beispiel herauszugreifen, sei angeführt, daß der Abschnitt „Die Erziehung zur Bildung" einige Stellen aus den Gymnasialreden aneinanderfügt. Die Abfolge der Gedankengruppen folgt im allgemeinen dem großen Zuge des Hegeischen Systems. Eine Einleitung des Herausgebers versucht, in die Gedankenwelt des „unausdenkbaren Schwaben" einzuführen, ist aber nur dem philosophisch Geschulten verständlich. Doch will das Bändchen gerade gedacht sein als' eine Gabe an einen größeren Leserkreis. Tr.

Literaturbericht 201

Dr. B.Maydorn, Zeitfragen der Gegen-Äart in Fichtes Reden an die de utscheNation^ Theod. Weicher, Leipzig 1917. 70 S. geb. 1,30 M.

Die Gegenwart bietet mit der Zeit Ficlites sehr viele Berührangspunkte , anderseits haben Fichtes Auffassungen vom Staat und vom Deutschen eine von der Zeit abhängige Bedeutimg und sind in einer solchen Sprache niedergelegt, um auch heute noch zur Stärkung vaterländischer Begeisterung zu dienen und zum Leben in der Idee anzuregen. M. benutzt neben den , Reden'' auch noch die „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" und den ,gesclilossenen Handelsstaat"' Auch die Fragen der Aimexion, der Abrüstung, des Schiedsgerichts, des ewigen Friedens finden; eine Beleuchtung vom Fichteschen Geiste aus.

Bonn. O skar Ku tzner.

Dr. med. H. Krauser, ObermedizLnalrat, Krankheit und Charakter. Wand- lungen der Persönlichkeit in gesunden und kranken Tagen. Stuttgart 1916. Strecker & Schröder. 213 S. 4,40 M. Immer die Beziehungen zwischen körperlichem und geistigem Leben auf- zeigend, verfolgt das Buch eingangs die Entwickelung der Persönlichkeit. Es werden dann Krankheiten behandelt, die sich dem Ausreifen und dem Wirken des sittlichen Charakters hemmend entgegenstellen. Den Schluß bilden Winke und Ratschläge zur Abwehr, worunter sich u. a. auch pädagogische Ausführungen über Fürsorgeerziehung, sexuelle Aufklärung, Strafen u. a. finden. Tr.

Paul Hildebrandt, Vom Seelenleben unserer Schüler. Ein Beitrag zur Schulgeschichte- 1914—1918. Mitteldeutsche Verlagsanstalt G. m. b. H., Mügeln. 0. J. 56 S. 1,50 M.

Der bekannte pädagogische Mitarbeiter der Voss. Ztg. gibt hier einen sehr dankenswerten dokumentarischen Bericht über die seelischen Einwirkungen des Krieges auf das deutsche Schul— und Schülerleben. Der Titel ist vielleicht etwas irreführend; denn der Nachdruck liegt nicht sowohl anf dem Seelenleben der Schüler selbst, sondern auf der Schilderung der Bedingungen, imter denen die Schwankungen des Seelenlebens standen. Am Anfang ein beispielloser Auf- schwung \ind eine Begeisterung von höchster Spannung, am Ende das Buch ist im August 1918 abgeschlossen ein wenig erfreuliches Bild: Abgestumpftheit und Gleichgültigkeit, starkes Nachlassen des Lerneifers und des Pflichtbewusstseins, Verringerung der Büdungshöhe, Verwahr-^ losimg und Zunahme der Kriminalität. Und dazwischen die vielen Einwirkungen des Kriegs aut das Schulleben: die Notprüfungen mit herabgesetzten Ansprüchen, die Erntehilfe und die Kohlen- ferien, die Beteiligung der Schüler an Sammlungen aller Art, die militärischen Jugendübungen ,^ die Erschütterung der häuslichen Verhältnisse, die verringerte körperliche und geistige Wider- standskraft infolge des Ernährungselends all dies wird knapp, aber in treffender Hervorhebung, des Wesentlichen und mit vielen amtlichen und anderen Belegen geschildert.

Das Buch erscheint erst, nachdem die in ihm geschilderte Epoche einen jähen Abschluß gefunden hat; von den wieder ganz neuen Seelenwirkungen, welche die Revolution auf die Jugend ausübt, berichtet es uns nicht. So ist es wirklich, wie es sieh im Untertitel nennt, ein Stück Schulgeschichte, freilich eine solche der neuesten Zeit

Hamburg. William Stern.

Dr. med. Stadelmann, Die Bedeutung des Kindheitserlebnisses für die Aus- gestaltung der Lebensführung. Dresden 1917. Huhle. 19 S. M. 0,65.

Das Schriftchen legt in gemeinverständlicher Weise dar, wie Eindrücke der Kindheit in der seelischen Verfassung des Erwachsenen oft mit entscheidender Kraft nachwirken. Es ist vor allem die Erscheinung der Verdrängung einer der fruchtbarsten Begriffe der Psychoanalyse ,, den Stadelmann erläutert und mit Beispielen belegt. Freilich bezieht sich Stadelmann nicht aus- drücklich auf die psychoanalytische Forschung und hält sich glücklicherweise von all ihren ge- fährlichen Einseitigkeiten und €T)ertreibungen fern, besonders dort, wo er die Bedeutung sexueller Kindheitserlebnisse berührt (S. 10). Ein pädagogischer Gnmdgedanke Stadelmanns ist es, daß die übliche ,,Verbotserziehung'" gefahrvoll sei : sie wirke lähmend auf das Kind, zerschlage sein Eigenes imd führe schwere Willensmängel im späteren Leben herbei. Wie solche Folgen schäd- licher Kindheitserlebnisse nachträglich zu beheben seien, wird von Stadelmann nicht behandelt ; vielleicht, daß er hier gegen« manches fragwüixlige Gebaren psychoanalytischer Praxis Stellung hätte nehmen können. Wohl aber versäumt er nicht die Frage, wie hemmende Einflüsse in der Kindheit zu vermeiden und wie fördernde Erlebnisse einzubauen seien. „Jeder Erzieher'' so* seine Grundlehre „muß danach trachten, daß Hemmungen beim Ablauf des kindlichen Seelen—

^02 Literaturbericht

''lebens zu Stauungen führen." (S. 17.) Dies aber erfordert eine gründliche Kenntnis des kind- lichen Eigenlebens. Stadelmann hat als Nervenarzt wiederholt in pädagogischen Fragen das Wort ergriffen. Seine neue Schrift ist eine seiner besten Äußerungen nach den Ansprüchen, die sie an wissenschaftliche Schulung stellt, wohl weniger für den fachmännischen Pädagogen als vielmehr für die Elternschaft bestimmt. Man wird ihn hier hoffentlich nicht dahin miß- verstehen, daß eine pädagogische Pflege, die alle Tyrannei der „Verbotserziehung" aufhebt, etwa jeden Zwang und jegliche straffe Zucht meiden soll.

Leipzig. Otto Scheibner.

Charlotte Bühler, Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 17. Beiheft d. Z. f. angew. Psych. Leipzig 1918. Barth. 82 S. 4 M. Das erdenweit verbreitete Märchen bildet die Anfangsstufe der erzählenden Dichtung. In seiner ursprünglichen Form sucht es hauptsächlich die Erscheinungen der Natur und die Er- fahrungen der Menschen aus der Phantasie zu erklären, wobei Wunder und Zauber die größte Rolle spielen. Im Bereiche des europäischen Kulturkreises ist das Märchen vorwiegend Literatur des Kindes geworden, und unser Märchenschatz ist mehr und mehr dem kindlichen Geiste an- gepaßt worden. Die Beziehungen nun, welche zwischen dem Märchen und der Phantasie des Kindes bestehen, untersucht Charlotte Bühler in ihrer Monographie, wobei sie von den Grimm- schen Märchen ausgeht. In diesen, wie in fast allen Kindermärchen, spielen die Kinder selbst

die Hauptrolle und zwar sind es, soweit die Verhältnisse beschrieben werden, Kinder aus sehr armem oder aber aus königlichem Hause. Zum Teil erklärt sich das wohl daraus, daß manche Märchen aus einer Zeit stammen, in der das Bürgertum noch keine hervorragende Rolle spielte. Wichtiger aber dafür, daß man jene Verhältnisse so treu bewahrt hat, ist wohl der Umstand, daß gerade sie der Phantasie und dem Gefühl einen besonderen Reiz boten. Das Kind hat Ver- gnügen am Anblick von Glanz imd Pracht, und das Kind ist mitleidig. Beide sehr charak- teristische Züge finden in jenen Verhältnissen am besten Befriedigung. Von großer Bedeutung sind unter den Märchengestalten die Tiere und personifizierte Gegenstände, sowie die Fabel- wesen: Zwerge, Riesen, Hexen. Neben diesen handelnden Personen treten im Märchen nur noch bestimmte Typen zur Staffage auf. Die Charaktere sind einfach, ein Wesenszug füllt sie hin- reichend aus ; sie sind meist als Extreme aufgefaßt und stehen in gegensätzlicher Beziehung zu

'einander, um die Eigenschaften der Personen am wirksamsten hervorzuholen, so wie es den kindlichen Fähigkeiten am besten entspricht. Die Abstraktionsfähigkeit des Kindes ist gering, und damit verbietet sich die Einführung komplexer Charaktere. Die Personen sind keine Indi- vidualitäten, sondern Typen. Die Moral des Märchens ist einfache und gesunde Volksmoral mit starken Instinkten, starken Sympathien und Antipathien; dem Tiermärchen fehlt die morali- sierende Tendenz ganz. Tiergestalten und Fabelwesen werden in die Märchen eingeführt, weil sie das Kind erfreuen, lustbetontes Empfinden hervorrufen. Die Vermenschlich ung von Tieren und Gegenständen ist vor allem ein Zeichen der Dlusionsfähigkeit des Kindes. Unerfahrenheit mit der Natur wie Bühler meint ist nicht der tiefere Grund hiervon. Die bewußte Selbst- täuschung des Kindes ist darauf zurückzuführen, daß sich das Denken des Kindes in Analogie- bildungen bewegt. Das ist auch für die vielfachen Übertragungen, wie Merkmalübertragung, All- beseelung usw. verantwortlich, mögen diese nun in denkendem Phantasieren oder in praktischer Betätigung sich letzten Ausdruck verschaffen. Die kombinatorische Phantasie ist dagegen beim Kinde erst schwach entwickelt.

Für das Milieu des Märchens stellt Bühler folgenden Satz auf: eine ausdrückliche Be- schreibung findet nur dann statt, wenn ein plötzlicher Übergang in eine neue Umgebung ein- getreten ist; die zu Beginn gegebene Situation, das gegebene Milieu, wird gewöhnlich nicht beschrieben. Von dieser Regel gibt es nur wenige Ausnahmen. Damit im Einklang steht, daß im Märchen trotz des Nebeneinanderauftretens von Königen und Bettlern jede soziale und kulturelle Distanz glattweg aufgehoben ist. Bühler sagt: Diese Verhältnisse wird man zunächst jedenfalls historisch zu würdigen haben; sie werden ihren Entstehungsgrund in den Wünschen und geheimen Träumen des niederen Volkes finden, bei dem das Märchen zu Hause war. Aber wie den Wünschen des Volkes, so entspricht all das zweifellos der inexplizierten Erwartung, mit der das Kind dem Leben als etwas Wunderbarem und Freudigem entgegenträumt. Das Kind ist gläubig und optimistisch; auch ist es zum Frohsinn veranlagt, wenn nicht Kummer es frühzeitig stört. Es glaubt an alle die glücklichen ZufäUe, mit denen das Märchen arbeitet, ja es rechnet auf sie. Auch fehlt dem Kind noch das Wissen hm die mannigfaltigen Unter- schiede der Bildung, Geburt und Veranlagung, welche die Menschen meist als unüberbrückbare Kluft voneinander trennen. Das Märchen entspricht hier, wie in vielem, gerade dem Erfahrungs- ikreis und dem Wissen des Kindes.

Litoraturbericht 203

Die Handlung des Märchens ist dadurch ausgezeichnet, daß das bewußte Streben nach einem "Ziel mangelt. Wo es sich in Einzelakten tatsächlich um zielstrebiges Denken handelt, wird nicht dieses selbst, sondern nur sein Ergebnis berichtet. Die Handlung erschöpft sich in einer Reihe merkwürdiger und spannender Ereignisse, Taten und Abenteuer. Auf sie allein kommt es wirklich an. Die Ereignisse sind nicht innerlich verkettet; es besteht keine andere Ver- knüpfung der Handlimgen als das Nacheiiiander der Zeitfolge. Die Wundertaten, und vor allem die Verwandlungen, nehmen einen breiten Raum ein. Der erwartungsvolle Geist des Kindes verlangt, daß etwas besonderes geschehen soll, das den Rahmen des Alltags sprengt, das einem Traume gleicht und die nach Stoff suchende, umherschweifende Phantasie, wie das unbeschäftigte Denkvermögen, anzuregen und zu fesseln geeignet ist. Wir begegnen beim Volk wie beim Kinde ■einer unkonzentrierten, unbeschäftigten und ungeschulteu geistigen Anlage, einem Keim geistigen Lebens, der Entfaltung in irgendeiner ihm unbekannten Richtung sucht. Es fehlt ihm die Ziel- strebigkeit des gebildeten Geistes, und irgendeine unklare Expansion verdichtet sich ihm zu Hoffnungen, Wünschen, Erwartungen eines Geschehens, das die Befriedigung des unverstandenen Bedürfnisses bringen soll.

Die Wunderhandlung oder das außergewöhnliche Zufallsereignis sind die Anregungen, die den Geist des Kindes beschäftigen und erheben können. Die immerwährende Wiederkehr von Wundem im Märchen ist darauf zurückzuführen, daß der rasche, vom Wunsch dirigierte Vor- stellungswechsel an sich für das Kind eine Quelle der Lust ist. Sehr zutreffend schreibt Bühl er: So sicher das Wunder im Mittelpxmkt der echten Märchenhandlung steht, gelangen wir mit ihm an die wichtigsten Beziehungspunkte des Märchens zu der Phantasie des Kindes: in einem von Wünschen dirigierten, durch den Affekt des Außergewöhnlichen bestimmten und durch keine Verstandeskritik gehemmten Vorstellungsspiel sucht die kindliche Phantasie ihre regste Entfaltung. Sie mag hier in etwas der Traumphantasie nahekommen, die wiederum um- gekehrt vielleicht die Vorbilder für die Wundergescbichten geliefert hat. Nächst den Wunder- märchen sind die häufigsten die, welche von Taten und Abenteuern des Helden oder der Heldin berichten, die ebenfalls in der Regel außergewöhnlich sind und dadurch die kindliche Phantasie anregen. Erwachsenen kommen solche Handlungen phantastisch vor, das Kind findet sie natür- lich. Es nimmt auch daran keinen Anstoß, daß die Märchenhandlungen meist nur durch den Affekt motiviert sind und der intellektuellen Begründung entbehren, denn es tut selbst im Spiel vieles grund- und zwecklos, weil es ohne Überlegung Instinkt- und affektmäßig handelt. Das Märchen ist typische Anschauungsliteratur. Alles was man an Mitteln äußerer Wahrnehmung hat, wird aufgeboten. Durch plötzliche Veränderungen, Verwandlung, Verkleidung usw. sowie Proportionsverschiebungen, die auf das Erfassen von Unterschieden verschiedenster Art gerichtet sind, wird der Vorstellungsmechanismus geübt. Ein begleitendes Moment, das die anschauliche Tätigkeit des Kindes überall charakterisiert, ist ein lebhafter Gefühlston, der auf das Schauen gelegt wird. Schon das Schauen selbst ist für das Kind eine Lust. So ist der Gefühlston, der sich auf das einzelne Bild heftet, schon an sich intensiv akzentuiert: außerdem werden offen- bar gefühlsbetonte Bilder den sachlichen und ruhigen vorgezogen.

Der Intellekt tritt in den Märchen handlungen zurück : er wird nur der Komik dienstbar gemacht für das Motiv der Überlistung und der Torenstreiche; selbst wo so etwas wie Scharf- sinn verlangt und hervorgehoben wird, liegt eigentlich eine vollständige Verkennung der Ver- standesleistung vor.

Die Schrift Ch. Bühlers, aus der hier einige Gedankengänge hervorgehoben wurden, bietet reichlich Anregung zu weiteren Untersuchungen ül)er die Beziehungen zwischen der kindlichen Psyche und der Kinderliteratur, als welche vornehmlich die Volksmärchen in Betracht kommen.

München. Hans Fehlinger.

F. Queisser, Aus meiner Sammelmappe psychologischer Unterrichtsversuche. Leipzig 1919. Schulwissenschaftlicher Verlag A. Haase. 16 S. 1,00 M.

Unter Verwendung zahlreicher zweckdienender Abbildungen beschreibt Queißer eine kleine Reihe selbstgefundener einfacher Versuche. Sie betreffen die dreidimensionale Auffassung flächenhafler Darstellungen (zum Teil umkehrlwre optische Täuschungen), die relativen Bewegungs- erscheinungen auf rotierenden Scheiben, eine besondere Form positiver Nachbilder, den simul- tanen Kontrast, die Akkomodation des Auges, die erschwerte Betätigung von Muskeln in un- gewohnter Stellung. Es handelt sich also um Versuche, die überwiegend in physiologische Zu- sammenhänge führen. Wir haben die Queisserschen Versuche durchgeprüft und für die Ein- gliederung in den seelenkundlichen Unterricht als brauchbar gefunden. Es darf aber, besonders im Lehrerseminare, das sinnesphysiologische Experiment nicht auf Kosten des „rein psycholo- gischen' Versuchs, der sich heute im Gebiete der höheren seelischen Leistungen reichlich und

204 Literaturbericht

in gut technisierter Form anbietet, zu weit ausgedehnt werden. Dafür mag der naturwissen- schaftliche Unterricht mit seinen sinnesphysiologiscben Einschlägen dem Fache „Psychologie"^ wirksam vorarbeiten.

Leipzig. Otto Scheibner.

Uve Jens Kruse, Lebenskunst, Ein Wegweiser in die neue Zeit. Buchenbach in Baden 1918. Felsenverlag. 117 S. 4,50 M. Die .Lebenskunst* Kruses gibt vornehmlich praktische Anweisungen zur Schulung des Willens. Als Beispiele der behandelten Themen seien genannt: ,Die Kunst des Befehlens" „Selbsterziehung zu Mut und-Geistesgegenw^arf »Wie man Entschlüsse faßt" „Bemeiste- rung der Affekte". In viel gute Lebens- und Erziehungsweisheit fließt in den empfohlenen Maßnahmen auch einiges Gekünstelte und Überbetonte ein. Die peinliche Erfüllung aller der angeratenen Selbstbeobachtungen und Selbstüberwachungen und Selbstbeeinflussungen wird nur zu leicht die Natürlichkeit des persönlichen Wesens schädigen können. Im ganzen aber ist das Buch eine Fundgrube guter Willensregeln. Ich gestehe gern, Kruse mancherlei zu danken, wenn nicht im Sinne des Verfassers für eine Eigenerziehung, so doch für meine Erzieherarbeit an der Jugend. Vielleicht wird noch manch anderem, der mit mir der Meinung ist, daß die Schule gröblich die Willenspflege zugunsten einseitiger Verstandesbildung vernachlässigt, und der gleich- falls nach Wegen zu neuem Schulerziehungsgeiste sucht, die Schrift einige Förderungen bringen. Ich empfehle übrigens das Buch auch dem Fachpsychologen. Zwar wird Kruse kaum in der wissenschaftlichen Psychologie zu Hause sein, wenigstens weicht er geflissentlich der Fachsprache aus. Aber mit feinem psychologischen Instinkte, offenbar an strenger Selbstbeobachtung ent- wickelt, versteht er, seelische Sachverhalte scharf zu erfassen, abzugrenzen, herauszuheben und treffsicher zu bezeichnen. Einige seiner Formulierungen könnten recht wohl in die wissenschaft- liche Psychologie herüber genommen werden. Jedenfalls aber kann der Fachmann aus Kruses Schrift hier und da Anregungen zu neuer Fragestellung gewinnen.

Leipzig. Otto Scheibner.

Friedrich Schulz, Wollen und Vollbringen. Eine Anleitung zur Lebensführung. Stutt- gart o. J. Strecker & Schröder. 83 S, 1,50 M.

Ein Lebensbüchlein, das jungen Leuten die Wege zu einer Selbsterziehimg des Willens weisen will. Ohne in flaches Moralisieren zu verfallen, leitet es u. a. an, die Gefühle zu meistern, die Gedanken zu ordnen, mit Freuden zu arbeiten, dem Nächsten zu dienen, in Ge- duld zu leiden. Die Ratschläge, die es zur Hinführung auf solche sittliche Tüchtigkeit erteilt, sind in religiösem Grund verankert. Es ist diese kleine Willensschule alles andere als ein wissenschaftlich begründetes Buch, vermag aber für die Psychologie und Ethik doch den und jenen Hinweis zu geben und auch für den Moralunterricht in der Schule einige Handreichungen zu tun. Seh.

Nikolaus Faßbinder, Konrektor, Das Glück des Kindes. Erziehungslehre füi- Mütter und solche, die es werden wollen. Freiburg 1918. Herdersche Verlagshandlung. 242 S. kart. 4 M.

In dem beifällig aufgenommenen Buche „Am Wege des Kindes" hatte Faßbinder ver- sucht, auf dem Wege der Erzählung dei} alten Gedanken einer Mütterbelehnmg zu verwirklichen. Seine neue Schrift bringt eine mehr systematische Darstellung der Hauserziehung, Sie behandelt die Pflege, das Seelenleben und die Tugendfühi'ung des Kindes. Kennzeichnend für die Be- handlung ist die stete Verdeutlichung am anschaulichen Beispiel. Angestrebt findet sich durchweg leichte Verständhchkeit und Vermeidung alles gelehrten Beiwerkes. Ein zu vordringlicher Zug des Erziehungsgeistes, der die anregend abgefaßten Kapitel durchwaltet, ist das Streng-religiöse. Damit verbindet sich eine gewisse Enge imd überpeinliche Ängstlichkeit in den empfohlenen Maßnahmen zur sittlichen Erziehung des Kindes (vgl, z.B. die Hinweise auf den Umgang mit dem anderen Geschlechte, S. 186). Aber auch wer den ausgeprägten Anschauungen einer katho- lischen Hauspädagogik nicht beipflichten kann und der werdenden Persönlichkeit für ihre natür- liche Entfaltung weit mehr Freiheit zugestehen muß, als es Faßbinder den Eltern ans Herz legt,. wird sein etwas brav-altmodisches Buch, geschrieben aus offenbar reichen Erfahrungen und guter Erziehergesinnung, mit Nutzen lesen. Es erfreut zudem durch eine fließende Darstellung.

Leipzig. Otto Scheibner.

H. E. Schomburg, Der Wandervogel, seine Freunde und Gegner. Wolfenbüttel 1917. Jul. Zwißler. 112 S. 1,80 M.

Die aufkommende neue Zeit mit ihrem ungestümen Drängen nach „Verjüngung" richtet die Aufmerksamkeit fester auch auf den Wandervogel, der über den Krieg sehr vielen seiner Freunde

Literaturbericht 205

und Gegner und vor allem den Gleichgültigen aus dem Blick geschw-unden war. Denn die Ge- danken und Sehnsuchten, die im Treiben der Wandenögel nach Erfüllung suchten, gewinnen heute allgemeinere Geltung. Wer das Gären in der Jugend verstehen will, Verständnis ge-winnen möchte für die Tatsachen eines jugendlichen Eigenlebens, wird aus dem Kreis seines Studiums den Wandervogel nicht ausschließen dürfen. Die Schrift Schomburgs sei für solche Orientierung empfohlen: von ihr aus sind dann die Wege zu gründlicherer Vertiefung in das Tatsächliche und Problematische leicht zu ge-winnen. Ich selbst verdanke ihr bei guter Kenntnis einzelner Erscheinungen und bei eigenem Durchdenken der wichtigsten Fragen einen Überblick über die gegenwärtige Lage und die Aufhellung einiger wesentlichen Zusammenhänge.

Schomburg gibt zunächst einen Abriß der kurzen Geschichte des Wandervogels, seiner äußeren und inneren Entwicklung. Als die Periode des Ausreifens kennzeichnet er als besonders wichtig die Jahre von 1907 1913. Er versucht, den Gewinn dieser Zeit klar herauszuarbeiten, und findet ihn in folgenden Tatsachen: Das Verständnis für das Volkslied ist Allgemeingut der Wander- vögel geworden; sie schufen sich in den Bundes- und Gaublättem ein eigenes Schrifttum; es gelang, für ein rechtes Wandern die angemessenen Formen zu entwickeln; bedeutsam wird das Aufkommen des Mädchenwandems ; über die Wanderungen hinaus beginnen die Gruppen, ihren Geist im Landheim und Stadtnest zu pflegen; die Lebensauffassung wird vertieft und für alle Lebensgebiete auf festere Formen gebracht. Sehr gründlich setzt sich Schomburg dann mit Hans Blüher und Gustav Wyneken auseinander. Seine Ausführungen wirken hier, besonders gegen Blüher, dem aus Wander^-ogelkreisen bislang nicht entgegnet worden ist, in sehr wichtigen Punkten klärend. In dem Abschnitte ,Haus, Schule und Kirche" findet sich Schomburg u. E. zu leicht mit den Spannungen ab, die sich zwischen diesen festgefügten Lebensgebieten und den Ansprüchen der Wander%'ögel natnmotwendig ergel)en. Die beiden letzten Teile sind schließ- lich dem Versuche gewidmet, die anderen Richtungen der Jugendbewegung besonders die Bestrebungen der Freideutschen in ihren Beziehungen zu den Wandervögeln grundsätzlich und geschichtlich darzustellen.

Der Verfasser stellt sich als Pastor vor, der wandernd, verwaltend und leitend am Wander- vogel teilgenommen hat und in dem bis zur Zeit er nähert sich den Fünfzig die Be- geisterung früherer Jahre nicht erloschen ist. Man wird nach Vorlegung dieser ,, Berechtigungen" sich gern von ihm aufklären und belehren lassen. Zur Kennzeichnung seiner Art zu urteilen, sei eine Stelle angeführt, die sich gegen Blühers Schulanklagen wendet und bei den überheblichen Forderungen unserer gegenwärtigen Schülorbewegung besonders angebracht ist (S. 40): .Selb- ständiges Denken und Handeln vollzieht sich nicht nur im Wege der Loslösung vom Über- kommenen, sondern im Wege der bewußten und unbewußten Aneignung alten Gutes. Je älter ich geworden bin, umso mehr habe ich gelernt, die Wurzeln dessen, was ich mir als inneren Besitz erarbeitet hal)e, außerhalb meiner Seele zu suchen. Mich erfüllt mit jedem Jahre mehr die Dankbarkeit gegenüber denen, die mir die Furchen vorgezogen haben."

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

Dr. Georg Grunwald, Professor an der Akademie zu Braunsberg. Philosophische Päda- gogik. Paderborn 1917. Schönmgh. 374 S. 8,50 M.

Wer nach dem Sprachgebrauche, der sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat. unter philosophischer Pädagogik eine Erziehungswissenschaft versteht, die ihre Lehren deduktiv aus Werthaltungen und Zielsetzungen herleitet und die sich in Gegenstellung zur psychologischen Pädagogik weiß, deren Vertreter weniger „von der Kultur her" als vornehmlich „vom Kinde aus" die Gesetze und Regeln der erziehlichen Kunst entwickelt, wird in dem Buche Grunwalds weniger und mehr finden, als er nach dem Titel erwartete. Denn der Verfasser bietet das Ganze einer BUdungslehre in systematischer Darstellung, in der die beiden Strömungen, die wegen ihres Unterschiedes in wichtigsten Grundanschaunngen eigene Benennungen erhalten haben, miteinander vereinigt sind. Grunwald ist mit uns der Meinung, daß die wissenschaftliche Pädagogik weder allein durch Deduktionen noch einzig durch Tatsachenforschung ihre Erkennt- nisse gewinnt. Dat>ei läßt er insbesondere auch der experimentellen Richtung ihr volles Recht, weist aber, worin wir ihm zustimmen, üt)ertrieb'?ne Ansprüche von einigen ihrer Vertreter wir denken an Lay entschieden zurück. Übrigens vertritt er auch den neueren Richtungen eines „verstehenden* Erziehens und Unterrichtens entgegenkommend die Anschauung, daß in der Pädagogik wie in anderen Geisteswissenschaften neben Erfahrung und Denken auch die Intuition nicht entbehrt werden könne.

Die Gliederung, die Grunwald dem pädagogischen Lehrgebiet gibt, befremdet in einigen Stücken. Eine Einleitung bringt die üblichen Erörterungen über Quellen und Methoden, Ober Wert, Einteilung und Geschichte der Pädagogik, Als erster Teil tritt dann die pädagogische

206 Literaturbericht

Wertlehre auf. In ihr finden sich seltsamerweise eingeordnet die allgemeinsten Grundsätze der .Vermittlung" der pädagogischen Werte und noch überraschender die ^differentielle Psycho- logie". In solcher Unterordnung verliert die Psychologie abgesehen davon, daß sie höchst unzulänglich im Ausmaß und Inhalt dargestellt ist die ihr vorher grundsätzlich zugestandene Bedeutung für die pädagogische Erkenntnisgewinnung. Der Ziel- und Wertlehre hat im päda- gogischen System als eine umfassende, unter eigenen Gesichtspunkten gegliederte pädagogische Psychologie selbständig gegenüberzustehen. Der zweite TeU nennt sich „Didaktik" und be- greift in sich wieder in ungerechtfertigter Abweichung von herkömmlicher Begriffsbildung „die planmäßige Vermittlung des Wahren". Es bleiben dann als III. and IV. Teil die Eunst- und die Moral- und Religionspädagogik. Die leibliche Erziehung ist ausgeschlossen.

Uns inhaltlich mit den von Grunwald vertretenen Anschauungen auseinander zu setzen, ver- bietet die große Zahl der Fragen, in denen wir von ihm abweichen, nicht bloß in den Gebieten, in denen der katholische Standpunkt des Verfassers offener erkenntlich ist. Es sei aber an- erkannt, daß es bei dem ernsten wissenschaftlichen Zuge des Buches und bei seinem Bemühen, in alte pädagogische Überlieferungen die Erkenntnisse ans neuerer Zeit einzuschmelzen, recht wohl lohnt, das Werk in kritischer Haltung zu studieren.

Leipzig. Otto Scheibner.

Johannes Meyer, Erziehung und Leben. Ausgewählte Abschnitte aus den Werken von Wilhelm Rein. Mit einem Bildnis Reins. Leipzig, Reclam. 189 S. 1,10 M.

Aus dem reichen literarischen Werke Wilhelm Reins, des nunmehr Siebzigjährigen, bringt dieses Reclambändchen kleine Proben der „Jenaer Pädagogik". Die Auslese ist so getroffen, daß die Reihe der hier und da aufgegriffenen Abschnitte eine einigermaßen abgerimdete Gesamtan- sicht bietet von der Ausprägung, die Herbarts pädagogische Grundanschauungen durch Rein er- fahren haben. Sehr bezeichnend ist. daß die Psychologie nur mit einem dürftigen Abschnitt von knapp 5 Seiten bedacht ist.

Stollberg. Paul Ficker.

Dr. Oskar Prochnow, Wissen oder Können? Gedanken eines Schulmannes über die Auf- gabe der höheren Schulen im neuen Deutschland. Leipzig 1919. Nemnich. 24 S. 1,60 M. Eine Anklageschrift gegen das alte Gymnasium. Es wird der Vorwurf erhoben, daß die vordringliche Pflege der alten Sprachen die Entwicklung lebendiger Kräfte im Schüler und die Pflege eines zeitgemäßen Wissens hindere. An dem Beispiele der Mathematik und Physik und einiger Unterrichtsangelegenheiten (Zensuren und Lehrbücher) wird zu verdeutlichen gesucht, wie eine lebensnahe Bildung im Sinne der Arbeitsschule zu erstreben sei. Die Schrift, deren Verfasser das Gymnasium aus eigener Lehrtätigkeit kennt, ist nicht frei von Übertreibungen und Einseitigkeiten und fußt in den Anschauungen über die formale Bildung zum Teil auf psychologisch nicht haltbaren Voraussetzungen. Den Gedanken der Arbeitsschule hat sie gut erfaßt. Seh.

Dr. Richard Jahnke, Provinzialschulrat in Münster L W., Werden und Wirken. Gedanken über Geist und Aufgaben des Lehramts. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. Geheftet 3,60 M.. Gebunden 4,60 M. 197 S.

Diese 27 Essays über den Geist und die Aufgaben des Lehramts sind eine ausgezeichnete Berufsphilosophie des Lehrers und Erziehers. Sie unterscheiden sich von zahlreichen ähnlichen, Veröffentlichungen durch die eindringende Besinnung über die alltäglichen Fregen des Schul- lebens. Diese selbst sind nicht neu, aber es gelingt der her^'o^ragenden Dialektik des Verfassers^ seiner 40jährigen Amtserfahrung und nicht zuletzt seiner abgeklärten, von Vorurteilen freien Lebensweisheit, die bisweilen mit lächelndem Humor in die heimlichsten Falten des Menschen- herzens hineinschaut, das Problem der Schule als Lebensgemeinschaft (der Eintritt ins Amt Kollegialität Klassenzucht Verärgerung Gerechtigkeit Schülerrechte), als Bildungs- stätte (Wissenschaft und Schule Methode Vertiefung Wissen und Können) und als In- stitution des öffentlichen Lebens (der Verkehr mit den Eltern die Öffentlichkeit und wir) in durchaus neuer Beleuchtung und Deutung aufzuzeigen und sowohl den Sinn und Wert wie auch die Grenze und Bedingtheit der Erziehungs- und Unterrichtsarbeit aufs neue zu umgrenzen. In der Durchdringung der Schulprobleme mit einer warmherzigen und weltoffenen Lebensphilosophie beruht das Anziehende dieser scharf zugespitzten Aufsätze, die in erster Linie für den Anfänger im Lehramt bestimmt sind. Sie werden vielleicht manches seiner Ideale zerstören, al)er sie werden ihm auch Trost zusprechen, indem sie ihm die Erkenntnis vermitteln, weshalb dieser Verlust notwendig war, und werden ihm eine treffliche Anweisung sein, wie er als Lehrer und. Erzieher das bedenken soll, was er beginnt.

Leipzig. Karl MöckeL .

Literaturbericht 207"

Dr. Georg Jäger, Schulgemeinde und Schülerausschuß. Hamburg 1919. Freideut— scher Jugendverlag Adolf Saal. 24 S. 1,20 M.

Der Verfasser bietet eine kurze klare Einfühnmg in die Bestrebungeq der modernen Jugend- - bewegung in ihrem Verhältnis zur Schule. Im allgemeinen trägt er die bekannten Gedanken G. Wynekens vor mid ist deshalb auch nicht frei von Übertreibungen bei der Charakterisierung des gegenwärtigen Systems der öffentlichen Schulen. Daß die heutige öffentliche Schule sich nicht bewußt wäre, Erziehungsschule sein zu müssen, ist eine ungerechtfertigte Behauptimg.- Ob nun die Einführung der Schulgemeinde im Sinne Wynekens an den Großstadtschulen mög- lich ist und auch wirklich „nur" segensreich wirken wird, wird die Erfahrung zeigen. Aber die auch in dieser Schrift angeführten inneren Gründe nötigen das heutige Schulwesen dazu, den vorgeschlagenen Weg zur Vollerziehung der Jugend in Form der Schulgemeinde zu l)eschreiten. Im besonderem betont der Verfasser noch, daß die sogen. Schülerausschüsse ohne gleichzeitige Errichtung der Schulgemeinde, als deren Organ sie wirken soUen, ohne Wqrzel im SchuUeben sind. Die Lektüre dieser Schrift ist allen Leiirem zu empfehlen.

Leipzig. Fr. Rudolf Lehmann.

Berufswahl und Berufsberatung. Eine Einführung in die Praxis. Von Dr. med. M. Ulrich. Dr. C. Piorkowski, 0. Nenke, G. Wolff, Dr. E. Bernhardt, eingeleitet von Dr. A. Kühne, Geh. Regierungsrat. Berlin 1919. Trowitzsch. 223 S. 6,50 M.

Neben Prof. Dr. Aloys Fischers Buch über „Beruf, Berufswahl und Berufs- beratung als Erziehungsfragen " (Leipzig 1918, Quelle & Meyer) ist die vorliegende Schrift wohl die beste Gesamtdarstellung des bisher sonst nur in Einzelarbeiten behandelten Ge- bietes. Stellt Fischer vorwiegend seinen Gegenstand unter großen Gesichtspunkten dar und arbeitet er die inaerlichen Beziehungen der Berufsberatung zur Ethik, Soziologie, Psychologie und Pädagogik in großen Leitlinien heraus, so will die vorliegende Sammelschrift mehr eine Einführung in die Verwirklichung sein, zu der Fischer in seinem vortrefflichen Werke die Wege gewiesen bat. Beide Bücher wenden sich an einen sehr weiten Kreis: außer den Behörden imd Körperschaften, die sich amtlich mit den Fragen der Berufsberatung zu l)eschäftigen haben, sollte kein Lehrer und Arzt, kein Politiker und kein Führer der verschiedenen Beinitsstände an diesen Schriften vorl)eigehen, die eine für die Zukunft unseres Volkes ganz wesentliche Frage in ihrer Bedeutung, ihren Zusammenhängen und ihrer praktischen Ausgestaltung t)ehandeln.

Die Frage der körperlichen Eignung behandelt Dr. med. Martha Ulrich. Sie konnte dabei fußen auf den gründlichen Untersuchungen, in denen die Mediziner schon länger die leib- lichen Anforderungen und Gefahren der einzelnen Berufe erforscht und auf dieser Grundlage die Gewerbehygiene als Zweig der ärztlichen Wissenschaft ausgebildet haben. Die reichhaltigen Beispielreihen, mit denen sie die allgemeinen Sätze belegen kann (vergl. die Fußnoten S. 11—37), überzeugen von der überraschenden Vollständigkeit dieser wissenschaftlichen Vorarbeit. Ulrich liespricht zunächst die allgemeine Bedeutimg der körperlichen Eignung, geht in kurzen Einzel- betrachtungen die leiblichen Organe nach den Ansprüchen und Gefahren der Berufe durch, widmet eine besondere Darstellung dem weiblichen Organismus und zeigt schließlich ohne die methodischen Verfahren zu besprechen , wie eine ärztliche Berufsberatung nötig und durchführbar ist und besonders in das Tätigkeitsfeld des Schularztes einbezogen werden muß.

Ein vorzüglicher Abschnitt steht unter der Überschrift „Psychische Eignung*. Sein Verfasser ist der Berliner Psychologe Dr. Curt Piorkowski. .\ls Aufgabe der Psychologie bei der Berufswahl und Berufsberatung l>ezeichnet er es, daß sie durch Zergliederung der Berufe auf ihre seelischen Anforderungen hin psychologische Berufsbilder aufzustellen habe und dazu die Methoden ausbilden müsse, mittels deren man praktisch die einzelnen Personen auf die vom Berufe zu fordernden Eigenschaften zu untersuchen vermag. Mit aller Vorsicht versucht nun Piorkowski die höheren Berufe nach ihrer psychologischen Verschiedenheit in Gruppen zu gliedern und gelangt dabei zu subjektiven und objektiven Berufen, femer zu Typen, die sich an der Fähigkeit zur Einfühlung voneinander sondern, schließlich zu Gruppen, bei denen das Gedächtnis oder die Beobachtung und die Handgeschicklichkeit oder die Übung entscheidend wird. Die eingehendere Betrachtung der Methoden, die heute zur Erkennung der Berufseignimg angewendet werden, wird den Femerstehenden überzeugen, wie die angewandte Psychologie mittels sorgfältig ausgearbeiteter Fragebogen, deren einer abgedruckt ist, und mittels vielfach erprobter Experimente recht zuverlässig in einem breiten Gebiete arbeitet und allen Anspruch auf eme gebührende Berücksichtigung erheben darf. Es ist aber von Piorkowski nicht verfehlt worden, auch vor der einseitigen Überschätzung zu warnen.

Eine Ergänzung zu dem Beitrage von Piorkowski gibt Georg Wolff in dem Abschnitte - „Die Mitwirkung der Schule bei der Berufsberatung". Daß die beiden trefflichen^

208 Literaturbericht

^'ragebogen von Hyila und Rebhuhn ebenso wie die Aufstellungen von Weigl in ihm abgedruckt worden sind, wird manchem eine willkommene Darreichung sein. Was Fischer neben der psycho- logischen auch von der ethischen Seite des Berufes und der Berufsberatung tief und geistvoll .ausgeführt hat, findet bei Wolff eine praktische Anwendung.

Otto Nenke hat den Abschnitt über die wirtschaftlichen Gesichtspunkte bearbeitet. Wieder ist es ein Verdienst Fischers, daß er mit allem Nachdruck betont hat, es dürfe die Soziologie der Berufe (ihre Geltung im öffentlichen Leben, ihre äußeren Möglichkeiten und das Verhältnis von Angebot und Nachfrage) über der neuerdings so starken und gewiß unerläßlichen Wertschätzung der Psychologie nicht auf die Seite gedrängt werden. Zur Erfüllung dieser For- derung liefert Nenke gute Ausführungen mit reichlichen statistischen Belegen über den un- gelernten Arbeiter, über den Lehrling im Handwerk, in der Industrie und im Handelsgewerbe. Auch ein Ausblick auf die mittleren imd höheren Berufe ist angefügt.

Der Schlußabschnitt beschäftigt sich mit der Organisation und Tätigkeit der Be- rufsberatungsstellen. Dr. Ernst Bernhard, Geschäftsführer des Verbandes Märkischer Arbeitsnachweise, berichtet hier vorwiegend über Erfahrungen, ohne aber auf Wünsche u. Vor- schläge und die Herausarbeitung allgemeinerer Zusammenhänge zu verzichten. Er bespricht die Träger der Beratungsstellen, behandelt dann einzelne Organisationsfragen, kommt nochmals auf die Mitwirkung der Schule zu sprechen, zeigt den Lehrstellennachweis in seiner Bedeutung und Handhabung und gibt Vorschläge für den weiteren Ausbau. Die höheren Berufe finden sich nicht berücksichtigt. Auch dieser Beitrag ist mit Anführung von Fragebogen, Schemen usw. -in dankenswerter Weise durchsetzt.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

Ernst Engel, Der Weg der deutschen Schule. Ein Wort zu Deutschlands Zukunft. Langensalza 1917. Greßler. 47 S. 1, M.

Für den von der Zeit geforderten inneren Ausbau der Schule soll nach Engel der Körper- pflege , dem Deutschen , der Geschichte , der Erd- und Gegenwartskunde ein Mehr zukommen. Raum zu gewinnen wäre durch den grundsätzlichen Ausschluß des Französischen aus den höheren Bildungsanstalten, in deren Fprmenkreis Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule er- halten bleiben sollen. Als neues Schulgebilde aber fügt Engel im Aufbau auf sieben Jahre der achtstufigen Volksschule die rein deutsche höhere Schule ein. Er bietet für sie einen über- sichtlichen Lehrplan dar und will ihren Unterrichtsbetrieb auf ein selbständiges Erarbeiten des nationalen Bildungsgutes eingestellt wissen. Man vergleiche hierzu den von Gaudig in seiner Schrift „Deutsches Volk Deutsche Schnle" entwickelten Schulplan.

In der Abschlußklasse seiner deutschen Schule wird von Engel als Aufgabe des Faches ^Deutsch" auch die Gewinnung einer Weltanschauungs-, Lebens- und Seelenkunde am deutschen Schrifttume gefordert. Die von uns gewünschte Eingliederung der Seelenlehre als selbstän- digen Faches mit wissenschaftlicher Einstellung nicht in vulgärpsychologischer Art findet somit in Engels Plan keine Erfüllung.

Leipzig. Otto Scheibner.

Prof. Dr. G. Lorenz, Drei Nationalschul-Entwürfe aus klassischer Zeit. Langen- salza 1917. Beyer & So. 96 S. 1,60 M.

Die historischen Dokumente, die Lorenz auf ihren pädagogischen Ertrag hin untersucht hat, sind : Herders Entwurf einer livländischen Nationalschule in seinem Tagebuche „Meme Reise 1769", Fichtes Plan einer deutschen Nationalschule in seinen „Reden an die deutsche Nation" und Goethes .(Pädagogische Provinz" aus „Wilhelm Meisters Wanderjahre". Die Texte, reichlich mit will- kommenen Erläuterungen versehen und vielfach für bequemeren Gebrauch gekürzt und übersicht- lich gegliedert, finden sich der Abhandlung vorangestellt.

Die vergleichend gehaltene Untersuchung erstreckt sich vornehmlich auf die Erläuterung der Erziehungsgebiete (Verstandes-, Willens-, Gedanken- und Körperbildung) und der Erziehungs- veranstaltungen (Lehrplan, Lehrweise, innere Einrichtung, Verwaltung), wie sie in den zeitbedingten Entwürfen jener Großen, die sich nicht für zu gering erachteten, dem Schulwesen ihr Denken zuzuwenden, als Vorschläge auftreten. Den Abschluß bildet eine Zusammenstellung der Gedanken- gruppen, die wie die Fragen des Erziehungsstaates, der Arbeitsschule, der Kunsterziehung. der Schuleinheit usf. in lebendigen Beziehungen zu den Bildungsfragen unserer Zeit stehen.

Stollberg i. Sa. Paul Ficker.

Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.

Schulorganisatorisches Denken.

Von Hugo Gaudig.

In der Geschichte der deutschen Schule hat es keine Zeit gegeben, in der man den Kultui'wert der Schule so anerkannt hätte \^ie in der Kulturära, die sich jetzt zu entwickeln beginnt. Wo man überhaupt noch kulturell zu denken vermag, erwartet man von der Arbeit der Schule eine Generation, die den neuen Kulturprozeß auszugestalten und zu tragen vermag. Diese Kultuiieistung erwartet man aber nicht von der Schule der Gegenwart, sondern von der Schule, die durch einschneidende Wandlungen ihrer großen Kultur- aufgabe angepaßt ist. Man fordert demgemäß einschneidende Neuorgani- sation auf dem Gebiet der Schule.

In der Zeit des Weltkrieges, in der man noch auf siegreiche Selbstbe- hauptung Deutschlands hoffte, war einer der Ruhmestitel, mit dem wir uns schmückten, die Fähigkeit des deutschen Volkes zur Organisation. Wie mancher andere Ruhmestitel wird auch dieser nach unserem Zusammenbruch der Neuprüfung unterzogen werden müssen. Man wird dabei z. B. auch nicht an dem Wunderbau des deutschen Heeres mit der Kiitik Halt machen; es wird, wie mir scheint, vielen, nicht nur den radikalen Gegnern des ehe- maligen deutschen Heeres fraglich erscheinen, ob nicht die Art der hierarchi- schen Organisation des Heeres, d. h. der Organisation, die zu dem grundtiefen Abstand zwischen Mannschaften und Offizieren führte, ein grundsätzlicher Organisationsfehler in einem Heere war, das unter dem Leitgedanken stand: Das Heer ist das Volk in Waffen. Unzweifelhaft haben wir Deutschen in der Kulturperiode vor dem Kriege eine erstaunliche Organisationskraft auf dem Gebiet des \virtschaftlich-technischen Lebens bewiesen. Dieser Ruhmes- titel liegt über alle Kritik hinaus, und auf dem Glauben an unsere organi- satorischen Kräfte in diesem Gebiet beruht auch unsere stärkste Zukunfts- hoffnung; die Angst vor dieser deutschen Kraft beherrscht unsere Gegner noch vielfach und bringt sie zu Maßnahmen, die sich aus der Furcht erklären, Deutschland könne seine darnieder liegende wirtschaftliche Kraft doch wieder auf organisieren und schneller, als man es dem zu demütigenden Gegner gönnt. Eine Umschau auf den anderen Kulturgebieten uird aber zu einer scharf en Kritik des früher oft so leichthin ausgesprochenen Satzes : „Das deutsche Volk ist das Volk der Organisation" führen. Ja, schon auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Arbeit wird die Kritik einsetzen müssen, wenn man sich von der wirtschaftüch-technischen zur wirtschaftlich-sozialen Seile wendet. Wie langsam vollzogen sich hier die Prozesse, die zur Beseitigung der Kultiu*- widrigkeiten im nationalen Arbeitsleben führen sollten! (Ich gestatte mir, auf den Abschnitt „Sozialpolitik und nationales Einheitsbewußtsein" in meinem 1917 erschienenen Buch „Deutsches Volk deutsche Schule" zu vervs-eisen; besonders auf den Teilabschnitt über die „Unternehmung"). Ungleich un- günstiger noch muß das Urteil über unsere organisatorischen Fähigkeiten

Zeilschrift f. pädagog. Psychologie. 14

210 Hugo Gaudig

lauten, wenn wir die Gebiete der geistigen Kultur in Betracht ziehen: es sei niu- verwiesen auf das politische Parteileben, auf das religiöse Gemeinschafts- leben, vor allem aber auf das Schulleben.

Im folgenden soll das Problem der Organisation des Schullebens von einigen Gesichtspunkten aus beleuchtet werden. Die Voraussetzung für wertvolles organisatorisches Denken über die Schule ist die Erkenntnis, daß alles Denken über die Schule und namentlich alles organisatorische Denken die Erfassung der Schule im Kulturprozeß voraussetzt. Wer die Schule nicht im Zusammen- hange der nationalen, ja, darüber hinaus der allgemeinen menschUchen Kultur- en twicklung zu erfassen versteht, erfüllt die erste Vorbedingung für organi- satorisches Denken nicht. SelbstverständUch muß hierbei die Schule, nach der Gesamtheit ihres Seins und Lebens erfaßt und in Beziehung zu all den Seiten des Kulturprozesses gesetzt werden, die nur irgendwie Wechsel- beziehungen zwischen dem Leben der Schule und dem allgemeinen Kultur- leben erkennen lassen. Daß die deutsche Lehrerschaft die Vorbedingung für organisatorisches Denken gut erfüllt, wird niemand behaupten; soweit ich sehe, leidet unser Denken an schlechter Immanenz: es verläuft meist im Rahmen der Schule selbst, die sich dem Denken zu einer Welt für sich absondert. Für die Lehrer der höheren Lehranstalten trägt daran zunächst vor allem die völlig unzulängliche Organisation des philologischen Studiums auf der Universität die Schuld; erst neuerdings beginnt man als unbedingt notwendig das Hören kulturphilosophischer Vorlesungen zu fordern. Leider nur wieder bloß das Hören von Vorlesungen, statt daß man wirklich kulturphilosophisches Arbeiten fordern sollte. Ohne kulturphilosophische Ein- stellung wird unsere Arbeit dauernd nur einen Teil des Werts und der Würde erlangen, die ihr zustehen und die sie im Ganzen des nationalen Kultur- prozesses erlangen muß; erlangen muß um dieses Prozesses und um ihrer selbst willen. Ein schweres Hemmnis für die Erziehung der akademisch gebildeten Lehrer zu „kulturellem" Denken wird allerdings die Universität nur schwer überwinden können : den Mangel an akademischen Lehrern, die eine wertvolle kulturphilosophische Arbeit zu organisieren vermögen. Denn in dem großen Schuldkonto der i. a. nicht durch organisatorische Kunst und Kraft ausgezeichneten Universität, das ich überschreiben möchte: Mangelnde Lebensbeziehung der akademischen Arbeit zu dem Lebensprozeß der Nation und der Menschheit ist, der stärkste Schuldposten die unzulängliche Betonung der Kulturphilosophie, überhaupt des Kulturdenkens in dem gesamten akade- mischen Arbeitsplan. Wie weit aber die Arbeit im Seminarjahr und im Probe- jahr davon entfernt ist, den Mangel, den die Universität gelassen hat, zu beseitigen, ersehe ich ich muß sagen, mit Schrecken aus dem Büch- lein von Reinhardt.

Auch die Lehrerseminare lassen den Zug ins Kulturphilosophische völhg vermissen. Soll die deutsche Schule sich über sich selbst orientieren, sich selbst eine sichere Kulturstellung geben und ihre Arbeit, ihr Leben und Wesen planmäßig in die allgemeine nationale Kulturarbeit einorganisieren, so muß hier Wandel geschafft werden; sonst ist die Gefahr, daß wir im Fachdenken, jedenfalls im Schuldenken hängen bleiben, daß wir bei unserer Arbeit die unbedingt notwendigen höheren Beziehungs- und Orientierungs- punkte entbehren und die Schukeformen nicht über die Höhenlage der kleinen Maßregeln hinauskommen.

Scliulorganisatorisches Denken 211

Allerdings genügt es natürlich nicht, daß wir Lehrer die Fähigkeit des kulturellen und kulturphilosophischen Denkens gewinnen; \^Tr müssen nach lernen, uns in das Kulturleben der Nation einzuleben und einzufühlen. Ein schweres Hemmnis für dies Einleben und Einfühlen sei gleich hier genannt: die kastenartige Absperrung vom Volksleben durch allzu ausschließlichen standesmäßigen Zusammenschluß.

Von den kulturellen Lebensbeziehungen der Schule ist eine der wichtigsten, allerdings auch der am schwierigsten zu bestimmenden die Lebensbeziehung der Schule zum Staat.*) Die Organisation der Schule und des Schulwesens hängt zum guten Teil von der Grundanschauung ab, die man von dem Ver- hältnis des Staats ziu* Schule und der Schule zum Staate hat.

Man denke sich z. B., wie der Satz „Der Staat ist Herr der Schule" oder der andere „Die Schule ist Staatsanstalt" auf das oi^anisatorische Denken über die Schule einwirken muß. Wie nun, wenn die Schule ihrem Grund- wesen nach weder als „Anstalt" noch als „Staats"anstalt aufgefaßt werden dürfte, und wenn damit alle radikalen Folgerungen hinfielen! Jedenfalls muß für das organisatorische Denken auf Grund solcher oder ähnlicher Formeln eins klar sein, daß sie erst dann von Wert sind, wenn der Begriff „Staat" festgestellt ist. Sehe ich recht, so hat unser politisches Denken und Leben sehr darunter gelitten, daß wir uns zu wenig über Wesen, Leben und Funktionen des Staates klar waren. Um noch ein für die Organisation des Schullebens wichtiges Beispiel zu nennen: Das gemeine Denken lu-teili, wenn „die Trennung von Kirche und Staat" zur Verhandlung steht, daß es sich dabei um eine Zerstörung aller Lebensbeziehungen beider Kulturmächte handle, als ob nicht der Kulturstaat auch nach Lösung der bisherigen Beziehungen das stärkste Interesse hätte, den reügiösen Gemeinschaften Schutz und Pflege angedeihen zu lassen, da er doch der allgemeine Kultur- hüter und Kulturpfleger ist. Jedenfalls tut die Lehrerschaft der Volksschule sehr gut, wenn sie ihren Staatsbegriff jetzt nicht ohne weiteres in der alten Fassung weiter behält und munter daraus schlußfolgert, sondern ihn einer gründhchen Revision unterzieht. Denn so wenig auch zur Zeit klar ist, wie der Staat beschaffen sein wird, der sich in der Zukunft aus den revolutionären Bewegungen herausmodeUiert, jedenfalls wird dieser Staat wesenthch ver- schieden sein von dem Staat, den man in Formeln wie den obigen meinte. Wie z. B., wenn sich eine Auffassung durchsetzte, die den Staat unter dem Gesichtswinkel einer Tätigkeitsform der kulturellen Volksgemeinschaft an- sähe? Man hätte dann das Volk als den allgemeinen Träger des Kultur- prozesses, und die Tätigkeit des Volkes nähme in gewissen Richtungen, auf gs\sissen Gebieten die Form des Staatshandelns an. In wie rege Verbindung mit dem gesamten Kulhu^esen des Volkes träte dann die Staatstätigkeit; wie würde sie frei von der gefährlichen Jenseitigkeit, in der sie früher zu dem allgemeinen Kulturprozeß des nationalen Lebens stand! Hielte man dann noch die Formel fest, daß die Schule Staatsanstalt ist, so würde es jedenfalls leichter sein, beim organisatorischen Denken und Handeln in Sachen der Schule der allgemeinen Kultiu«tellung der Schule gerecht zu werden und nicht in den Bann ausschheßender staatlicher Zwecksetzung zu verfallen. Eigenartig ist es jedenfalls, wenn die Lehrerschaft, soweit sie sich mit der Schule

') H. Gaudig. Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit. 2. Bd., S. 102 f.

14*

212 Hugo Gaudig

in den Dienst des sozialistischen Staats stellen will, den Staatscharakter der Schule einseitig betont, denn soweit ich den Sozialismus verstehe, lehnt er nicht nur den Klassenstaat als solchen ab, sondern das dem Staate eigen- tümliche Zwangshandeln überhaupt, so daß also die nationale Kulturentwick- lung sich je länger, je mehr ohne Zwangseingriffe herrschaftiicher Gewalt ausschließlich aus wirksamen Kulturkräften heraus und unter Organisation von unten her vollzöge. Jedenfalls dürfte es sich nicht empfehlen, wenn man sich auf Denken im Stil des SoziaUsmus einstellen will, den Staats-- Charakter der Volksschule besonders zu betonen und an den« Staat statt an das Volk als den tragenden Untergrund der Volksschule zu denken.

Wieweit man im organisatorischen Denken über die Schule in Deutsch- land noch rückständig ist, läßt sich daran erkennen, daß wir immer noch nicht darüber hinaus sind, die Schule als „Anstalt" aufzufassen.

Diese Auffassung der Schule als Anstalt ist ein Niederschlag der Unlebendig- keit, unter der unser Schuldenken leidet. Sobald sich ein lebendiges Denken durchsetzt, werden wir die Schule als einen Lebenskreis auffassen, der so zu organisieren ist, daß sich in ihm die zur Erziehung notwendigen Lebens- kräfte entwickeln. Erst bei dieser Auffassung läßt sich das Schulleben in das allgemeine Kulturleben als ein integrierender Teil einorganisieren.

Ein weiterer Beweis für die Rückständigkeit unseres organisatorischen Schuldenkens ist die geringe Neigung, die man bei uns bezeigt, das Schul- leben nach seinen verschiedenen „Lebensgebieten" zu erfassen. Statt die verschiedenen Lebensgebiete der Schule scharf gegeneinander abzusondern und dann in der Gesamtanschauung eines lebendigen Ganzen wieder zu vereinigen, begnügt man sich mit einem stumpfen Allgemeinbegriff „Schule". Die Folge solches Denkens ist natürlich die unzulänglich differenzierende und integrierende Organisation. Nach meiner Meinung ist es nötig, die Lebensgebiete der Arbeit, des Spiels, der Feier (die Andacht eingeschlossen), sowie die Lebensgebiete der Gemeinschaft, der Gemeinschaft von Lehrern und Schülern sowie der Gemeinschaft der Schüler untereinander (besonders der Klasse), endlich das Lebensgebiet der Ordnung zu unterscheiden. Jedes dieser Lebensgebiete hat sein Eigenleben und so auch seine eigenartigen Lebensgrundsätze, nach denen es zu organisieren ist; bei der Organisation sind aber die Wechselbeziehungen der einzelnen Lebensgebiete zueinander zu beachten, so daß die Gesamtorganisation einheitlich auf den einheitlichen Erziehungszweck hin möglich ist. So erscheint z. B. die Klasse als ein sozial- ethisches Gebilde, dessen eigenster Zweck die Pflege der Gemeinschafts- gesinnung und des Gemeinschaftshandeln ist, das aber auch der Ertüchtigung zur Arbeit dienen muß.

Schwere Schädigung des Gesaratwerts der Schule bedeutet es, wenn ein organisatorisches Prinzip einseitig wirksam wird. So muß gewiß das Bildungs- leben vor allem als Arbeitslehre organisiert werden; man kann sich aber sehr wohl ein zu stark auf Arbeit organisiertes Bildungsleben denken: denn Bildung wird nicht nur durch Arbeit, sondern auch durch Erleben ge- wonnen, i) Im Kampf um ein neues Leitbild der deutschen Schule hat man den Namen Arbeitsschule geprägt; unzweifelhaft ein nicht unglückUch ge- bildeter Kampf- und Programmname. Heftet sich aber an diesen Namen

*) Vergl. Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit, S. 179 f.

Schulorganisatorisches Denken 21S

irgendwelcher Gedanke, irgendwelches Gefühl einseitiger Betonung der Hand- tätigkeit oder wird bei allgemeiner Fassung des Begriffs Arbeit die Arbeit innerhalb des gesamten Schullebens auf Kosten des Erlebens einseitig betont, so daß die andern Lebensgebiete verkümmern müssen, so wird der Schaden einseitiger Organisation ersichtlich. Unzulänghches Wirksamwerden eines organisatorischen Prinzips würde sich z. B. dann zeigen, wenn im Gebiete des sozialethischen Lebens der Klasse die gemeinsame Arbeit nach ihrer sozialethischen Seite unbeachtet bliebe oder wenn die Arbeit selbst nicht auch als Erlebnis gefaßt würde.

Ein Gebiet, von dessen organisatorischer Gestaltung der Zukunftswert namentlich unserer höheren Schulen sehr wesentUch abhängt, ist die Klasse. Das wird man umso mehr zugestehen, je mehr man ein durchgearbeitetes Leitbild 0 der Klasse besitzt. Aber auch wenn man unter Klasse nicht mehr verstünde als eine Anzahl (ein Aggregat) von Schülern, die zwecks unter- richtlicher Förderung zusammengefaßt werden, auch wenn man also aus- schheßlich die geistige Förderung der einzelnen Schüler immer im Auge hätte, würde die Arbeit in der Klasse weit mehr durchorganisiert werden müssen, als es bisher i. a. geschehen sein dürfte. Eine der stärksten An- klagen gegen die höhere Schule, die nach dem Fachsystem unterrichtend die Bildungsarbeit an ihren Schülern auf eine Mehrheit von Lehrern verteilt, geht darauf hinaus, daß diese Arbeit ohne den durch die Einheit des Schul- lebens der Schüler unbedingt geforderten Einheitszug erfolgt. Man vermißt nicht nur die Einheit der Lehr- und Arbeitspläne, sondern vor allem auch, worauf hier besonders hingewiesen werden soll, die Zusammenfassung der Bildungsarbeit der verschiedenen an denselben Schulen wirkenden „Lehr- kräfte". Im einzelnen tadelt man, daß es an den nötigen Veranstaltungen zur einheithchen Erfassung des geistigen Gesamtlebens der Schüler fehle; noch mehr aber, wie gesagt, daß sich die verschiedenen Lehrkräfte nicht zu einheitlicher Bildungsarbeit an den einzelnen Schülern zusammenschlössen. Verlangt werden muß allerdings, daß jeder in einer Klassenlehrersehaft unterrichtende Lehrer ein Bild der geistigen Gesamtverfassung aller einzelnen Schüler besitzt; ohne das Bild ist eine planmäßige Mitarbeit am Ganzen der Bildung nicht denkbar, nicht einmal eine planmäßige Arbeit in einem ein- zelnen Fach.

Bei der Bildung des Urteils über die Gesamtverfassung des Geistes sind die Einzelbilder, die die Fächer als Ganzes bieten, zueinander in Beziehung zu setzen. Es treten so nebeneinander vor allem die inhaltlich und formell nach der intellektuellen Funktionsweise verwandten Fächer: die Sprachen, die Zweige der Naturwissenschaften. Ebenso sind in Beziehung zueinander zu setzen die geistigen Verfassungen in den Fächern, die in einer gewissen Spannung zueinander stehen (, Geisteswissenschaften"— „Naturwissenschaften"). Besonders aber sind alle Fächer auf die für alle wichtigen allgemeinen Merkmale und Eigenschaften der geistigen Verfassung hin miteinander zu vergleichen (man denke z. B. an das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit, die Willenhaftigkeit). Das so zwischen den Fächern hin und hergehende, ver- gleichende und beziehende Denken ermittelt dann Korrelationen, vor- schlagende Merkmale und Eigenschaften, Gleichai-tiges und Ungleichartiges,

') Vergl. Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit. Bd. I, 133 !g.

214 Hugo Gaudig

in Beziehung zur gesamten Bildungsaufgabe Verhältnismäßiges und Unver- hältnisraäßiges, Abnormes usw. Das Ganze aber, das gewonnen wird, ist kein „Aggregat seelischer Eigenschaften", sondern ein lebendiges Bild der Gesamtbeschaffenheit des Geistes und seiner Struktur in der Anpassung an das allgemeine Bildungsziel der Schule.

Das Ziel der Organisation der erziehlichen Arbeit der verschiedenen Lehr- kräfte an denselben einzelnen Schülern muß also die Verknüpfung der Urteils- bildung der einzelnen Lehrer ^in. Das Organ dieser Verknüpfung wie der gesamten gemeinsamen Arbeit ist zunächst die Klassenlehrerschaft; die äußere Form des Zusammenwirkens ist zunächst die Konferenz. Die Psycho- logie der Konferenzen an unseren deutschen Schulen wird hoffentlich bald der Gegenstand eindringlicher Untersuchung werden. Jedenfalls können die Konferenzen ihr Ziel nicht erreichen, wenn die miteinander Beratenden ihre Urteile „parataktisch" hinstellen und nicht der Wille zu beziehen und zu vergleichen herrscht; vor allem muß die geistige Verfassung der Konferenz erreicht werden, bei der die einzelnen sich gemeinsam in das geistige Ge- samtwesen der Schüler eindenken und einfühlen ; dazu aber ist ein Gemein- schaftsgeist nötig, ein Einswerden der Lehrer der Klasse in der Bezogenheit auf die Schüler. Indes so wichtig die Klassenkonferenz ist, an Wichtig- keit steht ihr nicht nach der Klassenlehrer. In der Organisierung der Tätigkeit des Klassenlehrers sehe ich eine der dringlichsten, aus dem Leben der Schule herausgeborenen Aufgaben der Zukunft. Von der glücklichen Organisation des Klassenlehreramtes hängt zunächst die Vereinheitlichung der Arbeit an den einzelnen Schülern in starkem Maße ab. Gewiß die Klassenkonferenz hat ihr eigenes Recht und muß ihr eigenes Leben haben; sie wird aber ihre Aufgabe ungleich leichter und besser lösen, wenn der Klassenlehrer ihr vorarbeitet, in ihr mit besonderem Recht arbeitet und ihr „nacharbeitet". Lehrerversammlungen von '/2 Dutzend Lehrern werden leicht auch wenn die Beratungen ungleich häufiger sind als bisher an Schwer- beweglichkeit, um nicht zu sagen Schwerfälligkeit leiden. Die Kraft der Initiative wird ihnen vielfach der Klassenlehrer geben müssen; er wird z. B. zunächst der Beobachter seiner Schüler sein, der am intensivsten beobachtet, meist, auch am extensivsten; das letztere wegen der größeren Zahl von Fächern, in denen er unterrichtet. Er wird aber auch in der Rücksprache mit seinen einzelnen Arbeitsgenossen den Beobachtungsstoff, den sie ge- sammelt haben, an sich ziehen, wird die Beobachtungen auf vorläufige Einheitsbilder hin (auf Hypothesen) verknüpfen, wird Fragen und Probleme aufwerfen, Beobachtungsrichtungen empfehlen usw. Unbedingt notwendig ist dabei allerdings, daß dem Klassenlehrer in weit höherem Maße das ins agendi mit seinen Arbeitsgenossen, vor allem das Recht, die Klassenkonferenz nach seinem Gutdünken einzuberufen, beigelegt wird. Ohne eine rechtliche Organisation des Klassenlehreramts kann der wesentliche Fortschritt der inneren Organisation, den ich für die Zukunft unserer höheren Schule for- dere, nicht erreicht werden.

Wir haben bisher die Klasse nur als Zusammenfassung einzelner Schüler verstanden. Brechen wir aber in der deutschen höheren Schule mit der Rückständigkeit, die in der Klasse nur das Aggregat sieht, dringen wir darauf, daß die Klasse sich zu einem sozialen Gebilde feinster Art entwickelt, so tritt die Notwendigkeit unserer organisatorischen Forderungen an die

Schulorganisatorisches Denken 215

Klassenkonferenz und vor allem an den Klassenlehrer noch ungleich schärfer heraus. Wir fordern ein Geistesleben, ein höheres Seelenleben der Klasse als Klasse; im Wir-Be\vTißtsein werden die einzelnen Klassengenossen Träger des Geraeingeistes. Die Klasse muß zimi Selbstbewußtsein, zur Selbstbe- stimmung, zur Stellungnahme sich selbst gegenüber erzogen werden. Vor allem soll die Klasse eine sozialethische Gemeinschaft werden, und ihr sozial- ethisches Wesen soU sich mannigfach auswirken, in der gemeinsamen Arbeit, im gemeinsamen Erleben, so daß sie in vollem, auch in ethischem Sinne Arbeits- und Schicksalsgemeinschaft sein kann. Von hoher Bedeutung für die Gesamtentwicklung unserer Jugend ist das Klassenbewußtsein, in dem sich die einzelnen Klasseugenossen mit der Gesamtheit verbunden wissen und fühlen, dann aber auch die Stellungnahme der einzelnen Schüler zur Klasse und der Klasse zu den einzelnen Schülern. Wahrhaftig eine unent- deckte und unausgebeutete Fülle erzieherischer Kräfte wartet der Auslösung in der Klasse, diesem ursprünglichen Notgebilde, das aber dazu berufen ist, eine Großmacht in der Erziehung der deutschen Jugend zu werden. Die äußere Organisation aber ermögliche zunächst die innere Organisation; in erster Linie durch Sicherung des Rechts der Klassenlehrer. Der Klassen- lehrer muß es ja vor allem sein, der die Klasse in seinem einheitlichen Bewußtsein trägt, der sie denkt, fühlt und will.

Die Schulgemeinde. Ein Begriff, der die Geister gerade in unseren Tagen stark erregt hat. Hier nur wenige Bemerkungen. In der Idee einer Schulgemeinde stellt sich, wie es Wyneken ausdrückt,^) eine aus neuem Gemeinschaftsgefühl geborene neue Schulverfassung dar, „die im Grunde nichts ist als der organisierte Wille der Jugend und ihrer Führer zu ihrer Schule". Die Schulgemeinde ", die W. wegen ihrer Verwandtschaft zu den klöst er- heben Orden die „Ordensversammlung" nennt, ist die gemeinsame Ver- sammlung der Schülerschaft imd der Lehrerschaft. In ihr hat jeder Lehrer und jeder Schüler je eine Stimme, alle gleiches Recht der Rede. Die Schul- gemeinde ist ihm die eigentliche gesetzgebende Versammlung der Schule. Eine bedeutsame organisatorische Idee, wenn sie innerliches Recht und die Möglichkeit äußerer Verwirklichung in sich trüge. Die gesamte Schulge- meinde zu einer Einheit des Wollens, zu einem höheren Subjekt einheitlichen Wollens zusammengefaßt! Wie kümmerlich nimmt sich gegenüber dieser organisatorisch durch ihre Geschlossenheit Achtung gebietenden Einheits- organisation das Einheitliche aus, das an unseren Schulen über dem Hinter- und Nebeneinander, dem Aggregat der Klassen eine einheitUche Schule mit Eigenwesen und Eigenleben vortäuscht. Der einheithche (?) Lehrplan, das einheitlich (?) wirkende Lehrerkollegium, gelegentUche Zusammenkünfte der gesamten Schule bei Spiel und Feier, vielleicht das Zugehörigkeitsbewußtsein zur Schule bei der Mehrzahl der Schüler und weniges andere; weiter ist's nichts, worin die Schule ihre Einheit erweist.

In diese Schule nun mit der ein geschlossenes Anstaltsleben eigener Art voraussetzenden Idee der „Schulgemeinde" einzutreten wäre, logisch gesagt, bedingt in einem Denken nach falscher Analogie, pädagogisch eine Unbe- sonnenheit ersten Grades.

') Der Gedankenkreis der neuen Schulgemeinde (E. Diedericfas, 1919), S. 13.

216 Hugo Gaudig

Doch abgesehen hiervon: Ist wirklich eine Willensgemeinschaft der geschil- derten Art möglich, d. h. eine Gemeinschaft, in der Lehrer- und Schülerwille als gleichwertige Kräfte zur Einheitlichkeit zusammenwirken? Wäre es freihch so, wie man in den Kreisen der „Schulgemeinde" anzunehmen scheint, daß sich in der Jugend dank ihrer Eigenwesenheit Kräfte einer neuen Kulhirphase entfalten könnten, die der jeweiligen Gegenwartskultur überlegen ist, so könnte man sich die Lehrerschaft als das Organ für die Auslösung dieser Kräfte denken und so ein gleichsinniges Zusammenwirken von Schülern und Lehrern auf dem Fuße der Gleichberechtigung denken. Dem aber ist nach dem, was ich in einem Leben der Hingabe an die Eigenkräfte und das Eigenleben der Jugend beobachtet habe, nicht so. Gewiß ist es grundfalsch, die Erziehung als die Eingliederung der Jugend in irgendeine abgeschlossene, also etwa die vorletzte, Kulturphase zu bestimmen derartige Bestimmungen trifft man immer noch einmal bei den gegenwartsscheuen Pädagogen, sodann bei den „zeitlosen" aber selbst ein mit prophetischem Blick und mit mystischer Einfühlungskunst ausgestatteter Mann dürfte durch Einschau in die Jugend die neue Kultur mit ergründen. Gewiß lebt und webt in der Jugend mancherlei, was für die Kultur der Zukunft, die über die Kultur der Gegen- wart empordrängt, ungleich mehr zu beachten ist, als es geschehen ist: brauchbare und unbrauchbare Elemente. Die deutsche Schule, die bisher nicht einmal in der Lage war, die immer feindseligere Stellung der Jugend zu ihr auf ihre tieferen Gründe hin zu verstehen, besitzt noch viel weniger die Fähigkeit, die in der Jugend wirksamen Triebkräfte und Entwicklungsmotive, Wünsche und „Sehnsüchte" einer neuen Kultur zu erspüren. Aber wenn es gilt, die Kulturziele zu bestimmen, auf die hin wir die Jugend erziehen wollen, meinethalb: auf die hin wir uns mit unserer Jugend entwickeln wollen, dann ist doch wohl notwendig, daß „man" sich kulturphilosophisch in die Gegenwartskultur, und zwar auf allen Kulturgebieten, nicht nur etwa dem „des Geistes", eindenkt und einfühlt, die empordringenden Kräfte, die Entwicklungsmotive und -tendenzen, den „Sinn" der Zeit aufspürt, auf ihren Kulturwert hin prüft und (unter Rückschau auf die Vergangenheit), soweit das möghch, zu einem Leitbilde der zukünftigen Kultur zusammenfaßt. „Man"? d.h. alle zum Kulturdenken Fähigen; in Deutschland, soweit ich sehe, eine sehr kleine Zahl. Zur Heranbildung von Selbstdenkern auf dem Gebiete der allgemeinen Kultur fehlen uns die „Einrichtungen" an den Schulen, den Universitäten, in der Presse usw. fast vollständig. Gehört „man" aber nicht zu den Selbstdenkern, so denkt man nach, was Selbst- denker vorgedacht haben. In einem Lehrkörper ist dann das Lehrer- kollegium der Träger des Kulturbildes , auf das die Erziehung abgezweckt werden muß. Damit aber ist das Kollegium aus der Gleiche mit der Schüler- schaft gerückt, imd darum kann auch von einer Gleichordnung von Lehrer- schaft und Schülergemeinschaft nicht die Rede sein. Als Träger der Kulturidee und als Organ für die Durchführung dieser Idee steht die Lehrerschaft der Schülerschaft gegenüber in dem Verhältnis der Überordnung, das die Zu- sammenfassung in einer Schulgemeinde nach Wynekens Anschauung ver- bietet. Wohl ist ein Zusammenwirken der Lehrerschaft und der Schülerschaft im einheitlichen Geiste auf das eine Ziel: Erfüllung des Schulzwecks nötig; v/ohl soll die Schülerschaft das wohlabgemessene Maß der Verantwortung hierbei tragen, jeder einzelne Schüler vor allem das Höchstmaß von Verant-

Schulorganisatorisches Denken 217

wortung für sich, für die Klasse und die gesamte Schule, die Klassen das Höchstmaß der Verantwortung für sich und für die Klassengenossen, sowie das Schulganze, auch soweit das irgend angängig, die Schülerschaft als ein Ganzes die Verantwortung für das Ganze, die Klasse und die einzelnen Schüler, aber der Grundplan der Schulorganisation führt nicht zu dem schönen Ein- heitsgebilde der „Schulgemeinde", sondern zu zweiheitlicher (indes nicht dualistischer) Organisation: hie Schülerschaft, hie Lehrerschaft; zwischen beiden der Abstand, den der Erziehungszweck fordert; beide aber verbunden durch den hohen Zweck, den der Kulturprozeß den werdenden Persönlich- keiten und den Mithelfern der Personwerdung steckt. Der Abstand ist einerseits eine Bedingung für die Entwicklung des Achtungsgefühls, das den Kultiu^ägern gebükrt, anderseits aber auch und das sei besonders nach- drücklich betont eine Sicherung gegen suggestive Beeinflussung des heranwachsenden Geschlechts, das zu seinem Eigen wesen kommen soll, durch Lehrer- „Führer", die bestimmend auf ihre „Gefolgschaften" einv\nrken, durch die , Religion" neuen Stils, die die Zöglinge in einen Ordensgeist bannen w^ürde, statt sie sich aus ihrer Natur heraus zu dem „Ich der Sehnsucht" entwickeln zu lassen, das die Einwirkimg auf eine ideale Kultiu* hin fordert.

Die deutsche Schule ist, das sagten wir bereits, arm an wertvollen orga- nisatorischen Einrichtungen. Umsomehr muß es wnindernehmen , daß man vielerorts, besonders eifrig aber in Sachsen bemüht ist, ein Element der organisatorischen Gestaltung der Schule auszuschalten, in dem man bisher ein tragendes Element der Schulorganisation zu sehen gewohnt war das Direktorat. Umsomehr muß es wundernehmen, als die neue Zeit eine ganz ungewöhnliche Steigerung der erziehUchen Kraftwirkungen fordert. Aber vielleicht ist der Direktor entweder keine wertvolle Kraft im gesamten Kraft- system der Schule, vielleicht gar ein Hemmnis für die Entfaltung anderer Kräfte, besonders der Lehrerschaft, der Lehrerversammlung und der einzelneu Lehrer, so daß ein Ersatz durch den „Schulleiter" (das ist übrigens doch wohl die Übersetzung von Direktor?) den lockenden Ausbhck auf eine neue Kräfte- entfaltung unserer Schulen, die einfach kulturnotwendig ist, eröffnete? Eins vorweg: Wo die „Direktoren" unter der Last der äußeren Verwaltung nicht dazukamen, ihre eigentliche Aufgabe zu verrichten, da sind sie allerdings zwecklose Elemente in dem Kraftsystem, von denen es überflüssigerweise belastet wird. Lehrer, die nur dies Direktorat kennen gelernt haben, dem die Bedingungen für die Selbstentfaltung fehlten, müßten aber sehr vorsichtig sein in ihrem Werturteil über das \sirkende Direktorat. Oder ist vielleicht das wirkende Direktorat noch kulturgefährlicher? Indem ich auf meine ausführ- liche Darstellung der gesamten Frage in meinem Hauptwerk verweise i), \sill ich hier nur den grundsätzlichen Standpunkt hervorheben, die grundsätzhche Betrachtungsweise. Dem, der über den gesamten Wert und Unwert des Direktorats urteilen -viil!, muß das gesamte System der Kräfte gegenwärtig sein, die an den idealen Erziehungszweck der Schule zu setzen sind; sodann ist zu erwägen, ob der Direktor innerhalb dieses Systems notwendige Funk- tionen zu verrichten hat oder nicht. Ein Denken, das nicht funktionell ein- gestellt ist, muß in unserer Frage als wertlos gelten. Mit größten Bedenken

») a. a 0. S. 218-284.

218 Hugo Gaudig, Schulorganisatorisches Denken

muß Gedankengängen und Formeln begegnet werden, die ihre Herkunft aus anderen Kulturgebieten erkennen lassen und von denen man nicht ohne weiteres sagen kann, ob sie glatthin übertragbar sind, ob nicht vielmehr eine schiefe Analogie vorliegt. Das gilt z. B. von der Verwendung des Begriffs „Selbstverwaltung" in unserer Frage. „Selbstverwaltung" ist einer der mächtigsten und schönsten Begriffe in meinem kulturwissenschaftlichen Be- griffsalphabet; aber ob man diesen Begriff von der J^ehrerschaft einer Schule gebrauchen und so schlankweg von einer Selbstverwaltung der Schule durch das Lehrerkollegium reden darf, sollte denn doch wohl von vornherein zweifelhaft sein.

Nach meinem Urteil ist das Direktorat notwendig, weil es folgende Funk- tionen auszuüben hat: Die Verwendung der Lehrkräfte, die spezielle Fürsorge für die Vereinheitlichung der Erzieherarbeit, die Einwirkung in der Richtung des Bestmaßes aller erziehlichen Tätigkeit der einzelnen Lehrer, die Mit- wirkung bei der Organisation der kollegialen Arbeit, die Vertretung der Eltern- schaft, der Gemeinde, des Staates innerhalb der eigentlichen Schulsphäre. Das Nähere a. a. 0.

Nur einiges sei hier erwähnt : Die Verwertung der Lehrkräfte im Dienste der Erziehung ist eine Optimalaufgabe, die um unserer Jugend willen sehr ernst zu nehmen ist: die Verwertung muß das Bestmaß des Erfolges verbürgen. Solche Verwertung aber ist nur möglich, wenn die Eigenart aller Lehrkräfte genau bekannt ist; diese genaue Bekanntschaft aber kann nur jemandem möglich sein, der alle Mitglieder des Kollegiums so gründlich als möglich studiert, dem die Kenntnis der Lehrer Gegenstand amtsmäßiger Verpflichtung ist. Dieser „jemand" kann nicht die Konferenz sein, sondern nur eine Einzel- persönlichkeit mit direktoraler Funktion. Ferner: In die Arbeitsgemeinschaft der Schule treten immer wieder neue Kräfte ein, deren Einführung in den Geist der Arbeit der Schule schnell und eindringlich erfolgen muß. Von dieser Einführung wären nur Schulen befreit, die keinen eigenen Geist besitzen. Die Einführung aber erfolgt am besten und schnellsten durch die Persönlichkeit, die aus dem Studium der Schularbeit nach ihrer Gesamtheit ein eigenes be- rufsmäßiges Studium macht. Oder drittens: Nur ein unerträglicher Standes- hochmut der Lehrerschaft könnte verkennen, daß in einem Lehrerkollegium nicht selten Mitglieder sind, denen die aus der Kenntnis ihrer Eigenart und der Eigenart der Schule herauswachsende taktvolle, die Würde der Persön- lichkeit nicht verletzende Einwirkung eines erfahrenen Mannes zu einem wesentlich höheren Maß der Leistung und zu wesentlich höherem Lehrer- glück verhelfen könnte. Und weiter: Die Kollegien müssen in Zukunft eine viel stärkere, planmäßigere, einheitlichere Erziehertätigkeit leisten als bisher; sie müssen sich vor allem zu einheitlichen Geistgemeinschaften zusammen- schließen. Das wird umso weniger der Fall sein, je mehr sich der Geist des schlechten Parlamentarismus in die Lebenssphäre der Schule einnistet, dieser öde Geist mit seinen Neigungen zur parteimäßigen Trennung, zum „Parlamen- tein", zum Hin- und Herreden, zur Zeitvergeudung, zum Emporheben der agi- tatorischen, demagogischen Persönlichkeiten, zur Unterdrückung der feinen Geister, der stillen Menschen, zur Beeinträchtigung der Eigenart einzelner Persönlichkeiten durch eine unpei-sönliche Genossenschaft. Solcher Neigung des parlamentarisch sich organisierenden Lehrerkollegiums wird ein Mann am besten entgegenwirken, dem die Sorge für Einheitlichkeit des Wirkens der

Paul Wischer, Zur Auswahl vind Prüfung der zeichnerisch Begabten 219

Arbeitsgemeinschaft heilige Amtspfhcht ist. Die Lehrerschaft, die des Direktorats sich entledigen will, scheint zu meinen, das sei besonders im Sinne der neuen Zeit, das sei besonders gut soziahstisch gedacht. Soviel ich sehe, ist das nur extrem Uberal gedacht; wo wirklich sozialistisch gedacht wird, verschUeßt man sich nie und nirgends der Notwendigkeit der Leitung da, wo diese Leitung den besseren Erfolg gewährleistet. Wenn aber hier und da von der Lehrerschaft auf die Einstimmigkeit oder die fast völlige Einstimmigkeit ihrer Beschlüsse in der Frage des Direktorats hingewiesen wird, so wird eine Regierung, die das Wesen der modernen Organisationen kennt, schon von selbst erwägen, wieweit in solchen imposanten Einheitsbeschlüssen die Ansicht vollper- sönlich überzeugter einzelner, vvieweit anderes sich durchsetzt. Vielleicht überdenkt man vor der Beseitigung des Direktorats die Frage noch einmal unter funktionalem Gesichtspunkt, damit unsere Jugend nicht die Kosten des Verfahrens trägt.

Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten.

Von Paul Wischer.

Die pädagogische Wissenschaft der Gegenwart steht im Zeichen der psy- chologischen Begabungsforschung. Die Auslese und Förderung der begabten Volksschüler ist erfolgverheißend in die Wege geleitet, und der Stadt Berlin gebührt das Verdienst, diese Begabtenauslese nunmehr auch auf die Sonder- begabungen ausgedehnt zu haben. An die halbjährlich stattfindenden Be- gabtenprüfungen schließt sich eine Prüfung für besonders begabte Zeichner an, die in einem Sonderkursus der Kunstgewerbeschule weiter ausgebildet werden sollen. ^j Wir Zeichenlehrer können diese Bestrebungen, die unsern begabten Schülern eine ihren Fähigkeiten entsprechende Entwicklung er- möglichen wollen, nur mit Freude und Genugtuung begrüßen. Es erwächst uns aber jetzt die schwierige Aufgabe der Vorauslese der begabten Zeichner' und Zeichnerinnen. Daß diese Vorauslese ihre Schwierigkeiten hat, geht schon daraus hervor, daß bei der Zeichenprüfung im Frühjahr vorigen Jahres 630/0 der Knaben und 85 0/0 der Mädchen, als für eine Weiterbildung im Zeichnen nicht ausreichend begabt, zurückgewiesen wurden. Dieses immer- hin auffallende Ergebnis kann einesteils beruhen auf einer falschen Be- urteilung der Zeichenbegabung bei der Vorauslese, andernteils in der Methode der Prüfung. Es erscheint deshalb geraten, vom Standpunkt der psycho- logischen Begabungsforschung aus einen Versucli zu machen zur Klärung der Fragen: Woran erkennt man die übernormale Zeichenbegabung und wie prüft man sie?

Man könnte von vornherein einwenden, daß die Beurteilung einer zeichne- rischen Begabung allein Sache des Künstlers und nicht Sache des Psycho- logen sei. Das ist zum. Teil richtig, soweit nämlich eine stark ausgeprägte, bereits entwickelte Begabung in jeder Zeichnung- zum Ausdruck kommt. Der Schule aber muß es darauf ankommen, auch die in der Entwicklung begriffenen Ansätze dazu frühzeitig zu erkennen und durch den Unterricht

^) Je nach Art der Befähigung werden die Schüler und Schülerinnen auch in geeigneten Lehrstellen für einen kunstgewerblichen Beruf untei^ebracht.

220 Paul Wischer

zu fördern. Das erfordert aber eine genaue Kenntnis derjenigen seelischen Funktionen, die in ihrem Zusammenwirken eben die zeichnerische Sonder- begabung ausmachen. Es wäre deshalb sehr bedauerlich, wollte man auf die bisherigen Ergebnisse der psychologischen Begabungsforschung bei Aus- wahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten verzichten. Die zahlreichen Untersuchungen der Entwicklung der Zeichenbegabung sind, im wesentlichen übereinstimmend, zu Resultaten gekommen, die es heut ermöghchen, einen Normaltyp zu konstruieren. Ich werde diesen Normaltyp der zeichnerischen Begabungsentwicklung zunächst kurz kennzeichnen, dann die Entwicklung begabter Zeichner damit vergleichen, darauf das Erkennen der Begabung aus der Art der Entstehung der Zeichnungen zeigen, um zuletzt die Wege zu beleuchten, die uns durch die psychologische Analyse der Zeichenbegabung gewiesen werden.

Die normale Entwicklung der zeichnerischen Begabung vollzieht sich in drei Hauptstadien. Vom 2. bis 3. Lebensjahr ist es allein die Bewegungs- freude, die den Anreiz zu dem sogenannten „Kritzeln" gibt. Man bezeichnet dieses Anfangsstadium deshalb als das motorische. Begriffliche Deutung durch Erwachsene oder durch andere Kinder führen das Kind zur ersten beab- sichtigten Darstellung. Es beginnt die interessante Stufe der Schemabildung, die durchaus unter der Einwirkung der Umgebung steht. Je nach der individuellen Veranlagung werden vom 6. bis 10. Jahre die Schemata mit mehr oder weniger erscheinungsgemäßen Formen gemischt. Bis zum 10. Lebensjahre ist den meisten Kindern die Form an sich nichts, der Inhalt alles. Verworn bezeichnet diese Entwicklungsstufe als ideographische oder gedächtnismäßige. „Vom 10. Jahre erwacht," wie Johannes Kretzschmar^) sagt, „langsam die Fähigkeit der logischen und ästhetischen Beurteilung. Das Interesse des Kindes geht allmählich vom Inhalt auch auf die Form über." Das ist der kritische Zeitpunkt, wo viele malende Kinder immer seltener ihre sonst so erfolgreiche Zeichentätigkeit ausüben, um schließlich, unbefriedigt, in der richtigen Erkenntnis der zeichnerischen Unfähigkeit, jeden Versuch der formgemäßen Darstellung aufzugeben. Die zeichnerische Begabungs- entwicklung ist mit der wachsenden allgemeinen Intelligenz vom ideographischen zum physiographischen, erscheinungsgemäßen Typ fortgeschritten. Nur ver- hältnismäßig wenige suchen nach Hilfsmitteln, um zur Formerfassung zu gelangen. Bei ihnen hat der Zeichenunterricht seine größten Erfolge, zumal in diesem Zeitpunkt auch die räumliche Darstellungsfähigkeit beginnt. Leider ist für die Volksschüler, da die erfolgreichste Entwicklungstufe bei den meisten Kindern im 13. 14. Lebensjahre liegt, bereits nach einem Jahr der Unter- richt und damit leider auch die zeichnerische Entwicklung beendet. Auf dem Entwicklungsstandpunkt des 14. Jahres bleiben die meisten Menschen stehen. Selbst geistig Hochentwickelte kommen zeichnerisch im allgemeinen über ihre kindliche Darstellungsfähigkeit nicht hinaus. Der Zeichenunterricht könnte hier nur bessernd einwirken, wenn er die Kinderzeichnungen nicht ganz übersehen, sondern dem suchenden Kinde helfen würde. Die eingehende Beachtung des naiven kindlichen Zeichnens ist aber auch schon deshalb ge- boten, weil in der Art seiner Entwicklung bereits die Ansätze einer über- normalen Zeichenbegabung zum Ausdruck kommen können.

1) Dr. J. Kretzschmar, Die freie Kinderzeichnung in der wissenschaftlichen Forschung. Zeitschr. f. pädagogische Psychol. Bd. 13, Heft 7/8.

Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten 221

Auch die begabten Zeichner durchlaufen die vorhin skizzierte Entwicklungs- reihe vom Motorischen zum Gedächtnismäßigen, Erscheinungs- und Form- gemäßen, mit dem Unterschied, daß sie gewöhnhch viel früher damit fertig sind, manche Einzelstadien überspringen oder die letzte Stufe, an der die meisten scheitern, aus eigener Kraft überwinden. Hier sind Entwicklungs- unterschiede meist, wenn auch nicht immer, Begabimgsunterschiede. Durch- schnittlich 90 o/o aller Kinder zeichnen im Alter von 6 bis 7 Jahren rein schematisch. Was verstehen ^-ir unter Schema? Walter &ötzsch 0 be- zeichnet das Schema sehr richtig als eine Erstarrung der Form, die bei den wenig begabten Zeichnern sehr frühzeitig eintritt und bis zum 10. und 12. Lebensjahr, oft noch länger, die ganze Entwicklung beherrscht. Der Schemazeichner zeichnet nicht im eigentlichen Sinne, sondern er liefert nm-, wie Kerschensteiner^) treffend sagt, eine „Niederschrift der begriff- lichen Merkmale" und benutzt dazu immer dieselben Formen. Der un- begabte Zeichner bleibt jahrelang auf diesem Standpunkt stehen, der normal- begabte mischt seine Schemata mit erscheinungsgemäßen Formen, der über- normal Begabte dagegen kennt die Stufe des reinen Schemas überhaupt nicht. Für ihn beginnt meist sofort das Suchen nach Ähnlich- keit in der Formgebung, er „zeichnet", während die anderen noch „nieder- schreiben". Von Monat zu Monat verbessert er beispielsweise seine Menschen- darstellungen, indem er sie immer mehr charakterisiert. Er besitzt eben die Fähigkeit, schon etwas zu sehen, während die andern noch bei dem erworbenen unveränderten Schema bleiben. Er hat Gegenstands- oder Bildungsvorstellungen, die andern nicht.

In der Tat ist die Größe des Formenkreises und die Vollkommenheit der Darstellungsfähigkeit bereits auf dieser Stufe ein Maßstab für den Grad der zeichnerischen Begabung. Nach W. Krötzsch kann man bei eingehendem Studium der Kinderzeichnungen einen vierfachen Grad der Zeichenbegabung unterscheiden. Enger Formenkreis und ungewandte, meist rein schematische Darstellung kennzeichnen die Schwachbegabten Zeichner. Reichen Formen- kreis bei gemischt schematischer, aber noch ungewandter Darstellung zeigt der normal begabte, während reicher Formenkreis mit lebendiger, erscheinungsgemäßer Darstellung den hochbegabten Zeichner auszeichnen. Eine Sonderstellung nehmen diejenigen Kinder ein, die zwar einen engbe- grenzten Formenkreis besitzen, aber einer auffallend lebendigen, fast form- gemäßen Darstellung fähig sind. Das sind Kinder, die z. B. Pferde oder Hunde verblüffend gut zeichnen können. Ich erinnere mich einer 11jährigen Schülerin, die Pferde so vorzüglich zeichnen konnte, daß ich die selbständige Gedächtniszeichnung anzweifelte und das Kind in meiner Gegenwart zeichnen ließ. Wer nur diese Zeichnungen sah, mußte unbedingt auf ein hervor- ragendes Talent schließen. Und doch gehörte diese Schülerin nur zu den normal befähigten Zeichnerinnen. Es handelt sich in solchen Fällen, die nicht selten vorkommen, vun eine ganz einseitige Scheinbegabung, aus der nicht viel zu machen ist. Im allgemeinen ist bei der Beurteilung von Kinderzeichnungen, wenn es sich um die Feststellung einer übernormalen Zeichenbegabung handelt, die größte Vorsicht geboten. Frühzeitige, große

') W. Krötzsch, „Rhythmus und Form in der freien Kinderzeichnung". Leipzig 191' -) G. Kerschensteiner, Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung. München 1907.

222 Paul Wischer

Hoffnungen werden häufig getäuscht. Noch sind die Begabungsansätze den zarten Blütenteilen in der Knospe vergleichbar, und manche hemmenden Einflüsse des Gefühls- und Willenslebens können ihre Entwicklung aufhalten, ja ihre Entfaltung unmöglich machen. Andere Begabungen können stark hervorbrechen und die erste völlig verdrängen. Von geradezu entscheidende]- Bedeutung kann hier der Einfluß des Lehrers durch frühzeitiges Erkennen und Fördern werden, wenn er eingehend die Entwicklung der zeichnerischen Begabung beobachtet.

Diese Beobachtung der Begabungsentwicklung wird sich aber nicht be- schränken auf die wenigen Merkmale, die W. Krötzsch feststellte, sondern sie wird auch sehr bald ausgesprochene Begabungstypen entdecken, wie sie C. Kik in einer vorzüglichen Arbeit über die übernormale Zeichenbegabung genau kennzeichnet.

Kik^) studierte eingehend die Entwicklung von 14 hervorragend begabten Zeichnern, Knaben und Mädchen, au der Hand eines mühsam gesammelten Materials, das zum Teil in der Zeitschrift für angewandte Psychologie Band 2 veröffentlicht wurde. Von jedem Kinde lagen eine Reihe von Zeichnungen aus den verschiedensten Lebensaltern vor. Durch Rückfragen an die Eltern und Lehrer wurden alle näheren Angaben über die allgemeine geistige Ent- wicklung der Kinder und die Entstehung der Zeichnungen biographisch zu- sammengetragen. Die so entstandenen Entwicklungsreihen ermöglichen es, die individuelle Zeichenbegabung nach ihrer vielseitigen Art zu erforschen. Nicht nur die Zeichnungen an sich, sondern auch alle bei ihrer Entstehung mitwirkenden Begleitumstände sind für den Psychologen bedeutsam. Es ist für die Beurteilung einer Zeichenbegabung durchaus nicht gleichgültig, ob die Begabung aus eigener Kraft zum Ausdruck kommt, oder sich unter nachhaltigem Einfluß, unter fortgesetzter Anregung des Elternhauses ent- wickelt. In diesem Fall sind Entwicklungsunterschiede, wie ich sie vorhin erwähnte, oft keine Begabungsunterschiede. Auch Fragen nach Vererbung, nach allgemeiner Intelligenz und nach dem Anteil des Gefühls- und Willens- lebens bei der Entstehung der Zeichnungen sind von größter Bedeutung. Eine psychologisch geleitete Beobachtung ist hier durchaus notwendig.

In welcher Weise bearbeitete nun Kik sein Material? Maßgebend für die Beurteilung der Zeichenbegabung ist ihm die Art, wie die Zeichnungen ent- standen sind. Das kann nur auf dreifache Weise geschehen. Eine Zeichnung kann unmittelbar nach der Natur, nach dem Gedächtnis oder durch freige- staltende Phantasie entstehen. Natur- und Gedächtniszeichnung können nach dem Gegenstand oder dem Bilde angefertigt werden. Dadurch entstehen in jedem Falle zwei Darstellungsarten: das Objektzeichnen und Kopieren einer- seits, und das Zeichnen aus der Gegenstands Vorstellung und Bildvorstellung andererseits. Dementsprechend unterscheidet Kik : a. Begabung für Natur- wiedergabe, b. Kopierbegabung, c. Vorstellungsbegabung, d. h. Gedächtniszeichnen nach der Gegenstands- oder BildvorsteUung, d. Phan- ^asiebegabung, e. Kombinationen der vorsteh enden Begabungsarten.

Die normale Entwicklung der zeichnerischen Begabung führt, wie wir vorhin schon feststellten, die Kinder nur sehr selten aus eigener Kraft zum

') C. Kik, „Die übernormale Zeichenbegabung bei Kindern." Zeitschr. f. angew. Psychol., Bd. 2. 1909, Auch abgedruckt in dem Sammelband: Das freie Zeichnen und Formen des Kindes, herausgegeben von Grosser und Stern. Leipzig 1913.

Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten 223

unmittelbaren Abzeichnen nach der Natur. Die Naturdarstellungen fallen, wie Kerschensteiner nachweist, bei etwa 80 ^o aller Kinder schlechter aus als die Gedächtniszeichnungen. Es sind eben eine ganze Reihe psycholo- gischer Schwierigkeiten, die nur durch Studium am Einzelobjekt überwimden werden können. Nur dieser Weg führt zur formgemäßen Darstellung, die auch der Selbstkritik standhält. Aber der Weg ist lang und dornenvoll, und die Lust zum Zeichnen, wenn sie noch vorhanden ist, verlangt nach ganz anderen Dingen. Bilder sollen entstehen, nach Erfolg, Ruhm und Befriedigung strebt der junge Zeichner, und klug wählt er den sichersten und einfachsten Weg, er kopiert. Für viele ist das Kopieren die letzte Stufe ihrer zeich- nerischen Entwicklung, und sie kann so frühzeitig auftreten und einen solchen Grad der Vollkommenheit erreichen, daß man von einer einseitigen Kopier - begabung sprechen kann. Sie beruht auf scharfer Beobachtungsgabe und guter Handgeschicklichkeit. Über den Wert des Kopierens ist gar nicht zu streiten. Bildung des Geschmacks und Übung in den Techniken des Zeichnens können durch fleißiges Kopieren künstlerischer Vorlagen wohl erreicht werden, aber für das Naturzeichnen hat es wenig oder gar keine Bedeutung, w^eil die psychologischen Funktionen beim Abzeichnen des Objekts andere sind als beim Kopieren. Die Naturdarstellung scheitert an der Unfähigkeit, klare Vorstellungen zu gewinnen, die Form an sich gewißermaßen vom Objekt zu abstrahieren. Die Vorlage ist in dieser Beziehung bereits eine gelöste Aufgabe, die, im übertragenen Sinne, nur noch „abzuschreiben" ist. Der Hauptwert des Kopierens liegt deshalb im Technischen, Handwerkhchen. Nur wenn die Kopie, die Nachzeichnung, sich frei macht von pedantischer Nach- ahmung und mehr den geistigen Gehalt der Vorlage auszudrücken sich bemüht, kann sie künstlerischen Wert gewinnen. Künstlerische Kopisten sind aber bekanntlich sehr selten zu finden. Auf Grund seiner einseitigen Begabung, seiner Handgeschicklichkeit und Beobachtungsgabe, eignet sich der Kopist nur für technische Berufe des Zeichnens, z. B. in der Lithographie, als technischer Zeichner und dergl. So häufig die Kopierbegabung auftritt und so blendend oft ihre Erzeugnisse sind, muß sie doch verhältnismäßig gering bewertet werden.

Aber auch die Begabung für Naturwiedergabe kann so einseitig auftreten, daß sie, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu einem reinen „Naturkopieren " Vvärd, d. h. der Zeichner besitzt die Fähigkeit, mit einer vorzüglichen Beobach- tungsgabe alle Einzelheiten der Erscheinungsform aufzufassen und richtig darzustellen. Seine Leistungen befriedigen den Zeichenlehrer vollkommen, er ist im Freihandzeichnen nicht selten unser bester Zeichner. Ja, in den höheren Klassen kann diese Fähigkeit bis zum Porträt ausreichen, kann im Höchstfalle sogar künstlerische Darstellungsart zeigen ohne jedoch künstlerisch zu sein, weil die objektiv genaue Darstellung ohne rein künstlerische Ge- fühlsv/erte ist. Was diesen Zeichnern fehlt, ist die Vorstellungfähigkeit. Ihre Gedächtniszeichnungen und Kinderzeichnungen überragen nur wenig die Grenze des Normalen. Der Zeichner kann in keiner Sekunde das Modell entbehren. Gerade hierbei unterscheidet er sich vom hochbegabten Natur- zeichner, der mit schnellem Blick die kennzeichnenden Merkmale des Objekts erfaßt und mit sicheren Strichen darstellt, ohne fortgesetzt das Vorbild zu fixieren. Würde man beide Zeichner lebende Tiere darstellen lassen, so würden ihre Begabungsunterschiede erst recht -deutUch werden. Gerade das

224 Paul Wischer

Zeichnen nach bewegten Formen gibt einen Maßstab für den Grad der Vor- stellungsfähigkeit, die das unerläßliche Formengedächtnis bedingt.

Wo nur die Fähigkeit der Formenauffassung, ohne Formengedächtnis vor- handen ist, handelt es sich nur um eine einseitige Begabung, die zwar bedeutend höher zu bewerten ist als die Kopierbegabung, aber am besten doch nur für technische Zeichenberufe in Frage kommt. Kik findet, daß solche einseitige Begabung meist auch mit Schwächen in wichtigen Haupt- fächern der Schule verbunden ist, z. B. Sprachen und Mathematik. Auf den höheren Schulen sind diese begabten Zeichner sehr übel dran. Die An- strengungen für die Mängel in den Hauptfächern lassen zur weiteren Aus- bildung des LiebMngsfaches wenig Zeit und Kraft übrig. Hier müßte eine höhere Bewertung des Zeichnens vorhandene Mängel in anderen Fächern ausgleichen können. Über das Verhältnis der Zeichenbegabung und der allgemeinen Intelligenz sei bemerkt, daß nach Kik und Kerschensteiner eine gute allseitige Zeichenbegabung auch mit guter allgemeiner InteUigenz ver- bunden ist.

Zwischen den vorhin gegenübergestellten Begabungen, dem einseitigen Beobachter und dem hochbegabten Zeichner, bewegt sich nun die Menge aller Begabungen, die mit guter Beobachtungsgabe eine ebensolche Vor- stellungs- und Phantasiebegabung verbinden. Auch sie können wieder ein- seitig stark hervortreten. Kik fand unter seinen Kindern ausgesprochene Typen der Vorstellungsbegabung, die beim Gedächtniszeichnen nach Gegen- stand- oder Bildvorstellungen Hervorragendes, beim Naturzeichnen nur Normales leisteten. Vorstellungs- und Phantasiebegabung sind oft schwer zu unterscheiden, da sich bei näherer Untersuchung viele Phantasiezeich- nungen der Kinder als mehr oder weniger veränderte Gedächtniszeichnungen herausstellen. Aber während der begabte Gedächtniszeichner oft eine erstaunliche Genauigkeit und Treue des Formgedächtnisses aufweist, legt der Phantasiezeichner auf die Form viel weniger Wert als auf den geistigen Inhalt des Dargestellten. Soweit es sich bei allen diesen Begabungstypen um eine einseitige Veranlagung handelt, sind sie leider wenig wertvoll. Erst ihre verschiedenen Mischungen ergeben brauchbare Zeichner, deren Begabung auch berufhch zu verwerten ist. Je nachdem die eine oder andere Art vorwiegt, kommen technische, kunstgewerbliche und künstlerische Be- rufe in Frage.

Kik hat gezeigt, wie man aus zeichnerischen Entwicklungsreihen durch eingehendes Studium der Zeichnungen die übernormale Zeichenbegabung, und zwar die verschiedenen Begabungstypen, erkennen kann. Seine Arbeit verdiente aber weitergeführt zu werden, um seine Urteile auf eine breitere Grundlage zu stellen. Die Zeichenlehrer könnten sich hier ein großes Ver- dienst um die psychologische Begabungsforschung im Zeichnen erwerben, wenn sie von ihren begabten Zeichnern recht viele Zeichnungen aus Schule und Haus zu Entwicklungreihen mit biographischen Bemerkungen zusammen- stellen würden. Ideal aber wäre eine solche Sammlung, die Einblicke in den zeichnerischen Entwicklungsgang eines ausübenden Künstlers gestattete. Über die künstlerische Entwicklung sind wir meist unterrichtet, aber gerade das Keimen und Wachsen des jungen Talents ist für den Lehrer und Psychologen bedeutungsvoll. Hier liegt noch ein interessantes, aber schv^ieriges Arbeitsfeld.

Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten 225

Nachdem wir das Erkennen der übernormalen Zeichenbegabung aus ihrer Entwicklung (Krötzsch) und die Begabungstypen aus der Art der Entstehung der Zeichnungen festgestellt haben, bleibt noch die Frage zu erörtern, welche Wege uns die experimentelle Psychologie weist. Sie sind uns gezeigt von Ernst Meumann und Albien durch die psychologische Analyse der zeich- nerischen Begabung.

Die vielen Teilvorgänge, die in ihrer Gesamtheit den Zeichenakt so schwierig gestalten, daß eine psychologische Analyse noch heute teilweise als unsicher gelten muß, lassen sich nach Meumann *) in drei Hauptgruppen zusammenfassen. Es sind 1. optische, 2. motorische, 3. apperzeptive Vorgänge und deren Zusammenwirken, wobei es wieder hauptsächlich auf das Zusammenwirken von Auge und Hand und von Gesichtsvorstellung und Hand ankommt. Von besonderer Bedeutung ist das Zustandekommen der Gesichtsvorstellungen durch die äußeren und inneren Sehvorgänge. Meumann weist auf die bekannte Behauptung des Anatomen Henke-) und des Geologen Heim^) hin. „Zeichnen ist Sehen!" Wer genau sieht und sichere visuelle Erinnerungsbilder hat, müßte demnach auch zeichnen können. Dem ist entgegenzuhalten, daß es sehr viele Menschen gibt, die sehr genau sehen und absolut klare Gesichtsvorstellungen haben, ohne sie jedoch zeichnen zu können. Auf die optischen Vorgänge müssen wir deshalb etwas genauer eingehen. Da es sich hier um eine Analyse der Begabung zum Zeichnen und nicht des Zeichenaktes selbst handelt, kann auf eine Klarlegung der elementaren Sehvorgänge verzichtet werden. Erst bei den höheren Seh- vorgängen beginnt die Unterscheidung der individuellen Zeichenbegabung. Die psychologische Analyse gibt uns hier auch die Erklärung der ver- schiedenen vorhin festgestellten Begabungstypen. Sie sind, wie Albien^) feststellte, im Grunde nichts weiter als verschiedene Sehtypen. Albien fand durch seine Untersuchungen, auf die ich zurückkommen werde, einen visuellen Typ, der sich allein auf die Genauigkeit des Sehens verläßt, und einen konstruierenden Typ, dessen Sehvorgang mehr durch Gefühls- momente, Kombination und Phantasie beeinflußt, d. h. in seiner Genauigkeit gestört wird. Läßt man eine Anzahl begabter Zeichner nach demselben Modell zeichnen, so werden meist drei Hauptgruppen zu untei'scheiden sein. Die eine beobachtet außerordentlich scharf und bringt alle Einzelheiten, die zweite dagegen läßt sich bei der Darstellung mehr vom Gesamteindruck leiten, ohne die objektive Genauigkeit im einzelnen zu erreichen. Die Zeichnung verrät eine gewisse Ungenauigkeit und Unsicherheit in der Strich- führung. Man sagt gewöhnlich, der Zeichner sieht nicht scharf genug. Das kann einen zweifachen Grund haben: Ent^veder ist die Aufmerksamkeit eine flüchtige, oder aber das Objekt selbst wirkt mit der Fülle seiner Einzelheiten verwirrend auf den Zeichner, so daß es nicht gehngt, ein klares visuelles Bild zu erhalten. Die dritte der vorhin erwähnten Gruppen ist in gewissem Sinne eine Kombination der beiden ersten. Der Zeichner sieht sehr scharf,

') E. Meumann : Ein Programm zur psychol. Untersuchung d. Zeichnens. Zeitschr. f. pädag. Psychol., Bd. 13, Heft 7/8.

*) Henke: Zeichnen und Sehen, 1889.

^) Heim: Sehen und Zeichnen (Vortrag), Basel 1894.

*) Albien: Der Anteil der nachkonstruierenden Tätigkeit des Auges und der Apperzeption a. d. Behalten u. d. Wiedergabe einfacher Formen. Leipzig 1907.

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 16

226 Paul Wischer

gibt aber nur die das Modell charakterisierenden, typischen Merkmale wieder. Diese Gruppe zeigt die Fähigkeit, künstlerisch darzustellen; sie ist deshalb am höchsten zu bewerten.

Die Güte der Gesichtsvorstellungen hängt aber nicht nur von der Genauig- keit der Beobachtung des Objekts, sondern auch von der Dauerhaftigkeit der visuellen Erinnerungsbilder, also dem Formgedächtnis ab. Wieweit die Genauigkeit der Gesichtsvorstellungen die Treue des Formgedächtnisses beein- flußt, ist heute noch eine offene Frage. Keineswegs kann man ohne weiteres sagen: Je genauer das Sehen, desto dauerhafter die Erinnerungsbilder. Beweis: der vorhin charakterisierte Typ des einseitigen Naturzeichners. Eins aber steht fest, daß zum rechten Erfolg im Zeichnen beide Fähigkeiten verbanden sein müssen. „UnerläßUch ist auf jeden Fall," sagt Meumann, „daß der Zeichner zuerst einmal genau gesehen und genau vorgestellt hat, sonst entsteht keine typische Darstellung des Objekts, sondern bloß Unbeholfenheit des Ausdrucks und Untreue der Darstellung." Wenn daher der Zeichen- unterricht die Erziehung zum bewußten Sehen als erstes Ziel erstrebt, so ist er damit auch auf rechtem Wege zu Formerfassung und Formgedächtnis.

Zur Formauffassung führen aber keineswegs nur optische, sondern vor allem auch apperzeptive Vorgänge. Eine Form wird um so leichter und genauer erfaßt, je mehr ähnliche Vorstellungen bereits im Bewußtsein des Zeichners vorhanden sind. Auch die genaue Kenntnis des Objekts kann von größter Bedeutung sein. Eine wesentliche Hilfe bei der Formauffassung ist das analysierende Sehen. Man steht einer neuen, komplizierten Form als Ganzem oft ratlos gegenüber. Das zeichnerisch geschulte Auge sucht zunächst nach Teilformen, die den wesentUchen Bestandteil der Gesamtform ausmachen. Dazu ist unbedingt die Kenntnis elementarer Grundformen der Flächen und Körper nötig. Wenn von vielen Zeichenmethodikern die Übermittlung solcher Grundformen als zu abstrakt, geisttötend verworfen wird, so ist das wohl eine gewaltige Überschätzung der naiven künstlerischen Fähigkeiten, die angeblich im Kinde schlummern sollen. Für die von Natur aus begabten ist dieser Standpunkt wohl verständlich, aber der Durchschnittsschüler kann m. E. nur dadurch zum analysierten Sehen befähigt werden, daß er mit diesen Grundformen arbeitet, denn sie gerade geben Apperzeptionsstützen ersten Ranges. Aber der Begriff der Apperzeption, wie ihn Herbart gefaßt hat, ist zu eng. Meumann rechnet zur Apperzeption auch alle durch die betrachtete Form ausgelösten Gefühls- und Willensmomente, weil sie das Erfolg bedingende Zusammenvdrken von Auge und Hand hemmend oder fördernd beeinflussen können. Nicht auf den Muskelapparat kommt es hauptsächlich an, sondern wie Meumann sagt, auf die die Bewegung begleitenden und kontrollierenden Gelenk- oder Bewegungsempfindungen.

Hier gehen die Meinungen der Fachpsychologen auseinander. Meumanns Gegner sagen, nicht die Empfindung, (das „Gefühl"), sondern allein der Wille, der Impuls leitet eine Bewegung. Auf die Zuordnung dieses Impulses zur Gesichtsvorstellung kommt es an. Hieran fehlt es eben dem Nichtzeichner. Auf welche Weise der Unterricht hier fördernd eingreifen kann, das ist das ganze Problem des Zeichnens. Man kommt seiner Lösung vielleicht am nächsten, wenn man den zeichnerischen Akt mit dem Sprechen, Singen, Musizieren vergleicht. Bei allen Funktionen handelt es sich um den Impuls zur Auslösung bestimmter Bewegungen. Gefördert wird dieser Impuls zweifei-

Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten 227

los durch bewußte oder unbewußte stete Übung der Bewegungselemente. Dabei sei bemerkt, daß je nach der natürlichen Veranlagung auch die erreichbare Geläufigkeit der entsprechenden Bewegung variiert. Wenn nun unsere zeichnerischen Durchschnittsleistungen schwach sind, so führe ich das darauf zurück, daß wir viel zu wenig zeichnen. So mangelhaft man z. B. das Klavierspielen lernt, wenn man wöchentlich nur zwei Stunden Unterricht nimmt und sonst nicht übt, so wenig kann man auch durch zwei Zeichen- stunden wöchentUch Zeichnen lernen. Man frage doch einmal, wie viel Kinder sich zu Haus zeichnerisch betätigen. Es werden meist nur die guten Zeichner sein. Will man also den zeichnerischen Durchschnitt heben, so muß täglich etwas gezeichnet werden, sei es Nachzeichnen, Naturzeichnen oder Gedächtniszeichnen. So ergibt sich schon aus diesen psychologischen Erwägungen heraus die Notwendigkeit, das Zeichnen nicht nur als Unter- richtsdisziplin zu pflegen, sondern wie Seinig es fordert, zum Unterrichts- prinzip zu machen. Wenn dabei mehr von der Wandtafel abgezeichnet wird als bisher, so ist das kein Fehler.

Auf methodische Einzelheiten kann ich hier natürlich nicht eingehen. Zu- sammenfassend kann man wohl sagen, daß im wesentlichen zwei Momente die Fähigkeit zum Zeichnen ausmachen, das analysierende Sehen und der Impuls zur Ausführung der entsprechenden Bewegungen. Gesichtsvorstellung und Bewegungsimpuls müssen eng miteinander verknüpft sein. Das ist bei dem begabten Zeichner in hohem Maße der Fall. Auge und Hand stehen bei ihm in so engem Kontakt, daß vielfach schon beim Sehen der Form gleichzeitig entsprechende Bewegungen ausgelöst werden. Dem tüchtigen Zeichner zuckt es in der Hand, wenn eine Erscheinungsform ihn zur Dar- stellung reizt. Was er sieht, steht mit sicheren Strichen sofort auf dem Papier. Radiergummi wird selten gebraucht, die Zeichnung verrät in allen Teilen eine überzeugende Sicherheit, ist aber deshalb keineswegs immer künstlerisch. Worin hegt nun das spezifisch Künstlerische? „Es Hegt" wie Meumann sagt, „in der Art der Auffassung und Darstellung des Objekts. Der künstlerisch Begabte begnügt sich nicht mit dem Nachbilden der Erscheinungsform, sondern er bemüht sich, mit ihrer Wiedergabe eine Summe von ausgelösten Gefühlen, Erinnerungen, Lebenserfahrungen zimi Ausdruck zu bringen. Unter Auffassung versteht man die Art der geistigen Verarbeitung des Objekts. Diese kann so subjektiv sein, daß ein aUgemeines Verständnis schwer, oft sogar unmöglich wird. (Impressionismus, Expressio- nismus, Futurismus usw.) Kunst ist aber nicht nur Ausdruck, sondern ringt stets nach einer Form der Darstellung. Darunter versteht man das Herausarbeiten des künstlerisch Wesentlichen und die Ausnutzimg des jeweihgen Zeichenmaterials. Die künstlerische Darstellungsform ist lehrbar, die Auffassung nicht; sie ist angeboren." Psychologisch betrachtet müßte also eigentlich jedermann bis zu einem ziemlich hohen Grade zeichnen lernen können, indem die Mängel seiner Begabung durch entsprechende Unterrichts- dauer und -art und emsigen Fleiß ausgeghchen werden. Von diesem Ge- sichtspunkt betrachtet, ist es fast unmöglich, bestimmt zu sagen, wo die normale Begabung aufhört und die übernormale anfängt. Als Maßstab könnte hier nur die Durchschnittsleistung in Betracht kommen, die sich aus der Unterrichtserfahrung ergibt. Die vorhin geforderte psychologisch geleitete Beobachtung müßte deshalb besonders feststellen, wie weit die natürhche

15*

228 Paul Wischer

Begabung durch Fleiß und Energie des Willens beeinflußt wird. Jedenfalls ist die Beurteilung einer Zeichenbegabung allein aus den vorHegenden fertigen Zeichnungen unsicher, wenn sie nicht durch eine schriftlich niedergelegte längere Beobachtung gestützt wird. Da aber außerdem in den seltensten Fällen die Zeichnungen ausschließlich Eigenarbeiten ohne Korrektur des Lehrers sind, ist eine Prüfung des Schülers unerläßlich. Sie hätte sich nach den voraufgehenden Ausführungen zu erstrecken:

1. aufHandgeschickUchkeit, bezw.auf das Zusammenwirken von Auge undHand,

2. auf Genauigkeit der visuellen Beobachtungsgabe,

3. auf Treue des visuellen Gedächtnisses,

4. auf die Art der Verarbeitung des Objekts (phantasie- und gefühlsmäßig oder in künstlerischer Darstellung),

5. auf die Art der Auffassung des Objekts (subjektiv-künstlerische Auffassung).

Die Handgeschicklichkeit, die Genauigkeit der visuellen Beobachtung und die Treue des visuellen Gedächtnisses lassen sich auf Grund experimenteller Methoden prüfen, die Art der Verarbeitung und die Auffassung des Objekts nicht Eine derartige Untersuchung wäre für den Zeichenunterricht von größter Bedeutung, da in diesen Teilvorgängen die Gründe für das Nicht- zeichnenkönnen liegen. Wie weit die Handgeschicklichkeit die Güte der Zeichnung beeinflussen kann, ist heut noch eine Streitfrage. Graberg ') legt in seiner Arbeit über die visuellen motorischen Zeichenvorgänge größeren Wert auf gewisse rhythmische Bewegungen, die in steter Wiederholung geübt werden müssen. Meumann dagegen warnt vor einer Überschätzung der rein motorischen Vorgänge. Es bleibt einer Untersuchung der technischen Be- gabungen vorbehalten, die Handgeschicklichkeit an sich, z. B. die Unterschieds- empfindlichkeit für differenzierte Bewegungsrichtungen, zu prüfen.

Die experimentelle Psychologie kennt dazu verschiedene Methoden. Die zeichnerische Handgeschicklichkeit kann schon dadurch untersucht werden, daß man vorgezeichnete Linien und Linienzüge nachzeichnen läßt. Man bedient sich dazu eines elektrischen Kontrollapparates, der jede Abweichung beim Nachzeichnen durch ein Glockenzeichen angibt. Maßstab zur Beur- teilung der Leistung gibt einmal die Zeitdauer der Ausführung und die Häufigkeit des Glockenzeichens, also der Fehler. Die visuelle Genauigkeit kann auf verschiedene Weise geprüft werden. Am exaktesten erscheint mir die Methode, die Albien bei seinen Versuchen anwandte. Er bediente sich eines Apparates, der nach dem Prinzip des sogenannten Schnellsehers, des Tachistoskops, konstruiert war. Eine bestimmte Zeichnung blieb 10 bis 20 Sekunden vor dem Auge des Zeichners, wurde genau fixiert, plötzlich verdeckt und dann gezeichnet. Anstelle der Albien'schen Zeichnungen würden für unsere Zwecke besser Objekte mit mehreren typischen Einzelheiten gewählt. Bei einem zweiten Versuch kann dann ein ähnliches Objekt bei unbegrenzter Beobachtungszeit abgezeichnet werden, wobei vor allem die Gesamtarbeitszeit zu notieren ist. Aus der Zahl der fehlenden charakte- ristischen Einzelheiten ist der Grad der visuellen Beobachtungsfähigkeit fest- zustellen. Denselben Apparat benutzte Albien zur Prüfung des Form- gedächtnisses, also der Treue der visuellen Erinnerungsbilder. Der Schüler

') Graberg, Die visuell-motorischen Zeichenvorgänge. Zeitschr. f. experiment. Pädagogik Bd. VII.

Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten 229

darf das Objekt so lange betrachten, bis er es aus dem Gedächtnis zeichnen zu können glaubt; dann wird das Objekt entfernt und dargestellt. Die Zeit der Beobachtung und Darstellung ist einzeln zu notieren. Ich muß mich hier darauf beschränken, die experimentehen Methoden der Prüfung nur kurz anzudeuten, sie wären im Einzelnen natürüch noch psychologisch ein- gehend festzulegen.

Vom Standpunkt des Praktikers aus kann man auch einen anderen Weg zur Prüfung der drei genannten Grundforderungen des Zeichnens einschlagen. So wesentlich die Prüfung der Handgeschicklichkeit, der Genauigkeit der visuellen Beobachtung und der Treue des visuellen Gedächtnisses im einzelnen für die Art der Begabung, den Begabungstyp, sein können, müssen wir doch betonen, daß erst ihr Zusammenwirken die Qualität der Zeichen- begabung ausmacht. Man könnte deshalb vielleicht auf eine experimentelle Prüfung im Einzelnen verzichten, wenn das Abzeichnen und Gedächtnis- zeichnen unter bestimmten Voraussetzungen geschieht. Von größter Bedeutung ist dabei die Art der gestellten Aufgabe. Wie man unter allgemeiner Intelligenz die Fähigkeit versteht, sich schnell und leicht einer neuen Anforderung anzupassen, so muß auch die zeichnerische Begabung am deutlichsten zum Ausdruck kommen, wenn man den Schüler vor Aufgaben stellt, die ihm bisher noch nicht zugemutet wurden.

Würde man die Aufgabe aus dem Stoffgebiet des Schulzeichnens wählen, so müßte das Moment der Übung in Betracht gezogen werden. Der weniger begabte Schüler könnte, falls er im Zeichenunterricht ähnliche Aufgaben mehrfach gelöst hat, die Leistung des hochbegabten erreichen. Die Beur- teilung der Begabung uürde dadurch wesentlich erschwert werden. Begabungs- prüfungen sind Kraftproben. Ich halte es deshalb für zweckmäßiger, die Kinder nach dem lebenden Modell, dem Menschen, zeichnen zu lassen (z. B. Knabe in Schrittstellung, im Profü, mit Mütze und Mappe). Die Leistungen sind natürlich nur relativ zu bewerten. Da der für die Apperzeption wesentliche Einfühlungsprozeß sehr verschiedene Zeitdauer beansprucht, ist vor dem Zeichnen eine bemessen kurze Beobachtungszeit geboten. Diese ist genau zu notieren; das Abzeichnen beginnt gleichzeitig. Beim Zeichnen sind die Schüler zu beobachten, ob sie das Modell fortgesetzt fixieren oder seltener hinzusehen brauchen, ob sie viel radieren, oder den Gummi fast gar nicht benutzen. Nach 15 Minuten ist der Arbeitsakt zu unterbrechen. Die Schüler, die schnell visuell auffassen und ebenso sicher imd gewandt darstellen, werden ihre Arbeit bedeutend weiter gebracht haben, als diejenigen, bei denen alle psychologischen Funktionen des Zeichnens sich langsamer ab\^^ckeln, weil sie verschiedentliche Hemmungen zu überwinden haben. Auf die Arbeitszeit allein kommt es aber nicht an, es muß auch die Qualität des Dargestellten, in diesem Falle zunächst die Genauigkeit der Beobachtung beachtet werden. Die Unterbrechung des Zeichenaktes hat also nur den Zweck festzustellen, ob der Zeichner schnell und genau oder schnell und ungenau oder langsam auffaßt. Im weiteren Verlauf der Arbeit kann auch der langsame Schüler eine genaue oder ungenaue visuelle Be- obachtung zeigen. Die Gesamtarbeitszeit ist zu notieren. Die Arbeitszeit im Verhältnis zum Arbeitserfolg ergibt den Grad der zeichnerischen Begabung. Hierbei müßten auch die etwa zum Ausdruck kommenden künstlerischen Momente in der Darstellung und Auffassung des Objekts bewertet werden.

230 Paul Wischer, Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten

Um die Besserung der Leistungen durch die Übung zu untersuchen, muß das Objektzeichnen an drei Tagen mit neuem Modell wiederholt werden.

Eine zweite Gruppe von Aufgaben müßte sich auf die Prüfung des visuellen Gedächtnisses erstrecken. Das Formgedächtnis tritt, wie wir gesehen haben, in Kraft, wenn zwischen Formauffassung und Darstelhing ein längerer oder kürzerer Zeitraum liegt. Dabei gibt es drei Möglichkeiten: das Objekt kann kurz vor der Darstellung wenige Sekunden angesehen und dann sofort aus dem Gedächtnis gezeichnet werden. Zweitens kann ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs oder eine sonst bekannte Form ohne vorhergehende Betrachtung dargestellt werden. Drittens kann die Wiederholung eines vor mehreren Tagen oder Wochen gezeichneten Objekts verlangt werden, um die Dauerhaftigkeit und Treue des visuellen Gedächtnisses zu prüfen. Die zweite Aufgabe würde nachweisen, ob der Schüler auch dann zeichnerisch sieht, wenn er bei der Anschauung des Objekts gar nicht die Absicht zum Zeichnen gehabt hat. Hier hätten wir den reinsten Typ der Vorstellungsbegabung.

Als dritte Gruppe der Aufgaben blieben noch solche, die eine ideelle Verarbeitung der im Gedächtnis haftenden Formen durch die Phantasie prüfen. Hierher gehören Illustrierversuche, Entwürfe, Erfinden von Schmuck- und Zierformen und dergl.

An diese Hauptgruppen von Prüfungsaufgaben könnte sich zur Feststellung der begabtesten Zeichner noch das Zeichnen nach dem lebenden Tiermodell (Vogel, Katze, Kaninchen usw.) anschließen. Auch die Anfertigung einer Kopie ist zum Herausfinden der rein technisch Begabten nicht ausgeschlossen.

Eine solche eingehende Prüfung ermöglicht mit ziemlicher Sicherheit eine Einordnung des Begabungstyps und die Feststellung seiner zeichnerischen Berufseignung. Handgeschicklichkeit und genaue visuelle Beobachtungsgabe allein genügen für den technischen Beruf als Lithograph, technischer Zeichner u. a. Gute Vorstellungs- und Phantasiebegabung, verbunden mit künstlerischer Darstellungsform, befähigen zum Kunstgewerblichen. Künstlerische Auffassung und Darstellung, Genauigkeit der visuellen Beobachtung und Treue des visuellen Gedächtnisses und ein vollendetes Zusammenwirken von Auge und Hand bedingen den freien künstlerischen Beruf.

Überblicken wir zum Schluß zusammenfassend, woran und wie man die übernormale Zeichenbegabung erkennt: Man erkennt sie an ihrer Entwicklung und an der Art der Entstehung der Zeichnungen; man bem'teilt sie durch eine psychologisch geleitete Prüfung, ergänzt durch eine ebensolche vorausgehende längere Beobachtung. Diese Beobach- tung muß schon frühzeitig einsetzen und sich vor allem auf die freien Kinderzeichnungen erstrecken, die bereits Ansätze der übernormalen Zeichen- begabung zeigen können. Von solchen Begabten müssen deshalb Zeichnungen mehrerer Jahrgänge zu Entwicklungsreihen zusammengestellt werden. Die systematische Beobachtung würde am besten an der Hand eines psychologischen Beobachtungbogens ausgeführt, der neben allen Fragen der individuellen Entwicklung auch die allgemeine Intelligenz und die Ver- erbung berücksichtigt. Gerade die Vererbung der zeichnerischen Begabung scheint sehr häufig vorzukommen. Von 11 Kindern, die Kik untersuchte, fand er 9, deren Begabung auf direkter oder indirekter Vererbung beruhte. Häufig kommt es vor, daß eine frühzeitig erkannte Begabung plötzUch stehen bleibt, um nach Jahren erst wieder hervorzubrechen. Hier sind Gefühls-

Marx Lobsien, Ein Test zur Prüfung der Kritikfähigkeit 231

und Willensmomente oft von entscheidendem Einfluß. Nichts kann dem sich entwickelnden Talent mehi* schaden, als vernichtende Kritik, Zwang und Strafe, nichts kann andererseits mehr zu neuen Anstrengungen anspornen als die Freude am eigenen Erfolg. Lust und Schaffensfreude zu erhalten, muß deshalb die Hauptaufgabe des Zeichenlehrers sein, um dem Schüler über die toten Punkte seiner Entwicklung hinwegzuhelfen. Das Interesse am Objekt, an der Darstellungsform und ihrer praktischen Verwendung muß immer aufs neue angeregt werden. Nur so kann neben den alten Forderungen des Zeichnens, Auge und Hand zu üben, auch der Geist gebildet und schUeßhch ein Talent gefördert werden.

Ein Test zur Prüfung der Kritikfähigkeit.

Von Marx Lobsien.

Von jeher hat man die Fähigkeit zur Kritik als Merkmal der Intelligenz gewertet. „So unsympathisch der Mensch ist," sagt Stern, „dessen Intelligenz sich vorwiegend im Herausfinden von Mängeln und Schwächen bekundet, 80 ist es doch zweifellos, daß innerhalb der Gesamtheit geistiger Fähigkeiten auch diese ihren Platz hat und deshalb, wenn möglich, auch in einer Intelligenzprüfung festgestellt werden muß. Das Kritisieren ist eine höhere Stufe des Verstehens; denn jetzt genügt es nicht, das Gegebene in seinem positiven Inhalt aufzufassen, man muß es auch messen an einer im Bewußt- sein bereithegenden Norm, die sich in dem dargebotenen Stoff nicht be- friedigt findet."

Die Prüfung der Kritikfähigkeit Jugendhcher kann sich nicht an Tests genügen lassen, wie Binet sie anwandte, solchen, die nur einzelne aufdring- liche Absurditäten enthalten, die sind viel zu leicht. Es ist das Verdienst Sterns, einen Test entworfen zu haben, der nach meinen Erfahrungen auch für fünfzehn- bis achtzehnjährige Fortbildungsschüler ein ausgezeichnetes Hilfs- mittel zur Prüfung der Kritikfähigkeit darstellt. Ich habe den von Stern entworfenen schwierigeren Test^) im Auge. Er verlangt „das Herausfinden von Stellen, die objektive Kritik erfordern, aus einem größeren Ganzen". Die Stellen enthalten „offenkundige Widersinnigkeiten, die jeder ablehnen muß, der ihren Inhalt versteht. Hierdurch ist möghch, die Kritikfähigkeit der Prüflinge exakt zu vergleichen, da eine bestimmte Anzahl von sinn- widrigen Stellen gefunden werden soll, und da außerdem diese Stellen in der Schwierigkeit der Lösung abgestuft sind".

Im Stern sehen Text kommen zwölf Unstimmigkeiten vor. Der PrüfUng wird vor Erfüllung seiner Aufgabe ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß der Text Unmöglichkeiten enthalte, daß er sie möglichst alle aufsuchen und seine Kritik begründen müsse. Die Begründung geschieht schriftlich am Rande des Textes.

Zur Bewertung der Korrekturen durch den Versuchsleiter folgende Be- merkungen! Die Unstimmigkeiten wiegen verschieden schwer, auch die Be-

') Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher. Diese Zeitschr. Bd. IXX, S. 79 u. 80. Auch in dem Sonderheft: Das psychol -päd. Verfahren der Begabtenauslese. Leipzig 1918. S. 15.

232

Marx Lobsien

gründungen; so ist zu erwarten, daß nicht alle psychologisch gleichwertig sein werden; doch zeigte sich bei meinen Versuchen der erste Unterschied weitaus am wichtigsten, während die logische Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Lösung weder so viele noch so ausgeprägte Gradunterschiede aufwies, daß ihre besondere Berücksichtigung sich verlohnte. Fehldeutungen kamen bei meinen Prüflingen in so geringer Anzahl vor, daß sie ohne Schaden vernachlässigt werden konnten. So blieben für die Bewertung nur die „Treffer" und die „Auslassungen" übrig.

Die Feststellung der Schwierigkeitsunterschiede der einzelnen Widersinnig- keiten erforderte eine besondere Überlegung. Manche haben ein sogleich in die Augen springendes Schwergewicht; so wissen wir, daß die „Verwandt- schaftsverhältnisse", zumal wenn sie etwas verwickelt liegen, an den Be- urteiler hohe Anforderungen stellen. Um aber eine feinere Wertabstufung zu gewinnen, ist notwendig, in Prozenten den Seltenheitswert (im Sinne Sterns) zu berechnen. Je seltener eine Absurdität übersehen wird, desto leichter ist ihre Bewältigung und umgekehrt. Für die im Texte vor- handenen zwölf Unstimmigkeiten ergaben sich folgende Schwierigkeitsindizes*):

Nummer der Abgurdität im Text

Schwierigkeitswert . . .

ii

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

21

21

»

27

35

49

11

18

11

39

4

12 35

Der Untersuchung wurden 120 Prüflinge unterworfen, und zwar etwa 20 fünfzehn-, 30 sechzehn-, 50 siebzehn- und 20 achtzehnjährige männHche Schüler (Elektriker und Feinmechaniker) der Kieler gewerblichen Fort- bildungsschule.

Ergebnisse.

Sie zerfallen in zwei Gruppen. In der ersten prüfen wir die Beziehungen der Kritikfähigkeit zum Altersfortschritt, in der zweiten ihr Verhältnis zur Intelligenz (auf Grund der Schätzung) innerhalb der vier Altersstufen. In der ersten Gruppe begnügen wir uns mit den Feststellungen, die allein auf den quantitativen Leistungen beruhen, d. h. ohne Auswertung der qualitativen Schwierigkeitsunterschiede der einzelnen Widersinnigkeiten; die zweite Gruppe berücksichtigt sowohl die quantitative wie die quantitativ- qualitative Leistungswertung.

Kritikfähigkeit und Altersfortschritt. Das Ergebnis zeigt folgende Tabelle:

Alter

15 jährig

16 jährig

17 jährig

18 jährig

Leistung

8,56

9,06

9,36

10,17

Sie gibt die durchschnittliche Anzahl der richtig kritisierten Absurditäten auf den Kopf jeder Prüflingsgruppe an. Man sieht, wie mit steigendem Alter die Kritikfähigkeit wächst.

*) Das Maß der Schwierigkeit ist die Prozentzahl der Fälle, in denen eine Aufgabe nicht gelöst worden ist.

Ein Test zur Prüfung der Kritikfähigkeit

333

40

30

20

10

Die Verteilung der Leistungen auf die Altersstufen zeigt folgende Über- sicht, die in Prozentangaben erkennen läßt, wieviele Prüflinge auf eine gewisse Anzahl von Leistungen sich vereinigen; man erkennt also, wieviel Prozent der Schüler innerhalb einer und derselben Altersgruppe auf 3, 4 usw. rich- tige Kritiken entfallen.

Anzahl

der richtigen

15 jährig

16 jährig

17 jährig

18 jährig

Fälle

1

;

2

1

3

5,3

3,1

4

....

1,6

5

3,1

4,8

6

6,2

6,4

7

15,9

9,3

6.4

8

21,2

9,3

11,2

11,2

*>

31,8

18,1

19,2

16,8

10

i 15,9

24,8

16,0

28,0

11

! S,3

15,5

20,8

33,6

12

5,3

9,3

12,8

11,2

Ü 100,7 ! 99,2 99,2 100,8»)

Stellen wir die Werte in einer Kurve dar, dann erkennt man deutlich den Altersfortschritt jeder Gruppe: zunächst verengt sich die Kurvenbasis fort- schreitend, und zugleich wandert der Höhenpunkt der Kurve stetig von niederen zu höheren Werten fort. Bezeichnend ist aber, daß der Alters- fortschritt sich nicht ununterbrochen auf steigender Bahn bewegt. Sehen wir von den außerhalb der geschlossenen Reihen hegenden Prozentangaben 5,3 und 3,1 der Fünfzehn- und Sechzehnjährigen als Zuf auswerten ab, dann erkennen wir die geringere Kurvenbreite, also die geringere Streuung bei den jüngsten und ältesten unserer Prüfhnge. Dazu stimmt durchaus, daß die gleichen Gruppen die größten Kulminationshöhen erreichen.

j

,

1 !

i 1

\ /

^C

^ >

*

}

iy

<;^

\

J^

^

''^

\

"N

P=^

-^^

--^

f-

>

15 jährige

16 jährige

1 7 jährige

18 jährige

Wir sehen, daß die Fähigkeit zu kritischen Leistungen bei unsem Prüf- lingen von Altersstufe zu Altersstufe durchgehend um die Bewältigung einer Absurdität steigt ganz unbekümmert um das verschiedene Gewicht der einzelnen Anforderungen, die der Test steht.

') Die geringen Differenzen in den Endsummen (100) erklären sich aus den übUcben Er- höhungen.

334

Marx Lobsien, Ein Test zur Prüfung der Kritikfähigkeit

Kritikfähigkeit und Intelligenz.

Quantitative Wertung.

Die Prüflinge wurden auf Grund wiederholter sorgsamer Schätzung in Ranggruppen nach ihrer Intelligenz gebracht und dazu die Leistungen in der Kritikfähigkeit in Beziehung gesetzt. Jede Altersgruppe ward für sich ge- ordnet. Zunächst wurde jede Gruppe nach der Intelligenz in eine gute, mittlere und schwache Unterabteilung gesondert. Die Schnitte wurden so gelegt, daß die Mittelgruppe an Zahl jeder der beiden andern etwa um das Doppelte überlegen war. Jeder Gruppe ward das zugehörige Quantum der kritischen Leistungen zugeordnet. So ergab sich folgendes Bild:

Alter

gut

mittel

schwach

15 jährig

16 jährig

17 jährig

18 jährig

10,3 10,8 11,4 11,2

7,5 9,1 9,1

10,0

6,5

7,0 6,3

8,8

Durchschnitt

10,9

8,9

7,2

Eine Umrechnung auf Prozentwerte der Höchstleistung von zwölf richtigen Lösungen erübrigt sich. Man erkennt überall eine tadellose Beziehung zwischen Intelligenz und Kritikfähigkeit ^).

Qualitative Wertung.

Die rein quantitative Wertung bietet eine zu geringe Streuungsbreite, so daß sie eine verläßliche Rang-Korrelationsrechnung nicht zuläßt. Das erst erlaubt die Beachtung der Leistungsschwierigkeiten im besonderen. Wir ordnen nun nicht nach Gruppen, sondern stellen eine ausgebaute Rangreihe für jede Unterstufe auf, ordnen den einzelnen Rangplätzen die zugehörigen qualitativen Leistungen zu und berechnen nach der üblichen Formel die Rangkorrelation mit dem Fehlerwerte.

Das Ergebnis der Berechnung zeigt folgende Übersicht:

Altersstufe

15 jährig

16 jährig

17 jährig

18 jährig

Korr. w. F.

0,90 0,04

0,92 0,02

0,93 0,02

0,95 0,02

Wir finden bei sehr geringem wahrscheinlichen Fehler eine starke Korre- lation zwischen der Intelhgenz und der Kritikfähigkeit.

Damit hat sich bei unsern Versuchen der hervorragende Wert des Stem- schen Tests erwiesen.

>) Die kleinen Unterschiede in den Durchschnitten der Qaerreihen gegenüber der Tabelle S. 233 erklären sich von selber.

William Stern, Begabungsprüfungen in Fachschulen 235

Begabungsprüflingen in Fachschulen.

Von William Stern.

Prof. A. Freund, Die Gliederung nach Qualitätsklassen unter Anwendung experimenteller Methoden. Zeitschrift für angewandte Psychologie 15 (1/2), S. 69—72.

Oberlehrer E. Beger, Förderung und Auswahl Tüchtiger an der öffentlichen Handelslehranstalt zu Leipzig. Zeitschrift für lateinlose höhere Schulen. 1919. Heft 2.

Ingenieur Otto Stolzenberg, Berufseignung. Vortrag, gehalten auf der Arbeitsnachweis- konferenz der Vereinigung der Deutschen Arbeifgeberverbände in Lübeck. Berichte, Heft 6 der Vereinigung D. Arbeitgeber- Verb., Berlin. 1918.

Über die Mitarbeit der Psychologie an der Begabtenauslese sind der größeren Öffentlichkeit bisher nur solche Versuche bekannt geworden, die sich auf das allgemeine Schulwesen beziehen. Hierbei sind wie es Oberlehrer Beger im oben genannten Aufsatz ausdrückt drei Richtungen: die „Berliner", die „Hamburger" und die „Leipziger" Richtung hervorgetreten: die erste (Piorkowski undMoede) machte die endgültige Auslese allein von der Testprüfung abhängig^); die dritte (Leipzig) will in diametralem Gegensatz hierzu die psychologische Prüfung ganz ausschalten und alles dem Lehrerurteil überlassen. Die mittlere (Hamburg) strebt ein systematisches Zusammenwirken der in Schulzeugnis und Beobachtungsbogen niedergelegten Lehrerurteile mit den Ergebnissen der Test- prüfungen an.

Neben diesen Bestrebungen gehen nun aber andere, vielleicht nicht weniger wichtige einher, die besonderen Aufgaben der Begabungsauslese in Fach- schulen und für Fachschulen ebenfalls mit psychologischen Hilfsmitteln zu lösen. Über drei hierhergehörige, zum Teil an etwas abgelegenen Stellen er- schienene Veröffentlichungen sei hier berichtet, die sich auf eine Gewerbe- schule, eine Handelsschule und eine technische Lehrlingsschule beziehen. Dabei ist es interessant, daß die beiden erstgenannten Schulen in Leipzig liegen, der Stadt, die sich für das allgemeine Schulwesen ablehnend gegen psychologische Methoden verhält. Es handelt sich bei diesen beiden Schulen zunächst noch um tastende Anfänge. Die dritte Veranstaltung findet in Berlin statt; sie beruht auf dem Zusammenwirken eines Praktikers mit einem Psycho- logen und ist bereits intensiver ausgebaut.

Die öffentliche Handelslehranstalt in Leipzig hat eine Abteihing für Volksschulabgänger und eine höhere Abteilung für junge Leute aus höheren Schulen, welche den Berechtigungsschein erwerben wollen. Seit einigen Jahren sind für besonders tüchtige Lehrlinge der Volksschulabteilung Abendkurse eingerichtet worden, um sie in bestimmte Klassen der höheren Abteilung über- zuleiten. Da der Andrang zu diesen Abendkursen zu groß wnirde, erwachte das Bedürfnis, nur die wirklich über dem Durchschnitt Stehenden hineinzu- nehmen. Deshalb wurden zunächst Versuche mit Intelligenzprüfungen nach der Methode Moede-Piorkowski veranstaltet. Bei der Nachprüfung einer ganzen Klasse fand Beger eine sehr viel geringere Übereinstimmung der Testergebnisse mit der Schulrangordnung als Moede-Piorkowski; aber die Abweichungen selbst boten wichtige psychologische Anhaltspunkte zur Beurteilung der Schüler. In einem Falle war ein Schüler, der in der vorläufigen Klassenrangordnung

') Neuerdings wird auch in Berlin die Notwendigkeit anerkannt, den Beobachtungsbogen mit- hineinzuziehen.

236 William Stern

den neunten Platz halte, der weitaus beste im Test; nach einem Vierteljahr war er auch in der Klasse Primus geworden. Der Test hatte also richtig prophezeit. Bei der Auslese für die Abendkurse und bei der Überleitung in die höhere Abteilung wird jetzt „kombiniert" verfahren : es werden Zeugnisse, Beobachtungen der Lehrer, Ausfälle der pädagogischen Prüfung und Test- ergebnisse zur geraeinsamen Grundlage der Entscheidung gemacht. „Wenn wir wirklich im Laufe der Jahre dazu kommen müssen, eine strenge Auswahl der Begabten für die Abendkurse zu treffen, dann kann es meines Erachtena nur auf der Grundlage des Hamburger Systems sein. Im Vordergrund muß die Beobachtung durch den Lehrer stehen, die dann durch eine mäßige An- zahl von Tests ergänzt werden kann."

Um Angehörige der metallarbeitenden Berufe handelt es sich bei der städtischen Gewerbeschule in Leipzig. Hier sollten zu Ostern 1917 250 Schüler in 7 Klassen verteilt werden, die den Fähigkeiten entsprechend abgestuft sind; und zwar fand die Zuteilung der Schüler auf die Qualitätsklassen statt ohne Berücksichtigung der Schulzensuren, lediglich auf Grund einiger Versuche, die der Ingenieur Professor Freund gemeinsam mit dem Gewerbelehrer Herzog an den einzelnen Schülern unternahm. Hierbei wurde, dem gewählten Beruf ent- sprechend, vor allem das Raum vorstellungs vermögen und die Fähigkeit, Ursache und Wirkung klar zu erkennen, geprüft, daneben auch die allgemeine Intelh- genz und zwar mit folgenden Aufgaben: 1. Textlückenergänzung nach Ebbing- haus. 2. Entfaltungstest (aus einem mehrfach zusammengefalteten Papier wird eine Ecke herausgeschnitten; der Prüfling muß aufzeichnen, wie nach der Entfaltung das Papierblatt aussieht). 3. Umlegung von Dreiecken gegeneinander nach dem Gedächtnis. 4. Verständnis für einen kleinen einfachen Mechanismus, der keine technischen Spezialkenntnisse, sondern nur Einsicht in elementare technische Zusammenhänge voraussetzt.

Die Verschiedenartigkeit der Testleistungen war überraschend groß; die Be- wertung der Antworten wurde nach möglichst exakten Maßstäben vorgenommen, zugleich aber der individuelle Eindruck des Prüfers (ob eine Antwort zögernd gegeben, ob eine von Verständnis zeugende Zwischenfrage getan wurde usw.) mit in Betracht gezogen. Den hier angefügten Satz Freunds kann ich freilich in seinem ersten Teil nicht unwidersprochen lassen, gerade weil ich seinem zweiten Teil voll zustimme: „Ich kann sehr wohl begreifen, daß dem reinen Wissenschaftler ein derartig kombiniertes Verfahren nicht sympathisch ist; ich sehe aber keine andere Möglichkeit, um den experimentellen Methoden den Weg zu ebnen, als eine derartige Verbindung subjektiver und objektiver Beurteilung." Gerade als Wissenschaftler muß ich immer wieder betonen, daß ich nur ein solch kombiniertes Verfahren für gerechtfertigt, die einseitige ziffernmäßige Verwertung des Testergebnisses dagegen für mechanisch und deshalb verwerf hch halte; eben diese Kombination ist ja auch das unter- scheidende Merkmal der „Hamburger" von der bisherigen „Berliner" Aus- lesemethode.

Der Erfolg der GUederung in sieben Quahtätsklassen nach diesem Verfahren war verhältnismäßig günstig; die weitere Erfahrung mit den Schülern zeigte, daß nur wenige Irrtümer vorgekommen waren. Ostern 1918 wurde ähnhch verfahren, nur daß diesmal zu den eigentlichen Tests auf Wunsch des Lehrer- kollegiums Prüfungen des sprachUchen und des Rechenvermögens hinzukamen.

Begabungsprüfungen in Fachschulen 237

Ergebnis: „Die Gliederung hat sich auch dieses Jahr als erfolgreich heraus- gestellt. Wesentliche Mängel bezw. Ungleichheiten innerhalb der Klassen sind nicht hervorgetreten. Mit den besten Klassen konnte das vorgeschriebene Pensum gründlicher und wissenschaftlicher durchgearbeitet werden als mit den minderen Klassen,"

Besonders weit ausgebildet ist die psychologische Auslesemethodik bereits bei der Neuaufnahme in die Lehrlingsschulen einiger technischen Großbetriebe. BekanntHch haben solche Betriebe vAe z. B. die A. E. G.» Ludwig Loewe, die Vulkanwerft in Hamburg bedeutende Schulveranstaltungen. für den technischen Nachwuchs^); und da der Andrang zu den technischen Lehrlingsschulen um ein Vielfaches die Zahl der Aufzunehmenden übertrifft, stellte sich das Bedürfnis eines strengen Auf nähme Verfahrens ein. Wieder wurde die Psychologie zu Hilfe gerufen; aber jetzt handelte es sich nich^ mehr um die allgemeine oder die sprachlich formulierte IntelUgenz, sondern um die speziellen Teileigenschaften der technischen Begabung (zu denen freilich auch eine „technische Intelligenz" gehört). In der Werkzeugmaschinen- fabrik von Ludwig Loewe sind diese Methoden zur Auswahl des Nachwuchses für hochwertige Facharbeiter (Maschinenbauer, Dreher, Werkzeugschlosser usw.) gemeinsam von dem Leiter der Werkstättenschule, dem Ingenieur Stolzenberg, und dem Psychologen Otto Lipmann ausgearbeitet und angewandt worden; bisher liegt nur ein vorläufiger Bericht aus der Feder des Erstgenannten vor. Geprüft woirden die folgenden Tätigkeiten, und zwar jede in einer Reihe

von Tests: Schätzung von Raumgrößen (z. B. des Durchmessers eines Kreises, eines

Bolzens). Augenmaß (z. B.: Strecken freihändig in 3 gleiche Teile teilen). Feinheit desTastsinns (z. B. : Ordnen von Blechen nach ihrerDicke, von Schrau- ben nach ihrer Gängigkeit). Optisches Erkennen kleiner Fehler (z. B. Unebenheiten oder Abweichungen

von der Rechtwinkligkeit bei prismatischen Klötzen). Konstruktive Raumphantasie (z. B.: Wie muß die Figur durch I j einen Schnitt zerlegt werden, damit die Teile zum Quadrat j j

zusammengesetzt werden können? Ähnliches mit schwereren I '■

Aufgaben). Optische Vorstellungsfähigkeit (z. B.: Wieviel Diagonalen hat ein Würfel?

ein Fünfeck?)

Erkennen und Unterscheiden von Einzelheiten (z.B.: 10 einander ähnliche

Blechstücke mit 3 charakteristisch gruppierten Löchern; welches Stück

entspricht einer vorgelegten Zeichnung?)

Verständnis für ein Getriebe mit mehrfacher Riemenübertragung (z. B. : Wie

muß sich Rad b drehen, wenn Rad a im Uhrzeigersinne gedreht wird?)

Sorgfalt des Arbeitens (z. B. : Ein Etikett genau auf die Mitte eines Deckels

kleben.) Natürliche Intelligenz (Schloß mit 12 Schlüsseln; möglichst schnell den richtigen finden. Der Intelligente scheidet von vornherein die unmöglichen Schlüssel aus.) Reaktionsschnelligkeit.

*) Nach Stolzenberg gibt es in Deutschland 70 solcher Werkschalen.

238 William Stern, Begabungsprüfungen in Fachschulen

Die Prüfungen, die für jeden Prüfling 1 1/2 Stunden dauern, sind bisher an etwa 500 Jugendlichen angestellt worden. Die Ergebnisse werden als sehr befriedigend bezeichnet; die Übereinstimmung zwischen dem Prüfungsausfall und der inzwischen anderweitig festgestellten Berufseignung wird von Stolzen - berg geradezu verblüffend genannt. Nähere Belege wird man abwarten müssen; auch sind die Methoden im Einzelnen sicher noch verbesserungsbedürftig und -fähig. Immerhin darf man jetzt wohl schon so viel sagen, daß die technische Begabung wegen ihrer deutlichen Abgrenzung ein besonders aussichtsvolles Gebiet der experimentellen Ausleseprüfung darstellt.

Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung

des Kindes.

Von Karl Bergmann.

CSchluß.)

Wortschöpfung.

Es handelt sich in diesem zweiten Hauptabschnitt um Wörter, die das Kind selbständig prägte. Diese Neuschöpfungen teilen wir in zwei Gruppen ein.

1. Das Kind hört Wörter, versteht ihren Sinn und prägt nun nach dem Muster dieser Ausdrücke seine eigenen Wendungen (Analogiebildungen). Auffallend groß ist die Zahl der eine Steigerung ausdrückenden und auf einem Vergleich beruhenden Zusammensetzungen. Der Knabe hörte die Ausdrücke „riesengroß, mausetot, rabenschwarz", faßte die Wörter richtig als Steigerungen von „groß, tot und schwarz" auf und bildet nun darnach die folgenden Wendungen:

riesenblau (5/10) raauseglatt (7/4) , mausesatt (9/8)

riesenklein (6) mauserot (7/9) rabenhell (9/8)

riesendunkel (6) mausetrüb (9/2)

Eine so eigenartige Bildung wie rabenhell findet eine hübsche Parallele in dem elsässischen kridefinster = sehr finster (gebildet nach kreideweiß = sehr weiß).

Von weiteren Analogiebildungen erwähne ich:

nachhin kommt er (4/10) [gebildet nach vorhin] zufünft (6/11) [nach zuerst] (d. h. als fünfter) ungescheit (7/9) [nach den Eigenschaftswörtern mit un-] ich bin überatmet (7/9) [nach überangestrengt?] eisig warm (M. 7/10) [nach eisig kalt] schlüssig (für fertig) (7/6) [nach fertig]

2. In allen diesen Fällen hat das Kind immerhin ein Vorbild, nach dem es seine eigenen Wörter formen kann. Anders verhält es sich mit den nachfolgenden Prägungen. Hier schafft das Kind viel freier, denn diese Wörter lehnen sich nicht an irgendwelche Vorbilder an, nach denen sie lautlich geformt werden, sondern sie entstehen ledigUch auf Grund der Beobachtung, der Überlegung. Die Beobachtung kann nun zu folgenden Arten der Namengebungen führen.

a) Die Namengebung erfolgt auf Grund eines Vergleiches, der sich auf die Ähnlichkeit von Gestalt, Farbe, Bewegung, Zweck bezieht; das Kind sieht z. B. ein längeres gedrucktes oder geschriebenes Wort, die einzelnen

Bergmann, Beiträge zur Untersuch, der sprachl. Entwickl. des Kindes 239

Buchstaben erscheinen ihm wie die Wagen eines Eisenbahnzuges aneinander gereiht, und so ist dies längere Wort für das Kind eine Eisenbahn (M. 2/8; ; weitere Beispiele dieser Art sind:

eine größere Menge von Leuten = dat (d. i. Soldaten) (2)

ein Pilz = ok (Stock) (2/1)

ein Geigenbogen == ok (Stock) (2/1)

ein Globus = ball (2/1)

ein Käfig = haus (2/1)

irgendeine Schrift = abd (2/2) (d. i. abc [vgl. 1. gl)

Hauch = rauch (4/3)

eine Briefmarke = pflästerchen (4/3)

ich bin in den Schmutz getreten = ich bin in den schwein getreten (5/6)

wir (die Kinder» sind durcheinander (nicht in Reih und Glied» gegangen = wir sind krumpelig gegangen (M. 5/9) (vgl. auch: der Himmel ist krumpelig von wölken [7/2])

da gibts eine Menge von Blumen, von Tannäpfeln = da wirbelts von blumen, von tannäpfeln (8/10): zugrunde liegt ein Vergleich mit einer großen Zahl in der Luft uraherschwirrender Kohlweißlinge, bei deren Anblick der Knabe ausrief: da wirbelts von Schmetterlingen; als er am Abend des gleichen Tages auf der Wiese viele Blumen und im Walde auf dem Boden viele Tannäpfel sah, rief er wieder: da wirbelts von bl., von t.

ein grüner Lampenschirm = hadda (d. i. Blume) (l/ll)

zeichnen = d"eiba (schreiben) (2/5)

aufhören = bett (z. B. d^eiba bett «— der Papa soll mit dem Schreiben aufhören) (2/5)

b) Die Dinge werden nach auffallenden Eigenschaften benannt: Kasta- nien = stacheln (?), Herd = hei[ß] (2/1).

c) Die Gegenstände werden nach dem Zweck benannt, dem sie dienen: Bilder zum Ausschneiden sind lachbilder (M. 5/11), weil sie zum Lachen

dienen sollten; ein Güterzug ist ein kofferzug (M. 5/6), während ein Personen- zug ein menschenzug (M. 5/6) ist; ein schönes Wort prägte das Mädchen im einkehrhaus (M. 7/5) für Wirtshaus, „Restauration". Eine grüne Schreib- unterlage ist ein grüner fleckenhalter (M. 5/10), „weil man doch auf ihr Tinten- flecken mache".

Auch eine Anzahl von Personenbezeichnungen kann hier eingereiht werden: Der Landsturmmann mit dem Gewehr, der die Kriegsgefangenen bewacht, ist der stechermann (M. 5/6), der Baumeister ist ein bauermann (5/10), der „Installateur", der die Lampen besorgt, ist der lichtmann (6/5); ein Ohren- arzt ist ein ormacher (6/3). Neben diesen Berufsbezeichnungen seien noch folgende Personenbenennungen erwähnt, wenn sie auch nicht völlig in diesen Zusammenhang gehören: der Knabe, der bei einem bestimmten Spiel den Schluß bildet, ist der Schlußmann (6/11); weil es beständig in das Schlaf- zimmer geht, nennt sich das Mädchen selbst eine schlafzimmerin (M. 5/6), und als der Knabe einmal schneidert und an einem Band näht, ist er ein schneidherr (M. 5/10).

3. In den nachfolgenden Fällen sind die Bezeichnungen der Gegenstände dem Kinde wohl bekannt, aber es schafft trotzdem neue Wörter, in denen noch deutlicher der Zweck dieser Dinge im Gegensatz zu andern Dingen ähnlicher Art zum Ausdruck gelangt: so erscheinen die Hosen als oberhosen (6/7), der Vorhang ward zum obervorhang (M. 7/5) im Gegensatz zum sog. Store; wenn der Rucksack als hintersack (4/5) bezeichnet wird, so braucht die Benennung nicht aus dem Gegensatz heraus geschaffen zu sein, sondern es wird lediglich die Angabe des Ortes vorhegen.

240 Karl Bergmann

4. Wie der Mann aus dem Volke unverständliche Wörter sich mundgerecht zu machen sucht und die sog. „Volksetymologien" schafft, so begegnen wir natürhch auch in der Kindersprache solchen Umdeutungen. Ein Zünd- plätzchen wird zum zimmetplätzchen (M. 5/6), der Himbeersaft wird zum himbeerfaß (M. 4/10 ?), allerdings kann auch nur eine Wortverdrehung hier vorhegen; aus Badewanne wird badewand (M. 5/6), und die Ringelnatter wird zur schhngelnatter (9/5). Eine hübsche Umdeutung ist apfelkose aus Aprikose (5/11); der Städtename Gastein wird zu gastanien (7/9), der Personenname Moritz zu morfritz (M. 3/9); Thermometer verwandelt sich in teometer (7/2), wozu wohl der dem Kinde geläufige Name Theo beigetragen haben mag, und aus der Telegraphenstange macht der Knabe zu einer Zeit, als er viel vom Phonographen hört, eine phonographenstange (7/9).

5. Eine ergiebige Quelle für Neuschöpfungen bietet die Verschmelzung zweier Wörter, bezw. Wortbestandteile:

fein -j- wunderschön = wunderfeinschön (5/2)

abkaufen -f verkaufen =. abverkaufen (5/2) (der Onkel muß mir etwas ab- verkaufen)

ansehen + betrachten = anbetrachten (5/6)

Briefbogen -{- Papier = briefpabogen (6/8)

durchgehen + davonlaufen = durchlaufen (7/4) (das ist aber zum durchlaufen)

glattbahn (9/3) aus Glatteis + Eisbahn? überredet (6/11) (ich habe es schon mit der Christel überredet) aus verabredet und überlegt?

6. In den von Dingwörtern abgeleiteten Zeitwörtern besitzt die Sprache ein vortreffliches Mittel knappster und anschaulichster Ausdrucks- weise; man vergleiche Flöte : flöten, Gabel : gabeln; Kugel : kugeln; Löffel : löffeln; Tafel : tafeln; Wurm : wurmen usw. Außerordentlich reich an solchen Bildungen sind die Mundarten, besonders die oberdeutschen; vgl. eis. köpfle = kopfüber ins Wasser springen, lipple = saufen (v. d. Katze), straßen = auf der Straße plaudern usw. Auch aus meinen Beobachtungen kann ich ein Beispiel dieser Bildungsweise anführen: er baucht = er liegt auf dem Bauch (M. 5/6; vgl. oben eis. köpfle).

7. Eine bemerkenswerte Übertragung der Sinneseindrücke hegt in dem Satze vor: der Bub spricht so dunkel (6/6); hier wird die Bezeichnung für einen Lichtgrad auf den Klang der Stimme übertragen. Vgl. schrift- sprachlich „eine dunkle Stimme".

8. Bei den drei Beispielen dieses Abschnittes handelt es sich weniger um Wortschöpfungen, mit deren Hilfe das Kind Gegenstände bezeichnet, als um Ausrufe, die durch den Anblick bestimmter Dinge oder das Hören bestimmter Töne bei dem Kinde ausgelöst werden. Wenn ich sie doch hier in diesem Zusammenhang bringe, so geschieht dies deshalb, weil ich an ihnen zeigen will, wie Wörter entstehen können. Nach Weihnachten gebrauchte der Knabe beim Anblick des Christkindes (z. B. in seinem Bilderbuch) immer das Wort hon (= Salon) (2/3); im Salon hatte nämlich der Christbaum gestanden, an dessen Spitze ein „Christkindchen" befestigt war; der Anblick des Christkindes erweckte die Erinnerung an den „Salon" (hon) mit seinem Weihnachtsbaum. Noten riefen bei dem Knaben den Ausruf Schneemann (2/2) hervor: sein Großvater hatte das Kinderliedchen „der Schneemann« vertont, die Noten in das Bilderbuch neben das Bild des Schneemannes ein- getragen und das Lied mit dem Kinde oft gesungen; Noten waren dann für

Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes 24-1

den Jungen einfach Schneemann. Als im Sommer das Eis gebracht wurde, schellte der Eismann, und das Dienstmädchen holte mit dem Knaben das Eis am Haustor; noch lange darnach brach der Knabe beim Schellen in den Ruf aus: ei(s) (2/2). Wir sehen, wie ein Gegenstand oder ein Vorgang die Erinnerung an irgend etwas, das mit ihm einst in Beziehung stand, e^v^^eckt und wie diese Erinnerung dann auch sprachlich zum Ausdruck gelangt (Christkind : hon; No- ten : Schneemann; schellen : ei[s]). Dieser Ausdruck kann unter Umständen, wenn der Gegenstand bzw. der Vorgang fortwährend von den kindlichen Sinnen aufgenommen wird und dadurch die Erinnerung an die Beziehungen auch fort- während im kindlichen Bewußtsein auftaucht, sehr wohl zur stehenden Bezeich- nung werden. Wir können uns sehr gut vorstellen, daß sich im Wortschatz des Kindes die Benennungen hon, Schneemann, ei[s] für Christkindchen, Noten und schellen festsetzen, mindestens so lange, als das Kind nicht die richtigen Bezeichnungen von seiner Umgebung kennen lernt.

Grammatisches. Ich beschränke mich in diesem Abschnitt auf die Darstellung des Zeitworts, der Präposition, der Steigerung, der Satzbildung und der Verneinung:

1. Das Zeitwort.

a) Analogieformen:

ich sieh [nach du siehst usw.] (M. 3/6) du stohlst [nach gestohlen] (6 5)

diese sachen gillen nicht mehr [nach es sprich doch! (Aufforderung des Erwach- gilt usw.] (M. 5/6) senen) Ich habe gesprichen (5) (Ant- ich hab getu [nach tun usw.] (4/9) wort des Kindes)

das auto hat stillgehalten [nach er hält wer war denn da? (Frage des Erwach-

usw.] (4/5) senen) Wer soll denn da waren? (5)

ich hab abgereisst [nach abreissen] (4/5)' (Antwort des Kindes)

Die beiden letzten Beispiele zeigen, wie die Analogieformen unmittelbar durch die vorangehenden Fragen hervorgerufen werden. Solche unmittelbare Beeinflussung ist auch für den Satz: ich hab dich schon hingelegt (4/5) für „ich habe mich schon hingelegt" anzunehmen, denn er erfolgte auf die Aufforderung des Erwachsenen: leg dich doch hin! Auch der Ausruf: wie freue ich dich (4/3) statt „wie freue ich mich" wird darauf zurückzuführen sein, daß das Kind zwar genug Gelegenheit hat, von seiner Umgebung das Reflexivpronomen in allen Personen zu hören, daß aber zunächst die 2. Person Einzahl ganz besonderen Eindruck auf das Kind macht; denn diese hat in oft gestellten Fragen und Aufforderungen wie z. B. freust du dich? leg dich doch hin! Beziehung zu seinem eigenen Leben, wird daher eher von ihm aufgefaßt und angewandt als die erste bzw. dritte Person.

b) In den zusammengesetzten Zeiten tritt zunäcÖst der Infinitiv an die Stelle des Partizips der Vergangenheit:

bub hat heraufgehn (4) = der Bub ist heraufgegangen bub hat tun (4) = der Bub hat getan bilde hat mitgehn (4) Hilde ist mitgegangen die bilde hat bub hauen (4) = der Bub hat die Hilde gehauen ich habe nicht trinken (4) = ich hal>e nicht getrunken bilde hat mit fritz mitgehn (M. 2/11) -= Hilde ist mit Fritz [mit]gegangen Bald stellen sich jedoch die richtigen Bildungen mit ge- ein: das auto hat stillgehalten (4/5) ich hab getu (4/9) ich hab geeten (4/9), ge-

ich hab abgereißt (4/5) sie hat hingefallen (?) essen (5/1)

Zeitschrift f. padagog. Psychologie. 16

242 Karl Bergmann

c) Als Hilfszeitv/ort für die zusammengesetzten Zeiten wird haben statt sein gebraucht in den folgenden Fällen:

bub hat heraufgehn (4) bilde hat mitgehn (4) sie hat hingefallen (4)

2. Die Präposition.

Als das Kind anfing, in seinen Sätzen Präpositionen zu verwenden (vgl. unten 4: Satzbildung), stößt die Wahl der richtigen Präposition zunächst auf Schwierigkeiten; eine Lieblingspräposition ist „in", die unterschiedslos für „auf und „unter" gebraucht wird:

in den markt gehn (4) n das bett stellen (4) = unter das Bett

das Schaukelpferd in die erde tun (4) ler onkel sitzt in erde (M. 2/11)

3. Die Steigerung.

Das Kind steigert regelmäßig: ich hab es im gernsten (6/5), guter (4/5), ich habe gutere äugen wie der papa (M. 5/6). Der Komparativ von groß wird gebildet als: mehr groß (4), höher groß (4) (ich will noch höher groß sein). Wie der Erwachsene für das jetzt ganz abgeblaßte „sehr" gerne zu stärkeren Ausdrücken greift, so findet auch das Kind häufig ein treffliches Mittel, einen besonderen Stärkegrad anschaulich zu bezeichnen. Da ist nicht allein der Teller hochvoll (6/9), sondern der papa ist in himmi groß (4), d. h. bis in den Himmel groß, und auf die Frage „wie lieb hast du mich denn?" erfolgt nicht etwa die farblose Antwort: „sehr lieb" oder „so lieb" (unter entsprechenden Armbewegungen), sondern das überraschende bis nach Rußland (M. 4/10); das Mädchen hat offenbar einmal von Rußland (die Antwort erfolgte im Kriegsjahr 1915) als einem unermeßlich großen Land gehört, und so wird Rußland für das Kind geradezu zu einem Gradmesser. Auch Dingwörter werden gesteigert: ist das viel radauer? (6/3?) (d. h. macht das noch mehr Lärm; radau wird von dem Kind adjektivisch = laut, lärmend aufgefaßt) und: es wird immer nächter (9/3) (d. h. es wird immer dunkler; nächler Komparativ von nacht). Eine Verschmelzung von Komparativ und Superlativ zeigt die Wendung: ich hab den völlsteren teller (6/4).

4. Die Satzbildung,

1. ak (d. i. Schnake) (1/10): mit diesem Wort fcfrdert mich der Knabe unter den ent- sprechenden Schlagbewegungen zum Schnakenfangen auf.

2. baba dada auto (1/10) = Papa soll mit mir fortgehen und Auto (d.i. elektrische Bahn, fahren; beim Aussprechen des Satzes deutet der Knabe auf meinen Hut und Stock.

3. danne hei (2/1) = die Kanne ist heiß.

4. butt obaba heiaheia (2/2) das ist kaputt, der Großpapa soUs heilen.

5. dida gang (2/3) = die Christel wäscht den Gang auf.

6. dida gang (2/5) = die Christel ist auf dem Gang.

7. baba "äde (2/5) = Papa soll lesen.

8. baba "äde (2/7) = Papa liest.

9. wäg hin neue bilderbuch (2/5) = das Bilderbuch soll weggelegt werden, und zwar auf den Platz, wo es gelegen hat (er deutet auf den betr. Platz); er will dann das neue, d. i. ein anderes Bildeibuch haben.

10. mama dommi dobi (2/5) ^ die Mama soll zum Bubi kommen,

11. d"eiba bett (2/5) = der Papa soll mit dem Schreiben aufhören.

12. buch haba (2/5) = ich will das Buch haben.

13. baba an (2/5) = der Papa soll sich anziehen.

14. baba au (2/5) = der Papa soll sich ausziehen.

15. baba nein an (2/7) = der Papa soll sich nicht anziehen,

16. nein hihi bad bub bad (2/7) = Hilde soll nicht baden, der bub wiU baden.

17. guguk mei dimmi (2/7) = wir wollen Guckguck in deinem Zimmer spielen (wegen mei dimrai == dein Zimmer vgl. weiter unten: Verschiedenes 1).

18. wida dun (2/7) = ich will es nicht wieder tun.

19. baba essen kommen (4) = Papa, du sollst zum Essen kommen.

20. baba kann bub auch hauen (4) = der Bub kann den Papa auch hauen.

Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes 243

21. die bilde hat bub hauen (4) = der Bub hat die Hilde gehauen.

22. mama mach doch der Laden auf (4) = Mama, mach doch den Laden auf.

23. kann bub der baba brauchen? (4/3) = kann der Papa den Bub brauchen?

24. bub will doch sehen wasser abläuft (4/3) = der Bub will doch sehen, ob das Wasser abläuft.

25. will mal sehen regnet (M. 31 = ich will mal sehen, ob es regnet.

26. das kann ich vorbeipflücken (4/5) = das kann ich im Vorbeigehen pflücken.

Was die Satzbildung, anlangt, so konnte ich vor dem Ende des 2. Lebens- jahres keine Äußerungen feststellen, die den Namen eines Satzes in gramma- tischem Sinne verdienten. Beispiel 1 stellt einen sogenannten „Einwortsatz" dar, während alle übrigen Beispiele aus mehreren Wörtern bestehen. Im dritten Lebensjahr iiberwiegen die Zweiwortsätze. Im einzelnen sind folgende Feststellungen zu machen, die sich auch mit den Mitteilungen anderer Beob- achter decken. Das Zeitwort macht die größten Schwierigkeiten; in \'ielen Fällen fällt es ganz weg (vgl. 1, 3, 5, 6, 9, 13, 14, 15, 16, 17), und die Sätze beschränken sich auf Substantiv, Adjektiv, Adverb und besitzanzeigendes Fürwort. Wird ein Zeitwort gebraucht, so geschieht dies in den drei ersten Lebensjahren nur in der Infinitivform (vgl. 7, 8, 10, 12, 18); die Imperati- vische Bedeutung des Infinitivs erhellt aus Beispiel 7, 10 und 19. Erst Bis das Kind vier Jahre alt ist, kann die Verwendung der Gegenwart, des Perfekts und des Imperativs beobachtet werden, wobei aber für das Partizipium immer noch der Infinitiv eintritt (s. 21 und oben Ib, wobei allerdings das Beispiel bilde hat mit fritz mitgehn (M. 2 11) schon in das Ende des dritten Lebensjahres des Mädchens fällt). Beachtenswert sind die Satzpaare 5/6 und 7/8 mit ihrer verschiedenen Bedeutung. Auch der Artikel tritt erst spät auf (vgl. 21, 22, 23, aber wieder 20, 24). Die Beispiele 20 23 zeigen eine entwickeltere Satzbildung, lassen aber noch die Fähigkeit vermissen, durch die Stellung den Nominativ und Akkusativ klar auseinanderzuhalten, so daß, da auch der Artikel fehlt, die Sätze zweideutig werden (s. 20, 21); als der Artikel auftritt, wird der Nominativ für den Akkusativ gesetzt (22). Die Sätze 24 und 25 sind die ersten Beispiele eines aus Haupt- und Nebensatz bestehenden Satzgefüges, jedoch fällt die den Nebensatz einleitende Konjunk- tion aus. Eine eigenartige Zusammenziehung haben wir in Satz 26, für den auch das Auftreten des persönlichen Fürv^^orts „ich" erwähnenswert ist.

5. Die Verneinung.

Die Beispiele 15 und 16 des vorigen Abschnitts zeigen die Verwendung von nein als Verneinungswort für „nicht" (2 7). Aus späteren Lebensjahren führe ich folgende Beispiele für die Verneinung an:

warum gibts immer nicht samstags kuchen? (4/3) = w. g. nimmer (d. h. niemals) S. K. ? immer bringt die Christel ihren teller nicht (4/5) =• die Chr. br. nimmer (d. h. niemals) L T. der mann geht zu nirgends jemand (6/11) = der Mann geht zu niemand, heut macht kein papa keinen laden auf (4 5) = heut macht der Papa keinen Laden auf.

Die drei ersten Beispiele zeigen die Neigung des Kindes, an Stelle der zusammengezogenen schriftsprachlichen Verneinungen die einzelnen Bestand- teile, den bejahenden und den verneinenden, auseinander zu halten. Mit dem kindUchen immer nicht ist nimmer = ahd. ni + eo mer zu vergleichen, und neben nirgends jemand ist niemand = ahd. nie -h eoman zu stellen. Der letzte Satz zeigt doppelte Verneinung.

16*

244 Bergmann, Beiträge zur Untersuch, der sprachl. Entwickl. des Kindes

Verschiedenes.

1. In dem Satze guguk mei dimmi = wir wollen G. in meinem Zimmer spielen meint der Knabe mit mei dimmi nicht etwa sein eigenes Zimmer, sondern „Papas Zimmer". Wenn das Kind mich aufforderte, in meinem Zimmer mit ihm Guckguck zu spielen, so hätte er also richtig sagen müssen: guguk dei dimmi. Der Ausdruck mei dimmi kam daher, daß ich oft sagte: wir wollen in meinem Zimmer G. spielen, und diese Absicht dann» auch immer ausführte. So wurde für das Kind mei dimmi gleichbedeutend mit „Papas Zimmer".

Das Versprechen: ich will es nicht wieder tun kleidet der Knabe in die Worte wida dun. Diese eigentümliche Wendung kommt daher, daß er oft die Ermahnung hörte: das darfst du nicht wieder tun; er empfindet wohl, daß dies eine Formel ist, die ihm etwas verbietet, und wendet sie nun auch seinerseits als Versprechen, etwas nicht wieder zu tun, an. Faßt er so diese Worte ihrer gesamten Bedeutung nach auch richtig auf, so ist er doch noch nicht imstande, den Sinn der Einzelworte zu erfassen, und er beschränkt sich auf die Wiedergabe der ihm besonders ins Ohr fallenden zwei letzten Wörter (vgl. Lautgestaltung 2 b).

Beide Beispiele beweisen, wie eine Wendung ihrer Gesamtbedeutung nach schon verstanden werden kann, ohne daß die Bedeutung der die Wendung bildenden Einzelworte klar ist.

2. Einzelne Redensarten legen unwillkürlich den Vergleich mit fremden Sprachen nahe; ich führe folgende an:

das ist mehr groß (4) [vgl. frz. plus grand].

ich will mal sehen, wer strenger ist (6/U), d. h. wer stärker ist [vgl. engl, stronger].

mal doch all der ofen (M. 5/2), d, h. den ganzen Ofen [vgl. engl, all the . . .].

das kostet teuer (M. 6/2) [vgl. frz. cela coüte eher].

großmama geht zu sich (M. 7), d. h. . . . geht nach Hause [vgl. frz. . . . va chez eile].

3. Beispiele für Pleonasmen:

ich habe bloß nur zwei (5/2).

kapellekirche (6/8).

bilde trinkt (?) das wasser ganz all (M. 3).

4. Welch eigentümliche Vorstellungen das Kind mit gewissen Wörtern verbindet, mögen folgende Beispiele zeigen:

Hilde (der Name des Mädchens) fragt, wo ihr Bruder wäre; man sagt ihr, er sei bei der Großmutter „eingeladen"; da fängt sie laut zu weinen an. Endlich stellt sich die Ursache des Schmerzes heraus; sie fragt nämlich, ob nicht wieder die Läden aufgemacht würden; sie hat offenbar „einladen" als „die Läden zumachen" aufgefaßt, und glaubte nun, ihr Bruder müsse lange im Dunkeln sitzen (3/6).

Hilde hört, daß das Evchen verreist ist; sie fragt: da geht sie doch nicht kaputt? (3/6).

Hilde hört viel vom 18. Oktober und der Leipziger Schlacht sprechen (Erinnerungsfeier 1913): sie fragt dann mehrmals: schlacht ich heut leib? (3/6).

Als vom Totenfest gesprochen wird, fragt der Knabe, ob da die Leute tot gemacht werden (5/1).

R. Prantl, Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 2'4ö

Die Untersuchung der Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs.

Von Rudolf Prantl.

Inhalt.

I. Das Hauptproblem 245

a) Binets Versuchsanordnung 245

b) Abänderungen beim Nachversuch 247

II. DerNachversuch 248

a) Reizlinienbereich 248

1. Die erste Spalte 248

2. Die zweite bis fünfte Spalte 251

b) Fallenbereich 254

c) Suggestibilitätskoeffizient-en 257

1. Herleitungen 257

2. Ihre Beziehungen zueinander 258

3. Ihre Beziehungen zur Anzahl der vermiedenen Fallen . . 263

d) Richtung und Schnelligkeit der Suggestionswelle. Das Problem

der vor- und rückläufigen Bewegung 266

e) Normalform des Binetschen Versuches . 238

f) Maß der Ablenkung des (ersten) Leitgedankens 269

III. Der Gegenversuch 270

a) Versuchsanordnung 270

b) Reizlinienbereich 271

c) Fallenbereich 274

d) Suggestibilitätskoeffizienten 274

IV. Übersicht, Ergebnisse, Probleme 277

I. Das Problem.

a) Binets Versuchsanordnung. Binet stellte sich in seiner Arbeit „La suggestibilite" (Paris 1900) die Auf- gabe, die Suggestibilität einer Person zu bestimmen, ohne von der Hypnose Gebrauch zu machen. In der richtigen Erkenntnis, daß der Erfolg bei Täu- schungsversuchen zum Hauptteil von der Suggestionskraft des Experimen- tierenden abhängt, mithin bei derartigen Experimenten eigenthch mehr diese Ej-aft als die Suggestibilität der Vp. untersucht wird, fahndete er nach Me- thoden, die den Einfluß des Experimentators möglichst ausschheßen. Die Suggestion sollte zu einer „unpersönhchen" oder besser „entpersönlichten" (depersonnalisee, S. 87) werden, nur mehr aus der Art des eigentlichen Versuchsstoffes herausquellen. Dies erreicht man im allgemeinen dadurch, daß man die Vp. eine Aufgabe ausführen heißt, die dazu angetan ist, dem Individuum einen Leitgedanken (une idee directrice, S. 86) aufzudrängen, der als Autosuggestion die Reaktionen auf die Versuchsmaßnahmen beein- flußt. Zeigt man etwa einer Vp. nacheinander und getrennt mehrere Linien von wachsender Länge, so entsteht bei einiger Aufmerksamkeit (die als selbst- verständlich vorausgesetzt werden darf) der Leitgedanke: „Die Linien werden immer größer", der die Vp. verleiten kann, in der nächsten noch gar nicht gesehenen Linie eine größere als die eben gesehene zu vermuten. Hierauf baute Binet zwei Methoden, wovon die erste in dieser Abhandlung genauer betrachtet werden soll. Er benützte Linien, die eine arithmetische Reihe bil- den, deren Differenzen also konstant und zwar 12 mm sind.

246 Rudolf Pranti

Zuerst hatte er vor, einer geometrischen Reihe sieh zu bedienen, so daß die Längen in konstantem Verhältnis zueinander gestanden wären, wonach ge- mäß dem WeberBchen Gesetze auch die Schätzungsschwierigkeit die gleiche geblieben wäre. Aber er stand aus dem Grunde hiervon ab, weil eine geo- metrische Reihe doch bedeutend mächtiger anwächst und, falls das An- wachsen unterbrochen wird, diese Unterbrechung viel zu sehr auffallen mußte, was nicht im Interesse des Versuches lag. Der Kniff beruht nämhch darin, daß nach einer Folge von 5 Linien (12, 24, 36, 48, 60 mm) mit viermahgem Anwachsen (um je 12 mm) plötzlich eine Falle auftritt, indem die 6. Linie der 5. gleich ist. In diesem Augenblick steht die Vp. unter der Einwirkung zweier seelischen Strömungen. Die eine drängt, falls die Falle erkannt wurde, auf Konstatierung deren Anwesenheit, die andere verleitet in dem empirischen Bewußtwerden des Wachstums aller bisherigen Linien zu dem Irrtum, es fände auch diesmal ein Anwachsen statt, ein Irrtum, der durch die Größe der nächsten tatsächlich wieder anwachsenden Linie bekräftigt wird, so daß als Linie 8 wieder eine Falle eingesetzt werden kann usw., wie Tafel 1 angibt.

Tafel 1.

Linienfolge

Länge

Linienfolge

Länge

1

12 mm

7

72 mm

2

24

Falle 8

72

3

36

9

84

4

48

Falle 10

84

6

60

11

93

Falle 6

60 ,.

Falle 12

96

Natürlich darf die Vp. nicht wissen, daß man mit ihr Suggestionsversuche anstellt. Deswegen gibt man ihr ein ungenaues, indifferentes Ziel, vielleicht die Mitteilung, daß es sich um die Prüfung des Schätzungsvermögens handle oder um die Untersuchung, mit welcher Genauigkeit gezeigte Linien nach- gezeichnet werden u. dergl. Die Modellinien selbst zog Binet mit Tinte 1 mm dick auf einem langen weißen Papierbogen parallel unter einander in Ab- ständen von 2 cm, mit Zwischenräumen also, die genügten, um eine Linie für sich zu zeigen, während die anderen verdeckt waren. Das 14 cm breite Papier wurde platt auf den Tisch gelegt, derart, daß die Vp. es in einer Ent- fernung von 50 cm horizontal sah. Um jeweils eine Linie freizugeben, legte Binet auf den beschriebenen Modellbogen zwei undurchsichtige Papierblätter mit einer als Spalte dienenden Entfernung, die dann nur verschoben werden mußten, um eine Linie nach der anderen unter Verhüllung der nachfolgenden und vorausgegangenen zu zeigen. Nach Besichtigung der betreffenden Linie ward dieselbe sofort zugedeckt und wurde nicht mehr gezeigt, damit eine nachträgliche Kontrolle und Korrektur ausgeschlossen war, worauf übrigens die Vp. zuvor aufmerksam gemacht worden war. Nach der Reproduktion der Linie wurde die neue enthüllt und zwar erst jetzt, um anzudeuten, daß eine neue Linie darankäme. Von einer Darbietung zur nächsten sollten etwa durchschnittlich 7 Sek. verfließen, weswegen zu langsame Vpn. ermun- tert, zu schnelle etwas zurückgehalten wurden. Während aller Versuche richtete Binet an die Vp. einige Plauderworte indifferenten Inhalts, etwa: „Nun kommt die 3. Linie, jetzt die nächste", um die Aufmerksamkeit wach zu halten»

Zur Reproduktion der Linien stand der Vp. Quadratpapier zur Verfügung, also Papier mit aufgedruckten, graublauen, aufeinander senkrecht stehenden

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 247

Linien in Entfernungen von 4 mm. Die Bogen maßen 20 cm zu 15 cm; beim 1. cm am linlcen Rand war ein Punkt mit Tinte angemerkt, von dem aus die gezeigte Linie dargestellt werden sollte. Hierzu war nicht die ganze Linie auszuziehen, sondern nur deren anderes (rechtes) Ende diu-ch einen weiteren Punkt oder kurzen Strich anzudeuten. Es war also der linke An- fang und die Richtung der Linie schon gegeben, vorgeschrieben, das rechte Ende gesucht. Alle Linien sollten von der angegebenen Marke an reprodu- ziert werden, was in der Ausführung nur darauf hinaushef, daß vom ersten (gegebenen) Punkte an weiterhin in Abständen von 12 mm je ein Punkt ab- zusetzen war, mit Ausnahme bei den Fallen, wobei je zwei Punkte zusam- menfielen. Damit sollte die Aufmerksamkeit mehr auf die Differenzen, als auf die absoluten Längen der Linien gelenkt werden. Das Ausziehen der Linien hingegen würde zu viel Kraft für Genauigkeit absorbieren und damit die Suggestionswirkung schwächen.

Binet führte den Versuch an 45 Schülern einer Pariser Schule im Alter von 7 bis 14 Jahren aus. Alle Ergebnisse ohne Ausnahme wurden in einer Tafel vereinigt, worin in Milhm. die Länge angegeben wurde, welche jeder Schüler der ersten Linie gab und die Differenzen aller folgenden Linien. NiL . . z. B, (s. Tafel 2) zeichnete die erste Linie 16 mm lang (anstatt 12 mm); die Differenz zwischen erster und zweiter Linie zeichnete er 8 mm (anstatt 12 mm); damit war also die 2. Linie im ganzen (16 -f- 8 ==) 24 mm ge- zeichnet usw. Wurde aber eine folgende Linie kürzer als die vorausge- gangene angegeben, so wurde die Differenz durch das Negativzeichen charakterisiert.

b) Abänderungen beim Nachversuch.

Nach der Lektüre des Binet'schen Versuchs hatte ich ledighch den Wunsch, ihn nachzuprüfen und außer diesem Nach versuch noch einen Gegenver- such durchzuführen, bei dem der Leitgedanke eine stete Verkürzung der Linien bilden sollte, wonach nach meiner Ansicht ein Spiegelbild des Origi- nalversuches entstehen mußte. Weiteres hierüber später.

Für den Nach versuch zog ich die Linien von Tafel 1 nicht auf einen Bogen, sondern nahm für jede Linie ein Blatt von 17 cm : 5 cm, worin ich dieselbe parallel zur Längsseite in die Mitte zeichnete. Alle Blätter band ich in ein Büchelchen zusammen. Dasselbe enthielt außer den Blättern für den Nach- und Gegenversuch noch deren 4 mit je einer Linie von der Länge 72, 36, 96, 60 mm, weil ich wissen wollte, wie genannte Linien außerhalb des Versuches ohne Suggestion gezeichnet würden. Ich band, wie gesagt, die Blätter in ein Heftchen zusammen, in dem ich nm- immer umzublättern brauchte, wenn die vorausgegangene Linie gezeichnet war; selbstredend war auch für die Fallenlinie je ein eigenes Blatt vorhanden. Ich glaube, daß das Umblättern nicht nur bequemer ist, als das Verschieben eines Doppelbogens, sondern auch markanter als dieses andeutet, daß eine neue Linie zu zeichnen ist und so eine Irrung weniger wahrscheinlich sich einschleicht. Um im letzteren Punkte ganz sicher zu sein, numerierte ich die Blätter (Nr. 1 bis 12) und ließ über jeden von den Kindern markierten Punkt die Nummer des betreffenden Blattes zeichnen, worin, was wir nicht verkennen wollen, eine Bekräftigung des Leitgedankens vom Anwachsen der Linien liegen mag. Außerdem wich ich insofern von Binets Vwsuchs-

248

Rudolf Prantl

anordnung ab, als ich nicht auf quadriertes Papier reproduzieren ließ, son- dern lediglich auf einfach liniertes. Einen nennenswerten Grund habe ich hierfür nicht anzugeben; ich hielt diese Vereinfachung zwar nicht in der Ausführung für bequemer, weil man doch mehr messen muß als beim qua- drierten Papier, wohl aber der Versuchsidee mehr entsprechend. Mithin mußte eine korrekte Reproduktion aller Linien') so ausfallen:

Fig.l

Die Vpn. bildeten Kinder des Würzburger Waisenhauses, dessen Leitung ich für das freundliche Entgegenkommen zu großem Dank verpflichtet bin. Die Kinder (26 Knaben und 24 Mädchen) erstrecken sich dem Alter nach auf das 10. bis 16. Lebensjahr. Die 50 Ergebnisse vereinigte ich in einer Tafel (3) ganz im Sinne Binets.

IL Der Nachversuch. a) Reizlinienbereich.

1. Die erste Spalte.

Um Beleg und Vergleich zu gewinnen, sei außer der Ergebnistafel meines Versuches auch die gekürzte Originaltafel Binets mit aufgeführt:

Tafel 2.

Noras des

«

11

Difference entre les iignes

ao ai gl

00

ä

"2 'S

Eleves

"

£■*

et

1

. ^ 5 et 6

„7 et 8 _ . fletlO

lletl2

«3«

•fS

B

'S

let2

2 et 3

3 et 4 4 et 6

Pifege

6 et 7

Pifege

Set 9

Piöge

lOetll

Pifege

3^

2:

1. Nil . .

16

8

12

12 1 12

8

12

—12

16

4

12

4

124

7,6

1

11. Saga .

16

8

8

12 8

8

8

. 4

8

4

8

4

146

62

0

21. Pou .

12

4

16

12

12

12

8

8

16

8

8

8

<

81

0

31. Obr .

16

8

8

12

12

12

12

12

8

8

8

8

209

90

0

41. Tizi .

>

>

>

> 8

12

8

8

8

8

8

8

210

112

0

Moyennes

13,6

8,68

8,8

9,7

9,2

7,5

8

5,1

7,8

6

7,1

6

Darnach wurde, wie das Mittel der ersten Spalte zeigt, die Linie von 12 mm im Durchschnitt bei Binet 13,.6, bei mir 13,2 mm lang gezeichnet, wurde also hier wie dort etwas überschätzt bzw. überzeichnet. Daß aber die Werte nur nach außen hin genügend übereinstimmen, erkennt man, wenn man die reproduzierten Längen in einer Häufigkeitstafel niederlegt. Um einen gemeinsamen Maßstab zu gewinnen (Binet hatte 45, ich 50 Kinder für den Versuch), war die jeweilige Variantenanzahl in Prozente umzurechnen. An-

') Die Figuren sind auf 'j^ Größe verkleinert wiedergegeben.

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallen Versuchs 249

Tafel 3.

Namen

der Schüler

Differenz der Linien

1il2 j 2u3 3a.4

. _ i5 U.6 _ 7 U.8

4tL5 ipaUe 6"' Falle ^^-^

i3 ijS i* S »; S «;! _

S il S HC

9U.10,. ..llu.l^ll jl| lll Falle ^O"-» FaUr'^ i!>

±

1. Franz .

2. Georg .

3. Kathinka

4. Gertrud

5. Hermann

6. Fritz .

7. Hans .

8. Alfred .

9. Karl .

10. Heinrich

11. Johann

12. Otto .

13. Valentin

14. Richard

15. Hermann

16. Max .

17. Alfred 2

18. Rudolf

19. Werner

20. Max 2 .

21. Hilmar

22. Ernst .

23. Konrad

24. Theresia 25.Berta .

26. Blanka

27. Rosa .

28. Gretchen

29. Anna .

30. Rosa .

31. Elisabeth 32 Margarete

33. Klara . .

34. Emma . .

35. Maria . .

36. Gretchen 2

37. Barbara

38. Josepha

39. Therese

40. Elisabeth 2<

41. Franziska

42. Regina

43. Katharina

44. Lonie

45. Luise

46. Richard 2

47. Franz 2

48. Hugo .

49. Adolf .

50. Johann 2

Mittel .

17 15 11 17 11 12

7 11 13 11 II 12

9 18 11 12 10 26 16 II 10 12 14 15 14 22

8

12 28 13 13 10 11

9 15 10 10 12 16 10 13 12 12 14 15 14 19 13 11 12

22 10 13

6 11 14 18

4 11 14 17 15 20

7

10 —3

3 26 13 17 12 17 15

9 12

9 10

8 29 15

9 12 14 17 17 11 10 11 19 10 16 14 12 11

7 14

8 15 13 15

27

7 11 21 17 14 10 19

9 13 29 10 26

7

10 30 25 30 18 12 10 12 17

7 14 16 12 15 29 13 19 11 13 22 13 14

8 20 21 17 13 16 10 16 15 18 21 15 14 11

14 15 10 18 21 14 11 20 20 16 54 11 30 21 12 11 10 35 10 17 21 15 17 16 15 10 15 15 29 16 23 10 19 17 14 17 10 14 16 23 14 18 10 13 15 12 10 13 10 18

15 18 10 14 20 13 25

6 13 15 15

9 14

7 15

7

16 20

8 14

4 12 14 10

8

9 10 13 30 13 16 16 17 21 16 14 14 14 21 20 14 20 12 17 11 12 22 13 11 15

13

0

10

0

13

12

29

9

12

14

19

8

15

7

0

0

7

30

8

8

2

12

10

7

—4

0

'7

15

29

0

-11

5

0

0

5

12

.9

14

12

12

15

25

0

14

—4

6

3

17

6

11

9 10

7

0 16 12 21

8

8 11 21 12 30 18 13 15

3 18 13 16

2 12

4 21 15

9 10 15 35 16 20

7

12 15 16

8

9

7

10 14

0 27 12

8 12

7 11 13

7

4

16

0

8

0

—22

12 7 4 0 0 8 9

28 9 0 6 6

18 5

18 7 9 6 0 —3 0

12

17

35 0 5

15 0 0 —8 6 7 8

10

13 -15

27 0 8 7 4 3

16 7 0

4

2

9

10

14

12

—13

5

8

0

22

9

37

7

15

8

6

34

4

. 9

5

14

9

8

7

8

14

14

37

0

—2

7

12

14

0

7

7

11

12

10

15

18

10

8

IG

4

7

13 8 7

12

8

0

13

10

10

11

24

—8

8

12

13

13

5

5

5

5

0

0

9

16

11

12

8

35

-35*

14

11

0

}9

5

0

6

5

20

19

3

9

11

17

5

6

5

6

8

5

11

11

3

14

0

8

13

13

12

10

36

33

0

0

—8

13

4

6

8

9

0

0

8

19

8

8

7

8

8

9

11

13

12

14

16

9

13

19

9

10

6

5

4

17

4

4

7

20

16

14

5

8

0

9

12

0

11

13

8

11

6

5

16

0

101

7

26

18

0

4

.14

12

10

9

7

8

13

0

3

0

13

10

32

0

—3

0

0

10

0

9

11

9

12

18

5

18

0

9

2

3

16

15

8

6

177! U4ii 104| 1181 138 lll 169 113 104 122 204 103 ^31

82| 108

88 Hl 249 133 112

98 143 107

96

98 113 119 139 r202} 113 117

95 114 134 105 132 100 135 157 120 147 178

92 149

97

97 130 123 116 134

132(10

0iJ4

0

2

161 2

lOi

I3420||l2,7

,781 15,94 16,58|14,38i 8,86:12,58 6.5fi lO.OO' 8.26 10,35 8.49

94

145

96

114

40

83

95

96

112

0

50

110 0

8$ 76 82

124 77

116| 36

—2

0

96

104

98

0

1-36 67 16 20 10 95 89 95 80 95

9

21

9

181

121

0 0 0 0 0 0 2 2 4 0 0 0 4 3 4 3 3 2 0 0 0 0 0 1 0 3 0 1 0 0 0 76jio 49! 2

250

Rudolf Prantl

Tafel 4.

B.l'^'lo

4

53|

4

4

34

4

(^-97^-)

l Fälle

1

24

1

1

16

1

1

1 t 1

mm

7 8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

2l|22

23

24|25|26|27

28

( Fälle

1 1

2

6 1 9

9

5

4 ! 4

2

2

1

1

h

1 1 1

1

1 in "/o

2

2

4

12

18

18

10

8

8

4

4

2

2

2

(^

100) 2

2

statt 12 mm z. B. wurde bei mir (P.) in 6 Fällen nur 10 mm gezeichnet, das ist in {^'^-=) 12 o/o, bei Binet (B.) nur in 1 Falle, daß ist in (l-^^^

2

2 o^Q. Bei einem Schüler (Nr. 41, Fini . .) hat B. aus einem unbekannten Grunde die ersten vier Spalten nicht ausgefüllt, so daß in Tafel 4 der Wert fehlt

(2 \ 7 100 2g^=J 97 g^

beträgt. Aus der graphischen Darstellung der Tafel 4 in Figur 2 erhellt sofort eine einschneidende Verschiedenheit des Binet'schen und meines Li- nienzuges. Mein Versuch (ausgezogener Linienzug) läßt auch ohne Abrun- dung durch irgendein Verfahren die Gauß'sche Fehlerkurve unschwer er- kennen, was in jedem Falle, wie dem vorliegenden von vornherein erwartet werden muß. Das Dichtigkeitsmittel liegt über 11 und 12; die Streuung be- trägt (28 6 =) 22 mm. Beim Binet'schen Linienzug (punktiert) kann man

eigentlich von keinem f^ Modus sprechen, wir

sehen vielmehr zwei hohe Gipfel über 12 und 16, zwei niedrige über 10 und 20. Das kommt zwei- fellos davon her, daß Binet quadriertes Papier benützte. Die größte Häufigkeit von 53 o/o fällt auf 12 mm. Die Kinder überschätzen zwar auch bei Binet (wie wir schon hörten) ein wenig die Linie von 12 auf 13,6 mm; aber da ganz nahe davon auf dem Papier das Ende eines Quadrates sich befand, so dachten die Kinder blitzartig: „Gewiß ist dieser Punkt gemeint»" Kinder sind ja von verschiedenerlei her gewöhnt, daß an sie gestellte Auf- gaben „aufgehen", z. B. Rechenaufgaben. Die Tendenz der „Abrundung" ist Allgemeingut der Menschheit. Immerhin standen die Binet'schen Ver- suchskinder vor einem kleinen herkulischen Scheideweg"; denn außer dem Ende des Quadrats (12 mm) lockte auch noch das Ende des nächsten (von 16 mm) an. Mit der Neigung zum Überschätzen verband sich die Auto- suggestion des nächsten Linienschnittpunktes, und so fielen 35 o/o auf 16 mm. Selbst der übernächste Linienschnittpunkt (von 20 mm) zog noch einen Treffer (2 Q^ 0/0) an sich, obwohl zwischen 16 und 20 kein einziger liegt. Endlich,

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 251

glaube ich, war auch das Quadratende vor 12 mm nicht ohne Einfluß; denn der eine Fall von 10 mm liegt genau zwischen 8 und 12 mm. Ebenso verteilen sich die zwei Varianten zwischen 12 und 16 ganz symmetrisch zu 12 und 16 mm. ^

Aus der Rastrierung des Binet'schen Quadratpapieres läßt sich der "punk- tierte Linienzug restlos erklären. Die Linienschnittpunkte 12, 16, 20, 8 mm wirkten offensichtlich als vier Magnete in einer mit zunehmender Entfernung abnehmenden Stärke. Daher beträgt die Streuung nur (20 10 =) 10 mm.

Binet griff nicht ohne Gründe zu quadriertem Papier. Es bietet dasselbe, wie er (S. 90) sagt, ein bequemes Mittel zur Abschätzung der nachgezeich- neten Linienlängen und ihrer Unterschiede, ohne daß man sich eines Dezi- metermaßstabes zu bedienen brauchte. Außerdem übt die Quadrierung des Papieres eine Ergänzungssuggestion (une Suggestion supplementaire) auf die Vp. aus: „Es ist etwas Merkwürdiges, daß, wenn man auf einem quadrierten Papier Punkte zur Bestimmung von Entfernungen zu machen hat, man eine Neigung verspürt, diese Punkte vorzugsweise auf die Schnittpunkte der Li- nien zu setzen; das ist eine Suggestion, der wohl wenig Menschen sich ent- ziehen. Es war also interessant zu verfolgen, in welchem Maße die Kinder auf die Quadrierungssuggestion ansprachen. Infolge dieser Suggestion vari- ieren die gezeichneten Längen im Minimum um 4 mm, sie wurden in Ab- ständen von 4 mm gezeichnet" (S. 90). Binet entging also der Einfluß der Papierrastrierung nicht. Wahrscheinlich fiel ihm die optimistisch „Suggestion supplementaire" benannte Erscheinung erst im Laufe der fortgesetzten Ver- suche auf, die er dann nicht wieder mit geänderten Bedingungen von vorne beginnen wollte.

2. Die zweite bis fünfte Spalte.

Stimmte das Mittel der ersten Spalten meines Nachversuches mit dem des Binet'schen Originalversuches wenigstens äußerlich noch leidlich überein, so gehen von jetzt ab die Ergebnisse auch numerisch wesentlich ausein- ander. Die Mittel des Nachversuches bewegen sich (mit 12, 78; 15, 94; 16, 58; 14, 38) über dem Normalmaß 12, das ihnen bei korrekter Reproduktion zugekommen wäre; die Mittel des Binet'schen Versuches laufen (mit 8, 68; 8, 8; 9, 7; 9, 2) unter dem Normalmaß. Die Mittel beider Versuche haben aber das gemein, daß sie bis zur vorletzten Stelle ansteigen, auf die letzte zu schwach abfallen, daß mit andern Worten das Gewicht der vierten Spalte ein Maximum aufweist. Auf diese anscheinend nebensächliche Tatsache werden wir noch einigemal zu sprechen kommen.

Ich habe in meinen Vorarbeiten für jede der 12 Spalten eine Häufigkeits- tafel mit graphischer Darstellung hergestellt, will sie aber hier nicht mit auf- führen. Den Interessenten ist die Rekonstruktion aus den Tafeln 2 und 3 leicht möglich. Hier sind sie entbehrlich, wenn ich verrate, daß sie in ihrem Grundcharakter alle der Figur 2 ähneln. Die Binet'schen Linienzüge besitzen ausnahmslos die eigentümlichen Gipfel über den Vielfachen von 4 mm mit auffallender Bevorzugung von 8 mm. Die Streuungen sind stets 12 mm, während die meines Nachversuches bedeutend größer sind (32, 24, 49, 26 mm). Wieder offenbart also die Quadrierung des Versuchspapieres eine starke Magnet- und Bremswirkung, die wir sehr hübsch verfolgen können,

252

Rudolf Prantl

wenn wir nicht die Differenzenmittel der Linienkopien, sondern die Mittel der ganzen Längen messen und in einer Figur darstellen. Wir brauchen nur die Mittel der ersten fünf Spalten nacheinander zu addieren und als Ordi- nalen zu den Abszissen 12, 24, 36, 48, 60 mm aufzutragen.

In Figur 3 ist 0 A die Normallinie, auf sie hätten die oberen Endpunkte der zu 0, 12, 24, 36, 48, 60 gehörigen Ordinaten bei korrekter Wiedergabe fallen müssen. 0 A schließt mit der Abszissenachse natürlich einen Winkel

von 450 ein. Von ihr weicht der Binet'sche Linienzug 0 B nach unten, meiner (0 D) nach oben ab. Man wird mir sofort zu- stimmen, wenn ich behaupte, daß die Ab- weichung nach oben eine dem Versuch zu- kommende, zu erwartende, also positive ist; denn die 5 ersten Linien sollen ja den Leitgedanken des Linienzuwachses erzeu- gen, und wir dürfen doch nicht erwarten, daß derselbe auf einmal unvermittelt wie ein deus ex machina nach Vorführung der fünf „Reizlinien" (ich will diesen Ausdruck beibehalten und mit Rzl. abkürzen) auf- treten soll. Wahrscheinlich wird die be- kannte Suggestion schon bei der Wieder- gabe der 3. Rzl. auftreten und zwar aus folgendem Grunde: Reproduktion von Rzl. 1 kann überhaupt keine Suggestion erwecken, sowenig wie ein Punkt die Richtung einer Geraden bestimmt. Wird eine weitere Modellinie (2) wieder- gegeben, so ist ein Dreifaches möglich: Die Gerade ist größer, gleich oder kleiner als die erste (oder wird hierfür gehalten). Die Erkenntnis des Ein- tritts einer dieser Möglichkeiten bildet ein Suggestionselement. Die Sug- gestion kann angebahnt sein. Von der ersten Möglichkeit macht der Binet'sche Versuch selbst Gebrauch, von der dritten mein Gegenversuch (Abschnitt III), von der zweiten meine Gegenversuche zum 2. Binet'schen Liniensuggestionsversuch, worüber in dieser Abhandlung nicht die Rede sein wird. Die 3. Rzl. endlich kann die angebahnte Suggestion bestätigen, falls das aus der Wechselbeziehung der Rzl. 2 und 3 stammende Suggestions- element mit dem ersten gleichsinnig übereinstimmt.

Die Genesis eines Leitgedankens deckt sich scheinbar nicht mit dem Schema der Analyse des Denkverfahrens, wie es von Dewey 0 und Kerschen- steiner^) verfochten wird. Ich kann und will an dieser Stelle nicht auf das an sich anziehende Seitenproblem eingehen und begnüge mich mit einem Fußnotenhinweis auf die Literatvu* hierüber. ^j Ich will auch nur kurz aus- führen, daß auch ein Nichtübereinstimmen der Suggestionselemente, falls in den weiteren Regeln wenigstens das Verhältnis der Suggestionselemente gewahrt bliebe, einen allerdings anderen Leitgedanken einführen könnte. Das wäre z. B. der Fall, wenn die Längen der Regeln kontinuierlich zwischen

') Dew«y, „How we think", Heath. Boston (1910 1).

*) Kerschensteiner, „Wesdn und Wert des naturkundlichen Unterrichts" (19131). ^) Über Kerschensteiner und Dewey referiert vergleichend: Prantl, „Kerschensteiner als Pädagog". (Schöningh 1917,)

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 253

zwei Größen zickzackförmig hin- und hersprängen. Dann entstünde der auch dem Aufbau nach kompliziertere Leitgedanke: „Die Linien wechseln zwischen zwei bestimmten Größen". Bezeichnen wir die Rzl. mit li, h, h, die Suggestionselemente si, S2, ss, die aus dem Verhältnis (es muß nicht eben ein Quotient sein) aufeinanderfolgender Suggestionseleraente hervor- gehenden Suggestionselemente zweiter Ordnung mit oi, 02, ca, so läßt sich in theoretisch unendlicher Folge stets aus den je zwei Elementen der voraus- gegangenen Ordnung ein neues der folgenden bilden. Es leuchtet aus dem Schema (Tafel 5) unmittelbar das Bildungsgesetz heraus. Die Bedingung der Entstehung des Leitgedankens erster Ordnung iafei 5.

ist si=S2, der der zweiten Ordnung 01 = 0-2, der der dritten ^^si ci=C2 usw. Man benötigt zur Erzeugung des ersten min- , >S2Cr*'^*>ci destens drei Rzl., des zweiten mindestens vier, des dritten , >S3^^ mindestens fünf usf., falls nicht neue erschwerende Be- u-^^ dingungen eingeschaltet werden. Das gleiche gilt von der Bekräftigung des entstandenen Leitgedankens, die mit der Anzahl übereinstimmender Suggestionselemente gleicher Ordnung wächst.

Die theoretisch abgeleitete Wahrscheinlichkeit, daß zwischen Rzl. 2 und 3 bereits der Leitgedanke (1. Ordnung) entsteht, bestätigt sich durch einen kleinen Nebenversuch. Wir dürfen nämlich annehmen, daß der Leitgedanke, kamn geboren, auch schon wirksam wird, indem die Kinder im Bewußtsein des Linienzuwachses die Linien besonders lang zeichnen, dem Experimentator gewissermaßen beweisen wollen, daß sie den Unterschied wohl gemerkt. Daß dem so ist, zeigt sich, wenn man die Linie von 36 mm außerhalb des Hauptversuches für sich zeichnen läßt und das Mittel aller Reproduktionen berechnet. Dieses stand in meinem Nebenversuch auf 36,80 (Streuung 56 - 28=) 28 mm, also unter dem Wert 41,9 mm, die innerhalb des Versuchs nach Vorausgang der Rzl. 1 und 2 im Mittel gezeichnet wurden. Besäßen wir einen aus großen Massenversuchen gewonnenen numerischen Wert für die Überschätzung der Linie 36 mm, so wäre die Differenz 41,9 und jenem Mittel ein Maß für [die suggerierende Kraft der RzL, in schlechter Annäherung aus meinem Versuch berechnet, beträgt sie (41,92 - 36,80 =) 5,12 mm. Diese Kraft von über fünf Einheiten muß selbstredend auch im B. sehen Originalversuch gewirkt haben, sie ist aber von der Gegenkraft der „Suggestion supplementaire" der Quadrierung überwunden worden, so daß das obere Ende der Ordinate 36 um (36,8-31,1=) 5,8 mm vom Über- schätzungspunkt, um (36,0 - 31,1 =) 4,9 mm vom Normalpunkt und um (41,9-31,1=) 10,8 mm vom Nachversuchpunkt nach unten absteht. Wir gewinnen aus der Vergleichung beider Versuche eine Handhabe zur rechnerischen Bestimmung jener „Ergänzungssuggestion".

Die gleichen Überlegungen gelten auch für die beiden nächsten Spalten vier und fünf. Unter dem Einfluß des wahren d. h. gewollten Leitgedanken», entfernt sich mein Linienzug immer mehr von der Normallinie im positiven Sinne, während der B.sche fortgesetzt im negativen Sinne von ihr wegstrebt. Wenn der -wieder im Nebenversuch gewonnene Wert 64,00 (Streuung 80-52 = 30 mm), einigermaßen brauchbar sich erwiese, wäre die Gesamt- wirkung des Leitgedankens bisher (72,9-64,0=) 8,9 mm, die Gesamtwirkung der Suggestion supplementaire (72,9-50=) 22,9 mm, also über 2,5 mal so> groß und negativ gerichtet.

264

Rudolf Prantl

b) Fallenbereich (sechste bis zwölfte Spalte).

Die Falle gilt nicht nur dann als vermieden, wenn die Fallenlinie genau so lang gezeichnet wurde als die ihr vorangehende Rzl., sondern auch, wenn sie kürzer als jene reproduziert wurde; denn hierbei wirkte der Leit- gedanke sicher nicht, beziehungsweise wurde er durch die gespannte Auf- merksamkeit und eine große Genauigkeit der Abschätzung übertönt.

Die erste Falle wurde bei B. in drei Fällen (6^/90'^), bei mir iti zwölf (240/0) vermieden. Woher dieser große Unterschied? Wir hörten bei der Besprechung des Reizlinienbereichs, daß beim B.schen Versuch fast aus- schließlich die Linienschnittpunkte der Rastrierung markiert wurden rnd zwar am liebsten jeweils das Ende des übernächsten Quadrates. Die Punkte wurden vorzugsweise um (2x4=) 8 mm nach rechts weitergerückt. Der allgemeine Leitgedanke des Linienzuwachses war bei vielen zu dem speziellen „Die Linien werden um zwei Häuschen länger" präzisiert. Diese konkrete und daher offenbar um so wirksamere idee directrice ließ über 90 0/0 die Falle übersehen und es stimmt der Durchschnitt von 7,5 mm gut hiermit überein. Es liegen überhaupt die Mittel fast aller Spalten bei B. um 8 mm herum, weil in allen Spalten mit Ausnahme der ereten und letzten das Dichtigkeitsmittel auf 8 mm fiel.

Die *rste Falle machte eine Reihe der Versuchspersonen stutzig; hatten die Kinder bisher unter dem Eindruck der Leitidee für sich darauf losge- zeichnet und übertrieben, so merkten sie (es sind bei mir fast 25 0/0) infolge der ersten Falle doch, daß die Längen nicht mehr stimmten. Diese Erkennt- nis wirkte jedenfalls sehr ernüchternd, so daß die Meinung sich aufdrängte, sie könnten vielleicht auch früher schon über irgendeine Falle oder dergl. gestolpert sein. Das sollte nun teilweise durch Korrekturen (bis zu 11 mm) wett gemacht werden. Noch mehr tritt dies bei der zweiten Falle zutage (Korrekturen bis zu 22 mm), was ja eigentlich zu erwarten war, da doch die einmal Gewarnten besser aufpaßten und noch andere dazu gewarnt wurden. Nun möchte man weiterhin erwarten, daß aus eben diesem Grunde die Stürze mit jeder Falle noch größer würden. Das ist aber, wie Tafel 6 zeigt, nicht der Fall. Falle III und IV bringen kaum nennenswerte Gefälle.

Tafel 6.

Falle I

II

III

IV

B.

1,7

2,9

1,8

1,1

P. 5,12 6,02 1,74 0,23

Das ist bei B. darauf zurückzuführen, daß die Mittel an sich schon so niedrig liegen, daß sie kein Fallen mehr vertragen, wenn die Kinder nicht blind sind; bei mir (P.) darauf, daß die durch die ersten zwei Fallen stutzig gemachten Kinder (es sind schon über 50 0/0) nicht nur hinter der einzelnen Fallenhnie, sondern auch jeder ihnen vorausgehenden Rzl. (das Fallenbereich hat vier FallenMnien und drei eingeschaltete Rzl.) Fallen vermuteten und deswegen auch diese als Fallen behandelten ! Diese merkwürdige Erscheinung kommt bei B. wohl auch, aber nur ein einziges Mal vor. In meinem Versuche wurde 24 mal teils 0, teils ein negativer Wert bei der Reproduktion der Rzl.

Suggestibilität mittels des ersten Binetsehen Linienfallenversuchs 255

verzeichnet! Trotz der durch die Fallen eingeleiteten Ernüchterung gerieten aber doch manche Schüler im Zeichnen der Punkte sehr hoch und wurden ihres Irrtums erst bei der vorletzten und letzten Linie gewahr. Daher die gewaltigen Korrektionssprünge von 35 und 101 mm (in der Tafel 3 mit * versehen), die ich bei der Berechnung des Mittels nicht berücksichtigen durfte, ohne die Ergebnisse im Kerne zu fälschen, da doch in diesen extremen Fällen der eine große negative Wert die Summe aller übrigen positiven größtenteils entwertet hätte; das Resultat einer Versuchsperson darf nicht das von 49 aufheben! Die letzte Reiz- und Fallenlinie ist deswegen ein wunder Punkt in der B.schen Versuchsform.

Wie die letzte Vertikah-eihe der Tafeln 2 und 3 angibt, wurden bei B. 1 m ganzen 13 Fallen vermieden, von einem Kind (13:45=) 0,29; bei mir 49, von einem Kind (49 : 50=) 0,98, also rund über dreimal so viel. Anders aus- gedrückt: Die Suggestion supplementaire des Quadratpapiers er- schwerte den Versuch psychologisch auf das Dreifache.

Verteilen wir die auf 100 Kinder berechneten Fallen Vermeidungszahlen auf die vier Fallen, so begegnet uns das schon von früher her bekannte Maximum auf der zweiten Falle. Die Tafel 7 lehrt auch, daß die Ra-

Tafel 7.

Falle I

II ! III

IV

B. 4

13i 1 81

0

•24

32

18

24

strierung den Sinn des Versuchs gegen das Ende hin stark verdunkelt. Es ist doch logisch und psychologisch ausgeschlossen, daß, wenn die ersten drei Fallen bemerkt wurden, die vierte vollständig übersehen wird! Das Umgekehrte wäre zu erwarten, wie es auch mein Versuch bestätigt. Wir merken für später: Falle II und IV sind am leichtesten zu vermeiden.

Von jedem Kinde konnten 0, 1, 2, 3 oder 4 Fallen vermieden werden. Ordnet man nach diesem Gesichtspunkt die wieder auf 100 Kinder berech- neten Häufigkeiten, so erhält man Tafel 8, die wieder meine Behauptung

Tafel 8.

Vermiedene Fallen .

0

1

1

2

. 3

4

( R Häufigkeit in

'4

•41

0

0

"/o bei ^ p

56

14 1

12

10

8

bestätigt, daß durch die Papierquadrierung des B.schen Versuches dieser sehr erschwert wurde: Kein Kind vermied 3 oder alle 4 Fallen, während in meinem Versuche die Gewichte vom zweiten ab eine ruhig abfallende arithmetische Reihe liefern. Diese erzählt zudem, daß das Vermeiden von 3 oder 4 Fallen verhältnismäßig nicht mehr besonders schwieriger ist als das von 2 Fallen, nachdem also schon durch sie das Bewußt- sein der Fallenexistenz aufgetreten ist, welches für sich selbst wieder Suggestivkraft besitzt und eine Art entgegengesetzt gerichtete ganz natürliche

256

Rudolf Prantl

Polarisationssuggestion vorstellt. Es ließe sich eine Theorie der bei jedem Suggestionsversuch a priori zu erwartenden Gegensuggestionen schreiben. Aus der in Tafel 8 aufgeführten Reihe wäre übrigens unschwer auch eine Schwierigkeitskurve zu berechnen und zu konstruieren unter der Voraussetzung, daß die Vermeidungsschwierigkeit der Anzahl der jeweils anfallenden Treffer, ähnlich wie ich bei anderer Gelegenheit 0 die Schwierigkeiten feststellte, von einer n zifferigen Ziffernreihe 1, 2, 3 usw. Elemente sofort zu reproduzieren. Man gewinnt am besten damit eine Übersicht über die Ergebnisse des Original- und Nachversuches, daß man die Gesamtlängen (Summe der Mittel) der Reproduktionen zusammenstellt und damit die in Fig. 3 begonnene Illustrierung zu Ende führt.

Tafel 9.

Modellinie

12

24

36

48

60

=

72

84

96

=

wurde im fg Durchschnitt J

13,6

22,3

31,1

40,8

50,0

57,5

65,5

70,6

78,4

84,4

91,5

97,5

reproduziert jp bei ^

13,2

25,98

41,92

58,5

72,88

81.74

94,32

100,88

110,88

llWM

129,49

137,98

isoliert bei P.

13,2

36,8

64,00

69,9

94,84

Die Staffeln der Fig. 4 zeigen augenfällig die Wirkung der Fallen. Die durch die Rzl. erhaltene positive Richtung wird in meinem Linienzug bei- behalten. Er verläuft vollständig über der Normaihnie; selbst wenn man die letzte Ordinate um die Summe der 4 Fallenmittel (32,17) kürzt, liegt der so erhaltene End- punkt A' stark über der Normal- linie. Der B.sche Linienzug über- schreitet unter dem Einfluß der Fallen die Normallinie nach lang- samem Annähern knapp. Nehmen wir Ihm aber durch Kürzung der letzten Ordinate um das Mittel der 4 Fallen (24,6) die Fallen- wirkung, so entfernt sich C'B' wie vorher OC weiterhin negativ von der Normallinie. CA' bzw. C'B' können sehr zwanglos als Extra- polationen von OC bzw. OC auf- gefaßt werden.

Ich ließ auch, wie anfangs be- merkt, Linien von 72 und 96 mm außerhalb des Versuchs zeichnen. Sie wurden im Gegensatz zu den früheren unterzeichnet mit 69,90 und 94,84 mm (siehe Tafel 9)..

•) Vergl, meine Abhandlung: „Beeinflussung der Gedächtniespanne durch die hypnotische Suggestion". Journal für Psychologie und Neurologie, 24. Bd. S. 94.

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 257

Die Gesamtwirkung der Rzl. ist graphisch darstellbar als die Strecke zwischen A' und dem (nicht eingezeichneten) Punkt 94,84 mm der letzten Ordinate; sie beträgt also (105,91 - 94,84=) 10,97 mm. In A' hätte der B.sche Linien- zug auch ungefähr enden sollen, wenn nicht die Quadrierung so sehr ge- hemmt hätte. Wir finden wieder einen Wert der Kraft^irkung der Suggestion supplementaire , indem wir mit obigem Wert 10,97 in die Strecke A'B' = (105,81 72,6=) 33,21 hineindi\ddieren , die Seite 10 angegebene Wirkung von 2,5 mm hat sich noch bis rund 3 mm erhöht.

B. verkennt den wahren Sachverhalt, wenn er zusammenfassend über die Mittel der reproduzierten Linienzuwachse schreibt (S. 95): „Also beobachten wir im ganzen, daß die Schüler die aufeinanderfolgenden Zuwachse der Modell- linien reproduziert haben; aber sie haben sie reproduziert, indem sie sie verminderten, und diese Verminderung fiel im allgemeinen um so stärker aus, als die absolute Länge der Linien wuchs." Er bringt dann seine schiefe Ansicht noch mit dem Weberschen Gesetz in Zusammenhang, wonach Ver- änderungen um so weniger vorgenommen werden, je länger die Vergleichs- linien sind. Das psychophysische Grundgesetz tritt wider Erwarten nicht zutage.

c) Suggestibüitätskoeffizienten. 1. Herleitungen.

Der B.sche Linienf allen vereuch gestattet auf verschiedene Weise für jede Versuchsperson einen Suggestibilitätsgrad zu bestimmen. Der einfachste Weg wäre, vor dem eigentlichen Versuch die Linie von 60 mm für sich zeichnen zu lassen, hierauf die 5 ersten bekannten Rzl. und dann unter Verzicht auf die Fallen mit dem Versuch abzubrechen. Es ist ja anzunehmen, daß die unter der Wirkung des zwischen Rzl. 2 und 3 geborenen Leitgedankens die Linie von 60 mm schon weit überzeichnet wird, in viel stärkerem Maße, als sie bei isolierter Reproduktion überschätzt wird. In meinem Versuche geschah dies (siehe Tafel 9) im Durchschnitt um (72,88 64,00=) 12,88 mm. Die Differenz wäre in jedem einzelnen Falle schon ein brauchbares Maß.

B. machte es wohl auch so, wie ich eben beschrieb, nahm aber die erste FaUe noch mit. Er mußte es ja auch, da die 5. Reizlinie (siehe Tafel 9) im ganzen genommen selbst im Versuch noch bedeutend unterzeichnet wurde (50 mm) und die 60 mm erst mit der ersten Falle (mit 64 mm) überschritten wurden. B. gab der isoliert gezeichneten Linie den Wert 100 und verglich hiermit die Länge, welche der Schüler der Linie gab, nachdem er die Rzl. 1 5 gezeichnet hatte (par entrainement S. 96). Die Resultate trug er unter dem Titel Coefficient de suggestibilite pour les longeurs de lignes in Tafel 2 ein. Meine ebenso gefundenen Resultate stehen in Tafel 3 unter „Linien- suggestibilitätskoeffizient". Ein Beispiel zur Erläuterung: Schüler Nr. 1, Franz, gab der Linie (60 mm) isohert die Länge 61 mm -= i, im Versuch aber die Länge v = (17 -|- 22 -+- 27 + 14 -H 15 + 13 =) 108 mm. Der Lsk. (= Liniensuggestibilitätskoeffizient) berechnet sich aus: 61:100 = 108:x (i :100= V :x)

x-i5i_M(_ -1.100). 177

Dl 1

Zeilschrift f. pädagog. Psychologie. 17

268 Rudolf Pranti

Anders bestimmte B. (S. 101 ff.) die Suggestibilität auf Grund der Fallen- wirkung. Er nahm bei jedem Schüler das Mittel der vier Fallenspalten (ecarts suggeres) und verglich es mit dem Mittel der vier ihnen jeweils vor- angehenden Reizspalten (ecarts pergus). Diese Mittel werden im allgemeinen nicht gleich sein, da der Charakter der sie bestimmenden Linien (Reiz- und Fallenlinien) ein sehr verschiedener ist. Bei korrekter Reproduktion ist das Fallenspaltenmittel 0, das Reizspaltenm.ittel gleich 12. In diesem Falle Hegt keine Suggestionswirkung vor, die betreffende Versuchsperson verdient den

Fsk. (Fallensuggestibilitätskoeffizienten) 0, der als Quotient t^ erhalten wird.

B. dividierte also das Mittel r der Fallenspalte f durch das Mittel der Reiz- spalten und multiplizierte (analog der Herleitung des Lsk.) den Quotienten

f noch mit 100. Der Ausdruck für Fsk. = -100 ist in Tafel 2 als Co-

r

effizient de suggestibilite pour les ecaits in der vorletzten 'Vertikalreihe eingetragen. In der Ergebnistafel 3 meines Nachversuches ist er unter „Fallensuggestibilitätskoeffizient" registriert. Seine Grenzen liegen bei B. zwischen 7,6 und 132, bei mir zwischen 36 und 145. Daß bei mir auch negative Werte vorkommen, erklärt sich aus dem Umstände, daß die Fallen vielfach auch negativ eingetragen wurden. Damit erleidet aber der Charakter des Fsk. keine Veränderung, denn wenn eine Versuchs- person die Anwesenheit einer Falle nicht durch Häufung der Punkte an gleicher Stelle, sondern sogar durch Zurückgehen bekundet, beweist sie in noch stärkerem Grade die Abwesenheit einer Suggestionswirkung; sie erweist sich als nicht suggestibel und muß also, wenn man die Versuchsperson in eine Rangordnung unter dem Gesichtspunkt der Suggestibilität bringt, an die Spitze treten. Gleiche Überlegungen gelten für die Fsk. über 100, die für den ersten Augenblick auch befremden. Zur Klärung der Bestimmung des Fsk. noch ein Beispiel. Schüler Nr. 1, Franz, besitzt das Fallenspalten -

1 r^Q 1

mittel f -= ~ (13+16-1-12 + 12) = ~, das Reizspaltenmittel r = y (8+8+

9 + 15) = -*^. Fsk. = ^ 100= ^1':% ' 100 = 132,5.

Man hat es mit Hilfe des Fsk. oder Lsk. in der Hand, nach durchgeführter Ordnung derVersuchspersonen die Gesamtheit derselben als Kollektivgegenstand zu behandeln und durch Reihenvergleichung Beziehungen zwischen ver- schiedenen Eigenschaften im allgemeinen herzustellen bzw. zu untersuchen. B. hat sich leider mit der Aufstellung der Koeffizienten begnügt, ohne sogar auf den so naheUegenden Gedanken einzugehen, wenigstens die einerseits durch die Lsk., andererseits durch die Fsk. bildbaren Reihen einander gegen- überzustellen. Ich will dies nachholen und auch der Wechselbeziehung zwischen den Koeffizienten und der Anzahl der von jedem Kinde vermiedenen Fallen nachgehen.

2. Beziehungen zwischen den beiden Koeffizienten. Zur Vergleichung der gemäß dem Lsk und Fsk gebildeten Reihen benutzte ich nicht die Bravais-Pearsonsche Formel der Produktenmomente, da hierzu die Aufstellung einer Verteilungstafel nötig gewesen wäre, bei deren Her- stellung doch eine gewisse Willkür herrscht, indem man sich bisher auf keinen

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 259

bestimmten Maßstab bezüglich der Anzahl von Horizontal- und Vertikalreihen geeinigt hat. Darum ist bei jeder Angabe des auf diese Weise berechneten Korrelationswertes die Mitaufführung der Verteilungstafel zum Zwecke der Nachprüfung wünschenswert, was viel Raum in Anspruch nimmt. Ich wählte also die angeblich etwas weniger exakte Form von Spearman für die Rang- ordnungen, ordnete also die Kinder einmal nach der Größe der Lsk, das andere Mal nach der des Fsk, berechnete das Quadrat des Rangunterschiedes eines jeden Kindes, um die Summe aller Quadrate (^d^) dann in die Formel

0=1 "^ T einzusetzen, worin o die Größe der Korrelation und

^ n (n- 1)

n die Anzahl der Kinder (50) bedeutet. Bei vollkommen gleichgerichteter

Korrelation wird p = 1, bei vollkommen umgekehrter wird q = 1, bei

Abwesenheit jeder Korrelation wird p = 0. Eine Nachkontrolle ist nach den

Angaben der Tafel 3 ohne weiteres möglich.

Wie man bei wissenschafthchen Untersuchungen, wenn die Logik mit ihren Analogieschlüssen zu ungestüm dem berechnenden Versuch voraneilt, oft hinterher stark enttäuscht wird, so erging es mir hier. Ich erwartete eine sehr große Übereinstimmung der Reihen und fand, daß soviel wie keine besteht. p = 0,21 verneint fast jede Anwesenheit einer Korrelation, der

1 p2 wahrscheinhche Fehler berechnete sich aus wF = 0,70643 : zu 0,095,

V n ist also 2,2 mal so klein als p, was zur Not genügt. ^)

Da B., wie gesagt, eine derartige Vergleichung unterließ, berechnete ich nach den Angaben der ungekürzten Tafel 2 auf gleiche Weise die Korre- lation seiner Reihen. Sie beträgt p = 0,22 (w. F. = 0,09) und stimmt sehr gut mit meinem Ergebnis überein.

Warum nun herrscht zwischen den beiden Reihen des Lsk. und Fsk. so wenig Einklang? Ich glaube den Schlüssel zu diesem Rätsel darin zu er- kennen, daß wir durch den Versuch gar nicht die Suggestibilität prüfen, sondern zwei verschiedene Seiten derselben, wenn nicht zwei verschiedene Suggestibilitätsarten .

Durch die ersten 5Rzl. des Versuches wird zweifellos die Suggestion des Linienzuwachses (der Leitgedanke) erweckt und die Versuchsperson verleitet, rein mechanisch den Markierungspunkt immer weiter nach rechts zu setzen. Eine automatisch charakterisierte Suggestion, wie wir sie hier also vor uns haben, wird aber auch nur auf den Automatismus der Suggestibilität vornehmlich anzusprechen imstande sein, mithin diese Seite der Suggestibilität dem Studium unterwerfen. Das würde noch reinlicher geschehen, wenn man die Anzahl der Rzl. vermehrte und vom System der Fallen überhaupt absehen würde. Unter diesen Umständen würde aber voraussichtlich die Suggestions- wirkung irgendwo ihre Grenzen, zum mindesten aber ihr Maximum haben. Trotzdem schon die 4. Rzl. ein solches liefert (s. S. 251) und der extrapolierte Punkt A' (von Fig. 4) dagegen spricht, daß ein weiteres Maximum das erste zu einem nur relativen stemple, möchte ich die MögUchkeit hiervon doch nicht von der Hand weisen, da mit der Länge der Rzl. das Schätzungsver- mögen abnimmt, was einem stärkeren Durchbrechen des Leitgedankens sehr zu Hilfe käme. Gewißheit hierüber könnte nur ein eigener Versuch bringen.

') 8, Fröbes, Lehrbuch der experimentellen Psychologie, 1917, Bd. I S. 493. Nach der Fonnel der Produktenmomente berechnete ich i zu 0,06 (bei einem w. F. von 0,095) !

17*

360 Rudolf Prantl

Vom Eintritt der Fallen an zerfällt die Schar der Versuchspersonen in zwei leicht von einander trennbare Gruppen. Die eine fährt fort, rein mechanisch Punkt für Punkt weiter rechts zu setzen (vgl. Nr. 3 in Tafel 3); sie zeichnet sich durch eine starke, automatisch charakterisierte SuggestibiUtät aus. Die zweite Gruppe merkt aber bald die Fallenexistenz, womit in ihnen ein neuer Leitgedanke auftaucht: „Vorsicht, die Linien werden nicht immer größer!", unter dessen Herrschaft sich meist im Unterbewußtsein des Kindes ein bitterer Kampf mit dem ersten Leitgedanken abspielt. Im Verlaufe desselben heben sich die Wirkungen beider Suggestionen einander ganz oder zum großen Teil auf. Während der ersten Gruppe hohe Suggestibilitätskoeffizienten zu- kommen, fallen für die zweite nur kleinere an und doch kann man ihr keine geringere Suggestibilität zuschreiben. Sie zeigt vielmehr die Fähigkeit, auf mehrere Leitgedanken gleichzeitig anzusprechen, sie ist distributiv charakte- risiert. Im Extrem wird schließlich der erste Leitgedanke vergessen oder vernichtet, der zweite dominiert. Dann fallen die negativen Fsk an. Wenn die äußeren Bedingungen nicht so ungünstig lägen, könnte sich bei diesem Extreme auch wieder ein gewisser Automatismus (nämlich der des zweiten Leitgedankens) durchringen, wie z. B. bei Nr. 31 (Elisabeth), wo trotz des viermaligen Linienanwachsens 4 mal negative Werte gezeichnet wurden. Suggestibilität kommt mithin jeder Gruppe zu, jener vornehmlich die auto- matisch, dieser hauptsächlich die distributiv charakterisierte, welch letztere im Extrem eine nervöse Gleitfähigkeit von einer Suggestion zur anderen mit totalem Vergessen der ersten besitzt, ein Umstand, der ein psychologisches Streiflicht auf die Gedächtnisschwäche und damit auch auf das Gedächtnis der Suggestibilität wirft. Eine Asuggestibilität ist nirgends zu bemerken, höchstens eine Antisuggestibihtät, die ihrem Wesen nach mehr eine negative Suggestibilität ist, die hinter jeder Versuchsanordnung eine Beeinflussungs- maßnahme argwöhnt und in dieser negativen Autosuggestibilität dem Auf- treten eines Leitgedankens große Schwierigkeiten entgegenstellt. Diese Art von Schülern bereitet dem Erzieher viel Arbeit und Sorgen. Sie sind ebenso leicht zu verziehen als zu erziehen, da sie distributiv sowohl auf pädago- gische Einwirkungen als auch ebensogut auf Gegenbeeinflussungen, woran es im praktischen Leben nie fehlt, hören. Sie sind oft nur auf Umwegen durch ein indirektes Verfahren, mehr durch negative als positive Erziehung zu erobern. Man sieht, daß unter Umständen aus scheinbar nichtssagenden Reihenvergleichungen heraus uns auch Winke von großem praktischen Werte zuteil werden können. Vielleicht kommt die experimentelle Pädagogik noch in die Lage, aus einfachen Suggestionsversuchen heraus mit genügender Sicherheit Schlüsse für die Beurteilung der Behandlung der Kindercharaktere zu ziehen, wodurch dem Erzieher manche Mißerfolge und Enttäuschungen erspart bheben.

Der zweite Teil des B. sehen Versuches dient also vornehmlich zur Unter- suchung der distributiv charakterisierten Suggestibihtät und täte dies reinlich bei geeignetem Ausbau desselben. Vorerst müßte zu diesem Ende das Reiz- Hnienbereich fallen, damit nicht der Leitgedanke des ersten Teils in den zweiten hineinverschleppt würde. Der Ausbau selbst läge analog dem des ersten Teiles (s. o. !) in einer Vennehrung der Fallenanzahl. Hierbei würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach mit zunehmender Fallenzahl die in meinem Nachversuch beobachteten Korrektionssprünge bei jeder Versuchsperson nach

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 261

und nach mit einer mehr oder weniger großen Deutlichkeit zeigen. Die Stelle des Korrektioneintrittes wäre ein Maß für die Spanne der distributiv charakterisierten Suggestibilität. Das wäre ein quantitativer Ausbau. Der qualitative hielte sich an die Ordnung des Leitgedankens, Im vorliegen- den Falle finden wir (vom Reizlinienbereich abgesehen) zwei Leitgedanken erster Ordnung: 1. „Die Linien werden größer" (die den Fallenlinien vorge- lagerten Rzl.j und 2. „Die Linien bleiben gleich" (die Fallenlinien), die ver- einigt den Leitgedanken zweiter Ordnung liefern: „Die Linien sind abwechselnd größer, gleich". Theoretisch können wir neue Leitgedanken beliebig hoher Ordnung einführen, praktisch stoßen wir schon bei solchen dritter Ordnung voraussichthch auf größte Schwierigkeiten. Es ist nämlich sehr fraglich, ob ein solcher überhaupt noch erkannt wird („Die Linien sind abwechselnd größer, kleiner, gleich") und ob, falls er es wird, er nicht sehr schnell wieder sich selbst zersetzt.

Kehren wir nun zur Besprechung der beiden SuggestibiUtätskoeffizienten zurück. Der Lsk. ist aus dem Reizhnienbereich berechnet, aber mit Benut- zung der ersten Falle, der Fsk. nur mit Benutzung des Fallenbereichs, aber nach Vorausgehen des zweifellos nachwirkenden Reizlinienbereichs. Mithin und nun komme ich zu einem Abschluß in der Charakterisierung des Binet'schen Versuches haben sich beide Koeffizienten einander infiziert, der erste gibt kein reines Maß mehr für den Automatismus, der zweite kein reines mehr für die Distribution der Suggestibi- lität. Hingegen ist er geeignet, das Wechselverhältnis von Auto- matismus und Distribution, ihre gegenseitige Beeinflussung zu studieren.

Hat sich bei Reihenvergleichungen eine starke KoiTelation im Gleich- oder Gegensinn ergeben, so bedarf der Fall eigentlich keiner besonderen Diskus- sion mehr. Man ist nach der Berechnung des Korrelationsmaßes von weiteren pädagogischen oder psychologischen Anwendungen abgesehen mit dem Problem zu Ende. Nicht so, wenn eine Korrelation anscheinend fehlt; denn dann ist zu erörtern, ob die Abwesenheit jeder Beziehung nicht auf gegenseitigen Aufhebungen innerer Faktoren beruhe, ob nicht hinter dem geduldigen, neutralen Endwert das Kampfergebnis positiver und negativer Mächte steckt. Man hat womöglich immer wird es ja nicht möglich sein zu beantworten, warum eine Korrelation fehlt, ob nicht Parameter auszuschheßen wären, um die Akorrelation in eine wertige Korrelation überzuführen.

Ich packte nun das Problem so an: Ich sah bei den beiden nebeneinander geschriebenen Rangordnungen beider Reihen (des Lsk. und Fsk.) nach, ob wirklich gar keine Ähnlichkeiten vorlägen; ich suchte nach Optimen von Ähnlichkeiten, die daran sofort erkannt werden, daß die Differenz der Rang- plätze (oder das Quadrat davon, das zur Berechnung des Korrelationsmaßes dient und neben den Rangplätzen steht) sehr klein ist. Ich nahm also die 14 kleinsten Differenzen heraus. Es sind die in Tafel 10 angegebenen Nummern der Haupttafel 3. Ein kurzer Bhck über die Plätze der Rang- ordnungen läßt uns mit einem Schlag erkennen, daß fast alle aufgeführten Ränge sonderbarerweise" der höheren Hälfte beider Reihen angehören. Das heißt ins Psychologische übersetzt: Diejenigen Schüler, die beim „Fallen- versuch" zu so hohen Rangplätzen kommen, stiegen aus dem gleichen

262

Rudolf Plaut

Tafel 10.

Nr.

Rangplatz

der

nach dem

Tafel 3

Lsk.

Fsk.

!

1 j

45

49

7 !

44

50

8

21

36

13 i

48

37

18 j

19

26

20*

28

35

27

39

41

28

37

34

29

47

39

36

33

31

40

29

33

42

46

40

44

42

38

49

25

22I-

Grunde auch beim „Reizlinienversuch" so hoch. Nachdem aber der Grund

bei letzteren der Automatismus ist, ist er es auch für erstere. Daraus folgt

eine nicht geahnte, bisher versteckt gewesene Übereinstimmung der Reihen

und der Satz: „Die automatisch charakterisierte Sug-

gestibilität zeichnet sich im allgemeinen durch einen

besonders hohen Suggestibilitätskoeffizienlen aus."

Nun probierte ich das Gegenstück, nahm wieder die Liste mit den Rangreihen und fahndete nach den Rangpaaren mit den größten Differenzen. Die sieben größten sind in der Tafel 11 aufgeführt. Eine neue Überraschung: Von den 7 Fällen gehören 6 (Nr. 5 also ausgeschlossen) nach den Rangplätzen des Lsk. in die niedere Hälfte, nach denen des Fsk. in die höhere Hälfte. NatürUch müssen bei den größten Differenzen von vornherein die Rangplätze auf ver- schiedenen Hälften der Rangordnungen liegen, aber sie könnten doch auch umgekehrt anfallen wie in unserem Beispiel. Darnach haben auf die höhere Hälfte der Rangordnung des Fallenversuchs sowohl die Schüler Anwartschaft und Aussicht, die im Reiz- linienversuch einen sehr großen, als auch die, welche dort einen sehr niedrigen Koeffizienten besitzen, also alle mit einer sehr großen und sehr kleinen automatisch i I charakterisierten Suggestibilität. Erstere werden vom

(ersten) Leitgedanken lebhaft gepackt, schießen stark voran und halten ihren Platz mit bedeutender Zähigkeit. „Der Automatismus verrät starke Standhaftigkeit oder Stabilität." Je stärker diese Schüler von der ersten idee direcMce erfaßt w^erden, desto weniger sind sie geneigt, eine Gegenidee zu übernehmen. Letztere hingegen sprechen sehr langsam auf den ersten Leitgedanken an und geben ihm sehr gemessen Spiel- raum; aber gerade deswegen sprechen sie auf den zweiten ebenso langsam an, so daß er während des kurzen Versuches keinen festen Fuß fassen konnte. Wir dürfen nicht sagen, daß diese Schüler weniger suggestibel seien, als die anderen, sondern müssen uns anders ausdrücken: sie sind langsamer suggestibel, sie besitzen die Fähigkeit, auf verschiedene Leitgedanken gleichzeitig einzugehen, in geringem Grade, ihre Sug- gestibilität ist wenig distributiv charakterisiert.

Endlich entdeckte ich auf dem Wege des Vergleichs noch ein weiteres Moment, indem ich nachsah, in welcher Gegend der Rangordnung des Reizhnien-

versuches die Varianten des Fallenversuches mit dem Suggestibilitätskoeffi- zienten 0 lägen. Da stellte sich heraus, daß alle mit dem Fsk. 0 be- hafteten Schüler beim Reizlinienversuch um die Mitte (16—26) der Rangreihe herum stehen. Dadurch wird aber nur bestätigt und bekräftigt, was wir schon hörten: Die beim Fallen versuch als nichtsuggestibel erklärten Kinder (diese Bedeutung soll doch nach Binet der Fsk. = 0 haben) sind wohl sug-

Nr.

der

Tafel 3

Tafel 11.

Rangplatz nach dem Lsk. i Fsk.

3

5

9

14

17 21 23

13

38

12

1

17

8J 15'

42

2

45 44 43

48 46

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 263

gestibel und zwar mit mittelmäßig automatischer Charakterisierung, nur haben sie infolge der Distribution der Suggestibilität dem zweiten Leitgedanken ebenso Folge geleistet wie dem ersten, so daß der zweite den ersten gewis- sermaßen in der Wirkung aufhob. Wir leiten den Satz ab :

„Die Wirkungen der automatisch und der distributiv charakterisierten Sug- gestionen stehen zueinander im umgekehrten Verhältnis und heben einan- der bei gleichen mittleren Werten auf."

Die Gegensätzhchkeit von Automatismus und Distribution kommt auch in den beiden Suggestibilitätskoeffizienten zum Ausdruck. Während der Lsk. mit dem Automatismus im gleichen Sinn zu- oder abnimmt, ist es mit dem Fsk. gerade umgekehrt: Je größer er wird, desto weniger wurden doch die Fallen erkannt und beachtet, destoweniger distributiv suggestibel erschien dann die Vp. Daran müssen wir denken, wenn wir Tafel 12 beurteilen, die obige Ergebnisse in etwas geänderter Form zusammengreift:

Tafel 12.

Lsk. i Fsk.

Ableitungen

klein groß mittel 1 0 groß groß

Die langsam ansprechende Suggestibilität besitzt geringe Dis- tribution

Mittelstarker Automatismus besitzt sehr große Distribution und sehr kleine Stabilität

Sehr starker Automatismus besitzt sehr kleine Distribution und . sehr große Stabilität

Nun ist es uns auch klar geworden, daß hinter der anscheinend nichts- sagenden Gleichgültigkeit der verglichenen Reihen zueinander nm* die Ruhe nach dem Sturm steckt, daß die Reihen in der Tat sowohl gleichgerichtete, als auch umgekehrte Korrelation bergen, aus deren Wechsel- und Gegenspiel eine scheinbare Akorrelation geboren wird.

3. Suggestibilitätskoeffizienten und Anzahl der vermiedenen Fallen.

Es ist zu erwarten, daß der Fsk. zu der Anzahl der vermiedenen Fallen in einem starken Abhängigkeitsverhältnis steht. Bei richtiger Beachtung aller

4 Fallen muß der Koeffizient gleich 0 werden (x = - = = 0). Dertlieo-

retische Wert des Fsk. für 0 vermiedene Fallen liegt auf 100. Theoretische Erwartungen und experimentelle Ergebnisse zeigt Tafel 13, Die Annäherung

Tafel 13.

Vermiedene Fallen . j 0 1

1

2

' 1

4

nach Berechnung Fsk.

100 1 75

1

50

25 '

0

im Versuch

128 65 ' 21 1 1-2

ist schlecht, weil für die Berechnung der Mittel bei 1, 2, 3, 4 Vermeidungen nur je 6, 6, 5, 4 Varianten vorliegen. Außerdem drücken negative Fsk. das

264

Rudolf Prantl

vor- und vorvorletzte Mittel (12, 21) stark herab. Aber bei alledem ist die Richtung einwandfrei und klar: Je mehr Fallen vermieden werden, desto kleiner wird der Fsk.

Ordnet man den Vermeidungszahlen 0 bis 4 anstatt der Mittel der Fsk. nunmehr die Mittel der Lsk. zu, so beobachtet man (Tafel 14) ebenfalls ein

Tafel 14.

Vermiedene Fallen Lsk

134 I 123 115 115

112

Fallen der Werte, anfangs im stärkeren, später im schwächerem Maße. Wir dringen immer mehr in das Wesen und die Psychologie des Gesamtversuches ein. Schon sind wir in der Lage, zahlenmäßig (wenn auch ;in schlechter Annäherung) zu verfolgen, wie die automatisch charakterisierte Suggestion (1. Leitgedanke) durch das vierstellige Fallensystem an Stärke verliert. Es wäre nun interessant zu erfahren, wieviel von der beim Einsatz der ersten Falle vorhandenen automatisch charakterisierten Suggestionskraft verloren geht. Die Frage kann beantwortet werden.

Alle Lsk. liegen zwischen den Grenzen 87 und 249 (s. Tafel 3). Um Prozent- vergleichungen zu ermöglichen, wollen wir die Koeffizienten zwischen die Grenzen 0 bis 100 spannen. Entspricht eine zwischen 87 und 249 ange- nommene Zahl a einem zwischen 0 und 100 ruhenden Wert x eindeutig, dann gilt doch, daß die Abstände von a zu den Grenzen 87 und 249 sich genau so verhalten, wie die Abstände von x zu den Grenzen 0 und 100; also (a 87) :' (249 a) = (x 0) : (100 x); daraus _ (a 87) 100 . "" 162

Mit Benützung dieser Formel wird a = 87 zu x = 0; a -= 249 zu x = 100; a 134; 123; 115; 112 zu x=-29; 22; 17; 15. Damit geht Tafel 14 über

in Tafel 14 a, woraus klar ersichtlich, daß ungefähr die Hälfte ^^^j der zu

Tafel Ua.

1 i Vermiedene Fallen j 0 1 1

2

3

4

i 29 ' 22

17

17

15

Beginn des Fallensystems wirksamen Suggestionskraft automatischen Charakters durch die Suggestionskraft des 2. Leitgedankens überwunden wurde.

Zwängen wir die Fsk. ebenfalls in den Zahlenraum 0 bis 100 (Grenzen 36; 145; Formel x = -ip 100), so sind die Prozentzahlen unmittel- bar mit denen der anderen Art vergleichbar (Tafel 15).

Tafel 15.

Vermiedene Fallen

0

1

Mittel der in «/o

Fsk.

umgerechneten | -r ,

91

29

56

22

31

17

26

17

15

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 265

Ich führte nun den gleichen Gedankengang anstatt mit den Maßzahlen der Fsk. und Lsk. mit den durch sie bestimmten Rangplätzen durch, wobei außer dem Multiphzieren mit 2 (die 50 Schüler ■'Äiu'den zu 100 angenommen) kein Umrechnen nötig war. Es ergab sich, daß diejenigen Schüler, welche 0 Fallen vermieden hatten, im Mittel beim Fallenversuch den 34,5 ten Rang- platz unter 50 Kindern, also den 69. unter 100 einnehmen, beim Reizhnien- versuch den 54. unter 100 usw. (Tafel 16).

Tafel 16.

Vermiedene Fallen

Mittel der f FaUenversuch . . j 69 j 47 i 20

Rangplätze \ '■ 1

beim l Reizlinienversuch 54 ^ 38 ' 43

19

47

11

41

Ich empfehle dem Leser, sich die Werte dieser und der letzten Tafel gra- phisch auf mm-Papier aufzutragen. Die Figuren zeigen den Grad von Ähn- Uchkeit, den man bei Benützung verschiedener, aber doch nicht zusammen- hangloser Methoden erwarten darf. Gleicht man nun beide Tafeln unter- einander aus, um die Härten beider zu mildern, so gehen die Werte in fol- gende über, bei denen wir es belassen wollen (Tafel 17^.

Tafel 17.

Vermiedene Fallen

! 0

Fallenversuch

Ausgeglichene Mittel

der Rangplätze beim 1 Reizlinienversuch .

80

52

26

42

30

30

23

32

28

Meine Behauptung geht jetzt dahin, daß diese ausgeghchene Tafel für die im vorigen Kapitel abgeleiteten Sätze starke Beweiskraft besitzt. In der nach dieser Tafel gezeichneten Figur 5 zeigen beide Linien- züge über 0 (0 vermiedene Fallen) ihren höchsten Punkt. Der automatisch charakterisierten SuggestiUbität kommen in beiden Versuchen besonders hohe Koeffi- zienten zu. Trotzdem hegt der Höchstw^ert der strich- punktierten Kur\^e (ReizHnienversuch) nur auf dem Mittelwert 42, da zum Höchstwert des Fallenversuches auch kleine Werte des Rzl.-Versuches gehören (s. Tafel 12). Obwohl mit dem fortschreitenden Grad der Fallen- vermeidungen der Automatismus der Suggestihbität ge- drückt wird, hat der strichpunktierte Linienzug (der nicht etwa den bloßen Automatismus, sondern die durch den Fallenversuch erfolgte Niederdrückung und die hierdurch erzwungene Lagerung illustriert,) das Be- . streben, gegen diese Vergewaltigung sich zu wehren. ° ' * 3 « Daher der Wendepunkt mn 2 herum. Der Automatismus bzw. die durch den

1. Leitgedanken eingeführte Suggestion krümmt sich unter dem Druck des

2. Leitgedankens. Automatismus und Distribution der Suggestibilität sind feind-

266 Rudolf Prantl

liehe Geschwister. Der Schnittpunkt um 2 (Mittel zwischen 0 und 4) deutet endhch an, daß die Wirkungen der automatisch und distributiv charakterisierten Suggestionen in gleichen mittleren Werten sich gegen- seitig aufheben.

d) Richtung und Schnelligkeit der Suggestionswellen. Das Problem der vor- und rückläufigen Bewegung.

Man kann insofern von einer Richtung und Schnelligkeit von Suggestions- wellen sprechen, als das Mittel der Rangplätze mit der Fortdauer der Sug- gestionswirkung nach oben oder unten oder gar nicht sich bewegt. Beide (von Binet freilich nicht unterschiedenen) Leitgedanken treten wellenartig auf; jede Rzl. bzw. jede Falle, also jedes Suggestionselement mag als Wellen- stoß angesehen werden, der den Durchschnittswert der Varianten vorwärts oder rückwärts drängt* Wir haben es mit Hilfe eines Parameters (Anzahl der vermiedenen Fallen) zuwege gebracht, die Wirkung des Rzl.-Leitgedan- kens vom Eintritt des Fallenbereichs an funktionsartig an die Wirkung des Fallengedankens zu binden, wir haben 5 bestimmte Rangplätze des ?sk. 5 ganz bestimmten Rangplätzen des Lsk. zugeordnet, wie Tafel 17 zeigt: Waren Schüler im Fallenversuch auf den Rangplätzen 6, 23, 26, 52, 80 angekom- men, so standen sie (im Mittel) unter dem Einfluß^ der Rzl. auf der 28., 22., 30., 42. Stelle im Rzl.-Versuch. Wir besitzen 5 Wertepaare (6—28; 23—32; 26 30; 52 30; 80 42) einer zwangsläufigen Bewegung zweier Reihen, wovon die eine von Rangplatz 6 bis 80 einsinnig eilt, die andere von 28 bis 42 vorwärts, rückwärts, gleich, vorwärts.

Wir fragen uns nun, ob es nicht möglich sei, die Zwangsläufigkeit zu brechen bzw. die Bewegungsrichtung der zwangsmäßig so unregelmäßig laufenden zweiten Reihe in reiner Unabhängigkeit zu zeigen, ohne natürlich den Zusammenhang zwischen den Bewegungen der Reihen zu verlieren; ob es weiterhin dann nicht möglich sei, auf die relative Schnelligkeit des Koef-

fizientenanwaches beider Reihen zu schließen, also festzustellen, ob in gewissen Punkten die erste oder zweite Reihe schneller voranstrebte. Um diese Frage zu lösen, sei eine knappe geometrische Überlegung eingeschaltet. Eine 1. Person gehe auf der Geraden I in einer bestimmten Zeit von A nach B, zugleich gehe eine 2. Person auf der zu I parallelen Geraden II von Ai nach Bi (also in entgegengesetzter '^ Richtung wie die I.Person). Mitten zwischen

den parallelen Wegen Tund II sei eine zu beiden parallele Glaswand III eingesetzt. Darauf oder darin wird die 2. Person von der 1. vor dem Gehen im Bildpunkte A2 (= Schnittpunkt des Sehstrahls A Ai mit III), nach dem Gehen im Bildpunkt B2 gesehen. Während nun die 2. Person im Gegensinn zur ersten ging, wanderte doch der Bildpunkt mit der ersten in gleicher Richtung. In dem in Figiu- 6 gezeichneten Beispiel entspricht die Rückläufigkeit der 2. Person einer Vorläufigkeit ihrer Bild- punkte auf III. Um die funktionelle Abhängigkeit von A B = a, A2 B2 = d, Bi Ai = X in einer Formel zu bekommen, ziehen wir Ci A2 C |1 Bi B2 B.

B'i Ci

B

^

-* ^Ai

\ \

^

y

\

\ -.

V

d 1

y

^

\ \

AS.

c

y

3

Suggestibilität mittels des ersten Binefcschen Linienfallenversuchs 267

Dann ist _1 Ci A2 Ai ^ ^ C A2 A. Also Ai Ci = A C, oder x -|- d = a d, oder X = a 2d. Da aber die Richtung der Strecke x zu der von a ent- gegengesetzt ist, multiplizieren wir x oder (a 2d) noch mit 1 und er- halten dann Formel 1,

1. x = 2d a,

die uns jederzeit über Richtung und Länge der von der 2. Person begangenen Strecke Aufschluß gibt, falls a und d bekannt ist. Für den Fall z. B., daß der Bildpunkt sich nicht bewegt, während Person 1 um a weiterschreitet, vdid X = a, d. h. die 2. Person wanderte die gleiche Strecke wie die 1., aber im entgegengesetzten Sinne nach B'i. Die relative Geschwindigkeit der 2. Person ist dargestellt durch:

2. ^ = 2d-a _2 d _ ^ a a a '

Von diesen Erwägungen wird man stets dann Gebrauch machen können, wenn es sich um zwei entgegengesetzt gerichtete Bewegungen zweier Zahlen- reihen handelt, von denen eine einsinnig verläuft, während die zweite selbst nicht bekannt, sondern nur die durch die erste bedingte Zwangsläufigkeit, die sich in anscheinend unerklärlichen vor- und rückläufigen Bewegungen und Stillständen äußert. Die obenerw^ähnten Mittel (80; 52; 26; 23; 61 stellen gewissermaßen die Wanderpunkte A, B usw. dar, auf ihnen steht zeitweihg der Fsk. beim Anwachsen von 0 bis 100. Von ihm aus betrachtet, scheint der Lsk. jeweils zu stehen auf den Mitteln 42; 30; 30; 32; 28. Das sind also die Bildpunkte. Tragen wir nun auf zwei parallelen Geraden von senk- recht übereinanderstehenden Anfangspunkten aus die angegebenen Werte auf und verbinden korrelate Punkte geradlinig miteinander, schneiden wir dann die Fortsetzungen dieser Verbindungsgeraden durch eine dritte Pa- rallele, die außerhalb des Schnittpunktsystems aller Verbindungslinien läuft (in unserem einfachen Falle in doppelter Entfernung von der ersten Geraden), und numerieren wir die Schnittpunkte der Verbindungsgeraden mit der eben gezeichneten Geraden der Reihenfolge nach, so löst sich mit einem Schlag die auf der mittUeren Paiallelen störende, schwer verständliche Vor- und Rückläufigkeit der Punkte auf. Die Reihenfolge der Punkte der Pa- rallele in ist der der Parallen I ent- gegengensetzt, die aus Formel 2 be- rechneten relativen Geschwindigkei- ten alle dementsprechend negativ (— 0,43; 1; 2,33; 0,53).

Das Hauptergebnis der durchgeführten Transformation ist die Bestätigung der Tatsache, daß mit dem Anwachsen des Fsk. die Abnahme des Lsk. einhergeht, aber mit ungleicher Geschwindig- keit. Weiter gehe ich auf spekulative Auslegungen der Figm- 7 nicht ein. Wenn die differientielle Psychologie das Theorem der Vor- und Rück- läufigkeit ausbauen würde, um sie praktisch für die Reihen vergleichung anzuwenden, um innere Bewegungen von Reihen auf ihre Richtung und Geschwindigkeit zu untersuchen, oder es sonstwie auszubeuten, so hätte ich mit dieser Anregung genug getan.

268 Rudolf Prantl

e) Normalform des Binetschen Versuches.

Binet gibt keine Gründe an, warum er für seinen Versuch 5 Rzl. und 4 Fallen verwendet. Warum nimmt er nicht 3 oder 8 Rzl. und 5 oder 7 Fallen? Gewiß hat Binet nur auf gut Glück den Versuch in der uns bekannten Form zusammengestellt, ohne sich über diese grundlegenden Fragen vorerst den Kopf zu zerbrechen, und es ist auch fast ein Ding der Unmöglichkeit, auf rein theoretischem Wege ein Optimum aller Versuchsbedingungen festzulegen. Das ist immer erst nach Erledigung von Vorversuchen oder Durchführung des Hauptversuches angängig. Eine Art der Beantwortung bestände darin, den Versuch mit Abänderungen wiederholt durchzuführen und die Ergebnisse zu vergleichen. Das wäre ein zeitraubendes, schwieriges und doch von Anfang an schon zweifelhaftes Unternehmen, da es immerhin eine mißliche Sache ist, Suggestionsversuche an gleichem Schülermaterial zu wiederholen, das dann schon voreingenommen ist, selbst wenn nicht durch Redereien unter ein- ander der Witz des Versuches bekannt wurde. Neues Material hingegen schiebt wieder geänderte Voraussetzungen hinein, deren Fehler bei der Auswertung der Resultate schwer zu eliminieren sind. Wir wollen daher versuchen, obige Frage aus dem einen Versuch heraus zu beantworten.

Wir interessieren uns zuerst, wieviel Rzl. dem Binet'schen Versuch am besten entsprechen. Die Aufgabe derselben ist bekanntlich, den Leitge- danken des Linienzuwachses auf kräftige Weise zu erwecken. Diesen Zweck erfüllen sie denn auch, wenn man nicht störendes Beiwerk (Quadrierung) einflicht, in der wünschenswerten Art, aber nicht jede in gleichem Maße. Ein Maximum ihrer Wirkung wird nämlich verhältnismäßig bald, schon mit der 4. Rzl. erreicht. Ein Maximum, sagte ich, da ich nicht weiß, ob nicht bei Fortsetzung des Rzl.-Systems noch ein 2. oder 3. noch kräftigeres ein- träte. Aber selbst für den Fall, daß dem so wäre, hätten wir keine Zeit und kein Verlangen darauf zu warten, weil damit die Modellinien überhaupt viel zu sehr in die Länge gerieten, womit das Schätzungsvermögen und die Fähigkeit, konstante Längenzuwachse zu erkennen, gemäß dem Weber'schen Gesetz verschlimmert würde. Wenn diese Verschiebung in kleinen Grenzen bleibt, so ist sie nur z weckdienhch ; denn etwas Unsicherheit leistet[dem Leitge- danken Vorspanndienste. Aus diesem Grunde ist es auch nicht erforderlich, sofort mit der 4. Rzl. das Gefüge derselben abzubrechen, trotzdem das Warn- signal des Maximums ertönt, sondern können noch die 5. Rzl. mitnehmen, besonders auch darum, weil das Mittel zwar von 16,58 mm auf 14,38 (s. Tafel 3) zurückgeht, dieses Mittel aber doch noch beträchtlich über normal- 12 steht. Kurz gesagt, ich glaube, daß die Anzahl der Rzl. von Binet so gut als möglich erraten wurde.

Das Fallenbereich mag so weit ausgedehnt werden, bis sich ungewollte Störungen bemerkbar machen, daß etwa Korrektionssprünge einsetzen, die mit ihren übergroßen Werten das Gesamtresultat der anderen Schüler über- tönen. Diese Störung tritt bei der 4, Falle meines Nachversuches schon in 2 Fällen ein (s. Nr. 11 und 13 von Tafel 3). Ich durfte die besternten Zahlen auch schlechterdings nicht zur Berechnung des Mittels und des Fsk. mitbe- nutzen. Ich stellte letzteren dadurch fest, daß ich das Mittel der 3 ersten Fallen durch das Mittel der sie einschheßenden 4 Rzl. dividierte und den Quotienten mit 100 multiphzierte. Daß man auch noch anders verfahren

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfflllenversuchs 269

kann, werde ich noch zeigen. Der Umstand, daß die 4. Fallengruppe (mit der vorangehenden Rzl.) schon Störungen verursachte, führte mich auf den Gedanken, die Fsk. aller Schüler mit Benützung von nur 3 Fallen (der ersten drei) zu bestimmen und nach Reihenbildung (Rangplätze) das Maß der Kor- relation mit der mittels der 4 •= Fsk. hergestellten Reihe zu berechnen. Ich erhielt p = 0,93 bei einem wahrscheinl. Fehler von 0,01. Diese fast voll- kommene Korrelation macht die 4. Fallengruppe entbehrlich. Von der 3. zur 4. Falle tritt nur eine schwache Änderung in der Folge der Fsk. ein. Es lag nahe zu untersuchen, ob nicht et^^a auch noch die 3. Falle überflüssig sei. Ich berechnete also in der angegebenen Weise auch noch die Korrela- tion der Reihen, die aus den Rangordnungen mit Benützung von nur zwei Fallen und endlich nur 1 Falle des in Tafel 3 dargestellten Versuches sich ergeben. Die Maße stehen in Tafel 18, ebenso die wahrscheinlichen Fehler.

Tafel 18.

Maß der Korrelation des 4 -Fallenversuchs mit dem

Fallenversucli

4-

i 3-

2-

1-

0-

Q =

1

'■ om

0,86

068

0,20

w F =

0

' 0,01

0,03

0,05

0.096

Man könnte zur Not selbst mit 2 Fallen sich begnügen. Das Korrelations- maß g ^ 0,86 ist immer noch sehr groß. Die Zahlen bekunden übrigens eine Einheitlichkeit des ganzen Fa 11 enUnien Versuches insofern, als dies Kor- relationsmaß mit dem R z l.-Versuch, den ich in Tafel 18 einfach als 0- Fallen versuch eintrug, auf 0,20 abstürzt.

Auf Grund der vorstehenden Überlegungen geben 5 Reizlinien und 3 Fallengruppen die Normalform des Binet'schen Originalversuches. Will man aber die 4 Fallen beibehalten oder sogar zum Zwecke der Unter- suchung der Suggestibiliiätsspanne vermehren, so darf man den Fsk. mit Benützung von n 1 Fallen berechnen, wenn bei dernten Fallen- gruppe Störungen eintreten.

f) Maß der Ablenkung des ersten Leitgedankens.

Die Methode der Reihenvergleichung benutzte ich überdies, um einen anderen Gedanken, der den Versuch B.s im ganzen betrifft, zahlenmäßig zu verfolgen. Nachdem B. doch zur Bestimmung des Lsk. auch die 1. Falle noch mitnimmt (s. S. 258), müssen der Rzl.- und der FaUenversuch trotz ihrer entgegengesetzt gerichteten Leitgedanken doch ein Stück Übereinstimmung besitzen. Dieser geringe Verwandtschaftsgrad tritt zutage, wenn man die Kinder nach dem mit Benutzung nur einer Falle (der ersten) berechneten Fsk. ordnet und die erhaltene Reihe mit der nach dem Lsk. geordneten Reihe vergleicht. Das Maß der Korrelation ist q = 0,54 (w. F. = 0,31). Der erste Leitgedanke geht also offenbar in den 2. Teil des Versuches, den FaUenversuch über, \NTrd aber schon mit der 1. Falle gebrochen und weiterhin immer noch mehr, wie ein fortgesetztes Vergleichen des Rzl.-Versuches mit dem Ein-, Zwei- Drei-, Vierfallenversuch ersichtlich macht.

270

Rudolf Prantl

Tafel 19.

_ Maß der Korrelation des Reizlinienversuchs mit deni

Fallenversucli

0-

1-

2-

3-

1 4- 1

Q =

1

0,54

0,35

0,30

0,20

w F =

0

0,07

0,09

0,091

0,096

Mit Hilfe der in Tafel 19 aufgeführten Werte kann man das Schicksal des im Rzl.-Versuch entstandenen Leitgedankens, der in den Fallenversuch ein- dringt, verfolgen. In Figur 8 sei durch AO die Richtung (nicht die Größe!) des Leitgedankens charakterisiert. Er dringt bei 0 in das Gebiet des Fallen- versuches ein und würde bei völlig gleichgerichteter Korrelation der Reihen (o = +1) ohne Richtungs- änderung gegen B zustreben, bei vollkommen umgekehrler Korrelation (o = 1) aber nach A zurückge- worfen, bei Abwesenheit jeder Kor- relation (q = 0) nach C, der Mitte zwischen B (+ 1) und A ( 1) hin- gebrochen werden. Rechnen wir also 0,54; 0,35; 0,30; 0,20 in Winkelgrade um: {rp = 0,54"" 90 =) 48,6«; 31,50; 27,00; 18,00 und tragen diese auf den vier Kreisbögen auf, welche die stufenweise Fortsetzung des 4-Fallenversuches darstellen, so gibt der Linienzug 0 I II III IV ein anschauliches Bild der Ab- lenkung der Leitidee durch eine entgegengesetzte zweite.

Im Zusammenhalte mit dem Ergebnis von S. 264 geben wir über das Schicksal der idee directrice folgenden Aufschluß: Sie wird von ihrem Eintritt in den Fallenversuch an im ganzen um 720 ge- brochen und verliert etwa die Hälfte ihrer Wirkungskraft.

III. Der Gegenversuch.

a) Versuchsanordnung.

Der B.sche Linienfallenversuch erlaubt verschiedene Umkehrungen. Der Leitgedanke „Die Linien werden immer größer" ist nur ein Spezialfall eines allgemeineren „Die Linien zeigen in ihrer Folge eine gewisse Regelmäßigkeit." Die Regelmäßigkeit besteht bei Suggestionen erster Ordnung nur von solchen ist hier die Rede entweder im Anwachsen, oder im Abnehmen oder im Gleichbleiben. Den zweiten FaU bringt dieser Gegenversuch.

Zur Erweckung der Autosuggestion „Die Linien werden immer kleiner" bedürfen wir wieder Rzl., und zwar nahm ich in Übereinstimmung mit dem Originalversuch deren fünf. Am einfachsten wäre es nun allerdings gewesen, die ModelUnie des B. sehen Versuches in umgekehrter Reihenfolge anzuordnen, wobei dann mit Hereinnahme der 4 Fallengruppen folgende Scharung ein- getreten wäre:

Nr. \ Länge /

der Linie:

1 96

2

84

3 72

4 60

5

48

6 48

36

8 36

9 24

10 24

11 12

12

12 (mm)

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 271

Diese Fassung mußte sofort abgelehnt werden, da doch erster s nach unten hin kein Spielraum mehr zur Auswirkung des Leilgedajikens bliebe und zweitens das durch die kürzeren Linien garantierte Schätzungsvermögen dem Leitgedanken zu sehr widerspräche. Ich schob also den ganzen Zahlensatz um 24 mm nach oben, so daß er sich zwischen 36 und 120 mm bewegt.

Tafel 20.

Linienfolge

Länge

Linienfolge

Länge

1

120 mm

7

60 mm

2

108 ,.

8

60

3

96 ,.

9

48

4

84

10

48 .,

5

72

11

36 .,

Falle 6

72 ..

.12

36 ..

Bezüglich der weiteren Ausführung verweise ich auf Abschnitt I. Das Schülermaterial war das gleiche. Der Gegenversuch wurde sofort bei jedem Kinde im Anschluß an den Nachversueh durchgeführt. Tafel 21 enthält alle Ergebnisse aller Schüler.

b) Reizlinienbereich.

Die Reproduktion der 1. Linie von 120 mm als Versuch für sich aufgefaßt ei^bt, daß von den Schülern die genannte Modellinie im Durchschnitt unter- zeichnet wurde (115 mm). Aus der sehr großen Streuung aber von (174 84 =) 91 mm ersehen wir schon die sehr große Unsicherheit in der Schätzung. Stellen wir einmal die Streuungen bei den isoliert gezeichneten Linien und den ersten der Versuche (bei denen noch keine Suggestion wirkte) zusammen, so offenbart sich mit zunehmender Länge der Modellinie eine Zunahme der Streuung (Tafel 22.)

Tafel 22.

Modellinie 1 . .

12 36

72

96 1

120

Streuung s . .

i 22

1

28

51

68 '■

91

Reproduktion r

1 13^

363

69,9

943 '

115,0

Zwischen der wahren Länge 1 der Modelhnie, dem Mittel der Reproduktionen r und der dabei anfallenden Streuung s bestehen zweifellos verschiedene Zusammenhänge, die wert wären, einmal in Sonderstudien bearbeitet zu werden. Die Streuung s übertrifft bei sehr kleinen Linien deren tatsächUche Ausdehnung 1, um 1-30 mm herum aber bleibt s hinter 1 schon zurück.

r Der Quotient scheint von einem verhältnismäßig kleinen Wert an (etwa

20 mm) eine Konstante (etwa k = l,2) zu sein; das Produkt r s (==ks2) liefert dementsprechend eine Parabel. Trägt man nämlich die Produkte r s (aus Tafel 22 zu entnehmen) als Ordinalen zu den Abszissen 12, 36 usw. auf, so läßt sich durch die Endpunkte annähernd eine Parabel von

der Gleichung v = k x^ legen, worin k = . Daß zwischen 1 und r

s

Beziehungen herrscheu, derart, daß etwa um 70 mm herum =1 wird (Optimum des Schätzungsvermögens), hörten wir schon.

272

Rudolf Prantl

Tafel 21.

ei5 JS

2

1 1 1

1^

Differenz dei

Linien

i 11 u. 2 Falle

Liniensuggestibilitäts- koefrizient

i

iS

■5.2 taug 3 o

1

1

"5

a

c

s

lu.2

1 2u.3

3u.4

4u.5

5u.6 FaUe

6u.7

7u.8: Falle

8u.9

öu.lO Falle

lOu.ll

1 « >

1

122

—9

—4

29

16

20

—8

15

13

11

7

6

88

186

0

2

132

0

35

23

0

4

19

0

11

—7

16

—5

88

- 17

3

3

102

0

0

16

7

0

9

—4

27

5

10

6

67

13

2

4

99

—44

60

11

•6

0

3

3

8

5

3

5

80

65

1

5

106

18

7

9

6

0

6

0

8

0

14

0

84

0

1

6

155

15

14

12

12

11

13

11

14

13

14

—7

101

53

4

7

106

—16

0

5

20

4

25

0

17

0

18

0

56

5

3

8

92

—6

10

7

16

3

6

4

5

6

7

4

75

50

0

9

115

0

8

14

7

9

11

0

9

5

17

—8

93

14

2

10

93

0

0

0

16

0

13

0

7

0

13

0

74

0

4

11

124

0

—9

30

17

0

7

—5

10

12

18

0

85

13

3

12

83

11

—11

11

8

5

7

0

9

4

4

0

74

32

2

13

144

0

0

23

18

19

16

0

6

0

12

16

86

34

3

14

165

0

8

8

5

13

10

21

14

18

11

0

86

166

0

15

117

0

13

18

0

22

8

0

17

0

11

0

81

^1

3

16

119 1

6

7

14

0

9

13

11

11

0

6

3

78

77

1

17

112

4

15

9

10

6

7

3

5

3

12

3

88

44

0

18

111

—15

9

14

12

13

15

12

12

10

9

8

79

90

0

19

121

4

2

34

8

7

6

3

18

5

6

0

88

39

1

20

129

3

8

10

4

10

16

7

24

2

10

3

90

41

0

21

108 ,

6

4

9

20

2

12

4

9

2

7

2

81

21

0

22

114

—18

-7

49

21

9

4

0

15

7

7

0

95

34

2

23

121

4

0

9

12

8

6

9

11

16

4

10

93

130

0

24

115

0

8

11

8

9

10

8

22

0

4

3

81

45

1

25

109

5

4

18

2

6

18

—5

11

3

8

4

74

21

1

26

105

0

16

11

11

0

8

0

14

0

11

0

76

0

4

27

106

—15

—16

55

21

—12

26

7

19

—5

15

—6

63

-37

4

28

92

—19

-12

-13

79

—17

17

2

19

—1

9

—1

58

—14

3

29

115

0

0

0

29

0

0

0

30

0

0

0

96

0

4

30

115

0

17

12

18

-15

23

0

3

0

15

0

95

—25

4

31

106

5

17

8

6

—4

9

13

7

—2

16

—2

70

13

3

32

110

0

19

12

11

6

3

1

6

1

18

3

92

24

1

33

115

0

15

14

18

11

0

0

10

0

10

0

109

29

3

34

116

0

0

19

12

9

26

—9

15

0

9

8

79

13

2

35

142

0

11

7

0

8

40

6

7

0

14

10

78

39

1

36

89

—4

-4

14

17

—4

13

—4

19

6

7

—3

60

—9

3

37

108

0

—10

17

24

0

10

0

15

0

14

0

71

0

4

38

94

—26

—18

—6

88

—5

—5

—8

46

—4

10

—3

81

—16

4

39

117

—8

—13

—10

65

—6

28

6

4

5

11

8

73

12

1

40

122

—18

-10

—6

54

15

13

10

5

—10

18

8

90

16

1

41

100

0

13

10

6

3

10

2

9

3

7

5

71

41

0

42

107

—14

—11

43

18

11

12

—6

13

—2

11

0

88

6

3

43

120

0

34

9

0

5

15

0

6

0

14

0

79

14

3

44

115

0

0

29

20

9

0

5

6

0

15

0

96

34

2

45

111

—2

18

8

17

4

11

4

9

'2

7

3

85

30

0

46

115

—13

17

—2

27

8

7

6

17

4

8

0

96

31

1

47

137

15

3

20

15

8

16

5

8

4

10

4

96

43

0

48

174

—16

62

26

—13

29

17

11

16

—16

16

0

77

67

2

49

91

—10

—7

-4

49

5

5

5

4

6

4

5

81

32

0

50

115

-7

0

34

9

S

19

0

3

3

12

2

77

18

1

Mittel

116,02

-3,42

6,44

14,12

17,04

5,20

11.50

2,78

12,46

2,22

; 10,66

1,88

Suggestibilität mittels des ersten Binetachen Linienfallenversuchs 273

Die Unterschätzung der Modellinie von 120 mm fällt ebenso wie die Zu- nahme der Streuung in die Erweiterung der früheren Ergebnisse. In den nächsten 3 Spalten stoßen wir hingegen auf eine neue nicht erwartete Er- scheinung. Spalte 2, 3, 4, 5, enthält bezw. 19, 13, 6, 1 negative Einträge. Verschiedene Kinder zeichneten also die kleineren Linien größer und zugleich einigemal hintereinander, so z. B. Nr. 38, 39, 40. Erst bei der 5. Rzl. merkten diese Kinder, daß ihre Reproduktionen denn doch viel zu groß ausgefallen waren und suchten dann ihren Irrtum durch starke Korrektursprünge von 54, 65, 88 mm wett zu machen. Außerdem enthalten Spalten 2, 3, 4, 5 bezw. noch 19, 8, 2, 4 mal 0. Die Längenabnahme wurde demnach (zusammen mit den negativen Einträgen) in 75, 42, 16, 10^ o nicht erkannt. Über drei Viertel der Versuchspersonen merkten bei der 2. Rzl., beinahe die Hälfte bei der 3. noch gar nicht den Rückgang der Linienlängen. Der Grund hierfür ist entweder der Umstand, daß im vorausgegangenen Versuch die Linien wuchsen und die Kinder glaubten, es ginge dies nun so weiter; oder er hegt auf der Linie des Weberschen Gesetzes, wonach bei verhältnismäßig großen Reizen ein kleiner Reizunterschied nicht, also auch der Richtung nach nicht erkannt wird, oder endUch in der Neigung, die Punkte in Unsicherheit über- haupt lieber nach rechts als nach links abzuselzen, da die Hand gewöhnt ist, während des Schreibens nach rechts weiter zu gehen.

Über die Stichhaltigkeit des ersten Umstandes verschaffte ich mir dadurch Aufklärung, daß ich nach einem halben Jahr den Versuch an 26 Schülern einfach wiederholte und diesmal den Gegenversuch voraus nahm. Dabei zeigte sich aber, daß immerhin etwa die Hälfte der Versuchspersonen bei der 2. Rzl., und ein Viertel bei der 3., ein Fünftel bei der 4. und 5. Rzl, sich über die Richtung der Linienveränderung nicht klar war. Der unmittelbare Vorangang des Nachversuchs nimmt dementsprechend etw^a den dritten Teil der Anomalie auf sich, das übrige ist den anderen Umständen zuzuschreiben.

Mein Gegenversuch krankt von Anbeginn an zwei Übeln: Ich durfte dem Versuch nicht einen anderen vorangehen lassen. Die Magnetnadel der Sug- gestibilität besitzt eine überaus feine Empfindsamkeit. Dieser rein persönliche Mißgriff könnte aber leicht bei weiteren Nachversuchen vermieden werden, wenn ihm überhaupt viel Bedeutung zukommt. Es fällt mir selbst\'erständlich nicht im mindesten ein, einen Fehler zu beschönigen, wenn ich hinzufüge, daß infolge der großen Korrektionssprünge der auf einmal erwachte Leit- gedanke von besonders großer Kraft war, da er ja explosionsartig nach Überwindung einer nachweisbar von Anfang an bestehenden Spannung ent- sprang. Darin, daß, wie bei Nr. 38 oder 40 die negativen Eintragungen absolut genommen allmähUch abnehmen, sehen wir schon einen Kampf zwischen dem alten Leitgedanken des Linienzuwachses aus dem Nachversuch und dem zweifelnden Vermuten, daß diesmal doch eine neue Sachlage bestände. Manchmal sprach ein Kind: „Die Linien werden kleiner, und ich habe sie immer größer gezeichnet!" Ich staunte oft über die zweifelnde Haltung der Schüler beim Zeichnen der Punkte. Die rechte Hand fuhr in nervösen Zick- zackbewegungen wie ein Pendel hin und her, unwissend, wohin der Punkt gehöre, bis schließlich fast eine Art Zufall die Lage desselben bestimmte. Ich hatte mitunter den Eindruck einer fein spielenden Wage, auf der der alte und der neue Leitgedanke mn die Vorherrschaft stritten. Durch das Bewußt- werden des Irrtums wTirde ein starkes Erfassen des eigentlichen Leitgedankens

Zeitschrift f. padagog. Psychologie. IS

274

Rudolf Prantl

bewirkt, das sich in einem auffallenden Anwachsen der Mittel von 3,42 bis + 17,04 bemerkbar macht.

Die zweite Mißlichkeit des Gegenversuches ruht darin, daß die Rzl. in schwerer abschätzbaren Höhen spielen, sie also größtenteils ihre Aufgabe gar nicht erfüllen. Ein einwandfreier Spiegelversuch mit Beibehaltung der konstanten Liniendifferenz von 12 mm ist also zum B. sehen Originalversuch nicht aufstellbar. Es wäre eine Sonderfrage für sich, welche Differenzen man den Rzl. geben müßte, damit sie zu Suggestions- elementen von gleicher Stärke wie die des Original Versuches würden.

c) Fallenbereich.

Figur 9 gibt den Überblick über den ganzen Gegenversuch (als Gegenfigur zu Figur 4). Diesmal hegt der Linienzug fast ganz über der Normallinie, obwohl das Gegenteil erwartet worden wäre. Im ausgeprägten Bogea nach

rechts sind die unter b. erwähnten Mißlichkeiten klar zum Ausdruck ge- bracht. Wieviel hiervon als Nach- wirkung des unmittelbar vorange- gangenen Versuches anzusehen ist, gibt uns der Abstand des ausge- zogenen zum punktierten Linienzug, welch letzterer das Ergebnis des Wiederholungsversuches illustriert. Im Zusammenhalt damit haben wir hierin auch ein Bild von der Wir- kung einer zurückgedrängten und sich dann um so lebhafter Platz machenden Suggestion. (Das wäre ein Kapitel für sich.) Wir bemerken, daß unter dem Reaktionsüberdruck der Linienzug sich gegen das Ende hin endlich der NormalUnie bis zur Schneidung nähert, während der ^ punktierte Zug mit verhältnismäßig

günstigerem Anfang über derselben «ö ioi 96 s; "72 60 48 56 bleibt. Die Fallen wurden beim

Gegenversuch in reicherem Maße bemerkt als beim Nachversuch. Im ganzen wurden 91 (gegen 49) vermieden. Der Gegenversuch bot nur halbe Schwierigkeit. Die ModelUnien führen ja von einem Bereich des schlechten Schätzungsvermögens in das des günstigeren hinein. Auf die 4 Fallen I bis IV verteilen sich die 91 Vermeidungen mit 15; 24; 25; 27 Fällen. Die Zahl der Vermeidungen nimmt diesmal reinhch zu.' Ist einmal die erste Falle erkannt und vermieden, so sind die übrigen leicht zu vermeiden. Der Leitgedanke hatte schwächere Suggestionskraft.

d) Suggestibilitätskoeffizienten. Die Bestimmung des Fsk. erfolgt auf ganz gleiche Weise wie beim Nach- versuch; die des Lsk. hingegen erfordert mehr Mühe. , Hierbei sollte ja nur die Suggestionswirkung der ersten 5 Rzl. verwertet werden. Indem die Schuler

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 275

Linien von 120, 108, 96, 84, 72 mm hintereinander zeichneten, sollten sie unter dem Einfluß des dabei entstehenden Leitgedankens „Die Linien werden immer kleiner" bei der Reproduktion der zweimal gebotenen Linie von 72 mm dieselbe bedeutend unterzeichnen, so wie umgekehrt beim Nach versuch die Modellinie von 60 mm kräftig überzeichnet wurde. Während aber damals von einem bestimmten Punkte, vom 0- Punkt aus begonnen wurde, mußte diesmal mit einem unsicher wiedergegebenen Punkte, nämlich dem von 120 mm, der bekanntUch unterschätzt wurde, eingesetzt werden. Es war also notwendig, erst rechnerisch die Reproduktionslänge dieses Endpunktes z und damit auch den 6. gezeichneten Punkt a so zu normieren, als wäre z tatsächlich gleich 120 gezeichnet worden. Da der Abstand von a einmal von 0 und z, dann von 0 und 120 dem Verhältnis nach gewahrt bleiben mußte, bestimmte sich der Wert von a aus a : (z a) = x : (120 x), daraus x ==

120. Damit waren noch nicht alle Schwierigkeiten gehoben. Der Lsk,

müßte doch um so größer ausfallen, je mehr die isoliert gezeichnete Linie

von 72 mm unterzeichnet wurde. Die reproduzierte Länge hiervon d war

also durch x zu dividieren und der Quotient endlich (analog dem früheren

Verfahren) mit 100 zu multiplizieren. Somit war der Lsk. zu berechnen aus:

d , ^^ 100 d z 5 d z ^ ^ , . ^.. ^

Lsk== 100= ^„— = -. . Daß man auf eme so umstand-

X 120 a 6 a

liehe und verhältnismäßig mühselige Weise vorzugehen hat, ist an sich kein Nachteil. Jeder, der etwas in Reihenvergleichungen gearbeitet, weiß, daß man um ein paar numerischer Angaben willen oft ein paar Tage ange- strengt zu rechnen hat. Arbeit und Zeit spielt in der Wissenschaft keine prinzipielle Rolle. Anders ist es aber, wie es hier zutrifft, daß ein zu ver- wendender algebraischer Ausdruck mehrere Größen enthält, deren jede in ihrer Entstehung Zufälligkeiten ausgesetzt war, so d, z, a, ein Umstand, der den Wert des Gegenversuches auch nach dieser Seite herabsetzt.

Die Lsk. sind fast ausschließlich unter dem Normalwert 100, was dafür spricht, daß die Suggestivkraft des Leitgedankens sehr schwach war.

Zwischen den aus dem Lsk. dieses und dem Lsk. des Nachversuches gebildeten Reihen herrscht soviel wie keine Korrelation (o = 0,02) , eben- sowenig zwischen den aus den Fsk. gebildeten Reihen (o-= 0,18j. Unterein- ander haben sie aber eine bescheidene Korrelation (o = 0,39). Daraus wäre normalerweise der Satz abzuleiten, daß die Fähigkeit der Seele, auf den Leitgedanken des Linienzuwachses einzugehen, eine ganz andere sei, als die auf den der Linienabnahrae. Aber ich wage nach den geschilderten Uner- quicklichkeiten, die dem Gegen versuch anhaften, kaum diesen Schluß zu ziehen, obwohl er a priori nicht von der Hand zu weisen wäre, da die SuggestibiUtät sehr diffiziler Natur zu sein scheint und auf anscheinend ähnliche Suggestionen doch ganz verschieden ansprechen könnte.

Ich darf auch deswegen jenen Satz nicht aufstellen, weil trotz allen Nicht- übereinstimmens der Reihen die Ergebnisse beider Versuche doch einiger- maßen einander gleichkommen. Es fheßt nämlich noch eine letzte Vergleich- quelle, und die ist diesmal gewiß die lauterste, weil sie die mit vielen Um- ständlichkeiten und Zufälügkeiten behafteten Koeffizienten nicht braucht. Ich meine einen Vergleich auf Grund der Anzahl der von jedem Kinde in beiden Versuchen jeweils vermiedenen Fallen. Jeder Schüler konnte in

18»

276

Rudolf PrantI

jedem Versuche 0, 1 , 2, 3, 4 Fallen vermeiden ; das sind zwei gleiche Elementen- reihen, aus denen man ein einziges Element zur Bildung von Komplexionen, 80 oft es angeht, verwenden kann. Die Anzahl der Variationen ist dann gleich 52. Am einfachsten und übersichtlichsten tragen wir dieselben in eine Verteilungstafel ein (Tafel 23). Hat z. B. ein Kind im Gegen(x)- Versuch

2 Fallen vermieden, im Nach(y)-Versuch deren 3, so wird es mit 1 in dem Felde eingetragen, wo die mit 2 überschriebene Vertikalreihe mit der mit

3 überschriebenen Horizontalreihe sich schneidet.

Tafel 23.

0

1

2

3

4

0

10

5

5

5

4

29

1

2

2

1

1

6

.^ !

5

1

6

3

1

3

1

5

4

1

i

2

2

4

12

12

7

11

8

S = 50

Wir haben so eine äußerst einfache und klare Verteilungstafel gewonnen, die noch dazu den Vorteil hat, daß bei ihrer Anlage bezüglich der Bildung von Fächern keine Willkür herrschte. Würden beide Versuche nach der Anzahl der vermiedenen Fallen völlig übereinstimmen, so träten nur die Komplexionen 00, 11, 22, 33, 44 auf, d. h. dann wären in der Ver- teilungstafel nur die Felder besetzt, die von der Diagonale von links oben nach rechts unten durchlaufen werden. In unserem Beispiel treffen (10-4-2-1-3 + 2=) 17 Fälle darauf. Umgekehrt enthalten die Felder der Diagonale von rechts oben nach links unten die Komplexionen, die eine vollkommen umgekehrte Korrelation erzeugen (40 usw.). In unserem Bei- spiel sind es 5 Fälle.

Der Mittelwert der ganzen Tafel berechnet sich aus

:Sxy 126

-— =__i=^ = ^ = 0,654.

y ^x2 ^y2 "[7 267 ^"'^

r =

139

Der wahrscheinliche Fehler ist

j J.2 \ 0 654-

w F = 0,67449 -7=^ = 0,67449 . '- = 0,054, also etwa 11 mal so klein

]/n y50

als r, woraus ebenfalls hervorgeht, daß diese Vergleichsweise in diesem Falle

die sicherste ist. Da r = 1 vollkommen gleichgerichtete, r = 1 vollkommen

umgekehrte Korrelation, r=0 das Fehlen jeder Korrelation bezeichnet, sagt

unser sehr sicherer Wert r = 0,654, daß der Nach- und Gegenversuch in bezug

auf die Vermeidung der Fallen verhältnismäßig noch gut übereinstimmen, daß

also die Suggestibilität für einen umgekehrten Leitgedanken doch

etwa die gleiche ist wie für den ursprünglichen. Ich belasse es

bei diesem Hauptergebnis der Vergleichung beider Versuche.

Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 277

IV. Übersicht Ergebnisse Probleme.

Der eingangs beschriebene Binetsche Linienfallenversuch erweist sich für die Bestimmung der Suggestibihtät an sich als nicht sehr brauchbar, verfolgt den von B. angegebenen Zweck nicht, wenigstens nicht unmittelbar. Er arbeitet nur mit Autosuggestionen, bezieht sich also durchweg auf eine Art Autosuggestibilität und könnte somit, von anderem vorerst abgesehen, zur Aufhellung der Beziehungen zwischen Suggestionen und Autosuggestionen, z\\ischen Suggestibilität und Autosuggestibilität mitvei'A^'endet werden.

Er besteht trotz aller äußeren Einfachheit aus zwei wesentlich verschiedenen Teilversuchen, deren Leitgedanken einander direkt aufzuheben und durch Richtungsablenkung abzudrängen bestreben. Somit eignet er sich vorzüglich zur Untersuchung einander widerstrebender und bekämpfender Autosuggestionen.

Die Normalform bestände aus 5 Reizlinien und 3 Fallengruppen. Der erste Bestandteil des Versuches, das Reizliniensystera für sich, liefert eine einfache Methode zur Prüfung der automatisch charakterisierten Suggestibilität, die in dem hiernach berechneten Lsk. ihren rechnerischen Wert erhält. Diese Methode verdiente weiteren Ausbau durch Erweiterung des Rzl. - Bereichs. Ebenso ließe sich der zweite Bestandteil des Versuches, das Fallensystem, weiter ausbauen. Dieses wirft auf eine andere Seite der Suggestibilität, die Distri- bution, ein bedeutsames Licht. Der Ausbau beider Teile gibt ein Verfahren zm-Untersuchung der automatisch bzw. distributiv charakterisierten Suggestibilität. Wie das Ergebnis des Reizhnien Versuches (1. Teil) jeweils durch den Lsk. kurz zusammengefaßt wird, so auch das Resultat des Fallenversuches (2. Teil) durch den Fsk. Aus der Vergleichung der nach dem Lsk. und Fsk. bildbaren Reihen fließen folgende Sätze: 1. Die langsam ansprechende Suggestibilität (geringes Reaktionsvermögen) besitzt geringe Distribution. 2. Mittelstarker Automatismus besitzt sehr große Distribution, sehr kleine Stabilität. 3. Sehr starker Automatismus besitzt sehr kleine Distribution und sehr kleine Stabilität. Diese Sätze sind insofern nicht gesichert, als die Versuchspersonen nur auf zwei verschiedene Leitgedanken anzusprechen brauchten. Durch Einführung mehrerer Leitgedanken sind sie zu verallgemeinern. Wahrscheinlich gipfeln alle im allgemeinen (erst nachzuweisenden) Gesetze: Mit Zunahme der Distri- bution nimmt die Stabihtät ab. Auf je. mehr Leitgedanken ein Individuum reagiert, desto weniger stark läßt es sich von jedem solchen beeinflussen. Endlich scheint die Suggestibihtät bei „Umkehrung von Leitgedanken" unge- fähr gleich zu bleiben.

Bei der Gegenüberstellung des Original- und Nachversuches überraschte eine starke Verschiedenheit der Ergebnisse, die auf die Verwendung von quadriertem Papier bei B. zurückzuführen ist. Durch die Rastrierung des bei der Reproduktion der Linien benützten Papieres wurde der eigenthche Leit- gedanke wesentlich irritiert, indem ungewollt auftretende konkretere Neben- leitgedanken („Wahrscheinlich ist dieser 2. Linienschnittpunkt gemeint.") selbst stark suggestiven Charakter erhielten. Auf dem Ver«uchspapier angebrachte Punkte und dergl. wirken anziehend, und zwar nimmt die Wirkung mit der wachsenden Entfernung ab. Es wäre eine dankbare und nicht schwere Aufgabe, zu untersuchen, ob die Abnahme mit dem Quadrat der Entfernung erfolgt oder wie sonst. Da vermuthch verschiedene Markierungen (Punkt, Kreuz, kleiner Kreis, Linienschnittpunkte, Farben und dergl.) verschieden

278 R- Prantl, Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs

wirken und jeder von ihnen gewissermaßen eine verschiedene „Masse" zu- kommt, könnte auf diesem Wege ein psychologisches Pendant zum Newton- schen Gravitationsgesetz entdeckt werden („2 Massen ziehen einander an mit einer Kraft, die dem Produkt der Massen direkt und dem Quadrat ihrer Entfernung voneinander umgekehrt proportional ist.")

Ebensowenig ist es ausgeschlossen, durch das Studium der Ablenkung von Leitgedanken beim Eintritt in neue Umgebung (in ein Medium anderer Art) auf einen dem Snelliusschen Brechungsgesetz vielleicht analog formulier- baren psychologischen Satz zu stoßen.

Als Ergebnisse nebensächlicher Natur (im Hinbhck auf den Hauptversuch) erhielten wir, daß Linien von 12, 36, 60 mm über-, von 72, 90, 120 mm unterschätzt werden. Um 70 mm herum hegt wahrscheinUch ein Optimum des Schätzungsvermögens. Zwischen der wahren Länge der Modelhnie, deren Durchschnittsreproduktionen und den hierbei anfallenden Streuungen scheinen verschiedene Beziehungen zu bestehen.

Im ganzen genommen bedarf der Versuch noch der Nachprüfung yon einigen Tausend Versuchspersonen bis zur Annahme oder Ablehnung der hier aufgestellten Hypothesen. Erstreckten sich diese Versuche auf Individuen jeden Alters in genügender Häufigkeit und würden sie an der gleichen Gruppe entweder nach längerer Zeit oder sofort wiederholt, so könnten noch Be- ziehungen zwischen der Autosuggestibilität und dem physischen bzw. (wenn die Individuen auch in Hinsicht auf ihr Intelligenz alter geprüft würden) In- telligenzalter und die Grenzen aufgedeckt werden, innerhalb welcher die Ergebnisse schwanken. Endlich wäre es noch interessant zu erfahren, ob das Resultat einem Limes zustrebte und welchem, wenn man den gleichen Versuch sehr oft hintereinander an ein und derselben Versuchsperson wiederholte.

Kleine Beiträge und Mitteilungen.

über das psychologische Laboratorium in Hamburg bringt das erste Heft einer neuen Sammlung!) mit dem Titel „Hamburger Arbeiten zur Begabungs- prüfung" in einem Vorwort einen kurzen Rechenschaftsbericht, der hier im Wortlaut wiedergegeben wird.

„Das psychologische Laboratorium in Hamburg nahm bisher unter den deutschen psychologischen Instituten insofern eine Sonderstellung ein, als es weder einer Universität noch einem Lehrerverein angegliedert war 2). Es ist eine staatliche Veranstaltung, die als Abteilung des philosophischen Seminars am allgemeinen Vorlesungswesen in Hamburg von Meumann im Jahre 1914 gegründet wurde, und diente bisher den Zwecken der Lehre und Forschung in dem Sinne und Maße, wie es eben an einem allgemeinen Vorlesungswesen möglich war. Seine Besucher bestanden zum weitaus größten Teil aus Lehrern und Lehrerinnen der verschiedenen Schulgattungen; wenn diese im Vergleich zu Studenten eine größere Reife, ein unmittelbareres Interesse, insbesondere

') Die Sammlung wird Veröffentlichungen des Instituts enthalten. Herausgeber ist William Stern. Es gelangen zunächst 3 Nummern als BeUiefte 18, 19, 20 der Zeitschrift f. angew. Psych, zur Ausgabe.

2) Seit dem 1. April 1919 ist es ein Institut der neugegründeten Hamburgischen Universität.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 279

an den Fragen der Jugendpsychologie, einen Schatz an praktischen Erfahrungen und einen geübten Blick für die Anwendungsmöglichkeiten psychologischer Erkenntnis mitbringen, so fehlt andererseits die Gleichmäßigkeit der Vorbildung, oft auch die rein wissenschaftliche Einstellung und vor allem die Zeit zu eingehender Beschäftigung mit wissenschaftlichen Aufgaben, da ihr Beruf ja nur wenige Stunden für andere Beschäftigung übrig läßt. So konnte denn nur ein verhältnismäßig kleiner Bruchteil dieser Seminarbesucher so weit ge- führt werden, um durch selbständige wissenschaftliche Arbeit an den Forschungs- und Prüfungsaufgaben mitzuwirken; einige Ergebnisse dieser Tätigkeit werden in den folgenden Heften niedergelegt. Für Helferdienste dagegen stand er- freulicherweise stets eine größere Zahl von genügend geschulten Persönlich- keiten zur Verfügung.

Des w^eiteren erhielt unsere Tätigkeit dadurch ihr Gepräge, daß das Labora- torium als staatMches Institut Anlaß und Möglichkeit hatte, unmittelbar an Fragen des Allgemeinwohles Anteil zu nehmen. Auch dies gab Anlaß, daß uns neben Problemen der theoretischen Psychologie solche der angewandten Psychologie eingehend beschäftigten. Hierbei ergab sich ein erfreuliches Zu- sammenarbeiten mit Behörden und öffentlichen Organisationen insbesondere der Oberschulbehörde und der Zentrale für Berufsberatung. Wesentlich gefördert wurden diese Arbeiten dadurch, daß der hamburgische Staat für bestimmte Aufgaben gelegentlich besondere Mittel gewährte oder die Heranziehung wissenschaftlicher Hilfskräfte ermöglichte. So konnte neben dem ständigen Hilfsarbeiter Dr. Heinz Werner (früher Dr. Theodor Kehr 7) längere Zeit Dr. Benary für Eignungsuntersuchungen an Fliegern, Dr. Bobertag für die Vorbereitung von Prüfungsmethoden für Straßenbahner im Laboratorium tätig sein. Seit Anfang 1918 ist außerdem der Volksschullehrer R. Peter von der Oberschulbehörde auf unbestimmte Zeit an das Laboratorium beurlaubt mit dem Auftrage, die schulpsychologischen Veranstaltungen zu überwachen und zu verwalten. Damit hat die von mir schon vor längerer Zeit aufgestellte Forderung eines Schulpsychologen " eine gewisse Verwirklichung erfahren; und ich sehe einen' besonderen Vorteil darin, daß nicht ein dem Schuldienst fernstehender reiner Theoretiker, sondern eine Persönhchkeit, die praktische Schulerfahrung mit psychologisch wissenschaftHcher Schulung verbindet, mit diesen Aufgaben betraut worden ist.

In loserem Zusammenhang mit dem Laboratorium steht das von der ham- burgischen Lehrerschaft gegründete „Institut für Jugendkunde", das freiUch während des Krieges nur eine beschränkte Wirksamkeit entfalten konnte, sowie eine „Arbeitsgemeinschaft für Psychologie der Berufseignung*.

Den Mittelpunkt der psychologischen Institutsarbeiten bildet das Begabungs- problem, sowohl nach der Seite der geistigen Allgemeinbegabung (Intelligenz) wie nach der der Sonderbegabung für bestimmte Gebiete. Unsere Studien erstreckten sich auf die Analyse der Begabungen, auf ihre Differenzierung nach Altersstufen, Geschlechtern, sozialen und Schulbedingungen, auf die psychographische Feststellung der Fähigkeiten bestimmter Individuen.

Bezüglich der Methodik war es uns von vornherein klar, daß hier das Experiment nicht allein herrschen dürfe. Denn das Wesen einer Begabung ist niemals auszuschöpfen durch die Art, wie ein Mensch auf bestimmte von außen gesetzte Anforderungen (Reize) reagiert; sondern sie bekundet sich

280 Kleine Beiträge und Mitteilungen

auch in spontanen Verhaltungsweisen, in frei gewählten Interessenrichtungen und Tatformen, die sich als solche grundsätzlich der künstlichen Erzeugung im Experiment entziehen. Sie sind nur der Beobachtung zugänglich; und eine wissenschaftliche Vertiefung und Systematisierung der natürlichen Be- obachtung erschien uns daher ebenso notwendig wie ihre Ergänzung durch die experimentelle und statistische Methode. Der Beobachtungsmethode diente einerseits die Ausarbeitung von Beobachtungsbogen, andererseits die Anleitung zu Intelhgenzschätzungen. Beide Hilfsmittel sind geeignet, die wertvollen Er- fahrungen der Lehrer in psychologische Münze umzusetzen und sie dadurch wiederum für praktische Aufgaben (Begabungsauslese, Berufsberatung) nutz- bar zu machen.

Die Testmethode ist unentbehrlich, um exakte massenstatistische Ergebnisse zu erhalten und um eine größere Anzahl von Individuen in bezug auf ihr geistiges Niveau exakt zu prüfen und zu vergleichen. Die massenstatistischen Untersuchungen dienen in erster Linie theoretischen Interessen, indem sie uns Einblicke in Entwicklung und Gruppendifferenzierung der Begabung (nach Schulstufen, Geschlecht usw.) gestatten; ja sie können auch zur Aufklärung von Problemen der allgemeinen Psychologie (insbes. der Denkpsychologie) beitragen. Zugleich aber bilden solche Massenstatistiken die notwendige Vor- arbeit für die individualpsychologische Prüfung und Auslese; denn sie liefern ja erst die Eichungsmaßstäbe für die Methoden, die wir der Beurteilung der Einzelindividuen und der Entscheidung über ihre Auslese zugrunde legen dürfen. Die bisherigen Testmethoden zur Intelligenzprüfung wurden von uns einer- seits gesammelt, andererseits erweitert. Angesichts der großen Buntscheckig- keit und teilweise schweren Zugänglichkeit der vielen für Intelligenzprüfungen vorgeschlagenen Methoden schien es uns zunächst für unsere eigene Arbeit wünschenswert, sie alle in übersichtlicher Ordnung beisammen zu haben, zum mindesten soweit sie für die Prüfung Jugendlicher bestimmt waren. Diese Sammelarbeit übernahm in dankenswerter Weise Herr Lehrer Wiegmann. Da aber auch anderen Kreisen, die sich mit Intelligenzprüfungen beschäftigen, eine solche Übersicht willkommen sein muß, so wurde nunmehr diese Sammlung auch zur Veröffentlichung bestimmt und im entsprechenden Sinne von Herrn Wiegmann unter meiner ständigen Beratung bearbeitet.

Daneben ging die Ausarbeitung neuer Methoden oder die Umgestaltung älterer einher, wobei uns folgende Gesichtspunkte leiteten. Bei früheren Arbeiten auf dem Gebiete der Intelligenzprüfung stand im Vordergrund des Interesses die Feststellung intellektueller Schwäche auf früheren Stufen der Kindheit; 'deshalb waren die Tests für niedere Entwicklungsstufen der Intelligenz be- sonders gründlich ausgearbeitet und durchgeprobt worden (es sei nur an die Methodik Binet-Simon-Bobertag erinnert), während die Aufgaben, die eine höhere Denkbetätigung verlangten, stark in den Hintergrund traten. Eine Beseitigung dieses Mangels ist nun umso nötiger, als die neueren praktischen Bedürfnisse immer mehr neben der Erkenntnis der frühkindlichen und zurück- gebhebenen Intelligenzen auch die Begabungsdiagnose der höheren Jugendjahre und der besonders Befähigten verlangen. Zugleich bieten solche höhere Intelligenztests dem Theoretiker viel interessantere denk- psychologische Probleme als die elementaren Tests,

Nun waren bereits während meiner Bresiauer Tätigkeit im dortigen Seminar derartige Untersuchungen in Angriff genommen worden, die nun in Hamburg

Kleine Beiträge und Mitteilungen 281

weiter geführt und ausgebaut werden konnten; dies gilt besonders von dem Minkus 'sehen Teste der Bindewortergänzung und von den Bilderbogentests. Als neue Gruppe von Tests kamen die Ordnungs- und Kritiktests in Hamburg hinzu; von schon bekannten Tests wurden die Definitionen, die Dreiwort- methode, die Vergleichung, der Analogietest für unsere besonderen Zwecke umgebildet.

Die praktischen Aufgaben unserer Arbeit erstreckten sich einerseits auf berufspsychologische Untersuchungen, deren Methoden und Ergebnisse an anderer Stelle veröffentlicht werden^), andererseits auf Ausleseprüfungen, durch welche aus einer größeren Anzahl von Kindern oder Jugendlichen die für bestimmte Schulformen besonders Geeigneten herausgefunden werden sollten. Das besondere Interesse, das der Schulrat für das Volksschulwesen, Professor Umlauf, der pädagogischen Psychologie entgegenbringt, machte es möglich, hier den praktischen Wert psychologischer Fähigkeitsprüfungen in größerem Maßstabe zn erproben. Es handelte sich einerseits um die Auswahl von etwa tausend etwa 10 jährigen Kindern für einen neuen, höheren Zug der Volksschule, andererseits um die Aufnahme junger Mädchen von 14—16 Jahren in ein Lehrerinnenseminar, bei dem die Anmeldungen stets um ein Vielfaches die Zahl der Aufzunehmenden übertrafen. Es ist zu vermuten, daß derartige Auslesen auch in Zukunft mit psychologischer Unterstützung vorzunehmen sein werden, auch wenn durch die veränderten Verhältnisse die Schulorganisation ein neues Gepräge erhalten wird. Ja, es ist hier sogar eine noch immer steigende Beteiligung der Psychologie zu erwarten; denn der Gedanke der Einheitsschule, der sich jetzt durchsetzen wird, hat ja zu seinem notwendigen Korrelat die Idee der Differenzierung nach Be- gabungsarten und -graden. Deshalb verlangt mit Recht eine der Thesen, welche im Hamburger Lehrerrat zurzeit über die künftige Gestaltung der Einheitsschule aufgestellt werden: „Um jedes Kind seiner Art gemäß zu be- handeln, zu beraten und zu beschulen, muß eine Erkenntnis seiner Eigenart nach Neigungen und Interessen, Charakter und Gemütseigenschaften, Graden und Arten der Befähigung angestrebt werden. Hierzu sind alle verfüg- baren Mittel der praktischen und wissenschaftlichen Jugend- Uunde heranzuziehen."

Diese Aufgabe stellt uns Psychologen nun aber vor eine Verantwortung, die in ihrer ganzen Wucht gewürdigt werden muß. Unsere Methoden werden diesen neuartigen Anforderungen nicht sofort angepaßt sein, sondern nur all- mählich immer besser gerecht werden. Darum scheint mir zweierlei nötig.

Erstens: der Psychologe darf nicht allein diese Verantwortung auf sich nehmen, sondern muß ein systematisches Zusammenarbeiten mit dem Pädagogen erstreben Dies ist bei den ersten Veranstaltungen dieser Ait (in Berhn) noch nicht ge- nügend geschehen; in Hamburg wurde von vornherein in diesem Sinne ge- handelt. Bei den 10 jährigen fand diese endgültige Auslese in einer aus Päda-

*( In Zeitschr. f. angew. Psych, und in den, als Sonderdrucke herausgegebenen „Schriften zur Psychologie der Berufseignung und des Wirtschaftslebens^' : Lpzg. Barth. Folgende Hefte dieser ..Schriften" enthalten Arbeiten aus dem Hamburger Institut : Heft 2: W.Stern, Über eine psychol. Eignungsprüfung für Straßenbahnfahrerinnen. 1908 Heft 4: W. Heinitz, Vorstudien über die psychol. Arbeitsbedingungen des Maschinenschreibens. 1918. In Heft 8: W. Benary, Kurzer Bericht über Arbeiten zu Eignungsprüfungen für Fliegerbeobachter. 1919.

282 Kleine Beiträge und Mitteilungen

gogen und Psychologen zusammengesetzten Kommission statt, in welcher für jeden vorgeschlagenen Schüler Schulleistung, Beobachtungsbogen und etwaige besondere Empfehlung des Lehrers mit dem Ergebnis einer Testprüfung zu einem Gesamturteil kombiniert wurden. Bei den Prüfhngen für das Lehrerinnen- seminar wurde die übliche pädagogische Bildungs- und Kenntnisprüfung nicht ersetzt, sondern ergänzt" durch eine psychologische Fähigkeitsprüfung. Wir dürfen es uns nicht verhehlen, daß in weiten Kreisen der praktischen Pädagogen ein Mißtrauen gegen die Beteiligung der Psychologie an der Begabungsauslese besteht; um so mehr müssen alle Übergriffe vermieden werden, welche das Mißtrauen gerechtfertigt erscheinen lassen können.

Zweitens : die ersten Veranstaltungen dieser Art sind berufen, wegweisend zu sein ; daher müssen sie in vollster wissenschaftlicher Strenge mit genauer Angabe der Methodik, mit objektiver Berichterstattung über gut Gelungenes und weniger Gelungenes der Öffentlichkeit vorgelegt werden ; denn nur so können sie für künftige Veranstaltungen ähnlicher Art Nutzen stiften. Eine derartige Darstellung hatte noch gefehlt; denn die beiden Veröffentlichungen, die über psychologische Ausleseprüfungen in BerUn und Hamburg bisher vor- lagen, hatten den Charakter einer mehr populären Darstellung i) oder einer vorläufigen Mitteilung ^) ""'^ 3). Nun aber wird für Hamburg das Fehlende nachgeholt.

Unter dem gemeinsamen Titel: „Hamburger Arbeiten zur Begabungs- forschung" sollen von jetzt an die wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die oben besprochenen Tätigkeitszweige unseres Instituts zusammengefaßt erscheinen. Es werden zunächst in schneller Folge die Nummern 1, 2 und 3 vorgelegt; weitere Nummern sollen später zwanglos ausgegeben werden. In engem Zusammenhang mit diesen Spezialarbeiten wird eine Zusammen- fassung des gegenwärtigen Standes unseres Problems ^— hoffentlich ebenfalls noch im Jahre 1919 veröffentlicht werden, nämlich die dritte, völlig um- gearbeitete Auflage meines Buches: „Die Intelhgenzprüfung an Kindern und Jugendlichen".

Die Einteilung der drei Nummern der „Hamburger Arbeiten" ist die folgende : Nummer I (Beiheft 18 der Zeitschr. f. angew. Psych.) enthält den ausführlichen Bericht über die Ostern 1918 veranstaltete Begabungsauslese mittels Be- obachtungsbogens und Testprüfungen; anhangsweise ist eine vorläufige Mit- teilung über die Begabungsauslese Ostern 1919 angefügt. Der Bericht stammt aus den Federn verschiedener Verfasser; herausgegeben ist er von R. Peter und W. Stern.4)

') Moede-Piorkowski-Wolff. Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organisation und die ex- perimentelle Methode der Schülerauswahl. Langensalza, Beyer & Söhne, 1918.

^) Das psychol.-pädag. Verfahren der Begabtenauslese, Eine Sammlung von Beiträgen, hrsg. von W i lliam Stern. Leipzig, Quelle & Meyer, 1918. (Sonderausgabe von Heft 3—5 von Zeitschr. f. päd. Psych. 18).

3) Über eine ähnliche kleinere Veranstaltung in Berlin hat ein methodischer Bericht von 0. Lipmann begonnen, der aber noch nicht bis zur Darstellung der Aufnahmeprüfungen selbst gediehen ist: InteUigenzmessungen zum Problem der schulischen Differenzierung. Zeitschr. f. angew. Psych. 13. 351 bis 391. 1918.

*) Der genaue Titel lautet: Die Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. Bericht über das psychol. Verfahren. 160 S. Die einzelnen Abschnitte behandeha: I. Überblick über das Gesamtverfahren (Peter und Stern). II. Der Beobachtungsbogen (Martha Muchow). lU. Das

Kleine Beiträge und Mitteilungen 283

Nummer 11 (Beiheft 19) faßt unter dem Titel: „Untersuchungen über die Intelligenz von Kindern und Jugendliehen** eine Reihe von Einzelstudien zusammen. Die Untersuchungen beziehen sich auf die verschieden- sten Altersstufen von der frühen Kindheit bis zur Fortbildungsschule hinauf. An Kindergartenkindem wurden von dem Ehepaar Schober die bekannte Heilbronner-Methode in verbesserter Form angewandt. Eine noch aus Breslau stammende Massenuntersuchung meines verstorbenen Schülers Minkus, der sich auf Volksschüler und Fortbildungsschüler erstreckte, \\ird von mir geschildert und bezüglich des einen Tests der Bindewortergänzung ausgearbeitet; diese Untersuchung hat auch einen besonderen denkpsychologischen Abschnitt. Über die psychologischen Methoden bei der Aufnahmeprüfung zum Lehrerinnen- seminar, die in 3 aufeinander folgenden Jahren angewandt wurden, gibt Penkert Auskunft. Das (nicht-experimentelle) Verfahren derIntelUgenzschätzung wird endlich von Roloff auf Grund eines umfassenden Materials in seinem methodischen Wert und seiner Brauchbarkeit ge^s'ürdigt.

Nummer IE (Beiheft 20) enthält die „Methodensammlung zur Intelligenz- prüfung von Kindern und Jugendlichen", bearbeitet von 0. Wiegmann und W. Stern."

Das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie im Leipziger Lehrerverein beginnt, nachdem der Krieg seine Tätigkeit, wenn auch nicht unterbrochen, so doch sehr eingeengt hatte, ein überaus reges Arbeitsleben zu entfalten. Neben den fortzuführenden und den neu in Angriff genommenen experimentellen Untersuchungen sind vor allem einführende Kurse im Gange. So leitet der Assistent Dr. Handrick einen solchen über das Thema : Die Grundbegriffe der Psychologie ; so führt in einem anderen der wissenschaft- liche Leiter des Instituts, Rudolf Schulze, gemeinsam mit Handrick und Schlager die Anfänger in die Handhabung der \^^chtigsten Apparate ein; so wird femer eine Übung zur Theorie der Begabtenforschung (mit besonderer Berücksich- tigung der V^errechnungsverfahren) abgehalten. Weiter beschäftigt sich dann in kleineren Arbeitsgemeinschaften eine Reihe von Ausschüssen mit \sichtigen Fragen aus den Anwendungsgebieten der experimentellen Psychologie. Joh. Schlag steht einem Ausschuß vor, der für die Untersuchung der Begabten eine Vervollständigung der Testreihen für die Vierzehnjährigen und die Auf- stellung von Testen zur Auswahl der Zehnjährigen sich zur Aufgabe gestellt hat. In anderem Kreise wieder \^ird die Frage behandelt, wie die Erstschüler (Elementaristen) der Einheitsschule auf Grund geleiteter Beobachtungen und experimenteller Ermittlungen auf verschiedene Klassenzüge verteilt werden können. Ferner hat sich, einen Auftrag des Deutschen Lehrervereins erfül- lend, ein Ausschuß unter dem Vorsitz von Max Döring gebildet, der das Thema „Kinder als Zeugen vor Gericht", eingehend zu bearbeiten hat. Neben den Kursen und Ausschußsitzungen, die alle wöchentlich mindestens einmal abgehalten werden, laufen wie früher so auch femer Vortragsfolgen her. Den Beginn z. B. machte Rudolf Schulze mit einer Reihe über „die Wirkung des Antriebs auf die fortlaufende köi-perliche und geistige Arbeit und auf

Ordnen von BegriHsreihen (Werner). IV. Definition von Begriffen (Roloff). V. Ergänzung von Textlücken (Wiegmann). VI. Dreiwortmethode iBobsrtag). VII. Fabeltext (Lenore Heitschl. VllL Prüfmig der Kritikfähigkeit (Meins). IX. Bildl)eschreibung (Penkert u. Schol)er). X. Prüfung des sinnvollen Behaltens (Martha Muchow). XI. Ausleseprüfung 1919.

284 Kleine Beiträge und Mitteilungen

geistige Einzelleistungen." Regelmäßig wird schließlich auch die Bericht- erstattung über die Bücher- und Zeitschriftenliteratur in der Weise fortgeführt, daß das weite Gebiet der Psychologie in kleinere Teile aufgegliedert worden ist, von denen jeder seinen ständigen Beobachter hat. Schließlich sei be- richtet, daß sich das Institut mit Einführungskursen und Vortragsreihen auch an dem Akademischen Fortbildungskursus, den der Sächsische Lehrer- verein vom 6. 21. Oktober d. J. in Leipzig abhält, tätigen Anteil nehmen wird. Das Institut darf sich dank dieser seiner regen Tätigkeit einer stei- genden Beachtung erfreuen. Seine Mitgliederzahl ist durch einen schnellen Zuwachs in jüngster Zeit auf weit über 300 gestiegen, und die sächsische Staatsregierung läßt künftig, nachdem der Kultusminister mit seinen Räten kürzlich persönlich in die Arbeit des Instituts Einblick genommen hat, jährlich die Summe von 20000 M dem Institut zufließen. Auch darin, daß der Leiter des Instituts gemeinsam mit Paul Schlager zu einer Vortragsreise nach Schweden eingeladen ist, auf der sie u. a. vor Professoren und Studenten der Universität Upsala über experimentelle Psychologie und Pädagogik sprechen und Versuche vorführen sollen, darf eine Anerkennung erblickt werden. Die äußeren Erfolge werden es ermöglichen, das Institut in naher Zeit zu einer pädagogisch -psychologischen Forschungsstätte größeren Stiles auszubauen.

Ein wirtschaftspsychologisches Laboratorium ist an der Handelshoch- schule in Mannheim unter fachmännischer Leitung eingerichtet worden. Es gliedert sich dem betriebswissenschaftlichen Institute ein und arbeitet dort besonders in Gemeinschaft mit den Prüf- und Untersuchungsstellen für Or- ganisationswesen und Werbewirkung. Ausgestattet mit dem erforderlichen wissenschafthchen Rüstzeug, stellt es sich vornehmlich die folgenden Aufgaben:

1. Die Erforschung der Arbeits- und Berufseignung und die Ausbildung und Durchführung von Eignungsprüfungen.

2. pie Erforschung des Lehrens, Lernens und Einübens wirtschaftlicher Arbeitstätigkeiten und die Ausbildung zweckmäßiger Lehr- und Lern- methoden.

3. Die Erforschung der Arbeitsgliederung und die Ausbildung zweckmäßiger Formen der Arbeitsteilung und Arbeitszusammenfassung.

4. Die Erforschung der Arbeitstätigkeit und die Ausbildung zweckmäßiger Arbeitsverfahren .

5. Die Erforschung der Angepaßtheit von Arbeitsmittel und Arbeitsmilieu und die zweckmäßige Anpassung an den Arbeiter.

6. Die Erforschung der Arbeitsumgebungseinflüsse und ihre Ausnützung im Interesse des Wirtschaftslebens.

7. Die Erforschung der Vorgänge des Ineinander- und Zusammenarbeitens und ihrer zweckmäßigen Gestaltung.

8. Die Erforschung der psychohygienischen Verhältnisse der Arbeit und der psychohygienischen Gestaltung der Arbeit.

9. Die Erforschung der psychologischen Ursachen der Betriebsunfälle und der psychologisch richtigen Durchbildung der Unfallverhütung.

10. Die Erforschung der allgemeinen Gesetze der Werbewirkung, ihrer prak- tischen Verwertung und die Prüfung von Werbemitteln und -maßnahmen auf ihre Wirkung.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 285

Die psychologische Gesellschaft Essen 1919, die unter dem 1. Vorsitzenden Oberarzt Dr. Kleefisch gegründet worden ist, hat sich zur Aufgabe gestellt, das Gebiet der Seelenkunde nach der theoretischen wie praktischen Seite hin zu pflegen. Besonders will sie den psychologischen Fragen aus dem Wirt- schafts- und Kulturleben nachgehen, wie sie heute den Lehrer, den Arzt, den Anwalt, den Geistlichen, den Künstler, den Verkäufer, den Politiker, den Volks- wirtschaftler beschäftigen. Diese Zwecke sollen erreicht werden 1. durch Ver- anstaltung von Vorträgen und Aussprachen; 2. durch praktische Arbeit in Arbeitsgemeinschaften (gegebenenfalls nach Sondergebieten) ; 3. durch Bekannt- gabe und Besprechung der psychologischen Literatur; 4. durch allgemein ver- ständhche Volksvorträge über psychologische Gegenwartsfragen und 5. durch Ausschreiben psychologischer Preisaufgaben. An Verhandlungigegenständen für die Sitzungen sind u. a. zunächst vorgesehen : Schwer erziehbare Kinder Psychologische Grundfragen der modernen Kunstwissenschaft Lernen und Behalten Zur Psychologie des Willens Linkshändigkeit Über das Gefühl als Faktor in Unterricht und Erziehung Zur Kinderpsychologie Zur Völkerpsychologie Über die Begabung der Frau Methoden der Begabungsprüfung Psychologie im Geschäftsleben Psychologie der Demagogik Zur Psychologie der Arbeit.

Ein psychologisch-pädagogisches Preisausschreiben, das im Jahre 1917 vom Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unter- richts ausgegangen war, aber trotz der verlängerten Befristung auf Anfang 1919 keine befriedigende Erfüllung gefunden hat, wird jetzt erneuert. Der Preis ist auf 500 M erhöht worden.. Es hat in etwas veränderter Form nunmehr den folgenden Wortlaut:

Inwiefern vermag der Rechenunterricht über die Erwerbung bloßer rechnerischer Fertigkeit hinaus die Intelligenz der Schüler auszubilden, und wie ist das Unterrichtsverfahren zu gestalten, damit das Rechnen als besonders geeignetes Mittel für den Zweck der Begabungsprüfung verwendbar wird? Von den Bearbeitern wird erwartet, daß sie Kenntnis von den Methoden und den Ergebnissen der neueren Begabungsforschung haben. Die Bewerbungs- arbeiten müssen in gut lesbarer Schrift geschrieben sein und sind bis zum 31. März 1920 an den Vorsitzenden des Vereins (zurzeit Geh. Studienrat Dr.Poske, Berhn-Dahlem, Friedbergstraße 5) einzusenden. Sie müssen mit einem Kennwort versehen sein; in einem besonderen Umschlag, der mit demselben Kennwort bezeichnet ist, sind Name und Anschrift des Verfassers anzugeben. Das Ver- öffentlichungsrecht geht mit der Zuweisung des Preises an den Verein über..

Nachrichten. 1. Prof. Dr. Rudolf Lehmann an der Akademie Posen ist zum ordenthchen Honorarprofessor für Pädagogik an der Universität Breslau ernannt worden.

2. An der Königsberger Universität habilitierte sich Dr. med. et phil. Walter Schwarz für das Fach der Pädagogik.

3. Hermann Lietz, der Begründer der deutschen L^nderziehungsheime,, ist im Alter von 51 Jahren gestorben.

286 Literaturbericht-

Literaturbericht.

E. V. Aster, Prof. an der Universität München, Einführung in die Psychologie. Samm- lung „Natur und Geisteswelt ". 2. Aufl. Leipzig 1919. Teubner. 142 S. 2,00 M.

Wir wiederholen bei diesem unveränderten Abdruck, was seinerzeit in der Anzeige der ersten Auflage über Asters gedrängte psychologische Gesamtdarstellung kennzeichnend gesagt wurde. (XVII. Jahrg. S. 43.) Es tritt das Bändchen nicht als ein Auszug aus umfassenderen Werken auf, sondern bietet das Bild eines Seelenlebens, wie es ein philosophisch eingestellter Gelehrter, die herrschende Betrachtungsweise und die neuen Erkenntnisse seiner Zeit festhaltend, in eigenster Erfassung und Verarbeitung schaut. In der Darstellungsart ist dabei ein deutlich hervortretender didaktischer Zug bemerkenswert. Er wird sichtbar besonders in der Art, wie beim Fortsclireiten im System die Problemstellungen mit besonderer Sorgfalt herausgearbeitet und unterstrichen werden, wie sich die Darlegungen, die ohne allzu weites Entgegenkommen sich doch auf ein leichteres Verstehen einstellen, reichlich mit meist eigengewählten und glücklichen Bei- spielen durchsetzen, wie ferner in die Fachsprache Schritt für Schritt geschickt hineingeleitet wird. Keineswegs erstrebt Aster aber mit seiner Einführung eine flache Gemeinverständlichkeit, die keine ernsteren Anforderungen stellt. Er verlangt in seiner wissenschaftlichen Haltung viel- mehr eine denkende Entgegennahme des vorgetragenen Stoffes. Inhaltlich tritt die experimen- telle Richtung weiter zurück, als es ihre Bedeutung zuläßt. Auch eine reichlichere Einfügung differential- und kinderpsychologischer Lehren, wie es z. B. im Abschnitte über die Vorstellungs- typen geschehen ist, würde dem Ganzen dienlich sein. Daß dagegen die Sinnespsychologie sich nicht wie üblich zu Ungunsten einer ausführlichen Behandlung der höheren seelischen Leistungen vordrängt, gereicht dem. gutgeschlossenen, einheitlichen Gesamtbilde zum Vorteil.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

Dr. Hans Rupp, Privatdozent und erster Assistent am Psychologischen Institut der Universität Berlin, Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik und Jugend- psychologie. Leipzig 1919. Quelle & Meyer. 244 S. 10,00 M.

Der handliche und vom Verlag auf das beste ausgestattete Band ist ein wenig veränderter Abdruck der Reihe von Aufsätzen, die Rupp im 15. bis 19. Jahrgang dieser Zeitschrift ver- öffentlicht hat. Es wird eine solche Vereinigung in geeigneter Buchform von vielen Seiten sehr begrüßt werden. Zunächst soll die Schrift ein Führer durch die psychologische Abteilung der ^Deutschen Unterrichtsausstellung" in Berlin sein. Aber sie stellt sich nicht dar als eine trockene Aufzählung von Schaustücken. Denn in engster Verknüpfung mit der bildlichen Vorführung und Beschreibung von Apparaten, die übrigens über den Bestand der Unterrichtsausstellung weit hinausgehen, gibt sie eine systematische Darlegung all der psychologisch -pä'dagogischen Pro- bleme, deren Untersuchung an die vorgezeigten Werkzeuge gebunden ist. So wird das Buch über jenen ersten Zweck hinaus eine beste Einführung in die experimentell betriebene Pädagogik und Jugendkunde. Es muß ebenso gebraucht werden können in den einführenden Übungen an Hochschulen und an Lehrerbildungsanstalten, wie in den mancherlei Arbeitsstätten und Prüfungs- ämtern, in denen beute das psychologische Experiment für Berufseignung usf. in so weitgehendem Maße Anwendung findet. Zu jedem Lehrbuch der experimentellen Psychologie und Pädagogik empfiehlt es sich zudem als trefflicher Begleiter.

Nicht unerwälint bleibe, daß Rupp in seinem Handbuch eine Reihe von Fragen erstmals behandelt und eine Anzahl von neuen, eigen ersonnenen Apparaten und Versuchsanordnungen vorführt. Es werden dadurch besonders die Gebiete des Farbensinnes, des Augenmaßes und der motorischen Fertigkeiten, die eine große Anzahl bedeutsamer pädagogischer Probleme in sich schließen, sehr wertvoll.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

Dr. R. Pauli, Privatdozent an der Universität München, Psychologisches Praktikum.

Leitfaden für experimentell-psychologische Übungen. Mit 90 Abb. im Text u. l Tafel. Jena 1919.

Gustav Fischer. 223 S. 11,00 M.

Die heute in aller Welt an der experimentell-psychologischen Forschung arbeitenden Institute haben von Deutschland ihren Ausgang genommen. Aus bescheidenen Anfängen sind sie in steter Pflege zu wissenschaftlichen Arbeitsstätten geworden, die in den Aufgaben, den Einrich- tungen, der Exaktheit und Mannigfaltigkeit ihrer Methoden und den Formen ihrer mit der Forschung verbundenen Lehrtätigkeit es den naturwissenschaftlichen Laboratorien nachtun, wo- bei freilich das Ausland in vielen Stücken sein deutsches Vorbild überflügeln konnte. Eine

Literaturbericht 287

Aufgabe der Institute nun, die leicht zu gering eingeschätzt wird, ist die praktische Einführung in die Methoden und die Technik der psychologischen Untersuchung. Daß man solche Übungs- kurse zumeist nur mit zwei Wochenstunden ansetzt und ihre Leitung mitunter in die Hände des jüngsten Assistenten legt, zeugt nicht davon, daß ihre Bedeutung und die Schwierigkeit ihrer Gestaltung allenthalben so zu meiner Studienzeit auch im Wundtschen Institut voll gewürdigt wird. Jedenfalls erfordert das psychologische Praktikum von seinem Leiter, soll es seinen Zweck erfüllen, neben der selbstverständlichen wissenschafthchen Tüchtigkeit ein hohes didaktisches Ge- schick, und es darf einigermaßen verwundem, daß die Lehrgedanken imd Lehrerfahrungen aus den psychologischen Kursen so wenig mitgeteilt und verhandelt worden sind und daß u. a. bis heute in Deutschland ein eigens für die psychologischen Einführungsübungen verfaßtes Handbuch fehlte. Pauli versucht diesen Mangel zu beheben. Die Gesamtanlage seines Buches zeugt von ernstem didaktischen Willen. Jedenfalls braucht es den Vergleich mit trefflichen Seitenstücken auf naturwissenschaftlichem Lehrgebiete nicht zu scheuen. Es scheint denn doch, daß sich die guten Wirkungen der hochschulpädagogischen Bewegung immer "deutlicher und ausgedehnter spürbar machen. In der Auswahl des Stoffes weiß sich Pauli die erforderliche Beschränkung aufzulegen. Aus den Tatsachen- und Fragegebieten greift er nur das für eine Einführung durchaus Notwendige auf. Dagegen erstrebt er, richtig eingestellt auf den obersten Zweck des psychologischen Praktikums eine gewisse Vollständigkeit in den Methoden. Doch unternimmt er es nicht, unter methodischem Gesichtspunkt zu gliedern, sondern folgt im Aufbau der üblichen systematischen Abfolge nach psychischen Funktionen. Vordringlich in der Be- handlung ist selbstverständlich die Herausarbeitung der Fragestellungen und die Beschreibung der Apparate und Versuchsanordnungen sowie die Anweisung zum praktischen Gebrauch. Der Kenner des Gebietes kann sich dabei zwischen dem Bekannten an manchem wertvollen Fund von Ab- geändertem und Neuem erfreuen. Sehr zu begrüßen ist die Beigabe von einer großen Anzahl von Vordrucken, die der Festhaltung, Ordnung und Au.swertung der Versuchsergebnisse «dienen sollen. Ihre Einrichtung zeigt, wie auch sonst die gesamte Gestaltung der Schrift, daß das Buch aus der eigengeformten imd mit offenbarer didaktischer Neigimg geübten Lehrpraxis erwachsen ist. Welche Regeln in ihr von Pauli befolgt werden, gibt er u. a. in einem Ab- schnitte der Einleitung kurz an. Seine Anregungen werden sicher für die Mitglieder und Leiter der psychologischen Praktika mit viel Gewinn entgegengenommen werden. Es sollte auch der psychologische Unterricht in den Lehrerbildungsanstalten an Paulis Praktikum nicht vorübergehen. Noch sei betont, daß sich Pauli befleißigt hat, soweit es die strengwissen- schaftliche Haltung zuließ, in fremdwörterfreier und sclilichter und damit schöner Sprache zu schreiben.

Leipzig. Otto Scheibner.

Dr. N. Braunshausen, Einführung in die experimentelle Psychologie. Sammlimg „Natur und Geisleswelt". 2. veränderte Aufl. Leipzig 1919. Teubner. 117 S. 2,00 M.

Das Bändchen hat sich bewährt als zuverlässiger Führer, der in Kürze eine Übersicht über die wichtigsten Verfahren und Ergebnisse der experimentell betriebenen psychologischen Forschung gibt. Es reicht aus für einen ersten Einblick,' den der gebildete Laie in dem Gebiete sucht, das heute bei seinen weitausgreifen^en praktischen Anwendungen auch weiteren Kreisen nicht mehr völlig verschlossen bleiben darf. Vielleicht, daß es sich auch als Begleiter der seelen- kundlichen Schullehrbücher, die überwiegend der Bedeutung der experimentellen Psychologie noch nicht gerecht werden, anbieten darf. Dem Ausbau, dessen sich die psychologischen ünter- suchungsweisen in den letzten Jahren erfreuen konnten, ist Braunshausen in der neuen Ausgabe andeutend nachgegangen, wenn auch nicht in dem uns notwendig erscheinenden Maße. So hätten insbesondere in dem Abschnitt .InteUigenzprüfungen" (S. 87) bei Ausscheidung älterer überholter Methoden die jüngeren Fortschritte in der Begabungsuntersuchung stärker berück- sichtigt werden müssen. Als dankenswerter Zuwachs ist ein brauchbares Verzeichnis weiter- führender Schriften zu nennen, das nicht bloß Titel anführt, sondern auch kurze Kennzeich- nungen des Inhaltes gibt. Mit Abbildungen, die eine Darstellung der experimentellen Psychologie nicht entbehren kann, ist nach wie vor gespart worden.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

W. Peper, Jugendpsychologie. Für Kl. III der wissenschaftlichen Kurse des Oberlyzeums. 3, Aufl. Teubner, Leipzig 1919. 126 S. 2,20 M.

Die neue Auflage dieses I. Teiles aus dem Peperschen Unterrichtswerke bringt einige er- wünschte Erweiterungen. So berücksichtigt sie. sich an Sterns führendes Werk „Zur Psycho-

288 Literaturbericht

logie der frühen Kindheit" (Leipzig, Quelle & Meyer) anlehnend, mehr als beim ersten Erscheinen das vorschulpflichtige Alter, und so bemüht sie sich auch, das psychologische Verständnis für die unerwartet schnell zu praktischer Bedeutung gelangten Begabungsprüfungen anzubahnen. Pepers Jugendpsychologie ist nicht ein bequemer Auszug aus umfänglichen Darstellungen und aus Einzeluntersuchungen des Gebietes, sondern eine von gutem unierrichtswissenschaftlichen Denken geleitete schul methodische Bearbeitung. Sie mußte sich bei solcher Gestaltung an amtliche Vor- schriften halten und so Forderungen für Auswählen, Zumessen und Anordnen des Stoffes er- füllen, die mir und vielleicht auch dem Verfasser zum Teil fragwürdig erscheinen.

Leipzig. Otto Scheibner.

A. Rzehak, Prof. a. d. Deutschen technischen Hochschule in Brunn, Der gegenwärtige Stand der Wünschelrutenfrage. Brunn 1918. Mährischer Gewerbeverein. 51 S 1,50 M.

Auf eingehende Literaturstudien sich stützend, versucht der Verfasser, seinen Gegenstand nach den verschiedensten Seiten hin in aller Kürze darzustellen. Er gibt einen von weit zurück bis in die jüngste Zeit heraufführenden geschichtlichen Überblick, zeigt die Formen des rätsel- haften Werkzeugs und den verschiedenen Gebrauch, stellt die Deutungsversuche zusammen, zählt die Anschauungen über die physiologischen Wirkungen und über die Rutenfähigkeit auf und sammelt Stimmen des Für und Wider. Rzehak selbst tritt auf die Seite derer, die unter den sich widerstreitenden Erklärern den Rutenausschlag als eine psycho - physiologische Er- scheinung auffassen und glaubt folgende Sätze als vollkommen feststehend ansehen zu dürfen : „1. Alle Rutenausschläge werden duixh Muskelbew^egungen erzeugt, die ihrerseits wieder sofern sie nicht ganz willkürlich sind entweder durch Auto.suggestion, durch (zum Teil un- bewußte) Sinneswahrnehmungen oder durch rein psychische Einflüsse hervorgerufen werden. 2. Erfolge und Mißerfolge der Rutengänger verteilen sich ungefähr so wie Treffer und Nieten bei den Glücksspielen. 3. Eine unmittelbare Einwirkung unterirdischer Wasserläufe, Erzlager u. dgl. auf die Wünschelrute ist bisher in keinem Falle mit Sicherheit nachgewiesen."

Erfahrungen, die ich kürzlich einem Zufall verdankte, scheinen den ersten der Rzehakschen Sätze teilweise zu bestätigen. Mit einer Klasse 18— 20 jähriger Schülerinnen wohnte ich auf einer Wanderung den Versuchen eines Rutengängers vor einem Kreise sehr namhafter Persön- lichkeiten, darunter u. a. der frühere Kriegsminister v. Heeringen, bei. Die jungen Mädchen drängten, ihre „Rutenfähigkeit" zu erproben, und es ergab sich dabei eine Streuung von völliger Erfolglosigkeit durch verschiedene Grade der Wirkung hindurch bis zu einem Falle von bo- ängstigend starker Reaktion. Diese Reihe der Schülerinnen entspricht einmal der mehr oder minder starken Geneigtheit der jungen Mädchen, sich mit der Wünschelrute zu versuchen den stärksten Ausschlag erzielte eine auffällig scheue, sonst alles öffentliche Hervortreten ver- meidende Schülerin, die sich zu unserer Überraschung fast leidenschaftlich zu dem Versuche drängte und entspricht dann fast genau auch der Ordnung, die ich auf Grund 2 '/j jähriger Erfahrung mit der Klasse schon früher über den Grad ihrer Suggestibilität gewonnen hatte. Ich gedenke, an anderer Stelle hierüber ausführlicher zu berichten.

Leipzig. Otto Scheibner.

Moede-Piorkowski-Wolff, Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organisation und die experimentellen Methoden der Schülerauswahl. Mit 3 Textabbild, u. 2 Tafeln. Langensalza 1918. Beyer & So. 223 S. 4,80 M.

Eine Besprechung dieses Buches, das, wie vorauszusehen war, außerordentlich viel Be- achtung gefunden hat, erübrigt sich füi- uns, weil in dieser Zeitschrift sein Gegenstand von den Verfassern Piorkowski und Moede selbst in einer kleinen Aibeit (Jahrgang IXX. S. 127 f.) dar- gestellt worden ist und weil sich daneben in der und jener Abhandlung zum Begabtenproblem auch kritische Bemerkungen über die Berliner Versuche finden. Ein abschließendes Urteil kann erst dann gegeben werden, wenn gesicherte Erfahrungen darüber vorliegen, wie die experi- mentell vorgenommene Berliner Auslese der Begabten sich in der für sie eigens eingerichteten Schule bewährt hat. Es möge so oder so ausfallen: die Drei-Verfasser-Schrift wird ihren ge- schichtlichen Wert behalten. Seh.

Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.

Bildsamkeit und Persönlichkeit.

Von Walther Saupe.

Mit Recht hat Wilhehn Windelband wiederholt an bekannter Stelle die optimistischen sowohl wie die pessimistischen „Antworten auf die Frage, ob die Welt mehr Lust oder mehr Leid enthalte", als „gleichmäßig pathologische Erscheinungen" hingestellt und hinzugefügt, daß diese Frage für die Wissen- schaft ebenso unnötig wie unbeantwortbar sei. Trotzdem taucht in den Wert- fragen fast aller Lebens- und Kulturgebiete immer wieder der Standpunkt eines allzustarken Empfindens des Wertwidrigen ') auf, welches sich dem Wert- haften vollkommen überordnet, und dies auf der Basis des ethischen Satzes, daß, je tiefer die Befriedigung i.als emotionales Erfüllungserlebnis verstanden) ist, desto höher der Wert sich stellt. Nicht ohne Grund hat nun Theodor Litt, mit dessen tief schürf endem Auf satze : „Lehrfach und Lehrpersönlich- kei t " 2) sich diese Zeilen beschäftigen und ihn vielleicht auch hier und da nutz- bringend ergänzen möchten, seine Gedanken in jener oben skizzierten Stellung Max Schelers^) verankert, wenn nicht gar bisweilen sich in der Fassung seiner Resultate von dessen Anschauungen beeinflussen lassen. Es handelt sich hier, in Ergänzung zu der oben hergestellten Beziehung, um Schelers öfters vertretenen Standpunkt eines kritizistisch- negativen Ressentiments, welches sich in seiner Erwartung, den Aktvollzug eines guten Wollens durch zentrale Glücksgefühle begleitet zu sehen (Scheler a. a. 0. II, S. 219 ff, 231 f), herb enttäuscht sieht, und nun nur aus Mangel an sicheren Entscheidungs- gründen — sogleich zu negativer Verwerfung fortschreitet, anstatt mit einer kritischen Urteilsenthaltung sich zufrieden geben zu wollen 4). Und dieses Überwiegen des Wertwidrigen, im Zusammenhange mit der negativ-kritizi- stischen, ressimenthaltigen Stellungnahme prägt sich besonders den Ausfüh- rungen Litts über die Persönlichkeit des Lehrers (besonders S. 142 ff) so stark auf, daß man von ihm (trotz der gegenteiligen Berufung auf W. Sterns neuestes Werk „Die menschliche Persönlichkeit" Lpz. 1918) „eine fast nativi- stische Starrheit und Unbeeinflußbarkeit" der Persönlichkeit (hier in dem einfachen Sinne des sich entwickelnden Menschen verstanden) vertreten zu sehen glaubt ein Standpunkt, gegen den sich W. Stern schon in der Vor- rede (S. XI) seines genannten Buches richtet.

Es muß nun von vornherein betont werden, daß Th. Litt selbst (S. 140) bei seiner schmerzlichen Feststellung eines starken Mangels an PersönUch- keiten im Bereiche der ethischen Bildungswerte betont hat, er sage dies

0 Vgl. W. Windelband, Einleitung i. d. Philosophie (Tübingen 1914), S. 424.

2) In Ilbergs Neuen Jahrbüchern für Philologie ... 1918 II, S. 135 ff.

3) „Der Formalismus in der Ethik und die raateriale Wertethik" im „Jahrbuch für Philosophie u. phänomenologische Forschung" Bd. I (1914) u. Bd. 11 (1916); auch in Buchausgabe (Halle 1916). Ich zitiere nach dem Jahrbuch (zu dieser Stelle vgl. I; 492 u. 498 f.).

4) Scheler a. a. 0. II, 226—228 u. „Abhandlungen u. Aufsätze" Bd. I (Lpz. 1915) S. 45 ff. 74 f, 76, 90 f, 109 f. (,..Das Ressentiment im Aufbau der Moralen" T I.).

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 19

290 Walther Saupe

„unter dem ausdrücklichen Zugeständnis, daß es sich hier um ein seinem Wesen nach unbeweisbares Werturteil handle" ; und doch ist der Schluß, der aus dieser Zuständlichkeit gezogen wird, so schwerwiegend und hoffnungs- los zugleich für die Zukunft unseres schwer bedrohten Bildungswesens, daß man der „begrifflichen Beschreibung" der pessimistischen wohl mit gutem Rechte die der optimistischen Stimnmngsrichtung entgegenstellen darf. Gewiß gilt auch von ihr, wie Windelband ausdrücklich den hier benutzten Aus- führungen (a. a. 0. S. 426) abschheßend hinzufügt, der Einwand, daß, „selbst wenn man statistisch oder begrifflich ein Überwiegen von Lust ... in der Gesamtheit der Dinge und der Erlebnisse nachweisen könnte, doch darin noch lange kein Recht läge, das Universum als gut zu qualifizieren". Gleich- wohl will es so scheinen, als ob, wie schon erwähnt. Litt (S. 141) durch sein Beharren im „Zustandsteleologischen der Persönlichkeit" (Stern a. a. 0. S. 270) zum Pessimismus geführt worden sei und sich nicht zu der freilich eben optimistisch gefärbten Bejahung der Sätze durchgerungen habe, die ei-st eigentlich in das Zentrum von Sterns Persönlichkeitsbegriff hineinführen : „Die Zweckbedeutung des BeM^ußtseins liegt nicht in der glatten Spiegelung persönlicher Vollkommenheitszustände (bei Litt etwa: Unvollkommenheits- zustände), sondern in der tätigen Verarbeitung und Überwindung von Stö- rungen der persönlichen Zweckbestimmtheit. Das Bewußtsein ist ein als Waffe dienender Spiegel') . . . Aber sie (sc. jene Störungen) erhalten sofort ihre positive Wertbedeutung, wenn man sie als dienende Faktoren in einer jenseits des Bewußtseins liegenden Strebungsteleologie2) der Persönlichkeit auffaßt. '^ (S. 269 f)

Bekennt sich nun unser deutsches Erziehergeschlecht noch zu Lessings unvergänglicher Theorie von der Wertüberlegenheit des Wahrheitsstrebens über den Wahrheitsbesitz , und gewinnt es daraus die feste Hoffnung auf ein unzerstörbares Obsiegen des Wertstrebens über den Wertbesitz, so darf und soll es sich nicht den guten Glauben, der sich nicht auf die „Gnade" (Litt) allein verläßt und doch auch nicht aus jedem Individuum eine „Persön- lichkeit zu machen" sich strengstens verpflichtet fühlt, als einen köstlichen Besitz und Wechsel auf die Zukunft bewahren, daß es doch besser werden könne: nicht nur auf praktischem Gebiete durch von der Vernunft geforderte Maßnahmen, sondern auch in der Theorie von Menschenbildung und Menschen- erziehung selbst.

IL Th. Litt hat selbst schon in seinem behandelten Aufsatze eine Fülle von Wegen aufgewiesen, die für einen Ausbau nach den oben gekennzeichneten Richtungen hin von höchstem Werte sind. Sie liegen in einer schärferen Erfassung der menschlichen Persönlichkeit, und zwar eher in der des Er- ziehers als der des Zöglings, und sodann in einer klareren und tiefergehenden Herausschälung der Erziehungs- und Bildungswerte aus den einzelnen Bildungs- fächern, auf deren Reahsierung die geistigen Kräfte der Persönlichkeit sowohl von selbst zustreben als auch in richtig verstandener Weise hingelenkt

') Vgl. zu Goethes iiier wohl vorliegender Theorie von der Persönlichkeitsenlwicklung zuui »schaffenden Spiegel" K. Burdachs Buch: Deutsche Renaissance (Berlin 1918 2), S. S4ff.

2) Stern bezeichnet sie auch noch schärfer als „funktionelle Richtungsteleologie" (a. u. 0., S. 268 f.).

Bildsamkeit und Persönlichkeit 291

oder hin entwickelt weiden müssen. Nun leugnet Litt - sicherlich mit gutem Rechte die Möglichkeit. „Peisönlichkeiten zu machen", bekennt sich also freimütig zu dem Satze: ex nihilo nihil fit, wenn einmal die „Gnade" fehle (S. 141): er gibt aber, nur wenige Zeilen später, zu, daß die Persönlich- keit „werde, wachse, reife falls eben in ihr der Keim zu solchem Wert- wachstum eingeschlossen sei von selbst durch volle, selbstvergessene Hin- gabe an die Sache, ja sie entfalte sich in demselben Maße sicherer und reicher, wie sie die Sache in den Mittel- und Zielpunkt des eigenen Strebens und Schaffens rücke und die eigene Person aus den Augen verliere ..." In beiden Fällen wird man wohl die scharfen Zuspitzungen aufeinanderzu umbiegen und sie so eine mehr und mehr gemeinsame Kraft entfalten lassen dürfen: Persönlichkeiten sollen nicht „gemacht", sondern erweckt und durch geistige Hilfeleistung bei ihrer wachsenden Selbstentfaltung gestärkt und unterstützt werden; und andererseits hat die auf dieses Ziel hindrängende Erziehung die schwere Aufgabe vor sich, jenes autonome, zunächst noch und auf lange Zeit hinaus triebhafte Werden, Wachsen und Reifen der auf- blühenden Persönlichkeit auf ihrem Wege zur selbstlosen Hingabe an die Sache vor dem Sturze in Abgründe und vor der Verirrung auf falsche Wege zu behüten und sie zu der Selbsterkenntnis und selbständigen Verwirklichung ihrer inneren Bestimmung mit fester Hand emporzugeleiten.

Jene zweifache Betätigung der Erziehung aber stützt sich, bei wissenschaft- licher Untersuchung, m. E. auf 3 Faktoren, die sich wie 3 konzentrische Kreise von außen nach innen um den festen Problemkern herumlegen: auf eine tiefere Erkenntnis des Kulturzusammenhangs (nach Struktur und Entwicklung) und seiner Forderungen an den Menschen als shebungs- teleologische PersönHchkeit; auf eine tiefere Erfassung der Möglichkeiten und Mittel, die zur Bewältigung des Kulturganzen durch die im Menschen angelegten Strebungsteleologien (unter Berücksichtigung ihrer eigenen, inneren Selbstent>\icklung) dienen können; endhch: auf tieferer Erkenntnis der „Konvergenz" dieses doppelseitigen Bildungsprozesses zu den Forderungen der gegenwärtigen Lehr- und Erziehungsmethoden. Eduard Spranger hat mit Recht in seinen „Lebensformen" 'Halle 1914; auch in der „Festschrift für AI. Riehl" ebenda) unter allgemeiner Zustimmung nicht ohne Grund gefordert, daß der Vierzahl der logischen, ethischen, ästhetischen und religiösen Werte, die auch jüngst in Windelbands „Einleitung in die Philoso- phie" noch nicht zur rechten Einheit kommen konnten i), solche aus den Gebieten der Wirtschaft, des Staates und der Gesellschaft zur Seite beten müßten, und daß dann natürlich der Zögling auch zu ihrer Beherrschung und Förderung im Prozeß der historischen Gesamtentwicklung emporgebildet werden müsse. Diese ihre Forderungen aber kann die Kultur an den Menschen nur dann erfolgreich richten, wenn sie durch ihre Probleme die in ihm ange- legten Dispositionen des Vorstellens, Fühlens und Wollens entzündet und anti-eibt zu einer Herauslösung der für den menschhchen £ildungsprozeß ebenso als für die Förderung der Kultur unentbehrlichen Werte und Normen der Verstandes-, Gefühls- und Willensbildung aus dem engmaschigen Netz des komphzierten Kulturzusammenhangs, in das sie hineinverwebt sind.

') Vgl. auch H. Rickert. Wilhelm Windelband (Tübingen 1917> S. 23.

19'

292 Walther Saupe

So ergibt sich in kurzen Umrissen folgendes Bild^j: Fordert zunächst die erkenntnistheoretische Seite der Bildung die Einführung des Zöglings in die Inhalte und logischen Grundbegriffe (innerer Strukturzusaramenhang, Möglichkeit und Umfang unserer Erkenntnisse) jener sechs objektiven Kultur- gebilde, so verlangt der Standpunkt der Gefühlsbildung die Aufstellung sittlicher Prinzipien im Bewußtsein des Individuums, die als Ideale mit abso- lutem Gültigkeitsanspruch gleichsam über den einzelnen Kulturgebieten schweben sollen und sich für sie etwa als Wahrheitssinn, Arbeitssinn, soziale Liebe im weiteren Sinne, politische Gesinnung, Gefühl für innere Harmonie und religiöse Gesinnung (Erlösungssehnsucht) formulieren lassen. Als Ziel der Willenserziehung werden sich schließlich in strenger Korrelation zu jenen die wichtigsten Kulturleistungen der einzelnen Gebiete im Rahmen der Gesamtkultur ergeben, zu deren selbsttätiger Förderung der Zögling emporentwickelt werden muß: das Erkennen und Wissen (als wissenschaft- liche Betätigung im weitesten Sinne) ; die Beherrschung der für die psycho- physische Kultur notwendigen Fertigkeiten; die Fähigkeiten politischen und sozialen Verhaltens, ästhetischen Gestaltens und endlich die Religiosität selbst als tätige Zurückbeziehung der einzelnen zersplitterten Erlebniswerte auf den totalen Sinn und Wert des Lebens. Während also die Gefühlsbildung sich der Aufstellung des jeweils werthaltenden Ideals auf der Gefühlsgrund- lage als des notwendigen inneren Bindemittels zwischen Erkennen und Wollen widmet (ideale Ethik), strebt der andere Teil der axiologisch- normativen Problemseite: die Willensbildung nach Erweckung des sittlichen Strebens, den Kulturprozeß im Rahmen seines innerlichen Zusammenhangs (konvergente Ethik) zu fördern, aber nicht nur mit dem Ziele eines mathematisch regu- lierten Maß Verhältnisses der einen Wertklasse zu den anderen , sondern in erster Linie von der Absicht geleitet, sich mit dem in den Komplex der individuellen Entscheidung eintretenden moralisch-kollektiven Wert- bewußtsein auseinanderzusetzen (also im Sinne einer Zusammenfassung von E. Sprangers sekundärer und tertiärer Wertung). Die Rechtfertigung dieser strengen Zerlegung der axiologisch-normativen Problemseite, kurz gesagt : der ethischen Sphäre in Gefühls- und Willensbildung in Idealwerte und Konvergenz- werte liegt dann in der Auffassung (ganz abstrakt gefaßt), daß die Gesinnung sich von der Rücksicht auf praktische Kulturbetätigung selbst freimacht, der Wille aber ''„die geschichtlich und gesellschaftlich überlieferte Moral mit ihren typischen Situationen und Urteilen" mit eingeschlossen) darnach strebt, mit dieser kulturellen Betätigung untrennbar verwachsen zu sein, und dafür jenen absolut-unbedingten Gültigkeitsanspruch einer gewissen Relativierung aus- liefert. — Das Wesen des ethischen Fortschritts von der rein innersittlichen Werthaltung zur praktischen Kulturbetätigung endlich liegt demnach in jener resignierten Beschränkung, zu der sich Goethes Wilhelm Meister hindurch-

') Es liegt durchaus fern, hier etwas wie ein eigeaes „System" zu versuchen; die Auffassung ist also nur kategorial verschieden von der der genannten Philosophen und auf die diesem Aufsatze gesteckten Ziele zui^eschnitten.

2) Über den sehr wesentlichen Unterschied in der Höhe dieser Werte, der in ihrer Vorzugs- bedeulung für die individuelle Persönlichkeit oder andererseits fiir eine größere generell-über- persönliche Einheit gesellschaftlichen Charakters liegt und somit die ökonomisch-politischen Wertgruppen von den abstrakten grundlegend ablöst, vgl. M. Scheler: Jahrb. I, S. 505 u. 512 f. und (ergänzend) W. Stern a. a. 0„ S. 50 f.

Bildsamkeit und Persönlichkeit 293

ringt: „daß die Bestimmung des Menschen nur im Berufe zu suchen ist. Entsagen soll er jenem Schwelgen im Allgemeinen, in Fühlen und Sehnen die Welt soll er erkennen lernen und darin seinen Platz sich suchen durch Arbeit und nützliche Tätigkeit. Aus der Selbstbespiegelung, aus der weichen Pflege individueller Beziehungen heraus, soll er in die harte Wirklichkeit gestellt werden und in tätigem Zusammenhange seinen Mann stellen".^) Natürlich sind gerade jene beiden Gebiete des ^.Wertfühlens" und „Zweck- strebens" 2) aufs innigste miteinander verwachsen : gleichsam die beiden Seiten einer in uns aus dem Erkennen und dem Erleben des Kulturganzen empor- quellenden ethischen Kraft, die ein leuchtendes Ideal aus dem Kullurganzen herauszulösen sich bemüht (soweit es nicht aus metaphysischen Höhen stammt), um es dann als lebenerweckende Kraft und als emporhelfenden Führer durch die engen Maschen des dichten Kulturgewebes hindurchstrahlen zu lassen. Kein Wunder, wenn es dabei an seinem starken, reinen Glänze Einbuße erleiden muß, je tiefer es nach dem Boden der Kulturvertlechtung hinab- strebt, und doch lebt es fort als empfangende und gebende Einwirkung, mit der der Erkenntnis sich darbietenden materiellen und geistigen Umwelt nicht minder eng verkettet als mit der aus den Individuen strömenden Kraft eines freien Willens.

III. Das innerliche Zusammentreffen und Aufeinanderbezogensein der geschil- derten drei Funktionen führt von selbst auf die Forderungen einer schärferen (theoretischen) Differenzierung des ganzen Bildungsprozesses inner- halb der individuellen Persönlichkeit in eine vorphilosophische und in eine philosophische Stufe. Als Zielforderurg steillt sich hiervon selbst die völlige Angleichung an die lebendige Entwicklung ein , die von den „vorphilosophisch - halbbewußten Bewußtseinsinhalten durch fortschrei- tende Reflexion der Selbstverständigung des Bewußtseins" (Windelband: Präludien I, 5, S. 27) zu der philosophischen Stufe sich emporringt, ebenso yne etwa entsprechend nur spezieller gefaßt die vorwissenschaftlichen Erkenntnistriebe durch Philologie (Wortkunde auf sprachwissenschaftlicher Grundlage, Interpretation der Texte), zu reinwissenschaftlichen Erkenntnissen gefördert werden. Infolgedessen kam die oben festgelegte zu strenger Trennung führende Definition von Gesinnung Werthaltung) und Willens- stellung erheblich gemildert werden, indem absichtlich unter schärferer terminologischer Differenzierung eine Scheidung von wertfrei-unref lek- tierter Erkenntnis, Gefühl und Willen und wertbezogen-wissens- bestimmter Erkenntnis, Gesinnung und Willen andererseits statuiert wird. Dies wird umso klarer, wenn man sich noch einmal zusammenfassend des Aufstiegs der drei wertfrei-vorphilosophischen Kräfte: des Erkenntnistriebes, freispielenden Gefühls und ungebundenen Willens, zu der höheren philoso- phischen, d. h. wertbezogen-wissensbestimmten Stufe (kraft ihres Zusammen- treffens und Aufeinanderbezogenseins) möglichst deutlich bewußt wird.

') 8. Windelband: Präludien I -^ (Tübingen 1915) S 182.

■-) Nach der Terminologie Wilh. Diltheys, für den sie, zusammen mit den grundlegenden Vorstellungen den auf alle BUdungsvorgänge einwirkenden „erworbenen Zusammenhang unseres Seelenlebens darstellen" (vgl. u. a. in Philos. Abhdl. für Ed. Zeller [Leipz. 1887] S 366; be- sonders auch die Abhandlung: ^.Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft" in .Sitzungsber d. Preuß. Akadem. d. Wissensch. 1SS8).

294 Waltlier Saupe

Aus dem Erkenntnistrieb entsteht die umfassende kritische Er- kenntnis selbst, in der sich jene drei Grundkräfte: Erkenntnisfähigkeit, Gefühl für den Wert der Erkenntnis i) und daraus entspringend Wille zur Erkenntnis {Xöyog) verknüpfen zum gvvoqöv (geistige üvvO-eaig). Aus dem freispielenden Gefühl entsteht ein seelischer Organismus, in welchem sich kritische Durchleuchtung und umfassende Analysierung des Gefühls, Glaube an den Idealwert des Gefühls und endlich der Wille zu dessen Setzung und unbedingter Anerkennung verbinden zu einer kritischen Idealsetzung 2) wenn sie nicht metaphysisch ist vor dem als höhere Macht hereinragenden Forum des Gewissens in seiner Grundbedeutung des AU-wissens, in welchem Freiheit und Notwendigkeit eines frei anerkannten Gehorsams innerlich zum sittlichen Problem zusammenfallen. Aus dem ungebundenen Willenstrieb entsteht der kulturbedingte organisierte Willen, in welchem inneres ki'itisches Bewußtwerden über seine Ziele und Mittel, Verantwortungsgefühl für Umfang und Konsequenzen der jeweihgen Willenshandlung und unbeirrbarer Willensentschluß zum Handeln sich ver- knüpfen zur organisierten Tat. So wird im Zusammenwachsen und im damit zugleich emporstrebenden und sich ausbreitenden Wachstum dieser Kräfte ihr innerer Ausgleich innerhalb ihrer chaotischen Komplexion stetig gesucht (Wurzel des Organismusgedankens), und zwar aus dem Grunde und mit Hilfe einer im Innern eines jeden Menschen zu verlebendigenden, idealsetzenden Kraft überpersonal-göttUchen Charakters (Wurzel des Indivi- dualitätsgedankens), welche aus der Erkenntnis ihre sachliche Be- reicherung und formallogische Regulierung empfängt (Primat des reinen Intellekts und Wurzel der Seinsfragen) und welche andererseits dem Willen zum Handeln die aus den ewigen und allgemeingültigen Idealwerten 3) gewonnene wahrhaft sittliche Bestimmung erst aufprägt. Man könnte dies in Analogie zum Vorhergehenden als Primat einer praktischen Ver- nunft in ihrer Erweiterung von kulturfrei-idealer zu kulturbedingt-konver- genter Ethik bezeichnen, welche kein Ausleseprinzip mehr darstellt, sondern ein Kampfprinzip, mag nun die Auseinandersetzung die Autoritäten der gesellschaftlichen und geistigen Umgebung zum Angriffsobjekt haben oder den innersittlichen Charakter einer autonomen Selbstentscheidung und Zu- stimmung zu eigenen sittlichen Erlebnissen (PfUchtenkonflikte, Verzicht oder Nichtverzicht auf Frefiheit) an sich tragen. Hier wurzeln dann das sittliche Verantwortungsgefühl und die Wertfragen.

IV. Th. Litt hat sodann in einer Anmerkung (zu S. 147), die ihrem Gehalte nach zu dem Wertvollsten seines ganzen Aufsatzes gehört und zwar gerade

') „Bereits die noetischea Probleme haben übrigens etwas von dem Wesen der axiologischen an sich und stellen deshalb den Übergang von den theoretischen zu den praktischen dar* (Windelband: Einleitung S. 255).

2j Ähnlich urteilt über den Charakter dieser „sittlichen Erkenntnis" M, Scheler: Jahrbuch 1 S. 468.

3) Sie sind von der Persönlichkeit selbst entweder aus ihren Auseinandersetzungen mit den konkreten sittlichen Situationen und Kulturlorderungen herausgearbeitet worden oder haben sich selbst im historischen Entwicklungsprozeß der Kultur zu Allgemeingültigkeit und Ewigkeitswert emporgerungen.

Bildsamkeit und Persönlichkeit 295

wegen ihrer „erschreckend abstrakten Systematik und strengen Terminologie'', den inneren Bildungsprozeß selbst untersucht und in eine gewisse Kon- vergenz zu den Forderungen der pädagogischen Lehr- und Er- ziehungsmethoden gebracht, wobei sich sofort eine Trennung der ethischen von der fremdsprachlichen Fächergruppe auch in dieser Hinsicht ergeben hat. Vielleicht ließe sich aber es geschieht hier auf Grund eigener prak- tischer Untersuchungen dieser Bildungsprozeß in seiner engen Beziehung zu den einzelnen Bildungsfächern noch schärfer differenzieren und damit die Zahl der Ansatzpunkte für eine Persönlichkeitsbildung erheblich vermehren, was hier jedoch nur im allgemeinen versucht werden soll. Litt hat mit Recht den Umfang der Aktualisienmg der Potentialitäten des Bildungsprozesses zum funktionellen Mittelpunkt der Beziehungen zwischen Bildner, Zögling und ßildungsgut als den beteiligten Faktoren gemacht.

1. Ein eigener Aufbau l) würde nun unter der ersten Kategorie: Tätigkeit des Erziehers, noch vor dem (ersten) Nachschaffen in und durch die i^ehrpersönlichkeit eine rein grammatisch-logische Worterklärung des Textes (Lektüre oder Lehrbuch) einschalten, um in ihm eine feste Grand- basis für „die Zusammenstimmung dieser drei Potentiahtätengruppen" zu schaffen. Die erkenntnisbildende Seite des Lehr- und Erziehungs- prozesses verlangt auf jener Grundlage für das erste Nachschaffen in der Lehrpersönlichkeit eine AktuaHsierung von material-sachlichen Erkenntniswerten (inhaltliche Belehrung) und andererseits von formal- logischen Erkenntniswerten, über deren untereinander differenziale Strukturen weiter unten noch zu handeln sein wird. Zur Erkenntnisbildung tritt nun die Erziehung als axiologisch-normalives Problemgebiet (dem systematischen Aufbau in den vorangehenden Abschnitten entsprechend): sie fordert die Aktualisierung von ethischen Idealwerten einerseits (s. S. 14ff) und ethischen Konvergenzwerten andererseits, den Ansprüchen der Gefühls- und Willensbildung entsprechend.

Zunächst sei, vor näherer Erklärung des Vorhergehenden, die Tätigkeit des Zöglings angeschlossen. Auch hier ist die Vorstufe des rein gramma- tischen Wortverständnisses nicht zu entbehren, auf der sich unmittelbar jenes (zweite) Nachschaffen in und durch die Lernpersönlichkeit erheben kann und zwar in seiner analogen Zergliederung in die AktuaUsie- rung der der Erkenntnisbildung dienenden material-sachlichen und formal-logischen Erkenntniswerte und in die Aktualisierung der die Er- ziehung (oder Selbsterziehung) fördernden ethischen Ideal- und Kon- vergenzwerte.

2. Das starre Gerüst bedarf zu seiner Ausfüllung nach der konkreten Seite hin einer Reihe wichtiger Zusätze. Die auch hier zugrundeliegende Drei- teilung des Wertgebiets findet ihre Rechtfertigung vor allem in der einer jeden Wertgruppe zukommenden Akzentuierung ihrer Beziehungen auf die drei Träger (s. S. 23) des Bildungsprozesses: liegt für die material- sachliche Wertgruppe der Hauptton auf ihrer Werthaftigkeit für die Sache (Bildungsgut), so für die formallogische Wertgruppe auf ihrer Werthaftigkeit für die Lerngeraeinschaft, so für die beiden ethischen

') Vgl. darüber die Ansicht von J. Cchn im Logos Bd. VU (1917/18) S. 90, Anm. 1 (zu Schelers Buch).

296 Walther Saupe

Wertsysterae auf Ihrer Werthaftigkeit für die Lehrpersönlichkeit. Nur muß unter Werthaftigkeit um Mißverständnissen zu entgehen der Wert- gewinn verstanden werden, welcher der einzelnen Wertgruppe für die Wechselwirkung zwischen ihr und dem besonders akzentuierten Träger aus diesem selbst zuströmt: aus dem Bildungsgut das Wahrheitsstreben, aus der Gemeinschaft der Lernenden die dialektisch -logische Schulung; von selten der Lernpersönlichkeit das vorbildliche Ethos der Belehrung und Erziehung schlechthin.

3a. Auch der Doppelprozeß des Nachschaffens verlangt nach kon- kreter Ausfüllung: Litt und Stern legen hierbei den Hauptakzent auf den Vorgang der Auslese, die freihch ihrer psychologischen Herleitung und Be- schaffenheit nach für das vorliegende Problem: Bildsamkeit und Persönlich- keit gleichfalls einer eingehenderen Differenzierung zu bedürfen scheint. Von Erzieher und Schüler hat hier, wenn auch in wesentlicher Verschiebung zu- gunsten des ersteren, wobei nicht unmöghche Ausnahmen nach beiden Seiten hin die Regel nur bestätigen können, zu gelten, daß zur (unbewußten) Ver- kürzung ergänzend eine organische Auslese treten kann und daß zu ihnen beiden in entsprechenden Gegensatz eine (vorwiegend unbewußte) Ver- mehrung und andererseits eine (wiederum) organische Erweiterung!) sich einstellen darf.

b. Zur rein logischen Gliederung folge die psychologische Recht- fertigung. Mit Absicht stehen grammatische Worterklärung und Wort- verständnis außerhalb des werterfüllten Nachschaffensprozesses, da hier der vorliegende Text und andererseits die gestellte Zielforderung eine eng um- grenzte Aufgabe, fast einer mechanischen Reproduktion gleich, umschreiben. Aus diesen Fesseln nur muß, wenn er das Ganze des Nachschaffenspro- zesses in sich erfüllt sehen will, der fremdsprachliche Unterricht in erster Linie befreit werden, während die Auslösung der formal-logischen Erkenntnis- werte aufs entschiedenste einer höheren Wertstufe zuzuweisen sein wird. Denn sie fiihren schon in den Prozeß des Nachschaffens selbst tiefer hinein.

c. Es liegt sodann auf der Hand, daß unbewußte und unorganische Ver- kürzung2) auf der einen, unbewußte und unorganische Vermehrung auf der anderen Seite gegenüber den organischen Prozessen der Auslese und Erweiterung eine tiefe, oft sogar nur vorbereitende Stufe im Verlaufe jenes geistigen Geschehens bedeuten, da hier die Willensbetätigung innerhalb der vorgenommenen Erkenntnishandlung ihre Kräfte aus einer breiten Gefühls- grundlage zieht: Lust und Interesse des Lernfenden an der Sache lassen die reine Erkenntnis sich vermischen mit Phantasie und egozentrischen Ge- fühlen allerart, so daß die Auslese unbewußt oder, wenn bewußt, so doch

1) Die Lempersönlichkeit hat hierbei naturgemäß eine vorzugsweise passive Rolle zu spielen Ähnliches bei Stern: a. a. 0. S. 162 f.

2) Dies trifft freilich vorwiegend für die ethische Fächergruppe (Litt a. a. 0. S. 137, 143 ff) zu, wenngleich auch der fremdsprachliche. Unterricht reiche Gelegenheit an Situationen bietet, wo der kontinuierliche Zusammenhang der zu aktualisierenden Bildungspotentialitäten durch Lücken unterbrochen wird (Wiedererzählung, Besprechung an und ohne Text, Fachaufsatz usw.). Man könnte hier den Satz prägen: Je entfernter der Text und das Lehrbuch, umso stärker die Betätigung von Verkürzung und Vermehrung, von organischer Auslese und Erw^eiterung, nur mit dem wesentlichen Unterschiede, daß das „Organische" eine doppelte feste Hand des Er- ziehers verlangt, um seine Ansprüche an die geistige Betätigung des Zöglings im vollsten Um- fange geltend machen zu können.

Bildsamkeit und Persönlichkeit 297

durch Überwiegen des Emotionalen den Prozeß des Nachschaffens mehr oder weniger willkürlich gestaltet, d.h. die Sache selbst umgestaltet. Die Betäti- gung der organischen Auslese (im eigentlichen, engeren Sinne) und der organischen Erweiterung, die doch mindestens von gleicher Wichtigkeit ist, erweist sich hingegen als eine vom Willen erzeugte Tatliandlung, deren Kraftquellen viel weniger im Grunde des Gefühlslebens als \aelmehr auf dem Kampffelde scharfer Denkarbeit an der Sache liegen. Hier wurzelt jene von Litt so streng und unerbittlich geforderte „Hingabe an die Sache selbst" am tiefsten ; hier entspringt auch ein Strom von Lebensmächten, der sich in die der Erkenntnisbildung dienenden material-sachlichen und formal-logischen Werte kaum kräftiger ergießt als in die der Erziehung dienenden ethischen Ideal- und Konvergenzwerte. Sicherlich ist die Willensbetätigung auf der Ge- fühlsgrundlage von unleugbarer, unerläßlicher Bedeutsamkeit für das Gebiet der (ethischen) Idealwerte ; und das Genie, insbesondere das ethische, findet das Neue, das Eigentümliche seiner Schöpfung, nur „als Werkzeug über- individueller Zielstrebigkeiten" (Stern a. a. 0. S. 60 u. 87 f), so stark und un- beirrbar auch die autotele Selbstbestimmung des genialen Menschen in jene Heterotelien eingeht.

Aber die Grundlegung durch das Denken vermag erst die Basis für den Prozeß einer Ethisierung der Bildung zu schaffen, durch die ihr allein eigentümliche Möglichkeit einer logisch, allgemeiner gesagt: wissenschaft- lich fundierten Rechtfertigung oder Selbstrechtfertigung, was jene emotionale Grundlage niemals wird erzielen können. Denn dann erheUt sich auch jenes Siebengestirn von Fragen, in das sich die gesamte Bildungsarbeit gleichsam auf eine starre Formel bringen läßt, und stellt jedes Bildungsobjekt, dem unsere Arbeit gilt, in ein klares und deutliches Licht: was (es) ist und wie es ist; warum es so ist, und warum es so für uns ist; was sein soll und wie es sein soll; endlich aber: warum es gerade so sein muß. Zünden wir in solcher Weise in unserer Jugend die Fackel der Wahrheit an, auf daß sie die Welt in ihrem restlosen Eigenleben und ihren Forderungen an die mensch- liche Persönlichkeit nicht ruhig hinnehme, sondern erst wahrhaftig entdecke und erkennen lerne, was sie ist, was sie sein kann und was sie sein soll. Sokrates und Piaton reichen hier einander d* Hände: ich weiß, daß ich nichts weiß, aber ich will und werde wissen, weil ich es kann und der Umwelt und mir selbst schuldig bin.

Diese vielverzweigte, das gewaltige Meer menschlichen Lebens umfassende Aufgabe, die von dem Menschen in seiner geistigen und sittlichen Entwick- lung ihre Bewältigung fordert, kann aber kein Selbstbildungsprozeß (auch nicht an der Hand gedruckten Materials, von den rein empirischen Erfah- rungen des menschlichen Lebens ganz abgesehen, deren Bewußtwerden ja auch einer mehr oder minder zufälligen „Auslese" unterliegt) leisten. Sie verlangt für unsere Jugend Führer, die der Größe jener Aufgaben gewachsen, also Persönlichkeiten sind und in ihrer Brust die niemals verlöschende Sehn- sucht tragen nach unaufhörlicher Vollendung durch ewiges Lernen am Leben, aus den Werken der Literaturen und nicht zum wenigsten von der lernen- den Jugend selbst. Und in unserer Jugend liegt nun einmal der gleiche, heiße Drang, Persönlichkeit i) zu werden, den eine gütige Natur mit den auf

') Vgl. dazu die Ausführungen des Verfassers in llbergs Neuen Jahrbüchern, 1917. II. Ab- teilung (Bd. 40), S. 282 ff. Man möchte sich verpflichtet fühlen, auch angesichts der letzten

298 Walther Saupe

Entfallung an der Kulturbewältigung hindrängenden Anlagen funktionellen Charakters ausgestattet hat, und so fordert sie von ihren Führerpersönlich- keiten die Erfüllung oder die Mitwirkung an der Selbsterfüllung eigenen inneren Strebens. Damit stehen wir, freilich hoffnungsfreudiger als Litt, wiederum und endgültig vor dem urewigen Problem: Bildsam keit und Persönlichkeit.

Hatte Litt die Persönlichkeit von der „Gnade" abhängig gemacht und an- dererseits eine werthaltige Heranbildung des Zöglings von dem Vorhandensein einer Lehrpersönlichkeit, so soll hier dagegen, auf der Grundlage der vorangehenden Ausführungen und Resultate, der doppelte Nachweis versucht werden, daß jeder Erzieher mag ihn auch die „Gnade" nicht zur „Per- sönlichkeit" geschaffen haben sein Erziehungsamt nach bestem Wissen und Gewissen in negativer und positiver Hinsicht vertreten kann und muß: negativ durch Behütung des anvertrauten Kindes vor falschen Wegen und ihren Gefahren!), positiv durch Anstoß zur Selbstbeteiligung und durch mithelfende Lenkung des Zöglings auf diesem Wege. Es sei gestattet, hier nur in groben Umrissen die wichtigsten Ansatzpunkte und Umgrenzung dieser Aufgabe an ZögHng, Bildungsgut und Erzieher herauszuheben.

Jedes heranwachsende Kind hat bestimmte Interessen 2), die ihm zunächst wahllos zuströmen und, je nach der Größe seines Einheitsbewußtseins, un- geordnet, oft geradezu chaotisch in ihm sich neben- und durcheinander lagern. Hier hat der Erzieher, aus der Fülle eigener Erfahrungen schöpfend, keinesfalls nur neue Interessen zu erwecken, sondern die, in denen sich der Keim besonderer Begabung bemerkbar macht, zu einer notwendigen, wertvollen Einheit (oft durch Erzeugung neuer, wertvoller Interessen) zu ver- binden und zu lenken, ohne vor der Notv\'^endigkeit einer strengen Zurück- drängung ablenkender, am Triebleben fest haftender Interessen zurückzu- schrecken. Dreifach ist schon hier die Stufenfolge des Gegebenen: von der Analyse über die kritische Prüfung zur synthetischen Vereinheitlichung ihrer Erfassung und Verwertung. Erst auf und an diesen Fundamenten kann Vk'^ahre Begabung, deren Ej^tenz freilich auf „Gnade" angewiesen ist, ent- wickelt werden aus einer Anlage rein konservativen Charakters (einem ruhenden Schatze vergleichbar) zur organischen, d. h. bewußten und organi- schen „Energie".^) In das Gebiet des Reinsittlichen aber führt drittens die Ausdeutung der Begabung als ethischer Verpflichtung und Grundlage einer Ethisierung der Bildung schlechthin : der Zögling soll erkennen, daß er einer Bildungsgemeinschaft angehört (Schule, Klasse, auch Eltern) und doch indi- viduelle Persönlichkeit ist, deren Förderung er nicht minder verpflichtet ist

Ereignisse in Jena und Spandau, die Schärfe jener Ausführungen zu mildern, wenn man die wundervollen, aus der Mitte dieser Jugendbewegung stammenden Worte des ehrenvollst, nur allzu früh dahingegangenen Eisenacher Dichters Walter Flex in seinem „Der Wanderer zwischen beiden Welten" (1918 S. 43 f.) tiefbewegt liest.

') Litt scheint das vollständig übersehen zu haben,

^) Vieles in den folgenden Ausführungen wird dem obengenannten Buche von W. Stern verdankt; da sich Litt darauf beruft, ist es hier stärker herangezogen worden.

3) Stern (S. 88) hat mit Recht darauf hingewiesen, daß ein Zusammenwirken von Interesse und Begabung sogar die Kraft habe, „aus ursprünglichen Schwächen hochwertige Fähigkeiten zu entwickeln'-.

Bildsamkeit und Persönlichkeit 299

in Gesinnungshaltung und Aibeitsleistung. In der Darlegung gerade dieser ins ethische und soziologische Gebiet hinübergreifenden Probleme hat der Lehrer seine ganze Persönlichkeit einzusetzen, durch die Überzeugungskraft seines Wissens und seiner Rede und durch die Vorbildlichkeit seines Han- delns und andererseits durch unerbittliche scharfe Kritik (d. h, Ausdeutung) an der Begabungsrichtung seines Zöghngs und ihrer verschiedenartigen, oft noch kaum entdeckbaren Ausstrahlungen. So führt der Weg vom Zögling selbst zu seinem Vorbild und Führer, dem Erzieher. Stern (a.a.O. S. 174f) hat für ihn mit Recht tiefe Verb^autheit mit einer aus dem oben erwähnten Konvergenzgrundsatz abgeleiteten „Anthropotechnik" gefordert: die äußeren Erziehungsmittel (Unterricht, Erziehung u. a.} sollen „geeicht werden durch die Beziehungen auf die inneren Mittel der Anlagen, mit denen sie kon- vergieren". Ihr inneres Zentrum besitzt die „Anthropotechnik" in der schar- fen Erfassung der Gesetze, welche die "innere Beeinflussung des Zöglings unter Berücksichtigung seiner Individualität gewährleisten und gleichfalls eine weit schärfere Differenzierung fordern und auch verdienen, als sie Stern i,a. a. 0. S. 120) getroffen hat. Die indirekte Beeinflussung ob absichtlich oder unabsichtlich, macht keinen Unterschied aus stützt sich zur Ver- mittlung auf eine Verlebendigung der Kultur- und Naturwerte, deren sich der Zögling zu bemächtigen hat.i) Anders die direkte Beeinflussung als Fühlungnahme von Mensch zu Mensch, wo sich absichthch und unab- sichtlich streng scheiden: verläuft sie unabsichtlich, so wurzelt sie in der einfachen Tatsache, daß das Eigenleben des Erziehei-s in seiner unbewußten MenschUchkeit sich als notwendiger Bestandteil des Gesamtmilieus darstellt; verläuft sie aber absichtlich, so fällt dem Bildner die Rolle des absichts- vollen Erziehers zu, der seinerseits, ist er vorwiegend dogmatisch veranlagt, das Bildungsgut selbst als komplexes Gebilde, sachlich analysiert und logisch geordnet, dem Schüler zur kritiklosen Annahme vorlegt, oder, ist er ich möchte sagen: idealistisch veranlagt, durch Auflösung des Bildungsguts in Probleme ihn selbst diese Probleme erleben und zum Ganzen und zur Lö- sung der es umschließenden Fragen durch selbständige kritische Arbeit und ethische Bewertung gelangen läßt. Ich möchte behaupten, daß hierin sich erst das Wesen einer wahren Erziehungsgemeinschaft erschließt: in der geistigen und ethischen Fortbildung von Erzieher und Zögling auf Grund gemeinsamen Schaffens^); und wenn auch unleugbar der Erzieher, weil er über ein weit höheres Maß von aus seiner Erfahrung bereitliegenden (gei- stigen und ethischen) „Einstellungsformen" verfügt als jener, in der Erkennt- nis von dessen innerer Struktur und Beeinflussung ihm unendhch überlegen ist, so weiß er nur zu oft dem ZögUng Dank für die unbefangene Betrach- tung und naive Erkenntniskritik, mit der der ahnungslose Zögling an den Problemkomplex herantritt. Beide MögUchkeiten der direkten Beeinflussung freihch werden, da nicht voneinander ableitbar, in der Praxis auf wechsel- seitige Unterstützung und Ergänzung angewiesen sein, wobei, je nach der psychologischen Konstitution von Lehrer oder ZögUng, der eine oder andere Standpunkt prävaliert. Ist der Erzieher mehr sb-enger Lehrer als freundhcher

') Hier stellt der Erzieher seine Persönlichkeit vollständig hinter das Werk und läßt es ganz aus und durch sich selbst wirken.

*) Schon ol)en erschien dies sein Wesen als ,^ingabe an die Sache selbst" aul dem „Kampf- felde scharfer Deukarljeit au der Sache".

300 Walther Saupe, Bildsamkeit und Persönlichkeit

Führer ich lasse die Fülle von Zwischenstufen beiseite , so wird sich das neue Gebiet (Lehrstoff) als fremde Macht dem Zögling gegenüberstellen, eine Schranke, welche der Erzieher, wenn er Persönlichkeit ist, seinen Zög- ling durch psychologische Ableitung des Neuen, also auf induktiv- em- pirischem Wege, überwinden lassen wird. Der entgegengesetzte Charakter der Lehrpersönlichkeit wird den Schüler gar nicht zu der Empfindung einer fremden Macht kommen lassen und kann dann zunächst unter freudiger Zustimmung des Schülers das Bildungsobjekt in seinen Grundzügen dedu- zieren. Läßt er dem dann noch die psychologische Ableitung folgen, so findet jener in ihr die Bestätigung des durch Deduktion Gelernten, und daß somit sein Interesse und die Erinnerung verstärkt wird, bedarf nicht erst weiterer Betonung. So wird die Entscheidung i) zwischen Induktion und Deduktion in der Pädagogik psychologisch erledigt, wobei eine andere rein logische Lösung dieser Fragen immer noch möghch bleibt.

Zwischen Lehrer und Zögling steht endhch das Bildungsgut selbst, und auch an ihm gibt es nun Ansatzpunkte für eine Persönlichkeitsbildung zu suchen. Als Hauptproblem darf sich hier wohl betrachten die Forderung des Bildungsgutes, die in ihm eingeschlossenen Zwecke und Werte mit der Autoteile des Zöglings zu seiner geistigen und sittlichen Selbstentfaltung verschmolzen zu sehen, auf daß rückwirkend sich ihre Förderung durch den heranwachsenden Menschen ergeben kann.2) Stern, der hier von „An- leitung des Zöglings zur Introzeption der Fremdzwecke in seine Eigenzwecke (die der Lehrer natürlich aufspüren muß) spricht, hat auch hier neben dieser direkten Methode den indirekten schon erwähnten Weg außer acht gelassen : die vorbildliche Selbstdarstellung der Introzeption der Fremdzwecke in Eigenzwecke durch den Erzieher (vgl. die Anmerkung!). Hier ist wenig tun oft unendlich mehr als lange reden, wenn, imi nur einiges zu erwäh- nen, der Erzieher dem Zöghng seine und seiner Kollegen (als richtig an- erkannte) Abhängigkeit nicht nur von überindividuell-überpersonalen Wesen- heiten und Forderungen geistigen und gesellschaftlichen Charakters, sondern auch von den übergeordneten Behörden zeigt und nach der anderen Seite hin ihn hinweist auf die freiwillige Herabstimmung und das Ein- gehen des Erziehers auf die kindlichen Wünsche und Bedürfnisse, auf sein väterliches Verständnis und die ihm entgegengebrachte Geduld, wie sie etwa einer ganzen Klasse gegenüber (als einem ganz anderen soziologischen Phänomen) niemals von rechtem Werte sein dürfte. So erscheint denn doch das von Stern (a. a. 0. S. 59 ff.) geforderte Ziel der Persönlichkeitsbil- dung: die Erweiterung des Ich ins Mikrokosmische, oder wie es hier ge- nannt werden soll : die Heranbildung des Individuums zum produktiven Teil- haben an den Werten aus zielstrebiger, persönlicher Einheit heraus und im Sinne einer Freiheitstat, in dem freundlichen Lichte einer möghchen VerwirkHchung,

') Vgl. auch die sehr berechtigten Einwände gegen die Induktion in der Pädagogik iu M. Siebourg's „Handbuch für höhere Scliulen" (Ziele u. Wege d. Unterrichts", Lpz. 1918, S. 97f).

^) Seelisch schiebt sich hier noch als schwer kompliziertes Problem die Tatsache ein, daß diesem Ausgleich der Forderungen des Bildungsgutes mit der Autoteile des Zöglings ein solcher zwischen jenen Forderungen und der Autoteile des Erziehers vorausgehen muß, von dem wei- teren Gegensatze der Autoteile des Erziehers und des Zöglings noch ganz zu schweigen. Doch gehört dies in das Kapitel „Heranbringung des Stoffes an den Zögling" und damit zu dem um- fassenderen Thema: „Vorbereitung des Erziehers auf den Unterricht", das sich hier nicht mehr erledigen läßt.

Martha Muchow u. Wilh. Höper, Beobachtungsbogen u. Schülerauslese 301

wenn man ihre beiden Hauptrichtungen scharf im Auge behält: die Heran- bildung des Menschen zum Werkzeug überindividueller Zielstrebigkeiten, und zugleich zu einer starken, unbestechlichen Selbstbestimmung. Damit aber verliert der Persönlichkeitsbegriff und seine Realisierung den substan- tiellen Charakter, den ihm Litts „Gnaden"vorstellung gibt, wird aber dafür zur funktionellen Veranlagung von Anfang an hat sich ja eine Fülle von Ansatzpunkten für den Erzieher als Bildner von Persönlichkeiten aufweisen lassen und ewigem Kampfprinzip, dem ein „Paradies voll ewiger Har- inonie" (Stern, S. 63) nichts anderes als ein Danaergeschenk bedeuten würde. An seine Stelle setzt es die Forderung, die Umwelt und das Ich immer tie- fer zu erfassen und sein Denken und Tun der Entwicklung der Kultui* und ihrer Werte zu weihen, zu deren Förderung wir berufen sind.

Trotz seines Skeptizismus hat Litt den Sprung aus dem theoretischen ins praktische Gebiet gewagt. Doch soll ihm in diesem Zusammenhang nicht dorthin gefolgt werden, zumal da Litt m. E. jenes Problem eigenthch gerade nur bis dahin verfolgt hat, wo eine neue Welt der Fragen sich auf tut, die sich am schärfsten durch die Beziehung : Lehrfach, Lehrplan und Werttheorie, umschreiben läßt. Litt hat sie nicht betreten, w^ohl gehindert durch seine pessimistische Stellung zu Wesen und Begriff der Persönlichkeit und ihrer Heranbildung; wer jedoch hier optimistisch fühlt und denkt, wird sich mit ihr und ihren Probiemkomplexen schon um seiner eigenen Bildungs- und Selbstbildungsarbeit willen befassen dürfen und auch sollen.

Beobachtungsbogen und Schülerauslese.

Zwei Berichte aus dem Psycholog. Laboratorium der Hamburgischen Universität. Von Martha Muchow und Wilhelm Höper.

Vorbemerkung. Mehr und mehr setzt sich die Überzeugung durch, daß sich die Auslese begabter Schüler gründen muß auf eine Verbindung experimenteller Prüfungsmethoden mit den Methoden einer systematischen Beobachtung. Um diese letztere herbeizuführen, sind , Beobachtungsbogen' ausgearbeitet worden, die den Lfehrern die psychologischen Gesichts- punkte zur Beobachtung der Schüler darbieten sollen. Die umfangreichsten Erfahrungen mit Beobachtungsbogen liegen bisher in Hamburg vor, wo in den Jahren 1918/19 bei der Auslese 10 jähriger Volksschüler und Volksschülerinnen etwa zwei Tausend solcher Bogen ausgefüllt worden sind. Aus den Hamburger Erfahrungen sind die beiden folgenden Berichte hervor- gegangen, die über Bedeutung, Methodik und Ergebnisse des Beobachtungsbogens aufklären sollen.

Der Hamburger Beobachtungsbogen des Jahres 19! 8 ist im Psychologischen Laboratorium von Fräulein Martha Muchow mit Unterstützung des Unterzeichneten und anderer Seminarteilnehmer ausgearbeitet worden; er findet sich in dieser Zeitschrift Bd. 19 S. 138 ff. abgedruckt. Das eben erschienene Buch: R. Peter und W. Stern, „Die Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg" (Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung Nr. 1, Leipzig, Barth 1919) enthält einen aus- führlichen Bericht über ihn von Martha Muchow.

Auf Grund der bei der ersten Anwendung gemachten Erfahrungen wurde für 1919 eine z. T. abgeänderte Form des Beobachtungsbogens gewählt; diese Fassung enthält Fragen und Beob- achtungsanweisungen aus folgenden psychischen Gebieten:

1. Anpassungsfähigkeit 7. Denken

2. Aufmerksamkeit 8. Sprachlicher Ausdruck

3. Ermüdbarkeit 9. Arbeitsart

4. Wahrnehmung und Beobachtungsfähigkeit 10. Gemüts- und Willensleben

5. Gedächtnis H Besondere Interessen und Talente.

6. Phantasie

302 Martha Muchow

Der neue Bogen ist der umseitig genannten Schrift von Peter und Stern als Anhang bei- gegeben; außerdem ist er als Sonderdruck im Buchhandel erschienen unter dem Titel „Psychologischer Beobachtungsbogen für Schulkinder 1919". Leipzig, Barth 1919.

Die ausgefüllten Bogen des Jahres 1919 sind für die Zwecke der Auslese von Martha Muchow, Rudolf Peter und Dr. Höper durchgearbeitet worden. Stern.

Notwendigkeit und Möglichkeit der Heranziehung des Lehrerurteils

bei der Begabtenauslese.

Von Martha Muchow.

Das Problem der Zuweisung der richtigen Schüler an die richtigen Schul- gattungen ist ohne Zweifel eins der schwierigsten, die in dem gesamten Problemkomplex der Einheitsschule auftauchen. Wenn aber die von der Lehrerschaft mit zäher Ausdauer errungene neue Schulform kein bloßer Name sein soll, so muß es gelingen, gerade für diese Frage eine möglichst einwandfreie Lösung zu finden. Freilich ein absolut sicheres Bestimmungs- maß für die Aufnahmefähigkeit in diesen oder jenen höheren Zug gibt es überhaupt nicht, wird es nie geben. Kennen wir doch alle jene Glanzschüler der Elementarklassen, die nachher an einer gewissen Grenze anfangen zu versagen, die langsam in der Rangordnung der Klasse immer tiefer und tiefer sinken und schließlich, sogar mit dem Durchschnitt nicht mehr Schritt haltend, sitzen bleiben ; oder jene Sorgenkinder der Unterklassen, die in den letzten Schuljahren, oft erst in der Fortbildungsschule, mit dem Übergang zur Pubertät und Reife plötzlich einen ungeahnten Reichtum an Gaben ent- falten. Aber die Methode, bei welcher die Gefahr, daß echte Begabungen niedergehalten, unechte blendende emporgehoben werden, auf das geringste mögliche Maß beschränkt wird, zu suchen, dürfen wir uns dennoch nicht verdrießen lassen.

Bei der Schaffung unserer neuen Schulgattungen tritt mit größter Deutlich- keit der Fähigkeitsgesichtspunkt hervor. Bei der Zuweisung der Schüler zu den Oberzügen der Einheitsschule darf daher keineswegs der Kenntnis- und Wissensgesichtspunkt ausschlaggebend sein. Wir müssen versuchen, an die Fähigkeiten und Begabungen selber heranzukommen, wenn wir über die Aufnahmefähigkeit entscheiden wollen.

Darin aber liegen in zwiefacher Hinsicht . bedeutende Schwierigkeiten. Einerseits erschwert die Art der Arbeit im Unterbau die Diagnose der für die Oberzüge erforderlichen Fähigkeiten ganz wesentlich dadurch, daß eben diese Fähigkeiten durch sie nur sehr wenig ins Spiel gesetzt werden, sich also in den Leistungen der Elementarschüler nur sehr selten dokumen- tieren. Das Ergebnis der Elementarbildung darf deshalb keineswegs allein darüber entscheiden, ob ein Kind eine höhere Bildungsanstalt und welche es zu besuchen habe. Auch für den Fall der Ausgestaltung des Unterbaus nach den Grundsätzen der Arbeitsschule würde diese Schwierigkeit bestehen bleiben. Das, was die höheren Züge verlangen, wird stets die Neigung und Veran- lagung zur geistigen Arbeit in den Formen mehr wissenschaftlichen Denkens sein. Diese Fähigkeit bei einem Schüler in der Arbeit der Grundschule ein- wandfrei und mit Sicherheit nachzuweisen, wird immer sehr schwierig sein und nur feinster psychologischer Analyse und hervorragender pädagogischer Einfühlung gelingen.

Das Lehrerurteil bei der Begabtenauslese 303

Damit kommen wir zu der zweiten Schwierigkeit, die nicht in der Natni- des Elementarunterrichts Hegt, sondern beim Lehrer. Es wird hier etwas vom Lehrer verlangt, was er gewiß bis zu einem bestimmten Grade teils als natürliches Gut besessen, teils im Lauf der Jahre auf dem Erfahnmgswege erworben hat, aber was er doch noch nie für so schwerwiegende Entschei- dungen wie die über den Lebensweg eines jeden seiner Schüler anzuwenden nötig hatte.

Er soll außer zu der pädagogischen Einstellung, die in der Haupt- sache eine solche auf Wirken ist, zu einer psychologischen, passiv beobachtenden Einstellung fähig sein. Er soll nicht nur die äußeren Leistungseffekte seiner Schüler sehen, sondern die dahinter stehenden Fähig- keiten und Anlagen erkennen und in ihrem Anteil an der Leistung bestimmen können. Er soll sogar imstande sein, eine ziemlich sichere Prognose für die spätere Entwicklung dieser Anlagen zu stellen. Kurz, er soll ein solches Maß von jugendpsychologischem Verständnis und psychologischer Schulung beweisen, wie es die große Mehrzahl unserer Pädagogen heute noch nicht besitzt, auch nicht besitzen kann, weil es eine Unterweisung in praktischer Jugendpsychologie in unseren Lehrerbildungsanstalten nicht gegeben hat.

So würden denn die Schüler, welche in den zahlreichen Schlußklassen der Grundschule von sehr verschiedenen Lehrern ausgesondert worden sind, wohl niemals ein homogenes Material für einen Oberzug darstellen. Der eine Lehrer wählt nach diesen, der andere nach jenen Gesichtspunkten aus. Von einer exakten Vergleichbarkeit könnte keine Rede sein. In den meisten Fällen wird sich der Lehrer kaum darüber klar sein, welche Einzelbeobachtungen, welche Symptome ihn eigentlich zu seinem Urteil geführt haben. Die Zuord- nung bestimmter Anlagen zu den einzelnen Symptomen ist ja überhaupt außerordentlich schwankend, und subjektiven Einflüssen und Deutungen ist hier Tür und Tor geöffnet. Eine sehr bedeutende Rolle spielt in dieser Hinsicht z. B. der psychologische Typ, dem der Lehrer angehört. Ganz ohne dessen Absicht gibt er den Maßstab ab für die Art des Schülers, und zwar zumeist in dem Sinne, daß sein eigener Typ dem Lehrer auch als der normale erscheint. An ihm mißt er, nach ihm bestimmt er den Wert oder Unwert des Kindes. Andersartige Kinder kommen dabei natürlich sehr häufig nicht zu ihrem Recht.

Ein ganz wesentUches Hemmnis für die Auslese nach Fähigkeiten ist, wie schon angedeutet, die pädagogische Einstellung des Lehrers. Sie kann eine richtige psychologische Beobachtung und Beurteilung empfindlich stören, ja geradezu durch eine einseitige Werteinstellung gegenüber manchen Eigen- schaften, wie sie in der Pädagogik von Alters her gang und gäbe ist, un- möglich machen. Wie oft wird z. B. das Phlegma eines Jungen verurteilt, ohne daß man daran denkt, daß ihm vielleicht nur die geistige Nahrung fehlt, welche er braucht.

Aber wenn auch die psychologische Schulung der Lehrerschaft eine andere, bessere, mehr an der Praxis orientierte wäre, als sie es heute ist, so würde dennoch die Verantwortung für die Auslese bei der ungeheuren Tragweite, welche sie für das Lebensschicksal des einzelnen sowohl als auch für das Wohl der Allgemeinheit hat, kaum von ihr allein getragen werden können. Es muß für die Begabtenaussonderung ein Mindestmaß von Exaktheit, eine gewisse Vergleichsmöglichkeit für die Auszulesenden gefordert und eine

304 Martha Muchow

Methode, die das gewährleistet, gesucht werden. Diese zu linden, konnte nur die Aufgabe der systematischen Zusammenarbeit von Pädagogik und wissenschaftlicher Psychologie sein.

Es ist bekannt, daß bei dem ersten Versuch einer Anwendung der Psycho- logie bei der Schaffung von Begabtenklassen (Berlin, im Herbst 1917) die Intelligenzprüfungsmethode als einziges Auslesemittel benutzt worden ist. Das Lehrerurteil wurde so gut wie gar nicht berücksichtigt. Es kam nur insofern zum Ausdruck, als den Schulen das Vorschlagsrecht für die Prüfungen überlassen blieb.

Den Mitgliedern des Hamburger Psychologischen Laboratoriums erschien, als Ostern 1918 auch ihnen die Mitarbeit an der Begabtenauslese zur Auf- gabe gestellt wurde, dieser Weg als einseitig, als eine zu starke Belastungs- probe für eine so junge Methode, wie die Testprüfung sie darstellt. Die alleinige Verantwortung für die Auslese, welche die Lehrerschaft nicht tragen konnte und wollte, sollte damit wiederum einseitig der experimentellen Psycho- logie zugemutet werden. Sie konnte und wollte sie aber ebensowenig aliein tragen wie jene.

Kann doch das Experiment auch bei der geschicktesten und viel- seitigsten Zusammensetzung der Testserien nicht die Gesamtheit der intellektuellen Eigenschaf ten erfassen, geschweige denn der seelischen überhaupt. Für die Zwecke unserer Einheitsschule oder der Begabten- klassen genügt es aber durchaus nicht, daß wir den hohen Grad dieser oder jener einzelnen Fähigkeit (z. B. zur Bildung von Analogien, zum Defi- nieren, Kombinieren usw.) feststellen. Wir erwarten von den Schülern unserer zukünftigen höheren Schulgattungen ja nicht nur überdurchschnittliche Schul- leistungen und die Bewältigung umfangreicherer Lehrpensen ; sie sollen sich auch im späteren Leben durchsetzen, sich ihren Platz als Führer und Vor- bilder erringen und ihre Begabung für den Fortschritt und die Wohlfahrt der Allgemeinheit fruchtbar machen. Dazu aber gehört mehr und anderes als nur eine höhere Intelligenz, als eine besondere Begabung für die wichtigen Denktätigkeiten. Der Kampf um die führende Stellung erfordert Individuen von ganz bestimmter Beanlagung des Gemüts- und Willenslebens, von festem Charakter; er fordert Beharrlichkeit, Ausdauer, Selbständigkeit, Initiative, organisatorisches und Führertalent. Alle diese Eigenschaften lassen sich aber nicht experimentell ermitteln. Das Tiefste, Beste, Wertvollste der menschlichen Persönlichkeit erschließt sich doch eben nicht dem technisch-exakten Ver- fahren.

Ein weiterer Mangel des Experiments liegt in seiner Lebensferne. Der Versuchsleiter legt dem Kinde einzelne konstruierte und künstlich isolierte Aufgaben vor, die in dieser Nacktheit im Leben wohl nie vorkommen. Und gerade den Anforderungen des Lebens soll sich der auszulesende Schüler doch nachher gewachsen zeigen! Der Experimentator sieht außerdem das ihm sonst völlig fremde Kind nur unter ganz außergewöhnlichen Bedingungen, unter dem Druck von Prüfungsangst und Scheu. Er gründet sein Urteil auf die Analyse der wenigen kurzen Prüfungsergebnisse, die ihm meistens nur in schriftlich fixierter Form vorliegen. Bei Massenuntersuchungen wird er zwischen sich und die Kinder eine große Zahl von sehr verschiedenartig be- gabten und geschulten Helfern treten lassen müssen. Selbst bei sorgfältigster Instruktion wird ein vöUig gleichartiges Arbeiten in den einzelnen Gruppen

Das Lehrerurteil bei der Begabtenauslese 305

kaum erzielt werden. Durch die verschiedene Veranlagung, besonders durch das verschiedene Temperament der Prüfer werden stets für den einen Prüfling günstigere, für den anderen ungünstigere Bedingungen geschaffen werden, deren Einfluß unkontrollierbar ist.

Alle diese Mängel des Experiments zeigen, daß seine Resultate, die uns zwar den großen Vorteil einer exakten Meßbarkeit und Vergleichbarkeit ge- währen, doch nicht sicher genug sein können, um die Begabtenauslese einzig und allein darauf zu gründen. Die Testprüfung bedarf dringend der Er- gänzung, und zwar der Ergänzung durch ein auf breiterer Grundlage ruhendes Urteil. Die Lehrerschaft muß und wird daher den Anspruch er- heben, neben den Prüfungsergebnissen auch ihre Erfahrungen zu deren Er- gänzung und Deutung geltend zu machen.

Die wiederholte Betonung des Fähigkeitsgesichtspunktes entkräftet sofort einen Einwurf, der hier vielleicht gemacht werden könnte: daß ja das Lehrer- urteil in den üblichen Schulzeugnissen vorhanden sei und verwendet werden könne. Das ist aber keineswegs möglich ; denn einerseits enthalten die Schulzeugnisse nur Urteile über Leistungen, nicht aber über Anlagen und Fähigkeiten. Andererseits sind die in den Zeugnissen verschiedener Lehrer bemerkbaren Unterschiede äußerst unzuverlässig, da erfahrungs- gemäß die zahlenmäßige Bewertung einer Leistung durch verschiedene Lehrer außerordentlich verschieden und subjektiv und ferner stark durch das Niveau der Leishmgsfähigkeit der betreffenden Klasse bestimmt ist.

Es ist deshalb mit Recht von Stern von vornherein gefordert und von den verschiedensten Schulmännern bei Begabtenauslesen praktisch versucht worden, das Lehrerurteil über die Schüler in einer anderen Form heranzuziehen. Für die Auslese begabter Volksschüler in Hambujg 1918 ist zu dem Zwecke zum erstenmal die Methode einer nach psychologischen Gesichtspunkten orientier- ten, dmch ein systematisches detailliertes Schema geleiteten Beobachtung der Schüler durch den Lehrer ausgearbeitet und neben dem experimentellen Ver- fahren angewendet worden.

Dieser neuen, inzwischen vielfach angewendeten Metiiode erschließt sich das meiste von dem, was in dem Prüfungsergebnis und den Schulzensuren nicht zum Ausdruck kommen kann, besonders die Beanlagung des Gemüts- und Willenslebens. Ihre Ei*gebnisse stehen auf einer viel breiteren und natür- licheren Grundlage als das Urteil des Prüfers. Sie stützen sich auf eine viel- seitige Bekanntschaft mit dem Schüler. Der Lehrer hat Gelegenheit gehabt, das Kind zu beobachten bei seinem Verhalten in den verschiedensten Lebens- lagen, bei mündlichen und schriftlichen Aufgaben der verschiedensten Art; er kennt sein Fragen und Antworten, seine Gleichgültigkeit und Anteilnahme bei verschiedenen Stoffen, seine Ausdauer und Beharrlichkeit bei Schwierig- keiten, seine Selbständigkeit oder sein Anlehnungsbedürfnis beim Arbeiten, seine Umsicht und Tatkraft oder seine Unbeholfenheit und Energielosigkeit, sein soziales Verhalten und vieles mehr. Er hat mit ihm in der gleichen Lebensgemeinschaft gestanden, und während dem Experimentator für seine Feststellungen nur eine sehr kurze Zeitspanne zur Verfügung steht, gründet sich das Urteil des Lehrers auf eine Fülle von Beobachtungen, die in monate-, ja jahrelanger Arbeitsgemeinschaft mit dem Schüler gesammelt wiu-den.

Es ist vielfach von Lehrern gegen unsere Methode der durch einen Frage- bogen gebundenen Beobachtung eingewendet worden, sie lasse der freien

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 20

306 Martha Muchow

schöpferischen Individualitätenbeschreibung so wenig Spielraum und verleite zur Verwischung der individuellen Differenzen der Schüler, Freilich würde es für eine spätere differentiell-psychologische Verarbeitung wertvoller sein, wenn wir über jeden Schüler einen Bericht in Form eines freien Resumes erhalten könnten; aber doch nur in dieser einen Hinsicht. Die Vergleichbarkeit der Berichte wäre in diesem Falle doch sehr schwer zu erzielen, wenn nicht überhaupt unmöglich. In den meisten Fällen würde auch wohl diese Art von Urteilen kaum etwas anderes sein als eine Wiederholung der Schulnoten in Worten. Auf die psychologisch wichtigen, zur Ergänzung und Unter- stützung der Testprüfung erforderlichen Fragen würden wir wohl oft keine Antworten erhalten, weil es der Mehrzahl der Lehrer an der dazu nötigen psychologischen Schulung mangelt.

Diese Schulung allmählich zu erreichen, wird aber vielleicht gerade durch die Bindung an einen ausführlichen Fragebogen gelingen. Es gilt jedoch, bei der Schaffung eines solchen Schemas zunächst alle diejenigen Dinge fort- zuräumen, die den Lehrern die Aufgabe zu schwierig machen könnten. Wir faßten aus diesem Grunde z. B. unseren Hamburger Beobachtungsbogen damals nicht in Stichworten ab, sondern stellten vollständige, möglichst ganz eindeutige Fragen, die zugleich zu der erforderlichen Beobachtung anleiteten. Oft ver- langten wir vom Lehrer nur ganz objektive Feststellungen, ohne daß er eine psychologische Deutung vorzunehmen brauchte. (Z. B. Stellt das Kind selb- ständig sinnvolle Fragen? Äußert es eigene Gedanken?) Besondere Vor- sicht wird bei der Herstellung eines solchen Schemas immer nötig sein bei der Formulierung der Fragen. Psychologische Ausdrücke, die in der naiven, volkstümlichen Psychologie, im alltäglichen Sprachgebrauch oft etwas ganz anderes bedeuten als in der wissenschaftlichen Terminologie, müssen streng vermieden werden. Um möghchst genau anzuleiten, haben wir in unserem Hamburger Bogen fast überall Alternativfragen verwendet. Die Erfahrungen mit dem Bogen zeigten jedoch, daß trotz aller Vorsicht bei der Formulierung der Fragen eine Suggestiv Wirkung der Fragestellung nicht ganz zu vermeiden gewesen war und daß vor allem alles mehr abseits der Fragen Liegende oft unbeobachtet blieb. Aus diesem Grunde soll zu Ostern ein Versuch mit einem Stichwortschema gemacht werden. Ein weiteres methodisches Hilfs- mittel war die Angabe von recht zahlreichen Gelegenheiten zur Beobachtung der erfragten Eigenschaften im Schulbetrieb. Zur Einführung in die neu- artige Arbeit werden außerdem kurze, übersichtliche gedruckte Erläutenmgen, die das Mindestmaß dessen enthalten, was der Lehrer vor der Ausfüllung wissen muß, und eine ausführlichere mündliche Aufklärung nötig sein.

Die Anwendung eines solchen Beobachtungsschemas denken wir uns etwa so, daß der Bogen ein oder mehrere Jahre, bevor die eigentliche Auslese erfolgen soll, in der Hand des Klassenlehrers ist, so daß er an seiner Leitung seine täglichen Beobachtungen klären, sichten, nachprüfen und auf ferner liegenden Gebieten zu neuen angeregt werden kann. Am besten sollte jedes auffallende Kind von dem Augenblick an systematisch an der Hand des Schemas beobachtet werden, wo es beginnt aufzufallen.^) Es kommt ja nicht nur darauf an, daß das Vorhandensein einer Eigenschaft behauptet wird; es

*) Hermann Rebhuhn, Entwurf eines psychologischen Beobachtungsbogens für begabte Volks- Bchüler, Ztschr. f ang. Psych. 13, 416—428, 1918 (auch separat: Leipzig, J. A. Barth.)

I

Das Lehrerurteil bei der Begabtenauslese 30 7

müssen, damit das Urteil von Wert ist, auch Belege gesammelt sein und an- gegeben werden. Sehr wünschenswert wäre es daher, wenn solche Beob- achtungen — und zwar am besten Tatsachen und. Deutungen getrennt in einem Tagebuch, nur ganz grob rubriziert, aufgezeichnet würden und erst nach längerer Zeit, wenn zu dem betreffenden Punkte mehr gesammelt worden ist, das Urteil gefaßt und in den Bogen eingetragen würde. Der Vorzug dieser Methode wäre ein doppelter: einerseits würde der Lehrer am Zeitpunkt der notwendigen Einlieferung der Bogen Material in Fülle haben, das sein Gedächtnis sonst gar nicht festgehalten haben würde; andererseits würden die Urteile viel z uverlässiger sein als bei sofortiger Eintragung. Man durch- schaut nämlich oft genug gar nicht sofort, welche Dinge sich eigentlich hinter diesem oder jenem Symptom verbergen. Man deutet sehr häufig im Anfang falsch, und erst nach längerer Zeit erkennt man dann deutlicher, welche Motive ein Kind zu irgendeiner Verhaltungsweise gebracht haben.

Bei den beiden Anwendungen des Hamburger Beobachtungsbogens konnte dieser Weg von den Lehrern aus Zeitmangel noch nicht eingeschlagen werden. Die Erfahrungen der beiden Jahre 1918 u. 19 geben daher niu* ein unvoll- kommenes Bild von dem, was durch diese Methode zu erreichen möglich ist. Immerhin sind sie, gerade wegen der ungünstigen Verhältnisse, unter denen die Bogen ausgefüllt werden mußten, sehr lehrreich. So wiesen z. B. 1918, als die Beobachtungszeit nur 4 Wochen betrug, die weitaus meisten Fragen trotzdem 75— 980/o Antworten auf, ein Beweis, daß in den alltäglichen Er- fahrungen der Lehrer ein reicher Schatz von psychologischen Beobachtungen vorhanden ist, der nur durch ein richtiges Fragen gehoben zu werden braucht. 1919 blieb das zahlenmäßige Bild der Antworten bei einer 4 Monate langen Beobachtungszeit ungefähr das gleiche, aber die Qualität der Aussagen, die Menge der Begründungen und konkreten Belege steigen in einer ganz über- raschenden Weise, so daß wir es in diesem Jahre schon versuchen zu dürfen glauben, die Angaben der Lehrer einer wissenschaftlichen Untersuchung der Begabungstypen zugrunde zu legen.

Der Umfang der Lehreraussagen über die Schüler trotz der Kürze der Zeit entkräftet übrigens auch den Einwand, der von Pädagogen am häufigsten gegen den Bogen gemacht worden ist: den, daß er zu lang sei und dadurch die Ausfüllung unmöglich mache. Das Resultat der ca. 3000 vorliegenden Ausfüllungen widerlegt das ganz deutlich. Ein umfangreicher Bogen ist nämlich auch durchaus nicht schwerer zu beantworten als ein kurzer. Im Gegenteil, je kürzer ein Schema ist, desto allgemeiner müssen naturgemäß seine Fragestellungen werden; desto weniger weiß man damit anzufangen, desto mehr Arbeit und Überlegung erfordert seine Ausfüllung und desto weniger ist nachher aus seinen Angaben zu entnehmen. Werden z. B. statt einer allgemeinen Frage nach der Denkbegabung des Schülers mehrere Teilfragen nach der SchneUigkeit der Auffassung, der Neigung zu selbstän- digem sinnvollen Fragen, zum Äußern eigener Gedanken usw\ gestellt, so weiß der Lehrer sofort, was er anführen soll. Außerdem sind Einzelheiten stets leichter zu beobachten als Komplexe. Es ist ja auch keineswegs nötig, daß alle Fragen beantw^ortet werden; wenn sie nur zu weiteren Beobachtungen anleiten und anregen, so erfüllen sie doch schon einen sehr wichtigen Zweck, dem unser Bogen neben der eigentlichen Auslese immer dienen will: der Förderung des Verständnisses und des Interesses des Lehrers für die Indi-

20*

308 Martha Muchow, Das Lehrerurteil bei der Begabtenauslese

vidualitäten seiner Schüler zum Nutzen seiner erzieherischen und didaktischen Arbeit.

Die hauptsächhchste Aufgabe des Bogens bei der eigentlichen Auslese in Hamburg bestand darin, daß er eine individuah'sierende Behandlung jedes einzelnen Schülers ermöglichte. Besonders in den Fällen, wo zwischen dem Schulzeugnis und dem Testergebnis Widersprüche bestanden, gab das Lehrer- urteil im Beobachtungsbogen den endlichen Ausschlag. Ein Zahlenbeispiel aus dem Jahi'e 1918 möge zeigen, wie wichtig die Heranziehung des Lehrer- urteils gewesen ist. Da etwa 2/3 der angemeldeten Schüler aufgenommen werden konnte, wurde die Grenzzahl der erforderlichen Testpunkte so fest- gelegt, daß ein Drittel der Schüler darunter stand. Hätten wir nun das Berliner Verfahren angewendet, so wären alle diese Kinder ohne weiteres durchgefallen. An ein Individualisieren wäre nicht zu denken gewesen. Nun trat aber der Beobachtungsbogen mit seinen Erklärungen auf. Eine nach- trägliche Statistik der zweifelhaften Fälle, d. h. der eigentlich in der ft-üfung durchgefallenen Schüler, zeigte, daß unter diesen 28,8 0/0 solcher Kinder waren, bei denen der Lehrer über ein langsames Arbeitstempo berichtete. Stichproben unter ihren Testarbeiten zeigten in der Tat auffallend viele unvollendete und darum geringer bewertete Leistungen. Anscheinend war also die Versuchs- zeit für sie zu kurz gewesen. Ihnen wäre ohne Zweifel großes Unrecht geschehen, wenn sie darum nicht aufgenommen worden wären, zumal erfahrungsgemäß oft Langsamkeit und Gründlichkeit Hand in Hand gehen. Nur das Lehrerurteil konnte hier korrigierend eingreifen. Eine weitere Statistik der Aufgenommenen unter den langsamen Arbeitern zeigte, daß das in 36 <>/o der Fälle geschehen war.

Haben somit die Hamburger Versuche die Notwendigkeit und die Möglich- keit der Heranziehung des Lehrerurteils in systematischer Form erwiesen, so gilt es nun, sobald die Organisation der Einheitsschule einigermaßen klare Form gewonnen hat, das für den Übergang aus der Grundschule in die ver- schiedenen höheren Züge erforderliche Beobachtungsschema zu gestalten. Daß es sich von unserem Hamburger Bogen in manchem unterscheiden wird, ist wohl selbstverständlich. Es wird sich ja dabei einerseits vermutlich um eine andere zu beobachtende Altersstufe und andererseits wegen der fachhchen GHederung der Oberzüge weit mehr um eine Scheidung von Begabungs typen als um die Kennzeichnung der Grade handeln wie bei der Aussonderung für unsere bisherigen Begabtenklassen. Aus dem letzten Grunde wird es vielleicht auch geraten sein, die durch die Fragestellung bedingte besonders straffe Bindung ein wenig zu lockern und dem Lehrer durch die Angabe von Beobachtungsgesichtspunkten in Form von Stichworten mehr Freiheit zur eingehenden Schilderung der besonderen Veranlagungen der Schüler zu gewähren.

Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919.

Von Wilhelm Höper.

Um die Entscheidung bei der Auswahl von Begabten für die höher führen- den Züge der Einheitsschule streiten sich die psychologische Wissenschaft und die praktische Pädagogik. In jeder der beiden Richtungen gibt es Ver- treter, die den Anspruch erheben, das Problem selbständig, ohne Mitwirkung

Höper, Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919 809

der andern, zu lösen. Daß der Anspruch unberechtigt ist, hat der Vergleich zwischen psychologischer Auslese und Verlauf des Unterrichts in einer Ber- liner Begabtenklasse gezeigt wenn man auch annehmen darf, daß eine vollkommene Ausschließung von Irrtümern niemals erreicht werden wird. Auch in der modernen Pädagogik gibt es eine Strömung, die den Anspruch erhebt, aut Grund von „künstlerischen Charakteristiken" der Kinder zu ent- scheiden, welches Kind für eine höhere Bildung in Betracht kommt und welches nicht. Bei der Hamburger Auslese der Begabten, die auf ziemlich breiter Grundlage ausgeführt wurde und darum viel eher ein Bild davon geben kann, wie der Aufstieg der Begabten aus der Grundschule in Zukunft aussehen wird, ist man bestrebt gewesen, beiden, der Psychologie und der pädagogischen Praxis, einen Einfluß auf die Entscheidung einzuräumen. Über die vorjährige Auswahl hat das Psychologische Laboratorium in Ham- burg einen ausführlichen Bericht herausgegeben.') Dieses hat auch die Ver- arbeitung des diesiährigen Materials übernommen. Ein kleiner Ausschnitt daraus sei schon hier mitgeteilt.

Es handelte sich in Hamburg in diesem wie im vorigen Jahre um die Auswahl von Kindern für fremdsprachliche („F-")- Klassen der Volksschule. Das Urteil der Schule machte sich dabei in vierfacher Weise geltend:

1. Auswahl innerhalb der Klasse von Kindern, die für die Anmeldung in Betracht kamen;

2. Erteilung einer Gesamtzensur für die Leistungen jedes angemeldeten Kindes ;

3. Hervorhebung einiger nach Meinung der Lehrkraft besonders befähigter Kinder durch Unterstreichen der Namen in der Anmeldeliste;

4. Ausfüllung eines ausführlichen, nach psychologischen Gesichtspunkten geordneten Fragebogens („Beobachtungsbogen").

Das Urteil in dem letzteren ist naturgemäß am ausführlichsten, und eine Zusammenstellung und Übersicht über die Ergebnisse der Bogen ist darum besonders interessant, weil in diesen ausführlichen Bericht über das einzelne Kind alles hineingearbeitet werden konnte, was von der Lehrkraft an Beob- achtungen und Belegen während der ganzen Unterrichtsarbeit gesammelt worden war. Unter gewissen Voraussetzungen konnten also die Antworten in den Bogen, wenn ihre Sichtung und Zusammenstellung in der Behörde von geeigneten Personen erfolgte, die Grundlage bilden für „künstlerische Charakteristiken" der Kinder oder es gar selbst sein. Nachteilig wirkte der Umstand, daß wegen der Kriegsverhältnisse die Lehrkräfte in den Klassen oft gewechselt und daß manche Lehrer nach ihrer Heimkehr aus dem Felde die Klasse erst im Januar übernommen hatten. (Der Beobachtungsbogen war in der Hand der Lehrkräfte seit November, die Ausfüllung hatte bis zum 5. März zu erfolgen.) Außerdem ist es auch vorgekommen, daß bei den in der Großstadt besonders häufigen Umschulungen ein angemeldetes Kind frisch zugeschult und danmi wenig b'ekannt war.

Wie hat man sich nun das Zustandekommen des Urteils, das in den Ant- worten zusammengefaßt ist, zu denken?

1. Durch fleißige Arbeit im Unterricht und Fühlungnahme mit den Kindern und ihren Eltern außerhalb der Schule wird ein Überblick über die Klasse gewonnen;

') Die Auslese befähigter Volksschtiler in Hamburg. Herausgg. v. Peter u, Stern, Beiheft 18 Zeitschr. f. angew. Psychol.

310 Wilh. Höper

2. durch Einfühlung in die Seelen der Kinder werden die einzelnen Kin- desnaturen intuitiv erkannt;

3. für individuelle Behandlung der Kinder genügt in vielen Fällen der pädagogische Takt; für ausführlichen Bericht über ein Kind ist außerdem ein bewußtes Erkennen der Kindesnatur nötig, eine Analyse der „Meinung" über das Kind;

4. die Beobachtungen über die einzelnen Kinder werden gesammelt (im Gedächtnis oder schriftlich);

5. über Anlage und Zweck des Beobachtungsbogens wird Klarheit gewonnen ;

6. die vorhandenen Beobachtungen werden gesichtet, so daß sie ein mög- lichst klares und vollständiges Bild von dem Kinde geben ;

7. schließlich erfolgt für die endgültige Festlegung des Urteils die sprach- liche Fassung, auch diese individuell, dem einzelnen Falle angemessen.

Die Punkte 1 4 können oder sollen erledigt sein, bevor die Arbeit am Beobachtungsbogen in Angriff genommen, ja bevor seine Art bekannt wird. Denn bei der Zusammenstellung des Bogen s von selten der Verfasserin be- stand die Kunst darin, nach allem Nötigen zu fragen (und danach diese Fragen unter psychologische Gesichtspunkte zu bringen); was aber für Be- urteilung eines Kindes zu wissen nötig ist, sollte der Lehrer von sich aus auch entscheiden können. So ist die Lehrerarbeit am Beobachtungsbogen nicht eine solche, die aus der Art des Bogens erst hervorgeht, sondern Zu- sammenstellung des Bogens und Vorbereitung der Lehrerarbeit an ihm sind zwei Arbeiten, die einander parallel gehen. (Daß eine Auswahl von Kindern nötig werden würde, war nach der vorjährigen Einrichtung von F-Klass en bekannt.)

Der Gang, wie er oben durch die sieben Punkte dargelegt ist, ist so klar, daß man annehmen kann, es dürfte keiner von ihnen fehlen, wenn das Urteil Wert beanspruchen soll. Andererseits kann man wieder sagen: die Forderung dieses Ganges hat normativen Wert, und allen Punkten wird nur der vorzügliche, wenn nicht der ideale Erzieher entsprechen können.

Zu 1.: Es ist schon der Umstand angeführt, daß manche Lehrer die Klasse erst eben bekommen hatten. So finden sich unter den Bogen manchmal Bemerkungen, wie: „Da ich die Klasse erst seit Januar 1919 führe, ist es mir unmöglich, die Charakteristik der Schüler entsprechend festzulegen", aller- dings hier mit dem Zusatz: „umsomehr als mir derartige Bestrebungen bis vor kurzem unbekannt waren* (54, a). Oder: „Ich habe die Klasse seit Ostern, die Besetzung der Fächer hat vielfach gewechselt, und ich kann meine Beobachtungen fast nur auf die Ergebnisse in Deutsch und Rechnen stützen" (26, b). Oder: „Ich habe die Klasse erst seit Dezember 1918; die Beobachtungen sind daher unvollkommen" (17, a). Allerdings finden sich auch höhere Ansprüche an Zeit zur Erkennung der Kinder, wie folgende Nachschrift beweist: „Die Angaben machen keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit. Sollen sie wirklich erschöpfend und genau gemacht werden, so muß die betreffende Lehrperson die Klasse von unten herauf geführt haben, und die Bogen resp. die Fragen müssen bei der Einschulung der Kinder be- kannt gegeben werden" (6, b).

Zu 2.: Die Frage, ob objektive Menschenkenntnis möglich ist, ist zu ver- neinen. Sehr interessant ist es aber, dem Grunde dafür nachzugehen. Wenn wir mit einem Menschen reden, so schwingen bei beiden nicht alle Saiten mit, sondern nur die, die bei beiden gleichartig gestimmt sind. Eine hübsche

Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919 311

Ausmalung dieses Gedankens bringt Paul Göhre in seinem neuen Buch „Der unbekannte Gott": ein Bekannter von ihm hat das Bild eines gemeinsamen Freundes gemalt. Göhie erblickt aber in dem Bilde andere Züge, als er am Freunde kennt, wohingegen einige ihm bekannte fehlen. So können wir zwar von einem Kinde intuitiv feststellen, daß es diese oder jene Fähigkeit hat wenn wir sie selbst bis zu einem gewissen Grade besitzen. (Welche Folgerungen man daraus für die Auswahl der werdenden Lehrer zu ziehen hat, gehört in ein anderes Kapitel.) Den ganzen Menschen aber werden wir immer nur nach uns selbst beurteilen.

Zu 3. : Für die individuelle Behandlung des Kindes kommt es auf die Fäden an, die zwischen ihm und dem Erzieher gesponnen sind, und bei der Durch- bildung und Gewissenhaftigkeit unserer Lehrerschaft wird das in den aller- meisten Fällen genügend sein, damit dem Kinde sein Recht wird. Fragt man sich aber, warum man dieses Kind so und nicht anders behandelt, so kommt man zur Analyse der „Meinung" über das Kind. Diese Art zu in- dividualisieren ist natürlich in unseren vollen Klassen nur sehr schwer durch- zuführen, und manche Lehrkraft mag auch nicht die Fähigkeit haben, sich über die sämthchen Faktoren der „Meinung" bewußt zu werden. Dieses hat - vielleicht neben mangelndem Verständnis oder nicht genügender Vertiefung in die Anlage des Bogens mitgewirkt bei solchen Bogen, die nichtssagend sind und in den Antworten keine klare Differenzierung der verschiedenen Kinder ergeben. Unter dem Bogen aber stehen dann manchmal als Zusam- menfassung und Ergänzung sehr wertvolle Notizen, die ein helles Licht werfen auf die Eigenart der betreffenden Kindesnatur. Eine Lehrkraft der Schule 71 beantwortet von den 52 Fragen bei

Kind 1: nur 10 Fragen in 37 Wörtejn

» ^ » " r? "^ "'^ ■^ « 4: 10 „30

Da die Antworten noch dazu häufig den Wortlaut der Frage wiederholen (eine Gefahr für den Beobachtungsbogen !), so ist natürUch eine Differenzierung der Kinder danach nicht möglich. Als Zusammenfassung aber stehen unter dem Bogen kurze Bemerkungen:

Bei Kind 1 : „Fleiß, Ehrgeiz lassen alle Schwierigkeiten überwinden. Es genügt, daß der Knabe einen Mangel an sich klar erkennt, um ihn dann bald und sicher auszumerzen. Fröhliches, frisches Zugreifen auch in prak- tischen Dingen."

Bei Kind 2: „Nicht immer gleichmäßig in den Leistungen; Zeiten, daß man sowohl nach der einen als nach der anderen Seite staunt, lösen einander ab. Gute sprachliche Begabung. Schalkhafte, übermütige Veranlagung."

Bei Kind 4: „Sehr begabt besonders für Auffassung alles konkret Gegebenen. Auch steht der selbstverständlich einfache sprachliche Ausdruck unmittelbar zur Verfügung. Es fehlt oft an Fleiß bei eigenem Arbeiten, wenn der Schüler sich selbst überlassen ist, z. B. bei häuslichen Arbeiten. Bedeutende Spann- kraft, die nie Ermüdung zeigt."

Sieht man sie nicht klar vor sich, den praktischen, frisch Strebenden, den kleinen Schwerenöter, den sachlichen und Tatmenschen, der doch immer An- trieb braucht? Und so könnte man noch mehr Beispiele aufzählen.

Zu 4.: Für derartige ausführliche Berichte, w^ie sie im Beobachtungsbogen verlangt werden, ist eigentlich die systematische (schriftHche) Sammlung von

312 Wilh. Höper

Notizen unerläßlich; nur ein ganz vorzügliches Gedächtnis kann alle die Kleinigkeiten festhalten und im rechten Augenblick reproduzieren, diese Dinge, die im Schulleben täglich vorkommen und in ihrer scheinbaren Be- deutungslosigkeit doch ein so helles Licht werfen auf die Eigenart unserer Kinder. Das Ideale für diesen Zweck wäre die Führung von Tagebuchblättern für alle Kinder, mit Rubriken, die am Kopf Stichworte tragen, ungefähr ent- sprechend den größeren Abteilungen des Beobachtungsbogens, nur in lockererem Aufbau und weiterem Rahmen. Ich glaube, es würde nicht unmöglich sein, am Schluß jedes Unterrichtstages charakteristische kleine Vorfälle aus dem Schulleben zu notieren und so allmählich für jedes Kind eine Reihe von Notizen zu sammeln, die in ihrer Zusammenstellung ein einigermaßen klares Bild geben würden. Selbstverständlich werden nicht alle Kinder gleich- mäßig Gelegenheit zu solchen Notizen geben, und auch nicht alle Rubriken des Fragebogens werden gleichmäßig davon betroffen werden können. Es hat z. B. fast niemand versäumt zu betonen, daß das geschilderte Kind eine gute Beobachtungsgabe hat, und in sehr vielen Fällen sind Beispiele dafür genannt worden. Die Fragen aber: „lernt das Kind verstandesmäßig oder mechanisch?" und „erholt das Kind sich schnell nach der Ermüdung?" sind oft unbeantwortet geblieben. Ein wenig aufmerksames Sammeln von Beob- achtungen würde da geholfen haben. Andererseits sind vielfach Belege ge- geben, wie Aufsätze, Zeichnungen, auch Gedichte der Kinder, manchmal mit sehr feinen Bemerkungen über den Wert solcher Dokumente. Deren indi- vidualisierender Wert ist natürlich verschieden, aber immer sind sie von der Lehrkraft hinzugefügt in individualisierender Absicht. So begründet eine Lehrkraft einmal die Mitteilung von kleinen, feinen Beobachtungen außerhalb des Bogens damit: „Ich kann nicht recht beurteilen, ob man aus den Ant- worten auf die Fragen wirklich ein rechtes Bild von dem Kinde bekommt". Eine andere legt einen Aufsatz oder Stücke daraus von den von ihr beur- teilten Kindern bei, und zwar von allen Kindern über dasselbe Thema - ein Verfahren, das natürlich für einen Vergleich zwischen den Kindern sehr fördernd ist. Eine Lehrkraft bemerkt unter einem Bogen, der Knabe, der angebHch vom Singen „eine trockene Kehle" bekäme und darum die Ge- sangsstunde nicht liebte, wäre nicht etwa halsleidend, sondern musikalisch unbegabt, und mehr von daher und von der Zensur 3 als von der „trockenen Kehle" rühre die Abneigung. Ein Lehrer legt eine bunte Karte von der Umgebung Hamburgs bei (Schwarze Berge bis Sachsenwald) und gibt an, daß der kleine Künstler diese im 3. Schuljahr von der Wandkarte abgezeichnet habe. Oft sieht man auch an den Proben, wie die Individualität der Lehr- kraft auf das Kind abgefärbt hat. Z. B. berichtet 144, b, daß ein Kind von unwiderstehlichem Drange zum Dichten getrieben wird, mitten in der Stunde sein Schreibheft herauszieht und schreibt. Das Gedicht, das mitgeteilt wird (vom Kinde selbst geschrieben), weist den Wesenseinfluß der Lehrkraft auf, wie sie sich in der Ausfüllung der Bogen zeigt: künstlerische Charakteristiken, die sehr subjektiv gefärbt sind und nicht gerade ein klares Bild der einzelnen Kinder geben.

Zu 5.: Die Klarheit über Anlage und Zweck des Bogens ist nicht immer vorhanden gewesen bei der diesjährigen Ausfüllung. Woran Hegt das? Zu einem großen Teil ohne Zweifel daran, daß die Lehrerschaft mehr praktisch- pädagogisch als psychologisch eingestellt ist, daß es ihr daher Mühe macht,

Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919 313

die Analyse bis zu dem gewünschten Punkte durchzuführen. Selbstverständ- lich kann auch nicht nur die Einstellung, sondern der Mangel an psycholo- gischer Befähigung den Grund dafür geben, wenngleich das in unserer Lehrerschaft wohl kaum sehr häufig vorkommen dürfte. Von Unklarheit über den Zweck des Bogens mag aber eine Erscheinung herrühren, die sich ver- schiedentlich gezeigt hat: da waren die Bogen teils ziemlich einsilbig ausge- füllt (\ielleicht hatte es der Lehrkraft an Zeit gefehlt), teils auch etwas breiter, aber alle Bogen der Lehrkraft ergaben dasselbe Bild (meist das eines Muster- schülers), ohne wesentlich differenziert zu sein. Die Ausfüllung des Bogens hat doch den Sinn und Zweck, der Schule einen ausreichenden Einfluß auf die Entscheidung über Aufnahme oder Ablehnung des Kindes zu gewähren. Dieser Zweck wird aber nicht erreicht, wenn alle Kinder einer Lehrkraft mit den gleichen schmückenden Beiwörtern belegt sind, so daß eine Auswahl zwischen ihnen unmöglich ist. Ebensowenig kann da von Klarheit über Anlage und Zweck des Bogens die Rede sein, wo von den 52 Fragen z. B. nur 13 beantwortet sind. Gewiß beansprucht die Ausfüllung eine große Aufwendung an Kraft und Zeit von selten der Lehrkraft, aber ist nicht der Zweck gut? Wir tun es für die beste Förderung unserer Kinder, der ein- zigen Hoffnung in dieser schweren Zeit. Gibt es nicht praktische Gesichts- punkte, die hier eine Anspannung der Kräfte fordern ? Wir tun es für unser eigenstes Arbeitsgebiet, die Schule, wir tun es fiu- die Unabhängigkeit unseres Standes. Und da darf es einfach nicht vorkommen, daß die Möglichkeiten, die tler Schule sich bieten, an der Auswahl der Begabten mitzuarbeiten, wegen irgendwelcher persönlichen Interessen dahingegeben werden, daß z. B. eine Lehrkraft, die ihre Klasse 3 Jahre hat, ohne einen besonderen Grund die Bogen vollständig unausgefüllt abgeliefert.

Zu 6.: Beim Durchlesen von sehr vielen Bogen hat man das Vergnügen, die Kinder in plastischer Gestaltung zu erkennen, so wie sie sich geben in Arbeit und Spiel, in der Schule und auf der Straße, unter sich und dem Lehrer gegenüber. Da sieht man sie richtig vor sich und hat Freude an beiden, der Art des Kindes und der Klarheit in der Darstellung der Lehr- kraft. Es muß aber ausgesprochen werden, daß auch eine ganze Anzahl Bogen vorhanden sind, bei denen das nicht der Fall ist. Einiges davon (NichtausfüUung des Bogens usw.) wurde schon beim vorigen Punkte be- sprochen. Aber das waren eigentlich Ausnahmefälle. Häufiger ist es vor- gekommen, daß zwar quantitativ die Bogen in durchaus genügender Weise ausgefüllt sind, daß aber trotzdem sich kein klares Bild von dem so ge- kennzeichneten Kinde gewinnen läßt. Woran liegt das? Einmal wahrschein- lich an der Art der Sammlung und Sichtung des Beobachtungsmaterials: Nicht die wirklich charakteristischen Züge eines Kindes waren festgehalten, sondern mehr die Nebensachen, die dazu noch in epischer Breite erzählt wurden. Auch die Ausdeutung solcher Beobachtungen, wo sie gegeben wurde, war manchmal anzuzweifeln, da sie in V/iderspruch stand zu anderen An- gaben. Vor allem aber waren es die Widersprüche in den Antworten selbst, die den Wert des darin niedergelegten Lehrerurteils oft stark herunterdrückten. So z. B. wird von einem Kind berichtet, es sei langsam und schwerfällig; an anderer Stelle, es sei sehr rege und möchte gern immer antworten, außer- dem, es habe seine ehr gewandte mündliche und schriftliche Darstellung. (Hier ist wohl für schwerfällig zu setzen : vorsichtig. Außer dieser termi-

314 Höper, Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919

nologischeii Unsicherheit der Lehrkraft »st auch noch ein Bestieben erkenn- bar, das Kind herauszustreichen.) Von einem andern heißt es: „Ist oft flüchtig, übersieht leicht", aber: „führt seine schriftlichen Arbeiten sorg- fältig aus"; „lernt schnell", aber: „arbeitet etwas langsam". Ein anderes: „Pflichtgefühl bestimmt sein Handeln"; danach aber wird angegeben, daß es „Schulen gelaufen" ist. Auch unvollkommene Auffassung der Frage- stellung ist bemerkbar; z. B. in einem Bogen, der für das Kind sehr (viel- leicht reichlich) günstig ist, schreibt die Lehrkraft in Frage 6: „Nicht sehr phantasiebegabt, sondern bei aller Wiedergabe sehr korrekt". Oder: auf die Frage, ob die Aufmerksamkeit des Kindes leicht zu erregen ist, wird die Antwort gegeben, es habe zu 3 oder 4 früher gelernten Gedichten auf An- regung hin eine eigene Melodie erfunden.

Zu 7.: Die Gewissenhaftigkeit der Lehrkraft dokumentiert sich oft in sehr feiner Weise in der Art der sprachlichen Formulierung der Antworten. Die quantitativen Unterschiede sind natürlich sehr groß. Im allgemeinen sind die Antworten der weiblichen Lehrkräfte wortreicher, die der männlichen kürzer, ohne doch darum weniger scharf zu sein. Oft läuft eine wortreiche Antwort auf Umschreibungen hinaus, meist aber bringen die langen Antworten auch Belege für die Angaben. Am wenigsten war mit den Bogen anzufangen, in denen die Fragen nur mit ja oder nein beantwortet waren. Was nützt es, zu wissen, daß ein Kind längere Zeit aufmerksam bleibt, Beobachtungen gesammelt hat, eigene Gedanken äußert usw.; das Maß alles dessen erst differenziert die Kinder voneinander und macht die Scheidung in Geeignete und Ungeeignete für den vorgesehenen Zweck möglich. Noch ein anderer Punkt machte die Verwertung der in den Bogen niedergelegten Urteile schwierig: viele Antworten wiederholten einfach den Wortlaut der Frage in positivem oder negativem Sinne, so daß sie wenig überzeugend wirkten und kaum mehr differenzierten als das bloße Ja oder Nein. (Hier haben wohl die Frageform und die manchmal vorgedruckten Antworten etwas suggestiv gewirkt.) SchließUch ist noch ein Letztes zu erwähnen: wenn man sich bei der Ausfüllung des Bogens nicht zu sehr von dem Wortlaut der Frage be- einflussen läßt, sondern sich die Natur des zu schildernden Kindes recht vorstellt, wird man meistens bei verschiedenen Kindern zu verschiedener Formulierung der Antworten kommen. Auch dieses ist in einer Anzahl von Fällen zu vermissen, und es zeigt sich dann meist bei gleichmäßig formulierten Antworten für dieselbe Frage bei verschiedenen Kindern eine recht geringe Differenzierung der Kinder.

Die Folgerungen, die aus dem allen zu ziehen sind, betreffen: a) den Be- obachtungsbogen, b) die Lehrerschaft, c) die Vergleichung der Bogen.

a) Einige Forderungen, die an den Bogen zu stellen sind, sind schon er- wähnt. Zu erwägen ist, ob nicht die Anlage als Fragebogen aufgegeben wird zugunsten einer Anlage in Stichwoiten. Die Anleitung zur Ausfüllung des Bogens müßte dann ausführlicher sein und vielleicht auch in anderer Weise erfolgen. Unbedingt nötig ist, daß die leeren Bogen den Schulen früh genug übersandt werden und daß ihnen mindestens ein Halbjahr vorher mit- geteilt wird, daß und zu welchem Zweck eine Auswahl der Kinder stattfindet, damit eine systematische Vorarbeit der Lehrkräfte möglich ist.

b) Die Gesichtspunkte für Zusammenstellung des Beobachtungsbogens werden zwar von Vertretern der psychologischen Wissenschaft ausgearbeitet.

Judith Lichtenstein, Psychol. Ermittlungen im Kindergarten 315

Die Lehrerschaft muß sich aber klar darüber sein, daß sie mit der Arbeit und der Verantwortung dafür, die sie übernimmt, auch einen außerordent- lichen Einfluß auf die Auswahl der Kinder gewinnt. Eifer und Interesse für die Sache sind umsomehr zu fordern, als es sich um wohlberechtigte Interessen des Lehrerstandes handelt, die sich nicht wahren lassen durch Kritik ohne Arbeit. Wo die psychologische Einstellung und das psychologische Ver- ständnis fehlen, - und sie haben vielfach gefehlt - da ist für eine weitere psychologische Ausbildung der Lehrerschaft zu sorgen. Auch das sollte die Lehrerschaft, die dieses Bedürfnis fühlen muß, selbst in die Hand nehmen. Der jetzt von vielen Seiten geforderte Schulpsychologe ist heute notwendig, aber dieser Zustand wird ein Übergang sein.i) Das Ideal ist und bleibt es, daß ein jeder Lehrer genügend geschult ist, um sein eigener Schulpsychologe zu sein. c) Selbst bei bestem Willen und reifstem psychologischen Verständnis wird der Lehrer für die Aufnahme eines Kindes in eine „höhere" Schule immer nur vorschlagen, nicht endgültig entscheiden können. Das verbieten die Verschiedenheiten in Anforderungen an das Kind und in der persönlichen Stellung zu ihm, in Gründlichkeit und Verständnis bei der Ausfüllung des Bogens. Es muß vielmehr eine Zentralstelle vorhanden sein, bei der alle Bogen zusammenkommen und nach festen Gesichtspunkten verarbeitet werden von Personen, die pädagogisch wie psychologisch geschult sind und genügend praktische wie Lebenserfahrung besitzen, um auf Grund der gegebenen Urteile die Kinder zu vergleichen und unter Heranziehung weiterer Hilfsmittel auszuwählen. (Der Gesichtspunkt der Vergleichbarkeit, der durch feste Anlage des Bogens soweit überhaupt mögUch gewährleistet wird, würde fortfallen bei frei gestalteten „künstlerischen Charakteristiken", ganz abgesehen davon, daß nicht jede Lehrkraft in der Lage sein dürfte, solche aufzustellen.) Bei dem Umfang des Materials würde eine solche Zentralstelle, zumal wenn sie auch die andern Faktoren, die bei der Auslesearbeit in Betracht kommen (psychologische Prüfungen, Verarbeitung von vorliegendem Material, Aus- arbeitung von Anweisungen, schulorganisatorische Arbeiten), berücksichtigen will, nicht nur zeitweilig, sondern das ganze Schuljahr zu arbeiten haben. Nur bei einer solchen Zusammenfassung der Aibeiten auf psychologischem und pädagogischem Gebiete kann es gelingen, das Problem der Begabten- auswahl zu lösen, das die Grundlage bildet zu allen Fragen der in ihrer MögUchkeit und Gestaltung so viel umstrittenen „Einheitsschule".

Fragebogen zu psychologischen Ermittlungen im Kindergarten.

Von Judith Lichtenstein. Es bedarf dringend der Feststellung, ob der Kindergarten, wie er heute geführt wird, der Eigenart des Kindes entspricht, ob er kindgemäß ist. Dieser Aufgabe will der nachstehende Fragebogen dienen. Die Ordnung seiner

1) Der Leiter der Zentralstelle (vielleicht „Bezirkspsychologe"?/ würde natürlich nie über- flüssig werden können. Ich halte es für eine schon in absehbarer Zeit zu erfüllende not- wendige Forderung, daß jedes ausgebaute Schulsystem seinen Schulpsychologen hat (psycho- logisch geschulter Lehrer mit verringerter Stundenzahl und event. höherem Gehalt), der die Be- gabungsauswahl an seiner Schule zu regeln hätte. Nur auf diesen bezieht sich das oben Gesagte.

316 Judith Lichtenstein

Fragegruppen ergab sich ungezwungen dadurch, daß wir die Einwirkungen, die das Kind im Kindergarten von seinem Eintritt an bis zu seinem Austritt empfängt, verfolgten.

Von der für möglichst viele Kinder anzustrebenden gründlichen und kritischen Beantwortung des Fragebogens erwarten wir ein Tatsachenmaterial, das weitere Auskunft gibt über die Fragen:

1) wie sich das Kind in den Kindergarten eingewöhnt,

2) wie sich das Kind spontan zu den Fröbelschen Gaben stellt,

3) ob die technischen Arbeiten dem beim kleinen Kinde tatsächlich schon vorhandenen Drange nach ernsthafter Betätigung Befriedigung geben,

4) ob Bewegungsspiele ein glückliches Mittel sind, die Phantasie des Kindes planvoll zu betätigen,

5) wie sich die Kinder zu Besprechungen stellen,

6) wie die Kinder den Einheitsgedanken (Monatsgegenstand) in sich auf- nehmen und verarbeiten (schließlich auch, wie sich die verschiedenen Kinder in alledem unterscheiden).

Natürlich ist der folgende Frageb.ogen der Ergänzung bedürftig. Viele Fragen, z. B. die, ob die individuelle Eigenart des Kindes im Kindergarten zu ihrem Rechte kommt, konnten nur gestreift werden. Denn wir wollten die Arbeit nicht allzuweit ausdehnen und so die Veröffentlichung immer wieder hinausschieben. Wir werden aber nicht aufhören, weiter an dem Bogen zu arbeiten und bitten auch die, die den Bogen benützen werden, Lücken aufdecken und füllen zu helfen. ^ Allerdings ist dazu eine gewisse psychologische Vorbildung nötig. 2)

Bei der Benutzung des Fragebogens ist noch folgendes zu beachten: Bei der Beantwortung der einzelnen Fragen sind Tatsachen anzugeben, nicht etwa bloß Urteile oder Eigenschaftswörter. Jeder, der aus dem ausgefüllten Fragebogen seine Schlüsse zu ziehen hat, muß in der Lage sein, sich aus den angegebenen Tatsachen selbst ein Urteil bilden zu können.

Der Fragebogen enthält drei Spalten. In der ersten Spalte stehen die Fragen. Die zweite Spalte enthält Hinweise, wie man sich das zur Beantwortung not- wendige Material beschafft. In der dritten Spalte habe ich Antwortbeispiele angeführt. Dabei habe ich, um möglichst sprechende Beispiele bringen zu können, die Angaben meinen Notizen über verschiedene Kinder entnommen. Es ist aber notwendig, daß nun der Versuch gemacht wird, möglichst

*) Hinweise sowie Beantwortungen des Fragebogens bitten wir zu senden an Dr. Alfred Mann, Breslau XVI, Maxstr. 16. Die Materialien werden an einer Zentralstelle zur wissenschaftlichen Bearbeitung zusammengestellt und später ernsthaften Interessenten leihweise überlassen werden.

*) Ich erhielt sie im Breslauer psychologischen Universitätsseminar bei Herrn Professor W. Stern und im Jugendleiterinnenkursus durch Herrn Dr. Alfred Mann, dem auch diese Arbeit viele Anregungen und Verbesserungen verdankt. Und dann braucht mau dazu auch Zeit. Die beobachtende Jugendleiterin, oder wer es auch immer sei, darf von Betriebssorgen nicht erdrückt werden. Und hier möchte ich nicht verfehlen, der Seminarleiterin Fräulein Gertrud Laßwitz, die mir vor 1 Jahren die Einrichtung und Leitung eines Volkskindergartens übergab, meinen besonderen Dank auszusprechen. Denn sie hat trotz der ungünstigen Zeitverhältnisse stets dafür gesorgt, daß mir Zeit und Lust blieb, meine im Jugendleiterinnenkursus gefaßten Vorsätze und Ideen auszuarbeiten und fortzubauen.

Psychologische Ermittlungen im Kindergarten

317

alle Fragen für ein Kind zu beantworten.

merkungen J)

Angefügt sind besondere Be-

Frage

Beobachtungs- gelegenheit

Antwortbeispiel

l) Kommt das Kind in den Kindergarten aus eigenem An- trieb oder wird es geschickt (anfänglich und dann weiter)?

2) Wenn das Kind aus eigenemAntrieb in den Kinder- garten kommt, hat es dann t)estimmte Erwartungen und Wünsche, die ihm im Kinder- garten erfüllt werden sollen ?

3) Wenn es geschickt wird, aus welchen Gründen ge- schieht dies dann?

4) Fällt es ihm leicht oder schwer, sich in die neue Um- gebung zu finden? (Genaue Beschreibung des Verhallens des Kindes!)

5) Findet sich das Kind überhaupt leicht oder schwer in eine neue Lebenslage?

L Eingewöhnung.

Festzustellen durch Befra- gen der Angehörigen und vor- sichtiges Befragen des Kindes.

In entsprechenden Lebens- lagen zu beobachten.

Experiment : Man gebe dem Kinde fremdartiges Spielzeug oder bringe es mit fremden Kindern oder Erwachsenen zusammen und beobachte dann sein Verhalten.

Festzustellen durch Befra- gen der Angehörigen, vor- sichtiges Befragen des Kindes ; auch spontanen Äußerungen des Kindes zu entnehmen.

Festzustellen durch Befra- gen der Angehörigen.

Zu beobachten an einem Kinde, das zum ersten Male einen Kindergarten besucht.

Von Günther (4 J ) erzählt das Dienstmädchen, daß er überall gleichaltrige Kinder aufsuchte, um mit ihnen zu spielen. Er bat die Eltern, ihn in einen Kinder- hort zu schicken. Er kam zu uns jeden Tag mit neuer Freude und war traurig, als Krankheit ihn hinderte.

Emsts (5 J.) Kusine Eva geht schon längere Zeit in den Kin- dergarten und erfreut Bekannte und Verwandte durch Hersagen kleiner Verschen. Ernst läßt nun seinen Eltern keine Ruhe. Er will gleichfalls in den Kinder- garten gehen, um auch so viel wie Eva zu lernen.

Erich (4 J.) wird geschickt, weil die Mutter durch ein Ge- schäft verhindert ist, auf ihn acht- txigehen.

Solange die Mutter dabei ist, ist Erwin (3 J.) ganz ruhig. Kaum ist sie fort, überwältigt ihn der Schmerz. Er weint und will ihr nachlaufen. Um zu vermitteln, nehme ich ihn auf den Arm und sage : , Wir wollen sehen, wo sie hingeht." Er ist am Fenster und erzählt in atemloser Hast: „Da wohnen wir. Da läuft eine Maus am Haus. Nu macht sie muh." Diese letzten Vorstellungen schei- nen Macht über ihn zu gewinnen. Nach ein paar Minuten geht er ruhig zu den Kindern.

Beobachtungen fehlen mir.

1) Eine vierte Spalte sollte l>esondere Bemerkungen enthalten ; aus drucktechnischen Schwierig- keiten konnten diese aber nicht neben die Einzelfragen, zu denen sie gehören, gesetzt werden, sondern wurden fortlaufend am Schlüsse des Bogens angefügt.

318

Judith Lichtenstein

Frage

Beobachtungs- gelegenheit

Antwortbeispiel

6) Wird dem Kinde erst nach einiger Zeit bewußt, daß es sich in fremder Umgebung befindet? Falls das Kind im Kdg. Bangigkeit nach Hause, Furcht u. dgl. zeigt treten diese Erscheinungen bald auf oder erst später ? (Schreit das Kind, wenn es gebracht wird ?)

7) a) Möchte das Kind lieber allein sein oder liebt es die Gesellschaft (anderer Kinder, Erwachsener) ?

b) Bevorzugt das Kind Ein- zel- oder Sozialspiele? (a und b sind zu beantworten sowohl für die Zeit des Eintritts in den Kdg. als auch nach längerem Aufenthalt!)

8) Empfindet das Kind die anderen (Erwachsene, Kinder) als Störung ? Wie äußert sich da»? Ändert es sich, wenn das Kind schon längere Zeit den Kdg. besucht hat ? (Ge- nnue Zeitangaben !)

S. Nr. 4.

Hier muß die beobachtende Person so diskret wie mög- lich sein, um nicht Schmerz- ableiter zu werden.

a) Beim Freispiel der Kin- der zu beobachten.

b) 'Bei den meisten Kindern wird es schwer sein, ein Über- wiegen nach einer Seite fest- i zustellen. Vielleicht kann j man dem Kinde Spielzeug j geben (Experiment!), das zu ! ruhiger, einsamer Vertiefung I einlädt, z. B. ein Zusammen- j setzspiel, und nun beobachten, I ob sich das Kind trotzdem 1 Spielgefährten herbeiholt. ! Hier sind auch die Angehöri- ! gen zu befragen, denn es wäre I wichtig, festzustellen, ob Kin- I der, die zu Hause immer allein I spielen, im Kdg. besonders j eifrig Spielgefährten suchen. Es empfiehlt sich, ein Zim- I mer im Kdg. zu haben, in I das sich das Kind, falls es ! Verlangen darnach hat, zu- 1 rückziehen kann.

9) Wie lange dauert es, bis das Kind die anderen kennt und mit Namen rufen kann ?

Alle paar Tage kann man

das Kind nach den Namen

j der anderen, auch Erwach-

1) Die Beobachtung des kindlichen Spiels kann vielleicht wichtig werden! Beispiel oben!

Hilde (5 J.) kam sehr selb- ständig in den Kdg. Sie war einen Tag vorher durch ihre Mutter angemeldet worden, so daß weder ich sie, noch sie mich kannte. Sie nannte deutlich ihren Namen, setzte sich zu den an- deren Kindern. Gegen 11 Uhr nahm sie plötzlich ihre Brottasche und erklärte, sie ginge jetzt. Wir durften sie natürlich nicht gehen lassen, und nun trat der Tren- nungsschmerz hervor. Sie hieb und biß um sich, wollte weder essen noch sich schlafen legen. Dieser Zustand dauerte ungefähr */i Stunde, bis sie vor Müdigkeit einschlief. Nach dem Schlafen war sie wieder ganz ruhig.

a) Ich suche Alfred (4 J.) und finde ihn schließlich in einem klei- nen Zimmer ruhig in einer Ecke sitzen. Auf meine Frage, warum er nicht mit den anderen Kindern spiele, sagt er: „Hier ist es feiner."

b) Fritz (6 J.) bevorzugt So- zialspiele. Die Kinder haben Spielzeug erhalten, Fritz den Roll- wagen, Rudi den Kaufmanns- laden. Zwischen diesem bezie- hungslosen Spielzeug fand er die Brücke: Von dem Wagen wird Zucker abgeladen, der im Laden verkauft wird. In dieser Weise zog er auch das andere Spiel- zeug in sein Bereich, so daß er bald mit einer Reihe von Kindern spielte. (Anzeichen von organi- satorischem Talent? •)

Liese (5 J.) kennt, möchte man sagen, seit ihrer Geburt nichts als Anstaltsleben. (Krippe, Kinder- garten). Aber: sie spielt in einer Ecke ,, Mutter und Kind" und singt; sowie ich hereinkomme, verstummt sie und schreit mich an: „Sollst weggehen!"

Beobachtungen fehlen mir

für die Lebens- (Berufs-) Prognose

Psychologische Ermittlungen im Kindergarten

319

Frage

Beobachtungs- gelegenheit

Antwortbeispiel

(Genaue Angaben der Sachen und der Zeit!)

Tat-

1 0) Befreundet sich das Kind zuerst mit Kindern oder Er- wachsenen ?

11) Ist das Kind zuerst he- sonders anhänglich an einen bestimmten Erwachsenen, ein bestimmtes Kind oder Tier? Schwindet diese Anhänglich- keit mit der Zeit ? (innerhalb welcher.au» welchemGrunde ? Tatsachenangabe !) oder bleibt

12) Wie lange dauert es, bis das Band am Spiel oder an der Beschäftigimg der an- deren teilnimmt?

senen, fragen. Nur muß man sich hüten, daß daraus nicht ein Oben, ein Lernen für da.« Kind wird, Ob das Kind die anderen kennt, läßt sich am besten beim Freispiel beobachten.

Am besten t)eim Freispiel zu beobachten, da ja hier das Kind ganz seinen Neigungen folgen kann.

S. Xr. lö.

Hier ist genau zu t)eob- achten. ob das Kind zuerst nur zusehen mag, ob es dann nur an bestimmten Beschäf- tigungen teilnimmt, ob die Auswahl der Beschäftigung etwa mit der Bevorzugung einer besonderen Technik zu- sammenhängt oder ob das Kind nur nach rein persön- lichen Gesichtspimkten aus- wählt.

Ursel (5 J.) beachtet die an- deren Kinder nicht und flüchtet immer in den Schutz eines Er- w^achsenen. Da öffnet sich dann ihr Mund, und sie kann erzählen.

In den ersten 14 Teigen klam- merte sich Erwin (3 J.) sehr fest an mich an. Die Freundlichkeit meiner Gehilfin gewann ihn aber, so daß er die Richtung wech- selte imd ihr treuer Begleiter wurde. Meine Gehüfin erkrankte und konnte längere Zeit nicht in den Kindergarten kommen. Er war nun allein und schwebte hilflos im Räume. Er pendelte tatsächlich die ersten Tage her- um, ohne zu wissen, was be- ginnen. Dann freundete er sich mit den anderen Kindern an und verteilte gleichmäßig seine Gunst Als meine Gehilfin nach 6 Wochen wiederkam, hatte sie fönihn die Bedeutung verloren.

Beobachtungen fehlen mir.

n. Beschäftigung mit Fröbelsehen Gaben.

13) Wählt das Kind lieber selbst seine Beschäftigung, öder braucht es Bestimmung durch andere?

Festzusteüeu durch ein kleines Experiment:

Man lasse einige Male hin- tereinander das Kind selbst wählen und teile dann an den nächsten Tagen die Be- schäftigung selbst zu. Durch Beobachten und vorsichtiges Befragen stelle man fest, was dem Kinde lieber war.

Beobachtungen fehlen mir.

320

Judith Lichtenstein

Frage

Beobachtungs- gelegenheit

Antwortbeispiel

14) Weiß das Kind von vorn- herein, was es mit der Gabe anfangen soll, oder muß es ihm von Erwachsenen vor- gezeigt werden? (Vorbauen usw.)

15) Verwendet das Kind die Gaben in Fröbels Sinne? Be- nutzt es z. B. Täfelchen wirk- lich dazu, einen Gegenstand daraus zu legen, Bausteine zum Bauen?

1 6) Wie lange hält das Kind bei demselben Beschäf tigungs- mittel aus? Zeigen sich zu verschiedenen Zeiten bei ver- schiedenen Gelegenheiten sehr große Unterschiede ? (Tat- sachenangabe ! Beschreibung des Beschäftigungsmittels !)

17) Welche Gabe wählt das Kind, wenn es Gelegenheit zur Wahl hat?

1 8) Wählt es jedesmal die- selbe Gabe? Schließt es jedes- mal dieselbe Gabe aus?

19) Fall« das Kind bei der Auswahl wechselt, nach wel- cher Gabe greift es oft, nach welcher selten?

20) WUl sich das Kind lieber mit Spielzeug als mit einer Gabe beschäftigen?

Man gebe dem Kinde, das noch nicht mit den Gaben vertraut ist, eine Gabe und achte darauf, daß von keiner Seite eine Beeinflussung er- folgt. Wichtig ist, festzustellen, ob das Kind geradezu um Hilfe bhtet.

Man gebe dem Kinde Gaben, die es noch nie in der Hand gehabt hat, vielleicht Stäb- chen oder Täfelchen.

Dies festzustellen , wird längere Zeit in Anspruch neh- men. Die verschiedenen Ge- legenheiten undZeiten ergeben sich einfach. Man lasse das Kind einmal in einem ruhi- gen Zimmer sich mit den Gaben beschäftigen, ein an- deresmal, wenn die anderen Kinder um es herumspielen, einmal bei Beginn des Kinder- gartens, dann wieder am Schluß, vor dem Frühstück, nach dem Frühstück, nach dem Miitagsschlafe, nach dem Spaziergange usw.

Damit das Kind bewußt wallten kann, muß es die Gaben natürlich vorher genau kennen. Man führe das Kind vor den Schrank, zeige genau, was in jedem Kasten ist, überzeuge sich, daß das Kind das nun weiß, und lasse wäh- len. Dadurch vermeidet man die Gefahr, daß das Kind bei der ersten besteuGabe zugreift.

Man gebe dem Kinde meh- rere Male Gelegenheit zur Wahl, möglichst zur selben Zeit, unter denselben Um- ständen.

S. Nr. 18.

Man lasse das Kind selbst Spielzeug und Gaben auf einem Tische aufbauen und

Beobachtungen fehlen mir.

Lotte (4 J.) hat Täfelchen und stellt sie hintereinander auf. Sie spielt mit ihnen Eisenbahn, statt aus ihnen einen Gegenstand zu legen.

Beobachtungen fehlen mir.

Wir hatten Stäbchen, Bausteine. Kugel, Würfel, Walze gescheuert. Dies alles lag nun in der Küche zum Trocknen. Frieda (3 .1.) wählt Bausteine und Stäbchen. Sie legt die Bausteine nebenein- ander („das ist eine Eisenbahn"), stellt ein Spieltöpfchen herauf und tut Stäbchen hinein. Die Stäbchen stellen den Rauch dar.

Beobachtungen fehlen mir.

Beobachtungen fehlen mir.

Beobachtungen fehlen mir.

Psychologische Ermittlungen im Kindergarten

321

Frage

Beobachtungs- gelegenheit

Antwortbeispiel

(Wählt das Kind jedesmal dasselbe ?)

21) Richtet sich die Wahl des Kindes nach der des Kameraden? Wählt das Kind dasselbe oder das ergänzende Spielzeug, dieselbe oder die ergänzende Gabe?

22) Will das Kind lieber arbeiten als frei spielen?

23) Will das Kind lieber Spielzeug haben als arbeiten ?

24) Will das Kind lieber arbeiten, als sich mit Gaben beschäftigen ?

25) Welche technische Be- schäftigung wählt das Kind, falls ihm Gelegenheit zurWahl gegeben wird?

26) Wählt es jedesmal die- selbe technische Beschäf- tigung, schließt es jedesmal die gleichen technischen Be- schäftigungen aus?

27) Falls das Kind bei der Wahl wechselt, nach welcher. Arbeit greift es oft, nach welcher selten?

28) Wählt das Kind die Be- schäftigung, für die es beson- dere Geschicklichkeit zeigt?

29) Richtet sich die Wahl des Kindes nach der des Kameraden?

30) Ist es dem Kinde lieber, wenn es seine Arbeitwählt, od. wenn sie ihm zugeteilt wird?

achte dann darauf, daß das Kind auch wirklich wählt.

Man lasse einen besonders befreundeten Spielkameraden mitwählen.

Beispiel für sich ergän- zendes Spielzeug: A. wählt den Pferdestall, B. die Pferde.

in. Technische Arbeiten.

Durch Befragen des Kindes, dem beides bekannt ist, fest- zustellen, bei Beginn des Frei- spiels imd nach einer Stunde Freispiels. (Feststellung bei demselben Kinde öfters nach längeren Zeiträumen wieder- holen !)

Man lasse das Kind selbst (unter Anleitung) Spielzeug n. Material zur .\rbeit aufbauen und achte dann darauf, daß das Kind auch wirklich wählt.

Man lasse das Kind selbst (unter Anleitung) Gaben und Material zur Arbeit aufbauen und achte dann darauf, daß das Kind auch wirklich wählt.

Man gehe mit dem Kinde die Beschäftigungsmöglich- keiten durch und lasse dann wählen.

S. Nr 25.

Ich schlage vor, sich hier einmal auf die rein Fröbel- schen Beschäftigungen zu be- schränken, da sonst eine Über- einstimmung in der Versuchs- anOrdnimg unmöglich ist. ')

S. Xr. 25.

Durch Vonmtersuchungen muß man darüber unterrichtet sein, auf welchem Gebiete die Geschicklichkeit besteht.

Man lasse einen besonders befreundeten Spielkameraden mitwählen.

S. Nr. 13.

Feststellungen fehlen mir.

Hardi (6 J.) will lieber arbeiten.

Kurt (5 J.), arm an Erfindungs- geist, will flechten.

Gerhard (5 J.) ist empört, daß wir heute nicht arbeiten. Er be- ruhigt sich erst, als ich ihm klar mache, daß auch Stäbchenlegen eine Arbeit sei.

Ernst (5 J.) will flechten.

Feststellungen fehlen mir.

Feststellungen fehlen mir.

Feststellungen fehlen mir.

Feststellungen fehlen mir. Feststellungen fehlen mir.

') .\l8o auf Falten, Flechten, Ausschneiden, Ausnähen, Zeichnen nach Fröbelschem System Zeitschrift f. padagog. Psychologie. 21

322

Judith Lichteiistein

Frage

Beobachtungs- gelegenheit

31) Hat das Kind Freude an der Arbeit selbst, oder brennt es darauf, den Gegen- stand ferligznstellen, um ihn dann aufzubewahren oder damit zu spielen usw. V

32) Findet das Kind be- sondere Genugtuung darin, technische Schwierigkeiten zu überwinden, oder hemmen im Gegenteil Schwierigkeiten den Arbeitsmut?

Dies ist beim Flechten gut zu beobachten, auch beim Ausnähen usw. Es gibt Kin- der, die bei jedem Stich aufs Ende blicken und überlegen, ob sie wohl heute noch fertig werden können, und andere, die aus ruhiger Freude an ihrer Tätigkeit arbeiten. Auch nach Fertigstellung des Ge- genstandes ist dies festzu- stellen. Manchen Kindern ist der Gegenstand, sobald er fertig ist, vollständig gleich gültig. Sie zerstören ihn oder werfen ihn achtlos herum.

Dies ist gut bei den Fröbel- schen Ausnäh- oder Flechl- mustern festzustellen. Man wähle vielleicht ein Muster, das besondere Schwierigkei- ten birgt, bei dem es dann klar zutage tritt, ob das Kind davon gefördert oder gehemmt wird.

Antwortbcispiel

Ernst (5 J.) sagt bei jedem Stich: „Wenn ich fertig bin, schenk' ich die Karte meiner Mutti." Fritz (6 J.) hebt sich alle seine Sachen hinter dem Spiegel auf

Feststellungen fehlen mir.

IV. Bewegungsspiele.

33) Spielt das Kind, sich selbst überlassen, Spiele, die formal dem Bewegungsspiele gleichen, die also auch feste Gesetze und straffe Organi- sation zeigen?

34) Spielt das Kind, sich selbst überlassen,Rollenspiele, die den Rollenspielen im Be- wegungsspiele gleichen ?

35) a) Stellt das Kind spon- tan Erlebnisse durch Bewe- grmgen dar?

b) Macht es Bewegungen zu seinen Phantasievorstel- lungen? (Hantiert es mit dem Nichts ?) (s. Stern, Psychologie der frühen Kindheit, S. 194.)

Beim achten.

Freispiel zu beob-

Beim Freispiel festzustellen.

Beim Freispiel festzustellen.

Beim achten.

Freispiel zu beob-

Günther (6 J.) erklärt: „Das ist das Dienstmädchen, die Frie- de! das Kind. Mutter ist gestor- ben. Wenn der Nikolaus kommt, kriechen sie unter den Tisch und ich verdresch' ihn. (Planmäßiges zielbewußtes Spiel in der Tat!)

Günther (6 J.); „Ich bin der Putzer." Er steht auf der Schau- kel des Schaukelpferdes und streicht die Wand entlang mit dei- Hand. Dann klettert er noch höher auf das Geländer und putzt weiter.-

Rudi (5 J.) erzählt; „Einmal hat es geblitzt, daß in der Küche alles licht war. Der Blitz kommt ganz schnell, erst bums, dann bums (Aufhauen auf den Tisch), dann blitzt's ganz schnell (Hände gehen schnell durch die Luft).

Psychologische Ermittlungen im Kindergarten

323

Frage

Beobachtungs- gelegenheit

Antwortbeispiel

36) Bindet das Kin9, sich selbst überlassen, ein Spiel logisch an das andere, oder bricht es ein Spiel ab und fängt frisch von vorne wieder an, flattert es also?

37j Spielt das Kind, sich selbst überlassen, Bewegungs- spiele?

38) Welche Spiele spielt es in diesem Falle? Spielt es solche, bei denen dieBewegung die Hauptsache ist, also Tanz- spiele, oder solche, in denen die Kinder bestimmte RoUen darstellen, z. B. „Vöglein singt im Walde" oder .Handwerker- Bpiel*^ ?

39) Wie sind die Bewe- gungen des Kindes? Ahmt es mechanisch nach oder ent- stammen die Bewegungen innerer Anschauung, ist also das Spiel zum inneren Erleb- nis geworden? (Tatsachen imd Äußerungen sind genau anzugeben !)

iO) Baut das Kind die Spiel- gesetze, die im Spiele ent- halten sind, durch eigene Ideen aus?

^

Beim Freispiel festzustellen.

41) Gestaltet das Kind selb- ständig ein Lied oder eine Geschichte zum Bewegungs- spiel ?

42) Wird das Kind in der Darstellung seines Spielerleb- nisses durch die Herumspie- lenden gestört? (Tatsachen- angaben 1)

Man lerne mit den Kindern ein Lied oder erzähle eine Geschichte, die dazu einlädt, dargestellt zu werden.

Beim Spiel in der Ge- meinschaft und beim ein- zelnen Spiel zu beobachten. Vorsichtige Fragen geben hierüber vielleicht auch Auf schlußi

Beim Freispiel festzustellen.

Beim Freispiel festzustellen. Falls es zu lange dauert, ehe man zu Ergebnissen kommt, kann man ein Kind zum Spielleiter machen und ab- warten, welche Spiele es spielt. (Expei-iment !)

Dies ist sehr schwer fest- zustellen. Immerhin werden wir während des Spiels Tat- sachen und Äußerungen be- obachten können, die darauf hindeuten.

Beim Bewegungsspiele zu beobachten.

Rudi. (5 J.) streut Sand: »Es regnet. Da muß ich mir eine Krone aufsetzen." Er setzt sich eine Sandform auf den Kopf. Er vergräbt seine Füße : „Nun kann ich nicht mehr laufen." (Ansätze zum zusammenhängenden Spiel sind vorhanden!)

Magda(5J.) und Ruth (6 J.) spie- len fast bei Jedem Freispiel Bewe- gungsspiele. „Rira rutsch", „Klein Häschen wollt' spazieren gehen."

Beobachtimgen fehlen mir.

Wir spielen das Wäschespiel und plätten gerade. Gerhard (5 J.) plättet mit Eifer, fährt plötz- lich schmerzhaft mit der Hand zurück und sagt; „Ich hab* mich aber gebrannt."

Wir spielen das nicht gerade schöne Spiel „Von den Neger- lein", die immer weniger wer- den. Gerhard (5 J.) ist das fünfte, das zuviel Bier trinkt. Ohne daß es ihm angedeutet worden ist, tut er, als ob er trinke, seine Faust ist das Glas, taumelt hin und her, fällt zur Erde imd stirbt

Magda (6 J.) gestaltet „Klein Häschen wollt" spazieren gehn" zu einem Kreisspiel. Ein Kind ist die Mutter eines Häschens. Das Häschen fällt ins Wasser, macht einen großen Sprung, läuft schnell nach Haus, die Mutter schlägt es.

Beobachtungen fehlen mir

324

Judith Lichtenstein

Frage

Beobachtungs- gelegenheit

Antwortbeispiel

V. Einheitsgedanke (Monatsgegenstand).

43) Wird das Handeln des Kindes oft längere Zeit hinter- einander von bestimmten Vor- stellungen und Ideen be- herrscht ? Spielt das Kind z. B. tage- oder wochenlang die- selben Spiele?

44) Ist dem Kinde der Ein- heitsgedanke der Gedanke geworden, mit dem es sich längere Zeit hintereinander spontan beschäftigt?

45) Wie findet sich das Kind mit dem Einheitsgedanken ab, wenn es nicht Anlage dazu hatte, sich längere Zeit mit demselben Gegenstand zu be- schäftigen? Wird das Kind vielleicht durch den Einheits- gedanken dazu gebracht, daß es sich nun auch längere Zeit hintereinander mit demsel- ben Gegenstand beschäftigen kann? Oder beharrt das Kind bei seiner Anlage, ist ihm also der Einheitsgedanke nur ein Erlebnis neben anderen geworden ?

46) Ist der Einheitsgedanke dem Kinde überhaupt zum Erlebnis geworden?

Wir müssen uns bemühen, jede Beeinflussung vom Kinde fernzuhalten, damit die Vor- stellungen und Ideen, die wir aus Äußerungen des Kin- des erschließen, nicht vorher durch unsere Einwirkung ent- standen sind.

Aus freien Äußerungen des Kindes, wie Freispiel, Frei- zeichnen, Freibauen zu ent- nehmen.

S. Nr. 44.

Man beobachtet das Kind während der Zeit, in der man einen Einheitsgedanken streng durchführt, und während der Zeit, die man ohne Einheits- gedanken hinbringt.

Am besten und klarsten, beim Zeichnen festzustellen. Man gebe Ma'erial zum Zeich- nen und lasse die Kinder zeichnen, was sie wollen. Falls das Kind spontan Stoffe des Einheitsgedankens darstellt, kann man vorsichtig darauf schließen, daß der Einheita- gedanke zum Erlebnis ge- worden ist.

Gerhard (5 J.) spielt immer wieder Eisenbahn. Ich solle mitfahren, meint er. Ich mag aber nicht, da ich zu müde bin. Wir könnten ja etwas anderes spielen, denke ich. Er belehrt mich aber: „Ich kann bloß Eisen- bahn. Ich kann weiter nichts als Lokomotive."

Einheitsgedanke: „vor Weih- nachten". Gerhard (6 J.) spielt bereits den 3. Tag Weihnachts- mann. Er holt sich einen Stock, kommt stampfend und klopfend die Treppe herunter. Die ande- ren Kinder müssen unter den Tisch kriechen.

Exakte Beobachtungen fehlen mir.

Da ich hier keine Zeich- nungen bringen kann, verzichte ich auf die Antwort.

47) Hat das Kind Freude an Besprechungen? Oder | festzustellen

VL Besprechimgen. ') Während der Besprechung

Aus dem Ver-

Herbert (6 J.) ist ein sehr ruhiges Kind, aber Besprechun-

•) Da die Besprechungen im Kdg. nach keiner Richtung hin festbegrenzt sind sie erstrecken sich auf Bilder, Gaben, Gegenstände, Erlebnisse so konnte ich bloß wenige allgemeine Fragen formulieren. Hier ist Arbeit für meine Mitarbeiter!

Psychologische Ermittlungen im Kindergarten

325

Frage

Beobachtungs- gelegenheit

Äntwortbeispiel

zeigt es Abneigung dagegen ? Vielleicht weil es sich nicht genug dabei betätigen kann ?

halten des Kindes, besonders der Aufmerksamkeit, zu er- sehen. — Wir können das Kind auch fragen, ob wir uns vielleicht wieder ein Bild ansehen wollen.

gen langweilen ihn so, dafi er

nicht einen Augenblick ruhig auf seinem Platz sitzen kann, die an- deren stört usw.

Vn. Sehlofifragen.

48) Liegen Anzeigen dafür vor, daß die Eindrücke des Kdg. das Kind tiberreizen?

49) Welche Momente des Kindergartenlebens haben die tiefsten Spuren beim Kinde zurückgelassen ?

Sehr gut ist dies festzu- stellen, wenn das Kind Kin- dergarten spielt. Denn das Kind wird nur dies aus dem Kindergartenleben heraus- greifen und darstellen, was den tiefsten Eindruck hinter- i lassen hat.

austeilen Lothar, Tassen Erika, Taschen kann austeilen der Horst.

die richtigen Taschen der Kinder)'. Ruth: „Noch nicht essen.

Friedel (4 J.) und Ruth (6 J.)

organisieren das Spiel. Friedel l)eginnt mit dem Kreisspielen, wie wir jeden Morgen. Sie läßt aber bloß das Morgenlied singen .Es geh'n viel Englein durch die Welt", dann läßt sie hinsetzen. Sie bestimmt: „Brettchen kann Aber nicht richtig (d. h. nicht erst Hände auf den Rücken*.

Friedel sagt zu Rudolf: „Geh a mal raus, wir müssen die Bank abrücken*. Sie fängt noch einmal an auszuteilen. Sie hebt jetzt die Hand (diese Bewegung verstärkt die Illusion, daß sie die Tasche in der Hand hält). Sie fängt an zu zählen: „1 . . . 2 . . . 3 . . ." Ruth: „Wir haben ja schon ausgeteilt". Friedel läßt sich nicht stören, sondern fährt fort : „Danke schön dem Horst und dem Rudolf. Nu laßt's euch gut schmecken*. Erika bewegt den Mund, als ob sie äße. Friedel genügt es jetzt aber nicht mehr, nur so zu tun. Sie holt rosa Florpapier aus dem Papier- korb und teilt es aus. Rudolf steckt das Papier in den Mimd und ißt wirklich. Plötzlich ist das Papier Faltblatt, und Friedel kommandiert: „Ecke auf Ecke . . ."' (Ich muß ein paar Minuten fortgehen. Als ich wiederkomme, ist das Spiel. etwas vorgerückt.) Friedel: „Anstellen, in den Garten gehen!" Die Kinder müssen beim Marschieren singen: „Ein scheckiges Pferd". Sie läßt den Kreis zumachen und wieder ein Morgenlied singen „Recht frisch imd munter aufgewacht" (keine strenge Spielhierarchie).!) Sie spielt weiter „Fädchen, Fädchen wie am Rädchen" und zieht die Kinder in das Nel)enzimmer. „Hinsetzen, Lothar, hierher". Sie fängt das Fingerspiel an „Wir spielen, wir spielen und fangen lustig an". Sie teUt wieder Brettchen aus. Ruth: „Nein, jetzt ist Mittag. Jetzt schlafen die Kinder". Friedel: „Miltagskinder bleiben sitzen, die anderen stellen sich an. Tante Lene bleibt über Mittag, die anderen gehen fort". (Das erste Mal bewußte Anlehnung an die Wirklichkeit. Den weiteren Verlauf konnte ich nicht mehr beobachten).

Vorsichtige Folgerungen: Friedel ist besonders die Technik des Kindergarienlebens zum Er- lebnis geworden, die äußeren Linien, die Form, wenig der geistige Inhalt. Das Kommandieren ist ein Teil ihrer Seele, so daß das Kommandieren im Kindergarten die größte Resonanz ge- funden hat. Für unseren Kindergarten spricht, daß Friedel nicht eine Person, sondern die Ge- setze des Kindergartens nachbildete. Das ist ja auch unser Wunsch. Wir sind Diener unserer Sache. Gegen unseren Kindergartenbetrieb spricht, daß bei Friedel nicht einmal vom Geiste, der die Beschäftigungen veranlaßt, vom Einheitsgedanken etwas zu merken war. Wir sagen z. B. immer „Wir falten Sterne, um dem Christkind beim Schmücken zu helfen". Aber dies schließt ja nicht aus, daß ihr diese Ideen nicht zum Erlebnis geworden sind. Wir sind ja nicht solche Realisten, d£iß wir alles Innere dargestellt, veräußerlicht sehen wollen. Wir haben den Glaubenl

') Vgl. A. Mann, Zur Psychologie und Psychographie der Aufmerksamkeit, angewandte Psychologie IX, Seite 446/447.)

(Zeitschrift fflr

t 326 Judith Lichtenstein

Bemerkungen zu den Fragen.

Zu 2) Hieraus können wir ersehen, was dem Kinde anfangs am Kindergarten wesent- lich erscheint, was es von ihm erwartet. Zu 3) Wichtig z. B. in Fällen, in denen Kinder wegen unerquicklicher häuslicher Verhältnisse geschickt werden. Wenn sich solche Kinder leicht eingewöhnen, so braucht dies nicht für die Kindgemäßheit des Kindergartens, son- dern ■ kann unter Umständen bloß gegen elende häusliche Verhältnisse sprechen. Zu 4 ) Wenn es erwiesen wäre, daß es den meisten Kindern sehr schwer fällt, sich in die neue Umgebung ru finden, so ergäbe sich vielleicht daraus, daß das Kindergartenleben Momente enthält, die der kindlichen Seele nicht entsprechen. Zu 5) Falls das Kind sich überhaupt schwer in jede neue Situation findet, so braucht sein schweres Eingewöhnen in den Kindergarten nicht gegen den Kdg. zu sprechen. Zu 6) Wenn die starken Gefühle der Bangigkeit, Furcht usw. erst sehr spät auftreten, so muß doch der Kdg. der kindlichen Seele so viel Reizvolles bieten, daß sie ihren Schmerz eine Zeitlang vergißt. Zu 7} a) Die Kinder, die immer wieder sich zurückziehen, sind besonders sorgfältig zu beobachten. Es ist leicht möglich, daß zart organisierten Kindern das Gemeinschaftsleben im Kdg. zur Qual und zum Schaden an Körper und Seele wird . b) Höchst wahrscheinlich werden Kinder, die Sozialspiele bevorzugen, sich leicht in den Kdg. einfügen und nach den Spielgefährten im Kdg. verlangen. Zu 8) s. Nr. 7 a) Liegen hier einmal Beantwortungen von vielen Kindern vor, so wird es interessant sein, festzustellen, ob dies Verhalten' etwa über- wiegend Mädchen, und auch diese wieder nur in einem bestimmten Alter, haben. Vielleicht lehnen diese Kinder den Kdg. aber auch nur in einer plötzlichen Laune ab. Zu 9) Von dem Kinde, das bald die anderen kennt und mit Namen rufen kann, läßt sich vielleicht (nicht unbtedingt) annehmen, daß seine Seele sich eifrig mit ihnen beschäftigt, daß sie geöffnet war und nach neuen Menschen verlangte. Zu 10) Dies hängt auch von den häuslichen Verhältnissen ab. Kinder, die EU Hause wenig von Mutterliebe spüren, werden sich vielleicht im Kdg. sehr an Erwachsene klammem, Kinder aus liebevollem Hause wenig. Zu 11) s. Nr. 10. Zu 12) Es würde vielleicht gegen^den Kdg. sprechen, wenn es sehr lange dauert, ehe sich ein Kind, das sich sonst schnell anschließt, zur Teilnahme entschließt. Zu 13) In fast allen Kindergärten werden die Be.schäftigungen dem Kinde zugeteilt. Wenn sich nun herausstellte, daß die meisten Kinder lieber selbst wählen, 80 würde unsere bisherige Darbietungsart nicht kindgemäß sein. Zu 14) In fast allen Kdg. wird vorgebaut, vorgelegt, besprochen usw. Falls das Kind nun ganz von selbst die Verwendungs- möglichkeiten der Gabe erkannte, würden wir auf unser Eingreifen verzichten müssen, denn es ist doch selbstverständlich, daß wir nur dann dem Kinde den Weg zeigen dürfen, wenn es diese Hilfe braucht. Zu 15) Fröbel hat immer betont, daß seine Baugaben dem Zerstörungstrieb der Kinder entgegenarbeiten. Muß nicht aber das Kind auf einer Altersstufe zerstören? Der schlimmste Vorwurf gegen Fröbels Beschäftigungsmittel ist der, daß er sich ja alles sehr schön ausgedacht und nach mathematischen und philosophischen Gesichtspunkten klar geordnet habe, daß er aber nicht die geringste Rücksicht auf die kindlichen Bedürfnisse genommen habe. Wenn sich nun herausstellte, daß das Kind spontan die Gaben in der Weise anfaßt, wie Fröbel gewollt hat, so wäre dies eine Rechtfertigung für Fröbel. Zu 16) In den meisten Kindergärten ist ein- für alle- mal die Zeit festgelegt, innerhalb derer das Kind sich mit den Gaben beschäftigt. Wir müssen nun erst feststellen, ob diese Zeit wirklich dem Bedürfnis des Kindes entspricht. Zu 17) Es ist möglich, daß eine Reihe von Kindern, unbeeinflußt voneinander, dieselben Gaben wählt. Man wird dann mit äußerster Vorsicht beurteilen können, welche Gaben sehr, welche wenig und welche gar nicht kindgemäß sind. Zu 18) Sollte das Kind immer wieder dieselbe Gabe auslassen, so müßte versucht werden, den Grund dafür zu erforschen, der in irgendeiner äußeren Kleinigkeit liegen kann. Es braucht also nicht in jedem Falle gegen die Gabe zu sprechen, wenn sie vom Kinde nicht gewählt wird. Zu 19) Sollte das Kind besonders häufig gerade zu einer be- stimmten Gabe greifen, so kann dies auch an einer bloß akuten Einstellung der Persön- lichkeit liegen, die oft wochenlang dauern kann. Es braucht also nicht unter allen Umständen gegen eine Gabe zu sprechen, wenn sie selten gewählt wird. Die Beobachtungen müssen dem- nach lange fortgesetzt werden. Zu 20) Es braucht nicht für die Gaben zu sprechen, wenn sie vom Kinde jedesmal wieder gewählt werden. Dies kann daran liegen, daß das Kind zu Hause mit bestimmtem Spielzeug überfüttert ist. Zu 21) Die Beantwortung dieser Frage erschließt ein besonders wichtiges Gebiet im Kindergartenleben. Wir streifen hier das Problem der Ge- meinschaftserziehung und ihrer Bedeutung für das Kind. Wenn sich herausstellt, daß die Kinder sich untereinander, stark beeinflussen, so werden wir daraus schließen, daß das Kind sich be- einflussen lassen wiU, daß es Beeinflussung passiv oder aktiv braucht. Für Kinder, die 80 miteinander und ineinander spielen, daß sie immer die sich ergänzenden Dinge heraussuchen, würde es vi^leicht eine Verkümmerung bedeuten, wenn sie diesen Trieb nicht ausleben können,

Psychologische Ennittiungen im Kindergarten 327

d. h. wenn ihnen das Leben in Gemeinschaft mit Kameraden nicht gewährt wird. Vgl. dazu im Gegensatz Nr. 6, 7, 8, 9, 10, 12. Zu 22) ^Aj-beilen'' nennen wir alle die Tätigkeiten, die fremdzwecklich (Spielen ist Selbstzweck) sind. Da das Arbeiten im Kdg. sehr stark be- trieben wird ist es wichtig, einmal zu erlahren, ob das Kind darnach verlangt, und wann es am meisten darnach verlaugt. Zu 23) Viele Kinder können sich nicht beim Freispiel beschäf- tigen und greifen deshalb sofort nach bestimmter Tätigkeit Wir wollen nun feststellen, ob das Kind, auch wenn es durch sein Spielzeug voll ausgefällt ist, nach Arbeit verlangt, d. h. ob es unter allen Umständen technische Arbeiten braucht. Zu 24) s. Nr. 23. Wir können auch vor- sichtig urteilen, ob das Kind Gaben oder technische Arbeiten braucht. Zu 25) Es ist möglich, daß eine Reihe von Kindern unbeeinflußt voneinander dieselben Beschäftigungen wählt. Man wird dann mit äußerster Vorsicht beurteilen können, welche technische Beschäftigimg kindgemäß, welche wenig und welche gar nicht kindgemäß ist. Zu 26) s. Nr 25. Zu 27) s. Nr. ü5. Zu 28) Aus dieser Frage ersieht man, wie vorsichtig man im Urteil über die Kindgemäßheit einer tech- nischen Beschäftigung sein muß. Zu 29) s. Nr. 21. Zu 30) s. Nr. 13. Zu 31) Viele Kinder- gartenreformer fordern, daß wir nur solche Gegenstände arbeiten lassen sollen, „von denen das Kind auch wirklich etwas hat". Sollte es sich herausstellen, daß dem Kinde weit mehr am Arbeitsweg als am Arbeitsziel liegt, so dürften wir, um kindgemäß zu handeln, jenen Reformern nicht folgen. Zu 32) Jeder Kindergärtnerin sind die Fröbelschen Schulen bekannt, die Beschäf- tigungen mit steigender Schwierigkeit bringen. Sollte es sich zeigen, daß das Kind immer neue Schwierigkeiten sucht oder wegwerfend z. B. darüber urteilt, daß es dasselbe Flechtmuster immer wieder flechten soll, so hätte Fröbel in seinen Schulen wirklich einem Bedürfnis des Kindes ent- sprochen. Zu 33) Wenn wir feststellen müßten, daß die meisten kleinen Kinder (2 6 J.) in ihren spontanen Spielen weder feste Gesetze noch straffe Organisation zeigen, daß wir ihnen also im Be- wegungsspiel etwas ganz Fremdes bieten, so müßten wir Bedenken gegen das Bewegungsspiel tragen. Verschärft würden diese Bedenken, wenn die meisten Kinder trotz häufigem Bewegungs- spiel nichts davon im Freispiel zeigten.' Wir müßten dann sagen, daß das Kind diese Momente im Bewegungsspiel ablehnt. Zu 34) Wenn wir feststellen müßten, daß die meisten kleinen Kinder keine Rollenspiele spielen, so müßten wir gegen die Rollenverteilungen im Bewegungs- spiel große Bedenken haben. S. weiter Nr. 33. Zu 35) Der Reiz aller Bewegungsspiele beruht auf der Idee, daß alles, was gesagt oder gesungen wird, sofort getan wird. Wir müssen nun feststellen, in welchem Maße das Kind, unbeeinflußt von uns, Bewegungen zu seinen Vorstel- lungen macht. Zu 36) In den meisten Kdg. werden die Bewegungsspiele an den Faden einer Erzählung gereiht. Sollte es sich herausstellen, daß die meisten Kinder zusammenhangslos ein Spiel an das andere binden, so wäre jene Spiel weise zu verwerfen. Zu 37) Kinder, die so gern Bewegungsspiele spielen, daß sie in ihrem Freispiele darnach greifen, müssen doch Anlagen und Triebe haben, die zu ihrer Entfaltung Bewegungsspiele brauchen Zu 38) Sollte es sich zeigen, daß immer dieselben Spiele hervorgesucht, immer dieselben ausgelassen werden, so könnten wir einige Spiele als mehr, einige als weniger kindgeniäß bezeichnen. Zu 39) Be- wegungsspiele, deren Bewegungen den Kindern so fremd sind, daß sie nicht nacherlebt werden können, sind nicht kindgemäß. Zu 40) Auch dies ist ein Maßstab für die Kindgemäßheit eines Bewegungsspieles. Zu 41) Wenn wirklich viele Kinder selbständig Bewegungsspiele schaffen, die unseren gleichen, so ist diese Tatsache ein Beweis dafür, daß wir wirklich einem Bedürfnis des Kindes entgegengekommen sind und es befriedigt haben. Zu 42) Hier berühren wir wieder die Frage der Gemeinschaftserziehung. Es ist möglich, daß ein Kiad Schaden leidet, wenn von ihm verlangt wird, daß es sich über sein Erlebnis äußert. Denn manche Kinder haben ein sehr stark entwickeltes Schamgefühl. Für diese Kinder wäie das Kindergartenleben jedenfalls nicht geeignet. Wenn das Kind ganz ohne unsere Einwirkung seine Handlungen durch feste Vor- stellungen und Ideen eint, ist unsere Methode des Eiuheitsgedankens aus der Seele des Kindes herausgeboren. Zu 44) Nur wenn der Einheitsgedanke die Kraft besitzt, .die die ohne unser Einwirken entstandenen Vorstellungen und Ideen haben, ist er kindgemäß. Zu 45) Sollte es sich herausstellen, daß auch die Kinder zum Einheitsgedanken greifen, die sonst ohne einigen- den Gedanken lebten, so könnten wir sagen, daß das Kind den Einheitsgedanken, den wir bieten, unbewußt wünscht, daß es ihn braucht. Zu 46) Nur diejenigen Stoffe werden wir als einigende Gedanken wählen dürfen, die das Kind als Erlebnis verarbeiten kann. Zu 47) Sollte es sich herausstellen, daß die meisten Kinder Besprechungen ablehnen, so müßten wir sie streichen. Allerdings wird viel an der Geschicklichkeit des Besprechenden liegen, ob das Kind Freude daran hat oder nicht. Zu 49) Nachdem wir die einzelnen Darbietungen des Kdg. auf ihre Kindgemäß- heit hin geprüft haben, schauen wir noch einmal die einzelnen Blumen zu einem Strauße zu- sammen, halten ihn dem lächelnden Kinde hin, das voU Freude eich Blumen heraussucht und selbst einen Strauß nun windet.

328 Max Brahn

Besinnliches zur Begabungsprüfung.

Von Max Brahn.

Weit über den Kreis der Fachleute erstreckt sich die Anteilnahme an den Fragen der Begabungs- und der damit zusammenhängenden Berufswahlprüfung. Die Schule wird Einheitsschule, und der Aufstieg in die höheren Schulformen soll immer mehr in die Hände der Lehrer gelegt werden. Die Arbeit im Beruf soll bei dem schrecklichen Zustande unserer Wirtschaft immer ertrag- reicher gestaltet werden, und die im Staate entscheidenden Parteien legen Wert darauf, diese Erhöhung unter anderem durch Einführung des Taylor- systems zu erreichen. Auch hier Begabtenprüfung und Berufsauslese.

Auf beiden Seiten aber gibt es Menschen genug, die sich mit dem Gedanken solcher experimenteller Prüfungen, wie man sie nennt, nicht recht befreunden können und weiterhin den gesunden Menschenverstand und die Lebens- erfahrung entscheiden lassen wollen. Der Streit nimmt häufig unerfreuliche Formen an, die der SachHchkeit schaden, und wie es immer geschieht, wird auf beiden Seiten durch Übermaß gesündigt. Darum scheint es mir nötig, einmal in eine ruhige Abwägung des Vorhandenen und des Möglichen ein- zutreten.

Vorhanden sind zunächst die Methoden, die von Binet ausgegangen sind und die es ermöglichen sollen, etwa bis zum 12. Jahi* festzustellen, ob ein Schüler dem Durchschnitt der Begabung seines Lebensalters entspricht, darunter oder darüber steht. Bevor der Krieg ausbrach, war man nach einigen Jahren des Streites in ein recht ruhiges Fahrwasser gekommen; man begann bei uns und besonders in Amerika, jede Einzelheit der Methode kritisch zu prüfen, entfernte Untaugliches, variierte die Untersuchungen nach allen Seiten und verglich sie mit den Erfahrungen der Schule. Es hatte sich in Deutschland ein Ausschuß gebildet, der die einzelnen Tests unter sich verteilte, lun jeden einzelnen genau auf seine Brauchbarkeit zu prüfen. Dieser Weg muß jetzt neu beschritten werden. Daß die Methoden nicht unbrauchbar sind, die Auswahl der unbegabten oder minderwertigen Schüler sehr erleichtern und zum Teil sicherer gestalten, scheint mir außer Zweifel. Wie weit man sich auf sie völhg verlassen kann, das wird nicht durch lautes Schreien über ihre Taughchkeit und Untaughchkeit, sondern diu-ch vieltausend- fache Erfahrung entschieden werden.

Nun wurde neulich gesagt, daß Wundt in einem Brief sich dem Sinne nach so ausgedrückt habe, daß er die Begabungsprüfungen als Schwindel ansähe. Ich bin nicht in der Lage, nachzuprüfen, ob das der Wortlaut war, habe aber auch gar kein Interesse daran, es zu tun. Wundt ist der Be- gründer der rein theoretischen experimentellen Psychologie, und seine Ver- dienste werden darin stets unvergessen bleiben. Er hat sich von Anfang an der angewandten Psychologie nach seiner ganzen Sinnesart zweifelnd gegenübergestellt, er hat ihre Entwicklung nirgends sichtbar verfolgt, er hat so bin ich überzeugt in seinem Leben nie eine Begabungsprüfung an einem Kinde gesehen, und man kann von ihm auch nicht verlangen, daß er in seinem hohen Lebensalter die Gesichtspunkte aufgibt, die ihn gerade zum berufenen Führer der rein theoretischen Seelenlehre gemacht haben. Man hat darum aber keinen Grund, den geringsten Wert auf seine Äußerungen über die Begabungsprüfungen zu legen: nichts ist gefährlicher und unwissen-

Besinnliches zur Begabungsprüfung 329

schaftlicher, als die Autorität eines Menschen auf einem Gebiete auf andere Gebiete zu übertragen. Darum kann man über Wundts Äußerungen zur Begabungsprüfung ruhig zur Tagesordnung übergehen.

Es ist anzunehmen, daß sich diese Äußerung auch auf die zweite jetzt im Vordergrunde stehende Methodik der Begabungsprüfungen bezieht, wie sie in Berlin bei der Auswahl der Begabten angewandt worden ist. Da ich Gelegenheit hatte, solche Untersuchungen in erheblichem Umfange im Auf- trage der Stadt Hannover auszuführen, so kann ich auch aus Erfahrung darüber sprechen.

Zunächst sei anerkannt, daß die beiden Begründer dieser Methoden sieh durch ihr kühnes Zupacken ein Verdienst erworben haben. Sie haben zu einer Einheit zusammengefaßt, was sonst schon im ganzen vorhanden war, haben Lücken ergänzt und den ersten Versuch gemacht, praktische Folgerungen zu ziehen. Das wird ihr Verdienst bleiben.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die einzelnen Methoden, die sie dabei anwenden, in ihrem Werte recht verschiedenartig sind. Teils sind es alte experimentelle Methoden, die sowohl in der Ausführung wie in den Ergeb- nissen eine große Genauigkeit zeigen, teils sind es neu eingeführte, die sich auf sehr zusammengesetzte Vorgänge des Seelenlebens beziehen und darum sowohl unerprobt -wie grundsätzlich schwierig sind.

Nun ist es ohne Frage nicht zu billigen, daß man neue schwierige Methoden in die Gesamtheit der Untersuchungen als wesenthch aufnimmt, ohne daß man sie zunächst einzeln aufs gründhchste durchgeprüft hat. So kommt es dann, daß den Ergebnissen dieser neuen schwierigsten Methoden eine Un- sicherheit und Ungenauigkeit anhaftet, die nicht klein zu bewerten ist. Wenn zum Beispiel Definitionen von Worten verlangt und diese als sehr gut, gut usw. gewertet werden, so gestehe ich, daß es weder meinen Mitarbeitern noch mir in Hannover immer geglückt ist, die Wertungen in der gleich sicheren Weise vorzunehmen wie in BerUn. Hier wäre es am Platze gewesen, diese Methoden als solche erst aufs genaueste durchzuarbeiten und ihre Schwierig- keiten allmähhch zu überwinden, wie das etwa in späteren Arbeiten in Ham- burg für andere Methoden, zum Beispiel als Bindewortmethode, geschehen ist. Das Gleiche gilt für eine Reihe von Methoden, die sich auf die Begriffs- bildung und auf die Einfühlung in ein Bild beziehen, bei denen mir stets die Schwierigkeit der Beurteilung so groß erschienen ist, daß nur mit einem gewissen Zwange ein zahlenmäßiger Ausdruck für die Güte der Leistung möglich war.

Dauerd unmögUch sind solche Methoden durchaus nicht, und ihre Wertung kann durch lange sorgfältige Arbeit bis zu einem hohen Grade sicher gestaltet werden. Piorkowski hat in seiner ersten Arbeit über die Kombinations- fähigkeit der Kinder (Päd.-psychol. Arbeiten, Bd. IV) auf meine Anregung die Ergebnisse einer Methode von einigen zwanzig Leuten bewerten lassen. Dabei stellt sich dann heraus, daß für gewisse Aufgaben eine Übereinstim- mung der Bewertung in weitgehendem Maße möghch ist, für andere dagegen nicht. Diese müssen weggelassen werden. Es bedarf also für jede einzelne Aufgabe einer methodischen Vorarbeit, nicht für ihre Ausfühiung, sondern auch für die Bewertung selbst.

Wie weit es dabei möglich sein wird, die höheren Geistesvorgänge zahlen- mäßig zu fasseil, das läßt sich nicht durch allgemeine Urteile entscheiden.

330 Max Brahn

Man verfolge darin die Entwicklung der Kinderpsychologie, bei der es auch zunächst einen Sturm dagegen gab, daß man an Kindern. außer durch Ein- fühlung wesentlich Neues finden könne. Und trotzdem läßt sich behaupten, daß selbst diejenigen, welche die Anwendung genauer Methoden auf die Kinderseelenlehre leugneten und auch heut noch leugnen, in ihrer Darstellung derselben gern und umfangreich auf die Ergebnisse solcher Methoden zurück- greifen, die sie theoretisch verdammen. Und auch da, wo das strenge Experi- ment versagte, hat es uns oft genug Anregungen zu neuartigen systematischen Beobachtungen gegeben, die in ihrer Anlage besser, in ihren Ergebnissen ertragreicher waren als die früheren Methoden. Es ist ein Unglück, daß man das Wort Experiment auf alle diese Methoden übertragen hat, während es gar nicht mehr zureicht, die Art der Methoden wirklich zum Ausdruck zu bringen. Es handelt sich vielfach um eine neuartige Einstellung, die darauf ausgeht, gegenüber dem rein persönlichen Urteil, das auf Einfühlung beruht, ein auf Sammlung von Tatsachen beruhendes, unter wissenschaftlichen Ge-. Sichtspunkten gewonnenes, von persönlichen Urteilen möglichst unabhängiges Ergebnis zu zeitigen.

An den Begabungsuntersuchungen ist ferner zu tadeln, daß die Art, wie man die Ergebnisse h)erechnet, noch häufig etwas sehr Willkürliches hat. Wenn um ein einfaches Beispiel zu geben das Durchstreichen von Buchstaben gewertet wird nach der Anzahl der richtig durchstrichenen , der falsch durchstrichenen und der ausgelassenen Buchstaben, so bedarf es sehr langer Vorarbeiten, um festzustellen, wie hoch man etwa den Wert eines falsch durchstrichenen und eines ausgelassenen Buchstabens einzusetzen hat. Wenn eine Geschichte vorgelesen und gleichzeitig gerechnet wird, so muß man die Bedeutung, die man der einzelnen ausgeführten Rechnung und dem einzelnen behaltenen Teil der Geschichte zuerteilt, an vielen Beispielen durch- versuchen und mathematisch sehr sorgfältig behandeln. Ein Beispiel, wie man da vorzugehen hat, liegt in dem 9. Bande der „Pädagogisch-psycho- logischen Arbeiten" vor, in denen ich Leipziger Lehrer anregte, zunächst einmal nur dieser Frage nachzugehen, wie man die Berechnungen nach langen Erfahrungen und Überlegungen ausgestalten soll. Ehe solche Arbeiten nicht abgeschlossen und von vielen Seiten unter verschiedenen Verhältnissen wiederholt sind, wird immer wieder eine starke Unsicherheit den Ergeb- nissen anhaften.

Dann ist es die schwere Aufgabe derer gewesen, die solche Untersuchungen begonnen haben, festzustellen, wie viele verschiedene Geistesvorgänge sie untersuchen wollen. Sie haben sechs Grundformen: Aufmerksamkeit, Ge- dächtnis, Begriffsbildung usw. ausgewählt und jeder dieser sechs Funktionen die gleiche Bedeutung für die Gesamtbegabung zugeschrieben. Darin liegt natürlich eine, wenn auch nicht so leicht zu begleichende Willkürlichkeit. Das wünschenswerte Vorgehen wäre es, erst einmal solche Untersuchungen in sehr großer Zahl anzustellen, denen man noch keine praktische Bedeutung zuschreibt. Dann müßte man nach den Vorschriften der Korrelationsrechnung in sehr vielen Fällen feststellen, ob es nicht einzelne Funktionen gibt, die in der Gesamtbegabung eine größere Rolle spielen wie andere als gleich- wertig angesetzte. Es könnte sich dann herausstellen, daß zum Beispiel die Begriffsuntersuchung bei den vorliegenden Methoden sehr wenig mit der All- gemeinbegabung zusammenhängt. Nun wäre zu untersuchen, ob das der Wirk-

Besinnliches zur Begabungsprüfung 33 1

lichkeit entspricht, oder ob die vorliegenden Methoden noch unzm-eichend sind, weil sie die wirkliche Fähigkeit, Begiiffe zu bilden, nicht ernstlich feststellen. Nur im Zusammenarbeiten mit den Lehrern und stets weitergeführten theo- retischen Erwägungen wäre eine solche Frage zu lösen. Sie wird aber nicht gelöst, wenn Inan einfach hunderte Fälle untersucht und die Richtigkeit der Unternehmung als gegeben annimmt. Die Lösung der Fragen würde große Fortschritte machen, wenn man nicht nur die Gesamtergebnisse der Unter- suchung, sondern die Einzelergebnisse sowohl mit den früherem Lehrern der Schüler wie mit denen, die sie aus den Begabten-Klassen kennen, bespräche, genau zerlegte und besonders solche Fälle aufzuklären versuchte, in denen Schüler, die als begabt erklärt sind, in den Begabten-Klassen nicht mitkommen. Daß solche Fälle häufig sind, hat ja einer der Lehrer der Begabten-Klassen neulich in einem Vortrage ausführlich dargelegt. Darin liegt ein Material vor, das uns praktisch ebenso fördern wird wie wissenschaftUch.

So kann man gegen die einzelnen Versuchsanordnungen ebenso Bedenken erheben wie gegen die Zusammenstellung und gegen die Gleichstellung der Werte jeder einzelnen Methode. Wird ja in Berlin, wie ich weiß, dauernd an der Weiterbildung der Untersuchungen gearbeitet, und das Verdienst der Erfinder wird noch größer werden, wenn sie in jahrelanger kritischer Arbeit dauernd ausschalten und ergänzen werden. Auch von anderer Seite werden neue Methoden ersonnen , die in ruhiger steter Arbeit zum Ziele führen ■• werden. Es ist vielleicht gar zu schnell in weiten Kreisen, besonders der Lehrer, das Bestehende auch als das schon sachhch Zutreffende angesehen worden, wie überhaupt eine gewisse Gefahr vorliegt, unter dem Drange des praktischen Bedürfnisses die Ergebnisse der psychologischen Wissenschaft zu schnell als für die Praxis maßgebend anzusehen, statt sie zunächst in der Praxis eine Reihe von Jahren zu ei-proben und auszugestalten. Damit ist aber gegen die schließliche Erfüllbarkeit der Forderungen nichts gesagt wie gegen ihre heutige Benutzung unter den nötigen kritischen Vorbehalten.

Gegen den Einwurf, daß die einmalige Untersuchung nicht zuverlässig sei und leicht zufällige Ergebnisse bringt, läßt sich mancherlei sagen. Wohl kann es vorkommen, daß ein Kind bei einer Untersuchung gerade krank ist und dadurch schlechte Ergebnisse hat; auch ein hoher Grad von Mißstimmung oder z. B. von Unterernährung kann in dieser Weise wirken. Darum scheint es in der Tat angebracht, daß man, wo irgend möglich, solche Untersuchungen nicht ein einziges Mal macht, sondern sie mindestens zwei-, am besten dreimal wiederholt. In den Schulen z. B. müßten nicht erst am Abschluß einmalige Versuche gemacht werden, sondern in den letzten zwei oder drei Schuljahren wiederholte, so daß man zugleich sehen könnte, ob die gleichen Anlagen sich jedesmal in gleicher Weise zeigen. Aber wenn die Methoden gut aus- gebildet werden, dann zeigt sich, daß im ganzen wirklich scharf ausgebildete Anlagen nicht gar zu sehr in den Ergebnissen von einander abweichen, wenn man sie mehrfach prüft. Ich konnte z. B. feststellen lassen, daß bei den Schall meß-Trupps die Geschwindigkeit, mit der die einzelnen Menschen auf Reize antworten, selbst in der Reihe von Monaten keine sehr großen Ver- änderungen durchmacht und daß 'nur bei ganz bedeutenden Einwirkungen von außen oder innen wesentliche Verschiebungen stattfinden. Durch vor- herige Erhebungen und Befragungen wird man in jedem Einzelfalle fest- zustellen haben, ob am Tage der Untersuchung eine solche wesentliche

332 Max Brahn

Störung vorliegt. Außerdem erfordert auch das Leben, daß man bis zu einem hohen Maße imstande ist, selbst unter nicht besonders günstigen Ver- hältnissen Arbeiten zu leisten; ja, es gibt Berufe, in denen es darauf außer- ordentlich ankommt. Jedenfalls ist eine grundsätzliche Schwierigkeit, die zu einer Ablehnung dieser Methoden führen könnte, hier nicht zu finden. Denn Wiederholung ist ja stets möglich.

Ebensowenig kann man die Versuche ablehnen, weil bei ihnen eine ge- wisse Befangenheit des Prüflings eintritt. Bei einigen hundert Untersuchungen dieser Art ist es mir noch nicht ein einziges Mal begegnet, daß wesentliche Befangenheit sich zeigte. Weder bei unbegabten Schülern der Hilfsschule, noch bei Hochbegabten hat die Befangenheit großen Einfluß ausgeübt. Freilich ist dabei vorausgesetzt, daß der Untersuchende einigermaßen auf den Prüf- ling eingeht und ihn nicht durch harten Ton oder ungeschickte Äußerungen abstößt.

Nun hört man häufig den Einwand, die Anwendung dieser Methoden sei „Rationalismus", sei eine Bevorzugung der bloßen Verstandesbegabung. Wenn man sich unter Ausschaltung aller anderen Erfahrungen über einen Menschen ganz allein auf die Versuchsergebnisse stützt, so begeht man allerdings den Fehler, seine Verstandesanlagen allein als ausschlaggebend anzusehen. Daß im Leben noch ganz andere Eigenschaften wesentlich mitsprechen, liegt so * sehr auf der Hand, daß es wohl als neue Erkenntnis nicht bezeichnet werden kann. Aber es ist sehr wohl berechtigt, Menschen, die nicht zunächst den geistigen Anforderungen entsprechen, die ein Beruf oder die höhere Schule stellt, auszuscheiden, womit nicht gesagt ist, daß jeder, der ihnen entspricht, auch für einen höheren Beruf oder eine höhere Schule geeignet ist. Wohl sind Eigenschaften des Charakters und des Gefühls wichtig, aber sie können die Verstandesanlagen niemals für die Berufe ersetzen, die hier in Frage kommen. Bloße Willensstärke, Fleiß, Sorgsamkeit, Gefühlstiefe geben an sich noch keinen Menschen, der zum Führer des Volkes auf irgendeinem Gebiete sich eignet. Verstandesanlagen allein tun es ebensowenig, sind aber eine Voraussetzung, ohne die jene Übersicht über Dinge nicht zu erreichen ist, die nun einmal die Voraussetzung weitreichenden verantwortlichen Schaffens ist. Niemand, der an den Begabungsuntersuchungen beteiligt ist, würde die Möglichkeit ablehnen, auch Willens- und Gefühlseigenschaflen zu untersuchen, um ein ganzes Bild der Persönlichkeit zu bekommen. Es ist nicht der Rationalismus, der uns vorläufig nur die Verstandeseigenschaften untersuchen läßt, sondern die Unmöglichkeit, den anderen Vorgängen des Seelenlebens mit genauen Methoden bisher beizukommen. Hier wird an der Ergänzung unablässig gearbeitet werden müssen; wie weit man auf diesem Gebiete zum Ziel kommen wird, läßt sich nicht von vornherein sagen. Daraus folgt nur, daß man sich der bisherigen Grenzen bewußt sein muß und daß Schüler, die zwar den Anforderungen des Versuches genügen, nach Ansicht der Lehrer aber moralisch sonst für den Aufstieg nicht geeignet sind, nicht in die höheren Schulen gelassen werden sollen. Und daraus wiederum folgt, daß es drin- gend, ja unerläßhch notwendig ist, sich nicht auf die Versuche allein zu stützen, sondern das Urteil des Lehrers mit heranzuziehen.

Allen denen aber, die sich grundsätzhch gegen diese Versuche wenden, kann man nur die Frage entgegenhalten, was sie denn eigentUch Besseres an deren Stelle zu setzen haben. Nichts weiter wenn ich recht sehe

Besinnliches zur Begabungsprüfung 333

als die Erfahrung des Lehrers und des Lebens, und diese weiden ja seit Urzeiten immer angewandt, ohne daß sie bisher Befriedigendes erreicht haben. Jede Art der Ergänzung der bisherigen praktischen Erfahrungen muß will- kommen geheißen werden. Aber es ist nicht abzusehen, woher denn eigent- lich auf dem Gebiete der Einfühlung und bloßen Beobachtung irgend et^vas Neues kommen soll. Was auf diesem Wege an Erkenntnis gewonnen werden kann, das haben tiefblickende Philosophen und Künstler wie Männer des praktischen Lebens seit Jahrtausenden zusammengesucht und uns kundgetan. Die Verfeinerung unseres gesamten wirtschaftlichen und geistigen Lebens hat dazu geführt, daß gerade die erfahrenen Praktiker, nicht zufrieden mit dem, was ihnen gewöhnliche Erfahrung gibt, nach irgendwelchen genaueren Methoden suchen und sich an uns wenden in einer solchen Fülle und immer von neuem wieder, daß ich stets erstaunt bin zu sehen, wie stark das Be- dürfnis nach feinerer Auswahl der Menschen und wie schwach die Fähigkeit ist, dasselbe mit den bisherigen Mitteln zu befriedigen. Darum sollte sieh niemand von der bloßen Theorie her grundsätzlich gegen diese Untersuchungen wenden, sondern er sollte ins Leben herausgehen und dort sehen, wie not- wendig irgend etwas Neues auf diesem Gebiete ist, und unter Zurückweisung von Voreiligkeiten mitarbeiten daran, irgend etwas Neues zu schaffen. Wenn die amerikanische Industrie auf derartige Untersuchungen ungeheuere Summen ausgibt, wenn bei uns immer mehr sich die Überzeugung Bahn bricht, daß auch wir eine feinere Menschenauswahl treffen müssen, so werden alle diese rein theoretischen Einwendungen höchstens Verwirrung schaffen, aber sie werden den Lauf der Dinge nicht aufzuhalten vermögen. Haben sie etwas Neues und Gutes an Stelle des unvollkommenen Alten zu setzen, so mögen sie damit heraustreten und schaffende Arbeit leisten. Sonst mögen sie wohl Kritik an Voreiligkeiten, an Einzelheiten üben, wozu aber nötig ist, daß sie sich eine genügende Kenntnis der Dinge verschaffen; sonst aber wird ihre Kritik wertlos sein, weil sie etwas bloß Verneinendes ist. Wir aber brauchen neue schaffende Arbeit auf allen Gebieten. «

Darum ist es eine wichtige Aufgabe unserer Regierungen, sich dieser Dinge anzunehmen und dafür zu sorgen, daß Mittel und geeignete Menschen bereit gestellt werden, um endlich einmal mit Kritik in großem Umfange alle diese Fragen grundlegend zu behandeln. Die Ministerien für den Unterricht müßten sich ebenso stark daran beteihgen, wie die neugegründeten Arbeits- und Wohlfahrtsministerien. Eine Konferenz von Männern der Schule, des in- dustriellen Lebens und von erfahrenen Pädagogen müßte die Formen fest- stellen, in denen über ganz Deutschland ein Netz solcher Arbeit zu werfen ist. Dann würden wir sicher in wenigen Jahren Fortschritte zu verzeichnen haben, denen gegenüber alle nur verneinende Kritik in kurzer Zeit ver- stumnjen würde.

334 Aloys Fischer

Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden im Dienst von Erziehung und Unterricht.

Von Aloys Fischer.

1.

Die Untersuchung der Sprach ent Wicklung im individuellen Leben ist eine Aufgabe von größter wissenschaftlicher Bedeutung; sie liefert nicht nur dem Linguisten Anhaltspunkte, um die Entstehung und Entwicklung der Sprachen und der Sprache überhaupt zu deuten, sie ist vor allem eine Fund- grube für den Seelenforscher und den Pädagogen. Es ist bekannt, daß das höhere Geistesleben in weiter Ausdehnung an Sprechen und Sprache ge- bunden ist; der Geistesaustausch zwischen den Individuen einer Gesellschaft vollzieht sich überwiegend auf sprachlichem Wege; das Maß der Teilnahme an dem gemeinsamen geistigen Besitz eines Volkes hängt mit von der Ent- wicklung des Sprachverständnisses, der Höhe des Sprachbewußtseins ab, die Rückwirkung auf die Anderen, die Überlieferung und Fortbildung des geistigen Erbgutes von den sprachschöpferischen Fähigkeiten.

Diese Einsichten sind wohl allgemein verbreitet, aber eine wichtige Kon- sequenz derselben hat noch nicht die ihr gebührende Beachtung gefunden. So gewiß sich die individuelle Sprachentwicklung nur in der Wechselwirkung des aufwachsenden Menschen mit seiner Umgebung vollzieht, so wenig ist doch die Mitwirkung des Sprechenlernenden am Spracherwerb zu übersehen, und so wenig darf man voraussetzen, daß die Verwendung einer Vokabel, Redensart oder Sprachform in jedem Fall den geistigen Besitz der usuell damit verbundenen Bedeutung oder darin liegenden logischen Beziehung ge- währleistet. Sprache ist immer individuelle Sprache; oft, vielleicht in den meisten Fällen führt die Sprachentwicklung bei den Individuen einer Gesell- schaft zur inhaltlichen Gleichheit der in der Sprache eingeschlossenen Bedeu- tungen und geistigen Funktionen; aber ebenso gewiß ist, daß dieses Ziel vielfach gar nicht, oft nur hinsichtlich eines Teiles des Sprachbesitzes, bei- nahe immer in verschiedenem Tempo erreicht wird. Wenn Sprache nur als individuelle real ist, und als solche von der jedes anderen Individuums in dieser oder jener Hinsicht abw^eichen kann, und wenn Sprache (wie oben voraus- gesetzt) Kleid und Symbol des geistigen Wesens ist, dann ist die Erforschung der individuellen Sprache eine gi'undlegende Aufgabe jener Psychologie, die als Individualitätenforschung den größten Wert wie den größten Reiz besitzt. Die unersetzliche Bedeutung der echten Philologie als eines Teiles der all- gemeinen Kulturforschung besteht eben in dieser Erkenntnis der Sprache als des Schlüssels zum Verständnis der Individualitäten, auch der Volksindivi- dualitäten. Und wenn auch die Allgemeinheit der Menschen geläirfig die „Sprache Goethes" oder die „Sprache Ulilands" hervorhebt, so bekennt sie sich zur gleichen Auffassung; Sprache ist ihr dabei Ausdruck und Symbol des geistigen Wesens, der Persönlichkeiten Goethes und Uhlands.

Es wäre ein kurzsichtiger Intum, zu glauben, daß die Sprache etwa nur bei Dichtern, Schriftstellern und ähnlichen Persönhchkeiten, die vorzugsweise in der Sprache sich ausgelebt haben, den Wert eines psychologischen Quellen- materials besitze, bei anderen Menschen nicht. Ist die Sprache in einem Fall

Sprach psychologische Untersuchungsmethoden 335

ein Seelendeuter, so ist sie es überhaupt, und die arme, verstümmelte, teil- weise flexionslose Sprache des geistig Zurückgebliebenen, sein Wortschatz und seine Lieblingswendungen sind für ihn und seinen Geisteszustand ebenso gültige Belege wie der Stil Goethes für Goethe.

Die psychologische Individualitätsforschung muß aber Ernst machen mit dem Studium der individuellen Sprache; ein ungefährer Eindruck von der Sprechweise, der mündlichen und schriftlichen Ausdrucksbreite einer Person genügt natürlich nicht, um daraus Schlüsse zu ziehen; die feinsten Eigentümlich- keiten und Abweichungen von der Norm der Umgebung müssen erfaßt werden, die Deskription der Sprachentwicklung muß systematisch, vollständig und so weit als möglich genetisch, wenigstens unter Berücksichtigung der wesentlichen Einflüsse, durchgeführt werden, die nachweisbar an der Gestaltung einer be- stimmten individuellen Sprache mitgearbeitet haben.

Ich möchte das Gesagte einmal am konkreten Beispiel verdeutlichen. Wenn ich nur weiß, daß mein Dienstmädchen das Wort „Delikatesse** kennt und vei"wendet, so könnte ich mich leicht zu dem Glauben verleiten lassen, daß es dieses Wort in genau dem^gleichen Sinn verwendet wie ich; mit der gleichen Einsicht in seine Herkunft wie der fremdsprachlich Gebildete. Wenn ich aber herausbringe, daß es dieses Wort: „Delikat Essen" ausspricht und auch so ableitet, so ist mir diese Abweichung von dem Sinn und der Heiieitung, in der ich dieses Wort verstehe und verwende, viel wertvoller, aufschlußreicher. Und wenn dasselbe Mädchen konsequent „grafentätisch" im Sinne von „gravitätisch", „Kindermatograph" im Sinne von Kinematograph gebraucht, so wird mir klar, A\äe, in welcher Weise es sich Fremdworte an- eignet und zurechtleg-t : Klangähnlichkeiten lassen es an ein ihr völlig bekanntes und geläufiges Wort denken; mit diesem' wird das Fremdwort ganz oder teil- weise kontaminiert; dabei wird der Bestandteil, der dem bekannten Wort klangähnlich ist, als bedeutungsverleihender verwendet. Die Probe aufs Exempel müssen jene Fälle liefern, in denen diese Art der Aneignung von Fremdwörtern zu einem Sinn führt, der von der eigenthchen Bedeutung ver- schieden, ihr vielleicht sogar entgegengesetzt ist. Natürlich ist der geschilderte Vorgang zunächst noch nicht individuell charakteristisch ; er ist ein Fall einer Gesetzmäßigkeit der VolksetjTnologie. Aber wenn ich nun weiter beobachte, wenn ich den Wortschatz des Dienstmädchens, die Unterschiede desselben in der mündlichen Rede und in allem Geschriebenen (Briefen, Haushaltbüchern), den durchschnittlichen Satzumfang, Formfehler und Formrichtigkeiten fest- stelle, die Grenze des Verständnisses für gehörte (gelesene) Sprache usw., so individualisiere ich immer stärker; und schließlich gewinne ich, lediglich durch die Aufnahme der Sprachdeutungen, einen sehr genauen Einblick in die Vor- stellungswelt, die richtigen, halbfalschen, falschen, klaren, verworrenen Be- griffe, in das Bild, das es sich von der Welt macht, in die Lücken, die es hat (verglichen sei es mit meinem eigenen Weltbild, sei es mit einem als „normal* vorausgesetzten Weltbild) ; ich gewinneEinblick in die form.aleArt seinerGedanken- bewegung, Gedankenverknüpfung, in den Mechanismus der logischenFunktionen; ja ich kann sichere Schlüsse ziehen auf die Hintergedanken und Hintergründe ihres seelischen Lebens, die ich mit anderen psychologischen Hilfsmitteln gar nicht oder nur nach langen Untersuchungen erhoffen kann.

Es scheint mir eine sehr wichtige und vordringliche Aufgabe der Metho- dologie der Individualitiitsforsr^hung zu sein, einmal die Fragen und Grund-

336 Aloys Fischer

Sätze zu präzisieren, nach denen die Aufnahme und Interpretation der indi- viduellen Sprache zu erfolgen hat. Ich darf nicht den Anspruch erheben, in dieser Frage schon klar zu Ende zu sehen ; was ich im folgenden an metho- dischen Vorschlägen entwickle, bitte ich deshalb nur als Vorarbeit gelten lassen zu wollen. Auch die methodologischen Winke der psychanalytischen Schule, die sehr wertvolle Momente enthüllen, reichen noch nicht hin, das ganze Gebiet der individuellen Sprache dem Psychologen zu erschließen.

Steht die Bedeutung des Studiums der individuellen Sprache für den Psycho- logen fest, so ist damit auch ein gutes Stück ihrer pädagogischen Bedeutung schon erwiesen. Erziehung ist in jedem Falle auch seelische Formung; diese setzt voraus, daß man den psychischen Zustand, in den eingegriffen werden soll, kennt, daß man fähig ist, seine allmähliche Veränderung zu beobachten, daß man ein Bild von dem erstrebten Endzustand besitzt und mit den Phasen des der Erziehung unterworfenen Individuums vergleichen kann. Zu all diesen Leistungen ist aber die Deutung der Sprache Hilfsmittel. Dazu kommt ein zweites: Sprache und Sprachleben sind selbst Unterrichts- und Erziehungs- gebiete. Wir müssen wünschen, daß des» erzogene und gebildete Mensch auch in seiner Sprache und Sprechweise als solcher kenntUch sei, und wir wissen, daß Sprachgewöhnungen unterrichtlicher und erziehlicher Beeinflussung zugänglich sind. Die Didaktik des Sprachunterrichts ruht also in doppeltem Sinn auf der Psychologie und Psychogenesis der Sprache. Sprache und Schrift- tum bilden endlich in Unterricht und Erziehung eines der Hauptmittel, man darf sagen, das einzige allen Kindern zugängliche Mittel, um am geistigen Leben des Volkes teilzunehmen. Auch aus diesem Grunde muß die Beschäf- tigung mit Sprechen und Sprache pädagogisch hoch gewertet werden.

Mit Sprechen und Sprache, mit Sprachen kann man sich nun in verschie- dener Absicht beschäftigen ; je nach dem Gesichtspunkt, den man hauptsäch- lich verfolgt, sind immer andere Seiten wichtig und wechseln die Methoden. Ich möchte im folgenden ausschließlich solche Verfahren charakterisieren, durch die sich Lehrer und Erzieher (und alle, die deren Amt verwalten) be- fähigen, über den Stand der sprachlichen Entwicklung eines einzelnen Kindes sich zu orientieren und aus der Sprache des Kindes alle Schlüsse zu ziehen, die auf das geistige Leben gezogen werden dürfen. Damit ist gesagt, daß der individualpsychologische Gesichtspunkt allein für die Auswahl maßgebend ist, und daß die Methoden in zwei Gruppen zerfallen, in solche der Erhebung des Sprachbestandes an sich und solche der Deutung desselben, der Auswertung für die Erkenntnis anderer, nicht mehr sprachlicher Züge der Individualität.

2.

Die Frage, wie man sich über den Sprachbesitz und die sprachlichen Fähig- keiten einen Überblick verschaffen kann, hängt von der Beantwortung einer Vorfrage ab, von der Überlegung nämUch, was man an der Sprache eigent- lich erfassen will. Zugleich muß berücksichtigt werden, welches Alter das Kind besitzt, dessen Sprache „erhoben" werden soll. Ich bemerke nun, daß ich von den Problemen der Lautentwicklung, ebenso von den Vorstufen der Sprachentwicklung vollständig absehe, von Schrei, Lallmonolog, Schall- nachahmung, von den Etappen der Entdeckung der Zeichenfunktion der Sprach- laute, vom Erwerb der ersten Wortbedeutungen und den Anfängen des echten Sprachverständnisses wie des ersten aktiven Sprechens. Der grundlegende

Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden 337

Spracherwerb der ersten 2 3 Lebensjahre ist uns heute sehr gut bekannt^). Die Sprache des Kindes der sozial gehobenen Stände kann als ziemlich voll- ständig erforscht gelten, die offenen Fragen, die es auf ihrem Gebiete noch gibt, berühren vorzugsweise das theoretische Interesse, für die Sprachpädagogik des Elternhauses besitzen wir alle erforderlichen Grundlagen. Der kindliche Sprach- erwerb in den einfachen und niederen Ständen ist zwar weniger vollständig bekannt, aber die vorhandenen Grundlagen und Methoden dürfen als aus- reichend gelten, wenn sich die Kräfte finden, die mit ihnen das erforderliche Massenmaterial beschaffen wollen. Weshalb ich hier die Darstellung der drei ersten Lebensjahre ausschließe, das hängt mit meiner auf die öffentliche Erziehung gerichteten Endabsicht zusammen. Die Sprachentwicklung soll erst von dem Zeitpunkt an ins Auge gefaßt werden, in dem die früheste außer- häusliche Beeinflussung der Kinder, der Kindergarten beginnen kann. So- weit die öffentliche Säuglingspflege in Findeihäusern, Säuglingsheimen, Be- ratungsstellen und in der Hauspflege Kenntnisse des Sprachmaterials und der Methoden zu ihrer Erforschung nicht entbehren kann, glaube ich allen Be- dürfnissen durch die vorhandene Literatur genügt.

Denken wir also an das Kind im Spiel- und Schulalter, auf den Stufen der höheren Schule und an die sogenannte reifere Jugend, so können wir die Frage, was wir an sei nerSprache und Sprachentwicklung erforschen wollen, mit folgenden Problemgebieten beantworten: Wir wollen Einsicht 1. in den Wortschatz und sein Wachstum, 2. in die Struktur des Sprachbaues, also in die Grammatik, Formenlehre und Syntax dieser werdenden Sprache, 3. in das werdende Verhältnis der Kinder und Jugendlichen zu den Daseins weisen der Sprache (als geschriebener, gedruckter, gehörter, gesprochener usw.), also insbesondere die Differenzen zwischen Sprechsprache und schriftlichem Aus- druck, zwischen Sprachverständnis (im Hören und Lesen) und aktivem Selbst- sprechen, 4. in die Anfänge des persönlichen Gepräges in der Sprache, insbe- sondere des schriftlichen Ausdrucks, des Stiles, 5. in die Faktoren, welche auf die Sprachentwicklung Einfluß üben, und in ihre relative Dynamik.

Natürlich zerlegt sich jeder dieser Problemkreise in eine mehr oder minder gi'oße Zahl von Einzelfragen, die später dargelegt werden. So z. B. wird man über die Verbindung der Hauptsätze in der zusammenhängenden Rede wie im Aufsatz ganz sicher gesonderte Beobachtungen und Erhebungen machen können und müssen, ebenso über die Entwicklung des Verständnisses und des Gebrauches von Nebensätzen. Gerade für den Einblick in die Genesis der Gedankenbildung ist diese Erforschung der sozusagen logischen Gelenke des Sprachkörpers von größter Bedeutung, Aber man darf die sprachpsycho- logische Untersuchung trotz der methodischen Arbeitsteilung nicht in Einzel- fragen zerfallen lassen; deshalb habeich hier die Problemgruppen vorangestellt.

Auch die Methoden der Erhebung nehmen an dieser Zweiteilung zwischen Allgemeinen und Speziellen teil; wir müssen Methoden ziu- Gewinnung von Dokumenten der Sprachentwicklung überhaupt unterscheiden von solchen, die zur Lösung eines konkreten Einzelproblems eigens ausgedacht sind. Die ersten liefern uns die größere Menge des Materials, helfen uns, die wirkliche Sprache zu erfassen, die letzteren gewähren uns intimere Einblicke in Einzel-

') Die reiche Literatur über die Spracbaniän^e des Kindes besitzt namentlich in Deutschland vorzügliche Zusammenfassungen.

Zeitsclirift f. pädagog. Psychologie. 22

338 Aloys Fischer

heiteii, müssen aber dafür mit den Gefahren einer Verkünstelung der Sprache durch die Bedingungen des Versuches und der Erhebung rechnen.

Ich gUedere die Darstellung so, daß ich mit den allgemeinen Methoden be- ginne, dann die speziellen Methoden m i t den Problemen, denen sie zugeordnet sind, folgen lasse, und mit den allgemeinen Gesichtspunkten der wissenschaft- lichen Deutung und Verwertung des gesamten Materials abschließe.

3.

Allgemeine Methoden zur Gewinnung von Dokumenten der Sprach -

entwicklung bei Kindern und Jugendlichen.

Sieht man von jeder Rücksicht auf eine Spezialfrage der Sprachentwicklungs- psychologie ab, will man allgemeine Grundlagen für die Charakterisierung der Sprache von Kindheit und Jugend gewinnen, so muß man sich bewußt bleiben, daß direkt und unmittelbar jeweils nur die Sprache einzelne)- Kinder, die Sprache von Kinderindividuen, erfaßt werden kann. Alle Aufzeichnungen müssen demnach genau und vollständig das Alter des Kindes, seine Her- kunft, eine Charakteristik des Sprachgebrauches seiner Umgebung, die Umstände der Erhebung mitverzeichnen. An allgemeinen Methoden stehen uns dann zur Verfügung:

1. Das Protokoll des Lebensgespräches. Dabei ist zu unterscheideji das Gespräch des Kindes und Jugendlichen mit einem Erwachsenen von dem Gespräch mit kindlichen und jugendlichen Altersgenossen; ebenso zu unter- scheiden, ob die Aufzeichnung unmittelbar nach dem Gespräch stattfindet oder als Niederschrift eines absichthch oder zufällig belauschten Gespräches während des Gespräclies selbst erfolgt, wie im Kammerstenogramm. Damit das Protokoll auch für dritte benutzbar ist, müssen alle Umstände des Ge- spräches dazu notiert werden.

Die Niederschrift selbst muß den Anteil aller am Gespräch beteiligten Per- sonen im genauen Wortlaut festhalten.

Gerade diese Forderung ist schwer erfüllbar, und darum äußerst selten er- füllt. Die Mehrzahl der Aufzeichnungen begnügte sich damit, das Auffällige zu notieren, fast alle ließen die Gesprächsteile, die erwachsene Personen beisteuern, unbeachtet. Es ist verständlich, daß so verfahren wurde und wird; man will ja doch Dokumente der Kindersprache, glaubt also bei der Proto- kolUerung auch nur zur Niederschrift der Kindesäußerung verpflichtet zu sein. Man übersieht dabei vollständig, wie stark die kindliche Ausdrucksweise durch die erwachsenen Mitunterredner beeinflußt wird, wie viele vom Erwachsenen als solche gar nicht mehr gespürte Hilfen es dem Munde desselben entnimmt. Es existieren einzelne Aufzeichnungen in der Literatur, nach denen 4- und 5jährige Kinder über einen Wortschatz, eine Ausdrucksgeläufigkeit verfügen, die so außerordentlich sind, daß bei mir dei- Verdacht sich regt, ob es sich nicht um einfache gesprächsweise Übernahme von erwachsenen Partnern handelt, um jenes momentan aufblitzende und mit dem Moment wieder erlöschende Halbverständnis, das jeder aus der Erfahrung kennt und das doch niemand als auffallende Kindeileistung bezeichnen würde; ohne diesen Hintergrund der erwachsenen Mithilfe muß sie jedoch notwendig als solche erscheinen.

Wenn das Protokoll des Lebensgespräches" allen diesen Ansprüchen genügt, dann stellt es die beste Materialquelle für das Studium der Sprech spräche von

Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden 339

Kindern und Jugendliehen dar: es übertrifft alles an Lebensnähe, denn es fixiert einfach einen Ausschnitt aus dem Leben selbst.

Die Technik der Protokollierung muß freilich erlernt sein; die Beherrschung einer Stenographie ist unerläßlich, die größte Gewissenhaftigkeit bei nach- ti'äglicher Niederschrift Pflicht; es muß alles Unsichere, vom Gedächtnis nicht genau Festgehaltene als solches gekennzeichnet werden; es muß jede Deutung als vom Erwachsenen vollzogene notiert sein. Manchmal wird der Führer des Protokolls auf Deutungen nicht verzichten können, weil nur er aus der Anschauung der konkreten Situation die Bedeutung zu erraten ver- mag; aber auch noch so unentbehrliche Deutungen müssen als solche be- zeichnet und belegt werden.

Zur Aufnahme von Lebensgesprächen haben Eltern, Kindergärtnerinnen, Hortkräfte und Lehrer eine abnehmende Menge von Gelegenheiten; wertvoll wird namentlich das zufällig erlauschte Gespräch von Kindern und Jugend- lichen unter sich sein, auch wenn wir nicht allzu viele davon haben und haben werden, die meisten überdies nur in nachträglicher Niederschrift festgehalten werden können.

Weniger natürlich, weil schon durch den Erwachsenen provoziert und in jedem Fall sowohl durch seine Art der Frage wie durch die im Kinde und Jugendüchen gleich wirksam werdende Rücksicht auf ihn beeinflußt, ist nun

2. das Protokoll eines abgeforderten Berichtes über ein Erlebnis, einen Eindruck, eine Person oder Sache, eine eigene Handlung und Unter- lassung.

Der Veranstalter läßt sich „erzählen"; natürhch leitet er ein, gibt zu mindest den Anstoß, hütet sich aber ängstlich zu suggerieren und zu helfen. Frei- lich sind die Hilfen, die ein Kind namentlich benutzt, oft so fein, daß der Erwachsene selbst sie nicht bemerkt; jeder Lehrer weiß, daß ein Kind in der Schule unter den Augen des Lehrers mehr leistet als zu Hause; die ganze Schulatmosphäre hilft mit; das Kind hest aus den Zügen des Ei-wachsenen ab. ob es recht oder falsch arbeitet, wie es weiter fortfahren soll. Uns Erwachsenen geht es noch ähnlich; außer Zusammenhang mit Raum und Stimmung ver- mögen auch wir oft nur schlechter zu arbeiten. Hier liegen noch unerforschte Grundlagen der assoziativ-reproduktiven und besonders der produktiven Seelen- tätigkeit vor.

Auch der umgekehrte Fall ist möglich: die Aufforderung, etwas zu er- zählen, kann das Kind verwirren, ja geradezu zum Sprechen unfähig machen. Natürlich leidet in solchen Fällen der Ausdruck erheblich; wir erhalten höchstens eine durch Befangenheit und innere Hemmung getrübte, durch die Rücksicht auf die erwachsene Autoritätsperson mitbestimmte Leistung.

AUe diese Umstände sind in erhöhtem Maße bei dem vom Lehrer in der Schule abgeforderten mündlichen Bericht (und mutatis mutandis auch schrifl- Uchen) Bericht zu bedenken.

Auf der anderen Seite hat der abgeforderte Bericht seine besonderen Vor- züge. Er ist eine ergiebige, leicht anwendbare Methode, läßt sich unschwer zu Massenversuchen verwenden, und wenn uns der Gegenstand bzw. Sach- verhalt genau bekannt ist, auf den er sich bezieht, vermögen wir gerade aus ihm die Prägnanz und Treffsicherheit bzw. Vagheit des Ausdrucks zu erfassen.

Die Protokollierung des abgeforderten Berichtes kann in zweifacher Weise erfolgen: entweder wird der Bericht unmittelbar nach seiner Erstattung nieder-

22*

340 Aloys Fischer

geschrieben, mit allen Umständen, Fragen und Hilfen, oder er wird von einer dritten Person unauffällig mitgeschrieben. In diesem Fall ist natürlich pein- lichst für die Unwissentlichkeit Sorge zu tragen. Wo es möglich ist, hat das unwissentliche Zwei-Männer- Verfahren natürlich große Vorteile.

Ist das Protokoll des Berichtes aufgenommen, so hat sogleich die Nachtrags- arbeit zu beginnen; die Feststellungen über Richtigkeit und Falschheit, VoD- ständigkeit und Unvollständigkeit des Berichtes müssen sofort gemacht werden ; vom Standpunkt der Ergiebigkeit für die Sprachentwicklungs psychologie muß aber vor allem notiert werden, was über Tonfall und Modulation, Sprachtempo und erläuternde bzw. begleitende Geste beobachtet wurde. Es ist unzweifel- haft auf der Stufe desKindesund vielfach auch noch bei den Jugend- lichen das sprachliche Moment nur Teil eines Gesamtausdruckes, ohne andere Komponenten oft nicht einmal verständlich, meistens nicht prägnant.

Zur Bezeichnung der Tonstufen, der Tempi und Pausen kann man sich die von den Sprachforschern, besonders den Phonetikern und Germanisten aus- gebildeten Zeichen zurechtlegen; die Schreibung der Dialekte wird außerdem noch auf das KindUch- Mundartliche achten müssen, für die Gesten ist ein Schema der Bezeichnung schwer möglich. Soweit die unwissentliche Photo- graphie verwendet werden kann, ist sie zu benützen.

Eine kurze Gesamtcharakteristik des sprechenden Kindes (wie es sich hält, dreht und wendet beim Sprechen usw.) ist als Abschluß der Aufnahme nach- zutragen; der Eindruck, den der Erwachsene gewinnt, ist ein Fingerzeig für die nachträgliche Synthesis der protokollierten Einzelheiten durch dritte wissen- schaftUche Bearbeiter.

Zu den künstlicheren, damit einerseits stärker von der unre flektierten Sprach- norm abgebogenen, anderseits eindeutigeren Methoden gehen wir über mit

3. dem Protokoll der geforderten Nacherzählung.

Die kindhche und jugendliche Leistung der Wiederholung bzw. Wiedergabe eines Redezusammenhangs ist sehr komplex ; hier kommt sie lediglich als Beleg für den Stand der Sprachentwicklung in Betracht.

Die Durchführung des scheinbar einfachen Versuches ist sehr selten richtig geschehen ; für gewöhnlich wird schon übersehen, denWortlautdesOriginal- textes zu fixieren. Das ist unbedingt erforderlich. Ob er dann vom V.-L. memoriert und wie eine eigene Rede gesagt oder formell vorgelesen wird, ist ein bedeutungsvoller Unterschied in der Durchführung, der notiert werden muß. Jedenfalls muß aber der Wortlaut selbst in einer den nachträglichen Zwe":l und die allmähliche gedächtnismäßige Umbildung ausschließenden Weise fixiert sein.

Der fixierte Originaltext darf ferner seinem sachlichen Inhalt, seiner Be- deutung nach der Auffassung und dem Verständnis keine Schwierigkeiten bieten. Tut er es, so ist er wohl geeignet zur Analyse des Denkens und der Kritik von Gedanken, aber nicht für sprachpsychologische Arb eiten. Der Text muß so sein, daß der sachliche Inhalt in jedem Falle aufgefaßt, verstanden wird; denn was wir wissen wollen, ist nur dies: wie wirkte ein Text auf den Versuch des Kindes und Jugendlichen ein, den im Text behandelten Sachzu- sammenhang selbst nochmal auszudrücken?

Damit ist zugleich ein drittes Anfordernis an den Text klar geworden: er muß im ganzen den Umfang des unmittelbar Behaltbaren überschreiten, je nach der Altersstufe erhebUch überschreiten. Täte er dies nicht, so bestünde

Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden 341

Gefahr, daß an Stelle eines eigenen Formulierungsversuches die glatte Re- produktion des Originaltextes erfolgt. Der Text muß so lang sein, daß ein wörtliches Behalten auf Grund einmaligen Hörens ausgeschlossen ist.

Ich möchte in meinen Forderungen noch einen Schritt weiter gehen: der Aufbau des Textes aus Sätzen muß gleichfalls auf die Spanne des sprachlichen AuffassuDgsumfangs Rücksicht nehmen; es müssen auch die Teile in der Länge wechseln, teilweise über die Spanne des unmittelbaren Gedächtnisses hinaus- gehen; sonst besteht die Gefahr der wörtlichen Reproduktion von Teilen.

Man darf von einem Text zur Prüfung sprachlicher Fähigkeiten nicht ver- langen, was ein solcher für andere Zwecke an sich tragen müßte. Die Nach- erzählung an sich können wir auch benutzen, um das Verständnis, die Unter- scheidungsfähigkeit für Wesentliches und Nebensächliches zu prüfen; selbst- verständlich müßten dafür die Texte anders gewählt und gestaltet werden. Man hat nun bei derartigen Versuchen der Nacherzählung meist den Fehler des „Zuviel auf einmal* begangen, Texte gewählt, die schon dem Verstäftdnis Schwierigkeiten bereiteten oder in jedem Sinn zu umfangreich waren, um überhaupt auch nur im allgemeinen Aufbau behalten zu werden. Die Aus- wertung solcher Versuche für sprachpsychologische Probleme ist natürhch kaum möghch. Das Experiment, die künstliche Methode muß spezialisieren; hier sind nur d i e Gesichtspunkte hervorgehoben, die für die Nacherzählung als Hilfsmittel zur Untersuchung sprachlicher Kenntnisse und Fähigkeiten gelten.

Das Protokoll über eine abgeforderte Nacherzählung wird sich sachlich oft nicht von einem anderen unlerscheiden, das ich aber doch getrennt als vierte Quelle, Belege für die Sprachentwicklung zu sammeln, hervorheben möchte, ich meine

4. die Wiederholu^ng einer Erzählung mit eigenen Worten. Aus der Praxis der Schule ist allbekannt, daß Kindern und Jugendlichen immer wieder die Aufgabe gestellt wird, das vom Lehrer Erläuterte, in einem Buch Gelesene „mit eigenen Worten" zu wiederholen. Diese Maßnahme verfolgt den Zweck, den Lehrer über den Grad und die Grenze des Verständnisses aufzuklären, den Schüler in eigentätigem Ausdruck sich etwaigen Selbst- täuschungen zu entziehen. Alle derartigen, für die Psychologie des Denkens wertvollen Nebenabsichten scheiden in diesem Zusammenhang aus; die Wieder- holung mit eigenen Worten soll lediglich als Grundlage zu Schlüssen auf die Sprache dienen. Damit dies möghch ist, muß das sachliche Verständnis über allen Zweifel erhaben sein; wir werden also zu Texten greifen müssen, die eher unter als über der Altersreife des Kindes liegen.

Mit der 5. Methode, dem Formulierungsversuch, betreten wir das Ge- biet der nach strengen Anforderungen experimentell ausgestalteten Erhe- bung. Der Grundgedanke der Formulierungsversuche besteht darin, den Kindern und Jugendlichen die sachlichen Elemente eines Gedankens zu geben \e nachdem in Stichworten, fragmentierten Sätzen, Bildern usw. und von ihnen die Formulierung des Gedankens zu verlangen, nichts als dies, daß sie den Gedanken, den Sachverhalt sprachhch ausdrücken.

Der Formuherungsversuch ist das grundlegende sprachpsychologische Ex- periment in pädagogischem Zusammenhang; jede Aussage, jeder Aufsatz stellt auch einen solchen dar. Für die wissenschaftlichen Zwecke muß er gleich- wohl erst methodisiert werden, und wir werden bei dem Cberbhck über die speziellen Methoden viele Varianten kennen lernen. Hier sollte er nur als

342 Aloys Fischer

eine allgemeine Fundgrube für sprachpsychologisches und sprachpädagogisches Material genannt sein.

Neben diesen ersten fünf Methoden treten solche, bei denen die Sprache der Kinder und Jugendlichen von ihnen selbst aufgezeichnet ist. Dem Pro- tokoll des Lebensgespräches am nächsten stehen 6. Brief und Tagebuch- aufzeichnung der Jugend.

Freilich müssen bei ihrer Verwertung als Denkmäler der Sprache ganz be- hutsame, feine Überlegungen mitsprechen. In erster Linie beruht ihr psycho- logischer Wert auf dem Inhalt. Die sprachliche Form ist bei Briefen und Tagebucheinträgen selten der unreflektierte Ausdruck, wie er im Lebens- gespräch belauscht werden kann. Bei den Briefen schiebt sich die Rücksicht auf den Adressaten, beim Tagebuch die der Jugend (namentlich der Jugend, die Tagebücher schreibt) so geläufige Schriftstellerpose zwischen Erlebnis und Ausdruck, Gedanken und Form. Es gibt nur sehr wenige Kinder und Jugend- liche*und nur sehr wenige Gelegenheiten, die vollständig aufrichtig, unbefangen schreiben, wie sie denken und sprechen. Jeder Brief ist eine Bemühung, das Tagebuch sogar ein „Werk".

Mögen sie aus diesen Gründen nicht mehr die naive, unreflektierte Sprache bieten, so lehren sie uns anderseits die Art des Sprachbewußtseins kennen, die bewußt gebilligten Vorbilder, die Höhe sprachlicher Leistung, bis zu der sich willentliche Konzentration und Besinnung erheben kann.

Außerdem stellt die geschriebene Sprache eine der Existenzweisen der Sprache dar; sie müssen wir ebenso erfassen wie die Sprechsprache ^). Es ist ein äußerst wichtiges Problem, zu finden, wie sich beim einzelnen Menschen Sprechsprache und schriftlicher Ausdruck berühren, fördern, hemmen, beziehungslos neben- einanderstehen. Es gibt prachtvolle Redner, die äußerst mäßige Schriftsteller sind, große Stilkünstler, die kaum sprechen konnten. Es ist wichtig, zu wissen, ob ein Mensch sozusagen seine gewöhnliche normale Einstellung verläßt, so- bald er schreiben muß, ob es ihm völlig einerlei ist, vor Hörern seine Ge- danken zu entwickeln oder mit der Feder in der Hand.

Diese auf der Stufe des Erwachsenen stark fühlbaren Unterschiede haben ihre Vorläufer, ihre Anfänge schon in der Zeit der Kindheit und Jugend. Für manche Kinder hört die Ausdrucksfähigkeit geradezu auf, sobald sie schreiben (nicht sollen, sondern auch nur) wollen, während andere mit einer naiven Selbstgefälligkeit sich gar nicht genug tun können, dritten der Unterschied überhaupt nicht spürbar wird.

Aus Briefen und Tagebüchern werden wir sowohl den Stand der schrift- lichen Ausdrucksfähigkeit wie das Verhältnis zur geschriebenen Sprache selbst erfahren können. Aber die Benutzung dieser Dokumente ist in weitem Maße davon abhängig, daß wir in die Entstehungsweise und En tstehungsumstände der Briefe und Tagebuchaufzeichnungen Einblick erhalten. So wenig ein vom Lehrer diktierter, aus einem Musterbuch abgeschriebener Glückwun schbrief an Vater oder Mutter etwas für die Pietät, Dankbarkeit und Liebe des Kindes beweist, so wenig oder womöglich noch weniger beweist er etwas für seine Beherrschung der schriftlichen Sprachform. Im ersten Fall kann wenigstens

») Das Verhältnis von .Dialekt* und „Schriftform der Sprache* hat aa sich nichts zu tun mit dem Verhältnis zwischen „mündlichem" und „schriftlichem" Ausdruck; man kann auch Dialekt (ichreiben.

Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden 343

eine zufällige Deckung zwischen dem fremden Muster und dem eigenen Ge- fühl des Kindes sein, im zweiten Fall ist es eher wahrscheinlich, daß sich die sprachliche Unfähigkeit und Urteilslosigkeit gerade das ihr unmöglichste Vorbild aussucht. Vielfach aber sind in der Literatur kinderpsychologische Schlüsse aus solchem Material gezogen worden. Nur die reine Kinderleistung, nur die selbständige, du-ekt nicht mehr beeinflußte Kinderschrift hat größten Wert. Damit ist zugleich gesagt, dai3 die ergiebigste Stoff quelle 7. der Schul- aufsatz bzw. der Aufsatz im Zusammenhang mit Schulleben und Unterricht auch noch Belege für die Sprachentwicklung bietet, aber die größte Behut- samkeit in der Deutung und Benutzung verlangt.

Was ist alles aus Aufsätzen der Kinder und Schüler schon herausgelesen worden! Oft sind die gröbsten Unterschiede zwischen der fast wörtlichen Übernahme eines Musteraufsatzes und einer völlig freien Niederschrift ignoriert worden, beinahe immer blieben die entfernteren Einflüsse der schulischen Vorbereitung, der Lehrerpersönlichkeit, ihrer Sprache und ihres literarischen Geschmacks ungefaßt und unfaßbar außer Betracht; es bedeutete schon viel, als auf den guten Toder meist schlechten) Einfluß der in den Schullesebücheni gesammelten literarischen „Vorbilder" aufmerksam gemacht wurde.

Mag füi" pädagogische Schlußfolgerungen eine derartige Behandlung der Aufsätze weniger gefährlich sein, für ihre Benutzung zu psychologischen Schlüssen ist die peinlichste Unterscheidung zwischen Aufsatz und Aufsatz unerläßlich. Stehen doch Leistungen, deren Schuld oder Verdienst ausschließ- lich dem Kinde zufällt, neben solchen, für die es gar keine Verantwortung trägt, die nicht sein Werk sind, so gewiß seine Feder die Worte niederschrieb, aus denen sie bestehen. Was vom Inhalt und Aufbau der Sätze gilt, ist auch bei der Beurteilung ihrer sprachlichen Seite nicht zu vergessen.

Eine Gruppe der Aufsätze, die nicht nur so genannten, sondern wirkhch so entstandenen freien Aufsätze ij bilden die Überleitung zur letzten Quelle von Dokumenten der Sprachentwicklung, 8. zu den Produkten des freien literarischen Schaffens der Kinder und Jugendlichen.

Die Sammlung von literarischen Erzeugnissen der Jugend ist oft angeregt, durch F. Giese^} bisher im größten Stile wenigstens einmal durchgeführt worden. Alle Probleme sind aber mit dieser Sammlung noch lange nicht gelöst, viel- leicht nicht einmal gestellt; deshalb ist es nicht überflüssig, an dieser Stelle die freie literarische Produktion nochmals hervorzuheben und auf sie als Be- leg für die Sprachentwicklung aufmerksam zu machen.

Von vornherein ist wahrscheinlich, daß nur bei Kindern mit ausgesprochener Sprachbegabung, literarischer Interessenrichtung und in literarisch angeregter Umgebung der literarische Versuch früh, relativ häufig und erfolgreich auf-

1) Unter diesem Gesichtspunkt wären auch die Foi-schungen von Th. Valentiner über die Entwicklung der Phantasie im Lichte freier Aufsätze (Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung Heft 13, Leipzig, Barth) noch auszuweiten bzw. zu ergänzen.

2) Von der Literatur über das dichtende, allgemeiner das schriftstellemde Kind verdienen Her- vorhebung die älteren Werke; Adolf Dyrotf: Über das Seelenleben des Kindes. Bonn 1911, Seite 83 189. Bemard Perez: L'art et la poesie chez l'enfant. Paris 1S88. Sie überlrifft an Gründlichkeit der Fragestellung und namentlich an Reichtum des beigebrachten Materials bei weitem Fritz Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen (Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammellorschung, HeftVII. Leipzig 1914).

34-t Aloys Fischer

tritt; diese Wahrscheinlichkeit ist durch die bisherigen Forschungen auch be- stätigt worden.

FreiUch wird wohl eine größere Anzahl von Kindern Reim- und Dichtversuche machen, aber es geschieht nur gelegentlich oder (wie in den höheren Schulen einzelner Bundesstaaten) auf ausdrückliches Verlangen der Schule; die Ver- suche fallen für die meisten offenbar so wenig befriedigend aus, daß sie keine Fortsetzung erfahren. Es wäre interessant und ist eine noch zu leistende Aufgabe, zu ermitteln, wie viele Kinder und Jugendliche überhaupt keinen Versuch machen, wie viele nur „gelegentlich" dichten, es wenigstens ver- suchen und dann wieder aufgeben, wie viele während längerer Zeit hterarischen Neigungen und Plänen nachgehen, wie viele das nur in der Jugend getan haben, während sie in der Reife und Berufsarbeit nicht nur jeden literarischen Ehrgeiz einbüßen, sondern sogar die Teilnahme am literarischen Schaffen anderer zurücktritt oder verloren geht. Nicht die Prozentzahlen an sich sind das Wissenswerte, sondern der Einblick in die Gründe und bestimmenden Erleb- nisse; Grenzen des Sprachbewußtseins werden uns dabei faßbar.

Auch bei den Kindern und JugendHchen, die „dichten", genauer gesagt, die längere Zeit, nicht selten während der ganzen Schullaufbahn, Ausarbeitungen machen, die ihnen selbst und ihren Kameraden, vielleicht sogar ihrem Lehrer als „Literatur" imponieren, wenigstens als Frühforraen und Anfänge solcher, geht das freie Schaffen sehr oft weder aus sprachkünstlerischer Begabung noch aus dichterischer Problemstellung hervor, sondern entspringt einem allgemeinen Ehrgeiz, einem brennenden Willen, sich zu unterscheiden und auszuzeichnen, der aus Mangel an anderen Gelegenheiten und Möglichkeiten auf das literarische Gebiet verschlagen wird. Das „schwierigere" Gedicht reizt den Ehrgeiz mehr als der „leichtere" Prosaaufsatz, die „erfundene" Erzählung mehr als die durch stoffliche Anhaltspunkte geregelte Beschreibung. Dabei hat natürlich das Kind eine sachverständige Vorstellung weder vom einen noch vom andern, es entnimmt diese Art der Wertschätzung einfach dem (hierin ebenso falschen) Vorbild der Erwachsenen. Weil sie diese „Gedichte" „schwerer" finden als Prosaausarbeitungen, wird der jugendliche Ehrgeiz auch auf sie hingedrängt.

Nur ein kleiner Teil gewinnt allmählich ein innerliches Verhältnis zur Literatur und fühlt sich zur literarischen Produktion gedrängt von dichterischer oder sprachkünstlerischer Problemstellung aus; sie pflegen ihr Talent mit einer gewissen Konsequenz, versuchen sich in immer neuen Aufgaben, studieren Vorbilder, erleben alle Freuden und Enttäuschungen des Schöpfertums, natür- lich in jener Verkleinerung und Gewichtslosigkeit, die für das Jugendleben allgemein charakteristisch ist.

Noch wichtiger, aber zugleich noch schwieriger zu ermitteln als bei Briefen und Aufsätzen sind 9. die Anlässe und Umstände der Entstehung bei Ge- dichten und literarischen Versuchen. Wenn wir z. B. bei einem jungen Gymnasial- schüler feststellen können, daß seine private Lektüre ausschließUch Heine ist, werden uns bestimmte lyrische Gedichte aus seiner Feder vielleicht gar nicht überraschen, die uns ohne solche Kenntnis der stillschweigend wirksamen Muster in ganz anderem Licht erscheinen müßten.

Erforderlich für die Interpretation und Bewertung der Leistung ist auch die Kenntnis der Vorarbeiten, ersten Notizen, des Brouillons, der Skizze, die Kenntnis der Verbesserungen und der Gründe für sie. Aber haben wir schon bei den Werken der großen Literatur nur ausnahmsweise noch die Vorarbeiten,

Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden 345

so pflegt der jugendliche Schriftsteller mit Absicht alles zu vernichten, was er auf dem Weg bis zur Vollendung hinter sich gelassen hat.

Endlich sollte ein literarisches Produkt nur im Zusammenhang mit anderen Sprachzeugnissen seines Urhebers gewürdigt werden. Ohne jede Ahnung seiner Sprechsprache, seines Briefstiles, seiner Schulaufsätze muß der fremde Beurteiler in vielen Fällen zu irriger Einschätzung kommen.

An der literarischen Produktion haben Jugendpsychologie und Pädagogik ein vielfaches Interesse, vor allem an ihrem Inhalt, den seehschen Dimensionen, in denen er sich bewegt. In diesem Zusammenhang ist jedoch von ihnen ausschließlich als Sprachzeugnissen die Rede. Daß sie das auch sind, unter- Uegt keinem Zweifel, ohne daß deshalb hier schon alle Gesichtspunkte klar- gelegt zu werden brauchen, denen die Auswertimg gerecht werden muß.

Das Protokoll des Lebensgespräches, der spontane Bericht, der abgeforderte Bericht, die Wiederholung mit eigenen Worten, der Formulierungsversuch, der Brief, der Aufsatz und der literarische Versuch sind Hilfsmittel, mn uns ganz allgemein Belege über die aktive Seite der Sprache von Kindern und Jugendlichen zu unterrichten, liefern Materialien, aus denen wir auf den Stand seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit schließen können. Wir müssen wo- möglich Belege jeder Art für das einzelne Kind heranziehen und dürfen sicher keine Generahsation über die Sprache der Kinder und der Jugend überhaupt ableiten, die nicht auf alle diese Materialquellen basiert sind.

Über die rezeptive Seite des Sprachbewußtseins, über Sprach auf fassung, Sprachverständnis, Sprachgeschmack und Sprachkritik müssen wir uns teilweise noch auf anderen Wegen informieren. Gewiß zeigen z. B. das Lebensgespräch oder auch die Wiedergabe den Grad des Verständnisses an, aber es ist eine durch die Forschung viel bestätigte Beobachtung, daß das Sprach Verständ- nis an Umfang und Feinheit das aktive Selbstsprechen weit übertrifft; jeder versteht mehr Worte als er selbst gebraucht, Redewendungen und Ver- bindungen, die er nicht anwendet; das Sprachverständnis ent«'ickelt sich auch früher als das aktive Selbstsprechen, anders als das aktive Sprechen. Wenn wir also nm- das im aktiven Ausdruck steckende Sprach Verständnis prüfen, könnten wir dies nicht in seiner ganzen Entwicklung fassen.

Von den Hilfsftiitteln, die uns zur Prüfung des Sprachverständnisses zur Verfügung stehen, und die sich leichter experimentell gestalten lassen, ver- dienen Hervorhebung: 10. Die sprachlichen Auffassungserhebungen.

Meistens sind sie bisher in quantitativer Absicht ausgebaut worden; man wollte den Umfang der Sätze ermitteln, den Kinder dieses oder jenes Alters auf Grund einmaligen Hörens gerade noch behalten können. Nichts hindert jedoch, diese Versuche auch zu quahtativen Feststellungen über Art und Grenze des Verständnisses auszubauen.

Ich erwähne z. B. den einfachsten Versuch dieser Art, der ermittelt, ob ein Kind, das ausschließüch das Patois seiner Gegend gehört hat und nm- Dialekt sprach (also vor dem Schuleintritt), einen hochdeutschen Satz versteht, der inhalthch einem längst verstandenen Dialektsatz ganz genau entspricht. Andere Varianten des Versuches ergeben sich, wenn man einen Gedanken auf ver- schieden sch\sierige Weise ausdrückt, wenn man schließlich Sätze wählt, die ihrem Inhalt und Bau nach sicher über den Horizont des Kindes oder Jugend- lichen hinausgehen. Gerade dabei wird es interessant sein , festzustellen, welche Einzelheiten etwa noch verstanden, wie das übrige geraten, ergänzt,

346 Aloys Fischer, Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden

erfunden, schließlich mißverstanden wird. Wir erhalten in die Psychologie der Mißverständnisse und falschen Auffassungen wertvolle Einblicke.

Der Auffassungsversuch kann auch zum Leseversuch umgeändert werden, bei dem der aufzufassende und zu verstehende Text ohne die Hilfen des lebendig sprechenden Menschen, ohne Unterschied der Betonung dargeboten •\-7ird und die Versuchsperson selbst sich erst (nach Überwindung des mechanischen Teils der Leseschwierigkeit^n) in den Sinn und Zusammen- hang einfühlen muß, bis ihr das Verständnis aufgeht.

Aus der Lesestunde der Kinder wissen wir, daß ein inhaltlich unbekanntes Lesestück viel schlechter gelesen wird als ein vei-wandtes, dessen Inhalt voi* her besprochen wurde, daß isolierte Sätze von einiger Länge zu mehr Ver- lesungen Anlaß geben als Sätze in einem zusammenhängenden Stück, weil die Verständnishilfen hier größere sind, sich allmählich summieren, das ge- lesene Stück schon auf das erstfolgende vordeutet. Alle diese Verhältnisse legen uns den Gedanken nahe, die Methodik der Untersuchung des Sprach- verständnisses in dieser Richtung auszubauen.

11. Die Interpretationvon vorgetragenen oder gelesenen Zusammenhängen ist ein weiteres, freilich unter dem Einfluß von schulischen Hilfen stehendes MitteL Ob die Interpretation so einfach ist, wie bei der Bedeutungserklärung eines "Wortes oder so kompliziert, wie bei der Analyse einer Dichtung, macht innere Unterschiede in der Handhabung der Methode aus, ist aber kein Ein- wand gegen ihre Verwendung zur Prüfung des Sprachverständnisses. Auf frühkindlicher Stufe freilich wird man sich mit der einfachsten Form von Interpretation zufrieden geben z. B. mit einer Reaktion, die zeigt, daß das fragliche Wort, der fragliche Ausdruck ungefähr verstanden ist, mit einem Satz, in dem es richtig verwendet wird. Je länger die Schuleinflüsse wirken, je mehr die Art der Schule ein Interpretieren übt, desto höhere Anforderungen dürfen wir an das in Interpretation auswirkbare Sprachverständnis stellen.

An letzter Stelle dürften 12. statistische Ermittelungen über die Privatlektüre zu nennen sein. Solche liegen schon vielfach vor, in päda- gogischem Interesse gemacht, um Anhaltspunkte zur Bekämpfung der kind- lichen und jugendlichen Neigung zum Schund zu finden, aus psychologischen Gründen, um der Interessenverteilung in der Kinderwelt auf die Spur zu kommen oder um zu ennitteln, ob Kinder lieber selbst lesen oder sich lieber vorlesen lassen, lieber laut oder leise lesen und andere teils wertvolle, teils müßige Fragen zu beantworten. Auch für die Prüfung der rezeptiven Sprach- fähigkeiten kann die Lektüre herangezogen werden. Man denke nur z. B. an den Vergleich zwischen der Höhe des mündlichen und schriftlichen Aus- drucks eines Schülers auf der einen, der Stilhöhe seiner Lieblingslektüre auf der anderen Seite, oder an die Fragen der Beeinflussung der Ausdrucksfähig- keit durch die Lektüre, die man in pädagogischen Kreisen so gern betont, obgleich sie noch niemals mit einwandfreien Methoden und in umfassender Weise zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht worden ist.

Zu allen diesen Quellen, die uns für die Masse, den Durchschnitt zur Ver- fügung stehen, ungleich ergiebig und verschieden zuverlässig, aber zusammen v^ohl iinstande, uns zu belehren, treten nun 13. die Ausnahmefälle der Sprach entwickln ng, sowohl jene an der untersten wie an der obersten Grenze, pathologische Verkümmerung und Unentwickeltheit der sprachlichen Fähigkeiten wie auffallende Frühreife und Sonderbegabung für sprachlichen

Kleine Beiträge und Mitteilungen 347

Ausdruck; es müssen herangezogen werden 14. die Sprachfehler und Sprachdefekte, auch die in der Breite der Norm liegenden, im Laufe der Entwicklung sich bessernden oder durch Unterricht und Übung heilbaren, und 15. stellt das Verhältnis zu fremden Sprachen eine letzte Möghchkeit dar, sich über Sprachbe\\nißtsein und Sprachentwicklungsstand zu informieren. Man denke nur an die psychologisch so ungemein wertvollen Einblicke, die wir bei der Übersetzung aus fremden Sprachen in uns selber tun können, die in den Finessen einer Synonymik stecken, und an die geradezu über- raschende Verschiedenheit unserer Schüler im Hinblick auf die verschiedenen Einzelleistungen des fremdsprachlichen Unterrichts, etwa an den auffallenden Unterschied der Leistung bei der Übersetzung ins Lateinische im Vergleich zur Leistung bei der Version, den wir gerade bei intelligenten, sprachbegabten Schülern nicht selten finden. Sprechen wird nicht rational erlernt, durch ein Mosaik von Regeln und bewußten Anwendungen, sondern durch Einfühlung in den Geist einer Sprache. Und diese Fähigkeit kann noch als Komponente des Sprachbewußtseins und der Sprachbegabung (wenn man von einer solchen reden darf) analysierend herausgehoben werden.

Dieser Überblick soll nichts als zeigen, auf wie vielen und w^ie verschiedenen Wegen man das Studium der individuellen Sprache in Angriff nehmen kann, in Angriff genommen hat. Es ist erklärlich, daß die Forschung nicht immer zu einstimmigen Ergebnissen kam, selbst wenn direkte Fehler und Nachlässig- keiten ihre Arbeit nicht außerdem geschädigt haben. Wenn die Wiederkehr derselben vermieden werden soll; dann muß die Methodik selbst neu durch- dacht und durchgebildet werden. Das kann aber nicht mehr „im allgemeinen" geschehen es gibt für sprachpsychologische Forschung so wenig eine Universal- methode wie für andere Wissenschaftsgebiete sondern nur im Hinblick auf präzis gestellte und scharf abgegrenzte Einzelprobleme. Mit der Darstellung der dafür heute möglichen oder gar schon erprobten Methoden sind wir beim Kern unserer Aufgabe angelangt. Daß sie alle Einzelprobleme gefunden habe, darf die folgende Übersicht nicht behaupten; aber weil mit jedem neuen Problem auch die Methodenfrage neu auftaucht und alle Spezialisierung der Methodik doch von einem allgemeinen Boden erfolgt, durch Fortbildung, Ab- änderung, Anpassung vorher schon gebrauchter ungefährer Verfahren, so war der vorstehende 'Überblick geboten und unvermeidlich. (Fortsetzung folgt.)

Kleine Beiträge und Mitteilungen.

Die Schulforderungen des Deutschen Lehrervereins haben nach den Beschlüssen der 27. Vertreterversammlung am 10., 11. und 12. Juni 1919 nunmehr die folgende Fassung erhalten:

L Wesen und Aufgabe der Schule.

1. Der Volksstaat beruht auf der Erziehung aller Staatsbürger zur höchsten Leistungsfähigkeit und vollen sittlichen Verantwortlichkeit. Die öffentliche Schule muß daher der gesamten Volksjugend die Möglichkeit bieten, alle Anlagen und Kräfte des Körpers und des Geistes auszubilden.

2. Damit dem Bildungserwerb keinerlei Hindemisse und Beeinträchtigungen entgegenstehen, muß die öffentliche Schule eine einheitlich aufgebaute und

348 Kleine Beiträge und Mitteilungen

nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung einheitlich verwaltete Volks- bildungsanstalt sein, deren Zweige und Stufen unter sich eng verbunden sind, 3. Das Berechtigungswesen in seiner heutigen Gestalt ist aufzuheben. Der Zugang zu bestimmten Berufen und Berufsschulen darf nicht vom Besuch bestimmter Schularten und Schulstufen abhängig gemacht werden, sondern muß allen Anwärtern offen stehen, die ihre Eignung durch tatsächhche Leistungen bekunden. Zu den Berufsschulen in diesem Sinne sind auch die Hochschulen zu rechnen.

II. Schulpflicht.

1. Die Schulpflicht beginnt frühestens mit dem vollendeten 6. Lebensjahre und endet mit dem vollendeten 18. Lebensjahre. Mindestens 8 Jahre hindurch ist ihr in Schulen mit vollem Tagesunterricht zu genügen, weiterhin entweder in solchen oder in den für beide Geschlechter verbindlichen Fortbildungs- schulen, die als Erziehungsschulen auf beruflicher Grundlage auszubauen sind.

2. Für Kinder vom vollendeten 3. Lebensjahre an sind öffentliche Kinder- gärten einzurichten, deren Besuch im allgemeinen freiwillig, aber für Kinder, denen eine geordnete häusliche Erziehung nicht zuteil wird, pflichtgemäß ist.

3. Der Erfüllung der Schulpflicht dienen die öffentlichen Bildungsanstalten, 'deren Besuch völlig unentgeltlich ist. Über das schulpfUchtige Alter hinaus

sind vom Staat Bildungsmöglichkeiten zu schaffen.

4. Alle privaten Schulunternehmungen, die die Kinder nach Stand, Ver- mögen und Bekenntnis der Eltern absondern, sind abzulehnen. Nicht- öffentliche Schulen als Ersatz für die Schule der allgemeinen Schulpflicht sind nur ausnahmsweise für besondere Fälle aus ernsten erzieherischen Be- dürfnissen und sachlich zwingenden Gründen zuzulassen. Sie unterstehen wie die öffentlichen Schulen der staatlichen Beaufsichtigung. Privatschulen, die als Ersatz für öffentliche Schulen gelten sollen, dürfen nicht aus öffent- lichen Mitteln unterstützt werden,

m. Aufbau.

1. Da sich die Anteilnahme am Leben und Schaffen des Volkes grund- sätzlich nach Befähigung und Neigung entscheiden muß, so kann auch die Zulassung zu den öffentlichen Bildungsanstalten nur nach diesen Grundsätzen erfolgen. Das gesamte öffentliche Bildungswesen muß darum nach dem Plan der Einheitsschule aufgebaut werden, der Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Unterrichtsmittel für alle Zöglinge und erhöhte Fürsorge durch Unterhaltsbeihilfen für Unbemittelte zur Voraussetzung hat,

2. Für blinde, schwachsichtige, taubstumme, schwerhörige, sprachleidende, schwach befähigte, krankhaft veranlagte, sittlich gefährdete sowie für Krüppel- kinder ist erzieherisch und unterrichtlich besonders zu sorgen.

4. Schulen der verschiedenen Arten und Grade sind, entsprechend den tatsächhchen Bedürfnissen, in ausreichender Zahl einzurichten und auf das Staatsgebiet zu verteilen.

IV. Schule und Religionsunterricht.

1. Die öffentlichen Schulen sind gi-undsätzUch für Kinder aller Bekenntnisse gemeinsam.

2. Die Schule erblickt in der Erziehung zur sittUchen Persönlichkeit ihre höchste Aufgabe und sucht diese durch das gesamte Schulleben zu pflegen.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 349

3. Der Religionsunterricht als besonderes Lehrfach ist Sache der religiösen Gemeinschaften.

4. Der Staat und die Gemeinden überlassen den Religionsgemeinschaften auf Antrag die Schulräume zu den für die Schule geeigneten Zeiten.

5. Die Lehrer haben das Recht, sich an der religiösen Unterweisung durch freien Vertrag mit den religiösen Gemeinschaften zu beteihgen.

6. Kein Kind darf gegen den Willen der Erziehungsberechtigten zur Teil- nahme am Religionsunterrichte gezwungen werden.

V. Hilfseinrichtungen der Schule.

1. In der Schulkinderfürsorge ist der Einfluß der Schule sicherzustellen.

2. Die gesamte schulpflichtige Jugend ist schulärztlich zu überwachen.

3. Die bestehenden Einrichtungen zur Ergänzung und Verbesserung der Ernährung, Bekleidung, Unterbringung und Beschäftigung der Kinder in Kleinkinderbewahranstalten, Kindergärten, Kinderhorten, Heimschulen, Schüler- werkstätten, Lehrlingsheimen, Ferienkolonien, Waldschulen, auf Schulwan- derungen, im Landaufenthalt usw. sind zu erweitern und zu vervollkommnen.

4. Darüber hinaus sind je nach Bedarf mit den öffentlichen Schulen Ein- richtungen (Schülerheime) zur teilweisen oder völligen Verpflegung, Bekleidung und Unterbringung besonders der auswärtigen Schüler zu verbinden, deren Benutzung für unbemittelte Schüler ganz oder teilweise unentgeltlich ist.

5. Für abgehende Schüler ist unter Mitwirkung der Schule eine sachgemäße Berufsberatung zu schaffen.

VI. Lehrerbildung.

1. Die Lehrerbildung ist im Geiste und nach den Anforderungen der Ein- heitsschule einheitlich, aber den mannigfachen Anforderungen der einzelnen Bildungszweige und Bildungsstufen entsprechend im einzelnen vielseitig und mannigfaltig zu gestalten.

2. Die grundlegende Vorbildung wird darum auf den zur Hochschule führenden allgemeinen und Berufsschulen gemeinsam mit den Anwärtern anderer wissenschaftlicher und technischer Berufe, keinesfalls auf gesonderten Anstalten vermittelt.

3. Die erziehungswissenschafthche Fachbildimg erfolgt auf der durch eine erziehungswissenschaftliche Abteilung (Fakultät) erweiterten Universität.

4. Die für Ober- und höhere Berufsschulen erforderliche fachwissenschaft- Uche, künstlerische und berufstechnische Bildung wird durch entsprechende Hochschulstudien erlangt, kann aber auch durch Selbstbildung erworben werden.

5. Die erziehungswissenschaftliche Abteilung der Universität ist so einzu- richten, daß neben der Einführung in die Erziehungswissenschaft die praktische Vorbereitung für den Lehrerberuf in vielseitiger und den einzelnen Schulverhältnissen entsprechender Weise erfolgt. Innerhalb der erziehungs- wissenschaftlichen Abteilung bestehen darum auch besondere Einrichtungen für die Ausbildung der technischen sowie der Lehrer an Heilerziehungs- und an Berufsschulen.

6. Für die Fortbildung aller Lehrer sind Schulsammlungen, Büchereien und erziehungswissenschaftliche und fachwissenschaftliche Vorlesungen und Übungen einzurichten und bestehende Einrichtungen durch ausreichende

360 Kleine Beiträge und Mitteilungen

staatliche Unterstützung zu entwickeln. Jeder Lehrer erhält von Zeit zu Zeit einen Urlaub Zum Besuch dieser Einrichtungen sowie zum Besuch anderer Schulen und Erziehungsanstalten.

VII. Förderung und Pflege der Erziehungswissenschaft.

1. Auf der Hochschule muß die Erziehungswissenschaft nicht nur Gegen- stand der Lehre, sondern auch der Forschung sein, besonders nach ihrer Beziehung zu Staat, Gesellschaft und Wirtschaft.

2. Zur Prüfung und Verbesserung aller inneren und äußeren Schulver- hältnisse, der Erziehung, des Lehrverfahrens, der Auswahl und Gestaltung der Unterrichtsstoffe, der Lehrmittel, der Schulgebäude usw., zur erziehungs- wissenschaftlichen Bearbeitung der Schulzählungen, zur Beobachtung der Entwicklung des Schul- und Erziehungswesens im Auslande ist in jedem Lande ein ständiger Ausschuß aus Lehrern aller Schulgattungen und Nicht- schulmännern der verschiedensten Lebensgebiete und Gesellschaftsschichten ein- zusetzen, der sich, je nach dem Beratungsgegenstande, durch Sachkundige ergänzt.

3. Diesem Ausschuß liegt es auch ob, neue Vorschläge in erziehungs- wissenschaftlichen Schriften zu behandeln sowie ihre Erprobung in Schul- versuchen, Versuchsklassen und Versuchsschulen im Rahmen der öffentUchen Schuleinrichtungen anzuregen, insbesondere auch alle von anderer Seite kommenden Vorschläge zu prüfen.

Vin. Anstellung, Besoldung und Amtsbezeichnung der Lehrer.

1. Die Anstellung der Lehrer erfolgt durch den Staat, die Amtsübertragung unter Mitwirkung der Selbstverwaltungskörper und unter Berücksichtigung der Wünsche der Lehrenden.

2. Für alle Lehrer und Lehrerinnen des Staates besteht eine einheitliche Besoldungsordnung. Die Lehrer und Lehrerinnen sind unter gerechter Würdigung ihrer Vorbildung und ihrer Arbeit in den Gesamtplan der staat- lichen Besoldungen einzuordnen.

3. Für den Lehrerstand werden einheitliche, die Ajntsstellung einfach und schlicht angebende Amtsbezeichnungen eingeführt.

IX. Freiheit und Selbständigkeit des Lehrerstandes.

1. Mit dem Lehi-amt dürfen kirchHche und sonstige Dienstleistungen nicht a ratsgemäß verbunden werden.

2. Alle das Gewissen bedrückenden, die-Freiheit der Lehre und die staats- bürgerliche Betätigung der Lehrer einschränkenden Bestimmungen und Ein- richtungen sind zu beseitigen. Auch darf die Berufung eines Lehrers in Ämter der Schulverwaltung oder Schulaufsicht nicht von seiner Parteistellung abhängig gemacht werden.

X. Schulgesetzgebung, Schulverwaltung und Schulaufsicht.

1. Die Schule ist eine Veranstaltung des Staates, die Lehrer und Lehrerinnen sind Staatsbeamte.

2. Das Reich hat unter Trennung der Schule von der Kirche und unter Anerkennung der notwendigen Selbständigkeit der Schule ein Reichsschul- gesetz zu erlassen, das die Einheitlichkeit des deutschen Erziehungswesens und ein Mindestmaß von Bildung gewährleistet.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 361

3. Eine oberste Reichsbehörde für das Bildungswesen, der ein aus er- ziehungskundlichen Fachleuten und Vertretern der verschiedenen Berufs- stände zusammengesetzter Reichserziehungsrat zm* Seite steht, sorgt für die Wahrung der notwendigen Einheitlichkeit der Bildungs- und Erziehungs- einrichtungen.

4. Die Landesschulgesetzgebung dmch die gesetzgebenden Körperschaften hat sich auf ein Rahmengesetz mit allgemeinen Richtlinien zu beschränken. Die Durchführung im einzelnen ist Sache der Selbstverwaltung. Ohne Zu- stimmung der obersten Selbstverwaltungsstellen soll keine Änderung der Schulgesetze möglich sein,

5. Die Schulverwaltung ist nach den Grimdsätzen der Selbstverwaltung einheitlich für alle Schulgattungen zu gestalten. Sie geschieht auf allen Stufen durch Verwaltungskörper, die aus gewählten Lehrern aller beteiligten Schularten und aus Vertretern aller Volkskreise zusammengesetzt sind, im Zusammenwirken mit Behörden des Staates. Fachbeiräte müssen ihnen zur Seite stehen.

6. Die mehrklassige Schule leitet und verwaltet der Lehrkörper unter dem Vorsitz eines von ihm auf Zeit gewählten Schulleiters (Obmannes). Das Schulleitungsamt ist ein Ehrenamt. Besondere Prüfungen sind vom Schul- leiter nicht zu fordern. Der Schulleiter ist nicht der Vorgesetzte der übrigen Lelu-er. Jeder festangestellte Lehrer ist in seiner Arbeit selbständig.

7. Die Schulaufsicht ist ausschüeßlich Sache des Staates. Sie ist durch Fachleute auszuüben, die vom Staat unter Mitwirkung der Lehrerschaft in ihr Amt berufen werden. Die Berufung in den Aufsichtsdienst ist nur von der Bewährung im Amte abhängig zu machen.

8. An den einzelnen Schulen sind Elternbeiräte zu bilden, die als Vertreter der Schulgemeinde an der Verwaltung der äußeren Angelegenheiten teil- nehmen. Den Elternveitretungen und sonstigen fachkundigen Staatsbürgern ist auch auf den verschiedenen Stufen der Schulverwaltung ein angemessener Einfluß zu sichern.

Allgemeine Grundsätze zur Neugestaltung des Schulwesens sind vom päda- gogischen Ausschuß des Zentralinstitutes für Erziehung und Unter- richt aufgestellt worden. Sie sind hervorgegangen aus Verhandlungen, zu denen Verti-eter der wichtigeren Lehrerverbände und der Hochschullehrer- schaft hinzugezogen waren, und sie sollen Vorschläge bieten für die vom Reichs- ministerium in Aussicht genommene Reichsschulkonferenz. Man einigte sich auf eine Reihe von Leitgedanken, aus denen folgende hervorgehoben seien:

„Das gesamte öffentliche Schulwesen soll auf einer gemeinsamen Grund- schule aufgebaut und vom Geiste der Selbstv^erwaltung und Selbsh-egierung durchdrungen sein."

„Die neue Schulorganisahon muß alle die mannigfachen Schularten, die sie den Begabungen und Berufen gemäß einzurichten hat, in stufen\veiser Abzweigung aufbauen, in ein einheitliches System mit tunUchst zahlreichen Übergangsmöglichkeiten bringen und unter einheitliche behördliche Leitung stellen."

„Alle Schulgesetze dürfen nur Rahmengesetze sein, innerhalb deren die Freiheit der einzelnen Schulträger nicht beeinträchtigt werden darf."

352 Kleine Beiträge und Mitteilungen

Von Einzelheiten der Neugestaltung, über die man sich mit großer Mehr- heit verständigte, seien folgende erwähnt:

„Die gemeinsame Grundschule muß mindestens vierjährig sein; es soll aber den Schulträgern gestattet sein, den gemeinsamen Unterricht bis zu sechs Jahren weiter auszubauen. Versuche mit der weiterausgebauten Grundschule sind in möglichst weitem Umfang ohne Verzug zuzulassen."

„Als geradlinige Weiterführung der Volksschulen sollen Aufbauschulen als neue Form der höheren Schulen eingerichtet werden."

„Die Aufbauschule ist vornehmlich als Sammelschule einzurichten zur Auf- nahme der besonders beanlagten Schüler und Schülerinnen vom Lande und aus kleinen Städten."

Über den Ausbau der einzelnen Schularten, insbesondere der Aufbauschule und der Mittelstufe des Gesamtschulwesens mit Einschluß des Fortbildungs- und Fachschulwesens, sowie über die Fragen der Lehrerbildung und der Schülerauslese sollen noch besondere Ausschußberatungen stattfinden.

Eine Neuordnung der Niederösterreichischen Landeslehrerakademie ist im

Gange. Gegenwärtiger Leiter der Anstalt ist Prof. Dr. Willibald Kammel, der dort das pädagogisch-psychologische Laboratorium seinerzeit begründet und bisher geleitet hat eine Arbeitsstätte die immer mehr in ein Institut für Jugendkunde umgewandelt werden soll und als solches die Aufgabe erhält, besonders die Begabungsforschung und Berufspsychologie zu betreiben. Neu geschaffen werden an der Akademie eine Reihe Seminare, so für Heimat- kunde, Deutschkunde, Arbeitsschulbewegung, Kunstpädagogik und Heil- pädagogik. In der deutschkundlichen Abteilung soll u. a. auch das Jugend- schriftenwesen eine besondere Pflege finden. Dem Seminar für Arbeits- schulbewegung werden Werkstätten angegliedert. Zur Verwertung der in den einzelnen Instituten erzielten Forschungsergebnisse ist eine neue Zeitschrift „Die pädagogische Akademie" begründet worden; sie wird Beiträge zur theo- retischen und praktischen Pädagogik und deren Hilfswissenschaften bringen.

Begabtenschulen in Deutschösterreich sind die drei staatlichen Erziehungs- anstalten Wien-Breitensee, Wiener Neustadt und Traiskirchen. Sie verfügen über die besten Lehrmittel und über besonders geeignete Lehrkräfte. Unter- richt und Verpflegung im Schulheim (Internat) sind kostenfrei. Für das kommende Schuljahr wurden 180 Stiftungsplätze in den ersten Klassen aus- geschrieben. Etwa verbleibende Plätze werden gegen Bezahlung vergeben. Die Aufnahme erfolgt nach dem vierten Volksschuljahr. Gefordert wird, daß im Rechnen und in der Sprache das Zeugnis „gut" erlangt ist. Die Leitung der Schule, der das Kind vorher angehörte, ist verpflichtet, beim Unterrichtsamte einen Schülerbeschreibungsbogen einzusenden.

Die amtliche Einführung des pädagogisch-psychologischen Aufnahmever- fahrens in Deutsch -Österreich ist durch Erlaß des Unterstaatssekretärs für Unterricht Otto Glöckel angeordnet worden. Es wird darnach für den Über- gang der Volksschüler und -Schülerinnen in die unterste Klasse der höheren Schulen ein pädag.-psych. Verfahren angewandt, das der in Deutschland ein- geführten Begabungsauslese ähnelt. Unter ausdrücklichem Hinweis auf die Ergebnisse der modernen Psychologie fordern die Bestimmungen:

Kleine Beiträge und Mitteilungen 353

„Die Auswahl der sich zur Aufnahme in die unterste Mittelschulklasse meldenden Schüler (Schülerinnen) hat zu erfolgen

a) auf Grund von Schülerbeschreibungen, die über die beim Schüler während des Volksschulunterrichtes gemachten Wahrnehmungen Aufschluß geben;

b) auf Giiind einer Aufnahmeprüfung, durch die nicht bloß das Ausmaß der erworbenen Kenntnisse, sondern hauptsächlich die Begabung des Schülers festgestellt werden soll."

Für die Schülerbesctu-eibung wird ein Schema vorgelegt, das, wie es scheint, dem Hamburger Beobachtungsbogen nachgebildet ist, doch haben Kürzungen und Änderungen stattgefunden. Über die Aufnahmeprüfung, die von den Lehrern der aufnehmenden Schule abzuhalten ist, heißt es:

„Da sich die Aufnahmeprüfung nicht bloß auf die Feststellung eines be- stimmten Ausmaßes von durch den Volksschulunterricht erworbenen Kennt- nissen beschränken, sondern die für den Eintritt in die Mittelschulstudien ausreichende Begabung des Schülers feststellen soll, sind bei der Aufnahme- prüfung einerseits die Aufgaben und Fragen nach psychologischen Gesichts- punkten auszuwählen und andererseits die Leistungen der Prüflinge entspre- chend dem gegenwärtigen Stande der Begabungsdiagnostik zu beurteilen.

Es kommen daher in erster Linie Aufgaben und Fragen in Betracht, die in ihren Lösungen Art und Grad der Begabung (Auffassung, Gedächtnis, Arbeitsart, sprachUche Ausdrucksfähigkeit usw.) deutlich erkennen lassen."

Die genauen Anweisungen findet man abgedruckt in dem amtlichen Teil der „Volkserziehung; Nachrichten des deutsch- österreichischen Unterrichts- amtes" 1919, Stück 11. Im pädagogischen Teil desselben Heftes sind eine Reihe erläuternder Aufsätze über Begabungsproblem, Begabungsprüfung und Schülerbeschreibung enthalten.

ErstmaUg soll diese Aufnahmeform , die eine psychologisch gut geschulte Lehrerschaft voraussetzt, bereits im Herbst 1919/20 zur Anwendung kommen.

Eine Warnung vor dilettantischer Anwendung von Testprüfungen geht von dem Hamburger psychoFogischen Laboratorium aus. Es laufen dort jetzt fast täglich Anfragen und Bitten mn Testmaterial ein. Auch andere Institute berichten von solchem Eifer, ebenso die Schriftleitungen einiger Fachzeit- schriften. Daß sich hierin eine Gefahr für die päd. Psychologie wie auch für die Schule auftut, ist von Fachmännern \siederholt nachdrücklich betont worden. Das Hamburger psychologische Laboratorium warnt erneut vor ge- fährhchem Übereifer, indem es den Beantwortungen der Anfragen die folgende „Mitteilung" beilegt.

Angeregt durch die Veröffentlichungen des psychologischen Laboratoriums in Hambui^, ergehen in letzter Zeit an dieses Institut viele Fragen über die Anstellung von Teslprüfungen Die Fragesteller haben meist den Wunsch, diese Methoden selbst praktisch anzuwenden.

So erfreulich das rege Interesse für dieses Gebiet der experimentellen Psychologie ist und 60 wünschenswert es ist, daß die in der Praxis stehenden Pädagogen sich durch eigenes Erproben experimenteller Metboden ein Urteil über sie bilden, so notwendig erscheint es doch, auf die folgenden Punkte nachdrücklich hinzuweisen :

1. Jede Testprüfimg ist ein psychologisches Experiment und unterscheidet sich in wesent- lichen Punkten von irgendwelchen Maßnahmen und Aufgabestellungen des praktischen Unter richts und der Erziehung.

2. Jedes Experiment unterliegt also den Forderungen, die von der Methodik der psycholo- gischen Wissenschaft aufgestellt werden. Diese Forderungen sind nicht so leicht zu erfüllen als es auf den ersten Blick scheint Jedenfalls ist vollkommenes Vertrautsein mit der Arbei's-

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 23

354 Kleine Beiträge und Mitteilungen

weise experimentell-psychologischer Forschung und mit der Deutung psychologischer Ergebnisse vor der Ausführung von Experimenten durchaus notwendig. Der durchschnittliche im Seminar empfangene Psychologieunterricht reicht hierzu nicht aus; auch durch bloße Lektüre ist die erforderliche Schulung und Technik nicht einwandfrei zu erwerben,

3. Ungenügend vorbereitete, ohne die nötige Sach- und Methodenkenntnis angestellte Experi- mente, sowie die von falschen Gesichtspunkten aus durchgeführten Betrachtungen über wirkliche oder vermeintliche Ergebnisse solcher Arbeiten können nicht nur den Ruf der wissenschaftlichen Psychologie schädigen, sondern auch der gerechtfertigten Anwendung der Psychologie auf prak- tisch-pädagogische Fragen bedauerlichen Eintrag tun.

Das Bremer Institut für Jugendkunde, ') unter dem Vorsitz von Dr. Theodor Valentiner stehend, hat auch über die letzte schwierige Zeit hinaus seine Tätigkeit fortgeführt. Die Reihe der veranstalteten Vorträge befaßte sich, abgesehen von den sechs Vorlesungen, die Prof. Dr. W. Stern aus Hamburg über das Begabungsproblem hielt, nicht mit jugendkundlichen Fragen, Da- gegen lagen die wissenschaftlichen Arbeiten im engeren Gebiet der pädagogischen Psychologie. Von einem Ausschuß ist ein neues Auslesever- fahren für die Aufnahme der Schüler in höhere Schulen bearbeitet und der Schulbehörde vorgelegt worden. Es bedient sich eines Beobachtungsbogens, der wie seine Bearbeiter meinen wesentliche Fortschritte bringt. Eine psychologisch statistische Untersuchung befaßt sich mit dem Religionsunter- richte. Sie bediente sich des Weges der Umfrage. Über die Ergebnisse soll demnächst berichtet werden. Im kommenden Jahre müssen zunächst die begonnenen Arbeiten, insbesondere die Behandlung der Auslese der tüchtigen Schüler ihre Fortführung erfahren. Daneben soll den Fragen des Jugend- schriftenwesens besondere Mühe zugewandt werden. Das Institut war bisher wirtschaftlich nur auf die Zuwendungen von selten seiner Mitglieder und Freunde gestellt. In seinem Weiterbestehen bedarf es aber dringend der erbetenen staatlichen Unterstützung.

Die Abteilung für Jugendkunde in Chemnitz wurde Mitte 1911 als Abteilung für experimentelle Psychologie und Pädagogik im Chemnitzer Lehrerverein gegründet.

Sie verfolgt den Zweck, in die experimentelle Psychologie und Pädagogik einzuführen und zugleich Anregung und Gelegenheit zu selbständigen wissen- schaftlichen Arbeiten auf diesen Gebieten zu geben. Dazu dienen Vorträge in regelmäßigen Wochenversammlungen, wissenschafthche Kurse und Aus- führung wissenschaftlicher Untersuchungen, Den Mitgliedern steht eine Bücherei der wichtigsten pädagogisch-psychologischen Schriften zur Verfügung, Vor dem Kriege beschäftigte sich die Abteilung vorwiegend mit den psycho- logischen Grundlagen des Rechnens, besonders der Zahlauffassung, und mit Untersuchungen über die „Beliebtheit der Unterrichtsfächer", Die erste Arbeit kam nicht zum Abschluß, während die zweite als Ergebnis zwei Arbeiten von Artur Lode zeitigte: 1. „Die Beliebtheit und Unbeliebtheit der Unterrichts- fächer" und 2. „Experimentelle Untersuchung über die Urteilsfähigkeit der Schulkinder".

Eine umfassende Untersuchung über Kinderideale, die zugleich Material zur Bewertung der Aussageversuche liefern sollte, konnte nicht abgeschlossen

^) Vergl. Bremer Schulblatt 1919, Nr, 10, S. 78: Institut für Jugendkunde (Jahresbericht vom Schriftführer Fritz Heeger).

Kleine Beiträge und Mitteilungen 355

werden, da die Bearbeiter im Kriege blieben und das reiche Material verloren ging. Nicht zum Abschluß gelangten leider auch, durch den Krieg ver- schuldet, die „Nachprüfungen der Binet- Simon -Bobertagschen Tests" an Chemnitzer Kindern. Seit Ostern arbeitet die Abteilung, die nun ihren Namen in „Abteilung für -Jugendkunde" umänderte, mit meigt neuen Mitgliedern (jetzt etwa 45 Damen und Herren). Arbeitsgebiet ist zur Zeit das „Be- gabungsproblem". In einem längeren Kursus wurde die Entwicklung dieses Fragengebietes behandelt. Neben der theoretischen Behandlung ging eine Durchprüfung neuer Tests her. Den Abschluß brachte kürzlich die „Be- arbeitung eines Individualbogens". In Angriff genommen wurde zuletzt das Arbeitsthema: „Intelligenzprüfung nach Rossolimo".

Die Leitung der Abteilung liegt in den Händen der Herren Oberlehrer Dr. Hans Keller und Artur Lode. Mitglieder der Abteilung können alle Damen und Herren werden, die sich für das psychologisch-pädagogische Arbeitsgebiet interessieren. Die wissenschaftlichen Kurse 'sind auch Nicht- mitgliedern gegen Entrichtung eines Beitrages zugänghch.

Das pädagogisch-psychologische Laboratorium an der Niederösterreichi- schea Landeslehrerakademie in Wien versendet den Bericht über sein 6. Ar- beitsjahr. Es kennte, wenn auch beeinträchtigt durch widrige Zeitumstände, seine Tätigkeit erfreulich fortführen. An der bei der Gründung gestellten Aufgabe festhaltend, hat es auch in dem Jahr 1918/19 die Erziehungswissen- schaft in empirischen Untersuchungen gepflegt und hat weiterhin durch Ver- anstaltungen mannigfacher Art neben der Forschung auch der Lehre gedient. Von dem Staatsamt für Unterricht ist der verdienstvolle Leiter des Labora- toriums, Professor Dr. Willibald Kammel, mit seinem Assistenten wiederholt zu Sitzungen beigezogen worden, in denen jugendkundliche Fragen zu ver- handeln waren. Ebenso zeigten andere höhere Amtsstellen reges Interesse für die sich in stetem Fortschritte entv^ickelnde Arbeitsstätte. Die Zuwendungen, die das Laboratorium von der Niederösterreichischen Landesverwaltung erhält, gestatteten einen weiteren Ausbau des Instrumentariums und der Bücherei.

Die Reihe der Gegenstände, die in einzelnen Untersuchungen von dem Institute behandelt wurden, zählt auf: Messungen zur Beobachtung der kör- perliehen Enhvicklung der Wiener Schulkinder Die Ideale der Wiener Schulkinder Behebtheit und Unbeliebtheit der Unterrichtsfächer Experi- mentelle Untersuchungen über die mimischen und pantomimischen Ausdrucks- symptome der Aufmerksamkeit in ihrer didaktischen Wertigkeit Die Periodizität der psychophysischen Energie Bestimmung der Schulbahn von verfrüht in die Schule eingetretenen Kindern Prüfung der Unterrichts- ergebnisse im elementaren Rechnen auf Grund der Läyschen Zahlbilder und der Russischen Rechenapparate Prüfung des heimatkundlichen Vorstel- lungskreises von Wiener Schulkindern Leseapparate zur Feststellung der schnellsten und zugleich sichersten Lesbarkeit der im öffentlichen Leben am häufigsten vorkommenden Farbenzusammenstellungen Untersuchung der Beziehungen zwischen Schädelumfang und Intelligenzgrad Analyse des Bewußtseinsinhalts neu eintretender Schüler Psychologische Analyse des Traumes bei Kindern Die Psychologie des Gerüchtes Vorversuche zur Neugestaltimg der Aufnahmeprüfung an Mittelschulen Untersuchungen über die Psychologie des Wunderkindes.

23*

356 Kleine Beiträge und Mitteilungen

Aus diesen Untersuchungen und Verhandlungen ist wie in früheren Jahren auch diesmal wieder eine Anzahl Veröffentlichungen hervorgegangen; andere Abhandlungen sind für den Druck vorbereitet.

An Kursen veranstaltete das Laboratorium u. a. Vorlesungen an der Lehrer- akaderaie über „Experimentelle Pädagogik" (Akademiedirektor Dr. W. Kam- mel) und über „Schülerkunde" (Assistent Professor L. Battista), ferner die Urania-Lehrkurse über „Erziehungslehre unter Berücksichtigung der experimen- tellen Pädagogik" und über „Ausgewählte Kapitel aus der Kinderpsychologie", schließlich einen Lehrgang über „die Psychologie und Pädagogik des Spieles" zur Heranbildung von Horterzieherinnen und Kindergärtnerinnen. Auch eine sehr rege Vortragstätigkeit in Vereinen und wissenschaftlichen Ge- sellschaften wurde entfaltet.

Die Neuregelung des deutsch-österreichischen Schulwesens stellt nach den uns vorliegenden amtlichen Schriftstücken hohe Anforderungen an die psycho- logische Schulung der Lehrerschaft. Man setzt dabei offenbar auch große und gewiß berechtigte Hoffnungen auf das psychologisch-pädagogische Labo- ratorium.

Das Laboratorium für industrielle Psychotechnik an der Technischen Hochschule zu Charlottenburg. Auf Anregung von Prof. Schlesinger, ord. Professor für Betriebswissenschaft und Werkzeugmaschinen an der Tech- nischen Hochschule Charlottenburg, wurde von der Forschungsgesell- schaft für betriebswissenschaftliche Arbeitsverfahren an derTech- nischen Hochschule zu Charlottenburg die erste Hochschulforschungsstelle für industrielle Psychotechnik geschaffen. Das Laboratorium ist als eine beson- dere Abteilung dem Versuchsfeld für Werkzeugmaschinen und Be- triebslehre eingegliedert und wird von dem Privatdoz. Dr. Walter Moede geleitet. Die Betriebswissenschaft umfaßt an der Technischen Hochschule einen technischen Teil, der sich mit der Einrichtung der Fabriken befaßt, einen kaufmännischen Teil, der die kaufmännischen Organisationen behandelt und einen psychotechnischen Teil, der sich auf die Menschen bezieht, ihre Eignung für bestimmte Arbeitsposten sowie ihre Arbeitsverrichtungen, deren günstigster Ablauf ebenfalls durch psychotechnische Studien zu gewährleisten ist.

Die beiden Hauptarbeitsgebiete des Laboratoriums sind daher Eignungs- forschung sowie Rationalisierung der Arbeit auf Grund von Bewegungs-, Zeit- und Ermüdungsstudien.

Die Hochschulvorlesungen umfassen die Fabrikorganisation, ein Spezial- gebiet, das Prof. Schlesinger vorträgt, und Psychotechnik der industriellen Arbeit, die von Dr. Moede abgehalten wird und Eignungsprüfung und Ra- tionalisierung der Arbeits-, Anlern- und Absatzverfahren behandelt. Die Psychologie der Reklame wird in der Absatztechnik kurz gewürdigt.

Zur Ergänzung der Vorlesung dienen Einführungskurse für Studierende sowie Übungen für Fortgeschrittene. Außerdem ist ein großes psychotech- nisches Praktikum eingerichtet für Ausführung selbständiger Arbeiten. Psy- chotechnische Arbeiten in dem Laboratorium berechtigen zur Promotion an verschiedenen Universitäten gemäß besonderen Vereinbarungen, sowie an der Technischen Hochschule, wo der Dr. ing. erworben werden kann.

Neben diesen für die Hochschüler berechneten Kursen finden von Zeit zu Zeit Spezialkurse statt für praktische Berufsberater und Betriebsingenieure

Kleine Beiträge und Mitteilungen 357

Der Erlaß der vereinigten Ministerien vom 19. März 1919 wünscht die Mit- arbeit des Psychologen bei allen größeren Berufsberatungsämtern, und die Beschlüsse des 10. Kongresses der deutschen Gewerkschaft fordern die Ein- führung der Eignungsprüfung bei aUen angeschlossenen Organisationen. Bei- spielsweise findet Anfang Oktober ein Kurs für Betriebsingenieure zur Aus- bildung in der Eignungsprüfung des industriellen Lehrlings statt, an dem vor allem die Leiter der industriellen Werkschulen teilnehmen werden. Im An- schluß daran wird die Eignungsprüfung für Fahrerberufe gelehrt, wofür zahlreiche Anmeldungen der Vertreter von Verkehrsgesellschaften vorliegen.

Die eigentliche Forschung und Begutachtungstätigkeit des Laboratoriums richtet sich nach den Aufträgen der Industrie. Als erste Aufgabe wurde die experimentelle Eignungsprüfung des industriellen Lehrhngs behandelt. Die Bewährung der Methoden in der Praxis ergab sich auf Grund einer mehr- fachen Eichung in Berliner Werkschulen. Die psychotechnische Eignungs- prüfung des industriellen Lehrlings ist z. Zt. eingeführt in der A. E. G., bei Loewe, bei Siemens & Halske, im Borsig-Werk, bei Fritz Werner, im Riebe- Werk, bei Frister A. G. u. a., die teils in eigenen Laboratorien prüfen, teils die Lehrhnge ins Laboratorium schicken oder diesem die ganze Auswahl überlassen, die dann gemeinsam mit den Schulen der einzelnen Bezirke vor- genommen wird.

Von Behörden senden Prüflinge: das Jugendamt der Stadt Berlin, das Be- rufsamt, das besonders Handwerksstellen vermittelt, und die Deputation für das höhere Schulwesen, die technisch Hochbefähigte schickt. Außerdem wird in der Sprechstunde jeder Ratsuchende geprüft und beraten. Für die Prüfungen sind feste Tarife festgesetzt.

Andere Aufträge beziehen sich auf Spezialarbeiter und -arbeiterinnen der Fabriken. Außerdem \\airden Vorstudien abgeschlossen für den Telephondienst und das Maurerhandwerk. Andere Aufträge wurden von Verbänden, Innungen und anderen Vereinigungen erteilt und ausgeführt.

Über die Arbeiten des Laboratoriums wird laufend berichtet in der Monats- schrift „Praktische Psychologie", die das gesamte Gebiet der ange- wandten Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der Berufsberatung und industriellen Psychotechuik behandelt. Im Anschluß hieran wird eine psycho- technische Bibliothek herausgegeben, von der Band 1 die Betriebswissenschaft und Psychotechnik erörtert, Band 2 der Lehrlingsprüfung gewidmet ist, wäh- rend Band 3 die Prüfung und Ausbildung des Straßenbahners auf psycho- technischer Grundlage darstellt und schließlich Band 4 der Leistungssteige- rung durch Übungstherapie ge\^^dmet ist, (Verlag Hirzel, Leipzig.)

Dem Laboratorium stehen Institutsräume (mit Forschungs- und Übungs- apparaten souie einer Handbibliothek) in Charlottenburg, Rosinenstr. 5 zur Verfügimg, außerdem wird die frühere große Schießhalle der militärtech- nischen Akademie benutzt, sofern die Untersuchungen große Räume und besondere technische Einrichtungen, z. B. Kinematographen, Sand- und Stein- massen und ähnliches erfordern. Als Assistenten sind am Laboratorium tätig der Fachpsychologe Dr. R. W. Schulte und die Dipl.-Ingenieure W. Rinne, Schilling, Hamburger, sowie cand. rer. pol. Meinhold, neben denen eine Reihe von Mitarbeitern und Praktikanten weitere Assistenzdienste leisten.

Das Gebiet der industriellen Psychotechnik wird durch diese innige syste- matische Zusammenarbeit von Fachpsychologen und praktischem Ingenieur

368 Kleine Beiträge und Mitteilungen

Schritt für Schritt erschlossen werden. Die Erfolge des hiesigen Hochschul- laboratoriums haben Veranlassung gegeben zur Einrichtung ähnlicher Institute an anderen Hochschulen.

Das Leipziger Prüf amt beschäftigt sich mit Eignungsprüfungen. Es ist als privates Unternehmen gegründet worden von Rudolf Schulze, dem wissenschaftlichen Leiter des Institutes für experimentelle Pädagogik und Psychologie im Leipziger Lehrerverein, in Gemeinschaft mit dem Assistenten dieses Institutes, Dr. Johannes Hand r ick, und dem als Herausgeber des Pädagogischen Jahresberichtes bekannten Leipziger Lehrer Paul Schlager, dem 1. Schriftführer des Institutes. Prüfamt und Institut arbeiten in steter Verbindung. Für wissenschaftliche Untersuchungen stehen dem Prüfamt die Apparate der Sammlung Schulzes zur Verfügung. Unter anderem befinden sich darunter das von Schulze für Berufseignungsprüfungen konstruierte Chronoskop mit Schlaghammer und Hilfsapparaten zur Untersuchung der Willensvorgänge; ein Ergograph nach Dubois und ein Dynamometer nach Collin zum Studium des Arbeitsvorganges; Ästhesiometer nach Spearman; Farbkreisel, Reizhaare, Kälte- und Wärmekolben und ähnhche Apparate zur Prüfung der Sinnesempfindlichkeit; für Massenuntersuchungen ein besonders geeigneter Gedächtnisapparat und ein Tachistoskop zu Aufmerksamkeitsprü- fungen (beide Apparate von Schulze konstruiert); ein Schallschlüssel nach Römer für die genaue Messung von Lese- und Rechenzeiten und für andere komplizierte Reaktionen; zur Untersuchung der Gefühlsvorgänge die bei Anwendung der Ausdrucksmethode üblichen Apparate: Pneumograph (mit Mareyschem Tambour) für Atraungsprüfungen und Sphygmograph zu Puls- untersuchungen usw.; ein Tremometer zur Untersuchung der Eignung für die Lenkerberufe (Fheger, Kraftwagen- und Straßenbahnführer usw.); für die Prüfung einfacher geistiger Akte und für die Untersuchung der Dauer- spannung der Aufmerksamkeit werden die im Verlag der Dürrschen Buch- handlung herausgegebenen Schulzeschen Rechenhefte und Buchstabentafeln benutzt; für die Untersuchung höherer geistiger Vorgänge die vom Institut des Leipziger Lehrervereins hergestellten Lückentexte nach Ebbinghaus usw.

Das Prüf amt hat zunächst als Hauptaufgabe ins Auge gefaßt, über die Eignungsprüfungen aufzuklären. Das geschieht durch Führungen und Vorträge in denen die Vertreter der Arbeiterschaft und der Unternehmerkreise mit den Methoden der Eignungsprüfungen unter Vorführung von Versuchen bekannt gemacht werden. So hielten die Leiter des Prüfamtes Vorträge vor der Be- ruf sgenossenschaft der Bauunternehmer Leipzigs, den Vertretern der großen Firmen der Schwerindustrie, des Buch- und Verlagshandels, vor Angestellten- verbänden und Arbeiterkörperschaften, vor Vertretern von Versicherungsan- stalten und Transportgesellschaften.

Später sollen in Verbindung mit Unternehmern und Arbeitern in einzelnen Betrieben Einzeluntersuchungen über die Eignung für die Betätigung an be- sonderen Maschinen ausgeführt werden, unter anderem über die Eignung der Arbeiter für den Farbendruck. Zur Zeit ist eine Untersuchung über Arbeits- typen im Gange, die sich auf körperhche und geistige Arbeit erstreckt und über Arbeitsqualität und Arbeitsfähigkeit des Prüflings Aufschluß geben soll.

Eine Köhier Arbeitsgemeinschaft für normale und pathologische Psychologie

ist auf Anregungen aus der Lehrerschaft begründet worden. Der wissen-

Kleine Beiträge und Mitteilungen 359

schaftliche Rückhalt des Vereins ist durch Zusammenarbeit mit dem Provin-

zialinstitut für klinische Psychologie und mit deren Übungsschule für Hirn- verletzte gesichert. Als Aufgaben verfolgt die Vereinigung nach einer Mitteilung in der Zeitschrift „Die neue Erziehung":

1. Wissenschaf thche Fortbildung der Mitglieder im Gebiete der pädagogisch- psychologischen Probleme.

2. Besprechung der Methoden der Begabtenauslese und der Zuweisung in die Sonderklassen für Schwachbefähigte.

3. Ergreifung von Maßnahmen zur Errichtung eines Instituts für pädago- gische Psychologie in Köln.

4. Allgemeine Werbung für die Pflege und Wertung der pädagogischen Psy- chologie in der Presse und an maßgebenden Stellen.

Eine Deutsche Gesellschaft für soziale Pädagogik ist unter dem Vorsitz von Universitätsprofessor Dr. Paul Natorp in Marburg begründet worden. Sie setzt sich das doppelte Ziel, die Beziehungen zwischen Erziehung und Gemeinschaft und die Gestaltung einer Gemeinschaftserziehung, getragen vom Geiste wechselseitiger Hilfsbereitschaft in geistigen Dingen und strengster sozialer Gerechtigkeit, zu pflegen. Die Gesellschaft wird eine Vierteljahrs- zeitschrift für soziale Pädagogik begründen, als deren Herausgeber Professor Natorp, Stadtschulrat Dr. Buchenau und Direktorin Lili Droescher zeichnen.

Aus der Materialsammiung zur Schülerbewegung sei als neuartiges Stück folgendes Schreiben vorgelegt, das der Leitung der Berliner Schulen, die von der Korporation der Kaufmannschaft unterhalten werden, zugegangen ist: „Laut der Massenversammlung vom 27. v. Mts. treten hiermit alle Pflichtfortbildungs- und Fachschüler in den Streik (Schulstreik). Wir Fachschüler (Korporation der Kaufmannschaft) erklären uns mit unsern Genossen solidarisch. Der Streik soll mit dem 30. Juni beginnen und, sollten unsere Forderungen nicht bewilligt werden, noch nach den Ferien fortsetzen. Forderungen der Fach- schüler: 1. Die Verlegung der Schulzeit in die Arbeitszeit (vormittags), 2, Ver- staatlichung aller Privatschulen, 3. Mitbestimmungsrecht der Schülerräte in Schulfragen, Lehrplänen, Stundenplan usw., 4. Abschaffung der Schulgelder, 5. Einrichtung von Sportstunden sowie von Spielabenden, 6. Herausweisung der Prügel- und Schimpfpädagogen. Wir bitten von dem Schulstreik und seinem Zweck Kenntnis zu nehmen und dies sämtlichen Leitern bekannt- zumachen. Es soll sich kein Lehrer wagen, unsere Streikposten wegzujagen, sonst müssen wir mit andern Mitteln eingreifen.

Freie Jugend Groß-Berlin. Die Schülerräte.

Eine Auskunftsstelle für Kinderfürsorge hat das Zentralinstitut für

Erziehung und Unterricht durch den Ausbau der Abteilung, die sich bisher der Kleinkinderfürsorge widmete, geschaffen und damit sein Auf- gabengebiet mn einen wichtigen Arbeitszweig erweitert. Neben der älteren Schwesterabteilung wird die neue Stelle die Entwicklung der Schulkinder- fürsorge sammelnd, registrierend und "anregend verfolgen. Hier wie dort werden Auskünfte auf Grund des sorgfältig gesammelten Materials unentgelt- lich an Behörden, Vereine und Persönlichkeiten erteilt, die aus den Erfah- rungen oder der wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiete der Kinderfür-

360 Kleine Beiträge und Mitteilungen

sorge Rat und Anregung schöpfen wollen. Eine Auswahl wertvoller Berichte, Richtlinien und Beschreibungen werden in Form von Leihmappen, Abbildungen vorbildlicher Einrichtungen als Glasbilder erhältlich sein.

Die Auskunftsstelle für Kinderfürsorge ist bestrebt, unter Vermeidung von Doppelarbeit mit allen auf verwandten Gebieten arbeitenden Körperschaften und- Persönlichkeiten zusammenzugehen, den Austausch von Erfahrungen und ganz besonders die Fühlung zwischen Schule und Jugendfürsorge zu fördern und somit am Ausbau einer planmäßigen Kinderfürsorge mitzuwirken.

Ein Spreehlehrerseminar beabsichtigt das Zentralinstitut für Erzie- hung und Unterricht in Berhn im Herbst dieses Jahres zu eröffnen. Es besteht Bedürfnis nach Fachleuten des gesprochenen Wortes, die in allen einschlagenden Fragen beraten und unterrichten können, also befähigt sind, körperliche und psychische Sprachhemraungen zu heilen, die An- gehörigen von Sprechberufen zu zweckmäßiger Handhabung der Sprach- werkzeuge zu erziehen, in die Kunst des Vortrages und der öffentlichen Rede einzuführen. An vielen dieser Fragen ist insbesondere das Schulwesen dringend interessiert. Das Sprechlehrerseminar soll darum solche sehr begehrte, aber kaum vorhandene Sachverständige in einem wissenschaftlich und praktisch gegründeten Lehrgang heranbilden. Als Dozenten siud erste Fachkräfte, als Fachleiter der Lektor an der Universität Berlin Dr. Drach in Aussicht ge- nommen; der Psychologe, Arzt, Stimmbildner, der Schulmann, der Vortrags- künstler und der Parlamentarier werden jeder den Sprachvorgang von seinem Gesichtspunkt aus darstellen und zugehörige Übungen veranstalten. Das Seminar wird Teilnehmern beiderlei Geschlechts ohne Vorbedingung zugäng- lich sein; Anfragen und Anmeldungen sind an die Geschäftsstelle des Zentral- instituts (W 35, Potsdamerstr. 120j zu richten.

Nachrichten. 1. Dr. Eduard Spranger, Professor für Pädagogik und Philosophie in Leipzig, hat den Ruf an die Berhner Universität angenommen.

2. Der Göttinger Professor Dr. David Katz ist als außerordentlicher Professor für Pädagogik und Philosophie nach Rostock berufen worden.

3. Akademieprofessor Dr. Willibald Kammel hat sich an der Wiener Universität als Dozent für experimentelle Pädagogik und pädagogische Psychologie habilitiert.

4. Privatdozent Dr. Nohl in Jena geht als a. o. Prof. für Philosophie und Pädagogik an die Universität Göttingen.

5. Dr. med. Fritz Chotzen in Breslau hat daselbst einen Lehrauftrag für sexuale Hygiene und sexuale Pädagogik an der Universität erhalten.

6. Der Weimarische Landtag hat einstimmig beschlossen, an der Universität Jena an Stelle von Wilhelm Reins persönhchem Ordinariate einen ordent- lichen Lehrstuhl für Pädagogik zu schaffen und das pädagogische Uni- versitätsseminar zu erweitern.

7. Durch Verordnung vom 19. Sept. 1919 ist in Preußen allen Volks- schullehrern der Zugang zum vollen Studium an den preußischen Universitäten geöffnet worden,

8. Eine internationale Konferenz für Erziehung beabsichtigt das Genfer „Institut J. J. Rousseau" im Jahre 1920 zu veranstalten.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 361

9. Ein psychologischer Ausbildungskursus für Hilfsschullehrer wird von der städtischen Schuldeputation Berlin ') veranstaltet. Taubstummen- anstaltsdirektor Schorsch hält eine zwölfstündige Vorlesungsreihe über „Die heilpädagogische Behandlung von Sprachstörungen"; Professor Dr. Stier spricht in acht Stunden über „Psychische und nervöse Störungen im Kindes- alter"; Professor Dr. Schäfer handelt in Vorlesungen (30 Std.) über „All- gemeine Psychologie, Kinderpsychologie und Sprachstörungen". Die Teilnahme für Berliner Lehrkräfte ist unentgeltlich.

10. In den Akademischen Ferienkursen an der Universität Leipzig, veranstaltet vom Sächsischen Lehrer\'erein in der Zeit vom 6.-25. ökt. 1919, sind Psychologie und Pädagogik folgendennaßen bedacht: Psychologische Übungen (Rud. Schulze, Paul Schlager, Dr. Job. Hand- rick), Begabungsforschung (Dr. Handrick), Praktikum zur Begabungsforschung (Job. Schlag), Unterrichtslehre der Arbeitsschule (Otto Scheibner), Schulprak- tische Probleme (Paul Vogel und Otto Erler), Grundfragen der ethischen Er- ziehung iProf. Dr. Eduard Spranger), Vergangenheit und Zukunft des Moral- unterrichtes (Prof. Dr. Paul Barth), Wirtschaf thche und politische Grundlagen der Pädagogik (Privatdozent Dr. Max Brahn).

11. In den wissenschaftlichen Vorlesungen des Berliner Lehrer- vereins (91. Halbjahr: Winter 1919 20) finden sich Philosophie, Er- ziehungswissenschaft und Seelenkunde folgendermaßen vertreten: Prof. Dr. A. Siebert: Ethik, ihre Probleme, Gesetze und Hauptrichtungen, unter Bezugnahme auf einschlägige Fragen der Pädagogik (Willens-, Gefühls- und Verstandesbildung). A. Bogen: Über Organisation der geistigen Arbeit (mit Übungen). Stadtschulrat Dr. A. Buchenau: Einfülirung in die Pi;dagogik als Wissenschaft ; Pädagogisch-psychologisches Seminar (Systematische Übungen über Natorps „Pestalozzi"). Rektor Seinig: Fortsetzung der Untersuchung für die Erziehung bewußten Denkens in der Volksschule (mit Lehrproben auf der Unter-, Mittel- und Oberstufe). Unterstaatssekretär a. D. Dr. M. H. Baege: Gehirn und Seele (Grundzüge der physiologischen Psychologie). Rektor H. Rebhuhn: Einführung in die exakte Erziehungswissenschaft (Me- thoden und Ergebnisse der experimentellen Seelenkunde, angewandt auf Un- terricht und Erziehung).

12. Ein Ausbildungskursus für die Eignungsprüfung industrie- eller Lehrlinge wird in der Zeit vom 13. 18. Oktober in der Tech- nischen Hochschule zu Gl arlottenburg veranstaltet. Er wird dort in dem von Dr. Moede geleiteten Laboratorium für industrielle Psychotechnik statt- finden. Neben Vorlesungen und Kursen, in denen die Teilnehmer unter fachmännischer Leitung selbständige Prüfungen nach bestimmten Methoden vornehmen sollen, sind auch Besichtigungen Berliner Werkschulen vorgesehen. Das Progiamm nennt folgende Gebiete: Betriebswissenschaft und Psycho- technik; Psychologie der Jugendlichen; Prüfung der Sinnestüchtigkeit sowie des räumhchen Vorstellungsvermögens; Krankhafte Störungen im Seelen- leben der Jugendlichen; Übungen in der Untersuchung von industriellen Lehrlingen im Laboratorium für industrielle Psychotechnik; Prüfung der Auf-

') Das Berliner Hilfsscbulwesen umfaßte zu Beginn des Sommerhalbjahres 168 Klassen mit rund 3400 Schülern, darunter befanden sich etwa 100 Schwerschwachsinnige in sechs Sammelklassen.

362 Kleine Beiträge und Mitteilungen

merksamkeit und der Reaktionsleistung ; Prüfung der Denkprozesse ; Prüfung des technischen Verständnisses und konstruktiven Denkens ; Eignungsprüfung des Straßenbahnführers (im Psychotechnischen Laboratorium der Großen Ber- Uner Straßenbahn).

13. Einen Lehrgang für Studienreferendare veranstaltet die päda- gogische Abteilung des Zentralinstitutes (Berlin) in der Zeit vom 21. Okt. bis 12. Dez. 1919; er bringt die folgenden psychologischen Darbietungen: Die Bildungs- und Erziehungsideale in Vergangenheit und Gegenwart (in philosophischer und psychologischer Beleuchtung) (Dr. Müller v. Freien- fels) — Jugendkunde auf psychologischer Grundlage (Realgymnasialdirektor Dr. Otto) Psychologisches Praktikum (Dr. Bobertag).

Literaturbericht.

Dr. Kurt Sternheim, Einlührung in die Philosophie vom Standpunkte des Kritizis- mus. Sammlung „Wissen und Forschen". Bd. VIII. Leipzig 1919. Meiner, 291 S. 7,00 M. Systematisch orientiert behandelt das Buch im ersten Abschnitte zureichend ausführlich „Das Problem der Philosophie", sehr gründlich sodann „Die Erkenntnis des Wahren", weiter dann weniger eingehend die Ethik. Der befremdende Wegfall der Ästhetik wird aus dem äußeren Zwange, den Umfang zu beschränken, erklärt. Geschichtliche Betrachtungen sind in die syste- matische Darstellung vielfach, besonders bei den theoretisch entscheidenden Problemen, ein- geflochten. — Sternheim bemüht sich, den schwierigen Zugang zum Kritizismus diu-ch mancherlei Mittel der äußeren und inneren Prägung seiner gedanklichen Entwicklungen gangbarer zu ge- stalten. In dem von uns gelesenen logischen und erkenntnistheoretischen Teile gelingt dies so weit, als es eben ohne Aufgabe streng wissenschaftlicher Haltung noch möglich ist. Den Mut, in einer philosophischen Darstellung wenigstens solche Fremdwörter, die nicht zur wissen- schaftlichen Fachsprache gehören, möglichst zu vermeiden, bringt er nicht auf. Tr.

Dr. Artur Buchenau, Pestalozzis Sozialphilosophie. Eine Darstellung auf Grund der „Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts". Sammlung „Wissen imd Forschen". Bd. IX. Leipzig 1919. 183 S. 5,00 M.

Durch diese Schrift wird nach hundert Jahren einem Wunsche Herders, dessen Gesamt- urteil über Pestalozzis , Nachforschungen* die vernichtende Selbstkritik seines Verfassers auf ein gerechteres Maß brachte, zu günstiger Stunde die späte Erfüllung dem Wunsche, es möchte sich eine geschickte und freundliche Hand des schwer verständlichen Werkes, das so ganz „die Geburt des deutschen philosophischen Genius" sei, annehmen. Buchenau durfte sich zu dieser Aufgabe berufen fühlen. Er ist Schüler Natorps, der wie keiner sonst in den „sozialen Pestalozzi' eingedrungen ist, und er hat die „Nachforschungen" jahrelang in Übungen und Vor- lesungen vor Lehrern behandelt. Daß er in seiner Wertung des Buches m. E. zu hoch geht, ist der begreifliche häufige Fehler des Forschers, der seinen Gegenstand mit besonderer Liebe umfängt. Jedenfalls bleibt es dankenswert, daß Buchenau den Weg in die schwierigen, oft dunkel liegenden und krausen, oft wunderbar tiefen und schönen Gedankengänge der „Nach- forschungen" zu einer Zeit gangbar macht, in dem Pestalozzis heiße Sehnsucht nach einem neuen Menschentum, das selbsteigene Sittlichkeit adelt, den schweren Atem des beklommenen deutschen Volkes noch belebt. Seh.

A. Hunzinger, Das Christentum im Weltanschauungskampfe der Gegenwart. 3. Aufl. Leipzig 1919. Quelle & Meyer. 122 S. 2,50 M.

In der Sehnsucht und dem Ringen weitester Kreise nach einer Weltanschauung ist Hunzingers fesselnde Auseinandersetzung mit den philosophischen Richtungen, die das Christentum be- kämpfen oder abseits von ihm nach allgemeinerer Anerkennung streben, rasch zu dem Ansehen einer viel empfohlenen Schrift gekommen. Von einer Darstellung der Gegenwartskrisis in der Frage der Welt- und Lebensanschauung ausgehend, zeigt er die christliche Auffassung in Gegen- überstellung zur exakten Naturwissenschaft und zu den Ausprägungen, die der Monismus in seiner natur^istischen, spiritualistischen und konkreten Form gefunden hat. Ein Schlußabschnitt

Literaturbericht 363

behandelt schließlich das ChristeDtum und die moderne historische Denkweise. Gegenüber ihrer Vorgängerin sind in der neuen Auflage nur kleine Verbesserungen im Äußeren notwendig ge- worden. Wir wiederholen unsere frühere Empfehlung der scharfsinnigen Schrift. Tr.

Johannes Volkelt, Professor der Philosophie an der Universität Leipzig, Religion und Schule. Leipzig 1919. Meiner. 64 S. 2,70 M.

Volkelt will der deutschen Schule die religiöse Unterweisung erhalten wisäten. Freilich soll sie deu Lehrer nicht in innerste Not werfen und darf für ihn darum kein auferlegter Zwang sein. (S. 54.) Es ist nach seiner Überzeugung auch unmöglich, einen festen unterrichtlichen Gang wie in anderen Fächern festzulegen. „Weder das Bejahen noch das Verneinen des aus- gebildeten, kirchlich festgelegten Dogmas dürfte als zum Kern der Religion gehörig behandelt werden. Etwas von Lessing-Kantischem Geiste müßte in dem Religionsunterrichte walten.'* (S. 57.) „Sodann aber ist es unerläßlich, daß der Religionsunterricht die Fragen der Lebensgestaltung und Sittlichkeit in seinen Umkreis ziehe und daß dies in einer die moderne Kultur berücksich- tigenden Weise geschehe." (S. 59.) ,.Ein reiner Moralunterricbt in der Volksschule wird die Ge- fahr der Trivialität und schulmeisterlichen Verständigkeit nur schwer vermeiden können." (S. 60.) Volkelt entwickelt diese Anschauungen aus tiefführenden Darlegungen über das Wesen der Religion, aus Erörterungen über die Religion als Kulturmacht und aus Aufdeckungen ihres Ver- hältnisses zu Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit. Auch psychologische Sachverhalte sucht er heranzuziehen. Aber der Abschnitt über „Religion und das Seelenleben des Kindes (S. 32 35) geht vorbei an den neuen kinderpsychologischen Forschungen und führt nicht über die Ein- fühlungen hinaus, wie sie etwa in dichterischer Schönheit bekannt sind aus Pestalozzis Schriften: so in der ,, Abendstunde eines Einsiedlers" und dem wundervollen 13. und 14. Briefe in „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt". Seh.

Dr. Paul Barth, ordentlicher Honorarprofessor an der Universität zu Leipzig, Ethische Jugend- führung. Grundzüge zu einem systematischen Moralunterricht. Leipzigl919. Dürr. 103 S. 5,00 M.

Paul Barth hat es für nicht zu gering erachtet, dem deutschen Volksschüler für den Sitten- unterricht einen Leitfaden „Lebensführung" betitelt darzureichen, und er der Univer- sitätslehrer — hat selbst die Gestaltung des neuen Schulfaches, das neben oder an den Platz der herkömmlichen Religionslehre einrücken wird, mit Fortbildungsschülern versucht. Nun bietet er hier als Fr.icht seiner Erprobung eine für Eltern und Lehrer bestimmte Begleitschrift zu seinem Schülerbuch. Sie will den Gedankenkreis der „Lebensführung" in systematischen Zusammenhang bringen. In den begrifflichen Aufbau wird gleichzeitig Historisches eingeführt und zur Belebung sind aus Dichtungen solche Stücke eingeflochten, die den moralischen Er- örterungen stimmungsvolles Leben zu geben vermögen.

Es ist ein anderes, aus einer Wissenschaft heraus den Schulstoff auszuwählen, als ihn didak- tisch dann weiterhin zu formen. Barth meistert beides. Daß er aus eigener Berufstätigkeit die Wirklichkeit des Unterrichts kennt und daß er als Verfasser der heute angesehensten „Unter- richts- und Erziehungslehre", die auch in mehrere Sprachen übersetzt worden ist, im unter- richtswissenschaftlichen Forschen und Denken Bedeutendes geleistet hat, tut seine besten Wir- kungen auch in diese kleine Schrift hinein: sie ist in ihren stofflichen Entwicklungen reichlich durchsetzt mit unterrichtstechnischen Ratschlägen, deren Wichtigkeit nur der ermessen wird, der selbst einmal didaktisches Neuland bearbeitet hat. Über den Erfolg des systematisch betriebenen MoralunteiTichtes ist dabei Barth mit uns darin einig, daß nur dann eine treibende Kraft ent- wickelt wird, wenn außer der Belehrung zugleich die Persönlichkeit des Lehrers, durchdrungen von einem tiefsten Gefühle für die sittlichen Werte, ihren stillen, mächtigen Einfluß ausübt und wenn das Gemeinschaftsleben der Klasse in sich die erkannten Tugenden betätigt. . . . nieder- ziehend wirken wird ihn (den Schüler) die wirtschaftliche Armut, die uns bevorsteht. Aber ge- rade sie kann ihn auch emporheben, wenn er sie mit festem Willen bekämpft. Niederziehend wirkt noch mehr ein Teil der öffentlichen Meinung, der zu viel von Rechten, zu wenig von Pflichten spricht. Umso fester gilt es, der Jugend das Pflichtgefühl einzuprägen, vertrauend, daß es dann unzerstörbar werde. Denn Goethe hat recht: Niemand glaube, die ersten Ein- drücke der Jugend verwinden zu können*.

Es hätte sich wohl empfohlen, das Kapitel über das Seelenleben ausführlicher auszugestalten. Penn wir haben die gleiche Erfahrung wie Barth machen können, daß es ganz überraschend ist, wieviel Verständnis und Freudigkeit reifere Schüler den psychologischen Fragen entgegenbringen. Um dieses natürlichen Interessenzuges willen und wegen der Vertiefung, die durch see len kund- liche Betrachtungen den verschiedensten Sthulstoffen möglich wird, vertreten wir die alte

364 Literaturboricht

Forderung der Philanthropen, daß auch in den Volksschulen in den höheren Lehranstalten wird Psychologie als Fach nicht länger mehr entbehrlich sein können die Einführung in das menschliche Seelenleben nicht bloß so zufällig, sondern bewußt und planmäßig bei geeigneten Gelegenheiten betrieben wird. Der Moralunterricht ist ein solcher didaktischer Ort. Wir hätten von Barth, auch wenn wir heule bei der guten psychologischen Vorbildung der Lehrer ihrer Fälligkeit zu eigener Gestaltung ganz gewiß sind, doch gern gesehen, wie er im Einzelnen seinen moralischen Unterweisungen die unerläßlichen psychologischen Einschläge gibt.

Leipzig. Otto Scheibner.

Wilhelm Wundt, Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. L Bd. Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie. 4. neubearbeitete Auflage. Stuttgart 1919. Ferdinand Enke. 654 S. 3<',00 M.

Ehrfürchtig wie einem Wunderbaren schaut die wissenschaftliche Welt dem Schaffen des hochbetagten Wundt an seinem literarischen Werk zu. Die neue Auflage seiner Logik ist nicht ein bequemer, wenig veiänderter Abdruck, sondern sie läßt beim ersten Zublicken erkennen, wie die Hand des 87jährigen neugestaltend und weiterführend an ihr gearbeitet hat. Nicht so freilich, daß Wundt sich weitläufij^ mit den neueren einflußreichen Richtungen kritisch aus- einandersetzte. Aber er arbeitet den Grundgedanken seines Werkes, dem er seit dem Erscheinen der ersten Auflage im Jahre 1879 treu geblieben ist, vielfach noch entschiedener und gründ- licher heraus. Unbefangen von den Vorurteilen einer tausendjährigen Überlieferung, will er seine Logik auf den wirklichen Tatbestand des Denkens begründen. Quellen logischer Erkennt- nis sind ihm darum einmal die Sprache, als das lebendige Zeugnis dafür, wie talsächlich ge- dacht wird, und die gesicherten und erfolgreichen Verfahrungsweisen, deren sich die wissen- schaftliche Forschung im Dienste des Erkennens bedienen. Dabei verwahrt sich Wundt auf das entschiedenste dagegen, daß seine Anschauungen, wie es u. a. Husserl in seiner Beurteilung Wundts tat, in die Richtungen einer psychologislischen Logik eingereiht werden. In der Tal weist Wundt, was er auch u. a. in einer Abhandlung dieser Zeitschrift ') scharf auseinandergesetzt hat, der Psychologie und der Logik ganz und gar verschiedene Aufgaben zu, die unter anderen Vor- aussetzungen und anderen Methoden zu erfüllen sind. Befaßt sich die psychologische Unler- suchung mit dem Gesamtbereich unseres Seelenlebens in seiner unmittelbaren Wirklichkeit imd ohne Rücksicht auf seinen Erkenntnisinhalt, so soll die Logik auf eigenartigem Wege die Vor- gänge des Erkennens erforschen, die eine Bedeutung für unser praktisches Denken und für die Wissenschaft besitzen. „Während die Psychologie uns lehrt, wie sich der Verlauf unserer Ge- danken wirklich vollzieht, will die Logik feststellen, wie er sich vollziehen soll, damit er zu wissenschaftlichen Erkenntnissen führe." Damit weisen freilich die Aufgaben der Logik gebie- ten^ auf die psychologische Untersuchung zurück. „Sollen die Gesetze des logischen Denkens nicht als gegebene unerklärba^e Tatsache gellen, so werden sie vor allem bei ihrem Ursprung in der inneren Erfahrung aufgesucht werden müssen." Neben der Darstellung der logischen Normen verlangt darum eine wissenschaftliche Darstellung der Logik eine „psychologische Ent- wicklungsgeschichte des Denkens". Wie diese in dem ersten Band der Logik, der sonst noch die Formen des Denkens, dann die Entwicklung und die Prinzipien des Denkens bringt, in Kürze abgehandelt wird, ist ein Meisterstück Wundtscher Darslellungsknnst. Seh.

Dr. Paul Schuster, Universitätsprof. in Berhn, Das Nervensystem und die Schädlich- keiten des täglichen Lebens. (Sammlung „Wissenschaft und Bildung".) Zweite, neu bearbeitete Auflage. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 137 S. mit 16 Abb. 1,50 M.

Der Schwerpunkt dieser trefflichen Schrift, die bald nach ihrem ersten Erscheinen auch ins Russische übersetzt worden ist, liegt in Darlegungen über Schädlichkeiten, die unser Nerven- system treffen können, und in Belehrungen zur Erhaltung seiner Gesundheit. Nur einleitend wird einiges Unerläßliche über Bau und Funktionen geboten. Es wird durch diese Beschränkung Raum gewonnen für eine um so weiter ausgreifende und umfassendere Darstellung des Gebietes in ärztlicher Betrachtung. Erstaunlich ist es, welch reiche Beziehungen der Verfasser von seinem Gegenstande aus zu den verschiedensten Erscheinungen des persönlichen und kulturellen Lebens aufzudecken vermag und wie er so im besten Sinne aufklärend und volkserzieherisch wirkt. Als Beispiel sei aus vielem herausgehoben, wie die Ausführungen über die mannigfachen Gifte sich mit gesellschaftlichen Sitten und Gebräuchen beschäftigen und wie die Darstellung über die Wirkungen von Unfällen hinführen zu Betrachtungen über das Versicherungswesen. Ein beson-

') Logik und Psychologie. Jahrgang X, S. Iff.

Literaturbericht 365

deres Kapitel ist den psychischen Einflüssen auf das Xervensystem gewidmet. Unter anderem behandelt Schuster auch die Erscheinung der psychischen Ansteckung und der geistigen Epidemien. Für die heute so überaus wichtige Frage der Berufswahl wird das Buch wertvoll durch die Ab- schnitte über Berufsschädlichkeiten und über besonders gefährdete Berufsarten, zu denen vor allem, wie statistisch von Schuster belegt und aus der Eigenart der Unterrichtsarbeit und aus der Lebenslage erklärt wird, der Lehrberuf zählt (S. 114). Schulpädagogisch bedeutsam ist das Schlußkapitel des Buches. Es behandelt die Frage der Anstrengung und wendet sich dabei auch den nervösen Erscheinungen bei Prüflingen und der Frage der Schülerüberbürdung zu. Die abschließenden Darlegungen beschäftigen sich mit der Erziehung durch die Eltern. Nachdrück- lich wird das Haus hier auf die Schädigungen aufmerksam gemacht, die der Gesundheit der Nerven durch Überhitzung der Phantasie und durch Überspannung des Ehrgeizes drohen.

Wir wünschten, daß dieses volkserzieherische Buch in weitesten Kreisen seine guten Wir- kungen ausüben könnte.

Zschopau. Paul Ficker.

A. Meinong, Beiträge zur Pädagogik und Dispositionstheorie. Eduard Martinak zur Feier seines 60. Geburtstages dargebracht von Fachgenossen, Schülern und Freunden. Leip- zig 1919. A. Haase. 165 S. 12.50 M.

Die drei Beiträge, die den Eingang dieser Festschrift bilden und von Meinong, Höfler und einer Schülerin Maitinaks verfaßt sind, würdigen die Persönlichkeit, der die nachfolgende wissen- schaftliche Gabe gewidmet ist. Sie reicht vorerst eine Reihe kürzerer Abhandlungen dar, die in das Gebiet der Dispositionstheorie führen. Meinong selbst gibt eine klare Ana- lyse des Begriffes der Disposition und definiert sie als Zweckkönnen. Prof. Richard Meister untersucht dann die pädagogische Bedeutlang des Dispositionsgedankens. Er stellt dar, wie jedes Unterrichtsfach als ein Dispositionssystem zu erfassen ist und in eine Kette von dispositions- bildenden didaktischen Grundakten aufgelöst werden muß. Es schließt sich eine Abhandlung über die Begabungsforschung an. Besonders wichtig war uns dann eine Untersuchung des Privatdozenten Dr. Otto Tumlirz, die darauf abzielt, die Unterschiede zwischen Wissens- und Fragebegehren herauszuarbeiten. Ebenso bringt der Aufsatz, in dem Ernst Mally sich mit der Begriffsbildung beschäftigt, nicht unbeträchtliche wissenschaftliche Ausbeute. Eine weitere Folge von Arbeiten bewegt sich im Felde der pädagogischen Theorie und Praxis. Diese uns zum Teil femerliegenden und darum überschlagenen Beiträge behandeln die Prüfung der Reife, die Didaktik des physi- kalischen Schulunterrichtes, den Werteausgleich im Schulleben und das Thema: Intuition und Jugend.

Leipzig. Rieh. Tränkmann.

K. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes. Jena 1918. Fischer. 378 S, 10 M. K. Reumuth, Die logische Beschaffenheit der kindlichen Sprachanfänge.

Sammlung von Abhandlungen, herausgegeben von E. Spranger Nr. III, Leipzig 1919.

Dürr. 68 S. 3,00 M.

Die beiden Schriften sind an Umfang und allgemeiner Bedeutung recht verschieden ; aber ihre gemeinsame Besprechung rechtfertigt sich, weil in beiden eine neue Wendung der Kindes- psychologie zum endgültigen Durchbruch kommt, die sich in früheren Werken dieses Gebiets bereits vorbereitet hatte. Es handelt sich um die Anwendung der modernen Denkpsychologie auf die ersten Anfänge des Seelenlebens.

Als die Kindespsychologie ihre ersten wissenschaftlichen Schritte tat, hatte sie sich zunächst gegen einen falschen Intellektualismus zu wehren, der die seelischen Frühstadien kritiklos nach der Analogie des entwickelten Seelenlebens deutete und von „Schlüssen", „Allgemein-Begriffen" usw. sprach, wo rein assoziative Mechanismen oder Äußerungen bloßer Affekte vorlagen. Aber dies Bestreben, die Anfänge so primitiv wie möglich zu fassen, ging nun nach der andern Seite zu weit; und da setzt jetzt die neue Denkpsychologie als wohltätige Reaktion ein. Diese Richtung ist bekanntlich durch die Phänomenologie Husserls einerseits, durch die Würzburger Schule Külpes andererseits bestimmt; sie hat allmählich unsere Auffassung des Seelenlebens wesentlich umgewandelt, freilich zunächst des reifen, erwachsenen Seelenlebens, welches der phänomenologischen Innenschau und der experimentellen Selbstbeobachtung zugänglich ist. Sie hat uns davon überzeugt, daß der Versuch, das geistige Leben allein aus Vorstellungen und ihren mechanischen Verknüpfungen zu verstehen, gänzlich in die Irre geht, daß die eigentlichen Denkinhalte (unanschauliche Gedanken, Bewußtsein der Gewißheit, Relationsbewußtsein usw.) neben den Vorstellungen eine eigene Gruppe von seelischen Erscheinungen darstellen und daß

366 Literaturbericht

die Denkakte (das Erfassen eines objektiven Sachverhalts, das Fällen eines Urteils, das Lösen einer Aufgabe) in ihrer sinnvollen Zielstrebigkeit niemals in blol3 assoziative Vorstellungs- verknüpfung aufgelöst werden können.

Nun gilt es, diese neuen Gesichtspunkte auf die ersten Stadien der seelischen Entwicklung zu übertragen. Groos und ich selbst hatten in unsern Werken über Kindheitspsychologie bereits die grundsätzliche Bedeutung der Denkpsychologie auch für die Entwicklungsprobleme betont und in einer Reihe von Einzelanwendungen von ihr Gebrauch gemacht. Aber die Probleme sind so schwierig, die Fülle der neuen Aufgaben und Gesichtspunkte so groß, daß die Hauptarbeit erst noch zu leisten ist. Und für diese liefern die beiden heute zu besprechenden Bücher wertvolle Beiträge.

Bühlers stattliches Werk ist hervorgegangen aus einem kleinen 1911 veröffentlichten Beitrag zu einem medizinischen Handbuch, ist aber von Grund aus neu geschrieben. Der Krieg hat bewirkt, daß Abfassung und Druck sich durch eine Reihe von Jahren hinzogen, so daß nicht immer der neueste Stand der Forschung berücksichtigt werden konnte und manches vom Verfasser als noch nicht gelöst und geleistet genannt wird, was inzwischen bereits Be- arbeitung gefunden hatte. B, gehört bekanntlich zu den führenden Forschern der Würzburger denkpsychologischen Schule, und deshalb ist der hierauf bezügliche Teil des Buches der weitaus bedeutendste. Aber der Rahmen des Buches ist weiter gespannt; es will die gesamte geistige Entwicklung umfassen. (Gemüt und Willensleben treten zurück.) Und so werden denn die Anfänge des Seelenlebens, die Entwicklung der Raum- und Zeitauffassung, des Sprechens, Zeichnens, Vorstellens behandelt, ehe das Denken selbst zur Besprechung kommt. Während sich einige Kapitel referierend an die Darstellung des schon Bekannten halten (z. B. bei der Sprache), bringen andere sehr fruchtbare neue Gesichtspunkte, so besonders das Kapitel über das Zeichnen, in welchem die Ähnlichkeits- und Gegensatz-Beziehungen des Zeichnens zum Sprechen herausgearbeitet, die besonderen seelischen Bedingungen der übernormalen zeichnerischen Begabung und die Parallelen der Kinderzeichnung zu den prähistorischen Höhlen-Zeichnungen besprochen werden ferner die Ausführung über Märchenalter und Märchenphantasie, wobei sich B. auf eingehende literatur-psychologische Studien seiner Gattin stützen konnte').

War schon bei den bisher genannten Kapiteln fortwährend auf den Einschlag von denk- psychologischen Momenten in die Auffassungs-, Darstellungs- und Phantasietätigkeit Bezug genommen, so beschäftigt sich nun das 7. Kapitel ausschließlich mit der Entwicklung des Denkens. Hierbei holt Bühler zum Teil weit aus, gibt allgemeine psychologische Betrachtungen und Analysen wertvoller Art, deren Anwendung auf das Kind zum Teil erst als Anregung und Aufgabe für künftige Forschungen hingestellt wird, setzt sich mit andersartigen Standpunkten {7. B, mit G. E. Müllers Lehre von der Erinnerungsgewißheit) auseinander, kurz, läßt uns die ganze Schwierigkeit der Problematik, aber auch den ganzen Reichtum dessen, was schon im frühen Seelenleben des Kindes an Denkhandlungen vollzogen wird, ahnen. Dabei ist B. stets sehr vorsichtig; er sucht zunächst überall mit einfacheren Erklärungen auszukommen, läßt den Vorstellungs-Assoziationen und Gedächtnisspuren, den Gewöhnungen und Übungen weitgehendes Recht, zeigt aber überall, wie in dem Anerkennen von Sachverhalten, im Fällen echter Urteile, in der Namengebung, im Erfassen kausaler Beziehungen usw. die Grenzen des bloßen Assoziations- spiels endgültig überschritten werden. Sehr wertvoll waren hierbei, insbesondere für die Er- forschung des vorsprachlichen Denkens, Analogien aus der tierischen Intelligenz. Liegt doch seit kurzem in den Untersuchungen, die W. Köhler'^) in der Affenstation auf Teneriffa an Schimpansen angestellt hat, eine nach Inhalt und Methodik geradezu klassische Studie über tierisches Denken vor, die mit Recht von Bühler herangezogen wird. Köhler hat gezeigt, daß Affen imstande sind, bei neuartigen Situationen (z. B. wenn eine begehrte Frucht nicht auf einem der eingeübten Wege erreichbar ist) sich zu helfen, indem sie Erfindungen machen, sich Werkzeuge verschaffen und schaffen, Kisten herbeiholen und hinaufklettern usw. Diese Handlungen machen durchaus den Eindruck des Sinnvollen, und es ist nur die Frage, ob es sifh dabei um wirkliche „Einsicht", Überlegung, Urteilsfähigkeit handelt, was Köhler auf Grund seiner persönlichen Beobachtung mit Bestimmtheit behauptet, oder ob man nur von „Einfällen* sprechen darf, wozu Bühler neigt. Von welch entscheidender Wichtigkeit solche Tieranalysen für die Frage sein können, ob und in welcher Weise ein wirkliches Denken ohne Sprache auch beim Menschen möglich sei, ergibt sich von selbst.

*) Vgl. das inzwischen erschienene Buch : Charlotte Bühler, Das Märchen und die Phantasie des Kindes. Beiheft 17 zur Zeitschrift für Angewandte Psychologie. Leipzig 1918.

^ Intelligenzprüfungen an Anthropoiden I. Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaft. 1917. Physik.-math. Klasse Nr. 1.

Literaturbericht 367

Die Schlußabschnitte des bedeutenden Bühler' sehen Buches behandeln biologische Probleme, die Ursachenfrage der geistigen Entwicklung und die Bedeutung des Spiels.

Viel enger ist die Aufgabe, die sich Reumuth gestellt hat und mit Scharfsinn zu lösen versucht. Er beschränkt sich auf die Anfangsstadien des kindlichen Sprechens, deren „logischen" Gehalt er festzustellen unternimmt. Er fragt: Was meint das Kind mit seinen ersten sprach- lichen Ausdrücken? und sieht in diesem „Meinen* bereits ein logisches Verhalten in Husserl'schera Sinne. Denn sobald die Sprache mehr als ein bloßes Lallen oder Nachahmung ist, sobald sie etwas ausdrücken will, ist dieses , Etwas" ein transsubjektiver Gegenstand, kein bloßes Traumwirrsal von Vorstellungen. Dieser „Objektivierungsprozeß" wird nun ausführlich im Anschluß an Husserls Lehre von den intentionalen Akten besprochen, aber auch die Lehre anderer Logiker und Denkpsychologen, insbesondere auch Erdmanns Scheidung zwischen formuliertem (sprachlichem) und intuitivem (nicht sprachlichem) Denken wird herangezogen.

R. kommt zu dem Ergebnis, daß bereits vor dem Beginn des sinnvollen Sprechens zwei logische Leistungen vom kindlichen Geist vollbracht werden: das Herausheben einzelner Empfindungen aus dem verworrenen psychischen Gesamtzustand und das Herstellen einzelner transsubjektiver Beziehungen. Mit der Sprache selbst beginnt sich dann allmählich das Begriffsbewußtsein zu entwickeln; zunächst beschränken sich die Bedeutungen auf individuelle Gegenstände, die als identische immer wiedererkannt werden („Eigennamen"); erst langsam und mit Zwischenstufen kommt die Erkenntnis des Gemeinsamen und Allgemeinen zustande.

Zum Schluß betrachtet R. kritisch die Lehren anderer Psychologen über die Sprachanfänge (darunter auch des Referenten), denen er eine zu geringe Berücksichtigung des Logischen und eine zu starke Betonung des reinen Vorstellungsmechanismus vorwirft.

Sicherlich hat R. mit dieser Kritik in manchen Punkten recht: aber nun geht er seinerseits in der Logisierung der kindlichen Sprachanfänge zu weit. Freilich, wenn man alles, was über das bloße Haben und Verknüpfen von Vorstellungen hinausgeht, „Logik" nennt, mag er recht haben; aber wird durch solche Erweiterung nicht die scharfe Bedeutung des „Logischen" ver- gewaltigt? Ist es fruchtbar, die Leistungen der „unterscheidenden und vergleichenden Auf- merksamkeit' im ersten Lebensmonat, welche einzelne Empfindungen und Erapfindungsgruppen aus dem diffusen Gesamtzustand herauslöst, als „Denkleistungen" zu bezeichnen? R. nennt „Denken" jeden Akt des Subjekts, der auf einen transsubjektiven Gegenstand gerichtet ist, unabhängig davon, wie weit bei dieser Zielstrebigkeit Bewußtsein beteiligt ist; ich halte es für zweckmäßiger, von Denken nur dort zu sprechen, wo eine dem Bewußtsein vorschwebende Aufgabe eine Richtung gebende Kraft auf Einstellung und Ablauf des seelischen Verhaltens ausübt. Darum ist auch der Ausdruck „unterscheidende" Aufmerksamkeit, den ich eben zitierte, so zweideutig. Im ersten Lebensmonat gibt es zwar schon ., unterschiedliche" Auf- merksamkeit (d. h. eine solche, die einzelne Teilinhalte herausgreift, andere abgleiten läßt und auf verschiedene Reize verschieden reagiert); aber von einem Akt des Unterscheidens in logischem Sinne ist noch lange keine Rede (S. 44 sagt R. selbst: „Unterscheiden kann das Kind schon sehr früh; aber erst spät taucht die Kateg-orie des Unterschiedes selbst als intentionaler Gegenstand auf." Wäre es nicht richtiger, bloß im letzten Falle von Unterscheiden als „logischem" Akt zu sprechen?) Ein anderes Beispiel für zu weit gehende Logisierung scheint mir die Behauptung des Verfassers zu sein, daß die ersten Wortbedeutungen den Charakter von „Eigennamen" haben. Das Kind meine mit Puppe immer dieselbe eine Puppe. Hier wird eine Identifikation des gegenwärtigen Eindrucks mit früheren vorausgesetzt, zu denen das Kind noch gar nicht fähig zu sein braucht. Die ersten Wortbedeutungen haben weder Eigennamen-, noch allgemein begrifflichen Charakter: das Kind meint den eben gegenw^ärtigen Gegenstand, ohne auf frühere sei es identifizierend oder verallgemeinernd Bezug zu nehmen. R.'s Schrift zeigt einerseits, welche Hilfe eine tief schürfende Analyse der Denkprozesse der Kindespsychologie leisten kann, andererseits aber auch die Gefahr, die entsteht, wenn mau die abstrakte logische Arbeit nicht ständig an dem vollen, reichen Erleben primitiv kindlichen Tuns prüft und mißt.

Hamburg. William Stern.

Anweisungen für die psychologische Auswahl der jugendlichen Begabten. Bd. IX der „Pädag.-psychol. Arbeiten". Hrsg. von Max Brahn. Leipzig 1919. Dürr. 90 S. 3,60 M. Im Institut des Leipziger Lehrervereins besteht ein Ausschuß iür Begabungsforschung, aus dessen gemeinsamer Arbeit die vorliegende Schrift hervorgegangen ist. Es handelt sich im wesentlichen um eine methodische Untersuchung: eine Reihe Tests wurden ausgeprobt, ihre für die Prüfung geeignetste Form mit genauer Anweisung für den Prüfer festgelegt, das Wertungs- verfahren ausgearbeitet. Eine praktische Verwendung der Tests zu wirklichen Begabungsprü-

368 Literaturbericht

fangen hat noch nicht stattgefunden; doch sind durch sie künftige Ausführungen solcher Prü- fungen in sehr dankenswerter Weise vorbereitet worden.

Die Tests sind im allgemeinen für die gleiche Altersstufe gedacht, die auch Moede und Piorkowski prüften, also für 13— lö-jährige. Auch in der Art der Tests findet eine bewußte Anlehnung an die beiden Berliner Psychologen statt; doch werden manche umgeändert, einige neue hinzugefügt. Die Tests sollen folgende psychische Gebiete prüfen: Aufmerksamkeit, Be- obachtungsfähigkeit, Gedächtnis, sprachliche Kombination, Begriffsbildung, Urteilsfähigkeit.

Zu einigen Tests seien kurze Anmerkungen gemacht.

Aufmerksamkeit. Hier wird als neuer Test das Rechnen in einem nicht dekadischen System empfohlen. Ich halte diese, bekanntlich von Voigt in Leipzig zuerst angewandte Prüf- methode für recht wertvoll ; aber ob sie gerade geeignet ist, ein Bild von dem Grade der Auf- merksamkeit zu geben? Denn andere Faktoren, insbesondere allgemeine Intelligenz und mathe- matische Sonderbegabung scheinen bei diesen Leistungen so stark mitzusprechen, daß es mir sehr bedenklich erscheint, den Ausfall als Symptom der Aufmerksamkeit anzusehen. Mit einem anderen, von Moede-Piorkowski übernommenen Aufmerksamkeitstest kann ich mich gleichfalls nicht recht befreunden, mit der sog. „Mehrfachhandlung" (gleichzeitiges Rechnen und Anhören einer vorgelesenen Geschichte). Denn ein solches Zerteilen der Aufmerksamkeit auf zwei dis- parate Aufgaben ist ein ganz gekünsteltes Verhalten, das zum mindesten für die Leistungen in der Begabtenschule garnicht in Betracht kommt (denn wir wollen doch nicht wissen, ob ein Junge imstande ist, auf den Unterricht aufzupassen und zugleich unter dem Tisch Indianer ge schichten zu lesen); die freilich sehr wichtige Distributionsfähigkeit der Aufmerksamkeit bezieht sich fast stets auf gleichzeitige Teilziele einer einheitlichen Handlung; und durch diese teleologische Einheit wird der ganze psychische Prozeß ein anderer.

Inder Abteilung Kombination begegnet uns als neue Methode der Test „Wirre Gedanken". Die einzelnen Sätze einer Geschichte werden auf Zettel geschrieben, die durcheinandergemischt vorgelegt werden und vom Prüfling geordnet werden müssen. Nach den Erfahrungen, die wir in Hamburg mit ganz ähnlichen „Ordnungstests" gemacht haben, verdient eine solche Methode Beachtung.

Mit besonderer Sorgfalt ist in dem Abschnitt Begriffsbildung das „Finden des Wesent- lichen" bearbeitet worden. In der Tat ist die Fähigkeit, aus einem größeren Vorstellungs- komplex das tragende Bedeutungsskelett herauszufinden, so wichtig, daß wir besonderen Wert auf deren Feststellung legen müssen. Die Leipziger haben Geschichten und naturwissenschaft- liche Beschreibungen so umgearbeitet, daß der Wesenskern durch mancherlei Beiwerk und Ab- schweifungen verhüllt ist; gefordert wird, daß bald von der gesamten Geschichte, bald von ein- zelnen Abschnitten ein möglichst kurzer und treffender Auszug gegeben wird. Als eine glück- liche Idee erscheint mir ferner der ,, Telegrammtest": Umwandlung eines Briefinhalts in ein Telegramm; denn hier kann man den Zwang zur Verdichtung des Inhalts auf die wesentlichen Begriffe besonders anschaulich machen.

Auch für die Prüfung der Kritikfähigkeit gibt es eine neue Schattierung : mögliche und unmögliche Reihenaufgaben werden durcheinandergemischt vorgelegt; die unsinnigen sollen herausgefunden werden.

Die Beschreibung der Tests ist eingerahmt von einer allgemeinen Einleitung über Wert und Bedeutung der Begabungsprüfungen und einem Schlußabschnitt über Beobachtungsbogen. In der Einleitung von Brahn steht das Wort: „Die Begabungsforschung hat das Glück oder Un- glück') gehabt, schnell Bedeutung für die Praxis zu gewinnen". In der Tat, wenn aus jener plötzlichen praktischen Verwertung psychologischer Methoden kein Unglück werden soll, dann müssen wir mit allem Nachdruck dafür sorgen, daß nicht übereifriger Dilettantismus sich dieses Verfahrens bemächtigt und es damit binnen kurzem in Grund und Boden ruiniert. Dazu aber ist es nötig, daß die ganze Schwierigkeit der Methodik und ihrer Anwendung ungeschminkt und rücksichtslos dargelegt wird. Dies ist in der weitverbreiteten Berliner Schrift von Moede und Piorkowski nicht geschehen, um so mehr sind wissenschaftlich-methodische Arbeiten wie die vorliegende Leipziger Schrift und die gleichzeitige Veröffentlichung über die Hamburger Auslese ein dringendes Erfordernis.

Hamburg, William Stern.

*) Von mir gesperrt.

Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries; in Leipzig.

Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht.

Von Paul Sickel. I. Theorien der Pflicht.

Die ethischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte waren beherrscht von^ dem Gegensatze der normativen und der genetisch-empirischen Richtungen. Während die normative Ethik absolut allgemeingültige Normen des Handelns aufstellen will, die von den zeitlichen Vorstellungs- und Willensrichtungen ganz unabhängig sind, sieht die genetisch -empirische Ethik die Sittlichkeit als ein geschichtliches Entwicklungserzeugnis an. Es ist klar, daß beide Auf- fassungsweisen als wissenschafthche Methoden nebeneinanderbestehen können: denn die geschichtliche Entwicklung des ethischen Sinnes schließt die Gel- tung absoluter Normen oder Werie keineswegs aus. Der Gegensatz entstand erst daraus, daß die genetisch -empirische Ethik die absolut geltenden sitt- lichen Normen überhaupt leugnete und durch zeitlich bedingte, stets wech- selnde Vorstellungen ersetzen wollte. Gibt sie diesen Anspruch auf, so ist ihr als einer psychologisch-historischen Lehre voUe Berechtigung neben der normativen Moralphilosophie zuzuerkennen.

Die verschiedenen Ansichten über Aufgabe und Wesen der Ethik müssen sich auch in dem Begriffe der Pflicht widerspiegeln.

Als Vertreter der normativen Richtung ist an erster Stelle Kant zu nennen. Nach ihm beruht das Pfhchtgefühl auf dem Bewußtsein eines inneren Sollens, das absolut gebietet, ganz unabhängig von irgendwelchen anderen Beweg- gründen, wie Erfolg oder Neigung. Ob ich etwas gern oder ungern tue, ob mein Handeln Erfolg oder Mißerfolg hat, Nutzen oder Schaden bringt, ist für seine sittliche Bewertung ganz gleichgültig. Zwecke dürfen mein Wollen in keiner W' eise bestimmen. Ich habe dem inneren „Du sollst", dem kategorischen Imperativ unweigerlich zu folgen. Man sieht, daß dies ein rein formaler Begriff, eine ideale Konstruktion ist, der die Wlrkhchkeit nur annäherungs- weise entsprechen kann. In diesem rein formalen Charakter des Kantischen Pflichtbegriffes liegt seine Stärke, aber auch seine Schwäche.

Im Gegensatz zu dieser formalen Ethik verlegt die materiale den Sinn und das Motiv der Pflichterfüllung in den Zweck oder den Gegenstand meines Wollens. Das zu schaffende Werk, der erstrebte Erfolg bestimmen hier die Richtung meines Handelns. Es ist meine Pfhcht, Werte zu verwirklichen und Leistungen zu vollbringen, die ich aus irgendeinem Grunde als notwendig oder nützlich erkannt habe. In ihrer niedrigsten Form sinkt diese Lehre zur Erfolgsethik hinab, nach der letzthin der Erfolg eine Handlung rechtfertigt. In verfeinerter Ausprägung findet sie sich als teleologische Morallehre (z. B. bei Paulsen), wonach zwar der sittliche Wert einer Person in ihrem impera- tiven Pflichtgefühl beruht, das Handeln selbst aber durch wertvolle Zwecke gelenkt werden muß. Neuerdings ist (von Max Scheler) der bemerkenswerte

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. .14

370 Paul Sickel

Versuch unternommen worden, eine absolute Ethik auf materialer Grundlage aufzubauen, die von der Anerkennung absolut geltender sittlicher Werte aus- geht. Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie den schroffen Gegensatz von Kantischer und Nützlichkeitsmoral zu überwinden sucht. Für uns ist jedoch die materiale Ethik vor allem in der krassen Form der Erfolgsmoral wichtig, weil sie die An- schauungen und die Praxis des Durchschnittslebens in weitem Maße beherrscht.

Während die genannten Theorien eine Norm der Pflicht, sei sie nun formal oder material, aufstellen, suchen die genetisch-empirischen Lehren den Pflicht- begriff aus seiner historischen oder auch individuellen Entwicklung zu ver- stehen. Sie wollen zeigen, wie das Pflichtbewußtsein allmählich aus anderen psychischen Elementen entstanden ist. So führt Herbert Spencer das „ab- strakte Pflichtbewußtsein" auf zwei Elemente zurück: 1. auf die Unterordnung unter die Autorität allgemein geltender Gefühle, wie Ehrlichkeit, Wahrhaftig- keit, Fleiß usw., deren Autorität stärker ist als die unmittelbaren Gefühls- antriebe; und 2. auf den Zwang, sei er politischer, sozialer oder rehgiöser Art, der mit dem Gefühl der Furcht vor Strafe im Falle der Verletzung ver- knüpft ist. Dieses Gefühl der Furcht verwandelt sich allmählich in das Ge- fühl der Verpflichtung. Man sieht, daß hier das Pflichtbewußtsein auf etwas anderes, was nicht eigenthch „Pflicht" ist, zurückgeführt wird und der Be- griff der Pflicht seine Selbständigkeit und wesenhafte Ursprünglichkeit ver- liert. In das Innere der sittlichen Persönlichkeit, in den transzendentalen Grund der Pflicht dringen solche Lehren nicht.

Dasselbe gilt auch von Guyaus „Moral ohne Pflicht", so anregend seine Ausführungen auch sein mögen. Auch nach Guyau ist Pflicht nicht ein un- bedingt Forderndes und Gebietendes in mir; vielmehr ist sie wesentlich ein Lebens- und Kraftüberschuß, der nach Äußerung und Verwendung verlangt. Dieser naturalistische und vitalistische Pflichtbegriff trifft ebenfalls nicht den Kern des Problems. Denn es handelt sich doch gerade um die richtige Len- kung des natürlichen Lebenstriebes. Welche Äußerung der Lebensenergie ist sitthch? welche unsittlich? das ist die Frage. Die Pflicht schränkt doch gerade den totalen Lebensdrang ein. Hatte Kant die Pfhcht wesentlich negativ als Hemmung der Triebe aufgefaßt, so stellte Guyau (ähnlich wie Nietzsche) einen mehr positiven und in gewissem Sinne höheren Pflichtbegriff auf: Pflicht ist es, das zu leisten, was in meiner Kraft, in meinem Können steht. Damit macht Guyau jedenfalls auf einen Punkt aufmerksam, den die Ethik bisher wenig beachtet hatte. Aber was sittlich und unsittlich ist, er- klärt seine Theorie nicht, auch nicht durch die anderen „Äquivalente", die er für das Pflichtgefühl einsetzt, wie z. B. das wachsende Gemeinschafts- gefühl und die Freude am Wagnis.

n. Psychologische Pflichttypen.

Neben die beiden genannten Methoden läßt sich nun noch eine dritte stellen, die weder Normen begründen noch historische Entwicklung geben will, son- dern die zu einer bestimmten Zeit, etwa in der Gegenwart herrschenden sittlichen Vorstellungen, Triebe und Willensrichtungen psychologisch zu er- forschen, zu beschreiben und zu verstehen sucht. Sie hat es mit dem empi- rischen sittUchen Bewußtsein in seiner ganzen sozusagen unreinen, d. h. mit heterogenen, unethischen Elementen vermischten Tatsächlichkeit zu tun, ins-

Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht 37 1

besondere auch mit der Verschiedenheit der ethischen Auffassung, wie sie durch die besondere Lebenslage der Menschen bedingt ist. Man hat es längst als einen Mangel der herkömmlichen Ethik erkannt, daß sie die individuellen Unterschiede des sittlichen Bewußtseins vernachlässigt. Eine solche „diffe- renzieUe" Behandlung der ethischen Phänomene mag zwar eher der Psycho- logie angehören; ihre Bedeutung wird dadurch nicht verringert. Sie kann neben der eigentlichen Ethik, die ja mit Recht einen sozialen Charakter an- genommen hat, bestehen. Von besonderer Wichtigkeit ist die Erkenntnis des herrschenden Ethos auch für die Pädagogik. Wir sind dadurch nämlich in der Lage, den Abstand der Durchschnittsmoral einer Zeit von den als geltend angenommenen Normen zu messen, woraus sich dann ergibt, in welcher Rich- tung eine pädagogische Einwirioing erforderlich und durch welche Mittel sie zu erreichen ist.

Der Pflichtbegriff erscheint nun besonders geeignet, um die Bedeutung einer solchen psychologisch verstehenden Behandlung ethischer Probleme ins rechte Licht zu setzen.

Wir haben demnach zu fragen : Wie ist das Pflichtgefühl der heutigen Men- schen tatsächlich beschaffen? Und dazu stellen wir vier Haupttypen des Pfhchtbewußtseins auf, aus denen sich die Pflichtcharaktere einzelner Menschen oder Gruppen zusammensetzen wie chemische Stoffe aus ihren Elementen. Wenn wir dabei wieder auf jene oben angeführten Theorien der Pflicht stoßen, so darf das nicht verw-undern, da jeder Ethiker aus dem komplexen Pflicht- bewußtsein ein einzelnes Element heraushebt, das ihm persönlich oder für seine Zeit als besonders wesentlich erscheint.

Die psychologischen Pflichttypen scheiden wir zunächst in solche allgemein formaler Art, denen ein allgemein gültiges Gesetz oder Gebot zugrunde liegt, und solche, die eine individuell besondere Bestimmung enthalten. Die for- malen Typen sind 1. der rein sittliche Imperativ oder die Pfhchterfüllung „aus Pfhcht"; 2. das äußere Gebot oder die Pflichterfüllung aus Zwang (oder Autorität). Individuell bestimmt kann die Art der Pflichterfüllung werden 1. durch die Person, 2. durch die Sache, den Gegenstand der Tätigkeit.

1. Der reine Pflichtbegriff, Kants kategorischer Imperativ, kennt als Motiv des Handelns nur das autonome innere „Du soUst", ohne jede Rücksicht auf andere Beweggründe, sei es persönliche Neigung oder sachliches Interesse. Verkörpert ist er in dem Typus des idealen Beamten, der nichts als seine Pflicht tut, diese aber mit strengster Gewissenhaftigkeit. Dieser Pflichtbegriff zeigt nüchterne Kälte und Starrheit, aber in seiner Freiheit von jedem außer- sittMchen Einflüsse eine Erhabenheit, die bekanntlich Kant zu seinem be- geisterten Preise der Pflicht anregte.

2. In vollem Gegensatz hierzu steht die Pflichterfüllung aus Zwang. Auch hier herrscht ein Imperativ, aber statt des freien inneren „Du sollst" das äußere, erzwungene „Du mußt". Die bloß zwangsweise Pflichterfüllung ist an sich ohne jeden sittlichen Wert. Sie ist „Dienst" und ihr Typus der Sklave. Sie stellt die tiefste Stufe menschlicher Leistung dar und ist in sittlich-geistiger Beziehung entwürdigend. Man findet sie daher nur in der genetischen Ethik als frühe Entwicklungsstufe des moralischen Bewußtseins vertreten, so bei Spencer.

Die beiden genannten Typen werden nun trotz ihrer absoluten begriffüchen Gegensätzlichkeit im wirklichen Leben durch eine Reihe von Zwischenstufen verbunden, die sich imter den Begriff der Autorität fassen lassen, indem wir

24*

372 Paul Sickel

von der rein äußeren Autorität allmählich zur inneren Autorität des Sitten- gesetzes übergehen. Auf diesem Wege liegen z. B, die Stufen der staatlichen Autorität, der Sitte und der Religion.

3. Individuell kann die Pflicht bestimmt werden zunächst von selten der Person. Es ist der Schaffensdrang, der Überschuß der Lebenskraft, das Be- wußtsein des Könnens, was hier zur Leistung treibt. Nicht ein Sollen oder Müssen liegt hier zugrunde, sondern ein „Du willst", dem erst als Folge das „Du sollst" hinzutritt. Es ist ein Schaffen und Erzeugen aus persönlichem Antrieb. Verkörpert ist es im Künstler. Und wenn dem rein sittlichen Impe- rativ Starrheit und Erhabenheit anhaftet, so zeichnet diesen Typus Wärme und Begeisterung aus. Theoretisch ist er vertreten durch Nietzsche und Guyau.

4. Endlich kann die Pflichterfüllung auch von der Sache her bestimmt werden. Maßgebend ist dann der Trieb zum Werke als Erfolg der Tätigkeit, die Herstellung eines irgendwie wertvollen oder nützlichen Dinges. Der Arbei- tende geht in seinem Werke auf, ordnet sich dem Gegenstande unter und läßt seine Persönhchkeit zurücktreten. Man kann hier von „Werkleistung" oder „Arbeit" im eigentlichsten Sinne sprechen. Dagegen bietet sich kaum ein bezeichnender Ausdruck für die Persönlichkeit, die diesen Typus verkörpert. Vielleicht könnte man mit der nötigen Dehnung des Begriffes schlecht- hin vom „Arbeiter" sprechen. Doch kann natürlich jede Art geistiger oder körperlich-geistiger Tätigkeit diesem Typus zufallen. Theoretisch spiegelt er sich in der materialen Ethik, besonders der Erfolgsethik.

Für die Berufspflichten, d. h. die Leistungen, die sich täglich in gewisser Gleichförmigkeit wiederholen, kommt nun noch ein sehr einflußreiches Moment in Betracht: die Macht der Gewohnheit. Sie kann in doppelter Weise wirken: einmal, indem sie die anfangs mit Widerstreben (sei es „aus Pflicht" oder „aus Zwang") geleistete Tätigkeit allmählich erleichtert und angenehmer macht; dann aber auch umgekehrt, indem sie gegen eine zuerst mit (persönlichem oder sachlichem) Interesse ausgeführte Arbeit abstumpft und sie langweilig und lästig erscheinen läßt. Im ersteren Falle wird die Pflichterfüllung mecha- nisch ; das Pflichtgefühl, falls es zuerst den Ausschlag gab, wird gleichgültig. Im zweiten Falle, wo das ursprüngliche Interesse durch die Gewöhnung ab- nahm, kann ebenfalls mechanische Tätigkeit die Folge sein ; es kann aber auch, da die Arbeit nun gegen die eigene Neigung fortgesetzt wird, der kategorische Imperativ des „du sollst" geweckt und die ursprünghch aus Interesse begonnene Tätigkeit nun aus reinem Pflichtgefühl fortgesetzt werden. Welche Entwicklung eintritt, hängt ganz von der psychischen Eigenart des einzelnen ab.

Besonders zu beachten ist ferner, daß in der WirMichkeit des seehschen Lebens niemals reine Typen höchstens annähernd als Grenzfälle vor- kommen, sondern immer Mischungen, in denen meist alle vier Typen in verschiedenen Stärkegraden miteinander vereinigt sind. So wird der Künstler neben dem inneren Schaffensdrange auch Interesse am Gegenstande haben; auch wird das Gefühl der Pflicht, das innere „du sollst" und selbst ein ge- wisser äußerer Zwang (etwa die Notwendigkeit des Geldverdienens) selten ganz fehlen. Beim Kaufmann wird am stärksten das Interesse am Erfolg sein, ohne daß dabei die anderen Typen völlig zurücktreten.

Ja man kann sogar sagen, daß jeder einzelne Pflichttypus für sich als schöpferisches Prinzip unfruchtbar ist und keine vollwertige Lebensarbeit

Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht 373

begründen kann. Daß bloßer Zwang keine hohen Leistungen hervorbringt, ist selbstverständhch. Das Interesse am sachlichen Erfolge allein wird bei sehr vielen Tätigkeiten, die unser Kulturleben erfordert, versagen. Der innere Schaffensdrang genügt nicht, um eine fortlaufende, gleichmäßige Aufgabe zu eriedigen und bringt die Gefahr mit sich, zu einem egoistischen persön- Mchen Ausleben zu verführen. Der reine Pfhchtstandpunkt ist natürhch als abstraktes ethisches Prinzip unantastbar; aber Paulsen übertreibt wohl kaum, wenn er sagt: „Pfhchtgefühl mag in der Welt viel Schhmmes verhindert haben, aber das Schöne und Große ist nie aus dem Pflichtgefühl (ich würde hinzusetzen: allein) gekommen, sondern aus den Trieben des lebendigen Herzens". Erst eine Vereinigung mehrerer, unter Umständen aller Motive kann wertvolle Leistungen, insbesondere. Dauerleistungen ergeben. Sie wird übrigens schon dadurch befördert, daß jeder Mensch die verschiedenen Motive als Stufen seiner sittMchen Entwicklung durchläuft. Denn die Erziehung des Kindes beginnt mit Zwang und Autorität und bedient sich vor allem der allmählichen Gewöhnung. Dann treten der persönliche Tätigkeitsdrang (be- sonders beim Spiel) und die Lust am Werke hinzu, während das eigenthche Pflichtgefühl als bewußte Autonomie sich erst nach und nach aus den „un- reinen" Pflichtmotiven herauslöst. Jedenfalls aber bleiben auch die niederen Stufen der sittlichen Entwicklung noch bestehen, wenn die höheren schon erreicht sind; und man mag es als eine weise Einrichtung der geistigen Ökonomie ansehen, daß sie zur Erreichung der notwendigen Zwecke des menschhchen Lebens die verschiedensten Motive bereithält, so daß, wenn das eine, etwa das autonome Pflichtgefühl, versagt, ein anderes, sei es auch der „wohltuende" Zwang, eintritt.

Das Pflichtgefühl des einzelnen Menschen ist also ein sehr verwickeltes Gebilde, das nur zum Teil im eigentlichen Sinne „sittlich" ist. Abzuweisen ist die oberflächlich rationalistische Auffassung, als ob ein (etwa, angeborenes) rein formales Pflichtgefühl des sich jeweils ihm bietenden empirischen Inhaltes bemächtigte, ihn sozusagen ergriffe und dann durchsetzte. Vielmehr ist die Art des Pfhchtgefühls jedesmal individuell durch den Inhalt, an dem es er- scheint, bestimmt. Wenn man auch von einem durchgehenden persönlichen Pflichtgefühl des einzelnen Menschen als Bestandteil seines Charakters sprechen kann, so wird doch das Pflichtbewußtsein je nach der auszu- führenden Handlung sehr verschieden sein. Derselbe Mensch, der gewissen Zwecken gegenüber eine sehr lebhafte Verpfhchtung fühlt, bleibt bei andern Aufgaben, die objektiv ebenso wichtig sind, gleichgültig. So etwa, wenn Eltern, die auf die sitthche und gesellschaftliche Erziehung ihrer Kinder aUe Mühe verwenden, die intellektuelle Bildung vernachlässigen. Also: die Inhalte bestimmen das Pflichtgefühl wesentlich mit.

in. stärke und Umfang des Pflichtgefühls.

Man kann beim PfUchtgefühl Stärke (Intensität) und Umfang unterscheiden, obwohl beide von einander abhängig sind. In ersterer Hinsicht handelt es sich um die Kraft des Willens und Gefühls, mit der die gegebenen Inhalte gerade als sittlich gefordert erlebt werden, wie sie von dem Bewußtsein des sittlichen SoUens umfaßt und durchdrungen werden, im Gegensatz zu äußeren Nötigungen und A.nbrieben, die unter Umständen ja denselben ob-

374 Paul Sickel

jektiven Erfolg haben können. Dieselbe amtliche Tätigkeit kann von dem einen mit dem tiefen Bewußtsein einer sittlichen Verpflichtung, von dem anderen (äußerlich vielleicht ebenso gut) als eine, nun einmal notwendige Arbeit verrichtet werden. Bei wem das ethische Bewußtsein eine bedeutende innere Kraft und Tiefe hat, dem wird alles, was ihm überhaupt als erstrebens- wert und geboten erscheint, zu einer verantwortungsvollen sittlichen Aufgabe. Es gibt eine Stufe ethischer Gesinnung, wo das Leben als Ganzes mit Ein- schluß aller Einzelheiten als eine hohe sittliche Forderung aufgefaßt wird. Was nun aber alles in den sittlichen Gesichtskreis tritt, das hängt einer- seits von individuellen Faktoren, nämlich der geistigen und ethischen Eigenart des Menschen ab, andrerseits auch von seiner sozialen Stellung. In letzterer Hinsicht ließe sich wenigstens theoretisch für jeden Stand, ja für jeden einzelnen Menschen ein normaler Pflichtenkreis denken, an dem der tatsächliche Umfang seines individuellen Verantwortlichkeitsbewußtseins zu messen wäre. Dabei kommt neben der Stärke und Lebhaftigkeit des ethischen Gefühles besonders auch die sitthche Einsicht in Betracht. Diese Einsicht ist „sitthch" nicht nur, insofern sie sich auf Gegenstände des ethischen Bereiches bezieht, sondern sie ist auch in gewissem Grade sittlich gefordert. Der Mensch muß und soll wissen, was er entsprechend seiner Lage zu tun hat und was er eben vermöge seiner gesellschaftlichen Stellung auch wissen kann. Wenn der sokratische Satz, daß Tugend ein Wissen sei, irgendwie zu recht bestehen soll, so muß er jedenfalls dahin ergänzt werden, daß das Wissen um den mir angemessenen Pflichtenkreis eben mit zu den sittlichen Aufgaben gehört. Hier liegt wieder einer jener unentrinn- baren Zirkel vor, wie sie unser Geistesleben so viel zeigt: wir können nur das als unsere Pflicht anerkennen und ausführen, was unser Wissen, unser Gewissen uns als sittliches Gebot erkennen läßt; aber wir sollen wissen, was gemäß unserer Lebenslage unsere Pflicht ist.

Der Umfang des Pflichtenkreises erstreckt sich auf die Mitwelt und die Nachwelt, indem er sich in beiden Fällen vom „Nächsten" zum Entfernteren und Fernsten ausweiten kann wobei wir von dem problematischen Be- griffe der Pflicht gegen sich selbst absehen. Das Pflichtgefühl gegen die Mitlebenden hängt wesenthch von der Ausbildung des Sohdaritätsgefühles ab. Die strenge Abgeschlossenheit des einzelnen und der Familien der Groß- stadt gegen die übrigen, z. B. auch gegen die Nachbarn (ein Begriff, der beinahe veraltet ist!) und überhaupt die Vereinzelung der Menschen im modernen Leben, die sog. Atomisierung der Gesellschaft hat zu einer festen, fast starren Umgrenzung des sozialen Pflichtenkreises geführt, wozu auch die schematische Bestimmtheit der Berufs-, besonders der Beamtenpflicht beigetragen hat. Jeder hat seine genau umschriebene Aufgabe und hat sich nicht in fremde Angelegenheiten zu mischen. Dadurch hat das allgemeine VerantwortHchkeitsbewußtsein sehr gelitten. In der freilich engeren Welt unserer Vorfahren fühlte sich jeder mehr oder weniger mitverantwortlich für das Wohl und Wehe auch des Fernerstehenden. Mit der Ausweitung unseres Lebens und der Zunahme der Beziehungen nach allen Seiten hat das teilnehmende Pflichtgefühl nicht gleichen Schritt gehalten. An seine Stelle ist der wirtschaftliche, berechnende Sinn getreten, der im anderen in erster Linie den Konkurrenten und Gegner sieht. Vor allem fehlt das Be- wußtsein, daß jede private Handlung zugleich eine öffenthche Bedeutung

Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht 375

hat. Die Kriegswirtschaft hat es deutlich genug gezeigt, daß die Art meine Ernährimg auch eine öffentliche Angelegenheit ist. Schon Ruskin, der hierin recht unenglisch dachte, hat auf die Unsittlichkeit des Luxus und den Mangel an Verantv\'ortlichkeitsgefühl bei den wohlhabenden Kreisen hingewiesen. Wenn jemand überflüssigen Luxus für sich fordert, dessen Herstellung den Arbeiter nicht wie echte Kunst als Menschen sittlich hebt, sondern zum Sklaven und Werkzeug erniedrigt, so begeht er Raub an der Arbeitskraft und schädigt das sittliche Gefühl der Menschheit. Bei wahrem sozialen Gemeinschaftsgefühl, das sich bis zum Menschheitsgefühle steigern kann, kennt auch das Pfhchtbeuiißtsein keine Grenzen; es bleibt nicht beim „Nächsten" stehen, sondern erstreckt sich bis zum „Fernsten".

Ebenso bedarf das Pfüchtgefühl zeitlich der Ausdehnung. Die Einsicht, daß schlechthin jede meiner Handlungen Folgen hat, die sich in unabseh- barer Reihe in die Zukunft erstrecken und meinem Machtbereich später meistens völlig entzogen sind, muß das Verantwortlichkeitsgefühl gewaltig steigern. Wie wenig aber sind z. B. Eltern bei ihrer Erziehung, zumal bei dem ihren Kindern vorgelebten Beispiele sich beuiißt, daß sie nicht nur dieses eine Kind, sondern in ihm eine ganze Reihe von Nachkommen er- ziehen. Auf diesem Gebiete hat das PfUchtgefühl der sozialen Gruppen wie der Gemeinde oder des Staates einen Vorsprung; je umfassender die Gemeinschaft ist, desto weiter erstreckt sich die Vorsorge in die ferne Zukunft, während die individuelle Moral noch ganz auf das Nächste eingestellt ist. Die Ausweitung des PfUchtenkreises hängt im allgemeinen davon ab, daß ich über meine persönhchen, egoistischen Zwecke auch fremde und über- persönUche Zwecke nicht nur erkenne und anerkenne, sondern sie auch als meine Zwecke in mein ethisches Bewußtsein aufnehme, daß ich die Auf- gaben der Gemeinschaft, des Staates, ja der Menschheit zu meiner eigenen Angelegenheit mache. Derjenige Grand, der ethisch am stärksten zugunsten der Demokratie spricht, ist zweifellos der Übergang der sittMchen Verantwort- hchkeit von wenigen, die sie auf die Dauer für die Gesamtheit nicht tragen können, auf möglichst \iele, auf alle. Die demokratische Ausdehnung der Rechte und damit der Pflichten auf alle setzt also zugleich die Ausdehnung des individuellen Pflichtenkreises wie auch die Stärkung des Pfüchtgefühles voraus. Sie kann daher nur dann zum HeUe gereichen, wenn das Volk schon eine ziemlich hohe Stufe der SittUchkeit erklommen hat.

IV. Die Beamtenpflicht.

Wenden wir unseren Blick von diesen allgemeinen Erörterungen auf die Eigenart der heute herrschenden Auffassung der Pfhcht, so können wir als deren typische Gestalt wohl die BeamtenpfUcht ansehen, wobei das Wort Beamter im weitesten Sinne für alle diejenigen gebraucht ist, denen ihre Aufgabe von einer Organisation bzw. einem Vorgesetzten gestellt wird im Unterschiede von den selbständigen Berufen des Kaufmanns, Unterneh- mers, Künstlers usw. Zwischenstufen gibt es natürhch auch, wie etwa der staatliche Lehrer, der im Dienste eines Verlegers arbeitende Schriftsteller, oder auch der Arzt, insofern seine Pfhcht durch Bestimmungen der Organi- sation eingeschränkt wird.

Die besondere soziale und psychologische Lage des Beamten hat einen eigenartigen , modernen" Pfhchtbegriff erzeugt. Was der Beamte (und der

.376 Paul Sickel

Arbeiter) zu tun hat, steht nicht in seinem Belieben; ja vielfach ist auch die Art und Weise, wie er es zu tun hat, ihm von außen vorgeschrieben. In großen Organisationen, besonders im gesamten Verwaltungswesen kann der Beamte oft den Sinn und Zweck der ihm gestellten Aufgabe ebenso wenig begreifen wie der Arbeiter im industriellen Großbetriebe den Zweck des einzelnen Maschinenteils, den er anzufertigen hat. Ja es kann vor- kommen, daß der Beamte die rein praktische oder sogar die sittUche Be- rechtigung der von ihm geforderten Tätigkeit nicht anzuerkennen vermag, so daß ein Widerstreit zwischen Beamtenpfhcht und persönlicher sittlicher Überzeugung entsteht. Da indes die Lebensstellung meist von der „treuen'* Erfüllung der Beamtenpflicht abhängt, so wird man es selten zum offenen Widerstand kommen lassen. Die gewöhnliche Haltung des Beamten ist viel- mehr derart, daß er eine reinliche Scheidung zwischen Amtsmoral und per- sönlicher Sittlichkeit macht und die Verantwortung für das amtlich Gelei- stete eben auf den Vorgesetzten oder schließlich den Staat abschiebt, die ja in dieser Hinsicht breite Schultern haben. Es entsteht demnach ein Dualis- mus der Moral, wie er z. B. für die Auffassung des deutschen Luthertums maßgebend geworden ist : innere Persönlichkeitsethik und unpersönliche Amtspflichtmoral. Auch Bismarck vertrat wohl diesen Standpunkt. Daß da- bei große äußere Leistungen möghch sind, steht außer Frage. Aber im Grunde ist es doch ein unerträglicher Widerspruch, wenn der überwiegende Teil der Beruf sleistungen, was ihren Inhalt und Zweck angeht, dem persön- lichen ethischen Verantwortlichkeitsgefühl entzogen und in dieser Hinsicht sittlich gleichgültig ist. Dazu kommt, daß bei sehr vielen Berufen die Arbeit auch ihrem sachlichen Gehalte nach gleichgültig ist oder es durch stete Wiederholung allmählich wird, so daß sie gewohnheitsmäßig und mecha- nisch abgeleistet wird. Das persönliche und sachliche Interesse sinkt also ebenfalls stark herab. Ja es fehlt selbst der ganz äußere (und sittlich frei- lich wertlose) Antrieb des größeren finanziellen Gewinnes durch verstärkte Leistung, wie es bei den selbständigen Berufen der Fall ist. Da das Gehalt und dessen regelmäßige Steigerung ein für allemal feststehen, so liegt für sittüch nicht sehr starke Persönlichkeiten die Versuchung nah, sich auf ein Mindestmaß der Leistung zu beschränken. Man tut eben nicht mehr als seine „Pflicht", würdigt dabei den Begriff der Pflicht so sehr herab, daß ihm kaum noch etwas von der Bedeutung des freien inneren SoUens bleibt. Pflicht ist dann dasjenige, was man tun muß, um den Anforderungen der Vorgesetzten eben noch zu genügen. Nietzsche sieht mit Recht darin Leicht- sinn und Harmlosigkeit in sittlicher Beziehung und meint: „Wer seinem höheren Selbst nicht angehört hat, sondern der Gesellschaft dient oder einem Amte oder seiner Familie, der spricht immer von „Pflichterfüllung" damit sucht er sich zu beschwichtigen". Tatsächlich wird mit dem Worte Pflicht arger Mißbrauch getrieben.

Es ergibt sich also, daß der Beamtentätigkeit jene wirksamen Stützen des eigenthchen PfUchtgefühls, das persönliche und sachliche Interesse, in wei- tem Maße fehlen, daß dagegen die Gewohnheit und das Bewußtsein der äußeren Autorität das echte sittUche Gefühl stark überdecken. Andererseits ist es aber auch klar, daß bei dem geschilderten Charakter der Beamten- tätigkeit nur ein wahrhaft ethisches Pflichtgefühl im Kantischen Sinne auf die Dauer ein Herabsinken der Beamtenleistungen verhindern kann, eben

Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht 37^1

weil die anderen Antriebe zur Einsetzung aller Kräfte, die etwa beim Künst- ler, beim Kaufmann und Unternehmer wirksam sind, hier meist versagen. Wir stehen damit wieder vor einem scheinbar unvermeidbaren Zirkel: die Beamtentätigkeit bringt leicht eine Schwächung und Auflockerung des Gesamt- Pflichtbewußtseins mit sich ; aber gerade sie fordert doch wieder ein starkes ethisches Pfhchtgefühl. Oder: die ethische Persönlichkeit wird durch die mechanische Pfichterfüllung erstickt; sie ist aber andererseits unentbehrMch für die Erhaltung eines sitthch hochstehenden Beamtentums. Die Lösung dieser Schwierigkeit kann nur auf pädagogischem Gebiete liegen.

Bevor wir uns ihr zuwenden, muß noch einer mittelbaren sittlichen Stütze des Beamtenpfüchtgefühls gedacht werden, nämlich der Berufs ehre. In früheren Zeiten war sie besonders ausgeprägt bei dem „ehrbaren" Handwerk und bildete die Hauptgrundlage für die ethische und bürgerliche Schätzung dieses Standes. Sie ist dann mehr und mehr auf den Beamten übergegangen, der sich seiner Bedeutung als „Staatsdiener" bewußt wurde. Es zeigt sich nun die merkwürdige Tatsache, daß bei den heutigen Ständen das Gefühl für die Berufsehre im umgekehrten Verhältnis zu dem unmittelbar erlebten geistig-sittlichen Werte der Berufstätigkeit steht. Denn bei den selbständigen und freien Berufen, wo der einzelne seine Tätigkeit selbst bestimmt, ihren Sinn und Zweck erkennt und aus eigenem Antriebe schafft (wie besonders t)eim Geistesarbeiter und Künstler, aber auch beim Kaufmann) ist die Berufs- ehre bei weitem nicht so ausgeprägt wie bei den abhängigen Berufen. Am deutlichsten zeigt sich das ja beim Offiziersstande, wo die Berufsleistung auf der Skala der geistigen Tätigkeiten doch recht niedrig steht, während die Berufs- und Standesehre ein Maximum erreichte. Damit ist aber auch schon der Grund für dieses Mißverhältnis klar. Gerade wo die Pflichtleistung an sich selbst nur geringe geistig-sittliche Werte darstellt, bedarf sie zu ihrer Stütze und Rechtfertigung einer von außen hergeholten Bewertung, Und so muß dem Beamten besonders viel an der Schätzung seines Tuns durch die Gesellschaft liegen, Täghche Schreibarbeit über mir im Grunde ganz gleich- gültige Dinge (wie etwa Rechtsstreitigkeiten) kann unmöglich ein Hochgefühl von dem Werte meiner Beschäftigung erzeugen. Auch das Bewußtsein, ein Ghed einer großen Organisation zu sein, wiegt nicht allzu schwer, da mit ihm doch das Gefühl der Abhängigkeit eng verknüpft ist. Was hier den einzelnen aufrichtet, ist eben die Berufsehre, die übrigens von subalternem Bürokratendünkel und Beamtenstolz wohl zu scheiden ist. Ihre ethische Bedeutung aber beruht darauf, daß sie die wichtigste Stütze des reinen Pflichtgefühls, des strengen kategorischen Imperativs ist, der für die Beamten- tätigkeit mehr als für andere Berufe notwendig ist. Was der Pflichterfüllung des Beamten an sachlicher Teilnahme und persönhchem Schaffensdrange abgeht, das wird ihm zum Teil ersetzt durch das Bewußtsein, daß seiner Tätigkeit als Gesamtheit von der Gesellschaft eine Anerkennung gezollt wird, die von dem Werte seiner Einzelleistung mehr oder weniger unab- hängig ist und die er eben in der Berufsehre mittelbar erlebt.

V. Zur Pädagogik des Pflichtbewußtseins.

AUe erwähnten Stützen und Ersatzmittel können freilich das eigenthch ethische Pflichtgefühl nicht entbehriich machen. Seine Entwicklung ist daher

378 Paul Sickel, Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, bes. der Beamtenpflicht

eine der wichtigsten Aufgaben der Erziehung. Man hat in der frühzeitigen Gewöhnung an strenge PfHehterfüllung einen besonderen Ruhmestitel der deutschen Schule gesehen; er soll ihr nicht bestritten werden. Und doch glaube ich, daß man nicht immer den richtigen Weg eingeschlagen hat und die Pflichterziehung der Schule sich im späteren Leben nicht überall bewährt. Der Grund hierfür liegt darin, daß man den starren Kantischen Imperativ allzu einseitig zugrunde legt und die Zwischenstufen der persönhchen und sachlichen Anteilnahme vernachlässigt. Offenbar muß jede Erziehung zur PfUcht von Zwang und Gewöhnung ausgehen, um daraus erst allmählich das eigentlich sittliche Pfichtbewußtsein zu entwickeln. Im allgemeinen wird in der häuslichen Erziehung wohl mehr das Verbieten geübt als eine positive Entwicklung des ethischen Gefühls erstrebt. Vor der Schulzeit wird das Leben der Kinder hauptsächlich vom Spiel beherrscht; nur wenige Eltern werden planmäßig einen allmählichen Übergang zu pflichtmäßigen Aufgaben herstellen. Um so schroffer wirkt dann der Gegensatz zwischen dem freien Phantasie- und Spielleben der behaglichen Familienstube und dem kahlen, nüchternen Schulraum, wo nun plötzlich der kategorische Imperativ in seiner unerbittlichen Strenge auftritt. Die Pflicht der Schule erscheint daher sehr oft von Anfang an als etwas Hartes, UnfreundHches, Feindliches, als bloßer Zwang. Daß dies für die Enstehung eines persönlichen, schaffensfreudigen Pflichtgefühls nicht günstig ist, liegt auf der Hand. Zumal nun auch die allmähliche Höherentwicklung des Pflichtbewußtseins während der langen Schuljahre nicht genügend gefördert wird. Bis in die Oberstufe der höheren Lehranstalten bleibt oft das Zwangssystem herrschend. Viele Pädagogen, be- sonders der älteren Richtung, sehen gerade in der gegen die eigene Neigung erfüllten Aufgabe ein besonders erziehUches Moment. Zum Teil mit Recht. Nur darf dieses Verfahren nicht zur Einseitigkeit ausarten. Jedenfalls übte die Schule bisher viel zu wenig die Pfhcht aus eigenem Tätigkeitsdrange und aus Interesse an der Sache. Dagegen tritt das Streben nach Erfolg in verhängnisvoller Weise hervor. Bei dem jetzigen Erziehungs- und Unterrichts- system wird die Tätigkeit des Durchschnittsschülers wesentlich von dem Streben beherrscht, durch ein Minimum von Arbeit ein Maximum von Erfolg zu erzielen oder auch durch möglichst wenig Anstrengung noch eben das äußere Ziel, nämlich die Versetzung zu erreichen. Das persönliche Pflicht- gefühl kommt nicht zur Entfaltung, und daher wird auch das Bewußtsein des Sollens nur selten aus dem der äußeren Autorität in das der freien Selbstbestimmung übergehen. Paulsen spricht den schweren Vorwurf aus : „Die Schulen mit ihrer durchgeführten Klasseneinteilung und ihren Verset- zungsängsten richten jetzt den Sinn von klein auf auf das Karrieremachen. " Tatsächlich leisten sie jener oberflächhchen und sittUch bedenklichen Pflicht- auffassung Vorschub, die oben als Hauptgefahr der BeamtenpfUcht gekenn: zeichnet wurde. Es ist pädagogisch falsch, die Erziehung des jugendhchen Pflichtbevmßtseins einseitig auf den Kantischen Imperativ des reinen Sollens aufzubauen. Man verleidet dadurch der Jugend die Pfhchterfüllung von vorn herein. Gerade das heranwachsende Alter hat noch wenig Verständnis für das rein Formale des Sittengesetzes, haftet vielmehr mit allen Sinnen am In- halt, an der Sache. Zugleich ist es von einem Drang nach Selbstbetätigung, einer Schaffensfreude erfüllt, die leicht erlahmt, wenn man ihr allzu früh mit dem starren Gebote der unpersönlichen Pflicht entgegentritt. Das Kind

Adalbert Gregor, Über den Einfluß von Kriegs- u. Zeitkomplexen usw. 379

soll die Pflicht lieben lernen; und dazu sind die Vorstufen Freude am Werke und persönliche Schaffenslust.

Die Auffassung der Pflicht aber, die sich dem jugendliehen Geiste einprägt, ist entscheidend für die spätere sittliche Entwicklung. Und wenn man be- denkt, daß sich auf der Grundlage der Beamtenpflicht das ganze sittliche Leben des Staates aufbaut, der seiner Organisation nach Beamtenstaat ist, so ist es klar, welche Bedeutung für unsere nationale Zukunft die Erziehung zu einem freien, lebendigen Pflichtgefühl hat, einem Pfhchtgefühl, in dem sich rein sittliche Antriebe, Schaffensdrang und Freude am Werke innerhch durchdringen.

Ober den Einfluß von Kriegs- und Zeitkomplexen auf die Definitionsleistung bei Kindern.

Von Adalbert Gregor.

Kurz vor Kriegsausbruch habe ich eine zuerst in meinem Leitfaden der experimentellen Psychopathologie 1) entworfene Methode zur Intelligenzprüfung ausgebaut-), die im wesenthchen darin besteht, daß der Versuchsperson eine Reihe ausgewählter Begriffe verschiedener Quahtäten zur Definition aufge- geben werden. Um Material für die Beurteilung der Leistungen normaler Individuen zu gewinnen, xsiirden dank der BereitAxnUigkeit des Leipziger Lehrervereins mit dieser Methode in zahlreichen Knaben- und Mädchenklassen Massenversuche angestellt, die ich in meinen „Untersuchungen über die Ent- wickelung einfacher logischer Leistungen" 3) veröffentlicht habe. Die Vollen- dung dieser Versuche wurde durch den Kriegsausbruch verhindert, und ein- zelne Klassen blieben damals ungeprüft, was aber für den von mir zunächst verfolgten Zweck ohne besonderen Belang erschien. Als ich jedoch nach Kriegsende an die Aufgabe schritt, die Definitionsmethode auch quantitativ zu verwerten^), um aus den Leistungen das Intelligenzalter zu bestimmen, sah ich mich genötigt, die 1914 gebUebenen Lücken zu ergänzen: dabei wurde ich auf eigentümliche Definitionen gelenkt, welche lediglich durch die seither veränderten Zeitverhältnisse zu erklären waren. Da diese Erscheinung sowohl psychologisches als auch wesentlich sozial-ethisches und pädagogisches Interesse beansprucht, so unirden über die ursprüngliche Absicht hinaus zu den vor dem Kriege unternommenen Versuchen Parallelversuche angestellt, für deren Durchführung ich dem Leiter der 30. Volksschule zu Leipzig- Stötteritz, Herrn Direktor Pritsche zu Danke verpflichtet bin. Das hier ver- arbeitete Material setzt sich sonach aus Normalversuchen 1914 und Vergleichs- versuchen 1919 zusammen. Beide Versuchsreihen erstreckten sich auf Knaben und Mädchen und zwar je auf die II. VI. Klasse (7. 3. Schuljahr).

Die zur Untersuchung der Denkleistung von mir im Definitionsverfahren verwendeten Begriffe waren von vornherein so gewählt, daß verfängliche

'■) Berlin (S. Karger) 1910.

^) IntelUgenzuntersuchungen mit der Deünitioosmethode. Mft f. Psych, u. Neorolog. 1914.

■>) Zft. f. angewandte Psychologie Bd. 10. S. 339 ff. 1915.

^> Die Arbeit soll in der Zft. f. Kinderforschung veröffentlicht werden.

380

Adalbert Gregor

Worte, welche sich bei den bekannten Assoziationsversuchen als komplex- auslösend erwiesen hatten, vermieden wurden, da die Berührung von Kom- plexen die intellektuelle Leistung beeinträchtigen konnte. Natürlich war es klar, daß diese Aufgabe, Komplexe auszuschließen, überhaupt nicht lösbar sei, wie denn auch in meinen Versuchen, die in ausgedehnter Weise an Ver- wahrlosten i) angestellt wurden, einzelne Reaktionen z. B. auf Arbeit, Ver- gehen, Urteil in stark verlängerter Reaktionszeit und im Inhalt der Aussage Komplexwirkungen erkennen ließen. Als Komplexreaktionen sind auch die im folgenden zu besprechenden Definitionsleistungen normaler Volksschüler aufzufassen, obzwar das affektive Moment, da es sich um Massenversuche in der Schule handelte, nicht feststellbar war.

Da bei der Auslösung von Komplexen der Zusammenhang, in dem das Stichwort gegeben wird, von Bedeutung ist, lasse ich die in diesen Versuchen verwendeten Wörter in der dabei stets beobachteten Ordnung folgen und setze ein bis mehrere + Zeichen daneben, je nach dem Grade, in dem sie sich wirksam zeigten, Komplexe auszulösen.

Stuhl

Schrank

Tisch

Mantel

Rohr

Grenze

Arm

Bein

Mund

Zunge

Auge

Gehirn

Haus

Laube

+ +

Zelt

Schiff

Tür

Arbeit

Tausch

Pfand

Ordnung

Pacht

Bündnis

Kolonie

Gemeinde

Gesetz

Obrigkeit

+ + + +

+

+ + +

+ + +

++

++

+

+

+

6. Erklärung

Absicht

Ursache

Widerspruch Urteil

7. Laster

Mut

Gerechtigkeit

Mitleid

+

Sitte

1

Vergehen

Irrtum

Rache

Die Tatsache, welche zu diesen Ausführungen Anlaß gab, kann durch die Gegenüberstellung je zweier Tabellen veranschaulicht werden, von denen die ersten beiden (Tabelle 1 u. 3) sämtliche Definitionen einer III. Mädchen- klasse für die Begriffe Mut und Tausch aus den im Frühjahr 1914 ange- stellten Versuchen enthalten. In den beiden anderen Tabellen (2 u. 4) sind die analogen Leistungen einer Mädchenklasse gleicher Ordnung nach den Versuchen des Frühjahrs 1919 zusammengestellt. Der Vergleich beider Gruppen läßt auffällige Unterschiede erkennen. Die 1914 für Mut gegebenen Erklärungen gehen mehr ins allgemeine, verschiedentlich werden abstrakte Namen Zorn, Tapferkeit, Wagen gebraucht. Einigemale kommen auch indi- viduelle Reaktionen vor, wobei anzunehmen ist, daß die Stellung der eigenen Persönlichkeit zu dem Begriffe Mut die Aussage bestimmte (vgl. Nr, 1, 2, 3, 15, 26, 28, 31). Dagegen zeigen die Definitionen aus dem Jahre 1919 Tab. 2. ohne weiteres die Beziehungen zum Kriege. Sie sind im ganzen viel kon- kreter, der Mut wird als spezifische Eigenschaft des Soldaten im Kriege ge- faßt. Einen wesentlich andern Komplex verrät die Definition Nr. 36. Man muß hier wohl an den Einfluß unserer jetzigen Zeitverhältnisse denken, der

') Gregor-Voigtländer, Die Verwahrlosung, ihre klinisch-psychologische Bewertung und ihre Bekämpfung. Berlin 1918.

über den Einfluß von Kriegs- und Zeitkomplexen usw.

381

Tabelle 1. Versuche 1914. III. Mädchenklasse.

Mut

9. 10. 11.

12. 13.

U.

15.

16.

Wenn man sich vor niemand fürchtet. Ist wenn sich anspornt und sich vor nichts fürchtet. Mut ist, wenn man keine Angst hat.

Mut

Mut ist Zorn.

Ein Held, der sich alles wagt.

Kraft, ein starker Wille, eine feste

Zuversicht auf eine Hülfe.

Die Angst ist von diesen Menschen

gewichen.

Ein furchtloses Wagen.

Ist eine Ehre.

Wenn jemand mutig ist, er fürchtet

sich vor keinem Menschen.

Mut ist, wenn man sich nicht fürch- tet und tapfer ist. Mut ist ein Ding, das sich anfeuert im Kampf.

Mut ist, wenn man sich vor nichts fürchtet.

Wenn jemand gegen ein wüdes Tier geht, ist es Mut.

17. 18.

19.

20. 21. 22.

23. 24. 25. 26.

27. 28.

29. 30. 31. 32. 33. 34.

Die !>fenschen haben Mut.

Wenn man verloren hat und man

faßt immer wieder Mut.

Mut ist, wenn man tapfer auf einen

los der ein Unrecht getan hat.

Mut ist, wenn man sich

Mut ist Kraft die man im

braucht.

Mut ist Tapferkeit.

Die Kraft des Menschen.

Krieg

Wenn man wo zögert, da muß man

sich den Mut nehmen.

Tapfer sein, mutig sein, kräftig.

Mut ist, wenn man keine Angst hat

und ist beherzt, wenn auch etwas

Schlimmes zufügt.

Einen Willen.

Man hat keine Angst. Der Mut ist ein

Mut ist

Tabelle 2. Versuche 1919. III. Mädchenklasse.

Mut.

1.

2. ist ohne Furcht.

3. kühn, nicht ängstlich sein.

4. zeigt der, der etwas kann.

5. muß jeder Deutsche haben.

6. hat der Soldat, wenn er in den Ivrieg zieht.

7. In dem jetzigen Kriege haben man- che Soldaten.

8. Wenn ein Mann Mut besitzt, so kennt er keine Furcht.

9. den Mut hat der Krieger.

10. ist wenn man der Gefahr entgegen- sieht vmd nicht zurückweicht.

11. ist, wenn jemand für nichts Angst hat.

12. ist Waghalsigkeit.

13. Mut der Soldaten war 1914 groß.

14. Mut braucht der Soldat im Kriege.

15. ist, wenn einer recht tapfer kämpft.

1 6. DerMann hat denMut mit in denKrieg.

17. Der Soldat hat Mut.

18. Die Soldaten haben Mut.

19. muß man haben.

20. Mut ist, wenn man einen

21. Der Soldat hatte Mut im Kriege.

22. Mut zum Kämpfen hat er.

23. dazuspringen.

24. Ich habe heute frischen Mut.

25. Mut ist die Tapferkeit.

26. Das Kind hat Mut.

27. darf den Menschen nicht verlassen.

28. Der Soldat hat Mut.

29. Der Krieger hat frischen Mut.

30. ich habe den Mut ins Wasser zu springen.

31. Mut ist, wenn ein tapfer streitet

32. wenn er tapfer kämpft.

33. wenn er tapfer kämpft.

34. hat der Ivrieger.

35. ist, wenn er sich alles wagt.

36. wenn er Mut liat, etwas zu st«hlen.

37. haben die deutschen Soldaten.

38. braucht der Soldat im Kriege.

39. ich hatte Mut.

40. Mut die Soldaten.

41. der Soldat hat Mut.

42. gegen den Feind.

43. Der Knabe hat Mut.

44. hat der Soldat.

45. Mut zeigt der etwas kann.

382 Adalbert Gregor

Tabelle 3.

Versuche 1914. UI, Mädchenklasse.

Tausch.

2. Die Kinder haben etw. die einen möchten dieses gern haben, d. andern das, so tauschen sie.

3. Ein Tausch ist, wenn man jem. etw. gibt und der gibt uns etw. anderes dafür.

4. Einen Gegenstand jemand geben und sie geben uns einen andern.

5. Ein Tausch ist ein Wechseln.

6. Die Germanen vertauschten für kein Geld ihre Haare.

7. Ein Wechseln.

8. Damit tauscht man eine Sache für eine andere ein.

9. Wechsel.

10. Die alten Deutschen vertauschten ihr Vieh für Schmucksachen.

11. Ein Tausch ist, wenn man mit noch jem. für etw. anderes tauscht.

12. Wenn man sich einen Ring für ein Armband gibt, das ist ein Tausch.

13. Ein Tausch ist, wenn man etw. hat und tauscht es für etwas anderes.

14. Ein Tausch ist ein Ding, womit man etwas anderes eintauscht.

15. Ein Tausch ist, wenn man etw. hat und ein andrer auch, und ich gebe es den andern u. er gibt mir d. andere.

16. Wenn zwei Leute mit einem Gegenstand tauschen, so ist es ein Tausch.

17. Man verwechselt etwas.

18. Man verwechselt etwas.

19. Ein Tausch ist, wenn man eine Uhr gegen eine Kette vertauscht. 20.

21. Der Tausch ist

22. Ein Wechsel

23. Ein Tausch ist, wenn von einem Kinde ein Bild bekomme und ich gebe auch eins, d. ist Tausch.

24. Der Tausch ist, da gibt etwas und man bekommt etw. anderes dafür.

25. Ein Tausch ist, was nicht so schön ist, so kommt eine Frau, was sie kaufen kann, so bekommen wir Geld dafür.

26. Ein Tausch ist, ein um den andern etwas Anderes zu geben.

27. Ein Handeln.

28. Ein Tausch ist, wenn ein Mädchen dem andern eine Feder gibt und das andere ein Löschblatt.

29. Wenn man etwas falsch gebracht hat, so kann man es wieder umtauschen.

30. Ein Tausch ist, wenn man mit jemanden tauscht, 31.

32.

33. Ein Tausch ist da, wenn man was sieht, nnd man möchte es auch haben, da tauscht man.

34. Wenn wir etwas vertauschen, das ist Tausch.

Tabelle 4.

Versuche 1919. III. Mädchenklasse.

Tausch.

1. Der Tausch ist eine gegenseitige Wechselung.

2. Die Leute tauschen wegen Lebensmittel beim Bauern.

3. Jeder Tausch ist ein gegenseitiges Wechseln.

4. Ein Tausch wird durch ein gegenseitiges Wechseln der Gegenstände vollbracht.

5. Tausch ist wenn ich jemand um etwas anderes gebe.

6. Ein Tausch tut man wenn man nicht hat.

7. Tausch heißt, wenn andere Leute mit einander etwas tauschen.

8. Ein Tausch ist, wenn man mit einem anderen etwas wechselt.

über den Einfluß von Kriegs- und Zeitkomplexen usw. 383

9. Ein Tausch ist wenn man etwas anderes haben will, so tauscht man mit an- deren Leuten.

10. Tauschen tun viele Leute sie geben Stoff und dafür bekommen die Leute Lebensmittel.

11. Die Bauern tauschen mit Zucker und die Leute bekommen Kartoffeln oder Eier.

12. Manche Leute machen einen Tausch, sie tauschen mit etwas.

13. Wenn ich etwas gekauft habe und will es nicht haben, so tausche ich es wieder um.

14. Manche Leute tauschen mit Sachen.

15. Es tauschen viele Leute mit Eßware.

16. Viele Leute tauschen mit etwas andern.

17. Viele Leute tauschen mit Lebensmittel.

18. Die Länder tauschen um was wir nicht haben bekommen wir von einem anderen Land, und sie von uns was, was sie nicht haben.

19. Die Leute tauschen jetzt mit den Lebensmitteln.

20. Tausch ist, wenn dir jemand was gibt und du gibst ihm wieder was.

21. Wir tauschen mit anderen Ländern Ware ein.

22. Tausch ist ein Ding, welches wir im Kriege viel getan haben.

23. Tausch heißt wenn die Leute sich gegenseitig mit Nahrungsmitteln aushelfen oder mit sonstigen Gegenständen.

24. Der Tausch ist, wenn man etwas vertauscht und etwas anderes davor be- kommt.

25. Manche Leute machen einen Tausch mit einander da geben sie Zucker und wollen Kleidung dafür haben.

26. Wir Deutschen tauschen mit den Franzosen, wir geben ihnen Zucker, sie geben uns weißes Mehl.

27. Die Leute tauschen Sachen mit Lebensmittel ein um etwas zu essen haben.

in viel deutlicherer Weise in der Definition des Begriffes Tausch zutage tritt. Wenn in den Versuchen aus dem Jahre 1914 (Tab. 3) dieser Begriff exemplifiziert werden sollte, so wurde auf die Germanen zurückgegriffen Nr. 6, 10; oder es lieferten die kleinen Tauschhändel der Schulkinder den Stoff. Die Definitionen von 1919 (Tab. 4) führen uns mitten ins reale Leben und bedürfen keiner Erläuterung.

Mit den beiden Beispielen haben wir bereits auf die wesentüchen in un- seren Definitionsversuchen wirksamen Komplexe hingewiesen. Im folgenden sei noch auf die weiteren Reaktionen eingegangen, die in ähnlicher Weise von dem Typus der 1914 gewonnenen Leistungen abwichen.

Der Kriegskomplex wurde ebenfalls diu-ch Arm und Bein, ferner durch Grenze, ganz besonders aber durch Zelt angeregt. Arm und Bein weckten die Vorstellung verletzter GHedmaßen: „der Arm, das Bein ist zerschossen, der Soldat hat ein Holzbein". Der Begriff Grenze wnirde 1914 in mehr oder weniger guter Formulierung meist mit Landesende definiert. Einzelne brachten auch das Moment der Zollrevision herein; Grenzschutz wurde als Merkmal nur selten genannt. 1919 rückt diese Seite stark in den Vorder- grund: „Die Grenze wird überwacht, an der Grenze stehen Posten, an unserer Grenze marschieren Soldaten" usw. In noch stärkerem Maße erweist sich der Kriegskomplex beim Begriff Zelt wirksam. Auch hier wurde 1914 die Beziehung zum Soldaten gelegentlich erwähnt. Jetzt werden der- artige Definitionen geradezu stehend: „Zelt haben, brauchen die Soldaten, das war den Kriegern ihre Wohnung " zuweilen kommen dabei technische

384 Adalbert Gregor

Ausdrücke in falscher Anwendung vor: „Zelt ist ein Gegenstand unter welchem die Feinde decken."

Von den abstrakten Begriffen wird der Kriegskomplex durch Bündnis, Er- klärung, Mitleid, Rache ausgelöst. Bei Bündnis werden die bekannteren des Vierbundes und der Ententestaaten genannt. Als inhaltlich auffällige Aussagen sind Definitionen aus der III. Knabenklasse zu erwähnen: „der Feind schließt mit Deutschland ein Bündnis" und in der Umkehrung: „Deutsch- land hat mit dem Feinde ein Bündnis geschlossen". Derartige Denkfehler müssen, zumal da es sich um ältere Schüler handelt, vom Pädagogen be- achtet werden. „Erklärung ist wenn der Krieg losgeht" in diesem Falle (V. Knabenklasse) erschöpft Kriegserklärung den Begriff. Gewöhnlich äußert sich der Komplex aber in der Exemphfikation: „Die Franzosen, Engländer erklären uns den Krieg". Mitleid erweckt wieder die Vorstellung verwun- deter Krieger, gelegentlich auch gefallener Familienmitglieder. Rache wird teils, und zwar von jüngeren Kindern, den Soldaten im allgemeinen, häufiger, meist von älteren Schülern, Franzosen und Engländern, einmal auch den Deutschen zugeschrieben.

Die Komplexwirksamkeit des Wortes Obrigkeit erweist sich dadurch, daß im Gegensatz zu 1914, wo Kaiser und König meist als Inbegriff der Obrig- keit erschienen, jetzt bei der Exemplifizierung des Begriffes militärische Chargen genannt werden. Mehrfach wird aber auch schon der Ausdruck Präsident gewählt.

Nach beiden Richtungen zielen die Begriffe Kolonie und Schiff. Letz- teres wird ganz selten als Kriegsmittel gefaßt, viel häufiger wird 1919 da- durch einer unserer Zeitkomplexe angeregt; nämlich das Interesse an der Lebensmittelversorgung: „Ein Fahrzeug auf dem Lebensmittel befördert wer- den" bildet in höheren Klassen geradezu eine stehende Definition. Primitiver wird der gleiche Gedanke in den Mädchenklassen ausgedrückt: „ist sehr nützlich, denn es bringt uns Lebensmittel". Der Hungerkomplex tritt uns beim Begriff Kolonie entgegen. Tatsächlich kann man sich die sehr ge- läufigen Definitionen „da gibt es Milch, da gibt es etwas zu trinken", heute kaum anders als einen Ausruf des Entzückens denken. Bei älteren Schülern spielt in die Definitionen von Kolonie auch der Kriegskomplex hinein. Zunächst werden häufiger, als es 1914 der Fall war, z. T. fälschlich deutsche Kolonien aufgezählt. Ganz unzweideutig tritt der Komplex jedoch hervor, wenn vom Raube der Kolonien durch die Engländer die Rede ist.

Eine lediglich quantitative Differenz ergaben 1919 die Definitionen von Pacht. Feld- und Gartenpacht werden jetzt in einzelnen Klassen damit förmlich identifiziert.

Zum Abschlüsse sind noch einzelne individuelle Reaktionen von besonderer Eigenart zu erwähnen, die eine bemerkenswerte Stellungnahme zu den Zeit- verhältnissen erkennen lassen. Die meisten der folgenden Begriffe ergaben vielfach auch typische Definitionen mit deutlicher Komplexwirkung. Es seien hier aber die Reaktionen hervorgehoben, die einen tendenziösen Anstrich zeigen.

Gesetz: ist was von den Räten veranlaßt ist (II. MädchenkL), Eine Verfassung von Räten (II. Knabenkl.). Einhalten eines Vertrages gegen das Volk (II. Knabenkl.). Daß die Herrscher nichts machen können mit dem Volk (11. Knabenkl.).

über den Einfluß von Kriegs- und Zeitkomplexen usw. 385

Gemeinde: ist ein Dorfrat (V. Knabenkl.).

(jerechtigkeit: um die Menschen nicht zu empören wenn die Armen genau so viel Brot zugeteilt bekommen, wie die Reichen.

Vergehen: es sind jetzt viele Vergehen begangen worden.

Rache: wenn einer 1 C. Kohlen hat und einer nicht, so übt er am Kohlen- händler R. aus (n. Knabenkl.).

Sitte: das Stehlen ist jetzt Sitte (UI. Knabenkl.).

Da diese Aussagen von älteren Schülern (II. III. Kl.) gemacht werden, so sind sie nicht einfach als Reproduktionen mißverstandener Wortverbin- dungen aufzufassen, vielmehr als Ausdruck tatsächhcher Anschauungen, die pädagogisch ernst genommen werden müssen.

Über die Häufigkeit, in welcher Kcmplexreaktionen in unseren Versuchen vorkamen, gibt nachstehende Tab. 5 Aufschluß, in welcher die Zahl der Schüler, in deren Definitionen Kcmplexwiikung festzustellen war, mit +, die Zahl jener, bei denen Komplexreaktionen fehlten, mit bezeichnet wurde.

Tabelle 5.

Knaben

Mädchen

Klassen

+

.

+

II '

25

10

38

7

in

35

2

26

9

IV

35

1

40

7

V

24

14

10

38

VJ

26

11

8

25

Das Ergebnis unserer vergleichenden Untersuchung von Definitionsleistungen vor und nach dem Kriege hat nach verschiedenen Richtungen Interesse:

1. Zunächst sind die hier gemachten Beobachtungen für die Verwendung der Methode selbst wichtig, da sie eine Bestätigung ihres Grundprinzips er- bringen. Sie sollte ein Verfahren bilden, welches die Denkleistungen unab- hängig vom Schulwissen zum Ausdruck bringt; hier finden wir einen deut- lichen Bew-eis, daß die Lebenserfahrungen des Kindes bestimmend auf den Ausfall des Versuches sind.

2. Ist es psychologisch von Interesse, daß Kriegs- und Zeitkomplexe das Bewußtsein des Kindes derart erfüllen, daß eine durch sie besonders be- tonte Seite des Begriffes für sein Wesen gehalten wird.

3. Ist es vom sozial-ethischen Standpunkt bemerkenswert, wie sich Vor- gänge der jüngsten Zeit im kindMchen Geiste reflektieren, seine Anschauungs- weise bestimmen und Einfluß auf sein moralisches Urteil gewinnen.

4. Glauben wir aus unseren Versuchen einen Hinweis und eine Mahnung für die Pädagogik entnehmen zu müssen. Es ist ja sicher nicht gleichgültig, welchen Niederschlag die Zeitverhältnisse im jugendlichen Gemüt finden, und es ist Sache der Pädagogik, falsche und moralisch bedenkliche Ideenverbin- dungen zu lösen.

Es könnte vielleicht als ein Umweg erscheinen, von dem hier betretenen Wege Anregungen zu pädagogischem Handeln zu holen. Allein es ist doch

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 25

386 Adalbert Gregor, Über den Einfluß von Kriegs- u. Zeitkomplexen usw.

zu erwägen, ob die tatsächliche Denkungsweise des Kindes in solchen un- gezwungenen Versuchen nicht reiner zum Ausdruck kommt als in den üb- lichen pädagogischen Besprechungen, bei denen gleich von vornherein eine bestimmte moralische Einstellung gegeben ist, welche das eigentliche Urteil des Kindes in den Hintergrund drängt. Unter diesem Gesichtspunkte erscheint die Durchführung derartiger Versuche zu rein pädagogischen Zwecken er- wägenswert.

Über das logisch-rechnerische Denken der Zehn- bis Zwanzig- jährigen au! Grund experimenteller Untersuchungen.

Von Woldemar Voigt.

Die im folgenden besprochenen Untersuchungen bilden die Fortsetzung einer im Jahre 1913 veröffentlichten Arbeit „Über die Anlage zum Rechnen".') Der große zeitliche Zwischenraum erklärt sich aus der Teilnahme des Ver- fassers am Feldzuge. Währenddessen ist die Arbeit von Meumann besprochen worden 2), und das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger Lehrervereins hat die von mir ausgebildete Methode das Rechnen in fremden Systemen als Test für die „psychologische Auswahl der jugend- lichen Begabten" verwendet. 3)

Die Einflüsse der Kriegszeit auf die physiologisch -psychologische Grund- lage der Untersuchungen bilden ein Problem für sich, sie sind im vorliegenden Falle aber ohne Belang, da bis auf einen Sonderfall im großen ganzen die Einwirkungen auf alle Versuchspersonen die gleichen sind. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich nur in der Verknüpfung der diesmaligen Er- gebnisse mit denen von 1912, einmal wegen der eben erwähnten Einwirkungen des Krieges in der Zwischenzeit und sodann wegen der notwendig gewor- denen Verschiedenheit der Aufgaben. Die Schwierigkeiten erweisen sich jedoch nicht als unüberwindlich.^)

Die Versuche.

1. Lektion und Aufgaben. Die 1912 verwendete Lektion ») ist in allen Fällen in der gleichen Weise wieder gehalten worden, nach Möglichkeit wörtlich und im übrigen so, daß die geringste Abschweifung oder unerwünschte Weiterführung sofort und durchaus unterbunden wurde. Das war nach Lage der Sache in der höheren Mädchenschule begreiflicherweise nicht immer ganz leicht. In den Lehrerbildungsanstalten ging es ohne Schwierigkeit so, daß sie als „Probelektion" dargeboten wurde. Jedenfalls kann die Lektion kein Hindernis für die Vergleichung und Verknüpfung der früheren und jetzigen Ergebnisse bilden.

Als Aufgaben für die Umrechnungen habe ich dieselben genommen wie früher c), bei den Rechnungen sind Subtraktion, Multiphkation und Division

1) ßrahn u. Döring, Archiv für Pädagogik, Abt. II: Die pädagog. Forschung, Jalirgang I, Heft 2, Leipzig 1913, S. 129—197.

2) Meumann, Vorlesungen z Einf. in die exp. Päd., Leipzig 19U, Bd. in, S. 819.

^ Erahn, Pädagogisch-psychologische Arbeiten des L. L. V., Leipzig 1919, IX. Bd., S. 41> *) Siehe S. 405. s) Voigt, a. a. 0., S. 132ff. «) Voigt, a. a. 0., S. 135ff.

W. Voigt, Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 337

hinzugekommen. Die eine Wurzel war nur als Zeitfüllsel für schnelle Rechner gedacht; sie ist übrigens von keiner Vp. in Angriff genommen worden. Von einigen älteren Vpn. habe ich sofort nach Schluß des Experiments eine ganz kurze, ungekünstelte Schilderung ihres seehschen Erlebens verlangt.

Es waren niu* zweimal je zwei verschiedene Aufgabenreihen nötig, da ich diesmal zur gleichen Zeit benachbarte Schüler in verschiedenen Systemen habe rechnen lassen.

1. Aufgabenreihe.

Umrechnungen im Achtersystem (U VIII). 274. 316, 407, 100, 53, 10, 1234, 1000, 20400, 275036-

Umrechnungen im Sechsersystem (U VI). 351, 444, 302, 100, 34, 10, 2054, 1000, 14302, 404302.

2. Aufgabenreihe. Rechnungen im Achtersystem (R VIII).

a) 365 -^ 754

b) 35 - 43

c) 235 + 7257 - 67

d) 547-256

e) 7006-5325

f) 517 . 6

g) 53 . 76 . h) 56&4:7

i) 1005:57 k) 36366:713

1) &43456 : 306 m) V333141

a) 365

754

1341

b) 35

43

100

c) 235 7257

67_

7603

d) 547 e) 7006 256 5325 271 1461

f) 517 .6 3732

g) 53 . 76

h) 5664:7 = 654

54

46

43

34

i) 1005:57=13 57_

215 215

k) 36366 : 713 - 42 1) 643456 : 306 = 2075 m) 1/333141 = 517 3454 614 31

1626 1626

2745 2552

1736

12 231 121

122 11041 11041

Rechnungen im Sechsersystem (R VI).

a) 425 + 354

b) 23 + 33

c) 235 + 4124 - 55

d) 435 - 243

e) 5004-3142

f) 315 . 4 g) 31 . 54 h) 2445:5

i) 504:35 k) 25332:514

1) 434042 : 205 m) ]/303121

425

354

1223

b)

23 _33

100

c) 235

4124

55

4502

d)

g) 31 .54 h) 204 235

2554

2445:5 23

14 14

5 5

435 243

152 321

e)

5004 3142 1422

504:35 35 114 114

f) 315 .4 2112

12

k)

25332 : 514 2350

1432 1432

32 1)

434042 : 205 - 2054 m) y303121 = 415

414 24

2004 12' 231

1441 121

1232 122 11021

1232 11021

2. Ort, Zeit, Personen. Die Untersuchungen sind mit Erlaubnis des Herrn Oberschulrat Prof. Dr. Gaudig an der II. höheren Mädchenschule und

v^8«

Woldemar Voigt

dem Lehrerinnenseminar zu Leipzig und mit Erlaubnis des Herrn OberscjJulrat Dr. Hözel am Lehrerseminar zu Frankenberg i. Sa. angestellt worden, und zwar in den Monaten Mai und Juni 1919 jeweils in den frühen Vormittags- stimden außerhalb der planmäßigen Unterrichtszeit. Die Lektion erforderte je 20 22 Minuten, die erste Aufgabenreihe 9, die zweite 13 Minuten, der ganze Versuch somit 42 44 Minuten.

Für die männlichen Vpn. waren die Vorbedingungen insofern etwas un- günstiger, als immer drei Klassen gleichzeitig arbeiten mußten, und zwar im Singsaale des Frankenberger Lehrerseminars, der nicht mit Schreibtischen ausgestattet ist. Eine einfache Pappunterlage auf dem Knie mußte die Schreibplatte darstellen; ich nehme aber an, daß diese kleine Unbequem- lichkeit ohne wesentlichen Einfluß auf die Ergebnisse des Experiments ge- blieben ist. Herrn Seminardirektor Oberschulrat Dr. Hözel sei gleich an dieser Stelle für die gütige Mithilfe bei der Anordnung und Beaufsichtigung des Experiments an einem wunderschönen Festtagsmorgen! ergebenst gedankt.

Es sind von Vor- und Einzelversuchen abgesehen im ganzen 359 Per- sonen untersucht worden, und zwar 110 männhche und 249 weibhche. Sie verteilen sich wie folgt:

Geboren

Durchsch

.-Alter

männl.

weibl.

Bezeichnung

1.7.05 31.6.06

14. Leb.-

Jahr

291)

XIV a

1.7.05 31.6.06

14.

222)

XIV

1.7.04 31.6.05

15.

15

392)

XV

1.7.03-31.6.04

16.

24

262)

XVI

1.7.02 31.6.03

17.

]8

29

XVII

1.7.01 31.6.02

18.

21

21

XVIII

1.7.00- 31.6.01

19.

16

20

XIX

bis 31. 6. 00

20.-22.

163)

63

XX

110

249

Für die Gruppierung ist der Klassenverband nicht maßgebend gewesen, son- dern nur das Alter. Da die einzige Vorbedingung für die Möglichkeit der Lösung der Aufgaben die ist, daß die Schüler die vier Grundrechnungsarten kennen und können, so erscheint diese Art der Gruppenbildung zum min- desten unbedenkhch. Zur Gewinnung von verwendbaren Vergleichswerten war sie zweifellos notwendig.

Schließlich ist hier noch darauf hinzuweisen, daß für den Vergleich der Geschlechter nur die Gruppen XV XIX in Frage kommen können, ganz besonders wenn es sich um Durchschnittswerte handelt; es stehen sich dann 94 und 135 Vpn. gegenüber.

Die Ergebnisse.

Es war zunächst notwendig, Gruppentafeln anzulegen, auf denen jede ein- zelne Schülerin mit ihren Einzelleistungen verzeichnet ist. Hierbei ergab sich übrigens, daß nicht alle Schülerinnen bei Umrechnungen und Rechnungen ungefähr gleichwertige Leistungen aufweisen. Eine ganze Anzahl schneidet bei den Rechnungen erheblich besser ab als bei den Umrechnungen, und was noch sonderbarer ist mehrere Schülerinnen erledigen die Umrech-

') Volksschülerinnen.

2) Höhere Mädchenschsile.

') Kriegsteilnehmer.

Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 389

nungen glatt und versagen bei den nachfolgenden Rechnungen fast voll- ständig. Das läßt im ganzen genommen auf drei Typen logisch-rechnerischen Denkens schließen', zu deren genauer Charakterisierung jedoch ausführliche Einzelprüfungen erforderlich sind. Ferner gewinnt man aus diesen Tafeln den Eindruck, daß im allgemeinen bei den einzelnen weiblichen Vpnen.

richtige (r), halbrichtige (^, ^) und falsche (f) Lösungen in bunterem Wechsel

nebeneinanderstehen als bei den einzelnen männlichen Vpnen., und dieser Eindruck wird sich im folgenden als Tatsache erweisen.

Sodann mußte für jede Gruppe festgelegt werden, wie viele der überhaupt

gestellten Einzelaufgaben (a) r, ^, j, f und gar nicht gelöst worden waren.

Und diese Tafeln galt es dann zum Zwecke des Vergleichens in Prozent- tabellen umzurechnen (Tafeln B und C)'). Hier beziehen sich die senkrechten Reihen auf die einzelnen Aufgaben, die wagerechten auf die einzelnen Gruppen. A bedeutet Addition, S Subtraktion usf., im übrigen sei auf die Abkürzungen der vorigen Arbeit hingewiesen. -) Die Tafel II ist die einfache Fortsetzung der Tafeln B und C insofern, als die Zahlen von II den Durch- schnitt der wagerechten Reihen von B und C darstellen. Allerdings sind die Durchschnittswerte wegen der vielen Nullen bei den Divisionen direkt aus den ursprünglichen absoluten Ergebnissen errechnet worden, also nicht als Mittel der Einzelprozent zahlen. Das D auf den Tafeln I, II, in, IV und VI bedeutet immer das Mittel aus den zugehörigen senkrechten oder wagerechten Reihen; in diesem zweiten Falle ist das Mittel freihch nur aus den Gruppen XV— XIX gewonnen. 3) Die Tafeln I, HI, IV, V und VI sind ähnhch II die Zusammenfassung ausfülirlicher Tabellen, die wie alle übrigen bisher ange- deuteten aus naheliegenden Gründen nicht abgedruckt werden können. Sie werden mit dem gesamten Material in dem Institut für experimentelle Päda- gogik an der Universität Leipzig aufbewahrt und stehen gegebenenfalls zur Dm-chsicht zur Verfügung.

Ich habe aüe Tafeln, auch die ausführlichen, unter Anwendung farbiger Tuschen graphisch dargestellt. Die Ergebnisse springen dann mit außer- ordentlicher Klarheit sofort ins Auge. Wenn im folgenden also gelegenthch die Ausdrücke höher und tiefer auftreten, so erklärt sich das aus der Zu- grundelegung dieser graphischen Darstellungen, die übrigens auch in dem genannten Universitätsinstitut zur Einsicht bereit liegen.

1. Die Quantität der Leistucigen.

a) Gesamtzahl der Lösungen. Den 330 Fünfzehn- bis Zwanzigjährigen, um deren Untersuchung es sich im wesentlichön handelt, sind im ganzen 6930 Aufgaben gestellt w^orden, von denen sie 4752, d. h. 69 o/o in Angi-iff genommen haben. Es sind also im allgemeinen wesentlich mehr als die Hälfte aller gestellten Aufgaben auch gerechnet worden. Nur in einem ein- zigen Falle (siehe Tafel I XVI w VI-S) sinkt die Beteiligungsziffer ein wenig unter 50 "/o. Die Ergebnisse düi-ften demnach auf genügend breiter Grund- lage ruhen, wenn auch die Beteiligung an der Lösung der überaus schwierigen Divisionsaufgaben naturgemäß ziemlich gering ist. Ich habe diesem Umstände

! Aus technischen Gründen nicht abgedruckt. -) Voigt, a. a. 0.. Seite 140. ^ Siehe S. 388.

390 Woldemar Voigt

Rechnung getragen, indem ich bei der Feststellung der Durchschnittswerte entweder die unsicheren Zahlen weggelassen oder einen ganz anderen Rech- nungsmodus gewählt habe. 1) Die unsicheren Zahlen selbst habe ich, auch wenn sie ganz unwahrscheinlich erschienen, ohne jegliche Veränderung in die ausführhchen Tabellen gesetzt, denn die Tabellen bilden das unanfecht- bare Fundament der Erklärungen, an dem man selbst nicht unter Hinweis auf die Erfahrungen der Klassenlehrer rütteln darf, wenn nicht das Gefüllt des unsicheren Tappens aufkommen soll. Die Bewertung der Sicherheit der einzelnen Tabellenzahlen ist eine Sache für sich. 2) Immerhin: Ich habe im Jahre 1912 bei Versuchen in der Frauenhochschule 3) Werte erhalten, die ich, weil sie mir zu unnatürlich erschienen, damals mit allem Vorbehalt angegeben habe. Heute weiß ich, daß sie durchaus kein wertloses Zufalls- ergebnis waren; denn sie werden durch die vorliegenden Untersuchungen ausnahmslos bestätigt. Die exakt gewonnene Zahl kann eben nur durch ebenso exakt gewonnene andere bestätigt oder gegebenenfalls widerlegt werden, und die auf sogenannter praktischer Erfahrung beruhende spekulative Er- klärung ist nur mit größter Vorsicht zu verwenden, weil sie unverhältnismäßig stark modifiziert wird durch hervorstechende Ausnahmen, die beim Kollektiv- versuch genügend kompensiert werden. Zudem habe ich ja wie schon gesagt bei der Gruppenbildung den Klassenverband zerrissen, sodaß bei den Erklärungen der sogenannte Habitus der Klasse nur eine ganz bescheidene Rolle spielen darf. Ich verweise an dieser Stelle gern auf die ganz kurzen, aber treffenden Anmerkungen Lays') über das Wesen der experimentellen Pädagogik.

Die Beteiligung der männlichen Vp. bewegt sich im Durchschnitt zwischen 74 und 880/0, dabei vom 15. bis zum 18. Lebensjahre ungefähr auf gleicher Höhe, aber mit immerhin erkennbarem Abfall der Sechzehn- und Siebzehnjährigen bei allen Versuchen. In die Augen fallend ist das überall deutliche Hervorstechen der über 18 Jahre alten Schüler, nur bei den Rech- nungen erreichen diese lediglich dieselbe Beteihgungszahl wie die Fünfzehn- jährigen. Die zwischen diesen Punkten liegende Senkung der Kurve läßt vermuten, daß die Naivität in der Beurteilung der Schwierigkeit der Aufgaben allmähhch der bewußten Abschätzung der Schwierigkeiten und der vor- handenen Fähigkeiten Platz macht. Die Beteiligung an den Umrechnungen ist auf allen Altersstufen wesentlich größer als die an den Rechnungen; die Durchschnittszahlen für die fünf vergleichbaren Stufen sind 85 und 71. Das mag an der Schwierigkeit der Division liegen, kann aber auch zunächst nicht erkennbare Gründe haben. Merkwürdigerweise ist die Beteiligung an den Aufgaben des nicht besprochenen Sechsersystems zum mindesten dieselbe wie im besprochenen Achtepsystem, meist sogar größer, wie auch die Durch- schnittswerte in der 3. Spalte ausweisen. Eine Ausnahme machen nur die Fünfzehnjährigen und die Kriegsteilnehmer: diese beiden Gruppen finden in der sofortigen Verwendung des nichtbehandelten VI. Systems eine wesent- liche Schwierigkeit.

Die weiblichen Vp. Die Beteiligungsziffer der Vierzehnjährigen liegt merkhch höher als die aller anderen Altersstufen und wird von diesen in

») Siehe S. 389. -) Voigt, a. a. 0., S. 158. ^^ Voigt, a. a. O., S. 188.

*) Lay, Experimentelle Pädagogik, Leipzig 1912, S. 8.

Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 391

keinem Falle wieder ganz erreicht, auch von den Zwanzigjährigen nicht. Der Vorteil des naiven Herangehens an die Tätigkeit wird also anscheinend nach der Pubertät verloren und kann durch die Entwicklung des rechnerischen Verständ- nisses nie ganz wett gemacht werden, eine gewisse Hilflosigkeit wird im allgemei- nen nie wieder vöHig überwunden. Auf den Vergleichsstufen ist die Beteiligung im ganzen gleich, bei den Umrechnungen fast durchweg aufsteigend zwischen 54 und 68, bei den Rechnungen dagegen abfallend von 65 bis 53. Die Um- rechnungen werden also allmähhch als leichter, die Rechnungen mit zu- nehmendem Alter als schwieriger empfunden. Die Durchschnittswerte der Vergleichsgruppen (XV XIX) liegen für die 1. und 2. Rubrik dicht beiein- ander auf 61 und 58, im Sechsersystem sogar umgekehrt auf 55 und 57. ^ Überhaupt arbeiten die weiblichen Vp. im Durchschnitt ohne jede Ausnahme im Sechsersystem mit geringerer Beteiligung als im Achtersystem. Das Nicht- besprochene erscheint somit den Mädchen durchweg schwieriger als das Besprochene; es ist, als fehle ihnen der Mut, neue Bahnen geistiger Betätigimg ungeleitet zu beschreiten.

Tafel I.

Überhaupt gerechnete Aufgaben (1 : a)

Durchschnittswerte.

Umrechnungen Rechnungen Durchschnitt (U + R)

XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX D I XR' XV XVI XVII xvm XIX xxü D I xrv XV XVI xvn xvm xix xx d

Die männlichen Versuchspersonen

Vin-S 89 77 74 84 99 99 85

VI-S 80 81 86 83 97 91 85

D 85 79 80 83 98 95 85

76 67 67 66 70 83 69 . 80 72 71 76 85 91 77 77 71 67 73 83 71 73 ! 79 76 77 78 90 81 79

77 69 67 70 77 77 71 1 80 74 74 77 88 86 78

Die weiblichen Versuchspersonen

VIII-S 84 51 68 69 71 74 84 66 : 65 58 66 55 57 55 60 58 : 75 55 67 62 64 65 72 62

VI-S 80 57 47 54 64 54 78 55 68 53 64 61 57 50 58 57 i 74 55 56 58 61 52 68 56

D 82 54 58 62 68 64 81 61 67 56 65 58 57 53 59 58 75 55 61 60 63 59 70 59

Vergleichen wir die männlichen und weiblichen Vp.! Die jungen Männer haben im Durchschnitt IS^'o aller Aufgaben gerechnet, die Mädchen nur 590 0; das ist eine ganz beträchthche Spannung. Sie ist am größten

85 55 = 30 , wenn man nur die Umrechnungen im Sechsersystem, am kleinsten 69 58 = 11 , wenn man nur die Rechnungen im Achter- system berücksichtigt. Hiermit bestätigt sich das bereits Gesagte, daß näm- lich die jungen Männer nicht nur aggressiver sind in der Aufnahme der Arbeit, sondern daß sie sich auch im allgemeinen durch die Notwendigkeit, schnell entschlossen neue Wege einzuschlagen, nicht stören lassen. Daß die männhchen Vp. im einzelnen fast durchgehends im Sechsersystem mehr arbeiten als im Achtersystem, während für die weibhchen Vp. gerade das Umgekehrte gilt, wurde schon erwähnt.

b) Die richtigen Lösungen. Von den beiden Vergleichsgruppen zu- sammen sind ungefähr 40 Vo aller gestellten Aufgaben richtig gelöst worden. Das ist mit Rücksicht auf die unverhältnismäßig große Zahl der verlangten

schwierigen ! Divisionen ein recht brauchbarer Wert, der sich übrigens noch erhöht, wenn man die Leistungen der Vierzehnjährigen und der Zwanzig- jährigen mit in Betracht nimmt. In methodischer Hinsicht ist es sogar ein

392 Woldemar Voigt

Vorteil, daß er nicht zu hoch hegt; denn sonst wäre er ein Zeugnis für zu große Leichtigkeit der Aufgaben, und es könnten sich keine brauchbaren Unterschiede ergeben.

Tafel IL

Völlig richtige Lösungen (r : a) Durchschnittswerte.

Umrechnungen Rechnungen Durchschnitt (U + K)

XIV XV XVI XVII XVm XIX XX D | XI V XV XVI XVII XVIU XIX XX D I XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX D Die männlichen Versuchspersonen Vni-S 59 56 54 61 88 91 63 j 34 36 33 29 45 45 36 1 47 46 44 45 67 68 50 VI-S 45 28 72 53 79 40 52 j 35 37 40 38 51 32 40 40 33 56 46 65 36 46 D 52 42 63 57 84 66 58 I 35 37 37 34 48 39 38 ! 43 39 50 46 66 52 48

Die weiblichen Versuchspersonen

23 29 39 28 24 31 35 30 18 25 19 24 16 23 35 22 21 27 29*26 20 27 35 26

VIII-S 62 34 43 52 51 63 66 46 VI-S 54 33 17 34 25 29 58 28

D 58 34 30 43 38 46 62 37

43 32 41 40 38 47 51 38 36 29 18 29 21 26 47 25

40 30 29 35 29 37 49 32

Die männlichen Vp. Den charakteristischen Verlauf der Entwicklung der rechnerischen Anlage deuten neben allen Rechnungen die Kombinations- werte für das Achtersystem am besten an (Tafel II, 3. Längsspalte). Danach tritt während des 15. bis 18. Lebensjahres ein gewisser Stillstand der rech- nerischen Leistungsfähigkeit ein, der mit Beginn des 19. Jahres durch einen ganz gewaltigen Ruck nach vorwärts abgelöst wird. Die Einzelziffern für die Subtraktionen, Multiphkationen und Divisionen auf Tafel B, sowie die

entsprechenden Werte für die richtigen plus halbrichtigen (r + yj Lösungen

auf den nichtabgedruckten Tafeln bestätigen den Ruck ganz besonders. In diesen Zusammenhang gehört auch die aus Tafel B in der 3. Querspalte erkenn- bare merkwürdige Erscheinung, daß die 15- bis 18 jährigen und die Kriegs- teilnehmer bei der ersten Multiplikation weniger richtige Lösungen aufzuweisen haben als bei der zweiten, während allein die 19jährigen für beide Multi- phkationen die gleiche Leistungszahl 57 erreichen. Wie aus Einzel- versuchen zu erkennen war und die Selbstbeobachtung bestätigt, läßt sich die zweite Multiplikation mechanischer lösen als die erste, weil im Rechen- unterrichte schriftliche Multiphkationen bei weitem am häufigsten mit mehrstelhgem Multiphkator vorkommen. So arbeiten also erst die Neunzehn- jährigen im allgemeinen unabhängiger von der mechanischen Grundlage, gewissermaßen prinzipieller als die Jüngeren. Bei den Subtraktionen lösen ganz entsprechend die Neunzehnjährigen die zweite Aufgabe, die das Prin- zipielle schärfer hervortreten läßt, etwas besser als die erste, während bei den Jüngeren und den Kriegsteilnehmern im allgemeinen das Gegenteil der FaU ist. Sehr interessant sind die Leistungswerte füi; die Umrechnungen zweisteüiger Zahlen in der 3. Querspalte von Tafel B. Diese sind nämlich wesentlich höher als bei den benachbarten Exempeln in den jüngeren Gruppen (XV z. B. 44—95—69), merkhch niedriger dagegen in den älteren (XVIII z. B.

67—42 - 67). Die Zahlen der r -h ^-Tabellen sprechen übrigens noch deut-

hcher. Mir ist diese Erscheinung wiederum ein Beweis für die mechanischere

Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw, 393

Art des Rechen-Denkens der Jüngeren gegenüber der prinzipielleren, sach- licheren der Älteren. Vielleicht kommt auch die anschauliche Grundlage der Lektion den Jüngeren bei den Umrechnungen zu Hilfe, während sie für die abstrakter denkenden Älteren fast als Hemmung wirkt. Jedenfalls ist das Rechnen der niederen Gruppen ein wesentlich anderes als das der oberen, und die Werte für das VI-S. in der 3. Längsspalte von Tafel II können diese Ansicht nur bekräftigen. Sie illustrieren nämlich nach meiner Auffassung eine gewisse qualitative Umgruppierung innerhalb der im ganzen quantitativ gleichen Leistungsfähigkeit der Gruppen XV— X\TI1. Kurz nach der Pubertät tritt ein geringes Erschlaffen der selbständigen Gedankenführung ein, von dem sich der junge Mann aber binnen Jahresfrist völlig erholt, und zwar so, daß die selbständigen Leistungen die bloßen Nachahmungen ganz beträchtlich übertreffen. Man vergleiche die Zahlen 40—33—56 mit den darüberstehenden 47 46 44. Noch deutlicher erkennbar ist das eben Ge- sagte aus den Umrechnungen im Vl-System (1. Längsspalte). Auf den eigen- tümlichen Zickzackverlauf dieser Kurve und der von ihr beeinflußten möchte ich nur hinweisen. Vielleicht ist es nicht falsch, den Verlauf der Entwicklung des logisch-rechnerischen Denkens nach dem 14. Lebensjahre in zweijährige Perioden zu zerlegen, in denen Aufstieg und Erschlaffung aufeinander folgen, doch immerhin so, daß ein kleiner Fortschritt übrig bleibt. Da es sich bei den Erschlaffungen aber um verhältnismäßig geringe Werte handelt, so könnten zufällige KonsteUalionen innerhalb der Versuchsgruppen zur Er- klärung ausreichen. Ganz übergehen möchte ich aber die immerhin inter- essante Erscheinung nicht. Zu ihrer befriedigenden Deutung, \^^e überhaupt zur Deutung der meisten bisherigen Ergebnisse sind noch zahlreiche ausführ- liche Einzeluntersuchungen erforderlich. Bei den Rechnungen sind die Leistungen im Vl-S. durchweg höher als die im VIII-S. Eine Ausnahme machen nur die Kriegsteilnehmer, deren Leistungen hier übrigens auch bei den Umrechnungen noch unter die der Fünfzehnjährigen sinken. Bei den Umrechnungen tritt mit dem 17. Lebensjahre ein immerhin erkennbarer Wechsel ein. Die jungen Männer lösen also neuartige Aufgaben, an die sie, wie schon ausgeführt, ohne Scheu herangehen, mit besserem Erfolge als bekannte. Daß dieser bessere Erfolg bei den Umrechnungen zunächst ausbleibt, möchte ich wiederum auf die anschauliche Grundlage der Lektion zurückführen, die hier bei den jüngeren Männern hemmend wirkt, weil sie zu Umständlichkeiten im Denken verleitet.

Die Kriegsteilnehmer geben mit dem starken Abfall ihrer Leistungen im VI-S. Beweise von dem ungünstigen Einflüsse der Kriegserlebnisse auf die Produktivität. Jeder geistige Arbeiter unter den Heimgekehi-ten wird mir diese Erscheinung auch für sich bestätigen können. Einfache Reproduktion von einstmals Gelerntem, einfache Fortführung vorgezeichneter Gedanken- gänge erschienen uns kurz nach unserer Rückkehr von der Front ziemlich leicht, selbständige Produktion, selbständiges Bearbeiten bisher unbekannter Materie war ungeheuer schwer, ja unmöglich. Offiziersaspiranten, die zum Kursus kamen, erklärten mir seinerzeit zu ihrer Entschuldigung überein- stimmend, daß die vielen technischen Ausdrücke der M.-G.-Waffenlehre und der M.-G.- Schießlehre ihnen ganz außerordentliche Schwierigkeiten böten. „Für mich ist das Wort Splint schon ein Studium für sich", sagte einer ganz treffend.

394 Woldemar Voigt

Die weiblichen Vpn. Die Mädchen im Alter von fünfzehn bis neunzehn Jahren leisten im Durchschnitt sämtlich Geringeres als die Vierzehniährigen, und die Zwanzigjährigen nicht viel mehr als diese (Tafel II, 3. Spalte: 40-^>49). Das ergibt sich noch deuthcher aus den Umrechnungen allein, wo die ent- sprechenden Zahlen 58 und 62 lauten. Zwischen diesen Endpunkten liegt eine tiefe Senkung, die übrigens wiederum das charakterische zweijährige Zickzack erkennen läßt. *) Bei den Rechnungen bewegen sich die Leistungs- zahlen sechs Jahre lang zwischen 20 und 29, und für die Zwanzigjährigen ist auch nur 35 verzeichnet. Die niedrigsten Zahlen werden im VI-S. erreicht, und zwar in den Umrechnungen von Gruppe XVI 17, in den Rechnungen von Gruppe XVIII 16. Überhaupt liegen die Kurven für das VI-S. ohne jede Ausnahme unter denen für das VIII-S., am beträch tUchsten bei den 16- bis 19jährigen. Die Lust und Fähigkeit zu selbständiger Betätigung ist also in diesen Jahren am geringsten, steigt mit dem 20. Jahre etwas an, ohne aber die Lust und Fähigkeit zu angeleiteter Betätigung ganz zu erreichen. So scheint mit dem Eintritt der Pubertät die rechnerische Anlage des weib- lichen Geschlechts auf dem Höhepunkt angelangt zu sein, und die Pubertät selbst kennzeichnet sich als eine Zeit erregter Überproduktion von Energie, der notwendig eine Periode der Entspannung folgen muß.

Aus den Einzelleistungen in der Subtraktion und Multiplikation ergibt sich jedoch ein erkennbarer Vorteil für die Zwanzigjährigen, die hier eine ähnliche Sonderstellung einnehmen wie die 19 jährigen Männer (Tafel C). Während nämlich ihre jüngeren Geschlechtsgenossinnen die 1. Multiplikation durchweg weniger richtig lösen als die 2., ist bei Gruppe XX für beide M. die gleiche Leistungszahl 42 verzeichnet. Die 2. Subtraktion, also die prinzipiellere, lösen alle Mädchengnippen schlechter als die 1., sie ähneln in dieser Erscheinung den jüngeren Männergruppen. Dasselbe gilt für die Umrechnung der zweistelligen Zahl; diese bietet keiner Mädchengruppe be- sondere Schwierigkeiten. Sie rechnen eben alle, wie ich auch aus spon- tanen Äußerungen entnehmen konnte, anschaulich und mechanisch. Der Vorteil der Zwanzigjährigen, wie er sich am besten bei den schwierigen Einzelleistungen (S., M., V-stelHge und Vl-stellige U.) erkennen läßt, ist also doch im wesentlichen nur quantitativer Art. Mit diesem Jahre hat sich eben das weibhche Geschlecht von den Erschlaffungen im Gefolge der gewaltigen geschlechtUchen Umformung so weit erholt, daß der Geist wieder freier wird zur Ausführung umfangreicherer rechnerischer Gedankengänge. Groß ist der Fortschritt nicht, man vergleiche nur die Gruppen XIV und XX in den Um- rechnungen auf Tafel C genauer miteinander! Ich erlebe eine Bestätigung dessen, was man aus diesem Vergleiche erkennen kann, fast jede Woche beim Übungsunterricht im Rechnen, wo sich zwanzigjährige Lehrerinnen und vierzehnjährige Schülerinnen hinsichtlich der gesamten rechnerischen Gewandtheit oder Ungewandtheit kaum merklich voneinander unterscheiden.

Es ist auch keineswegs anzunehmen, daß nach dem 20. Jahre ein stetiges Fortschreiten eintreten könnte. Ich verweise nur auf die Versuche in der Frauenhochschule zu Leipzig im Jahre 1912.2)

Der Leistungsturz von XIV nach XV, wie er sich besonders bei den Um- rechnungen auf den Tafeln C und II erkennen läßt, ist so gewaltig, daß er

') Siehe S. 393. ^) Voigt, a. a. O., S. 191 f.

Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 395

fast unnatürlich anmutet. Er wird aber gemildert durch die Werte von S und M in der 3. Querspalte von Tafel C (26—13—7—23 gegenüber 34— 31— 23— 21!), die eine quantitative Änderung und Besserung andeuten. Man ist versucht, das Bild von der Umlagerung der Atome in der Molekel zu gebrauchen. In der Befürchtung, daß der außerordentliche Leistungssturz sich aus groben Zufälligkeiten ergeben haben könnte, hat mich eine Fünfzehnjährige etwas beruhigt, die gelegentlich ganz spontan erklärte: „Voriges Jahr waren wir die beste (!) Klasse in der Mathematik, und dieses Jahr können wir aber auch rein gar nichts." Lehrerurteile stimmen mit dieser Äußerung überein.

Männliche und weibliche Vpn. Trotz ihrer Sonderstellung innerhalb der weiblichen Versuchsgruppen haben die zwanzigjährigen Mädchen noch nicht den Leistungsstandpunkt der siebzehnjährigen jungen Männer und der Kriegsteilnehmer erreicht; von den neunzehnjährigen Männern werden sie um mehr als 300;'o übertroffen (Tafel 11, 3. Längsspalte: 49:66). Überhaupt sind die Durchschnittswerte für die männlichen bzw. weiblichen Vpn. 48*^/o bzw. 320/0; die untersuchten jungen Männer leisten also genau 50 ^ 0 mehr als die gleichalterigen Mädchen. Daß dieser ganz außerordentliche Unter- schied aus der weiblichen Unselbständigkeit erwächst, ergibt sich mit beson- derer Deutlichkeit aus den Rechnungen im Sechsersystem. Hier sind die Durchschnittszahlen für die männlichen und weiblichen Vpn. 40 und 22, d. h. jene übertreffen diese um fast 100" 0. Interessant ist es, daß die Kriegs- teilnehmer gerade im VI-S. in allen Fällen trotz des eben Festgestellten ganz beachtlich hinter ihren Altersgenossinnen zurückbleiben. Der Krieg hat also in dem vorliegenden Falle „in überhohem Maße verweibhchend" gewirkt.

Besonders lehrreich für den Vergleich der Geschlechter sind die Tafeln B und C, soweit sie sich auf die Divisionen beziehen. Die Gesamtleistungs- zahlen der 3. Querspalte bewegen sich hier für die männlichen Vpn. zwischen 7 und 44, für die weiblichen zwischen 0 und 7. Bis zur 4, Division sind nur die jungen Männer vorgedrungen (Gruppe XV!); die weibhchen kommen nirgends über eine Divisionsaufgabe hinaus. Die Sonderstellung der neun- zehnjährigen jungen Männer wird durch die Divisionen besonders gut

illustriert. Auch die nichtgedruckten r -\- ^ -Tabellen widersprechen in keinem

Falle dem eben Gesagten, bestätigen es vielmehr und zeugen noch deutücher für die Überlegenheit der männlichen Vpn. So sind beispielsweise deren Zahlen für die Additionen durchweg so gut, daß sich eine einzelne Gruppe überhaupt nicht herausheben kann (84 100 o'o). Die Mädchen sinken da- gegen schon bei der 2. Addition auf 51 0 0 (Männer 91 0/0).

Im ganzen genommen ergeben sich für die männhchen und weiblichen Vpn. bei Berücksichtigung der halbrichtigen Lösungen die Prozentzahlen 59 und 43, d. h. die weiblichen Vpn. haben einen wesenthch größeren Zuwachs an halbrichtigen Lösungen aufzuweisen. Das Gesamtbild der rechnerischen

Entwicklung können diese r -\- —-Tabellen im übrigen jedoch nicht verändern,

sie bieten aber eine gute Handhabe, um auch die QuaUtät der Leistungen zahlenmäßig zu charakterisieren.

Vorher ein Wort zu der Schwierigkeit der Operationen; denn auch die vorliegenden quantitativen Versuche können Fingerzeige für die Beant- wortung dieser Frage geben, obwohl es sich im Grunde nicht um Additionen,

396

Woldemar Voigt

Subtraktionen, Multiplikationen und Divisionen im 'gebräuchlichen Sinne handelt, sondern um logisch-rechnerische Denkübungen an diesen elemen- taren Rechenoperationen und mit ihrer Hilfe. Die folgende Übersicht be- zieht sich in ihren senkrechten Reihen auf die einzelnen Aufgaben, in ihren wagrechten entweder nur auf die völlig richtigen Lösungen oder auf die richtigen plus halbrichtigen zusammengenommenen. Es handelt sich um Durchschnittswerte für alle Vpn. ohne Rücksicht auf das Lebensalter.

Männliche Versuchspersonen

Weibliche Versuchspersonen

r+:

A

A

A

s

S

I\I

M

D

D

D

D

A A

A

S S

M M

D

D

D

73

77 73

68

54 5

54 4

35

4

44 0

11

3 3 6

1

63 53 56

51

40 32 36

21 29 25

3

0

0

93

96 93

90

59 6

64 2

69 6

65

7

14

9 1 5 9

1

92 182 82

72

48|58 49

47 143 45

3

2

0 ! 1

Männliche und weibliche Versuchspersonen

r ^+2

65

45 £6

32 56

Es ist zunächst unverkennbar, daß der Divisionsvorgang ein besonders schwieriger, vielleicht sogar ein ganz besonderer Prozeß ist*). Sodann er- gibt sich aus den Zahlen, daß die Additionen die geringsten Schwierigkeiten geboten haben. Das liegt einmal daran, daß 2 Additionen in der Lektion vorgerechnet worden sind, erklärt sich andererseits aber auch aus dem Wesen des Additionsvorganges selbst, der mit Sicherheit weniger Energieaufwand erfordert als der Multiplikationsprozeß, soweit dieser nicht völlig mechanisiert, sondern regelbedingte Tätigkeit ist-). Nach der letzten Zeile der Übersicht zu schließen, scheinen Multiplikationen und Subtraktionen gleich „schwer" zu sein, vielleicht letztere sogar etwas schwerer, weil sie später auf dem Aufgabenzettel auftreten. Bei den Multiphkationen finden sich viel mehr halbrichtige Lösungen als bei den Subtraktionen; die Halbheiten erklären sich zumeist aus dem Zurückfallen in das gewohnte Zehnersystem, ein Be- weis, wie verlockend ausgefahren die Multiplikationsgleise sind, d. h. wie außerordentlich mechanisch das gewöhnliche Multiplizieren vor sich geht 2). Einzelversuche geben dieser Ansicht recht. Die weiteren Einzelheiten der Tabelle sind nicht uninteressant; da es sich aber nur um je 2 bis 4 Rechen- beispiele handelt, haben die Zahlen zu geringe Beweiskraft^).

2. Die Qualität der Leistungen.

a) Das Verhältnis der halbrichtigen Lösungen zu den richtigen. Die männlichen Vpn. Durchschschnittlich machen die halbrichtigen Lösungen der jungen Männer 25 o/o der richtigen Lösungen aus, für die Umrechnungen bezw. Rechnungen heißen die entsprechenden Werte 16 o/o und 34 "/o. (Tafel III.) Dieser beträchtliche Unterschied ist nicht verwunderlich; denn bei den U. handelt es sich in allen Aufgaben um einheithch gestaltete Gedankenreihen.

') Meumann III, S. 652. (Andere Meinung.)

-) Meumann, Vorl. III, Seite 652.

■'; Vergl. auch Seite 392. *) Vergl. auch Seite 387, 389, 390.

Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 397

die im allgemeinen nur in einer Richtung verschoben werden können, bei den R. dagegen können in vier verschiedenen Operationen die verschiedensten Entgleisungen vorkommen. Die größere Möglichkeit ist die Ursache der größeren Tatsächlichkeit, ein einfaches Beispiel der Wahrscheinhchkeitslehre (Strafgesetz).

In allen Fällen wahrt sich das 19. Lebensjahr seine günstige Sonderstellung, am deuthchsten aber eben bei den Rechnungen. Überhaupt ist das Bild, das die Umrechnungen bieten, etwas verworren; die Zahlen sind eben hier zu günstig, d. h. zu klein, sodaß sie auf einer zu geringen Anzahl von Einzel- ergebnissen ruhen und in erhöhtem Maße Zufälligkeiten unterliegen. Ein Widerspruch zu .der Gruppierung XV bis XVIII XIX, XX ist jedenfalls nicht aus ihnen zu entnehmen. Auch in dieser Tabelle bilden die Rechnungen im VI-S. keine besondere Schwierigkeit für die männlichen Vpn.; mit Be- ginn des 18. Jahres werden die Leistungen in diesem System sogar sicherer und exakter als im besprochenen Achtersystem. Um so mehr muß daher die Sonderstellung der Kriegsteilnehmer auffallen, bei denen ein ganz ge- waltiger Unterschied zu Ungunsten des Sechsersystems zu konstatieren ist.

Tafel m.

Verhältnis der halbrichtigen zu den richtigen Lösungen ( ^ : r ]

Durchschnittswerte.

Umrechnungen Rechnungen Durchschnitt (U K)

;av xvxvixviixvraxixxx d i xiv xv xvi xvn x\Tn xix xx d ixrvxvxvTXvnxvmxixxx d Die männlichen Versuchspersonen

Vin-S 6 0 21 13 8 3 9 ! 41 36 31 -15 20 31 34 1 24 18 26 29 14 17 22

VI-S 19 69 10 27 5 53 23 i 43 39 32 40 13 59 33 ; 31 54 21 34 9 56 28

D 13 35 16 20 7 28 16 I 42 38 32 43 17 45 34 ' 28 36 24 32 12 37 25

Die weiblichen Versuchspersonen

YIll-S 9 5 30 30 24 18 15 22 ! 81 40 46 50 66 38 36 43 : 45 23 38 40 45 28 26 33

VI-S 28 29 48 39 75 61 20 44 j 81 48 87 65 79 cO 32 62 1 55 39 68 52 77 56 26 54

D 19 17 39 35 50 40 18 33 181 44 67 58 73 44 34 53 [ 50 31 53 46 61 42 26 43

Die weiblichen Vpn. Im ganzen genommen ist die Exaktheit der Mäd- chen vom 14. bis zum 19. Lebensjahre gleich gut bezw. schlecht, nur die Zwanzigjährigen heben sich ein wenig hervor, auch insofern, als bei ihnen allein die Aufgaben im Sechsersystem ebenso sicher gelöst werden wie im Achtersystem, gelegentlich sogar ein wenig sicherer. Alle andern weibHchen Gruppen rechnen im VI-S. ganz erheblich unsicherer, unexakter, man möchte beinahe sagen liederhcher und gewissenloser als im VIII-S. Sehr interessant sind bei den Vierzehnjährigen die Zahlen für die Umrechnungen verglichen mit denen für die Rechnungen. Die Spannung beträgt nämhch im Durch- schnitt 62 (!), im VIII-S. sogar 72. Das ist nur ein Beweis dafür, daß die Mädchen im 14. Lebensjahre in der Anschauimg noch eine sehr erwünschte Stütze suchen und finden. Die Abstraktion, wie sie bei den Rechenopera- tionen verlangt wird, bietet ihnen dagegen große Schwierigkeiten und ver- leitet sie zu halbgewalkter, „ungefährer" Arbeit. In der Folgezeit erweist sich wie auch gelegentliche Äußerungen bestätigen die Anschaulich- keit immer mehr als Hindernis zu völlig richtiger Tätigkeit (1. Längsspalte),

398 Woldemar Voigt

und selbst die Zwanzigjährigen gewinnen mit ihrer besseren abstrakten Er- fassung der Sachlage kaum die fröhliche Sicherheit des 14. Lebensjahres wieder. Naturgemäß zeigt sich aber ihre Überlegenheit über die Jüngsten in den Rechnungen dafür um so erkennbarer.

Die männlichen und weiblichen Vpn. Durchschnittliche Maßzahlen für die Unexaktheit der rechnerischen Tätigkeit sind 43 und 25, d. h. die Mädchen rechnen fast noch einmal so bewußt oder unbewußt unsicher wie ihre männlichen Altersgenossen. Die größte Spannung findet sich wie- derum bei den Rechnungen im VI-S.; hier liegen die Durchschnittswerte auf 33 und 62, und die Vergleichs werte der Einzelgruppen fallen dementsprechend natürlich ebenso ungünstig für die Mädchen aus. Das Erfordernis größerer Selbständigkeit und ausgedehnterer Abstraktion zwingt die männlichen Vpn. zu umso energischerem Kraftaufwand, größerer Konzentration und damit vorzüglicherer rechnerischer Exaktheit, verleitet aber die Mädchen im all- gemeinen! — zu Flüchtigkeiten, Halbheiten, d. h. zu großer Unexaktheit. Im 15. Lebensjahre arbeiten junge Mädchen und Jünglinge noch gleichmäßig gut oder schlecht, von da an trennen sich die Wege immer mehr. Trotz alledem rechnen die Kriegsteilnehmer unexakter als ihre Altersgenossinnen, was wiederum beim VI-S. ganz besonders deutlich erkennbar wird.

b) Das Verhältnis der falschen Lösungen zu den richtigen. Es ^sind durchschnittlich halb soviel Aufgaben falsch gerechnet worden wie richtig {430/0 + 540/..) : 2 = 48 0/0, siehe Tafel IV. Dabei ist aber zu bemerken, daß bei den Divisionen ganz außerordentlich viele Falschlösungen auftreten, so daß im allgemeinen ein geringerer Prozentsatz in Frage kommt. Somit sind die Versuchsergebnisse wiederum methodisch genommen auch in dieser Hinsicht als recht brauchbar zu bezeichnen.

Tafel IV.

Verhältnis der falschen zu den richtigen Lösungen (f : r) Durchschnittswerte.

Umrechnungen Rechnungen Durchschnitt (U + K)

XIV XV XVI XVII XVm XIX XX D 1 XIV XV XVI X VII XVUI XIX XX D I XrV XV XVI XVII XVIII XIX XX D

Die männlichen Versuchspersonen

VIII-S 27 38 19 25 5 5 25 } 80 38 72 79 33 51 57

VI-S 59 121 10 30 18 75 39 78 53 36 54 51 59 52

D 43 80 15 28 12 40 32 1 79 46 54 bl 42 55 55

Die weiblichen Versuchspersonen

VIII-S 25 53 30 4 23 0 12 22 1 97 57 40 45 69 38 33 50 1 61 55 35 25 46 19 23 36

VI-S 21 44 136 22 80 24 16 49! 194 67 152 86 179 59 32 93 108 56 144 54 130 42 24 71

D 23 49 83 13 52 12 14 36 1146 62 96 66 124 49 33 72 1 85 56 89 40 88 31 21 54

54 38 46 52 19 28 41

69 87 23 42 35 67 46

61 62 35 47 27 48 44

Die männlichen Vpn. Bei den jungen Männern tritt unverkennbar ganz allmählich ein Sinken der Zahl der fehlerhaften Lösungen ein (3. Längs- spalte), die 19- jährigen stehen durchweg am günstigsten da, und die Kriegs- teilnehmer fallen nicht auffallend ab. Das ist ein Zeichen für eine gewisse Stetigkeit und Ruhe im Denken und für eine klare Einsicht in die eigenen Fähigkeiten. Dabei unterscheiden sich VI-S. und VIU-S. nicht wesentlich; bei den Rechnungen fallen die Zahlen für das neuartige VI-S. sogar ein

Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 399

wenig besser aus. Das im vorigen Abschnitte Gesagte wird somit ergänzt: die männlichen Vpn. lassen sich durch die Neuartigkeit der Anforderungen auch nicht zum Fehlermachen verleiten.

Die weiblichen Vpn. In den Vergleichsgruppen ist keineriei Auf- stieg zu fehlerfreierer Arbeit zu spüren, man verwische nur bei den D-Werten der 3. Längsspalte den charakteristischen Zickzackverlauf der Kurve durch Bildung von Mittelwerten für je 2 benachbarte Versuchsgruppen. Und die Zwanzigjährigen sind kaum sicherer als die Neunzehnjährigen. Auffallend sind aber die enormen Werte im VI-S. sie reichen teilweise bis an 200 heran und die gewaltigen Schwankungen zwischen den einzelnen Alters- gruppen. Zudem werden im Sechsersystem ohne Ausnahme mehr Fehler gemacht als im Achtersystem.

Die männlichen und weiblichen Vpn. So kommt es, daß männ- liche und weibhche Vpn. sich besonders im VI-S. imterscheiden : Die Maß- zahlen sind 52 und 93, d. h. die Mädchen arbeiten fast noch einmal so fehlerhaft wie die jungen Männer. Im Achtersystem dagegen ereignet es sich sogar, daß die Mädchen hier und da um ein geringes fehlerfreier arbeiten als die jungen Männer. Nach -Ahmen, Nach -Denken: das ist die Stärke des weibhchen Geschlechts in der Welt der Zahlen. Wo es geführt und angeleitet wird, macht es innerhalb dessen, was es leistet, prozentual wenigstens nicht mehr ausgesprochene Fehler als das männliche.

c) Charakteristische Lösungen, Halbheiten und Fehler. Wie schon ausgeführt wurde*) und wie besondere aus Einzelbeobachtungen und Einzeläußerungen hervorgeht, ist die Division allen Vpn. als eine ungemein schwierige Leistung erschienen. Und gerade hier rechnen die jungen Männer genau doppelt soviel richtig wie die Mädchen wenn man die halbrichtigen Lösungen mit betrachtet, sogar sechsmal soviel-), und während die Mäd- chen sich nur ganz vereinzelt an die leichtesten Divisionen heranwagen, führt schon ein Fünfzehnjähriger alle 4 Divisionen glatt und ohne Umwege durch. Der Sprung in der Entwicklung vom 18. zum 19. Lebensjahre ist auch bei der Division deutlich erkennbar; die Mädchengruppen dagegen unterscheiden sich nicht wesentlich: ihre beiden jüngsten Gruppen leisten gar nichts, und im übrigen handelt es sich um kaum nennenswerte Zahlen. Jedenfalls heben sich die Zwanzigjährigen in keiner Weise hervor, und ein mathematisches Talent ist in keiner Gruppe zu erkennen 3).

Bei den männhchen Vpn. treten gelegentlich aus der schriftlichen Dai*- stellung deutlich erkennbar Lösungswege hervor, die von klarster Erfassung der rechnerischen Probleme und von erfreulichster Selbständigkeit zeugen. So rechnet beispielsweise ein Neunzehnjähriger im VI-S.: 3^ 54

Elegant ist diese Lösung nicht, und man fühlt ordentlich den beson- 4

deren Energieaufwand, den sie erfordert hat, aber der junge Mann -200

hat sich die richtige Lösung erzwungen. Ein Sechzehnjähriger führt ^

die Aufgabe 315 4 auf die Addition 315 -h 315 -\- 315 -h 315 zurück. ^^

Ähnliche Lösungen oder gar die Ausführung einer Proberechnung, die die neunzehn- und zwanzigjährigen jungen Männer häufig anwenden, wird man bei den Mädchen vergebüch suchen. Wenn diese bei der Anwendung des aus dem Zehnersystem bekannten Lösungsweges auf Schwierigkeiten stoßen.

*) Siehe Seite 396. -) Aus Einzeltabellen zusammengestellt. ^) Vergl. auch Seite 403.

400 Woldemar Voigt

ist soweit ich sehe der Fall für sie erledigt. Der rechnerische Prozeß verläuft bei ihnen eben meistens mechanisch. Wie können sonst noch Zwanzigjährige für 20400 im VIII-S. 435200 im X-S. gewinnen, wo doch aus den voraufgehenden richtigen! Lösungen zu entnehmen war, daß der neue Wert ziffernmäßig kleiner als 20400 sein mußte!

Von Größenbewußtsein ist beim weiblichen Geschlechte auf allen Stufen beinahe nichts zu spüren, dagegen findet man bei den männhchen Vpn. unwahrscheinlich große Zahlen nur auf den Zetteln der Fünfzehnjährigen. Es war mir interessant, bei einer gleichzeitigen Untersuchung eines Herrn u nd einer Dame hinsichtlich des Vorhandenseins einer Art Größenbewußtsein im fremden System kann es sich ja nur um ein vages Ungefähr, um ein gewisses Ortsgefühl handeln Entsprechendes feststellen zu können.

In den Umrechnungen verschieben alle Mädchengruppen häufig die Stellen- werte; sie erhalten bei verschiedenen Aufgaben gleiche Lösungen, sie ver- wechseln bei der Addition die zu merkende und die zu schreibende Zahl, sie gewinnen Differenzen, die größer sind als der Minuend, Quotienten, die bei ganzzahligem Divisor größer sind als der Dividend: das alles findet man bei den jungen Männern nicht oder nur ganz vereinzelt auf der Unterstufe und bei den Kriegsteilnehmern. Und wo sich das Größenbewußtsein doch einmal regt, da hilft sich das Mädchen durch irgendeine Division mit 5 oder mit 2, mit 36, mit 64, manchmal auch abwechselnd, oder es läßt ganz einfach eine Null oder einen Bruch oder ein Komma weg und schreibt bei- spielsweise auf den Zettel 302 = 27,0,5 = 2705! Man wird sich vergeblich bemühen, diese Lösung psychologisch zu deuten. So zeugen die falschen Lösungen der Mädchen von einer rechnerischen Gewissenlosigkeit, die bei den jungen Männern nirgends zu erkennen ist.

Weil bei der Umrechnung von 10 sich 8 bzw. 6 ergibt, werden von vielen Mädchen alle gegebenen Zahlen einfach mit ^/ö oder ^/ö multipliziert, was falsch bleibt, auch wenn die Zwanzigjährigen ihre Fehler in das schillernde Gewand einer Proportion mit x kleiden. Weil bei den vorgeführten Addi- tionen zufällig an viertletzter Stelle eine Eins erschien, wird noch von neun- zehnjährigen Mädchen bei allen Lösungen eine 1 vorgesetzt usw. Solche voreilige Verallgemeinerungen eines einzigen Falles führen die Mädchen zuweilen zu den sonderbarsten Regeln, die teils so komphziert sind, daß ich und die betreffende Vpn. nach einigen Tagen sie nicht mehr herausfinden konnten, teils so verblüffend einfach, daß mir die Arbeiten schon nach wenigen Minuten triumphierend in die Hand gegeben wurden. Gewiß kommen solche Verallgemeinerungen auch unter den Fehlern der männlichen Vpn. vor, aber wi ederum nur einige Male bei den Fünfzehnjährigen. Zwar rechnet ^uch ein Achtzehnjähriger beispielsweise 274 ==128 + 56 -f- 5 und verändert bei sonst richtigem Lösungsverfahren durchgängig die Einer durch Multi- plikation mit ^jö, aber dieser Fehler zeugt m. E. nicht von leichtfertiger Ver- allgemeinerung.

Interessant ist für die Rechentätigkeit der Mädchen noch die folgende Lösung einer Fünfzehnjährigen: 53 = 5 18 + 3 8. Das Kind gehört sicher zum akustischen Typ, hält sich an die Achten, die im Ohre nachklingen und bringt nun rein gefühlsmäßig eine Lösung zustande, ohne sich im übrigen wegen des rechnerischen Problems irgendwelche Ungelegenheiten zu machen.

Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 40I

Eine andere Fünfzehnjährige schreibt bei der Umrechnung von 274 aus dem Vm-S. ins X-S.: ^ .

2 Händen

2 .

10= 20

2

2

8= 16

10

10

8= 80

20

20

8-160

30

30

8 = 240 34

auf

274 4 Hände gehen 32, bleiben 2 Finger übrig. Bei 274 sind 234.

Das ist ein Kleben am Anschauhchen, das bei den männlichen Vpn. nirgends mehr zu finden ist, das aber bei den Zehn- bis Dreizehnjährigen beiderlei Geschlechts naturgemäß häufiger anzutreffen war. Solche Anklänge an das kindUch anschauliche Rechnen finden sich aber auch noch bei den zwanzig- jährigen Mädchen: In einer 7. Klasse der höheren Mädchenschule, wo ich die Anwendungsmöglichkeit des Versuchs für dieses Alter feststellen wollte, rechneten eine ganze Anzahl im Achtersystem 35 4-43 = 71, und dieser doch ganz charakteristische Fehler findet sich noch bei der Gruppe XX!

So beweisen die Fehler das bereits Gewonnene und bekräftigen die Ver- mutung, daß nach dem 20. Lebensjahre bei dem weiblichen Geschlechte keinerlei Höherentwicklung der Anlage zum Rechnen erfolgt ^).

Rein mechanisches Verfahren, mangelndes Größenbewußtsein, mathematische Gewissenlosigkeit, vorschnelles Verallgemeinern, gefühlsmäßiges Arbeiten, Kleben am Anschauhchen: das sind die Schlagworte, mit denen man im allgemeinen! die rechnerische Tätigkeit der Mädchen von 14 bis 20 Jahren kennzeichnen kann.

Die jungen Männer machen sich im Laufe der Entwicklung von allen diesen Fehlern, soweit sie sie überhaupt besitzen, völlig frei.

Wenn man nun aber bei den Kriegsteilnehmern wiederum Stellenverschie- bungen, Multiplikation mit ^/s, unmotiviertes Anhängen einer Null beim Ad- dieren, Hilflosigkeit in der Behandlung der Zahlen unter 8 ebenfalls bei der Addition vorfindet und daneben die besonders guten Leistungen in dem anschauhch dargebotenen Achtersystem in Betracht zieht, so erkennt man, wie verwildernd der Krieg auf das abstrakte Denken eingewirkt hat, wie wenig er dagegen dem anschaulichen Denken hat anhaben können. Dieses anschauliche Denken ist eben das natürhche und natürlich bleibende.

3. Individuelle Verschiedenheiten'innerhalb der Versuchsgruppen.

Stellt man die Vpn. nach der Zahl ihrer richtigen Lösungen von Cr bis 21 r zu Gruppen zusammen, so ergibt sich innerhalb der Vergleichs- gruppen 2) je eine ziemlich gleichmäßig verlaufende Prozentkurve, die sich beim männlichen Geschlechte von 8r bis 20 r, beim weiblichen von Or bis 18r erstreckt, also hier bezeichnenderweise um ein bedeutsames Stück nach der ungünstigen Seite verschoben erscheint. Das Studium der Kurven läßt es als zweckmäßig erscheinen, Vpn. mit Or bis 5r, 6r bis 13r, 14r bis 17r, mehr als 17r zu je einer Gruppe zusammenzufassen, um verwendbare Ver- gleichswerte zu erhalten (Tafel V, II). Die 3 Additionen und die ersten beiden Umrechnimgen stellen nämhch nur eine einfache Anwendung des

') Siehe Seite 395. ^) Siehe Seite 387.

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 26

402

Woldemar Voigt

in der Lektion Besprochenen dar und erfordern keinerlei Selbständigkeit (0 bis 5); die fehlenden 8 Umrechnungen sind eine einfache Fortführung der begonnenen Gedankenreihe, die geringe Selbständigkeit erfordert und in der anschaulichen Grundlage der Lektion eine wesentUche Stütze finden kann (6 bis 13); die 4 Subtraktionen und Multiphkationen erscheinen den Vpn. nach schriftlichen Äußerungen als etwas wesentlich Neues, das ohne selbständige Erfassung des Sachganzen nicht zu bearbeiten ist, wenn die Selbständigkeit auch nur in mechanischer Analogiebildung zu den Ver- fahren des Zehnersystems bestehen kann (14 17); die Divisionen dagegen bieten den meisten Vpn. unüberwindliche Schwierigkeiten, die sie übrigens auf die verschiedenste Weise zu umgehen suchen. Es ist natürlich nicht an- zunehmen, daß durchweg die genannten Exempelgruppen genau so, wie eben besprochen, bei den einzelnen Vpn. auftreten.

Tafel V.

Individuelle Verschiedenheiten

I. innerhalb der Vergleichsgruppen

Or

Ir

2r

3r 4r 5r 6r

7r 8r

9r

lOrllr

12rl3r

14rl5r

16rl7rl8rl9r

20r 21 r

männl. Vpn. weibl. Vpn.

13

5 3 6 8 4 3

3 11 6 6

6 9 5 4

4 4 7 i 7

5 12 4 I 4

8 6 4

3 4 1

n. innerhalb der Einzelgruppen

männliche Versuchspersonen

0-5r 6-13r 14-17r >17r

XIV

XV

13

53

27

7

XVI

8

71

21

0

XVII

17

33

50

0

XVIII

24

38

29

10

XIX

0

38

31

31

XX

19

25

4-1

13

XV-XIX /

13

48

31

9

weibliche Versuchspersonen 0~5r 6-13 r 14-17 r >17r

14

64

23

0

XIV

36

54

10

0

XV

46

38

15

0

XVI

34

48

17

0

XVII

33

52

14

0

XVIII

45

30

20

5

XIX

19

30

51

0

XX

39

46

15

1

f XV-XIX

Die Tabelle läßt wiederum die neunzehnjährigen jungen Männer besonders hervortreten: Unter ihnen allein ist keiner, der weniger als 6r hat, und 31 ^/o können 18 und mehr richtige Lösungen aufweisen. Das ist nicht Zufalls- erscheinung oder Ergebnis besonderer mathematischer Erziehung; denn einerseits decken sich Gruppen und Klassen nicht, und andererseits ist aus den Zahlen der Achtzehnjährigen deutlich die Vorbereitung zu dem einsetzen- den Sprunge zu erkennen (lOO/o haben hier mehr als 17r). Zudem ist ja eben irgendwelche spezielle Übung so gut wie völlig ausgeschlossen.

Die Sechzehnjährigen ballen sich in der 2. Längsspalte zusammen: die Fähigkeit zu selbständigen Leistungen ist also allgemein vorhanden, aber noch schwach entwickelt *). Ein ähnliches Zusammenballen erkennt man in geringerem Grade schon bei den Fünfzehnjährigen, deutlicher noch bei den vierzehnjährigen Mädchen.

») Vergl. Seite 390.

Losisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 403

So wirft die einsetzende Pubertät die Mädchen mit elementarer Wucht über die Schranken des Kindlichen hinaus, um sie recht bald allerdings inner- lich verändert an diese Schranken zurückfallen zu lassen O- Die Kurven der fünfzehnjährigen bis neunzehnjährigen Mädchen sind nämhch der der vierzehnjährigen ähnlich, hegen aber sämthch ungünstiger als diese und ungünstiger als alle Kurven der männhchen Vpn. Nur die zwanzigjährigen Mädchen erringen in der 3. Längsspalte eine beträchthche Zahl. Ilire Kurve gleicht frappierend der der IT-jährigen jungen Männer, die noch weit von dem zweiten Ruck in der Entwicklung entfernt sind.

Geburtstag

11. 12. 13. n. 15. 16. 17. 18. 19.

ope'j

u:

HI

m

M

w

M

m

IM

M

z

W

,-1

■'^

60

50

!

/ml./p.

\ \

Ü-trHf

\

/ /

i i

\

^

^wbi.yp.

30

i

/

/

\ ;

^

•^ !

i

?n

y

/

1 r— ' j i

'

1 i

i 1

1 1

1

i

i 1

10

1 i

1 1

! 1 i

1 1

1

1

! 1

i i

Ein einziges unter 220 Mädchen hat mehr als 17 Aufgaben richtig gelöst, nämlich 18, von den 109 männlichen Vpn. haben es 10 auf teilweise sogar 20 richtige Lösungen gebracht! Auf 20 rechnerisch zweifellos über den Durchschnitt begabte junge Männer kommt ein einziges annähernd gleich be- fähigtes junges Mädchen!

So ist naturgemäß auch die Durchschnittskurve der Vergleichsgruppen bei den Mädchen schmaler als bei den jungen Männern; die geringere Entwick- lungsfähigkeit der Mädchen bedingt eine größere Gleichförmigkeit in der rechnerischen Anlage. Dabei ballen sich die Mädchen in der 1. und 2. Längs- spalte noch besonders zusammen, während die jungen Männer höchste Werte in der 2. und 3. (!) Längsspalte aufweisen: die Variationsbreite ist beim männlichen Geschlecht somit gerade in der günstigen Richtung wesent- lich größer.

Die Kriegsteilnehmer gleichen in der Form der Kurve am deutlichsten ihren siebzehnjährigen Geschlechtsgenossen, stehen jedoch in den ersten drei Zahlen

M Vergl. Seite 395.

26"

404 Woldemar Voigt

etwas ungünstiger da als diese; dafür reicht aber ihre Variation bis in die Gruppe der 18 Lösungen hinein, sodaß auch bei ihnen der charakteristische Unterschied vom weibhchen Geschlechte deutlich zu erkennen ist. Minimale Leistungen treten häufiger auf als bei den zwanzigjährigen Mädchen und seltener als bei den anderen weiblichen Versuchsgruppen, soweit diese in das Versuchsgebiet gehören.

4. Verknüpfung der vorliegenden Untersuchungen

mit denen von 1912.

Kriegseinflüsse. Volksschülerinnen und „höhere" Schülerinnen.

Um die Verbindung mit den Ergebnissen von 1912 i) herstellen zu können, habe ich die vorliegenden Untersuchungen auch mit Mädchen des 14. Lebens- jahres vorgenommen 2). Deren Beteihgung an der Lösung der Aufgaben ist nur wenig geringer als die der fünfzehnjährigen Knaben Maßzahlen 75 bzw. 80, Tafel I, Seite 391 und eben so groß wie die der sechzehnjährigen und siebzehnjährigen jungen Männer, sowohl bei den Umrechnungen wie bei den Rechnungen. Das will nicht allzu viel besagen, ist aber immerhin bemerkenswert. Wichtiger ist, daß auch bei den richtigen Lösungen Tafel II, Seite 392 fast gleiche MaßzahJen für die vierzehnjährigen Mäd- chen und die fünfzehnjährigen Knaben vorliegen, nämlich 40 und 43. Im einzelnen liegt hier die Sache so, daß die Mädchen die Knaben hei den Um- rechnungen, wo die anschauliche Denkweise zweifellos ein Vorteil ist, über- treffen, daß sie den Knaben aber in den Rechnungen merklich nachstehen; denn hier ist der Denkvorgang notwendig abstrakterer Natur. Daher ist denn auch hier der Prozentsatz an halbrichtigen Lösungen bei den Mädchen ganz besonders hoch (Tafel III, Seite 397). Trotz allem wird aber das Ergebnis der Untersuchung von 1912 bestätigt; denn die Mädchen sind um die Zeit des 14. Lebensjahres den Knaben quantitativ immer noch um fast ein Jahr in der Entwicklung der rechnerischen Anlage voraus, wenn sich auch der nunmehr einsetzende Umschwung schon vorbereitet. Es ist nicht ohne Reiz, zur genaueren Beleuchtung des eben Gesagten die Einzelwerte auf den Tafeln B und C (nicht abgedruckt) zu vergleichen.

Die Verknüpfung der obengenannten Ergebnisse mit denen der vorliegen- den Arbeit stößt nunmehr jedenfalls auf keinerlei Schwierigkeiten, und die Entwicklungskurve kann vom 10. bis zum 20. Lebensjahre ohne Unter- brechung verfolgt werden.

Die einzelnen Maßzahlen von 1912 sind natürlich mit den vorliegenden nicht vergleichbar, schon weil es sich teilweise um andere Aufgaben handelt. Aber selbst wenn durchweg dieselben Aufgaben hätten gestellt werden können, bestünden schwere Bedenken gegen den Einzelvergleich; denn der gesamte psychische und physische Habitus der Jugend von 1919 scheint ein anderer zu sein als der von 1912. Diese Vermutung läßt sich zahlenmäßig recht gut stützen:

Ich habe nämlich die vorliegenden Untersuchungen auch in einer durchaus normal befähigten Volksschulklasse 3) vorgenommen, und da die Umrechnungs- aufgaben dieselben waren wie 1912, können wenigstens die durschschnitt-

>) Voigt, a. a. 0., Seite 166 ff. ^) Vergl. Seite 387. ^) Vergl. Seite 388.

Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 405

liehen Maßzahlen, soweit sie sich auf das Achter- und Sechsersystem zu- sammengenommen beziehen, nebeneinandergestellt werden. Sie sind, was Beteiligung betrifft,

88') für 1912, 662) für 1919 was die richtigen Lösungen betrifft,

6-j3) 1912, 40*) ,. 1919 r

T +

100

73*)

1912, 59

1910

79^

1912, 46

1910

100

87,5*) .. 1912, 69 .. 1919

^ f

Man sieht, daß die Volksschülerinnen von 1919 quantitativ und qualitativ ganz beträchtlich viel weniger leisten als die von 1912. Zufallsergebnisse können so große Zahlenunterschiede nicht sein, haben doch die Vierzehn- jährigen von 1912 beispielsweise 63 0 0 mehr richtige Lösungen zustande gebracht als ihre auch normal befähigten Altersgenossinnen von 1919, die kaum mit den 12^2- jährigen von 1912 auf gleicher Stufe sich befinden. So hat das Kriegselend die geistige Entwicklung unserer Jugend geschädigt! Ich wage es nicht, auf die Einzelheiten näher einzugehen, dazu ist das vor- liegende Material leider nicht umfangreich genug. Es handelt sich aber zweifellos um eine Frage, die trotzdem die Tatsachen so traurig sind besondere Untersuchungen dringend erfordert.

Der obengenannte Versuch bietet auch zugleich Gelegenheit, die Leistungen der höheren Schülerin mit denen der Volksschülerin zu vergleichen (Tafel VI).

Tafel VI.

Leistungen gleichalteriger Volksschülerinnen und Schülerinnen der höheren

Mädchenschulen.

Durchschnittswerte .

Volksschule

l:a

r: a

r 2=^

VIII-S

VI-S

D

63 69 66

42 38 40

22

8

15

VIII-S

VI-S

D

61 67 64

17 25 21

100 56

78

VIII-S

VI-S

D

62 68 65

30 32

31

-L

61 32 47

höhere Schule

f:r

I:a

f:r

Umrechnungen

35 &4

76 80

56 82

Rechnungen 148 65

111 68

130 67

Durchschnitt (U -f R)

92 75 94 74

93 75

62

9

25

54

28

21

58

19

23

23

81

97

18

81

194

21

81

146

43

45

61

36

OD

108

40

50

85

') Voigt, a. a. 0., Seite 148, Tafel A c. 3_) Voigt, a. a. 0., Seite 152, Tafel B c.

-) Vergl. Tafel VI, Seite 405.

*) Voigt, a. a. 0.. Seite 153, Tafel C, D, E c.

406 Woldemar Voigt

Fast volle Übereinstimmung der zwei Klassen zeigt sich in den Rechnungen: beide haben 21 ^jo aller Aufgaben völlig richtig gelöst. Quantitativ sind gleiche Halbheiten auf 100 richtige Rechnungen kommen 78 bzw. 81 halb- richtige — und gleiche Fehler 130 bzw. 143 sind vorhanden. Und da ferner die Volksschülerinnen im Sechsersystem sogar etwas besser sind als die „höheren" Schülerinnen, so kann man wohl behaupten, daß die logisch-rechnerischen Fähigkeiten in den mittleren und einfachen sozialen Schichten gleichmäßig verteilt sind.

Ich betrachte das eben Ausgeführte zugleich als Beweis für die Brauch- barkeit der Untersuchungsmethode, die sich damit wiederum völlig unab- hängig vom Lehrplane zeigt und somit die Vergleichung auch ganz ver- schieden vorgebildeter Vpn. gestattet, wenn diese nur die vier elementaren Rechenoperationen beherrschen.

Sonderbarerweise schneiden aber in den Umrechnungen die Volks- schülerinnen ganz erheblich schlechter ab als ihre Altersgenossinnen in der höheren Mädchenschule, wenigstens soweit es sich um die Quantität der Leistungen handelt 40:58 ; besondere Unterschiede in den Fehlern habe ich nämlich nicht feststellen können, und das Verhältnis der halb- richtigen zu den richtigen Lösungen ist bei den Volksschülerinnen sogar noch eine Kleinigkeit besser als in der höheren Schule 15 : 19 . Da es sich nun bei den Umrechnungen im wesentlichen um Analogiebildungen handelt, um genaues Erfassen eines Systems, kann ich mir das quantitative Versagen der Volksschülerinnen im Gegensatz zu dem vorhin Gesagten nur aus dem Lehrplan erklären, der in der höheren Schule im ganzen und im einzelnen mehr Gelegenheit zur Übung des systematischen Denkens bietet. So kenn- zeichnen sich die Umrechnungen als eine Methode, die möglichst gleich- mäßig vorgebildete Vpn. erfordert und deren Ergebnisse bei Vergleichungen nur mit der nötigen Vorsicht zu verwerten sind.

Zusammenstellung der Ergebnisse.

Indem ich wiederholt») auf Sterns Kanteten 2) hinweise, fasse ich die Er- gebnisse der Versuche in folgende Sätze zusammen;

1. Die Entwicklung des rechnerischen Denkens erfolgt zwischen dem 10. und 20. Lebensjahre nicht stetig, sondern sprunghaft, und zwar zeigt sich beim männlichen Geschlechte zweimal zur Zeit der Pubertät und beim Beginn des 19. Lebensjahres 3) , beim weiblichen Geschlechte einmal ' zur Zeit der Pubertät ein deutlich rasches Ansteigen der Rechenfähigkeit.

2: Die Pubertät, die beim weiblichen Geschlechte reichlich ein Jahr früher einsetzt, bedeutet in der Entfaltung der Anlage zum Rechnen für beide Ge- schlechter eine Überproduktion an Energie, die einen Rückschlag zur Folge hat, der sich beim männlichen Geschlechte in einem mehrjährigen Stillstande der Entwicklung, beim weiblichen in unzweifelhaftem Nachlassen der Rechen- fähiffkeit äußert. Diese Erschlaffung ist erst bei Beginn des 20. Lebensjahres völlig überwunden.

3. Die rechnerischen Leistungen des männlichen Geschlechts sind vor der

1) Voigt, a. a. 0., S. 168.

2) Stern, Differentielle Psychologie, Leipzig 1911, S. 33. ^ Lay, a. a. 0., S. 83.

Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- biß Zwanzigjährigen usw. 407

Pubertät merklich geringer als die des weiblichen, übersteigen aber diese nach der Pubertät immer beträchtUcher.

4. Der Verlauf der Entwicklung und die vergleichsweise Größe der Rechenfähigkeit lassen sich ungefähr durch die Kurven i) S. 403 charakteri- sieren.

5. Die individuelle Variation hinsichtlich der Entwicklung der rechnerischen Anlage ist beim männlichen Geschlechte wesenthch breiter als beim weib- lichen und hegt im ganzen günstiger als bei diesem.

6. Die Arbeitsweise ist vor der Pubertät bei beiden Geschlechtem im wesenthchen gleichartig 2). Zwischen dem 14. und 20. Jahre ist die rech- nerische Tätigkeit des männlichen Geschlechts charakterisiert durch zu- nehmende Selbständigkeit, Sicherheit, Konstanz eines dauernd korrigierenden Größen- und Regelbewußtseins 3) und das Streben nach klarer, abstrakter Erfassung der Probleme (Aktivität). Beim weibhchen Geschlechte lassen sich in dieser ganzen Zeit wenn auch allmählich abnehmend der Wunsch nach Führung, das Streben nach Mechanisierung, das Haften am Anschaulichen, die Neigung zu vorschnellem Verallgemeinern und gefühls- mäßiger Erledigung der Probleme, sowie mangelndes Größenbewußtsein und häufiges Versagen des Regelbewußtseins erkennen (Rezeptivität).

7. Die Rechenfähigkeit der Kriegsteilnehmer ist quantitativ und quahtativ bedeutend geringer, als ihrer Entwäcklungsstufe entsprechen würde. Ihre Arbeitsweise ähnelt in vielen Beziehungen der naiven und der weibhchen.

8. Das Kriegselend hat bei Volksschülerinnen stark hemmend auf die Entfaltung der rechnerischen Fähigkeiten eingewirkt.

9. Gleichalterige Volksschülerinnen und Schülerinnen der höheren Mädchen- schule zeigen im wesenthchen gleiche rechnerische Fähigkeiten.

Als nächstUegende praktische Folgerungen sind zu erwähnen:

1. Der Unterricht im Rechnen muß den Mädchen auf allen Stufen durch weitestgehende Veranschauhchung , durch Herausstellung und Übimg von Normalverfahren ^), sowie durch fortgesetztes Abschätzen der gegebenen und zu errechnenden Größen entgegenkommen. Der übergroßen Neigung zum Mechanisieren ist durch häufige Erarbeitung eleganter Lösungen zu begegnen.

2. Die Koedukation ist nach dem 14. Lebensjahre für den Unterricht in der Arithmetik abzulehnen. Das durchschnittsbegabte Mädchen muß diesen Unterricht in einer altersgleichen Knabenklasse unverhältnismäßig stark hemmen.

Koirelationen.

Da bei den Versuchen nicht die gebräuchlichen Rechenbuchaufgaben ver- wertet worden sind, erhebt sich die Frage, ob sie denn auch wirklich das

') Die Darstellung fußt im wesentlichen auf den Maßzahlen der Tafel II*) dieser und der Tafel B*) jener Arbeit. Die Zahlen der letzteren mußten folgerichtig durchweg mit ^/s multi- pliziert werden; denn die Verknüpfung erfolgt durch Vermittlung der Gruppe XIV (Im), für die diesmal 40 "/o, 1912 aber 64°/'o*) vermerkt sind. Das gesamte übrige Zahlenwerk beider Ar- beiten ist zur Ergänzung und Abrundung berücksichtigt worden.

^) Voigt, a. a. 0., S. 167, Pkt. 5. ') Damm, Korrelative Beziehungen zw. elementaren

Vergleichsleistungen, Zeitschr, f. ang. Psych., Leipzig 1914, S. 76.

*) Kühnel, Neubau des Rechenunterrichts, Leipzig 1916, II, S. 1. (Gegenteilige Ansicht,)

') Vgl. S. 392. *) Voigt, a. a. O., S. 152. *) Ebenda, S. 152 u. 153, Absch. c.

408 W. Voigt, Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjähr. usw.

erfassen, was man im landläufigen Sinne als Rechnen bezeichnet. Um der Beantwortung dieser Frage praktisch nahe zu kommen, habe ich bei vier Klassen die Ergebnisse des Versuchs mit den Einzelzensuren für Rechnen bzw. Arithmetik, übrigens auch mit denen für Begabung und Gesamtleistung (ohne technische Fächer) in Beziehung gesetzt. Es handelt sich um neun- zehnjährige und fünfzehnjährige Seminaristen, deren Zensuren mir Herr Ober- schulrat Dr. Hözel gütigst mitgeteilt hat, und um Seminaristinnen der ersten Klassen, die von den Herren Oberschulrat Dr. Gaudig und Oberlehrer Scheibner geleitet werden und bei denen sich die Zensuren durchweg auf mindestens fünfjährige Beobachtung gründen. Die Sicherheit aller Zensuren beruht ferner wesenthch mit darauf, daß die Klassen teilweise von Grund auf durchgeführt worden sind; dabei hat man individuelle Einseitigkeiten der Beurteilung durch häufige Zensurenkonferenzen zu vermeiden gesucht. Es bestehen in den genannten vier Klassen folgende Korrelationen (Tafel VII) :

Tafel Vn.

Korrelationen

zwischen Versuchsergebn

Rechenzensur (Begabungs- j Zensur

is und

Gesamt- leistungsz.

1. männl. Vpn.

Gruppe XIX Gruppe XV

2. weibl. Vpn. Klasse G. \ Gruppe Klasse Seh./ XX

n r

14 0,63

15 0,37

16 0,67 15 0,61

w.F.

0,09 0,14

0,08 0,09

r w.F.

0,44 0,13 0,40 0,14

0,78 0,05 0,70 0,07

r w.F.

0,44 0,13 0,39 0,14

0,71 0,07 0,71 0,07

Die Werte sind, da sich die extremen Korrelationen mit 4- 1 bzw. 1 ausdrücken i), für die weiblichen Vpn. durchweg außerordentlich günstig, für die männlichen nur insofern, als sie sich auf das Rechnen der Neunzehn- jährigen beziehen, wo dieselbe Korrelation wie bei den weiblichen Vpn. auf- tritt (-^- 0,63). Die meisten Zahlen sprechen also für die Sicherheit der Ver- suchsergebnisse, der Rest jedenfalls nicht dagegen.

Es fällt ferner sofort ins Auge, daß die Korrelation zwischen Allgemein- begabung und Versuchsergebnis in den beiden Seminaristinnenklassen merk- lich höher ist als die zwischen Rechenzensur und Versuchsergebnis. Hiernach wäre zu schließen, daß der Versuch das gesamte logische Denken des Menschen erfaßt und die Art der Entwicklung der Gesamtintelligenz 2) zu illustrieren vermag 3), und die vorsichtige Betonung, daß es sich um logisch- rechnerisches Denken handle, wäre zwar einerseits nicht falsch, anderer- seits aber absolut überflüssig. Die Gesamtheit der geistigen Veran- lagungen entwickelte sich dann eben in der dargelegten Weise, und die aufgezählten Unterschiede in der Arbeitsweise der Geschlechter gälten allgemein. Damit wäre über die Intelligenz des weiblichen Geschlechts nicht der Stab gebrochen; denn was für die Arbeit mit Zahlen zum Fehler werden muß gefühlsmäßiges Verfahren, rasches Verallgemeinern, anschauliches

^) Damm, a. a. 0., S. 18ff. und Schulze, Aus der Werkstatt der exp. Psychologie u. Päd., Leipzig 1909, S. 264. '^) Lay, a. a. O., S. 93.

'') Vgl. auch Meumann. a. a. 0., III, S. 809.

Ernst Lentz, Zum psychol. Problem der „Fremdsprachen und Muttersprache" 409

Denken usw. , kam? bei anderer geistiger Betätigung zu einer gewissen Überlegenheit des weiblichen Geschlechtes führen. Doch alle diese Fragen gehören nicht in den vorliegenden tatsächlichen Teil der Arbeit, sie werden den Gegenstand des zweiten theoretischen Teiles bilden, der sich mit der not^vendigen 1) genaueren Deutung und Analyse der Erscheinungen befassen \\ird und dessen Bearbeitung zugleich mit der Nachprüfung des gesamten Materials Herr Assistent Dr. Damm-), Leipzig, freundlichst mit übernommen hat. Hierin werden auch die Einzelzahlen und kleinen Differenzen mehr zu ihrem Rechte kommen können, die in einem rein tatsächhchen Teile nur gelegentUch herangezogen werden dürfen, wenn man nicht den Vorwurf der Überschätzung des Zahlenwerkes auf sich ziehen will.

Zum psychologischen Problem „Fremdsprachen und Muttersprache'*.

Von Ernst Lentz.

Was W. Stern über Epstein „La Pensee et la Polyglossie'* kürzUch in dieser Zeitschrift 3) berichtet, bestätigt im allgemeinen meine Ansichten, die ich bei verschiedenen Gelegenheiten geäußert habe, und zwar 1. in dem Aufsatz über das lateinische Extemporale in der Reifeprüfung der Gymnasien, Pädag. Archiv 1895; 2. in der Zeitschrift für die Reform der höheren Schulen, 1897 unter dem Titel „Die geistige Verfassung des Gymnasiasten"; 3. ebenda 1897 in einem Vortrage, gehalten auf der Generalversammlung des Vereins für Schukeform zu Braunschweig. „Gegenv/art und Zukunft des lateinischen Unterrichts auf den Gymnasien"; 4. ebenda 1898 unter dem Titel „Die Erfolge der lateinischen Lektüre unter den neuen Lehrplänen" ; 5. in meinem Aufsatz der „Deutschen Welt" 1905 „Für die Muttersprache"; 6. in einem Buche „Die Vorzüge des gemeinsamen Unterbaues aller höheren Lehranstalten", 3. Aufl., BerMn 1904; 7. in einem Schulprogramm des Königl. Gymnasiums zu Danzig „Ein Lehrgang der lateinischen Kasussyntax in Quarta" 1907. Nr. 1, 3, 4 und 5 sind wiederabgedruckt in meiner Aufsatzsammlung „Pädagog. Neuland", Berlin, Salle 1907. Auch der Anhang dieses Buches enthält Äußerungen zu denselben Fragen.

Als ich 1879 ins altphilologische Lehramt trat, war ich durchaus von gegenteiligen Ansichten beherrscht und zwar von der unter den Philologen seit Fr. Aug. Wolf traditionellen Einschätzung der Fremdsprachen und besonders der alten als des besten Bildungsmittels für die männhche Jugend ohne Unterschied der Veranlagung. ^) Der üniversitätsunterricht, der oft auf

'( Damm, a. a. O., S. 78.

-) Außer den im Texte genannten Herren und allen Vpn. bin ich noch Herrn Privatdozenten Dr. Brahn, Leipzig. Herrn O.-Postass. Voigt, Plauen, Herrn stud. Zenker, FrL J. Rothmann, Leipzig, Frl. Lehrerin C. Ruthenberg. Bel'hn, und Frl. Lehrerin Et. Weinhold. Leipzig, zu besonderem Danke verpflichtet.

^) Die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen. Bd. 20 (3/4) S. 104. 1919.

''l Die Wolfsche Lobpreisung der einzigartigen Wirkimg des altklassischen Studiums beschließt seine , Darstellung der Altertumswissenschaft" v. J. 1807, in der Hoffmannschen Ausgabe von 1833, S. 50 75. Es ist ein Glaubensbekenntnis, keine wissenschaftliche ITntersachung. Der Geist der Jugend wird nach dem des gelehrten Altsrs vorgestellt.

410 Ernst Lentz

Wolf sich zu beziehen Gelegenheit hatte, hatte zwar niemals seine Empfehlung der Altertumswissenschaft berührt, aber wir jungen Philologen brachten diese Anschauungen schon von der Schule mit und bestärkten uns gegenseitig darin. Danach war die Grammatik angewandte Logik, ihre Beherrschung in den produktiven (expressiven nach Epstein) Leistungen der sicherste Beweis logischen Denkens, eine Bürgschaft auch für das Verstehen der Schriftwerke und die beste Grundlage muttersprachlicher Schulung. Leider entsprachen die Erfahrungen des Lehramts diesen Anschauungen in keiner Weise: Der allgemeine geistige Zustand der Schüler sank von Klasse zu Klasse, die große Frische der Sextaner war auf der Mittelstufe oft einer entsetzlichen Schwerfälligkeit gewichen, ihr quickes Sinnesleben war ertötet, und logisches Denken wiesen viele, darunter auch gute Grammatiker, als unbequeme Zumutung zurück (Nr. 2). Die muttersprachlichen Leistungen litten an Latinismen und einem Mangel lebenswarmen Sprachempfindens, die Übersetzungen in die Muttersprache (Herübersetzungen) waren, wenn aus dem Stegreif verlangt, eine Stümperei, auch in den Reifeprüfungen, und die Grammatik haftete nicht. Die Extemporalien waren meistens eine schwere Not, weil hinter dem Ganzen keine Freudigkeit wohnte, kein Gefühl des geistigen Fortschritts, des geistigen Lohnes für alle Mühen. Schüler, die ich in Quarta nach Nr. 7 mit gutem Erfolg unterrichtet hatte, wußten grund- legende sprachliche Gesetze dieses Pensums in Sekunda mit wenigen Aus- nahmen nicht mehr. Es kam nun darauf an festzustellen, ob diese Er- fahrungen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hatten. Das darf man wohl behaupten, nach den Äußerungen so vieler Schulmänner, die Paulsen in seiner Geschichte des gelehrten Unterrichts wiedergibt. Auch vmrde mir, wenn ich bei Amtsgenossen anderer Gymnasien nachfragte, nirgends recht widersprochen. Aber man tröstete sich, indem man die Schuld dem „Ballast" zuschob, den die höhere Schule mitschleppe, wobei man nicht bedachte, daß fast die ganze Ladung dahin gerechnet werden müßte. Mir schien die Lehre der Schulpraxis den Beweis dafür zu erbringen, daß die oben ge- nannten Grundanschauungen der gymnasialen Pädagogik einer Nachprüfung auf ihre psychologische Berechtigung unterzogen werden müßten. Ich habe sie unternommen und in den genannten Schriften darüber Rechenschaft gelegt.

Zunächst wurde mir der Irrtuip- offenbar, mit der Methode der expressiven Arbeiten auch die der impressiven erledigt zu sehen. An der Hand von Rothfuchs' bekannten didaktischen Weisungen legte ich mir für die Herüber- setzungen eine Lehrart zurecht, die die Eigenart des impressiven Sprach- könnens berücksichtigte und habe damit gute Erfolge erreicht, auch in der Reifeprüfung, auch bei Schülern mit schwächeren Fremdsprachkenntnissen, aber guter muttersprachlicher Bildung. Überraschend war, was der Unter- richt Erw^achsener erzielte, die ich in den letzten Jahren gelehrt habe. Manchem fiel es wie Schuppen von den Augen. So kann die von Epstein stark betonte Unterscheidung impressiver und expressiver Leistungen der sprachlichen Methodik nicht dringend genug empfohlen werden.

Indem ich weiter nach der Ursache des gekennzeichneten geistigen Nieder- ganges auf der Mittelstufe forschte, begnügte ich mich nicht damit, die Schuld dem „Ballast" zuzuschieben. Denn ich fand die ScWimmsten gar nicht einmal auf den untersten Bänken, vielmehr in dem geistigen Mittel- gut, das, ganz von den Aufgaben der Schule beherrscht, seine geistige

/

Zum psychologischen Problem „Fremdsprachen und Muttersprache« 411

Nahrung nur aus den Büchern und hauptsächlich den sprachlichen zog (Type erudit Binets). Dagegen erfreute mich mancheiner, an dem der Fremd- sprachenunterricht verzweifelte, der aber Zeit gefunden hatte, offenen Auges sich in Straße und Flur zu tummeln, mit Antworten auf Verstandesfragen, vor denen auch Musterschüler verstummten. Diese Erfahrung war die Grund- lage, auf der meine Beobachtungen und Studien sich verdichteten zu der Erkenntnis, daß der gymnasiale Lehrplan auf der Unterstufe dem Grund- gesetze geistigen Werdens widerspricht, wonach Ausbau des Vorstellungs- schatzes und seine Einkleidung in die Muttersprache die Hauptaufgabe des Unterrichts ist, also der Muttersprach- und der Sachunterricht die wahren Quellen der Geistesschuiung sind. (Nr. 3, 5, 6.) Es ist das ja alte Weisheit. Sie findet sich schon in des Comenius Rufe nach Sachbildung und rein muttersprachlicher Schulung bis zum 12. Lebensjahre, ist scharf ausgeprägt bei John Locke, erfährt eine plastische Darstellung in Herders Wort : „In die IMuttersprache ist unser Denken gepflanzt, und unsere Seele und unser .johr und unsere Organe der Sprache sind mit ihr gebildet" tritt bei Herbart herv-or in seiner Absage an die gegensätzliche philologische Spe- kulations-Pädagogik und ist doch auch durch die Arbeiten der experimentellen Pädagogik bereits zum unverlierbaren Gut jeder ernsthaften Erziehungs- wissenschaft geworden. Damit erwächst uns die Verpflichtung, auf die der Muttersprache durch den fremdsprachlichen Unterricht drohenden Gefahren zu ac^fen,'^ wie"'srg~atrch'-atts ^steins Untersuchungen klar zutage treten. Ich" habe auf sie wiederholt hingewiesen, besonders in Nr. 3 u. 5. Es heißt doft-tmgefähr: Dieselben Gedanken erhalten vom 10. bis zum 13. Lebens- jahre auf den alten Schulen vier verschiedene Einkleidungen. Es wäre auf- fallend, wenn der Sprechende sich da nicht vergriffe, zumal die fremd- sprachlichen Formen mit größtem Nachdruck dem BewTißtsein eingeprägt und empfohlen werden, sie, deren Beherrschung das Fortkommen auf der Schule bestimmt. In wenigen ist das heimische Sprachgefühl so mächtig, um sich siegreich zu behaupten. Das Deutsch unserer Gelehrten und Be- hörden, die Angst und Unfähigkeit des gebildeten Mannes, öffentlich frei zu sprechen, beweisen das zur Genüge. Ein Widerspruch aber ist es zui allem vorurteilslosen Denken, daß gerade im Gegenteil eine Förderung des! deutschen Sprachgefühls von dem frühzeitigen Fremdgprachenbetiiebe erwartet wird. Wenn Sprachfertigkeit eine schnelle und sichere Verbindung der Gedanken mit ihren lautlichen Abbildern in bestimmten, einer Sprache eigentümlichen Satzformen bedeutet, so wird diese Sicherheit am ehesten erreicht, wenn nur eine Verbindung geübt wird. . Gelangen wir doch zu der zuverlässigsten, a. n. zur'UllCeWüßteri Betätigung jeder Gewohnheit nur/ dann, wenn unser Tun nur eine Art des Geschehens kennt. So verdanken wir die unfehlbare Sicherheit der Bewegungen, die auch dem Nachtwandler iioch zu Gebote steht, dem Umstände, daß wir mu- eine Möglichkeit des fcrehens kennen und üben. Sprechen ist al)er auch nichts anderes als eine Gewohnheitssache, die demselben Ziele zustrebt, wie jede andere Gewöhnung, dem des unbewußten Könnens. Und zu demselben Ziele führt auch der- selbe Weg: stetige Übung der stets gleichen Willensantriebe zu gleichem Tun, d. i. beim Sprechenlernen zu den stets gleichen Verbindungen von Gedanken und Worten. Selbst in vorgeschrittenem Alter lockern diese Ver- bindungen sich, wenn eine andere Sprache die Umgangssprache wird, wie

/

412 Ernst Lentz

u. a. Schliemann an sich nach dreimonatigem Aufenthalt in London bemerkte. Kinder verlernen (auch nach Meumann) ihre Muttersprache unter solchen Verhältnissen ganz. Sollte es danach wirklich einen andern Weg zur Aus- bildung der Muttersprache geben, als den von dieser theoretischen Erwägung und solcher Erfahrung gewiesenen: Gut sprechen hören und gut sprechen üben, Gutes lesen und das Aufgefaßte niederschreiben, kurz den Ablauf der Assoziationen zwischen Gedanken und Muttersprache und umgekehrt fördern und ungestört erhalten? Wenn der Schöpfer dieses Wunderwerk der Ge- dankenbildung und Gedankenprägung geschaffen und dem Menschen ohne dessen besondere Beschwerde zu unbewußtem Gebrauch gegeben hat, sollte man irgend etwas erdenken können, das besser wäre als der Weisung der Natur zu folgen, als das freie Spiel des Wunderwerkes? Sollte es irgendwo von besonderer Weisheit zeugen, wenn man Transmissionen ohne Not. unter- bricht oder dieselbe Welle mit mehreren Räderweirken zusammenschließt Muß es dabei nicht Störungen geben hier und dort?

Damit stehen wir allerdings im schärfsten Gegensatz zur gekennzeichneten philologischen Pädagogik, die die Unterbrechung der unbewußten Assoziation zum Zwecke bewußten Vergleichs mit anderen Sprachformen und zwar mit möglichst verschieden gearteten auch für ein vorzügliches Mittel der mutter- sprachlichen Schulung erklärt. Steckt vielleicht doch ein gesunder Kern darin?

Man könnte ihn darin finden, daß in der Tat die unbewußte Sprach- erlernung nicht bei allen Menschen ausreicht und zwar aus dem von Epstein und mir gekennzeichneten Grunde der Sprachhemmung durch andere sprach- liche Einflüsse. Kinder, auch die gebildeter Eltern, sprechen in der Regel nicht die Mundart ihres Vaterhauses, sondern die der Umgebung, von der sie Klang- und Tonfarbe, mundartliche Ausdrücke und auch Sprachfehler über- nehmen. Sie werden daher öfter zu sprachlicher Besinnung angehalten werden müssen. Auch unterliegen alle Menschen den Einwirkungen der sprachumbildenden Kräfte, vor allem der Bequemlichkeit und der falschen Analogie, der Verwechslungen infolge ähnlichen Klanges sich anreihen (s. unten). Treten nicht starke Widerstände von selten der guten sprachlichen Über- lieferung und ihrer Wächter ein, dann entartet die Sprache, was die Gram- matik und die Wortgeschichte aller Sprachen lehren. Aber solche Wächter sind doch vor allen Dingen neben gebildeten Eltern die Lehrer der Mutter- sprache, nicht einer fremden. Wie viel Tausende von Gelegenheiten bieten sich dem deutschen Lehrer, bei sprachlichen Entgleisungen den Sünder auf die rechte Bahn zu lenken ! Man denke an eine mit der Rückgabe von Auf- sätzen ausgefüllte Stunde ! Dabei vergesse man nicht, daß der muttersprach- liche Unterricht bisher nur mit den Brocken der Lehrzeit hat vorlieb nehmen müssen, die die wohlgenährten fremden Herren ihm übrig gelassen hatten. Was wird er schaffen können an liebevoller Einführung in die Geschichte der Sprache und der Wörter, an sprachpsychologischen und etymologischen Betrachtungen, an Deutungen sinnverwandter, ähnlich klingender, abstrakter und seltener Wörter, in der Sonderung der verschiedenen Bedeutungen des- selben Wortes, wenn man ihn als gleichberechtigt mit jenen anerkennen und ihm etwa eine Lehrstunde täglich zuweisen wird! Auch der fremdsprach- liche Unterricht gibt Gelegenheit, einige dieser Aufgaben gelegentlich zu er- füllen, aber es ist Gefahr vorhanden, daß seine Guttaten mehr als aufgewogen werden durch folgende Schädigungen:

Zum psychologischen Problem „Fremdsprachen und Muttersprache" 413

1. Der fremdsprachliche Unterricht wendet das Hauptinteresse der fremden/ Sprachform zu, die daher sich schärfer eindrückt als die muttersprachliche.'

2. Bei Abweichungen der Muttersprache von der Fremdsprache erscheint aus demselben Grunde die fremdsprachliche Form leicht als die vollkommenere. Im lateinischen Unterricht wenigstens pflegt die Muttersprache als die „un- genauere" bezeichnet zu werden. Und doch könnte man wohl begreifen, daß es ungenaue Sprachen überhaupt nicht geben kann, weil Genauigkeit der Mitteilung dringendes Bedürfnis ist. Freilich birgt die Mehrdeutigkeit der Wörter die Möglichkeit eines Mißverständnisses in sich, aber diese ist in allen Sprachen gegeben und kann durch Vorsicht vermieden werden. Die S\Titax ist so wenig Ursache von Mißverständnissen, daß der Depeschenstil in der Regel sogar mit einem Bruchteil von ihr verständlich bleibt. Daß vdr in unserer Muttersprache infolge mangelhafter sjTitaktischer Formen uns nicht genau genug ausdrücken könnten, ist also eine ungeheuerliche Behauptung, und wenn sie das Ergebnis des Unterrichts bei allen Lateinschülem ist, wie meine Erfahrung mich gelehrt hat, dann rede man nicht von Verdiensten dieses Lehrfaches mn unsere Muttersprache. Denn jede Minderung der Achtung vor ihr bedeutet eine Minderung der Liebe zu ihr und des Willens zu ihrer Pflege. Die Schule spricht übrigens Solche Behauptimgen auch zu dem Zwecke nach, um den Schülern die dürre Kost der Hinübersetzungen die kAi'npnfTPf^^nlfPnyiiyachs bringen, schmackhaft zu machen.

3. Dazu kommt, daß der Lehrer oft als Brücke z\\ischen den verschieden gearteten Sprachen den Schülern Z\vischenformen empfehlen muß, also fremde Sprachformen in muttersprachlichem Gewände. Willst du wissen, ob ,wer' ,qui' oder ,quis' heißen muß, so setze ,derjenige welcher' dafür ein, ein

[bewährtes Mittel, so bewährt, daß das undeutsche .derjenige welcher' fast Idas muttersprachliche ,wer verdrängt hat. .Die Verschworenen fanden sich i zusammen zur Ermordung Caesars' bedarf erst der Umformung in: ,sie kamen zusammen zu dem zu ermordenden Caesar*, um ,ad Caesarem necandmn convenerunt' zu ermöglichen. Der im pajrfernen Stil so häufige Gebrauch des Gerundivs hat daher seinen Ursprung. Und nun vergegenwärtige man sich das fürchterliche Deutsch der Übersetzungsbücher, die wir als Schüler und Lehrer gebrauchen mußten! (Nr. 4, 5, 6, 7.) Wie konnte sich da ein gesundes deutsches Sprachgefühl entwickeln? Wie haben wir kämpfen müssen, um die lateinischen Schlacken vom Guß der muttersprachlichen Gedankenform zu entfernen ! Dies schlechte Deutsch war eben die Zwischen- form, die das Übersetzen erleichterte, und wenn es sich in neueren Büchern auch verbessert hat, so \^ird der Schüler immer noch die Brückenform in Gedanken bilden und dadurch nach wie vor sein muttersprachliches Gefühl beeinträchtigen oder gar töten. Es ist klar, daß die geschilderten Gefahren desto größer sind, je verschiedener die Fremdsprache von der Muttersprache ist- Nun könnte maiTein wen den, ich sähe zü"schwarz, das neunjährige Kind' sei doch schon hinreichend im Gebrauch der Muttersprache gefestigt, um die angestrengte Beschäftigung auch mit einer wesentlich anders gearteten Sprache ohne Schädigung zu vertragen. Damit vergleiche man meine Angaben in Nr. 7. Ich habe noch auf Quinta 80 v. H. aller in einer Klassenarbeit von der ganzen Klasse gemachten Fehler auf mangelhaftes Verständnis der Mutter- sprache zurückführen können, ich habe auf Quarta 50 v. H. festgestellt. Ich habe beobachtet, wie leicht ähnlich lautende Wörter und Sprachformen ver-

:/

414 Ernst Lentz, Zum psychol. Problem der „Fremdspraclien und Muttersprache'-

wechselt werden: nennen und ernennen, bitten und erbitten, schmähen und verschmähen, sich erinnern und erinnern, lernen und lehren, rauben und berauben, brauchen (nötig haben) und gebrauchen, entscheiden und sich unterscheiden, kommen und bekommen, fahren und erfahren, auch Gefahren (wir haben erfahren periculosi habemus), hören und gehören, legen, hegen und sich legen, wähnen und erwähnen, stellen und sich stellen, erlangen und gelangen, zählen und erzählen, zweifeln und verzweifeln, sorgen und besorgen, beschweren und sich verschwören (noch auf der Prima), verteilen und mitteilen (ebenda), züchten und züchtigen, gereichen und erreichen, Scham und Schmach (auf Prima), hören und erhören, erwähnen und erwägen (auf Prima), raten und verraten, befehlen und befehhgen (auf Prima), kaufen und verkaufen, weder noch und entweder oder (noch auf Oberprima), so- gleich und zugleich, zugleich und zuviel, sobald als und so lange als, jeder und jener, wenig und zuwenig, denn und wenn und dennoch, wer von beiden und jeder von beiden, kluger und klüger, ich habe Überfluß und ich habe Überfluß gehabt, ich werde lieben und ich werde geliebt, ich habe und ich hatte geliebt, du sollst kommen (Befehl) und du sollst gekommen sein u. a. m. Ich gebe zu, daß der ältere Schüler den Sinn der Übersetzungsvorlage meistens richtig erfaßt haben wird und nur sein Gedächtnis sich geirrt hat, aber das wäre nicht der Fall gewesen, wenn er beim Lernen des lateinischen Wortes stets ein hinreichendes Verständnis der Wortbedeutung gehabt hätte. Ich könnte es mir nicht denken, daß ich beim Erlernen einer Sprache ,erwähnen' und ,erwägen' verwechselte, erinnere mich auch nicht solcher Fehler bei Sprachstudien im Mannesalter. Der ältere Schüler büßt die Schwäche seiner Kindheit. Bei dem jüngeren Alter kann aber auch ein Übersetzen ohne Er- fassen des Inhalts angenommen werden, wobei lediglich Wort mit Wort, also auch das mißverstandene Wort mit seinem Deckwort getauscht wurde. Es war nun gewiß gut, daß die lateinische Arbeit Veranlassung bot, die mutter- sprachhchen Irrtümer festzustellen und zu berichtigen, aber dies könnte doch auch, wie oben schon gesagt, der muttersprachhche Unterricht leisten, wenn er sich diese Aufgabe stellte und Zeit hätte, sie zu lösen. Auch unbewußt klärt sich der Wortvorrat, denn unseren Volksgenossen verständhch zu werden und ihre Gedanken richtig zu deuten, ist ja dringendes Bedürfnis, ist ja ein Mittel der Selbsterhaltung, und der Verkehr arbeitet unausgesetzt daran, dieses Mittel immer mehr zu verbessern. Oder ist es denkbar, daß jemand sein Leben hindurch ein Dutzend der oben genannten Wortpaare verwechselte? Dasselbe gilt auch von der Unterscheidung sinnverwandter Begriffe, von denen manche in der Fachvorbereitung geschieden werden müssen, wie die juristischen „Eigentum" und „Besitz"; „Verbrechen, Vergehen, Übertretung"; „Verwandt- schaft" und „Verschwägerung", die philologischen „Wurzel" und „Stamm", die physiologischen „Arterien" und „Venen" usw. Von der sachhchen Be- lehrung empfängt die sprachliche auch hierbei das hellste Licht, wenn auch hier und da, wie bei „affinitas" und „cognatio", die Synonymik anderer Sprachen lehrreich sein kann, aber doch in höherem Grade die gleichaltriger Kulturvölker, deren Gedankenschatz dem unserigen näher steht.

Daß die Herübersetzung die geistige Tätigkeit kräftig anregt, indem sie durch mannigfaltige Gedankenoperationen das Verhüllte zu entschleiern sucht (Nr. 4), soll nicht bestritten werden, wohl aber, daß dies in einem bei anderen Aufgaben nicht erreichten Maße geschieht. Dasselbe gilt auch für den sprach-

Johannes Prüfer, Vom Kulturwert des Kinderspiels 415

liehen Gewinn. Der Übersetzer hat in der Tat Gelegenheit, bei dem Tausche der Worte die sprachlichen Münzen seines eigenen Besitzes näher zu be- trachten, unter ihnen die passendste auszusuchen und sich seines Besitzes zu freuen. Aber nur der sprachlich Vorgeschrittene, der eben über einen gewissen sprachlichen Reichtum verfügt. Er ist auch allein der freudige Mit- arbeiter des Lehrers bei der Festlegung einer guten Übersetzung, während der sprachlich Arme im Gefühl dieser Armut sich bedrückt fütilt und sich nur eifrig bemüht, die Frucht der Lehrstunde schwarz anf weiß nach Hause zu tragen. Ob jener aber in einer Stunde gehaltvoller muttersprachlicher Lektüre nicht größere Förderung erfährt bei dem ungleich reichhcheren Ge- winn an wertvollen Gedanken, ist doch die Frage.

Es gibt meines Erachtens keinen stichhaltigen Grund dafür, von der Be- schäftigung mit Fremdsprachen eine anders nicht zu erreichende För- Iderung der Muttersprache und damit der geistigen Bildung zu erhoffen, dagegen manchen dafür, ihre schwere Schädigung zu fürchten. Das Volk der Griechen darf wohl als klassisches Beispiel für die Wirkung einsprachiger/ Bildung im Gegensatz zu der Erfahrung unserer vielsprachigen Schüler/ dienen. Daß die Entlastung der Unterstufe unserer höheren Schulen vom lateinischen Unterricht muttersprachliche Bildung und geistige Frische ge- fördert hat, ist auch nicht mehr zu leugnen (Nr. 6). Ich selbst kann es aus meiner Tätigkeit an einer Reformschule bezeugen.

Die alten Sprachen werden, von Verpflichtungen befreit, denen sie nicht gerecht werden können, erlesenen Schülern in reiferem Alter geboten und als Träger einer großen Gedankenwelt in einer schnell in sie hineinführenden, dasJV er stehen in erster Linie bezweckenden Lehrart behandelt, auch femer einen Ehrenplatz in der Jugend bildung beanspruchen dürfen. Von einer psychologisch richtigen Unterweisung des jüngeren Alters und im besonderen von einer besseren muttersprachhchen Bildung wird auch der altphilologische Unterricht wie das gesamte Geistesleben der Jugend den größten Gewinn haben (Nr. 7).

Vom Kulturwert des Kinderspiels.

Von Johannes Prüfer.

Die Kräfte der Seele entwickeln sich nur durch angemessene Tätigkeit. Trägheit und Ruhe ist Gift für die Seele. Nur wo die Seele tätig ist, herrscht Leben, Entwicklung, Entfaltung. Je vielseitiger und intensiver die Tätigkeit, umso mannigfaltiger und höher die Entwicklung. Der innerlich reiche Mensch, der sich von klein auf vor immer neue Notwendigkeiten gestellt sieht, ent- faltet sich daher am besten.

In den frühesten Kinderjahren ist jede normale Seele tätig, rege. Man hat diese innere Regsamkeit nicht mit Unrecht als das wertvollste Gut der Kindheit bezeichnet. Je länger der Mensch sich dieses Gut bewahrt, umso reicher wird seine Entwicklung sein. Ein guter Kenner afrikanischer Ver- hältnisse hat einmal gesagt, daß die Frühreife der Neger es sei, die ihrer Höherbildung so große Schwierigkeiten bereitet. Mit anderen Worten: die Kindheit, die Jugendzeit der Neger, also die Zeit der seelischen Entfaltung,

416 Johannes Prüfer

der inneren Anpassung ist zu kurz, ist zu früh abgeschlossen. Die innere Entwicklung dieser Menschen kommt zu früh zum Stillstand. Daher bleibt bei ihnen alles Tradition und Nachahmung. Das schnelle Heranreifen der Negerkinder ist also die wichtigste Ursache des kulturellen Stillstands dieser Völker. Je länger ausgedehnt die Kindheit und Jugendzeit der Glieder einer Volksgemeinschaft ist, eine umso günstigere Vorbedingung ist dies für die Kulturentwicklung dieses Volkes, weil eben nur dann in den Einzelnen d i e Kräfte reifen können, die immer neue Kulturgüter und Kulturwerte zu schaffen vermögen. Wir fassen natürhch „Jugend" hier im weitesten Sinne. Solange der Mensch noch nicht „fertig" ist, solange seine Seele noch empfänglich ist für Neues, solange sie sich noch entfaltet, solange sie noch wächst und höher strebt, so lange kann man den Menschen noch „jung" nennen. Zum Glück gibt es ja Menschen und es sind nicht die schlechtesten die in diesem Sinne noch mit weißen Haaren jung sind.

Da nun die Kultur eines Volkes im Laufe der Jahrhunderte immer reicher, immer differenzierter und komplizierter wird, weil immer bedeutendere Kraft dazu gehört, wenn der Einzelne wirklich die Kultur höhe seines Volkes er- reichen will, und weil noch mehr Kraft dazu erforderlich ist, Werte zu er- zeugen, die selbst über das vorhandene Niveau hinausragen (das ist ja aber doch der Sinn aller kulturellen Höherentwicklung), weil das alles so ist, so muß naturgemäß die Zeit des Heranreifens, der inneren Beweglichkeit und Entfaltung also die Kindheit und Jugendzeit bei fortschreitender Kultur immer weiter und ausgedehnter werden. Bei kulturell aufsteigenden Völkern ist dies auch der Fall. Sobald aber dieser Prozeß unterbrochen wird, so- bald die Ausdehnung der Jugendzeit mit der Höherentwicklung der Kultur nicht mehr gleichen Schritt hält, ist Gefahr im Verzug, Gefahr für die Höher- entwicklung, ja für den Fortbestand wahrer Kultur überhaupt. Denn dann muß der Fall eintreten, daß zwar hohe Kulturgüter vorhanden sind, aber die Glieder eines solchen Volkes bringen wenn sie zu früh reif, zu früh „fertig" werden nicht mehr Zeit und Kraft auf, in den Geist einzudringen, der einst diese Güter und Werte geschaffen hat. Solch armselige Epigonen blähen sich dann wohl noch eine Zeitlang mit den äußeren und sicht- baren Zeichen der Kultur, die einst ihre Väter hervorgebracht, aber sie haben sich dieselbe nicht innerhch erworben. Die Kultur ist ihnen nicht wahrer Besitz geworden. Ihre Seele ist nicht hineingewachsen in die letzten und feinsten Wurzeln ihrer angestammten Kultur, darum fehlt ihnen Kraft und Saft, neue Blüten und Früchte zu treiben. Kultureller Stillstand und kultureller Niedergang ist die Folge. Ob es in Menschenkraft liegt, diesen Prozeß zu verhindern, ihn wenigstens hinauszuschieben, oder ob es das Schicksal jeder Kultur sein muß, an mangelnder, an aufhörender Jugend- frische ihrer Träger abzusterben, wer wollte das entscheiden?

Wir können nichts weiter tun, als alles das zu fördern, was unsere Jugend vor Frühreife bewahrt, was unser Geschlecht vor zeitigem Altern schützt.

Der Seele so lange als möglich die innere Regsamkeit, das Wachsen und Blühen ihrer Kinder- und Jugendtage zu erhalten, ist daher heiligste Aufgabe der Erziehung. Das heißt natürlich nicht, das Kind künstlich auf einer niederen Entwicklungsstufe festhalten, sondern es heißt nur: Das köstlich rege Leben, das in jedem gesunden Kinde pulsiert, den naturgegebenen starken Bildungstrieb im jungen Menschen frisch und stark erhalten.

Vom Kiüturwert des Kinderspiels 417

Wie kann das geschehen?

Durch das Spiel.

Mehr und mehr wird in der modernen Pädagogik die hohe Bedeutung erkannt, die das echte Kinderspiel für die Entwicklung des Menschen hat. Worin hegt diese hohe Bedeutung?

Um das zu erkennen, muß man sich vergegenwärtigen, wie denn eigenthch das Spiel entsteht. Das Spiel ist etwas, was aus dem Innersten des Kindes hervorquillt. Der Mensch wird mit dem Trieb zum Spielen geboren. Das Spielen braucht ihm nicht erst von außen angelernt zu werden, sondern er bringt die Anlage zum Spielen mit ins Leben, wie er die Anlage zum Laufen, zum Sprechen, zum Beobachten, zum Denken mitbringt. Das Kind braucht nur Raum und Stoff zur Betätigung seines Spieltriebes. Beides dem Kinde zu gewähren, ist daher Pflicht des Erziehers.

Wir sahen oben, daß der Mensch sich am reichsten entfalten wird, der vor immer neue Notwendigkeiten gestellt ist. Echtes, freies Kinderspiel in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit bietet immer von neuem solche Anregungen, solche Notwendigkeiten, durch die des Kindes Seele in Bewegung, Entfaltung und frischem Leben erhalten bleibt. Das Kind, das möglichst lange und mit ganzer Seele spielt, wird also besonders „kulturfähig" sein. Es kommt nur darauf an, das reine Kinderspiel allmählich in „höheres Tun" über- zuführen, ohne die innere Regsamkeit der Seele dadurch zu stören, mit anderen Worten, das Kind bezw. den Menschen möglichst lange jung zu erhalten auf dem Wege zur „höheren Bildung".

Was ist das: Bildung?

Man spricht gewöhnlich von „gebildeten" und „ungebildeten" Menschen. Wenn man aber einmal ernstlich daran geht, festzustellen, was eigentlich ein „gebildeter Mensch" ist, welche charalcteristischen Züge er trägt und wo der „ungebildete Mensch" anfängt, da wird man finden, daß man dabei gar nicht recht zu einem befriedigenden Resultat kommt. Reiches Wissen, gute Umgangsformen, soziale Gesinnung, Harmonie der Seelenkräfte und dergleichen, keines dieser Dinge erschöpft den Begriff „gebildeter Mensch". Über den bekannten Münchener Kunsthistoriker Riehl wurde einmal erzählt, er sei eines Tages beim Spazierengehen au einen Park gekommen, über dessen Eingang die Worte gestanden hätten: „Nur für gebildete Menschen!" da habe er lange überlegt, ob er da wohl hineingehen dürfe. Diese schalkhafte Episode aus dem Leben Riehls zeigt deutlicher als langatmige Ausführungen, was es mit dem Begriff „gebildeter Mensch" auf sich hat.

Man kann zuweilen beobachten, daß Eltern Maßnahmen treffen, um ihren Sohn oder ihre Tochter „bilden" zu lassen, etwa indem sie den Sohn auf eine Presse schicken, damit er das „Einjährige" erwirbt, oder die Tochter ein Jahr in ein „\sissenschaftliches Pensionat", oder auch, indem sie ein Konversationslexikon oder ein Pianoforte für die Kinder kaufen. Ihnen schwebt der „gebildete Mensch" als etwas Fertiges vor, als etwas, was man eben eines Tages einmal werden kann. Wenn nun auch nicht alle so naive Vorstellungen haben, der Glaube ist doch in den weitesten Kreisen noch vorhanden, daß die Bildung etwas Abgeschlossenes sei, also eine Sache, die man erwerben kann evtl. durch Besuch einer höheren Schule.

Gegenüber diesem Fundamentalirrtum muß es einmal ganz deuthch, aus- gesprochen werden: Bildung ist kein Besitz, Bildung ist keine meßbare näher

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 27

418 Johannes Prüfer, Vom Kulturwert des Kinderspiels

zu bestimmende Größe, sondern Bildung ist ein Zustand, besser Bildung ist ein Vorgang. Bildung ist der natürliche Wachätumsprozeß, Bildung ist die allmähliche Formung der Seele. Sie ist also das Gegenstück zu geistiger Erstarrung, zu seelischem Stillstand und Tod. In jeder jungen gesunden Menschenseele treiben und drängen gestaltende Kräfte von innen nach außen, wie in jedem Keim, wie in jeder jungen Pflanze, wie in jedem gesunden Organismus ein Bildungstrieb sich regt. Je länger dieser Zustand anhält, umso besser. Innere Regsamkeit der Seele, Entfaltung der persönlichen Anlagen, Hingabe an die Dinge und Menschen der Umgebung und Gewinnung eines persönlichen Verhältnisses zu ihnen, Vertiefung in die Gefühle, Gedanken und Ideen der Umwelt, ein ständiges Hinüber und Herüber, ein unaufhörliches Geben und Nehmen, das alles gehört zum Bildungsprozeß, wie Atmen und Stoffwechsel zum Lebensprozeß des Körpers. Die Seele, die sich in solchem Zustand befindet, bildet sich ganz von selbst, sie formt sich, sie gestaltet und entfaltet sich.

Es ist aber nicht nur ein kräftiges Entwickeln von innen heraus, sondern auch ein Aufnehmen von außen; denn die Seele ist ja mit dem Trieb geboren, sich die Umwelt geistig zu erobern. Sie will erkennen und wissen, sie will sich freuen am Schönen und will sich erheben am Edlen und Erhabenen. Und durch das alles wird sie immer größer und reifer. Das alles gehört mit zum Bildungsprozeß.

In seiner Jugend macht jeder gesunde Mensch diesen Prozeß durch. Das unverdorbene Kind zeigt in seinem Wesen besonders in seinem freien Spiel alle die Züge, die wir eben geschildert haben. Bei den meisten tritt nur leider allzu früh eine Unterbrechung dieses Prozesses ein, bei manchen mit 14, bei manchen mit 18 oder mit 24 Jahren. Besonders sind es „be- standene Prüfungen", die in den jungen Leuten den Glauben erwecken, sie seien nun „fertig" und „reif". Der „Student" wird nur zu oft zum „Philister", zu jenem widerwärtigen Typ des Selbstzufriedenen, Satten, Fertigen. Lagarde hat einmal gesagt, jeder hätte den Zugang zur wahren Bildung, der am Morgen mit dem Wunsch aufstände, am Abend wieder etwas besser, etwas reifer, wieder ein Stück weiter zu sein auf dem Wege zur Menschwerdung. Das ist's, worauf es ankommt! Nie mit sich zufrieden, nie mit sich fertig, immer suchend, immer weiter strebend und ringend, gar nicht anders können, als sich so immer weiter bildend, das ist's, was den edlen vom unedlen Menschen unterscheidet. Diesen Zustand so lang als möglich auszudehnen, ihn nicht mit 14 oder 18 Jahren schon aufhören zu lassen, das sollte vor allem das Ziel der Erziehung sein. Das ist allein der Weg zu edlem Menschen- tum. Hamerling hat einmal das Wort geprägt: „Ewige Sehnsucht ist ewige Jugend" ewige Sehnsucht (nach dem Ideal) ist zugleich ewige Bildung.

Die psychologische Laborantin als Beruf.

Von Fritz Giese.

Der ungeheuere Aufschwung, den die praktische Psychologie in den letzten Jahren genommen hat, eröffnet jedem, der in der Bewegung steht, die Hoff- nung auf eine weitreichende Geltung psychologischer Forschung und Arbeit schon für die nächste Zukunft. Aber je mehr diese der Praxis dient, sich

Fritz Giese, Die psychologische Laborantin als Beruf 419

entfernt von der stillen Arbeit des Forschers und den Räumen mehr theo- retisch gerichteter Laboratorien, um so lebhafter drängen gleich äußerliche Fragen zur Lösung. Unbedingt eine der wichtigsten, wenn nicht die ent- scheidende, ist aber die Frage nach den die Masseniuitersuchungen aus- führenden Persönhchkeiten.

Nachdem sich gezeigt hat, daß, nach Durchbrechung innerer Schwierig- keiten, die insbesondere bestanden in gewissen theoretischen Hemmungen der angewandten Psychologie, eine Seelenkunde für die Wirklichkeit möglich ist, hat sich zugleich für die bahnbrechenden Forscher auf diesem Gebiet ein schwerwiegendes Problem offenbart. Man kann in fast sämthchen der wenigen zurzeit in Vollbetrieb befindlichen Instituten für praktische Psy- chologie, industrielle Psychotechnik oder Eignungsprüfungen die Beobachtung machen, daß die Überfülle der Nachfragen und die Erfordernisse der dringend vorhegenden Untersuchungen in ihrer äußerlichsten Mechanik die schöpferische Arbeit der leitenden Fachpsychologen zu ersticken drohen. Manche Ange- bote nach neuen Untersuchungsverfahren für bestimmte Versuche, nach psy- chologischer Eichung irgendwelcher Maschinen und Gebrauchsgegenstände müssen zurückgestellt werden oder bleiben vöHig unberücksichtigt aus Zeit- mangel, den die Berechnungen und die äußerhchste Durchführung der Ver- suchsreihen sowie die Instandhaltung der Versuchsanordnungen hervorrufen. Das Untersuchen von nur einem Dutzend Lehrlingen, Kriegsrentenempfängern, Schülern an einem Tage eine in der Praxis durchaus geläufige Ziffer erfordert einen Aufwand an psychischer Energie, der es dem betreffen- den üntersucher (eingerechnet Versuchsvorbereitung und Verrechnung) un- möglich macht, darüber hinaus tätig zu sein. Als Übergangsform findet man vielfach auch die Tätigkeit von akademisch gebildeten Assistenten oder Stu- dierenden, welche die Gelegenheit benutzen, um im Zusammenhang mit der- artigen erforderlichen Alltagsprüfungen Examens- oder Doktorarbeiten her- zustellen. Man findet ferner die nebenamthche Tätigkeit von Lehrern, Be- amten bei Behörden, gelegentliche Mitarbeit von Ärzten, außerhalb des Rah- mens ihrer Praxis, und Versuchsleitung durch Ingenieure, die von den Firmen ebenfalls nebenamtlich mit Durchführung der Versuche betraut wurden. Im großen und ganzen aber fehlt es an einem eigentMch psychologisch vor- gebildeten Mitarbeiterstab für die Praxis.

Es läßt sich wohl denken, daß in einigen Jahren, zumal infolge der Pro- paganda, welche auf Technischen und Handelshochschulen für Wirtschafts- psychologie im Schwange ist, sich die Verhältnisse bessern und mehr aka- demisch vorgebildete Personen für die praktische Psychologie zur Verfügung stehen werden. Trotz allem wird sich aber zeigen, daß in dieser Lösung nicht das wünschenswerte Ausmaß an Arbeitsentlastung erreicht wird. Ein- mal nämlich ist das praktische psychologische Arbeitsgebiet so ungeheuer groß, daß die akademisch Vorgebildeten vom Strudel der Aufgaben aufge- braucht werden dürften. Ferner sprechen auch volkswirtschafthche Gründe dagegen, daß allerorts höher bezahlte Posten für eigenthche Psychologen geöffnet werden können. Entscheidend aber scheint ein drittes zu sein.

Die praktische psychologische Arbeit wirkt sobald sie in Massenunter- suchungen notwendig wird für den betreffenden akademisch Vorgebildeten nicht förderUch, sie ist im Grunde genommen eine ziemhch mechanische, allzu betont unproduktive und vereinfachte Tätigkeit, als daß sie eine höher

27

420 Fritz Giese

vorgebildete Persönlichkeit befriedigen könnte. Liegen die Untersuchungs- methoden erst einmal fest, so ist der Ablauf der Einzeluntersuchungen gleich- förmig, wesentlich monotoner und eingeengter, als etwa die praktischen Fälle des Arztes, Rechtsanwaltes oder Diplomingenieurs. Je mehr es sich darum handelt, in bestimmten Betrieben Daueruntersuchungen für gewisse Prüflingskategorien durchzuführen, um so eintöniger wird diese Arbeit wer- den und um so weniger erhebend auch für solche Beamten sein, die nur nebenamtlich dergleichen durchführen sollen.

Es liegt auch im Interesse der psychologischen Wissenschaft, daß sie über- haupt nicht „nebenamtlich" geführt werden sollte. Ebensowenig wie jemand nebenamthch praktischer Arzt, Theologe, Rechtsanwalt oder Oberlehrer sein darf, ebensowenig sollte es mit dem Fachpsychologen der Fall sein. Nur Persönlichkeiten, die voll und ganz im Beruf aufgehen, können eine gedeih- Hche Fortentwicklung der Psychologie voll wissenschaftHcher Tiefe erhoffen lassen. Der Diplompsychologe (um einen Ausdruck Poppelreuters zu be- nutzen), ist ein voll in sich abgeschlossener Beruf. Aber eben dieser Be- rufsangehörige ist zu schade dazu, um praktisch mechanisierteren Tätigkeiten unterworfen zu werden, genau so, wie der Rechtsanwalt nicht beim Formular- ausfüllen, der Arzt als bloßer Heilgehilfe und Masseur, oder der Theologe als Kantor volle Befriedigung finden würde, darf der Fachpsychologe nicht zufrieden sein, von andern fertig ausgearbeitete Versuchsreihen Tag für Tag durchzuführen, ohne Zeit zu finden zu eigner Forschung und persönhcher Arbeit. Volkswirtschaftlich muß es sogar Bedingung sein, daß akademisch Vorgebildete (nur aus diesen Kreisen darf der praktische Fachpsychologe kommen) zur produktiven Berufstätigkeit gelangen. Dieses gilt natürüch auch für die akademisch vorgebildete Psychologin.

Es fehlt uns, wie hieraus klar wird, an mittleren Berufsangehörigen, ähnlich dem Kanzlei- und Büropersonal der Verwaltungsbehörden, dem fach- männisch vorgebildeten Pflegepersonal in Krankenhäusern, den mittleren Technikern in Fabriken. Man benötigt einen Stamm fachmännisch vorgebil- deten Hilfspersonals, das imstande ist, ohne eigentliche höhere Produktivität nach Anweisungen die erforderlichen Massenuntersuchungen gewissenhaft fortzuführen und dabei doch wieder in dieser Tätigkeit als Vollberuf auf- geht und Freude daran hat, also nicht nebenamtlich arbeitet.

Auch zu diesem mittleren psychologischen Hilfspersonal gehört selbstver- ständlich eine gewisse Berufseignung, wie sie zum Kanzlisten, zum Post- beamten usw. gehört. Hauptpol der Eignung ist zunächst Einfühlungs- und Beobachtungsgabe und sonstige Seiten psychologischer Beruf squahtäten, außer- dem gründliche Spezialausbildung.

Nun dürften volkswirtschaftUche Gründe vorliegen, die ein Überfluten von selten männlicher Mitarbeiter hindern. Gleiche Bezahlung ist auf anderen Gebieten wohl mit geringeren Mühen zu erzielen. Abgesehen davon scheint aber auch aus rein psychologischen Gründen weibliche Mitarbeit für diese Zwecke besonders erwünscht. Die Gabe des Sichanpassens an fremde In- dividualitäten, das Verständnis zumal für Jugendliche und Kinder, die große Geduld und Geschicklichkeit im Durchführen mühsamer, dazu fertig vorge- schriebener Arbeitsweisen; das aUes spricht außer wirtschaftlichen Gründen (geringere Gehaltansprüche der Frau, Abwanderungsnotwendigkeit aus andern vordem gewohnten Mittelberufen in Anbetracht der Überfüllung) für Bevor-

Die psychologische Laborantin als Beruf 421

zugung der Frau. Man möchte entsprechend Interesse für die „psychologische Laborantin" als neuen Frauenberuf wecken.

Die Standestätigkeit der psychologischen Laborantin (also der Nichtaka- demikerin!) entspricht der der Laborantinnen in chemischen, photographi- schen, biologischen, physikalischen usw. Instituten: mittlerer Dienst Ent- sprechend wird auch die Besoldung ausfallen.

Die psychische Disposition geht, außer der rein organisatorisch-wissen- schafthch-produktiven Seite beim Fachpsychologen, überein mit der Eignung zum praktischen Psychologen überhaupt. Auf eine Eignungsprüfung für praktische Psychologen komme ich bei anderer Gelegenheit näher zurück. Die seelische Struktur ist verhältnismäßig kompliziert, weil die Berufsanforde- rungen von äußerst disparaten Seiten des Kulturlebens an den Psychologen herantreten. Ich gebe nur kurz in Schlagworten ein Schema an, das, ohne auf die Untersuchungsmethoden einzugehen, für die Eignungsprüfung der psychologischen Laborantin in Betracht kommen könnte.

I. Generelle Diagnose der Gesamtfunktionen,

insbesondere eingehend: allgemeine Intelligenz Gedächtnis Auge, Ohr Hand (als komplexes Sinnesorgan) Realitionsablauf.

n. Prüfung spezieller Berufsfunktionen:

a) Zeitbewußtsein: Schätzen von Zeitlängen mit und ohne Arbeitsausfüllung absolute Zeit

b) Sprache: Sprechton, Ermüdbarkeit der Stimme Stimmwirkung Sprechmelodie Sprech- stil — Wortfindung.

c) Rechnen: Elementarrechnen statistisches Verständnis, graphische Darstellungsfälligkeit

allgemeine Rechenexaktheit Formelverständnis.

d) Gedächtnis für momentane visuelle Eindrücke (Gesichter, Versuchsanordnungen) fort- laufende Zusammenhänge (Tatbestände, Verhaltungsweisen von Menschen usw.)

e) Aufmerksamkeit: Konzentrationsfähigkeit Ablenkbarkeit Aufmerksamkeitsspaltung (mehrdimensional; simultan; sukzessiv). Abstraktion, Generalisation, „Findigkeit", Fehlerdiagnose für Versuchsanordnungen Allgemeine Beobachtungsgabe (synthetisch analytisch, Intensität

Qualität, Gegenstände Menschen) Aufmerksamkeitsschwankungen.

f) Intelligible Funktionen, allgemeine Apperzeption (Geschwindigkeit Qualität), Spezial- verständnis für physikalische, technische, medizinische, mathematische Gegebenheiten, Urteils- und Kritikfähigkeit, Kombination (optisch, akustisch, sprachlich, phantastisch), pädagogische Fähigkeit (vgl. b).

g) Emotionale Funktionen: Einfühlungsgabe (Anpassung an neue Aufgaben und Menschen) Suggestibilität Temperamentsform, Gemütsanlage.

h) Voluntative Funktionen: Reaktionsablauf (mehrfache Reize Störungseinflüsse) Suggestivität, Verhalten bes. zu Kollektiveinwirkungen vgl. e).

i) Arbeitstyp: Tempo, Schwankungen, Ermüdbarkeitskoeffizient, Verhältnis zur Arbeit.

Neben die Eignungsprüfung hätte eine sehr eingehende \\issenschafthche Vorbereitung zu treten. Man wird, wie man es bei anderen Laborantinnen verlangt, als Mindestmaß 4 5 Semester ansetzen müssen: die Photographin, Röntgenschwester, Gärtnerin usw. benötigt ähnliche Zeiten. Die Ausbildung wird neben praktischer Tätigkeit an einem psychologischen Institut, dort oder an Hochschulen Vorlesungen und Übungskurse fordern.

Fragt man nach den Erfahrungen, welche Laboranlinnenarbeit im Rahmen der Praxis gezeigt hat, so braucht man nur an die Unentbehrlichkeit der chemischen, photographischen weiblichen Mithilfe, an die Röntgenschwester zu erinnern, um die Frage zu beantworten. Auch für die Psychologie liegen Erfahrungen aus Kriegszeiten vor : So benutzte Poppelreuter für seine Kopf-

422

Fritz Giese, Die psychologische Laborantin als Beruf

schußstation bereits weibliche, natürlich nur bezahlte, nie ehrenamtliche Mit- arbeit. Ich selbst habe an meinem Laboratorium, das der praktischen Psy- chologie im weitesten Sinne dient, die besten Erfahrungen an weiblicher Laborantinnenarbeit gemacht. Dieses auch z. B. bei dem spröden Menschen- material, wie es Rentenempfänger und erwachsene ungebildetere Patienten gegenüber den viel leichter zu untersuchenden Kindern und JugendUchen darstellen. Die Frage nach dem Heranbilden eines Stammes geeigneter psy- chologischer Hilfskräfte ist möglicherweise künftig in dieser Richtung zu lösen. Notwendig wird irgend eine Lösung auf jeden Fall.

Kleine Beiträge und Mitteilungen.

Zur Kriminalität der Jugendlichen während der Kriegszeit veröffentlicht Ruth V. d. Leyen in der „Deutschen Jugendgerichtshilfsarbeit " (3. Jahrgang, Nr. 2), dem Organ des Ausschusses für Jugendgerichte und Jugendgerichts- strafen, ein umfassendes statistisches Material, das den Berichten über die Berliner Jugendgerichtshilfe entnommen ist. Die stetige und schnelle Zu- nahme für Knaben und Mädchen belegen die nachstehende Tabelle 1 und das beigegebene Kurvenbild.

TabeHe 1.

1914

1915

1916 i

1917

1918

männl. weibl.

894 237

1198 215

2307 374 -

2762 456

3871 816

zus.

1131

1413

2681 i

3158

4687

C^

^

•^

CS

i

S

S

Die Art der Straftaten gibt Tabelle 2 in der Übersicht an; sie bedarf nicht weiterer Erläuterungen. Bemerkenswert ist vor allem, wie mit dem Wachsen der wirtschafüichen Not in der Zeit von 1917 zu 1918 die Vergehen gegen das Eigentum einen steilen Anstieg nehmen.

Kleine Beiträge und Mitteilungen

423

Tabelle 2.

I. Verbrechen undVerbreclien gegen Staat, öffentliche Ordnung und Religion §§ 80—168 St. G. B.

Widerstand . . Hausfriedensbruch Meineid ....

n. Verbrechen und Vergehen gegen die Person §§ 169-241.

Sittlichkeitsverbrechen Beleidigung . . . Abtreibung . . . Fahrlässige Tötung . Körperverletzung

lU. Verbrechen und Vergehen gegen das Vermögen §§ 242 330.

Diebstahl (§§ 242. 243) Unterschlagung . . Raub und Raubmord Erpressung . Hehlerei . . . Betrug .... Urkundenfälschun« Wilddieberei . . Sjchbeschädigung Brandstiftung . . Transportgefährdung

IV. Vergehen im Amt §§ 331—369

Ämtsvergehen . § 350) . V. Übertretungen §§ 360—370.

Gewerbsunzucht

Mundraub

Sonstige Übertretungen . . .

VI. Kriegsvergehen. (Die Kriegsvergehen

wurden in den Jahren 1914 17 zu

den Übertretungen gezählt) ....

Strafbefehle

1914. I915il916'l917 1918

23 27

9 10

3

1

30. 17

712

109

1

1

25

41

4

23 2

1

1015 155

8

22 21 30

29

16

6

1

26

11!

11

13 1

3

i!

2

1

41

35'

1845

2325

363

311

12

4

2

2

75

97

75

87

40

58

31

21

9

3

11

13 1

30

3181

343

19

2

177

95

104

1

27

110

24! 16 17

3 1 26 i 29

103 140 83

178 341

1131 1413,2681,3158 4777

Zur Organisation der Begabtenauslese in Berlin wurden von der Arbeits- gemeinschaft für exakte Pädagogik die folgenden Grundsätze angenommen:

Im Interesse einer fruchtbringenden Anwendung der Ausleseverfahren für begabte Volksschüler wird für Berlin ein besonderer Ausschuß für die Begabtenauslese eingesetzt.

Dieser setzt sich zusammen aus Vertretern der Behörde, aus Fachpsycho- logen, Lehrern von Begabtenklassen und der Grundschule. Die Lehrer wählt die Lehrerkammer aus. Die Fachpsychologen werden von den Mitghedem des Ausschusses zugewählt.

Die Arbeit des Ausschusses erstreckt sich auf Feststellung der Anforde- rungen an die jeweilig Auszulesenden, sowie Prüfung der bisher verwendeten Ausleseverfahren, Ausarbeitung solcher Verfahren für Berliner Verhältnisse nach einheitlichen psychologischen und pädagogischen Gesichtspunkten.

Nach Abschluß der Vorarbeiten ist dem Ausschuß die Auslese der Begabten zu übertragen.

424 Kleine Beiträge und Mitteilungen

Als weitere Aufgabe fällt ihm die Heranbildung psychologisch geschulter Mitarbeiter zu im HinbHck auf den zu erwartenden größeren Umfang der künftigen Auslese,

Die nötigen Mittel werden durch die Behörde bereitgestellt.

Über eine Begabungsprüfung am Gymnasium berichtet die Auskunftsstelle für Jugendkunde im Pädagogischen Zentralblatt (1. Jahrg. 1. Heft). Es handelte sich dabei um Vorversuche für die Durchführung der Absicht, am Arndt- Gymnasium zu Dahlen bei der Aufnahme neuer Schüler die übliche päda- gogische Kenntnisprüfung durch eine psychologische Untersuchung der Be- gabung zu ergänzen. In Gemeinschaft mit Dr. Liebenberg, einem Oberlehrer der Anstalt, wurden die Klassen Septima bis Quinta auf ihre Normalleistungen untersucht. Es geschah dies an der Hand von folgenden Versuchsforderungen:

1. Gedächtnismäßiges Erfassen sinnvoll zusammenhängender Wörter.

2. Finden analoger" Begriffe.

3. Ordnen von Figuren unter selbst zu findenden Gesichtspunkten (Größe, Helhgkeit usw.).

4. Bilden von Sätzen aus drei angegebenen Wörtern.

5. Finden eines passenden Begriffes zu einem vorgelegten Ausgangs worte.

6. Ermitteln des Oberbegriffes zu je 6 Paaren vermischt dargebotener unter- geordneter Begriffe.

Die ermittelten Leistungen wurden nach Punkten bewertet; und darnach eine Rangordnung gefunden. Neben dieser standen für eine Klasse die Schülerreihe nach der Begabungsschätzung durch den Klassenlehrer und nach der Sitzordnung auf Grund der Versetzungszeugnisse. Die Vergleichung ergab hier folgende Korrelationskoeffizienten:!

1. Begabungsprüfung und Klassenplatz 0,71.

2. Begabungsschätzung und Klassenplatz 0,76.

3. Begabungsschätzung und Begabungsprüfung 0,91.

Es ist verständlich, daß die Übereinstimmung zwischen Begabungsprüfung und Begabungsschätzung höher sein muß, als sie zwischen den beiden anderen Beziehungen besteht, ist doch im Klassenplatz nicht die reine Begabung, sondern die Tüchtigkeit, die außer durch die Anlagen noch durch andere Faktoren bedingt ist, der ordnende Gesichtspunkt.

Eine Sammlung pädagogiseh-psychologiseher Fragebogen und Sebüler- personallisten ist von der Auskunftsstelle für Jugendkunde im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht angelegt worden und kann dort eingesehen, zum Teil auch leihweise überlassen werden. Sie umfaßt die folgenden Gruppen:

1. Personalbogen, die im wesentlichen ZeugnisUsten sind.

2. Personalbogen, die zu psychologischen Beobachtungen der Schüler durch t ?die Lehrer anleiten und dazu eine Reihe von Fragen über die geistige

Eigenart des Schülers enthalten.

3. Fragebogen, die von Eltern und anderen Erziehern auszufüllen sind, zu- meist für die Schule.

4. Gesundheitsbogen, Personalbogen für schulärztliche Beobachtungen.

5. Personalbogen für Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung.

6. Personalbogen für Abnorme: Hilfsschüler, Fürsorgezöglinge, kriminelle Jugendliche.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 425

7. Kinderpsychologische und pädagogische Fragebogen, die zur Erforschung bestimmter psychologischer oder pädagogischer Probleme auf dem Wege der Umfrage ausgearbeitet worden sind.

8. Weitere psychologische Fragebogen, die verschiedensten Probleme be- treffend.

Das Institut für Psychologie und Pädagogik an der Handelshochschule Mannheim unter Leitung von Prof. Dr. W. Peters stehend ist seit dem Sommerhalbjahr 1919 im Entstehen. Das Institut soll die Hörer der Handels- Hochschule, die sich dem Lehramt an Handelsschulen widmen, und ferner die in der Praxis stehende Lehrerschaft der gesamten Mannheimer Schulen in die Probleme und Methoden der Psychologie und psychologischen Pädagogik einführen. Für die Zwecke des philosophischen Unterrichts wird dem Institut ein kleines philosophisches Seminar angegliedert. Die Forschungstätigkeit des neuen Instituts wird vornehmlich drei großen Gebieten gewidmet sein:

1. der psychologischen Analyse der menschlichen Arbeit in deren ganzem Umfange. Es soll sich hierbei nicht etwa um Taylor-Untersuchungen handeln und nur nebenbei um die neuerdings wohl überschätzten Fragen der beruf- hchen Eignungsprüfung. Eine Psychologie der Arbeit, die zu einem Verständ- nis des Arbeitsvorganges, seines Verlaufes, seiner Wurzeln und der Faktoren, die ihn beeinflussen, gelangen will, muß nach der Meinung des Leiters des Instituts von den grundlegenden Untersuchungen Kraepeüns und seiner Schüler ausgehen.

2. der psychologischen Untersuchung der geistigen Entwicklung, wobei den Fragen der Entwicklungsgesetze und der psychologischen Eigenart des geistig Zurückgebliebenen und des sonstwie abnormen Kindes besondere Aufmerk- samkeit zugewandt werden soll.

3. der psychologischen Analyse der Begabungen. Der Nachdruck liegt hier auf dem Wort „Analyse". Es soll sich nicht nur um Begabungsprüfungen für praktische Zwecke handeln, sondern vor allem um eine Förderung unseres Verständnisses der Begabungsdifferenzen.

In diesem Rahmen sind auch Untersuchungen über die Fragen geplant, die das System der Begabungsschule (Mannheimer Schulsystem) mit sich bringt. Das Institut wird bestrebt sein, nur zuverlässige, methodisch ein- wandfreie Untersuchungsergebnisse an die Öffentlichkeit zu bringen. Es soll nicht dazu beitragen, die Flut unzureichender Publikation auf dem Gebiet der psychologischen Pädagogik zu vergrößern.

Neben der Lehr- und Forschungsarbeit wird das Institut Individualitäts-, Intelligenz- und Begabungsprüfungen, soweit solche heute für praktische Zwecke nutzbar gemacht werden können, im Dienste der öffentlichen Wohl- fahrt vornehmen. Es plant ferner die Einrichtung einer psychologisch-päda- gogischen Sprechstunde für Lehrer aller Schularten.

Das Provinzialinstitut für praktische Psychologie in Halle a. S. ist für

die Provinzen Sachsen und Anhalt als zentrale Arbeitsstelle für alle prak- tisch-psychologischen Angelegenheiten begründet worden. Hervorgegangen aus der bereits dort befindlichen „ProvinzialberatungssteUe für Hirnverletzte" und deren Hilfslazarett, umfaßt es nunmehr zwei eigene Villen, die teils ausgedehnte psychologische Laboratoriumsräume, Unterrichts-, Übungs-

42() Kleine Beiträge und Mitteilungen

Zimmer und Vortragssaal besitzen, teils 80 Betten zur Aufnahme und Be- obachtung bzw. Behandlung von Patienten aufweisen. Außerdem ist eine Studien- und Übungswerkstatt mit Maschinenbetrieb, vorläufig in erster Linie Tischlerei, Polsterei, nebst therapeutischer Beschäftigungswerkstatt dem In- stitut angeschlossen. Verwaltungstechnisch und wirtschaftlich wurde das Unternehmen der in unmittelbarer Nähe befindlichen Landesheilanstalt, die unter Direktor Prof. Dr. Pfeifer besteht, angeghedert. Zum fachpsychologi- schen Leiter ist Dr. F. Giese, Berlin, berufen worden. Die Arbeit des Instituts vollzieht sich in drei Sektionen. Gruppe 1: Psychologische Eignungs- prüfungen. Hier werden für die Provinzen mittleres und unteres Beamten- personal, die Zöglinge der Provinzialtaubstummen- und Blindenanstalt, die Insassen der Landesheilanstalt, die Arbeiter in Provinzialbetrieben auf Berufs- eignung und Begabung untersucht. Ebenso erfolgt Begutachtung von Renten- empfängern für die Landesversicherung und die Militärverwaltung auf Berufs- taughchkeit. Gruppe II: Psycholechnisches Eichamt. Es dient der Durchführung rationellen, auf psychologischer Grundlage beruhenden Betriebes in den Werkstätten, Anstalten und Unternehmungen der Provinzen; ein- beschlossen ist die Prüfung von Gebrauchsgegenständen (z. B. Beleuchtungs- körpern, Schildern) und von Werbematerialien, Reklame, auf ihre psycho- technische Wertung u. a. m. Gruppe III: Wissenschaftliche Forschungs- arbeit. Zurzeit sind Studien über Pathologie des Gedächtnisses, über Aufmerk- samkeit und Stirnhirnverletzungen, Einfluß psychotherapeutischer Übungen, Spontanwertungen bei Kindern und Jugendlichen usw. im Gange. Das Institut arbeitet außer für die Provinz ebenso für Kommunen und Private. So ist es z. B. ständig psychologische Berufsberatungsstelle für Lehrlinge und Schüler in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt der Stadt Halle, ferner Prüfstelle für Telephonistinnen der Post ; es ist schließlich zu mannigfachen Untersuchungen von Spezialfragen von der medizinischen Fakultät der Universität und von Privat- firmen u. a. angeregt worden. Ein Stab von Ärzten, Hilfsschullehrern und anderen Pädagogen, von Laborantinnen und Schreibhilfen gewährleistet die erwünschte Abwicklung der praktischen Arbeit.

Tagung des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege und der Ver- einigung der Schulärzte Deutschlands. Die Versammlung fand <am 24. u. 25. Oktober in Weimar statt. Zahlreiche Schulärzte, Kommunalärzte, Schul- verwaltungsbeamte, Schulschwestern, Schulpflegerinnen, Seminar- und Schul- direktoren, Lehrer und Lehrerinnen waren zusammengekommen. Zwei Ver- handlungsthemen standen auf der Tagesordnung: „Die Einheitsschule vom hygienischen Standpunkt" und die Frage: „Welche Aufgaben stellt die während des Krieges herbeigeführte Erschütterung der Schul- jugend an die Schule?" Für die Verhandlungen über die Einheitsschule waren drei Redner bestellt worden, zwei Schulmänner: J. Tews für die grundsätzlichen Fragen, Stadtschulrat Dr. Buchenau für die Fragen der Oberstufen der Einheitsschule. Stadtarzt Dr. Oebbecke behandelte das Pro- blem vom ärzthchen Standpunkt aus. Der Ertrag dieser drei Vorträge und der Aussprache nach der schulgesundheitHchen Richtung hin war nicht be- sonders ergiebig. Die Behandlung der Einheitsschulfrage gewann mehr den Sinn einer allgemeinen Aussprache über die Probleme dieses Gegenstandes und mündete aus in ein Bekenntnis der Versammlung zur Einheitsschule.

Kleine Beiträge und Mitteilungen 427

Immerhin seien einige uns interessierende charakteristische Ergebnisse mit- geteilt: Nur in der Einheitsschule kann der hygienische Gesichtspunkt voll zur Geltung kommen. Die gesamte schulpflichtige Jugend ist schulärzthch zu überwachen. Die bestehenden Einrichtungen zur Ergänzung und Ver- besserung der Ernährung, Bekleidung, Unterbringung und Beschäftigung der Kinder (Bewahranstalten, Horte u. dgl.) sind zu erweitern und zu vervoll- kommnen. Die Elternbeiräte müssen sich insbesondere auch der Förderung der Schulgesundheitspflege widmen. In der Einheitsschule kommt der eigene, von allem äußeren Druck befreite Arbeitstrieb des Kindes am vollsten zur Geltung. In ihr werden die auch die körperliche Gesundheit schwer schädigen- den, der Eigenart des Lernenden nicht entsprechenden Schulforderungen und damit die Unlust zur Arbeit, die „Überbürdung", das innere Widerstreben gegen die Schule und ihre Ansprüche auf das geringste Maß zurückgeführt. Die Schule muß mehr als bisher Gemeinschaft werden, wozu Einrichtungen wie Schulgemeinden, Schülerausschüsse, Spiele, regelmäßige Spaziergänge beizutragen vermögen. Nur eine körperlich und seeUsch-geistig gesunde Jugend vermag all das zu leisten, was im nationalen und sozialen Interesse zu fordern ist. Die Einheitsschule muß die individuellen Anlagen wecken und deutlich zur Entfaltung bringen, um die hervorragend Begabten zu er- kennen und einer höheren Schulform zuzuführen. Für Spätreife, deren Be- gabung sich erst später offenbart, muß durch Nebenunterricht gesorgt werden, daß sie noch bis zum Pubertätsalter, also bis zum beginnenden 9. Schul- jahr, in die höhere Schule übertreten können. In diesem Schuljahr, also nach erreichtem Pubertätsalter, muß nach physiologischen und psychologischen Gesetzen angenommen werden, daß mit der geschlechtlichen Reife auch alle geistigen Keimanlagen und besonderen Begabungsqualitäten deuthch hervor- getreten sind. Jetzt ist es daher Zeit, die Trennung der Schüler nach geistigen Begabungsqualitäten und Begabungsrichtungen eintreten zu lassen.

Die Aufgaben, die die Schule infolge der Erschütterung der Gesundheit der Schuljugend durch den Krieg erfahren hat, behandelte Prof. Dr. Schle- singer. Er entwarf ein ungemein ernstes Bild von dem gegenwärtigen Ge- sundheitszustand unserer Jugend, und in der Aussprache wurde auch dieses Bild als noch zu optimistisch gesehen bezeichnet. Es ist ja vielfach auf- gefallen, wie günstig die Schulärzte während des Krieges urteilten. Ich zitiere einige Sätze aus früheren Berichten: „Die Erhebungen der Schulärzte lauten durchaus günstig für den Ernährungszustand der Volksschüler im Jahre 1916." „Alle Beobachtungen zusammengenommen ergeben keinerlei Anhaltspunkte . . ., daß unsere Schulkinder erheblich in der Gesundheit gefährdet seien." (1917.) jDie heranwachsende Schuljugend ist frisch und blühend geblieben" (1917). Dann heißt es aber 1918: „Nach den amtUchen Feststellungen des Reichs- gesundheitsamtes sind die Folgen der langjährigen Unterernährung bei den Kindern sehr erhebliche. Im Alter von 1 15 Jahren ist die Sterblichkeits- ziffer um das Doppelte gestiegen." Prof. v. Drygalski fügt hinzu, daß die Verdoppelung der Tuberkulosesterblichkeit nicht etwa eine Teilerscheinung stärkerer Infektionsverbreitung, sondern „ein deutlicher Ausdruck für die Zu- nahme dei allgemeinen Hinfälligkeit" sei. Vortrag und Aussprache in Weimar führten als Kennzeichen der Verwüstung an: die Hemmung des Längen- wachstums, starke Gewichtseinbußen, Hinausschiebung der Geschlechtsreife, Verspätung des Wachstumsantriebes während der Pubertät, Zunahme der Zahl

428 Kleine Beiträge und Mitteilungen

der Kinder mit mangelhafter oder untermittelmäßiger Konstitution, Zunahme der Rachitis und Neuropathie, der Tuberkulosefälle, vor allem aber starkes Ansteigen der Kindersterblichkeit, namentlich durch Grippe und Lungen- schwindsucht. Festgestellt wurde eine Abnahme der Frische und geistigen Beweglichkeit der Kinder, eine Zunahme der Stumpfheit, Schwäche und Über- empfindlichkeit, Verlust der Übungsfähigkeit und Zurückgang der Wider- standsfähigkeit der Kinder gegen Ansteckung. Während sich die große Masse der Schulkinder bereits wieder von den Entbehrungen der letzten Kriegsjahre erholt und auch wieder erhöhten Anforderungen der Schule gewachsen er- scheint, trifft dies nicht zu auf die erwähnten schwach entwickelten und stärker zurückgebliebenen Kinder. Sie bedürfen auch weiterhin in erhöhtem Maße sozialhygienischer Fürsorge. Sobald es möglich ist, über die Versorgung der Kleinkinder mit Milch hinauszugehen, sind zunächst die Schulkinder zu bedenken. Ferienheime und Ferienkolonien sind einzurichten, monatliche Luftkuren, Luft-, Sonnen- und Solbäder wurden warm empfohlen. In der Aussprache machte die vorbildliche Fürsorgetätigkeit der Stadt Hannover starken Eindruck, die nicht nur in ihrer nächsten Umgebung für Erholungs- gelegenheiten gesorgt hat, sondern Heime gepachtet bzw. käuflich erworben hat in Wald und Gebirge, in Sol- und Stahlbädern und auf einer Nordsee- insel. — Der Schlußvortrag empfahl eine engere Verbindung von Schul- und Volksgesundheitspflege.

Die wichtige Tagung war nicht bloß für den Schularzt, sondern auch für den Pädagogen und Psychologen lehrreich. Sie schärfte den Blick für die gegenwärtigen körperlichen und geistigen Nöte unserer Jugend so wurde z. B. auch der kriminalpsychologische Gesichtspunkt berührt und gab zahlreiche Hinweise für ihre Beseitigung. Auch didaktische Fragen Ge- sundheitsunterricht, die hygienische Bedeutung des arbeitsschulmäßigen Lehr- verfahrens — wurden beachtet. Es zeigte sich von neuem, wie groß das Gebiet des Schulackers ist, das Schulgesundheitspflege, Pädagogik und Psy- chologie gemeinsam zu bestellen haben zum Wohle unserer Jugend.

Eine Sonderschule für sehschwache Kinder wurde Ostern 1919 in Berlin eröffnet. Sie ist dreiklassig und hauptsächlich für Kinder bestimmt, die an den Folgen schwerer Hornhauterkrankungen, an hochgradiger Kurz- oder Weitsichtigkeit, die selbst durch die schärfsten Gläser nicht genügend korri- giert w^erden kann, ferner an Erkrankungen der Sehnerven oder angeborenen Entwicklungshemmungen des Auges leiden. Ähnliche Schulen bestanden bisher in Straßburg und Müh 1 hausen i. E., und die dort gesammelten Erfahrungen ermutigten zur Nachahmung.

Eine Ausstellung für neuzeitlichen Anfangsunterricht hat ein Ausschuß des Berliner Lehrervereins im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Potsdamer Str. 120, veranstaltet. Besonders reichhaltig ist ihre Fibel ab- t eilung. Sie zeigt die in Berhn noch geltenden alten sowie die noch nicht eingeführten neuen Berhner Fibeln; außerdem liegt eine große Zahl anderer neuer Fibeln aus. Die übrigen Abteilungen zeigen Lesekästen, Werkzeuge und Stoff zum Stäbchenlegen, malenden Zeichen, Ausschneiden, Formen und zur Heimatkunde. Kinderarbeiten und gute Literatur wollen Anregung und Anleitung zu eigenem Tun bieten.

Literaturbericht 429

Nachrichten. 1. Dr. W. Poppelreuter hat sich für „pathologische Arbeitspsychologie" habihtiert. Das von ihm geleitete Institut wird in einen bei der Psychiatrischen Klinik in Bonn errichteten Neubau verlegt werden und besonders dem Studium der Erscheinungen und Folgen der Kriegsverletzungen des Gehirns dienen,

2. Der a. o. Professor für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Breslauer Universität Dr. phil. et med. Richard Hönigswald ist zum ordentlichen Professor daselbst ernannt worden.

3. Ein Ausschuß, der sich mit der wissenschaftlichen Erfor- schung der Arbeit beschäftigen soll, ist im Arbeitsministerium ein- gesetzt worden. Seine Aufgabe soll sein, die vorhandenen Bestrebungen auf diesem Gebiete zu sammeln, zwischen ihnen zu vermitteln und neue Forschungen anzuregen. Ihm gehören an außer Mitghedern des Arbeits- ministeriums und den Vertretern der einzelnen Landesregierungen je ein Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ferner von Vertretern der Wissen- schaft Geheimrat Goth ein- Heidelberg für Nationalökonomie, Geheimrat Wallichs- Aachen für Technik, Dr. Brahn- Leipzig für Psychologie, Dr. Poppelreuter-Bonn für Medizin und Prof. Niklisch-Mannheim für Be- triebslehre.

4. Das Seminar für Heilpädagogik, das im Rahmen der niederöster- reichischen Landeslehrerakademie begründet wurde, hat Mitte Oktober seine Vorlesungen aufgenommen. Im ersten Halbjahre werden u. a. folgende Vor- lesungen gehalten: Dr. Z. Hovorka: Anatomie und Psychologie des Menschen mit Hervorhebung wichtiger, bei abnormen Kindern vorkommender Ab- weichungen; Direktor J. Schinner: Erziehung und Unterricht schwach- begabter Kinder; Akademiedirektor Dr. W. Kammel: Begabungsprobleme, Einführung in die experimentelle Pädagogik; Prof. L. Battista: Kinder- psychologie, Psychologie der Berufsberatung; Direktor K. Bürklen: Psycho- logie des BUnden und des blinden Kindes.

Literaturbericht.

Max Dessoir, Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrach- tung. 3. Auflage. Stuttgart 1919. Eoke. 354 S. 15 M.

Es kann nicht verwundern, daß durch das aufwühlende und zermürbende Erleben der Kriegs- und Umsturzzeit in weiten Kreisen eine abergläubische Sucht und bedenkliche Hinwendung zum Dunkel des Geheimnisvollen erregt wurde. Empörend aber ist es, wie gewissenloser Geschäfts- sinn auch diese Erscheinung auszubeuten weiß. Sogenannte „Psychologen" wohl vielfach mit fragwürdigster Bildung veranstalten heute Demonstrationsabende " über Gedankenlesen, Suggestion, Hypnose, Somnambulismus usw., und es läuft ihnen auf ihre marktschreierischen Anpreisungen im Stil der Kinoanzeigen ein zahlreiches, auf Sensationen eingestelltes Publi- kum zu. Vielfach maskieren sich diese Vorträge imd Vorführungen mit der Ankündigung, wissenschaftlich aufzuklären. In Wirklichkeit sind sie nur auf erregende Unterhaltung angelegt und stiften durch ihre verwirrenden Gaukeleien und angeblichen Deutungen und Enthüllungen in den unklaren, getrübten und befangenen Köpfen der Menge sehr bedenklichen Schaden.

Die Fachvertreter der Psychologie sollten es nicht unter ihrer Würde halten, hier eine volkspädagogische Aufgabe zu erblicken. Vielleicht, daß die neuen Volkshochschulen an ihrem Teil in diesen Gebieten aufklärend ins Volk hinein wirken können. Es ist bisher unter den psychologischen Gelehrten wohl Max Dessoir der einzige, der schon lange den Mut hatte, sich nicht bloß mit der „Parapsychologie" in wissenschaftlicher Haltung zu beschäftigen, sondern auch in der Presse und in öffentlichen Vorträgen und während des Krieges auch in

430 Literaturbericht

der vorliegenden Schrift „in jenem Dunstkreis, in dem Gaukler und Fälscher, balbtolle Frauen- zimmer und anspruchsvolle Wirrköpfe ihr Wesen treiben", um Aufkläruntf sich zu bemühen. Sein Buch ist beim ersten Erscheinen von Max Brahn in unserer Zeitschrift ausführlich gewür- digt worden. Da die zweite und dritte Auflage fast unveränderte Abdrucke darstellen, bleibt uns ihnen gegenüber nur die Pflicht der kurzen Anzeige.

Leipzig. Otto Scheibner.

Goldstein, Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzten. Leipzig 1919. Vogel. 240 S. 20 M.

Das Buch gibt einen erfreulichen Einblick in die fruchtbare Tätigkeit der von Goldstein geleiteten Hirnverletztenstation in Frankfurt a. M. Es ist für Praktiker bestimmt und in An- betracht der Tatsache, daß die psychologische Berufsberatung noch auf Jahre hinaus sich mit Kopfschußverletzten zu beschäftigen haben wird, von Bedeutung. Vor allem versteht es G., den Umkreis psychologischer Fragen angemessen einzuordnen in das Gesamtgebiet der sozialwirt- schaftlichen Fragen und Gegebenheiten, sowie der ärztlichen Gutachtertätigkeit. Entsprechend erörtert die Schrift erstens die ärztliche, zweitens die psychpädagogische, drittens die Arbeits- behandlung und schließt mit einer Statistik der Erfolge und mit näheren Angaben über die Dienst- fähigkeit und Rentenfestsetzung. Die ärztliche Seite berücksichtigt die konservative und chirurgische Behandlung. Das letzte Kapitel behandelt den Umkreis der Hirnverletztenfürsorge im Ganzen. Was die Arbeitsbehandlung betrifft, so ist das Material leider etwas kurz gehalten und gibt trotz des außerordentlich wichtigen Problems der günstigen Arbeitseinwirkung auf die seelische Ge- samtheit der Persönlichkeit des Hirnverletzten, wie ich sie auch an meinem Institute beobachtete, nur allgemeine Auskunft, erreicht vor allem nicht die Gewichtigkeit des 2. Bandes des bekannten Poppelreuterschen Buches,

Das Hauptstück der Veröffentlichung ist das 2. Kapitel. Die experimentell psycho- logischen Untersuchungen beschäftigen sich in erster Linie mit tachistoskopischen Prüfungen, Arbeit am Reaktionsbrett, dem Ergographen und dem Rechenbogen. Den Praktiker, der täglich den Zu- und Abstrom der Fälle kennt und daher weiß, daß umfänglichere Untersuchungen der Patienten etwa im Sinne eines psychologischen Profils nach Rossolimo oder dem Schema der Eignungs- prüfung nach Moede nur bei längerem Lazarettaufenthalt möglich wäre, wird diese verhältnis- mäßige Dürftigkeit nicht wundernehmen. Immerhin wäre es interessant gewesen, wenn G. auch seine Erfahrungen mit anderen Untersuchungsmethoden mitgeteilt hätte. Von Intelligenz- und Gedächtnisprüfungen ganz zu schweigen, lassen sich auch noch andere Versuche durch- führen, die den praktisch so wichtigen Arbeitstypus des Kranken schnell und vielseitig, wohl auch besser z. T. noch als durch das übliche Addieren, verraten. Die psychologisch-pädagogische Übungsbehandlung als 2. Unterabschnitt ist für die Praxis wiederum sehr wichtig. Neben all- gemeineren Bemerkungen zur Behandlung psychischer Defekte werden Beispiele geboten zur Übungsbehandlung bei motorischen Sprachstörungen, amnestischen, sensorischen, agrammatischen Erscheinungen, der verschiedenen Formen der Aphasie, Rechenstörungen und anderem mehr. Dem geschulten Hilfsschullehrer (dessen Tätigkeit ich bei Hirnverletzten für überaus wertvoll und unersätzlich halte) bieten die G. sehen Darstellungen nicht uabedingt Neues hierüber. Wohl aber erfreuen sie durch die reichen Beispiele, eingehenden Protokolle und Proben, Bild-r, Beilagen und Kurven. In diesem Einblick in die volle Wirklichkeit der Fälle und der Anregun^r, die auch für weitere Kreise aus dem Überschauen eines wirklich lebensnahen psychologischen Be- triebes folgert, sehe ich das Hauptverdienst und auch den bleibenden Wert des G. sehen Buches.

Halle a. S. Fritz Giese.

Karl Reinhardt, Die Neugestaltung des deutschen Schulwesens. Leipzig 1919. Quelle & Meyer. 2,50 M.

Die Schrift von Reinhardt, dem Schöpfer des „Frankfurter Systems", ist deshalb für alle, die sich für die praktische Neugestaltung des Schulwesens interessieren, so wichtig, weil in ihr diejenigen Reformgedanken verdichtet sind, die zur Zeit in den Unterrichtsministerien am ernst- haftesten erwogen werben. Es wird zwar das ganze Schulwesen berührt das freie Volks- bildungswesen bleibt links liegen , die genaueren und treffsichereren Ausführungen erstrecken sich jedoch nur auf die allgemeinbildenden Schulen und hierin wieder auf den Ausbau der höheren Schulen. Die Umrisse und Andeutungen zu dem Aufbau des Berufsschulwesens und seine Eingliederung in das einheitliche Ganze werden ebenso wie die Behandlung der Lehrer- bildungsanstalten, von süddeutschen Verhältnissen aus gesehen, weniger befriedigen. Aber Reinhardt richtet keine Schranken auf; er deutet manches bloß an, w-as sich vielleicht durchsetzt.

Literaturbericht 431

vielleicht auch nicht; er ist sich bewußt, daß da vieles noch im Fluß ist und behandelt es dementsprechend. Seine Schrift ist zwar eine rein „private Angelegenheit" ; aber sie bringt doch im ganzen kein persönliches Programm, sondern sucht die Bestrebungen darzustellen, die nach seiner Überzeugung Aussicht auf Verwirklichung haben. Persönliches tritt nur beim Mittelpunkt des Ganzen, beim Reformsystem hervor.

Reinhardt ist Anhänger des einheitlichen Aufbaues und berührt sich da am meisten mit W. Rein. Die wichtigsten Mängel des bisherigen Schulwesens sieht er in der Zusammenhangs- losigkeit der einzelnen Schularten, im Berechtigungswesen, der Nichtanpassung der Schulzweige an die Befähigungsarten, insbesondere in der Vernachlässigung der praktischen und künstlerischen Befähigungen, der allzufrühen Entscheidung für eine bestimmte Schule, der abstoßenden, stark aufbauenden Auslese und im Standescharakter der höheren Schulen. Er schlägt nun eine 4jährige gemeinsame Grundschule vor. Darauf erhebt sich eine 4jährige Oberstufe der Volksschule und eine 4— 6jährige Mittelschule mit einer bzw. zwei Fremdsprachen (der preußischen Mittelschule entsprechend). Während die Volksschvde ihre Fortsetzung hauptsächlich in der Fortbildungsschule und niederen Fachschule erhält, leitet die Mittelschule in die höheren Fachschulen (Handelsschule, Kunst- und Gewerbeschule, Maschinenbauschule usw.) über; beide können dann zu den Hochschulen führen. In den höheren Fachschulen sieht R. auch, und wohl mit Recht, das Problem des „technischen Gymnasiums" gelöst. Die höheren Schulen (Studien- anstalten) schließen sich dann an das 2. Mittelschuljahr an und sind 6jährig. Die 3 höheren Schulen läßt er innerhalb des Frankfurter Systems im wesentlichen bestehen. Für die Oberreal- schule und nur für sie schlägt er auf der Oberstufe eine Gabelung in einen sprachlich-geschichtlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Zw%ig vor (ersterer mit fakultativem Latein). Gymnasium und Realgymnasium erhalten noch einen 2 jährigen gemeinsamen Unterbau. Hier wird man fragen, warum die Gabelung, die ja doch aus der Natur der Befähigungen heraus vorgeschlagen wird, nicht auch für die beiden andern Schularten Geltung haben soll; denn für sie liegen die Verhältnisse nicht anders. Mit dem 12 Lebensjahr ist die Begabungsrichtung im allgemeinen noch nicht so deutlich ausgeprägt, daß min schon endgültig .scheiden könnte. Ferner wird man über die innere und äußere Berechtigung der so entste lenden Bildungstypen mancherlei Bedenken vorbringen können, auch wenn man mit den Grundsätzen des Reformsystems einverstanden ist. Warum neben dem doch vorwiegend neusprachlichen B Idungstypus des Realgymnasiums noch einen neusprachlichen aus der Oberrealschule? Der .\ufb:iu R s zeigt seine großen Vorzüge nicht nur der Auslese der Schüler, sondern vor allem auch dem Lande gegenüber. Denn durch Zusatz- unterricht wird es möglich sein, daß die Kinder bis zum 14. I^ebensjahr zu Hause vorbereitet werden.

Für die Zulassung zu den einzelnen Schulen ist nur die Eignung entscheidend; sie wird von den Lehrern der abgehenden und aufnehmenden Schule festgestellt durch Beobachtung, Prüfung und Probezeit. Den Schulpsychologen lehnt er wohl im Hinblick auf die neueren , Leistungen" ab. Das Schulgeld für die Mittel- und Oberschule wird nach der Steuerkraft ab- zustufen sein. Die höheren Schulen werden geschlossene Anstalten, die nur Hochschulreife vermitteln; alle übrigen Berechtigungen sind durch die Mittelschule zu erwerben. Die einzelne Schule wird wieder eine größere Freiheit erhalten; die behördlichen Stundenpläne werden nur Höchst- und Mindestzahlen angeben. All dem werden viele lebhaft zustimmen; ganz besonders aber den Vorschlägen zur Reform der Reifeprüfung : Zeitpunkt ist der Übergang von der zweit- obersten zur obersten Klasse; Beschränkung auf wenig (3) Hauptfächer; das letzte Jahr ganz besonderes zur Erziehung zur zusammenhängenden wissenschaftlichen Arbeit und zur Vertiefung in allgemeine Fragen; den Abschluß bildet eine größere wissenschaftliche Arbeit aus dem besonderen Arbeitsgebiet des Schülers an Stelle des Klassenaufsatzes der Reifeprüfung. Es ist der beste der mir bekannten Vorschläge in dieser Frage und sollte sofort in allen Schulen, die sich dazu bereit erklären, durchgeführt werden.

Die Vorbereitungsanstalten für die Lehrerseminare bleiben bestehen im Interesse des flachen Landes. Den Erfahrungen, die man in Süddeutschland mit Abiturienten bei 1 2 jähriger Aus- bildung gemacht hat, steht er anerkennend gegenüber, ohne jedoch die Forderung zu wagen, daß man die heutigen Lehrerbildungsanstalten in „höhere deutsche Schulen" verwandle und die Lehrerbildung einer höheren Fachschule »pädag. Akademie, pädag. Fakultät i zuweise. Die Lehrer sollen sich als einheitliches Gt zes fühlen aus ihrer hohen allgemeinen Aufgabe heraus; eine gleiche Vorbildung aber sei unmöglich.

Daß die Schulen für die weib iche Jugend als Folge der politischen Gleichberechtigungen denen der männlichen Jugend möglichst anzugleichen seien, wird nicht überall Zustimmung finden; umsomehr die Forderung einer einheitlichen Schulbehörde für das gesamte Schulwesen einschl. der Fachschulen sowie der gesetzlichen Festlegung der Organisation. Die Ausführungen über den Religionsunterricht zeigen große Wärme für diesen Gegenstand und lebhaften Sinn für eine

432 Literaturbericht

freiheitliche Regelung dieser Frage. Privat- und Sonderschulen läßt Reinhardt nur gelten, wenn sie einem besonderen pädag. Zweck dienen, also neue Wege, neue Lehrpläne, neue Erziehungs- methoden ausprobieren. Sie sind unter staatliche Aufsicht zu stellen und mit den gleichen Rechten wie die staatlichen Schulen auszustatten.

Nur in großen Zügen konnte der reiche Inhalt der Schrift angedeutet werden; die meisten Reformvorschläge in bezug auf das Schulwesen der Gegenwart sind irgendwie einbezogen; daß sie, im einzelnen dann auf das Grundsätzliche zurückgehend, nicht eingehender erörtert werden konnten, ist bei dem geringen Umfang der Schrift selbstverständlich.

Tübingen. Gustav Deuchler.

A. Buchenau, Die Einheitsschule. 2. Auflage. Die neue Zeit, Schriften zur Neugestaltung Deutschlands. Leipzig 1919. Teubner. 58 S. 1,50 M.

Das Heftchen zeugt von reicher Belesenheit und Beherrschung des weitschichtigen Stoffes. Es gibt daher über die Einheitsschule sachkundigen Aufschluß. Aus biologischen Gesetzen wird ihre Notwendigkeit als eine gegliederte Einheit in vielgestaltigen Formen nachgewiesen. Ihr Wesen ist, alle Kinder nach ihrer Begabung zu höchster Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Dazu ist die Psychologie eine wichtige Helferin, doch scheint mir ihre Bedeutung für die Erziehung nicht scharf genug betont zu sein. Schon auf dem 4 jährigen gemeinsamen Unterbau, wozu der Verfasser sich bekennt, soll den Begabungen entsprechend nebeneinander Arbeits- unterricht und mehr geistiger Unterricht erteUt werden. Daran schließt sich die Oberstufe der Volksschule, die auf 5 Jahre erweitert werden sollte, damit ein eigenes Urteil und Verständnis für das Volkstum geweckt werden kann. Dies ließe sich tiefer begründen; leider werden diesii Gedanken um ihre Wirkung gebracht, indem auf S. 27 dem Deutschunterricht nicht der unbedingt erforderliche Raum eingeräumt werden soll. Auf diese Oberstufe bauen sich die Berufsschulen und für die Besten die Fach- und Fachhochschulen auf. Vom vierten Schuljahr führt der Weg sodann zur sechsklassigen Realschule mit einer Fremdsprache und verstärktem Sachunterricht für die praktisch gerichteten Kinder. Ein anderer Aufbau sind die achtklassigen höheren Schulen, deren Zweck wissenschaftliche Bildung, nicht Fachbildung ist und die zur Menschenkenntnis führen sollen. Sie zerfallen in mathematisch-naturwissenschaftliche Anstalten, als mathematisches und technisches Gjnmnasium, und in sprachliche Anstalten, als neusprachliches und altsprachliches Gymnasium (der Name ist wenig glücklich). So wird das heutige Vierlerlei überwunden und die Einzelleistung gesteigert. Von einer Schulgattung zur andern soU ein beständiger Übergang möglich sein, die Wege hierzu sind freilich nur gestreift. Auch die Hochschule wird ganz kurz abgetan, ohne dem Überlebten dieser Schulart ins Gesicht zu leuchten. Viel zu kurz ist der Abschnitt über die LehrerbQdung, denn gerade hier ist zu ; Uererst der Hebel anzusetzen, damit wir Männer bekommen, die die Einheitsschule mit deutschem Leben erfüllen. Das Schriftchen stellt in geschickter Weise Gedanken über die Einheitsschule, allerdings ohne Berücksichtigung der Mädchenerziehung, zusammen; eine geistesgewaltige Neuschöpfung aus einer führenden Seele darf man freilich nicht darin suchen.

Leipzig. G. Reinhard.

Marta Bergemann-Könitzer, Erziehung zur Plastik. Ein Beitrag zur Methodik des plastischen Unterrichts. Die Plastik. (Callwey's Verlag). Jahrgang 1919, Heft 3, S. 17—21. Mit 10 Tafeln.

Die Kunsterziehung unserer Tage ist viele neue Wege gegangen ; der Weg zur Plastik aber blieb ungebahnt, denn was in Kindergarten und Unterstufen der Schule als Formen in Plastulin getrieben wurde, hatte mit Kunst noch wenig zu tun. Die Verfasserin beschreibt nun in knapper, aber eindringlicher Weise ihre Versuche mit Kindern verschiedenen Alters, die sie in einem Unterricht von zwei Wochenstunden in plastischem Sehen und Gestalten erzieht. Vorbilder sind ihr hierfür die kleinen unscheinbaren Tanagra-Figürchen. Sie beginnt sofort mit der Darstellung des Menschen, etwa des Schneemanns, und läßt nun die Kinder allmählich die richtigen Körper- proportionen finden. Auf die Raumbewältigung, die Gliederung der Masse kommt ihr alles an: wie so ganz anders sich die Glieder fügen beim stehenden und beim sitzenden, beim knieenden und beim kauernden Menschen! Die vorzüglichen Abbj^^ungen von Proben zeigen in der Tat eine überraschende Vielgestaltigkeit, Lebendigkeit und Proportioniertheit der dargestellten Ton- figuren. Es wäre zu wünschen, daß diese auf jahrelangen Erfahrungen beruhende Kunst- erziehungsmethode in pädagogischen Kreisen Beachtung und Nachahmung finde.

Hamburg. William Stern.

Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.

Unirersity of Toronto library

DO NOT

REMOVE

THE

CARD

FROM

THIS

POCKET

Acme Library Card Pocket

Vmitx Pit "Ref. ladcx Füe"

Made hj LIBRARY BUREAU