ZEITSCHRIFT

y/J

FÜR

BILDENDE KUNST

Herausgegeben

von

PROF. DR. CARL VON LÜTZOW

Bibliothekar der K. K. Akademie der Künste zu Wien.

MIT DEM BEIBLATT KUNSTCHRONIK

NEUE FOLGE

Siebenter Jahrgang

LEIPZIG

Verlag von E. A. Seemann 1 896.

Digitized by the Internet Archive in 2018 with funding from Getty Research Institute

https://archive.org/details/zeitschriftfurbi31unse

Inhalt des siebenten Jahrgangs.

Allgemeines.

Von der Save zur Adria. Von Heinrich Noe

Seite

n Q

io

Architektur.

Das Mausoleum des Fürsten Ernst von Schaumburg zu

Stadthagen. Von II. Haupt . 8

Die Befestigungstürme von Pompeji. Von Ii. Beiniclce 81 Das Strohhaus in Italien. Von L. II. Fischer ... 97

Ein verschollener Giebel. Von J. Sie . 124

Eine verschwundene Bischofspfalz. Von C. Th. Polt Hg. 145. 179

Von altperuanischer Baukunst. Von Raul Schumann 217 Budapest und die Millenniumsausstellung. Von F. Jasper 257 Ein Palast Andrea Sansovino’s in Portugal. Von Th. Rogge . 280

Plastik.

Louis Tuaillon’s Amazonenstatue. Von A/fr. O. Meyer 25 ■Jeanne d’Arc, von P. Dubois. Von G. von Liitzow . 94

Der Wittelsbacher Brunnen in München. Von

A. Schriclcer . 121

Studien zur Elfenbeinplastik des 18. Jahrhunderts. III.

Die Familie Lücke. Von Chr. Scherer . . . 102. 137 Meisterwerke griechischer Plastik in neuer Beleuchtung.

Von Emil Reisch . 153

Das Madonnenideal des Michelangelo. Von E. Stein-

mann . 109. 201

Wie man Skulpturen aufnehmen soll. Von II. Wölfflin. 224 Zur Entwickelung des italienischen Reiterdenkmals. Von

Fr. Haaclc . 273

Die Bronzethüren der Dreieinigkeitskirche in New York.

Von C. Rage . . 282

Zum Gedächtnis Alfred von Rethel’s. Von V. Valentin. 1 Neue Monumentalmalereien in Preußen. Von A. Rosen¬ berg . 17

Ideen über den Studiengang des modernen Malers. Von

P. Schult ze-N aut nburg . 27

Adolph Menzel. Von Max Schviid . 49

Die Wappensage der Junker von Prag. Von Joseph

Neuivirth . 85

P. P. Rubens. Von Adolf Rosenberg . . . 110. 210. 249

Tintoretto als Porträtmaler. Von Fr. Haaclc .... 128

Aus dem Leipziger Museum (Handzeichnungen) . . . 141

Hermann Prell’s neueste Wandgemälde. Von Ad. Rosen¬ berg . 159

Die neuesten Erwerbungen der Mailänder Galerieen. Von

Emil Jacobson . . . 183

Jugendzeichnungen von Goethe. Von C. Ridand . . 187 Zu Corot’s hundertstem Geburtstage. Von Frz. Haneke 193 Der Marquis del Guasto und sein Tage, von Tizian.

Von C. Justi . 229

Ungedruckte Briefe von M. von Schwind. Mitgeteilt

von M. Necker . 232

Ludwig Dettmann. Von Alfr. Oottli. Meyer .... 241 Jan Mostaert. Von Gustav Glück . 2ö5

Graphische Kunst.

Joseph Sattler’s Wiedertäufer. Von Dr. P. Jessen . 41

Lucas Cranach’s Holzschnitte und Stiche, lierausg. von

F. Lippmann . 93

Die Auktion Artaria in Wien . 164

NB. Die kleinen Mitteilungen sind in das Register der „Kunstchronik“ aufgenommeu.

Die mit

Verzeichnis der Illustrationen,

bezeichueten sind Einzelblätter.

hrere Hefte verteilten Aufsätze folgen hintereinander).

Seite

|Karl der Große. Skizze von A. Bethel. Lichtdruck

von Sinsel A Co . Zu S. 1

Angriff auf den h. Bonifacius. Von A. Bethel. Original¬ zeichnung . 1

Kaiser Otto in der Gruft Karl’s des Großen, hon

A. Bethel. Erster Entwurf zu dem Freskohilde im

Aachener Kaisersaal . 3

fMonatsbilder von A. Bethel . Zu S. 4

Der Tod des b. Bonifacius. Von A. Bethel. Original¬

zeichnung .

Kirche und Mausoleum zu Stadthagen .

Mausoleum des Fürsten Ernst von Schaumburg zu

Stadthagen . .

Durchschnitt des Mausoleums .

Grundriss des Mausoleums . 11

Grabdenkmal des Fürsten Ernst von Schaumburg . . 12

Figuren vom Grabdenkmal des Fürsten Ernst von

Schaumburg . 14

Vom Grabdenkmal des Fürsten Ernst von Schaumburg 15 Begegnung Friedrich’s des Großen mit Ziethen nach der Schlacht bei Torgau. Nach dem Wandgemälde von Beter Jansscn in der Fehlherrnhalle cles Berliner

Zeughauses . 19

Markgraf Friedrich I. von flohenzollern wirft die Quitzow’s und Genossen nieder. Nach dem Gemälde von •/. Scheurenberg im Rathause zu Berlin ... 21

Verherrlichung Schinkels. Nach dem Wandgemälde

von II. Vogel im Rathause zu Berlin . 17

|+ Bischof Bernward und Kaiser Heinrich II. Nach dem Wandgemälde von II. Breil im Rathause zu

llildesheim . Zu S. 22

‘Gerechtigkeit, Strenge und Milde. Nach dem Wand¬ gemälde von II. Breil, im Ratlmuse zu Hildesheim. 23 (* Aus dem Werke: Prof. Herrn. Prell’s Wandgemälde in der Kathaushalle zu llildesheim. Berlin. Verlag von Hessling & Spielmeyer.)

f Polychrome Marmorbüste von Hermann Kokols/cy;

Heliogravüre von L. Angercr . Zu S. 24

Amazonenstatue von Tuaillon . 26

*Aus Joseph Sattler’s Wiedertäufern .... 41. 42. 43

(* Verlag von J. A. Stargardt, Berlin.)

,:i: Reliquienschrein im Dom zu Aachen . 44

Vom Sarkophag des Junius Bassus in der Peterskirche

in Rom . 45

**Das Rathaus in Löwen . 47

(** Aus Springer, Handbuch der Kunstgeschichte II, Verlag von E. A. Seemann, Leipzig.)

firn Tempel zu Sais. Radirung von Hermine Laukota.

Zu S. 48

fDie Quelle. Radirung von .17. Klinger ... Zu S. 48 -[•Adolf Menzel. Nach der photographischen Aufnahme von C. Brasch in Berlin. Heliogravüre und Druck

von Meisenbach, Riffarth & Co . Zu S. 49

Kopfleiste und Initial, gezeichnet von Josef Sattler . 49

Zur Erinnerungsfeier am 3. Februar 1838 in Potsdam, von Adolf Menzel . 51

Albumblatt für Alfred Emil Loffhagen, von Adolf

Menzel . . .

Aus den „Radi r versuchen von Adolf Menzel 1844“

Chalkotypie von Adolf Menzel .

Radirte Tischkarte für den Herzog von Meiningen, von

Adolf Menzel .

Forträtstudie von Adolf Menzel. Original im Leipziger

Museum . .

Entwurf einer Medaille von Adolf Menzel. Original im

Leipziger Museum .

Aus den Illustrationen zu Peter Schlemihl von Adolf

Menzel .

Aus Menzel’s Illustrationen zu den Werken Friedrich’s

des Großen .

Studie zum Zerbrochenen Krug, von Adolf Menzel . .

Bleistiftstudie von Adolf Menzel. Original in der Ber¬ liner Nationalgalerie .

Italienisch lernen. Originalradirung von Adolf Menzel (* Aus der Publikation des Berliner Vereins für Original- radirung.)

Schlussvignette, gezeichnet von Josef Sattler ....

Lillian Sanderson von Franz v. Lenbach .

(* Aus den „Zeitgenössischen Bildnissen“ von Franz von Lenbach. Neue Folge).

fBrunnenpromenade in Kissingen, Aquarell von Adolf Menzel. Heliogravüre von Meisenbach, Riffarth & Co.

Zu S.

Pocitel an der Narenta. Zeichnungen von Rittmeister

L. Benesch .

Bogumilen -Friedhof bei Stolac und Relief von einem

dortigen Grabsteine. Von demselben .

Vrandruk von Norden. Von demselben .

Vrandruk. Detail der Ruine. Von demselben . . .

Vrandruk von Süden. Von demselben .

Muljuckaschlucht bei Sarajevo. Von demselben . . .

Lugavin-Poka-Moschee in Sarajevo. Von demselben .

Mostar. Von demselben .

Brücke über die Buna hei Blagay. Narentaufer hei

Mostar. Von demselben .

Blick auf die Narenta gegen Metkovich. Von demselben Buna-Ursprung bei Blagay. Von demselben . . . .

Stolac. Von demselben .

Schematische Ansichten und Risse der Befestigungs¬ türme von Pompeji. Von li. Beinickc. ... 82.

*Silberstiftzeichnung von L. Cranach .

*Die heil. Katharina. Holzschnitt von L. Cranach . .

(* Aus dem Werke: Lippmann, L. Cranach, Grote’sche Verlagsbuchhandlung.)

Jeanne d’Arc von P. Dubois .

•[•Jeanne d’Arc von P. Dubois. Heliogravüre von

J. Blechinger . Zu S.

•[‘Aus der Villa des Hadrian. Von Hermann Krüger.

Radirung von F. Krustewitz . Zu S.

Partie aus einer alten Topographie des alten Venedig

Fischerhäuser in den Lagunen von Grado .

Verschiedene Strohhäuser auf alten Gemälden . 98.

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INHALTSVERZEICHNIS.

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Strobbäuser aus der venezianischen Ebene . 98

Strohhaus in der Nähe von Padua . 99

Römisches Strohdorf . 100

Bauernhaus aus Rovigo . 100

Eine Campana in der römischen Campagna .... 101

Strohhaus aus Pesella . 101

Strohhaus nach einem pompejanischen Gemälde . . . 101 Die Wiedererweckung der Kunst von J. Chr. L. Lücke 103

Herkules von J. Chr. L. Lücke . 105

Schlafende Schäferin von L. v. Lücke . 108

Scherenschleifergruppe, modellirt von C. A. Lücke d. ä. 139 Winterlandschaft. Handzeichnung von P. P. Rubens

im Kupfersticlikabinett zu Dresden . 111

Der heil. Hieronymus von P. P. Rubens. Galerie zu

Dresden . 112

Der heil. Hieronymus von A. van Dyck. Galerie zu

Dresden . 113 I

Simson und Delila von P. P. Rubens. München, Alte

Pinakothek . 115

Die Amazonenschlacht von P. P. Rubens. München,

Alte Pinakothek . 117 '

Bauerngehöft. Zeichnung von P. P. Rubens. Berliner

Kupferstichkabinett . 118

Der ungläubige Thomas. Gemälde von P. P. Rubens.

Museum zu Antwerpen . 211

Nicolaus Rockox. Ebd . 211

Adriana Perez. Ebd . 213

Die Flucht nach Ägypten von P. P. Rubens. Galerie

zu Kassel . 214

Jupiter und Kallisto von P. P. Rubens . 215

Die frierende Venus, von P. P. Rubens im Museum zu

Antwerpen . 250

Die Beweinung des Leichnams Christi. Gemälde von

dems. in der kaiserl. Galerie in Wien . 251

Wildschweinsjagd. Gemälde von dems. in der Dresde¬ ner Galerie . 252

Jan van der Moelen. Gemälde von dems. in der Liechten- stein’schen Galerie in Wien. Nach der Radirung von W. Hecht in den „Graphischen Künsten“ .... 254 Perseus und Andromeda. Gemälde von dems. in der

Eremitage in St. Petersburg . 255

•[Querfeldein. Originalradirung von Hans Looschen. Zu S. 120 [Walküre. Originalradirung von C. Gehrts . Zu S. 120 [Der Wittelsbacher Brunnen. Von A. Hildebrand. Zu S. 121 Plakette aus dem 15. Jahrh. Berliner Museum . . . 123

Giebelrekonstruktion . 124

Von der Talosvase. Vorderseite . 125

Von der Talosvase. Rückseite . 120

Männliches Bildnis von Tintoretto. Prado, Madrid . 128 Bildnis einer venezianischen Dame von Tintoretto. Hof¬ museum, Wien . 129

Prokurator Andrea Capello von Tintoretto. Venedig,

Akademie . 130

Doge Alvise Moncenigo von Tintoretto. Venedig, Aka¬ demie . 130

Vom Porträt eines Senators von Tintoretto .... 131 Ilandpartieen von Tizian’s Zinsgroschen, Tintoretto’s Vermählung der hl. Katharina, Rubens’ Doktor Thul-

den, van Dyk’s Herzog von Croi . 132. 133

Nicolö Priuli von Tintoretto. Venedig . 134

Bildnis eines jungen Mädchens von Tintoretto. Prado,

Madrid . 135

Bildnis eines Kriegers. Prado, Madrid . 135

Seite

Gruppenporträt dreier Senatoren mit der Darstellung des auferstehenden Christus von Tintoretto. Venedig,

Akademie . 136

*Kopfleiste von Max Klinget . 141

^Kopfleiste von Otto Greiner . 141

•’Hand Zeichnung von Hans Halbem d. ä . 142

*Handzeichnung von Chr. Lcbrun . 143

f*Madonna. Handzeichnung von Hans Holbein d.j. Zu S. 141 (* Aus dem Werke „Vogel, Studien und Entwürfe älterer Meister im städt. Museum zu Leipzig“, Verlag von Iv. W. Hiersemann.)

[Vor der Wallfahrtskirche. Von TV. Hasemann. Radi¬

rung von F. Krostewitz . Zu S. 144

Salzburger Hof, Südseite . 145

Grundriss . 146

Fenster am Westbau . 147

Fenster am Ostbau . - . 148

Details . 149

Teil eines Tympanons . 150

Fenster am Nordbau . 150. 151

Bogenfries . 151

Details . 152

Der Salzburger Hof in Regensburg im 12. und 13. Jahr¬ hundert (Rekonstruktion) . 179

I Eckstück mit Säule . 180

Kapitell vom Salzburger Hof . 180 181

Tragstein vom Westbau; Kämpfer-Ornament; Nase des Vierpasses; Vierpass am Palas; Querschnitt .... 181

Gewölbe im Salzburger Hof . 182

*Athenastatue in Dresden . . . 154

*Kopf der Athena in Bologna . 155

*Dioskur vom Monte Cavallo . 156

Aphrodite von Petworth . 157

*Perikles im Britischen Museum . 158

(* Aus Furt war gier: Meisterwerke der grieck. Plastik, Verlag von Giesecke & Öevrient.)

Empfang einer Danziger Gesandtschaft durch den Dogen

Grimani. Wandgemälde von Hermann Prell . . . 160 Polensturm auf Weichselmünde von Hermann Prell . 162 Landschaft. Federzeichnung von S. Köninck. (Samm¬ lung Artaria) . 164

Jakob und Esau. Sepiazeichnung von Rernbrandt.

(Sammlung Artaria) . 165

Schlafender Mann. Sepiazeichnung von Rernbrandt.

(Sammlung Artaria) . 166

f Herbstmorgen. Gemälde von F. Kubierscliky, radirt

von F. Kr ostewitz . Zu S. 168

fl hl Frühling bei München. Originalradirung von Th.

Meyer-Basel . Zu S. 168

Giovanno Pisano. Madonna im Campo Santo zu Pisa 170 Donatello. Madonnenrelief. Berliner Museum . . . 171

Michelangelo. Madonna an der Treppe . 172

Cozzarelli. Madonnenrelief in S. Francesco in Siena . 173

Michelangelo. Madonna in Brügge . 174

Michelangelo. Madonnenrelief im Bargello .... 175

Phädra mit dem Eros. Sarkophagrelief im Campo

Santo zu Pisa . 176

| Michelangelo. Pieta . 177

{ Kohlezeichnung von Michelangelo. Windsor Castle.

(Br. 101.) . 204

Kreuzabnahme von B. Antelami. Parma (Mittelgruppe) 205 Kreuzabnahme von Duccio. Siena (Mittelgruppe) . . 208 ) Kreuzabnahme von Michelangelo. Florenz, Dom . . 209 S. Pietro, von Francesco del Cossa . 184

VI

INH ALTSVERZEICHN IS.

Seite

S. Giovanni Batfcista, von Francesco del Cossa . . . 185 Kopf einer jungen Frau. Bleistiftzeichnung von Goethe 187

Klavierspielerin. Federzeichnung von Goethe .... 188

Mädchengruppe. Rötelzeichnung von Goethe .... ISS

*Ein feste Burg ist unser Gott. Zeichnung von Jos.

Sattler . 190

Nun danket alle Gott. Zeichnung von Wilhelm Stein¬ hausen . 192

(* Neue Flugblätter. Verlag von Breitkopf & Härtel in Leipzig.)

fDer Sommer. Originalradirung von Herrn. Gatüker 192 fDas Urteil des Paris. Wandgemälde von Herrn. Prell. Heliogravüre von J. Blech inger nach einer Aufnahme von Acl. 0. Troitxsch . Zu. S. 192

Landschaft, Lithographie von C. Corot, Heliogravüre

von J. Blecliinger . Zu S. 193

Bildnis Camille Corot’s . 193

Das Schloss von Wagnouville, von C. Corot .... 194

Fine Matinee, von demselben . 195

Landschaft, von demselben. Louvre. Paris .... 190

Nymphentanz, von demselben . 197

Das Bad der Diana, von demselben . 200

f Blick auf Überlingen. Originalradirung von l’rof.

Halm . Zu S. 21Ü

Das Monolith-Thor von Ak-Kapana (Ostseite) ....

Figur vom Thore von Ak-Kapana .

Figuren aus dem Friese des Monolitli-Tbores . . . .

Figur von einem Poncho von Ancon .

David von Donatello .

David von Verroccbio, zwei Ansichten; Kopf mit Sen¬ kung apart .

Der Giovannino des Michelangelo, drei Ansichten . .

Luigi Gonzaga .

Bildnis im Wiener Hofmuseum .

jTischkarte, radirt von Max Klinger, Heliogravüre. Zu S. fLandschaft von K. D. Friedrich, farbige Heliogravüre von H. G. Brinclanann in Leipzig .... Zu S. fMadonna, Zeichnung von 11. Holbein im Leipziger Museum. Vgl. Heft (J .

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flm Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zur Erde werdest, davon du genommen bist. Von L. Dettmann. Radirung

von F. Krostewitz . . Zu S. 241

Herbstmorgen. Motiv aus Holstein von L. Dettmann . 241 Landweg mit alten Weiden. Skizze von dems. . . . 242

Studie zur Heil. Nacht, von dems . 244

Italienischer Arbeiter. Studie von dems . 244

fDie Arbeit. (Mittelbild.) Von L. Dettmann. Helio¬ gravüre von J. Blech inger, Wien .... Zu S. 245 fFlügelbilder des Triptychons der Arbeit, von L. Dett¬ mann, Heliogravüre von Blecliinger <& Legkauf. Zu S. 245

Unterm Fliederbusch. Gemälde von dems . 247

Begräbnis eines Kindes in einem Fischerdorf an der

Ostsee. Gemälde von dems. . 248

fStudie von L. Dettmann . Zu S. 248

Centralbahnhof in Budapest . 257

Parlamentsgebäude daselbst. Basilika daselbst . . 258 Industriehalle in der Millenniums-Ausstellung. Burg

Vajda Hunyad daselbst . 259

Dorfstraße in der Millenniums-Ausstellung . 260

Bosnisch- Herzegowinischer Pavillon . 261

Pavillon der Papier- und Vervielfältigungs-Industrie . 262

Pavillon des Kriegsministeriums . 263

Altarflügel mit den Heiligen Petrus und Paulus, von

./. Mostaert, Brüssel . 268. 269

Männliches Brustbild von J. Mostaert, ebenda . . . 270 Anbetung der Könige, von J. Mostaert, Rijksmuseum in

Amsterdam . 271

Reiter auf dem Grabmal des Can grande della Scala 273 Denkmal des Can grande della Scala in Verona . . 274

Konrad 111, Statue im Dom zu Bamberg . 275

Mausoleum des Sarego in Verona . 276

Standbild des Colleoni von Verrocchio in Venedig . . 277 Standbild des Gattamelata von Donatello in Padua . 278 Einzelheiten von dem Standbild des Gattamelata . . 279

Einzelheit vom Denkmal Mastino’s II . 279

Rronzethür der Dreieinigkeitskirche in New York . . 285

Zwei Füllungen von der Bronzethür . 283. 284

fGroße Wäsche. Originalradirung von Crncic . Zu S. 288

KUNSTCHRONIK

NEUE FOLGE

Siebenter Jahrgang

LEIPZIG

Verlag von E. A. Se emann 1 896.

Karl der Grosse.

Studie zu den Aachener Rathausfresken von ALFRED RETHEL.

Zeitschrift für bildende Kunst N. F. VII.

Farbenlichtdruck von Sinsel & Co., Leipzig

Angriff auf den h. Bonifatius. Von A. Bethel. Originalzeiehnung.

ZUM GEDÄCHTNIS ALFRED RETHEL’S.

M August dieses Jahres verstarb zu Düssel¬ dorf die Gattin Alfred Rethel’s. Ihr Tod erweckt die Erinnerung an einen der be¬ deutendsten Historienmaler unseres Jahr¬ hunderts. Das glückliche Jahr, das Alfred Rethel und seine Braut in Liebe zusammen¬ geführt hatte, und das für beide der Anfang eines neuen glücklichen Lebens werden sollte, war zugleich der Höhe¬ punkt seines Daseins und Schaffens, und der Weg ab¬ wärts erfolgte nur allzurasch. Um so wertvoller ist ein Dokument, das aus der Fülle beseligter Stimmung heraus geschaffen ist und zugleich den Künstler von einer Seite kennen lehrt, die sich sonst kaum bei ihm findet. Er zeichnete der Geliebten die Folge der Monatsbilder, die diese mit zierlichen wohlklingenden Gedichten beantwortete und erläuterte. Heiter, sorg¬ los, neckisch führt der Künstler den Stift, Kinderlust und Märchengruseln, Waldeinsamkeit und Ehein weinjubel führen den Reigentanz der wechselnden Monde. Es ist wie ein Jubelruf über das Entschwinden des Elends, das die Zeit gebracht hat, und selbst wenn dieses Jahr fortzieht, ist es nicht selbst ein alt und krank gewordenes : fröhlichen Herzens fügt es sich der unentrinnbaren Not¬ wendigkeit, die nicht wie ein schreckenbringendes Ge¬ spenst, sondern als freundliche Erlöserin erscheint, und Zeitschrift für bildende Kuiist. N. F. VII. H. 1.

mit verheißungsvoller Gebärde weist es auf die ewigen Sterne, die, je dunkler die Nacht hereinbricht, nur um so heller leuchten, auf Glaube, Liebe, Hoffnung. Daher ist auch dieser Monatsreigen, der sich zum Jahre rundet, nicht ein gewöhnliches Jahr, wie jedes andere: mit Anfang und Ende nimmt es seine festbestimmte Stellung in der unerschöpflich hereindringenden Flut der sich immer erneuenden Zeit ein. Nicht zu jedem Jahre kann er passen: der dichtende Künstler hat sich das Bedrückende der eben erlebten Gegenwart vom Herzen geschrieben, er hat sich selbst mitbefreit von tief mitempfundenem Harme, und die freundlichen Sterne frohester Verheißung sprechen aus, was er gerade jetzt selbst im Herzen trägt. Es ist, als ob er mit seinem bisherigen Ringen und Wirken abgeschlossen hätte, als ob er einem neuen Abschnitt seines Schaffens entgegenginge, der einen neuen Charakter tragen sollte, den Charakter des Friedens und der hoffnungssicheren Beseligung: er hat diesen neuen Weg nicht mehr mit großen Werken betreten können, es ist auch fraglich, ob er auf ihm zu großen Werken zu kommen vermocht hätte. Die neue Richtung wäre eine gänzliche Umkehr von dem gewesen, was bis dahin den Kern seines Wirkens gebildet hatte: wenn irgend ein Künstler als innerstes Wesen das unablässige Ringen nach dem Ausdruck entscheidungsvollen Kämpfen s von

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ZUM GEDÄCHTNIS ALFRED RETHEL’S.

Gegensätzen besessen bat, die nach thatenfroher Ent¬ scheidung drängen, so ist es Alfred Rethel gewesen. Und dennoch kommt diese Umkehr nicht ganz über¬ raschend: sie bereitet sich langsam vor und spricht sich allmählich immer deutlicher aus, je ernster die künst¬ lerischen Probleme werden, zu deren Lösung sein grüble¬ rischer, die Rätsel des menschlichen Treibens und Handelns abwägender Geist ihn drängt, bis er endlich das Rätselwort gefunden hat: da tritt das neue Rätsel eines unbegreiflichen Geschickes in sein eigenes Leben, und auch Glaube, Liebe, Hoffnung vermögen die düstere Nacht eines klagend ausgesprochenen Warum nicht zu lösen, die Sterne stehen wohl am Himmel, sie leuchten auch auf des Menschen rätselvolles Dasein, aber sie er¬ hellen es nicht.

Das älteste künstlerische Problem, das Rethel zu lösen strebt, ist, so weit wir bei ihm zurückschauen können, entscheidungsvolle Thaten der Menschen zu schildern; sie sind es, die seine unablässig rege Phantasie erfüllen und die in Bildern auszusprechen, ihn seine künstlerische Natur zwingt. Eine Schlachtscene sehen wir auf dem ersten Blatte, das sich von dem zehnjährigen Knaben erhalten hat, und Schlacht und Kampf erfüllt den seinen Jahren nach kaum erwachsen, aber doch schon Künstler zu nennenden Jüngling, der mit der Frühreife des Genius sicheren Schrittes auf sein Ziel losgeht. Wohl versteht er es, den einzelnen entschei¬ dungsvollen Augenblick zu erfassen und zu klarem Ausdruck zu bringen, wie in dem Blatte „Karl Marteil schlägt die Mauren bei Tours“, das Rethel als Sechzehn¬ jähriger (1832) geschaffen hat. Aber schon regt sich in ihm der Scharfblick des Historikers, der sich nicht mit der Darstellung eines packenden Augenblickes begnügt, der vielmehr forschend und ahnungsvoll den Zusammen¬ hang der Dinge durchschaut und so das Einzelereignis in das Gesamtgeschehen hin ein stellt; erst so gewinnt er seine rechte, seine volle Bedeutung. Bei dem Künstler kann sich das in zweifacher Weise äußern: er verfolgt entweder ein Gesamtgeschehen und stellt es in seiner Entwicklung durch mehrere Augenblicke von entschei¬ dender Bedeutung und eindrucksvoller Kraft dar, oder er versteht es, in einem einzigen Werke den Zusammen¬ hang anzudeuten: er regt die schaffensfreudige Phan¬ tasie seines Betrachters an, das Ereignis weiter zu dichten, indem sie die vom Künstler gegebenen Elemente als sichere Handhabe benutzt und so des rechten Weges nicht verfehlen kann; ja sie geht selbst dann nicht am Ziele vorbei, wenn der dichtende Künstler das ahnungs¬ volle Bangen vor der Möglichkeit einer anderen als der erhofften Entscheidung mit in die Wirkung seines Werkes mischt. Nach beiden Richtungen hat Rethel Großes ge¬ leistet, und beide Richtungen finden sich schon in seinen frühesten Werken mit der Sicherheit verwendet, die auf ein reflektirendes Schaffen hindeuten könnte, wenn es nicht das Vorrecht des Genie’s wäre, mit dem feinen

Tastwerk sicher gehender Empfindung ebenso das Falsche zu vermeiden wie das Rechte zu erfassen.

Aus der ersten Richtung, die das Gesamtgeschehen durch eine Reihe von entwicklungskräftigen Augen¬ blicken zu bewältigen strebt, entsteht der Cyklus, wie ihn Rethel in kleinen und großen Schöpfungen gerne verwendet hat. Zuerst begegnet er uns bei der Er¬ zählung der Geschicke des Bonifatius: zwei Welten, die einander ausschließen, die deshalb naturgemäß im Kampfe liegen und nicht etwa nur zufällig einmal sich befehden, treten auf den Plan, Heidentum und Christentum. Da kann es nur eine Lösung geben, wenn das niedrigere Element sich dem höheren fügt; wo es aber mit seiner rohen Gewalt das höhere Element zu vernichten wähnt, da erliegt wohl einmal der augenblickliche Träger der Sache, aber gerade sein Tod wird mit dazu bei¬ tragen, neue Träger des höheren Kulturlebens herbei¬ zurufen, und sie endlich zum Siege führen. Und eben diese innere Bürgschaft für den endlichen Sieg hat Rethel meisterhaft zum wesentlichen Gegenstände der Darstellung gemacht. Die Friesen dringen auf den am Altäre celebrirenden Bischof heran. Von ihren Pfeilen sind schon einige Mönche getroffen, und nicht alle stehen auf der entsagungsvollen Höhe des martyriumsfrohen Glaubenshelden. Aber des Mönchs verzweiflungsvolles Hilfeflehen kann den Bischof ebenso wenig schwankend machen wie die Waffenhilfe seiner christlichen Schar: mit hoheitsvoller Ruhe, ein unbewegter Fels im bran¬ denden Meere, weist er die zum Kampfe sich bereitenden Freundesscharen zurück; nicht äußere Gewalt soll die gute Sache zum Siege führen. Und besonnen und er¬ geben folgen die Älteren seinem Winke, minder willig die Jugend. Am schwersten aber fällt es dem Krieger, der schon das Schwert gezückt hatte, der sich jetzt wegwendet und sein Weib vor sich knieen sieht: die Menschheit bäumt sich in ihr auf, vor ihr liegt ihr Kind, von dort droht ihm der Tod, und der Mann, der es verteidigen muss, soll fliehen? Sie hält ihn zurück und weist auf die Feinde, aber in ihm siegt das Gött¬ liche, er verhüllt sich das Antlitz und folgt dem letzten Gebote des ruhig den irdischen Tod erwartenden Heiligen. Und er stirbt mit den Mönchen; während die Feinde sich plündernd über die Erschlagenen stürzen, ziehen die anderen Gläubigen fort, und in der Ferne sehen wir die Frau mit dem Kinde gerettet fortgehen, der ältere Krieger und der junge Bogenschütze wenden sich drohend um; noch ist nicht alles aus, sie werden wieder kommen. Und sofort bricht der Fluch ihrer Missethat über die Heiden herein: in widerlichem Kampfe stürzen sie sich aufeinander, um sich die Beutestücke streitig zu machen, und ihre schnöde Habsucht wird die nächste Rächerin der Erschlagenen. Noch im Tode hält der ermordete Bischof seinen Stab: er wird der starren Totenhand entrissen und umstritten. Über dem Bischof ist der weihrauchschwingende Mönch, der sich verzweifelt zu

ZUM GEDÄCHTNIS ALFRED RETHEL’S.

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ihm gewendet liatte, zusammengebrochen. Auch der Korb mit Früchten, der bei dem Überfall umgestoßen wurde, liegt umgeworfen da, und die Früchte sind heraus¬ gefallen ; so wird der einmal aufgenommene Faden selbst in kleinen Zügen festgehalten und fortgesponnen; aber für den echten Künstler giebt es nichts Kleines, alles dient seinem großen Zweck. Dort fällt der Korb eben um, hier liegt er umgestürzt: dort spricht er die Plötz¬ lichkeit des Überfalles aus, hier das Verlassensein der Stätte, die kurz vorher noch ein Ort des Friedens war. Und nun betrachte man die Klarheit der Komposition in den abgewogenen drei Gruppen des ersten Bildes, die Verbindung der Seitengruppen mit der Mittelgruppe, die Haltung des Bischofs, die die Verbindung der

1833 entstanden, als Rethel siebzehn Jahre zählte! Aber auch die zweite Richtung ist schon in den frühen Werken meisterhaft vertreten. Wir sehen sie in dem „Gebete der Schweizer vor der Schlacht bei Sempach“ aus dem Jahre 1834; Rethel war achtzehn Jahre alt. Tief unten in der Ebene stehen die Reihen der schwergepanzerten Ritter, herausfordernd lassen sie die Trompeten blasen, höhnisch deuten sie hinauf auf die kleine Schar, die oben auf dem Berge nach ihrer Meinung vor Furcht vergeht und sich demütigt; aber sie demütigt sich vor Gott und fleht knieend um Sieg über Hochmut und Gewalt. Und wie ergreift das Gebet die Gemüter der Menschen je nach ihrem Charakter: ruhige feste Entschlossenheit erfüllt die einen, sorgen-

Seitengruppen durch ihre Beziehung zueinander sicher herstellt. Und daneben das Kampfgewühl auf dem zweiten Bilde, der Kampf aller gegen alle: wer etwas ergreift, wird dadurch Ziel des Angriffs; daher nur eine große Gruppe, aber mit klarer Scheidung der einzelnen Kämpferpaare. Dazu die Kunst des Ausdrucks, die Kühnheit in der Bewegung, die Sicherheit in der Be¬ wältigung jeder Schwierigkeit der Haltung, und diesem Kampf um den Besitz der Gegenwart gegenüber die in der Ferne verschwindende Christenschar: der drohend erhobene Arm des einen Kriegers, die Entschlossenheit des jungen Bogenschützen lassen uns den Blick in die Zukunft tliun, die das vollenden wird, was liier für den Augenblick zerstört worden ist. Und diese Blätter sind

voller Ernst die anderen. Das Bewusstsein, dass ein Kampf auf Leben und Tod bevorsteht, lässt den Vater die Hand des jungen Sohnes erfassen, der neben ihm kniet und sich bemüht, in den Mienen des Mannes das Schicksal des Tages zu ergründen. Frische Kampfes¬ lust drängt einen anderen hinabzuschauen, und mancher mag die Hoffnung in sich tragen, hier mit ruhmvollem Tod ein unrühmliches Leben zu sühnen, das er nun bitter bereut. Und je weiter wir blicken, um so reicher wird der Ausdruck der Empfindung vor dem entschei¬ denden Augenblick: wird er zu Gunsten der Betenden entscheiden, oder wird das Gebet ungestört verhallen? So mischt sich bange Erwartung in unser Mitempfinden, wenn auch die Demut hier, der Hochmut dort uns den

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ZUM GEDÄCHTNIS ALFRED RETHELS.

Sieg auf der Seite erhoffen lassen, wo er nach der Ge¬ schichte wirklich eingetreten ist. r) Für eine solche, von Thatenlust überquellende Natur konnte der Eintritt in die damals von Schadow geleitete Düsseldorfer Aka¬ demie keine Förderung, sondern nur eine Hemmung bedeuten. Dort schwelgte die Malerei in einem roman¬ tischen Traumleben, dessen kräftigster Ton eine schwäch¬ liche Trauer war; sie sollte den Ersatz für die ernste tiefergreifende Stimmung tragischen Empfindens geben, und blieb im Vorhof der Rührseligkeit, die sich in ihren entschiedensten Leistungen an Gestalten der bi¬ blischen Erzählung und der Dichtung anschloss und, selbst wo sie einer phantastischen Wirklichkeit sicn näherte, nichts an wirklicher Lebenskraft zu gewinnen vermochte. Wie sie aber die Motive aus dem Leben selbst zu gewinnen suchte, führte sie bei ihrer Flucht vor jeder gegensatzerfüllten Kraftentfaltung mit Not¬ wendigkeit zu dem zahmen Genrebild. So kam auch Rethel erst wieder in sein rechtes Fahrwasser, als er, den Eindrücken folgend, die er auf einer Studienreise nach Frankfurt und München gewonnen hatte, nach Frankfurt übersiedelte, wo Philipp Veit als Lehrer wirkte. Wohl war des römisch-kirchlich frommen Mannes besondere Geschichtsauffassung eine andere als Rethel sie haben konnte; aber Philipp Veit hatte den Geist und die künstlerische Kraft, überhaupt eine großsinnige Ge¬ schichtsauffassung sich zu schaffen und bildnerisch zum Ausdruck zu bringen; so fand Rethel hier liebevolles Eingehen auf seine Natur, die sich nun frei und groß entwickeln konnte.

Hier in der alten Wahl- und Krönungsstadt der deutschen Könige und römischen Kaiser eröffnet sich ihm ein größerer Gesichtskreis mit einer neuen Aufgabe: er soll für den neu zu schmückenden Kaisersaal vier Kaiserbilder schaffen, deren bedeutendstes Karl V. ge¬ worden ist, ein Bild, das, aus echt historischem Geiste geboren, mit dem Charakter des Mannes zugleich den Träger verhängnisvollen Waltens darstellt. Aber das rechte künstlerische Problem bot ihm doch erst das Aachener Ausschreiben, das Entwürfe zur Ausschmückung des dortigen Kaisersaales verlangte. Hier fand er nicht nur eine reiche Fülle glücklichen Stoffes im einzelnen: hier war es vor allem der große Gesichtspunkt, den er dem weltgeschichtlichen Auftreten des deutschen Königs entnahm, was ihn zu künstlerischem Schaffen reizte. Bildet doch das Walten Karls des Großen einen Wende¬ punkt in dem Geschicke seines Reiches und der Völker, die es umschloss; zugleich aber tritt Karl’s Persönlichkeit überall so beherrschend hervor, dass er nicht nur der Urheber, sondern auch der natürliche Vertreter des Völkergeschickes zur Zeit seiner Herrschaft ist. So war

1) Eine vortreffliche Wiedergabe der Originalzeichnung Rethels giebt Blatt 19 der kürzlich erschienenen II. Lieferung von „Seemann’s Wandbildern“ (Format G0x78).

er der rechte Held für den Bildkünstler, der an der Verteilung des bestimmenden Einflusses unter einer Vielheit künstlerisch hätte scheitern müssen, der hier aber in der Thatsache der Konzentrirung der ma߬ gebenden Thätigkeit auf eine Person zugleich die künst¬ lerisch notwendige Einheit des Bildes als gegeben vor¬ fand. So ist in Frieden und Krieg Karl die einzige Per¬ son, die handelt; seine Helden und Mannen umgeben ihn wie die Sterne den Mond, in dessen Licht sie erbleichen.

War so die Einheitlichkeit jedes Bildes schon durch die hervorragende Bedeutung der Hauptpersönlichkeit gesichert, so kam es nur darauf an, die wichtigsten Ereignisse in der Gesamtentwicklung Karl’s des Großen herauszugreifen, die imstande wären, die entscheidenden Seiten seines Wirkens erkennen zu lassen. Da drängt sich alsbald als das Problem das aus dem Kampfe für Christentum und Staatseinheit hervorgehende allmächtige Walten Karls in Staat und Kirche hervor: beide Seiten gehen Hand in Hand, aber so, dass der Kaiser in beiden Reichen, dem weltlichen und dem kirchlichen, die Ent¬ scheidung behält.

So zeigt ihn Rethel als Bekämpfen des Heidentums im germanischen Land: seine erste entscheidende, für sein ganzes weiteres Wirken ihm die Verpflichtung der Durchführung auferlegende Handlung ist der Sturz der Irmensäule. Er beginnt den Kampf mit den Sachsen, die für die Kirche und den Staat gewonnen werden sollen. In den Ruhezeiten dieses fast dreißigjährigen Kampfes drängt Karl die Heiden in Spanien zurück und gründet die spanische Mark, besiegt er die Langobarden, die ebenso Feinde der Kirche wie seines staatlichen Lebens waren. In der Besiegung und Unterwerfung Witekinds, die mit der Taufe des Sachsenherzogs ver¬ bunden ist, spricht sich die endliche Erreichung des großen kulturellen und politischen Zieles an; da sendet Harun al Raschid seine Gesandten und erkennt die staat¬ liche Gestaltung des Frankenreiches an, das als welt¬ einflussheischende Großmacht seine ehrfurchtgebietende Kraft weithin fühlbar werden lässt. Karl’s Herrschaft über die Kirche zeigt sich dagegen auf dem Konzile zu Frankfurt: hier wird unter dem Gewichte seines Ein¬ flusses die Stellung des Bilderdienstes in der Kirche in einer den Götzendienst verschmähenden und die an¬ schauungsbedürftige Natur des Menschen berücksichti¬ genden Weise geordnet. So steht der Staat Karl’s des Großen auf der Höhe seiner Macht; nur eines fehlt ihm noch zu dauerndem Bestände: der gesicherte Übergang an den Nachfolger. Dies wird erreicht, indem Karl selbst noch den Sohn und Erben sich die Königskrone aufsetzen lässt.

Aber Karl’s Größe hat auch ihre tragische Seite. Er steht als Mittler da zwischen Germanen und Romanen. Er will sie zu einem großen Kulturvolk verschmelzen, dessen politische Gestaltung die eines wirklichen Staates wäre; ein solcher schließt die Teilung des Reiches unter

Jaljr tontini

©itgel mit beit licßten ScßWiitgeit, ScßWebe uieber auf bie BJelt! SBelcßcit Segen wirft bit bringen Statt bem ßoßett §imtuel§äeft?

Seine §aitb fiitfrt liebuinfcßlungen ©inen ßolbett ffiitabeit bar:

Sott bem fcf)önftcit ©(ans burcßbruttgeu Sft fein Slttge ließt tinb fiar.

geritab jießt auf feilten firiicfen SOiit bem Srieg Öa3 alte 8aßv : Um bie erbe 51t begtiicfen Sftaß’ft bit, ®iigcl, treu tutb Waßr.

Über beiitem Raupte gläusct §n beit Sßolfeit ßocß ba3 S'reits, Uitb ber Siuabe ift befranset SDJit ber Sitgenb fcßünftent 9teis.

©ltgel mit beit buft’geit Blüten,

Sföie bie ©oittte ließt uitb flar, eitgel, fegenSreicßer griebeit,

§eil bir uitb bem neuen S°ßt!

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Sa fteß’ icß am geiler, ba3 brennet fo Warm, Hub fet)’ in ber (ScfjHceffocfen tanjeubeit ScßWarnt, Hub fei)’ in beit froftigen Sßiltter ßinau3:

Ster bleibt ba ltitfjt gern uitb bepaglicß ju §att3?

Sclj finite ttnb prüfe: Wa3 fang’ icf) ittttt an? Sa3 Sebeit ift fürs uitb fo fei c3 getßait: Sa3 Butt) ift noeß leer uitb bie Blätter noch Weifi ; So fomnte bie greube, ißr sietnet ber ipreiS!

ffii, iljr muntern Buben, feib uießt gar 51t fett; ©et)t, bie Ijetle Sonne ift fcfjoit Wiebcr Weg. Scßmctterlinge fangen, ift jefit feßönfte 3eiD älber auct) jutn Stetten bin icß gern bereit.

9RU bem Sßinbe bieg’ icß (eben fefilauteit 9tft, ttnb bie große SBolfe ßab’ icf) fcßnell erfaßt. Seßt, feßou ftriimt ber Siegen tnaeßt, unb eilt nacl) §au3;

Seib ißt naß, fo tactj’ icf) eutf) noct) tiieptig au3!

Suftig, luftig ift ba3 Sebeit!

Stuf jjutn Sause fpiet’ ict) CSuct) ; greube, gtettbe Will icf) geben, Bunt uitb ßcitet ift ba3 iJteicß.

©ort ißr Ijeff bie §öruer Efiugeit ttnb ber pfeife inuitt’ren Xon? Stuf, mit Sanken ttitb mit Singen, Sagt beit finft’reit ©rain baboit !

Scß finge mit bem Bogel in jebetn grünen BWeig ttnb bring’ eilt ßolbeä ©tänbeßeti »011 ©liicf uitb Siebe etteß !

gd) fcfjiiitg’ mir in bie Soefeit be3 grüßfingS buft’= gcit Staus,

ttitb liießfe bureß bieBäuntemit ßellcm Soitnengfans.

Sie ÜBaitbrer gcßit boriiber unb ß Breit auf mein Sieb, ttnb leife faufte SBeßinut bitrcß ißre Seelen jieljt. Sie beuten an bie fjeimat, au3 ferne Sieb’ Woßl auef), ttnb feß’it ißr Singe leitcßten au3 jebem Blüteitftraucß.

Sonne, fcfjeiue Ijereiit ! fjier auf bellt ärmlicbeit Säger Scßlummert ba3 S'inb; fo bleicß, ad), uitb fo traut fiept e3 au3 !

Sonne, fcßeineßereiit! rotbeinenleitcßteubenStraßfen Xrcibcbc3brot)enbcn@aft3fiufteicnScl)atteuf)inaii§!

Sonne, fcfjeiue fjerein! Ser flehte Snabc aut genfter gaitgt beitteit leueßtettben ©taub, tiublicße greube im Blicf:

Sonne, fcfjeiue bereiit ! Scß Will bie SSege bir öffnen : ©iefje, beit geufterOorßang feßiebe icf) felbcr juriiet!

Juni.

§eiß ift bie Sonne, ißr gliißeitbcr Straßl Stattet ber 'Arbeiter entfige 3nßl- Socß an bet Duelle ift’3 feßattig unb tiißl: Sieße, ba treib’ icß mein ftoßlidjeS Spiel.

9?aßt fieß ein SRcibcßen, gar lieblicß unb fein, Dteicß’ icß beit Srunf ißr »0111 licßten ©cfteiit, ©eßeipfe bie Süicfle fo tlar unb fo rein, ScßÖpfe aueß Siebe unb ©liict mit ßinciit.

Monatsbilder von Alfred Rethel.

Juli.

Bit 01t]?.

September.

SRit emftem Schritt unb frommem Sinn Sie £eute in Sic Siirdje iielj’it ;

Sie preifeu ©ott mit Sobgefaitg Hub bringen ihrem Schöpfer Sauf.

Sebt, bev Polle Erntewagen Sie gnffer gefüllt, unb bic greube in§ §nu§ !

ScbtPoufet bitrci) bic gelber tjer! Sen elften Becher, toer leert iljn hier aus?

Seine Saft £attu er iaum tragen, Sort nafjet ein ©aft mit betn Sorbeer gehängt :

Unb ber guhrmaitu jubelt feijr. So fei ifjm al§ erftejn bie Sdjale trebeugt!

Hub burefj bie gelber geh' icT) ft i 11 ®iit recht fonntiiglicfjem ©efiibl Unb leis nur ue()m' id) liier unb bort Sas llnfraut au» bert Saaten fort.

Siel), unb mancljer Sinne gebet Sie Sßoefie ift’3 fie tebrt bei ibm ein:

Ser entfaH'nen Sifire itacl) : Er fcljeuft ihr als SBnccIjuS beu ftbäumenbenSöein.

SRüb er ibm äufantmenioeljet, „SlufäSBohtatlerffiötter!" Sa teert fie ihn au§

SBa§ berftreut am Stoben lag. Sa, Segen unb fpeü über ieg(ict)c§ £>au§!

Oit iHi er.

Schon loirb es tiiljl bie fötaler fitieit SSei ihrer Slrbeit bort unb hier.

Sa fcljüttelt er im Übermute Sie gelben 'Blätter auf« Rapier.

Sann lacht er au§ beit bellen Singen (Sr faitn nur lof unb fcljalfbaft fein! Sic SRaler aber hüllen fricrcitb Sich in bie toarmen SDtäntet ein.

BültEmüEr.

.§u, hu! SBie fauft ber KBinb!

Sftan fibt im loatmeit ßimmer Unb auf bic Siele fällt Se§ geuet'3 heller Schimmer.

Sa tommt er, tief berhüUt, llttb bringt manch’ Baubermäre; SBie fürchtet fiel) ba§ SSinb

Sieljt äugfttief) nach ber Schcere!

Bca'tulu'v.

Slngegünbet fiitb bie SBeiljnacbtltergeu Hub bie Stiuber laufdjett au ber St)iir. Sa, gitm lehtenmal, mit leerem iporne Sehen mir bie§ gabt ber greube hier.

Stoch sulcht giebt er fo froh unb reichlich Seine ©abeit, unb bann sieht er fort, Unb mit banterfülltem ®ergeit rufen SBir ihm nach ber Siebe Sdjeibeioort.

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g ycTJi , o

Bae Jaltr ixcfif .

3eit, mit beinern eruften Blicte gühr'ft and) bicfeS galjr bu fort! Einmal noch fcljaut er sitriicfe Stuf beit fcljou oerlaff’tten Ort.

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©ruft fein Singe, ba er fcljreitet gmmer ferner üoit bet SBett: Soch int Scheiben noch er beutet Stuf brci Stern’ am $immet3gett.

Siebe, Hoffnung, ja, itub ©taube, ©längen burcf) bie buittle Stacht Sort, too einft Oom ©rbeuftaubc gebet SRettfcfj gum ©liict erloacht.

ZUM GEDÄCHTNIS ALFRED RETHELS.

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die Hinterbliebenen des verstorbenen Königs ans. Dieser römische und auch romanische Grundsatz widerstreitet der Grundanschauung des germanischen Königtums, das seinen Landesbesitz wie einen Privatbesitz betrachtet und behandelt. Solche Gegensätze lassen sich zeitweilig durch die überwältigende Macht einer Persönlichkeit unterdrücken, ausgleichen lassen sie sich nicht, und so muss das Frankenreich Karl’s schon bald in den roma¬ nischen und den germanischen Bestandteil zerfallen. Damit ist auch der römischen Kaiserkrone ihre Wesens¬ bedeutung genommen; sie hat nur Sinn als Symbol der Weltmacht wenigstens in christlichen Landen; nun fällt sie dem Teile zu, der gerade den Staatsgrundsatz der römischen Staatsanschauung nicht zur Wahrheit machen kann. So ist die Kaiserkrone mehr eine Last als ein Schmuck, und wo sie bedeutende Persönlichkeiten zu Thaten reizt, kommen diese Deutschland wenig oder gar nicht zu gute; wo aber ein schwacher Fürst sich in dem Traum einer solchen Weltherrschaft wiegt, da wird ihr Zeichen und Titel zu einer herben Ironie.

Diesen Widerspruch der Thatsachen mit der Idee der Weltherrschaft hat Rethel tief empfunden; an ihm musste Karl’s Bestreben scheitern, und wenn er die Stellung seines Reiches noch aufrecht erhalten konnte, so lange er lebte, so lässt das nach seinem Tode unaus¬ bleibliche Hervorbrechen der Gegensätze doch sein Schaffen, dem bei aller Größe durch den Widerspruch seiner Voraussetzungen der Todeskeim inne wohnt, als ein tragisches erscheinen. Zur Darlegung dieser Seite verwendet Rethel die Erzählung, dass Otto IIP Karl im Grabe aufgesucht habe. Noch sitzt der Leichnam des großen Karl auf dem Throne; vor ihm kniet Otto, dem die fackeltragenden Begleiter ins unterirdische Gewölbe folgen. Schärfer kann der Gegensatz dessen, was Karl gewollt hat und was seine Nachfolger erreicht haben, nicht zum Ausdruck kommen: der tliatengewaltige Kaiser thront, noch im Tode majestätisch, der tliaten- arme Kaiser, der sich an der Idee des Weltkaisertums berauschte, der kaum ein Deutscher mehr war und der den Mittelpunkt des geträumten Weltreiches nach Rom legen wollte, das ihn aus seinen Mauern vertrieb, er, der so groß in seiner Vorstellung war, liegt klein vor dem einst wirklich Großen. Wie vergeblich aber war das Ringen des großen Kaisers, dessen Nachfolger nicht einmal die Einheit des Frankenreiches aufrecht erhalten konnten und statt dessen nach dem Trugbilde der Kaiserkrone griffen! Was für Karl Vollendung der welt¬ lichen Herrschaft war, wird für sie Beginn der Unter¬ jochung unter die geistliche Gewalt. Es ist als ob der Lichtschein, der das Totenantlitz überstrahlt, das Leben des Schleiern m hüllten bleichen Gesichtes für einen Augen¬ blick wiederbeleben wollte; aber Gram und Entrüstung ist es, was es ausspricht, die Ruhe des Toten ist vergebens gestört worden. Schon die Zeichnung, die uns der erste Entwurf giebt, lässt solche Stimmung

ahnen; zu vollem Ausdruck kommt sie in der herrlichen Farbenskizze in Aquarell, deren farbige Nachbildung als besonderer Schmuck hier beigegeben ist.

In der Ausführung bildet diese Darstellung das erste Feld; es ist als ob nun, nachdem wir mit dem Kaiser Otto den großen Toten gesehen haben, das ge¬ waltige Bild seines Lebens und Wirkens vor uns auf- stiege, das es uns begreiflich macht, wie der späte Herrscher aus dem von Karl überwundenen und erst durch ihn dem Reich eingefügten Stamme der Sachsen die allbeherrschende Hoheit eines unerreichten Vorbildes in so unerhörter Weise anerkennen kann. Dann erst entwickeln sich die großen Bilder, das erste weit über¬ ragend. Freilich war Rethel durch ultramontane Um¬ triebe von der Ausführung lange zurückgehalten worden, ja diese wurde ihm erst zugestanden, als er die miss¬ liebigen Darstellungen, Karl’s Machtentfaltung über die ganze Kulturwelt, wie sie sich in der Absendung der Botschaft Harun al Raschid’ s ausspricht, und sein Ei ngreifen in kirchliche Streitfragen, wie es entscheidend bei dem Frankfurter Konzile sich zeigte, durch andere Entwürfe ersetzt hatte: die Krönung des Kaisers durch den Papst und der Bau der Palastkapelle, bei dem der Papst den Kaiser durch Zusendung kostbarer Säulen unterstützt, lassen besser den Einfluss der Kirche hervortreten, dem sich nach dieser Auffassung auch der mächtigste welt¬ liche Herr willig fügt.

Rethel selbst hat nur die erste Hälfte des Cyklus ausgeführt: er tliat es schon mit innerem Widerstreben. Ihm war die Freskotechnik nicht sympathisch. Aber weit mehr hat zu dieser geringen Freude die Thatsache beigetragen, dass bei dem unablässig Weiterstrebenden die zwischen dem Entwurf und dem Beginn der Aus¬ führung liegenden sieben Jahre eine neue Richtung gezeitigt hatten, der gegenüber das ältere Werk schon veraltet war; sein Streben ging jetzt auf Lösung eines anderen künstlerischen Problems, das der dritten großen Epoche seines Schaffens ihren Charakter giebt.

Hatte er bisher seine Probleme aus Gegensätzen entwickelt, bei denen wenigstens die Möglichkeit des Sieges auf jeder der beiden kämpfenden Seiten voraus¬ gesetzt werden durfte, wenn auch die innere, man möchte sagen, die sittliche Berechtigung des Sieges immer nur auf einer Seite sein konnte, so erscheint jetzt als Problem der vergebliche Kampf der Menschen gegen eine Natur- übergewalt, vor der der Mensch in den Staub versinken muss. Setzt man dabei zunächst nur auf Seiten des Menschen ein sittliches Wollen voraus, so erscheint sein aussichtsloser Kampf gegen unbezwingliche Gewalten in tragischem Lichte: damit erhält der Kampf jene tiefere Bedeutung, wie sie entsteht, wenn an Stelle irdischer Kräfte im Verein mit Klugheit, Zufall, Glück als leitende Macht die allbezwingende Notwendigkeit tritt. I hr gegen¬ über giebt es zwei Stimmungen: Widerspruch und Ver¬ zweiflung, oder Einfügung des Einzelgeschickes in das

ZUM GEDÄCHTNIS ALFRED RETHEL’S.

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Weltgescliick und dadurch Trost und Beruhigung. Bethel hat diesen Kampf in sich selbst durchgekämpft; die ein¬ zelnen Phasen erscheinen in den Lösungen, die er dem ihm neu entgegengetretenen Probleme zu gehen weiß.

Zuerst taucht ihm das Problem des Menschenkampfes cgö-en die Natur iibergewalt aus dem Wesen der Natur selbst empor: er veranschaulicht ihn in dem Kampfe Hannibals gegen Rom, der bestimmt war, eine welt- geschichtliche Bedeutung zu erhalten, stellte er doch die Frage, ob die politische Weltherrschaft bei den Ariern oder bei den Semiten liegen solle. Der Künstler aber erfasst aus diesem Wettstreit nicht den Kampf von h iregnn Mensch, wie bisher, sondern den Kampf des Menschen gegen die selbstherrliche Natur, die sich

Ereignis stimmungsvoll im Widerschein seiner Wirkung auf die Nachlebenden ein. Alte Bergbewohner berichten der Jugend von dem Heere, das hier durchgezogen und die Berge hinaufgestiegen ist; Sturmbock- und Elefanten¬ schädel sind die noch vorhandenen Zeugen davon, dass es sich um Thatsachen, nicht um Märchen handelt. Und nun der Zug selbst! Gleich das erste Blatt zeigt auf den Alpen den drohend herabschauenden Berggeist: so wird den heranziehenden Karthagern der wahre Feind entgegengestellt. Und wie verteidigt er sich, von den Bewohnern seiner Berge kräftig unterstützt! Meisterhaft versteht es der Künstler, uns die Masse persönlich nahe zu bringen, indem er ein einzelnes Geschick herausgreift: in dem Schicksal eines Offiziers spiegelt sich das Los

Der Tod des b. Bonifatius. Von A. Bethec. Originalzeichnung.

nicht unterjochen lassen will und darum dem Übergang des Heeres über das menschentrennende Gebirge die furchtbarsten Schwierigkeiten bereitet. Hier muss die Masse den Kampf ausführen ; der Feldherr kann zwar führen und durch sein geistiges und moralisches Über¬ gewicht die Kraft der Seinen aufs äußerste spannen, ausgeführt muss der Übergang von den Truppen werden. Ihr Ringen, ihr Leiden, ihr Sterben oder Siegen ist darum der Gegenstand der Darstellung; der siegreiche Feldherr erscheint erst auf dem letzten Blatt; ihm er¬ möglicht das mit dem Verluste vieler Tausende errungene Gelingen den Kampf gegen die Menschen, der erst jetzt zu beginnen hat.

Auch hier führt der Künstler das unglaubliche

des ganzen Heeres im Kämpfen und Leiden und des größeren Teiles des Heeres im Sterben ab. So erfasst uns der Kampf von der menschlich sympathischen Seite: dem Leiden der Menschen ist unser Mitleiden gesichert. (Die Einzeldurchführung sowie die Entwicklung des Künstlers in seinen Einzelschöpfungen, von denen hier nur wenige herausgegriffen werden, findet sich in dem Buche : „Alfred Retliel. Eine Charakteristik von Veit Valentin“. Berlin, E. Felber. 1892.)

Hier war wenigstens für einen Teil der Kämpfer noch die Möglichkeit des Sieges vorhanden. Nun aber tritt in der zweiten Phase der Motiventwicklung ein Gegner auf, dem niemand zu widerstehen vermag: es ist der Tod selber. Von dem Gefühle der Unentrinnbarkeit

ZUM GEDÄCHTNIS ALFRED RETHEL’S.

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des Fürchterlichen erfasst, sieht der Künstler zunächst die herbe Seite der Thatsache: der lebenssichere Mensch glaubt gar nicht an die Macht des Todes: da bricht dieser unerwartet und fürchterlich herein und begleitet seinen Sieg mit Spott und Hohn. Es taucht wieder der alte Gedanke der Todentänze auf; packender und gewal¬ tiger sind sie niemals geschildert worden als von Rethel in seinen Todesbildern, zuerst in dem „Tod als Würger“ (1848): mitten in die Karnevalslust tritt der faschings¬ mäßig maskirte Tod und spielt selbst den Tänzern auf, die, von einem seiner besten Würgengel, der Cholera, erfasst, mitten im Taumel des Festes dahinsinken. Der Meister Tod versteht es aber auch die Zahl seiner Opfer zu mehren, indem er sie selbst verlockt; so zieht er in die aufständische Stadt, wühlt die verführbare Masse mit Erfolg auf, führt sie zur Barrikade und verhöhnt sie, wenn die Kugelsalven sie niedermähen; dann zieht der grässliche Sieger, froh seiner grauenhaften Thaten, wohl¬ befriedigt fort. Rethel nennt mit berechtigtem Stolze das Werk „Auch ein Todentanz“; es ist 1849 unter dem Eindruck des Aufstandes in Dresden geschaffen worden.

Nun tritt ein Wendepunkt ein, und damit zugleich die dritte Phase der Motiventwicklung. Des Künstlers bis zur Düsterkeit ernste Gemütsstimmung erheitert sich durch den frischen Lebensmut, den ihm das glückliche Ereignis seiner Verlobung mit Marie Grahl einflößt: was ihn damals beseelte, spricht er in dem reizvollen Braut¬ kalender aus (1850). All das Bittere der Zeit, das sich ihm in dem kulturzerstörenden Kriege verkörpert, wandert mit dem alten Jahre fort, das mühselig auf seinen Krücken weghinkt, und mit dem Füllhorn des Segens im Arme führt der Engel mit den lichten Schwingen den „holden Knaben“ herbei, in dessen Gestalt das neue Jahr erscheint: aber über dem Engel „glänzt in den Wolken hoch das Kreuz“, die furchtbare Notwendigkeit ist nicht mehr die blind wirkende, blind zerstörende Kraft; auch ihr Walten ist unter die Herrschaft einer sittlichen Macht getreten, durch die auch die Zerstörung als ein Wesenselement in der Weltordnung sich offenbart. Unter der Wirkung dieser Überzeugung kann der gegenwärtige Augenblick, so wie es die äußeren Umstände erlauben, heiter, neckisch, getrost erlebt werden, und wenn das Jahr scheidet, so bleiben doch die ewigen Sterne, Liebe, Hoffnung, Glaube, bestehen.

Auf Grund einer solchen, seelisch und sittlich ver¬ tieften Weltanschauung nimmt auch der Tod eine andere Stellung ein: freilich kommt er nach wie vor zu dem Menschen, aber nicht mehr als Würger, nicht mehr voll Hohnes und Spottes: er naht sich ihm als „Freund“. Das schafft Rethel 1851 in dem wundervollen Blatt, wie der Tod, der unablässig als Pilger die Weiten der Welt durchschweift, in die Turmstube tritt, den greisen Wächter friedlich hinüberschlummern lässt und selbst ihm das Todenglöckchen läutet, während das unaufhörliche Weiter¬ leben der Natur, das lustige Schmettern des Frühlings¬ verkünders, lehrt, dass es sich hier nicht um Vernichtung, sondern um eine Metamorphose handelt, dass „einst vom Erdenstaube jeder Mensch zum Glück erwacht.“

Mit aller Entschiedenheit, aber auch schon mit Aufwendung seiner letzten Kraft spricht Rethel diese Grundstimmung in den Blättern zu den drei ersten Strophen des Lutherliedes aus: nicht nur der Teufel, auch der Tod wird besiegt. Es war das im Jahre 1851, in dessen Herbst Rethel die Braut heimgeführt hatte. Bald befiel schwere Krankheit die junge Frau, und als sie endlich geheilt war und der Künstler dies in dem Blatte „Genesung“ gefeiert hatte, ward er selbst von unheilbarem Leiden ergriffen: des Denkgewaltigen geistige Kraft versagte zuerst. Allmählich erloschen auch die Kräfte des Körpers: der 1. Dezember 1859 erlöste den gebrochenen Mann von dem zur Bürde gewordenen Leben.

So trat dieser jammervolle Zusammenbruch des außergewöhnlich früh gereiften und auch allzufrüh an das Ziel seines Schaffens gelangten Künstlers in dem Augenblick ein, in dem ein bedeutungsvoller Wendepunkt ihm ein neues Ziel zu stecken schien. Das vollgültige Zeugnis dieses Wendepunktes liegt indem Brautkalender vor, der hier zum erstenmale veröffentlicht wird Wie berechtigt des Künstlers Seelenjubel war, spricht sich am besten in den liebenswürdigen Versen aus, mit denen die Braut die Gabe des Bräutigams beantwortet hat: eine bessere Erläuterung kann es zu dem Bildwerk nicht geben, als seine Spiegelung in der Seele der bräutlichen Dichterin, zwei Strahlen haben sich hier in vollendeter Harmonie vereinigt: vereinigt werden sie weiterglänzen, ein Dauerstern der Kunst und der Liebe.

VEIT VALENTIN.

Jo

Kirclie und Mausoleum zu Stadtkagem

DAS MAUSOLEUM DES FÜRSTEN ERNST VON SCHAUM¬ BURG ZU STADTHAGEN. ‘)

VON PROF. DR. HA UPI IN HANNOVER.

MIT ABBILDUNGEN.

0 manches wertvolle Denkmal der bilden¬ den Kunst aus alter Zeit liegt im deutschen Vaterlande noch unbeachtet, sozusagen un- entdeckt. Aber nicht allein das; selbst Prachtwerke ersten Ranges, die in Italien oder Frankreich ohne Aufhören seit ihrer Enstehung Wallfahrtsorte der Kunstfreunde und Kunst¬ jünger gewesen wären, harren noch heute vergessen in einem Winkel Deutschlands ihrer Wiederauffindung.

Das gilt im höchsten Maße von dem hier zu be¬ sprechenden Grabmale. Ein architektonisch bedeutender Kuppelbau von Palladianischer Größe umschließt das in Deutschland einzig dastehende Prachtwerk des Bronze¬ denkmals, die bedeutendste Schöpfung des Bildhauers Adrian de Vries; an Umfang seinen übrigen Arbeiten, selbst den beiden Brunnen zu Augsburg, und auch denen seines vielgepriesenen Meisters Giovanni da Bologna er¬ heblich überlegen, an künstlerischem Werte nicht geringer zu schätzen, obzwar der Schüler noch etwas mehr in den Banden des Manierismus befangen erscheint, als der Meister.

Der bezeichnete Kuppelbau befindet sich in der alten Hansastadt Stadthagen, der früheren Hauptstadt des Schaumburger Landes, in der Axe der gotischen Martini-

1) Eine Reihe wertvoller Nachrichten und Hinweise verdanke ich der Güte des kunsteifrigen Hofmarschalls a. D. von Meding Exc. in Bückeburg.

kirche hinter dem Chor und ist in den Jahren 1609 27 als Begräbnisstätte für den Fürsten Ernst von Schaum¬ burg-Holstein (1600 1622) und seine Nachfolger erbaut. Er dient als solche bis heute.

Der wunderbar fremdartige streng Palladianische Bau hinter der echt niedersächsischen Hallenkirche ist, wie das ganze eigenartige Auftreten des Fürsten Ernst, so recht ein Abfluss des mächtigen italie¬ nischen Kunststromes der Renaissance in das engere Bett des deutschen protestantischen Humanismus. Die heute noch vorhandenen Reste der Kunstschöpfungen dieses Fürsten, insbesondere in Bückeburg, atmen eine so leidenschaftliche Liebe zu den prächtigsten und üppigsten Mitteln des Renaissancestiles, ein so über¬ zeugtes unwiderstehliches Fortstürmen und Wirken auf dem Wege der Übertragung italienischer Kunst ins Nor¬ dischere, dass man nur hier völlig ermessen kann, welch herrliche aufblühende nationale Kunst durch den unglück¬ seligsten aller Kriege erdrückt ist. Dennoch bleiben die so wenig bekannten prachtvollen Dekorationen des Biicke- burger Schlosses und der Stadtkirche, die schwungvolle Fassade derselben, die Schlosskirche und die Ruinen des Schneckenberges beim Jagschlosse Baum mit die glänzendsten und selbständigsten Arbeiten der späteren deutschen Renaissance im Wendel Dietterlein’sclien Geiste.

Im Gegensätze dazu hat der kunstsinnige Fürst im Mausoleum zu Stadthagen seine italienischen Neigungen

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DAS MAUSOLEUM DES FÜRSTEN ERNST \rON SCHÄUMBURG ZU STADTHAGEN.

mul Beziehungen noch einmal völlig zusammengefasst, und so ist hier ein Werk entstanden, welches ebenso gut auch im italienischesten Florenz hätte stehen können, ein Werk aber auch, das demselben Geiste entspross, deru die gleichzeitige Mediceerkapelle dort ihre Ent¬ stehung verdankt.

Fürst Ernst ist in seinem ganzen Lebensgange und Wesen der Typus der damaligen hochgebildeten Herren in Deutschland, ein Geistesverwandter ebenso- sehr d ss glänzenden holsteinischen Heinrich Rantzau wie des bayerischen Kurfürsten Maximilian und des meck¬ lenburgischen Johann Albrecht.

Graf Ernst von Schaumburg -Holstein, einer der letzten direkten Sprossen des edlen Geschlechtes, welches schon im frühen Mittelalter einen Mann, wie den großen Grafen Adolf von Holstein hervorgebracht hatte, war als jüngerer Sohn 1570 geboren. Von Jugend auf edlem Streben ergeben, stiulirte er zunächst in Helmstedt, machte sodann aber große Reisen durch die damalige politische Welt, die ihn vor allem nach Italien führten. Dort weilte er länger in Bologna, sodann ergab er sich dem Studium des Jus 1588—91 in Florenz. 1593 und 159-1 hielt er sich dort wieder auf, inzwischen ins¬ besondere öfters und länger am Kaiserhofe zu Prag. Als er 1601 zunächst zur Mitregierung und später zur alleinigen Regierung seines Landes berufen wurde, da begann er in dem ländlichen niedersächsischen Winkel des Vaterlandes ein kleines Florenz zu schaffen, so weit sich das mit den anderen Bedingungen und seinen Finanzen vertrug. Denn in Beziehung auf die letzteren war Graf Ernst eine Ausnahme; trotz glänzender Grün¬ dungen und Bauten hinterließ er einen gefüllten Schatz.

Seine Beziehungen zum Kaiserhof in Prag dauerten ungemindert bis zu seinem Tode; er scheint oft dort geweilt und sich auch gelegentlich schwierigen diplo¬ matischen Geschäften gewidmet zu haben. So erhob ihn denn 1620 der ihn liebende Kaiser Rudolph II. in den Reichsfürstenstand.

Seine Liebe zu den Wissenschaften , sein echt humanistisches Wesen erwies sich iii jeder Weise, ins¬ besondere aber in der Gründung eines Gymnasiums zu Stadthagen, das er dann nach Rinteln übertrug und zum Range einer Universität erhob. Ein halbes Jahrhundert ungefähr hat diese Hochschule zum Ruhme Niedersachsens neben Helmstedt erfolgreich gewirkt.

Auf seinen vielen Reisen war aber der Graf mit einer Reihe bedeutender Künstler in Berührung ge¬ kommen, mit denen er eine dauernde rege Verbindung unterhielt. Insbesondere scheint er in Venedig Johannes Ilottmhamer näher kennen geleimt zu haben, dem er späterhin eine Reihe größerer Arbeiten übertragen haben muss. Vor allem scheint dieser bei der prachtvollen Einrichtung der Schlosskirche und des Schlosses beteiligt gewesen zu sein, möglicherweise sogar als Unternehmer; die künstlerische Gestaltung und Durchführung dieser

Arbeiten muss freilich in ganz anderen Händen gelegen haben, wie das Formale beweist.

Ich will an dieser Stelle gleich für künftige Ar¬ beiten auf diesem Gebiete vorausschicken, dass die eigen¬ tümliche Stilisirung der sämtlichen architektonischen Arbeiten in der Stadt Bückeburg getreuest im Geiste des Wendel Dietterlein durchgeführt ist, dass die orna¬ mentale Ausmalung der Schlosskirche dagegen ebenso genau den Ornamentstichen des Th. de Bry, und noch mehr des Nikolaus de Bruyn, die sich ja so sehr ähneln, entspricht.

Die ornamentalen Arbeiten für den Grafen Ernst zu anderem Zwecke zeigen ebenfalls wieder genau den Dietterlein’sclien Stil, wobei ich vor allem auf die zwei radirten Titelblätter der Schaumburger Chronik von Spangenberg verweise. Das eine dieser Blätter trägt versteckt das Monogramm NB, welches, wenn auf Nik. de Bruyn zu deuten, den Schluss gestattete, dass dieser für den Grafen die genannten architektonischen Arbeiten entworfen, sowie die Malerei des Gewölbes der Kapelle selbst ausgeführt hätte.

Woher der Kontrast zwischen diesen beiden Teilen? In Minden und Herford lässt sich in den neunziger Jahren bis gegen 1605 eine Gruppe Holzbildhauer nachweisen, die mit äußerster Geschicklichkeit im W. Dietterleiu’schen Geiste Orgeln, Altäre, Kanzeln u. s. w. schuf. Es scheint eine ganze Kolonie solcher freiwilliger Dietterlein-Schiiler dort vorhanden gewesen zu sein, die dem Grafen Ernst für seine Absichten so bequem und gelegen war, dass er die ganze Gesellschaft nach dem nahen Bückeburg verpflanzte. Vielleicht hat er gleichzeitig zur Bemalung der Gewölbe den Meister NB gewonnen, der dann mit der Bearbeitung der übrigen architektonischen Arbeiten für die Bildhauer , deren gewohnter Art er sich an¬ bequemen musste, betraut wurde.

Rottenliamer könnte der künstlerische Beirat und allgemeine Entrepreneur bei diesen Arbeiten gewesen sein. Erhebliche Arbeiten hat er ohne Zweifel für den Fürsten geliefert, wie er denn z. B. 1609 außer Zehrung und Kleidung nebst einer goldnen Kette eine Verehrung von nicht weniger denn 3334 Reichsthalern empfing. Ein Gesell von ihm, Tonnies, war eine Reihe von Jahren hier beschäftigt.

Doch ist die Thätigkeit Rottenhamers hier mög¬ licherweise auch eine andere gewesen, vielleicht hat er nur Gemälde geliefert und sich mit verwandten Dingen beschäftigt. Graf Ernst scheint seine Werke sehr ge¬ schätzt zu haben, da schon aus älterer Zeit die Nach¬ richt vor liegt, dass ein Fuhrmann aus Urbino, der ein Bild des Baroccio nach Bückeburg brachte, aus Venedig ein Quadro und vier Kupfer des Rottenliamer mitzunehmen hatte.

Diese Frage muss jedoch vorläufig offen bleiben.

Einen zweiten bekannten Maler beschäftigte der Fürst für seine Unternehmungen ebenfalls öfters, Joseph

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Heinz, den bekannten Lieblingsmaler des Kaisers Rudolf II. in Prag. Von ihm ist heute noch das in seiner Art prächtige, wenn auch höchst manieristische, letzte Gericht in der Schlosskirche zu Bückeburg vorhan¬ den. Heinz zeigt sich in diesem Bilde ganz im Geleise Spranger’s.

Derjenige Künstler jedoch, der den Grafen am dauerndsten gefesselt haben muss, dem er die umfassend¬ sten Aufträge übertrug, ist Adrian de Vries. Ernst mag denselben schon in Florenz kennen gelernt haben, wo der Bildhauer wohl damals noch bei Giovanni da Bologna arbeitete. Jedenfalls finden sich noch heute in Bückeburg und Umgegend zahlreiche Bronzewerke des Adrian vor. Ich will die beiden großen Gruppen, der Raub der Proserpina und Venus und Adonis im Biickeburger Schloss¬ garten , das herrliche bronzene Taufbecken (1615) in der Stadt¬ kirche, die beiden Sta¬ tuetten Adam und Eva in Schloss Arensburg, eine Reihe kleiner Pferde¬ modelle daselbst nennen, auch erwähnen, dass vor dem Schlossthore zu Bückeburg früher ein reicher Figurenbrunnen gestanden haben soll, der verschwunden ist.

Zu des Grafen letz¬ ter Ruhestätte, die er wie seine Vorfahren in der Martinikirche zu Stadthagen zu finden wünschte, sollte aber der damals auf der Höhe seines Schaffens stehende Künstler , dessen Ruhm durch seine zahllosen Arbeiten für den Kaiser Rudolf wie seine Prachtbrunnen für Augsburg die Welt durchdrang, sein Bestes leisten. So entstand der Plan zu dem herr¬ lichen Denkmal, welches auf einem Sockel den Sarkophag des Verstorbenen, umgeben von vier schlummernden Kriegern, als Bekrönung den auferstehenden Christus zeigen sollte, so die Auferstehung in allgemeinster Auf¬ fassung, zugleich angewandt auf den hier Bestatteten, darstellend.

Die beabsichtigten Verhältnisse gestatteten nicht die Aufstellung des Monuments in der Kirche, und so musste zunächst an die Herstellung einer geeigneten Umgebung gedacht werden. In dem Chor der Kirche an der poly¬ gonalen Ostwand standen schon eine Reihe von Denk¬

mälern; da ergab sich für den Bau eines neuen Begräb¬ nisses ganz natürlich der Eingang liier. So wurde ein eigener Bau in der Axe der Kirche mit dem Eingang hinter dem Altar geplant.

Für das so ganz in Florentiner Art gedachte Denkmal konnte man auch ein ganz florentinisch.es selbständiges Gebäude schaffen. Am nächsten lag seine Aufstellung inmitten eines Raumes, wie ihn die Mediceerkapelle bei S. Lorenzo bot, aber unter Vermeidung der dort gemachten Fehler, deren haupt¬ sächlichste, die peinliche Leere in der Mitte zwischen den prunkhaften Dekorationen der Gräber ringsum, die ungünstige Grundrissform, die allzu gleichmäßige Be¬ leuchtung und die unge¬ schickte Lage des Ein¬ ganges in einer Ecke zu vermeiden war.

Der Künstler, der liier zu walten hatte, musste das alles kennen und bewältigen. Deshalb war von einem Deutschen abzusehen. Vielleicht aus Italien her kannte der Graf einen höchst bedeu¬ tenden italienischen Ar¬ chitekten und Bildhauer, der in deutschen Landen schon seit Jahren mit einer ganz verwandten Aufgabe beschäftigt war. Maria Giovanni Nos- seni war gegen Aus¬ gang des 16. Jahrhun¬ derts der leitende Meister des kurfürstlich sächsi¬ schen Begräbnisbaues am Dome zu Freiberg. Auch dort hatte es sich darum gehandelt, als Verlän¬ gerung des Chors einen eigenen mächtigen Raum für die Aufstellung der Bronze¬ denkmäler ringsum zu schaffen. Auch dort hatte sich ein mächtiger Gewölbebau in italienischen Formen an den mittelalterlichen Kirchenbau angeschlossen.

So wandte sich denn der Bauherr an Nosseni nach Dresden, vermutlich bei einer Anwesenheit in Prag, wo er mit Adrian de Vries die gleiche Angelegenheit ver¬ handelt haben mochte. Die mündlich getroffenen Ver¬ einbarungen führten zu einem Kontrakte, der am 1. August 1608 auf dem Schlosse zu Bückeburg zwischen Ernst und Nosseni auf Grund der eingesandten Voranschläge zwecks der Übernahme des Baues des Mausoleums ab¬ geschlossen wurde. Es ist bemerkenswert, in wie jungen Jahren Ernst demnach seine letzte Ruhestatt bereits

Grundriss des Mausoleums.

Grabdenkmal des Fürsten Ernst von Scbaumburg.

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würdig zu erbauen in Angriff nahm. Die Absicht muss ihm schon in den ersten Jahren seiner Regierung ent¬ standen sein, da sie im achten bereits verwirklicht wurde. Es ist sicher nicht ohne Bedeutung, dass die Capella dei principi in Florenz nur vier Jahre älter ist.

1609 am 8. Juli traf von Nosseni das Modell zu der Grabkapelle, dazu der Steinmetzmeister Albrecht Dutthorn aus Dresden in Bückeburg ein, und nun be¬ gann der Bau.

Derselbe ist, wie der Grundriss zeigt, ein sieben¬ eckiger Kuppelbau. Diese seltene Form ist hier höchst logisch entwickelt. Vier Epitaphien, die des Fürsten, seiner Gemahlin, sowie seiner Eltern, sollten ringsum stehen; der Eingang sollte in der Axe sein; eine gleichmäßige Beleuchtung im Rücken des Beschauers sollte Denkmal und Raum ohne Gegenlicht ruhig er¬ hellen. Das ergiebt zusammen , zwei gleichmäßige Fensteraxen angenommen, sieben Axen ringsum. Über dem Eingänge ist das dritte Fenster angelegt, zwischen Kirche und Kuppelraum ein Gang eingebaut, um die Fenster nicht durch den Kirchenchor verdunkeln zu lassen.

Der Innenraum ist durch sieben geknickte korin¬ thische Pilaster in den Ecken mit ruhigem schweren Ge- bälke gegliedert. Darüber eine Kuppel mit Oberlicht¬ laterne. In den hinteren vier Seiten sind streng römische Ädikulen aufgebaut mit freistehenden korinthischen Mar¬ morsäulen. Die Fenster haben einfaches Maßwerk; das einzige nordische hier.

Das Außere zeigt ganz entsprechend korinthische Pilaster an den Ecken auf etwas höherem Sockel, da¬ zwischen Bogenfelder, über dem Gebälk eine Attika mit Kegeldach von Kupfer, sodann die schlanke Laterne mit kompositen Pilastern, ebenfalls mit Kupferdach, darüber eine Wetterfahne. Das Ganze ist ein stolzer strenger Quaderbau von echt Palladianischer Art, ja von alt¬ römischem Ernste.

Die Größenverhältnisse sind bedeutend : 10 m lichter Weite und 24 m lichter Höhe sind neben der Niedrig¬ keit der gotischen Landkirche beträchtlich, wie gegen¬ über den in dem kleinen Lande wie im Niedersäch¬ sischen überhaupt üblichen engen Räumen ungewöhnlich. Auch überragt der schlanke Kuppelbau die schwere und lange Masse der Kirche weithin sichtbar und stolz.

Die gleichmäßig ernst und streng durchgebildeten Einzelheiten des ganz außerordentlich gediegenen Quader¬ baues sind echt römisch, fast schmucklos, die Blätter der Kapitelle selbst ganz glatt, aber alles von genau über¬ legter und monumentaler Durchbildung und Wirkung. Die beigefügten Aufnahmen mögen dies am besten er¬ weisen. Es ist demnach wohl zu verstehen, dass die Herstellung des Modells, welches wir uns von beträcht¬ licher Größe zu denken haben, fast ein Jahr dauern konnte. Das Ergebnis macht dem italienischen Meister noch heute alle Ehre.

Wie erwähnt, hatte Nosseni die Verpflichtung über-

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nommen, den Bau für eine stipulirte Summe auszuführen. Aber schon 1611 erhebt er Einwendungen, da durch allerlei nicht vorhergesehene Zwischenfälle der Voranschlag sich als nicht zureichend ergeben hätte; da der Graf nicht ohne weiteres den Mehrforderungen nachgiebt, so wird der Bau eingestellt; nach zweijähriger Ruhe wird dann der Vertrag mit Nosseni völlig gelöst, und der Bau in eigener Regie des Grafen weitergeführt. Als Bauleiter tritt jetzt Antonius Boten auf, der das Werk gegen 1625 fertig gestellt hat. Der Bauherr war in¬ zwischen 1622 ohne Leiheserben gestorben, seine Gattin Hedwig, eine landgräflich hessische Prinzessin, führte den Bau zu Ende.

Das Material desselben ist innen und außen der ausgezeichnete Sandstein der nahen Bückeberge, bekannt unter dem Namen des Obernkirchener; im Inneren sind die acht freistehenden Säulen und der Fußboden aus mehr¬ farbigem, weißem, grauem und schwarzem Marmor, den ein Wilhelm Badocchio aus Mailand geliefert hat.

Im Friese der äußeren Pilasterordnung steht die Inschrift: Monumentum Prin: Ernesti Comitis H. S. quod anno MDCXX a vivo coeptum tertio post illustriss . ab- solvit vidua Hedewigis. Hiernach hätte der Bau nur 1620 23 gedauert. Dies entspricht obigen und anderen Nachrichten nicht genau. Vielleicht ist es so zu ver¬ stehen, dass von 1613 20 zunächst die Materialien be¬ schafft und vorbereitet, die Steinmetzarbeiten im Bruche hergestellt wurden, eine Wiederaufnahme der Bauarbeiten an Ort und Stelle in größerem Maßstabe aber erst 1620 erfolgte, nachdem durch Adr. de Vries 1618 20 die be¬ stellten Bronzefiguren ebenfalls abgeliefert worden waren. Die Nachrichten stimmen darin ebenfalls damit, dass nach 1613 die Arbeiten in äußerst langsamem Tempo vorgeschritten seien.

Vielleicht war dem Grafen durch die Differenzen mit Nosseni der Bau verleidet, und erst der Reichsfürst, der wohl gar schon seine Gesundheit wanken und sein Leben sich neigen fühlte, mochte den Gedanken seiner ersten Manneszeit, sein Andenken in glänzendster künstlerischer Form der Nachwelt zu überliefern, wieder mit neuer Kraft in sich erwachen fühlen.

Die innere Ausstattung dürfte noch einige Jahre in Anspruch genommen haben. Wenigstens tragen die beiden Gemälde des A. Boten unter den Fenstern die Jahreszahlen 1626 und 1627.

Der Bau im Innern ist, wie gesagt, ebenfalls in Sandsteinquadern ausgeführt. Sieben korinthische Pi¬ laster ohne Sockel fassen eine Bogenstellung in sich, welche an den vier dem Eingänge gegenüber liegenden Seiten mit je einer von zwei freistehenden korinthischen Marmorsäulen und dazugehörigen Pilastern getragenen Ädikula, auf breitem Sockel mit Flachgiebel bekrönt, ausgefüllt werden. Oberhalb des Giebels befindet sich, von zwei geflügelten Putten in Bronzefarbe gehalten, in einer Art Kartusche je ein Allianzwappen.

Figuren vom GralxieuUmal iles Fürsten Ernst von Selianmlmrg.

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Der Sockel enthält in viereckigem Felde lateinische Distichen zum Lobe der Toten.

So weit die Architektur nicht aus Marmor herge¬ stellt ist, hat man sie marmorartig in Ölfarbe bemalt, auch die Kanelluren der Pilaster sind so nachgeahmt. Dennoch ist der Eindruck ein würdiger und würde, falls die Marmorteile wieder einmal aufpolirt werden würden, der Rest gründlich gereinigt wäre, unter Entfernung der Spuren einer Restauration aus dem Anfänge dieses Jahr¬ hunderts (insbesondere ist die modernisirte Schrift störend) ein wahrhaft glänzender sein können. Hierzu trägt der reich gemusterte Marmorfußboden, der ebenfalls aus Italien bezogen ist, besonders bei.

Im Fries befindet sich ein bescheidenes Akanthus- ornament, der einzige Schmuck dieser Art hier. Die Gewölbe sind in Fresko bemalt; die sieben Felder, mit Rah¬ menwerk eingefasst, enthalten musi- zirende Engel ; die Kuppel der Laterne Engelsköpfchen. Diese Fresken sind etwas sehr rot, gelb und blau, in der bekannten Disharmonie des Fresko, wenn die Farben durchwachsen und ausbleichen, im übrigen wohl gezeich¬ net und würdig. Ihr Maler dürfte Antonius Boten sein, derselbe, der die beiden Ölbilder unter den Fenstern malte und den Bau nach Nosseni fer¬ tig stellte.

Diese letztgenannten Gemälde in schwarzen Holzrahmen füllen den leeren Sockel unter den beiden Seitenfen¬ stern aus und stellen die Auferstehung des Fleisches und die Auferweckung des Lazarus dar. Sie tragen die In¬ schriften: Antonius Boten idem ille qui monumentum hoc architectatus est, pinxit anno MDCXXVII, das zweite:

Antonius Boten MDOXXVI. Die beiden Bilder sind in der That tüchtig gemalt, weit weniger manieristisch als die gleichzeitigen der Spranger und Heinz, von einer gewissen Noblesse und Ruhe, die viel¬ leicht dem Architekten zuzuschreiben ist; in der Farbe freilich ohne große Tiefe und etwas bunt, aber von einer gewissen Liebenswürdigkeit und Weichheit.

Was der Ausdruck „architectatus est“ genau sagen will, ist nicht völlig deutlich. Zunächst jedenfalls, dass A. Boten die Bauführung und architektonische Leitung des Baues gehabt habe. Die erforderlichen Detailzeich¬ nungen für die Steinmetzen können wohl noch von Nosseni her vorhanden gewesen sein; andrerseits wäre es möglich, dass dieselben auf Grund des Modells nach der neunjährigen Stagnation des Werkes von Boten herrührten. Sodann wird er die Ausmalung im Inneren besorgt haben; die Farbe und die Formen der Fresken

erinnern durchaus an die der beiden Ölbilder. So haben wir dem Meister vor allem die musterhafte Durch¬ führung des Quaderbaues wie die eigentliche dekorative Fertigstellung zu danken.

Das Ganze bis jetzt besprochene bildet aber nur den Rahmen für das eigentliche Denkmal, des Adrian de Vries Meisterwerk. Die Ausführung der Bronzen erfolgte zu Prag in den Jahren 1618 20.

Die einzelnen Stücke sind bezeichnet: Adrianus Fries F. 1620, Adrianus Fries Hagiensis Batavus Fecit 1618, 1619 u. s. f.

Der Aufbau des Monuments ist derart einheitlich und vorzüglich, dass wir dem Bildhauer die gesamte Komposition gleichmäßig zuschreiben müssen und wohl annehmen dürfen, dass der Marmor¬ sockel und Aufbau nach genauem Modell desselben in Italien angefertigt und hierher transportirt ist.

Derselbe besteht zunächst aus einem länglichen Unterbau auf schwar¬ zer Marmorstufe mit abgerundeten Enden, auf welchem die vier bronze¬ nen Wächter sitzen, von weißem Mar¬ mor mit grauem Fuß und Gesims. Dieser Unterbau zeigt auf den vier Seiten bronzene Reliefs eingelassen, nach vorn das Wappen des Fürsten mit zwei Männern, die es halten, auf den beiden gebogenen Seiten den Ruhm mit Lorbeerkranz und Palme, sowie die Fama mit der Trompete, hinten eine Abundantia mit Füllhörnern, alle drei Reliefs im malerischsten Stil prächtig und schwungvoll gehildet.

Der vordere und hintere Wäch¬ ter sitzen direkt auf dem Gesimse auf, die an den Schmalseiten höher auf einem viereckigen Postament, dessen Seiten mit trefflichen Krieger gestalten in flachstem Relief belebt sind.

Diese vier Guardiani, etwas überlebensgroß, ge¬ hören sicher zu den malerischsten und prachtvollsten Arbeiten der neueren Plastik. Die beiden seitlichen sitzen noch in tiefsten Schlaf versunken auf Speer und Bogen gestützt, der auf der Rückseite scheint zu er¬ wachen, der nach vorn fährt erschreckt und geblendet in die Höhe. Die schlanken und sehnigen Körper, ihr reiches Muskelspiel, ihre lebhafte Bewegung und Wen¬ dung, die malerische Behandlung des Gewandes und der Waffen, alles das wirkt mit der lebendigsten Silhouette zu einer ganz außerordentlichen Erscheinung zusammen. Zwischen den Wächtern trägt ein kleiner schwarz¬ marmorner Sockel von gleicher Grundform wie der un¬ tere vier Löwen, auf deren Rücken der schräg gefäßartig sich erweiternde Sarkophag sich erhebt. Diese Löwen sind

Vom Grabdenkmal des Fürsten Ernst von Schaumburg.

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das wenigst Erfreuliche des Ganzen; allzuklein im Ha߬ stal). sind sie hager und nicht geschickt bewegt. Dagegen ist das ovale Relief der Vorderseite des Sarkophages das Porträt des Verstorbenen, von hervorragender Schön¬ heit, sowohl was die bedeutende Auffassung des mächtigen viereckigen Kopfes mit dem wallenden Haar und dem kurzem Knebelbart anlangt, wie in Bezug auf die präch¬ tige Ausgestaltung des Harnisches, des Spitzenkragens, des Gewandes und des sonstigen Beiwerkes.

Auf der Rückseite zeigt das Gegenstück in Relief Saturn mit Stundenglas und Hippe, auf dem Himmels¬ bogen mit den Zeichen der Monate sitzend; ebenfalls wieder ein hochmalerisches und prächtig behandeltes Relief. Gerade darin entfaltet der Künstler eine ganz hinreißende Verve und Kraft; im höchsten Maße jedes Mittels und jeglichen Kniffes Meister, hat er in diesen Bildern“, wie er sie selbst nennt, kleine Meisterstücke geschaffen. (Sein bestes auf diesem Gebiete allerdings dürften die vier Paradiesesflüsse um das Taufbecken der Kirche in Bückeburg sein.)

Auf dem Sarkophage an den vier Ecken sitzen wieder vier Bronzestatuen, geflügelte Putten in mannig¬ faltiger Bewegung, die den Auferstehenden umgeben, den Gläubigen gen Himmel weisend.

Den großartigen Abschluss des Aufbaues bildet die Kolossalstatue des auferstehenden Christus, gen Himmel deutend, die Kreuzesfahne in der Linken. Der Maßstab dieser Figur ist fast um l/3 größer, als der der Wächter; mächtig sind ihre Formen gebildet, von großartigem Wurf und Schwung erscheint die Gestalt des Erlösers, die sich lebhaft bewegt auf das linke Bein stützt, die linke Hüfte stark vorgeschoben, den Kopf ein wenig theatralisch nach rechts gedreht. Die ganze Gestalt ist hochbedeutend und mächtig aufgefasst, freilich nicht ganz ohne Manierismus, der Kopf schön und von ausdrucks¬ voller Milde.

So baut sich das ganze Denkmal auf, von mannig¬ faltigstem Umriss der einfassenden Bronzen, doch von ruhigster Monumentalität durch den höchst edlen archi¬ tektonischen Körper des Sockels und Sarkophages. Ich wüsste keinen ähnlichen Aufbau jener Zeit, der in gleichem Maße Großartigkeit und Monumentalität mit Leichtigkeit und edlem Umrisse vereinigte. Die Augs¬ burger Brunnen haben ja leider späterhin umgestaltende Erneuerungen ihres Steingerüstes erfahren, vielleicht, weil der Marmor der Witterung nicht Stand gehalten hatte. Um so mehr erfreuen wir uns hier der voll¬ kommen erhaltenen ursprünglichen Einheit. Hat ja selbst der Sockel am großen Kurfürsten in Berlin ganz erhebliche Änderungen erlitten!

So stehen Kuppelbau und Denkmal noch heute fast

unberührt, eines der besten Werke jener Zeit, einen der bedeutendsten Eindrücke gewährend. Der archi¬ tektonische Raum, mit Berechnung stark in die Höhe gestelzt, erscheint im schönsten und ruhigsten Verhält¬ nisse, in harmonischer farbiger Stimmung; alles einzelne ist von straffer und mächtiger Bildung, fast völlig frei von irgend einer Schwäche der barocken Zeit.

In den vier Bogenfeldern der vier Baldachine und auf ihren Sockeln reden lateinische Inschriften von dem großen Fürsten und seinem Weibe, wie von seinen Eltern, sichtlich von einem der gelehrten Männer der Universität Rinteln, die jener gegründet, verfasst, auch so ein Ausdruck des humanistischen Wesens, das alles hier bestimmt hat.

Ich lasse die des Fürsten und der Fürstin hier folgen :

B. M. S. Illustrissimus Princeps Ernestus comes Holsatiae Schauenburgi et Sternbergae dominus Gehmae augusto virtutum omnium consensu gloriosissimae gentis suae magnum et diu felix decus hoc se monumentum post fata componi vivus postulavit cuius hunc voti compotitus orbem immensi semper conatus actorum habebit praeconem vixit annos LII menses III dies XXIV horam I excessit, MDCXXII XVII Januarii.

B. M. S. Quod parentum umbrae nati acceptum ferunt observantiae illustrissima Ernesti coniux Hede- wigis magni inter famigerabiles Wilhelmi Hassiae Land- gravii tilia suo sibi id jure vendicavit marito namque superstes quum ipsum hoc quod ille cogitaverat lauda- tissima effectum dedit industria tum vero principali virtutum claritudine in omnem memoriam duraturo venire meruit testimonio vixit annos LXXV menses dies XII emigravit a MDCXLIV VII Julii.

Mit Rührung betrachten wir noch zum Abschied das Gemälde, das an einem Pilaster links aufgehängt ist, in halber Figur einen Mann darstellend, der auf den Kissen seines Bettes entschlummert ist, die Hände gefaltet, den Ernst des Todes auf dem Antlitz; das Bild des Fürsten Ernst auf dem Totenbette.

So manches große Werk alter deutscher Kunst schlummert noch unbeachtet in seinem Winkel. Je mehr wir aber in wieder erstarktem Nationalgefühl auch die Heimat zu schätzen beginnen, desto größer wächst der Schatz an nationalen Besitztümern heran. Wenn es einst möglich sein wird, einen lückenlosen Überblick über die künstlerischen Werke unserer Vorfahren zu gewinnen, dann werden wir zweifellos erkennen, dass auch unser Vaterland ganz vollwertig in der Reihe der kunstübenden Völker gestanden hat.

Abb. 4. Bischof Bernward und Kaiser Heinrich II. Nach dem Wandgemälde von Hermann Prell im Rathause zu Hildesheim.

(Aus dem Werke: Prof. Herrn. Prelis Wandgemälde in der Rathaushalle zu Hildesheim. Berlin Verlag von Hessling & Spielmeyer.)

Abb. 3. "Verherrlichung Schinkels. Nach dem Wandgemälde von Hugo Vogel im Bathause zu Berlin.

NEUE MONUMENTALMALEREIEN IN PREUSSEN.

VON ADOLF BOSENBERG.

MIT ABBILDUNGEN.

ER sich der Aufgabe unterziehen wollte, JJ die. während der letzten zwei Jahrzehnte in Preußen entstandenen monumentalen Mm Malereien einer rücksichtslosen Kritik allein unter dem Gesichtspunkte ihres ab¬ soluten künstlerischen Wertes zu unter¬ ziehen, der müsste sich darauf gefasst machen, in ein Wes¬ pennest zu greifen. Man glaubt schlechterdings nicht, wie viele Instanzen in Preußen mit drein zu reden haben oder sich auch unbefugt hineinmischen, wenn eine Wand oder gar ein ganzer Raum in einem staatlichen oder städti¬ schen Gebäude mit einem oder mehreren Gemälden ge¬ schmückt werden soll. Dabei begiebt sich sogar das Auffallende, dass große städtische Gemeinwesen, die wegen kommunaler Angelegenheiten mit den Staatsbe¬ hörden oft in die heftigsten Fehden geraten, sich über Kunstsachen mit den Gegnern versöhnen und nach dem altbewährten Grundsätze,- dass eine Hand die andere wäscht, gemeinsame Sache machen. Wenn ein hoher Staatsbeamter einmal einen von ihm protegirten Maler den Behörden seiner Stadt empfiehlt, warum sollte nicht auch ein Stadtrat seinem Schutzbefohlenen zu einem großen Staatsauftrage verhelfen V

Bei der großen Empfindlichkeit der leitenden Männer unserer Epoche, deren Nervosität vermutlich auf ihre auf¬ reibende Thätigkeit zurückzuführen ist, wollen wir ihnen Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 1.

keine Ursache geben, ihre kostbare Zeit durch Anrufung des Staatsanwalts gegen einen Störer ihrer Kreise zu kürzen. Wir verzichten deshalb darauf, auf einzelne Auf¬ träge hinzuweisen, bei denen das Können des Empfängers in schroffem Missverhältnis zu der ihm gewordenen Aufgabe steht oder stand. Denn über einigen dieser Bevorzugten hat sich bereits das Grab geschlossen. Aber ein paar Fragen werden uns gestattet sein, ohne dass wir zu be¬ fürchten haben, berechtigte Empfindlichkeiten zu ver¬ letzen. Warum duldet man es, dass einige der zur Aus¬ schmückung des Kaisersaales in Goslar bestimmten Ge¬ mälde auf Leinwand ausgeführt werden, statt, wie es mit den ersten geschehen ist, unmittelbar auf die Wand gemalt zu werden? Heißt das eine Förderung der Monumentalmalerei? Oder übt man diese Rücksicht nur, weil dem greisen Schöpfer dieser Bilder bei seinem hohen Alter die Beschwerlichkeit erspart werden soll, in kalter und rauher Jahreszeit an Ort und Stelle zu malen? Das hätte man bei der Erteilung des Auftrages berück¬ sichtigen sollen und entweder von vornherein Gemälde auf Leinwand bestellen oder die Ausführung der Arbeit einer jüngeren Kraft übertragen sollen. Eine solche Rücksicht auf das Alter kommt aber bei den Bildern aus der Faustsage nicht in Betracht, die Eduard Kämpffcr für das Rathaus in Erfurt gemalt hat. Wenn sein Lehrer Janssen sich der Mühe unterzogen hat, die Dar-

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NEUE MONUMENTALMALEREIEN IN PREUSSEN.

Stellungen aus dev Geschichte dev Stadt im Festsaale des Rathauses an Ovt und Stelle unmittelbav auf die Wand zu malen, so hätte es dev Schülev auch tliun müssen, und wenn etwa die mangelhafte Beleuchtung dev auszuschmückenden Räume dem Kiinstlev Schwierigkeiten bereitet haben sollte, so lässt sich dagegen einwenden, dass in einem Raume, wo der Maler nicht malen kann, auch dev Beschauer nichts sehen kann. Und ist es nicht gerade jetzt, nachdem man schnell der Hellmalerei in freiem Tageslicht, in der Natur selbst überdrüssig geworden ist, ein Sport der jungen Maler geworden, bei kiinst- lichem Licht zu malen und sich dabei die schwierigsten Beleuchtungsprobleme zu stellen? Einer Willkür, die viel¬ leicht nur aus Launen junger Künstler, die sich Monate lang in einer kleinen oder Mittelstadt nicht „begraben“ wollen, entsprossen ist, sollten die Behörden, die über solche Aufträge zu entscheiden haben, jedenfalls nicht länger nachgeben. Wir haben Beispiele genug ans der neuesten Zeit, dass sich die gleichmäßige Durchführung großer Cyklen von Wandmalereien in monumentaler Technik wohl ermöglichen lässt, wenn die überwachenden Be¬ hörden nur die nötige Energie entwickeln.

Die beiden größten Cyklen dieser Art sind die Wand- und Kuppelgemälde in dem zu einer Ruhmeshalle für das brandenburgisch-preußische Heer umgewandelten Zeughause und in den Korridoren und dem Treppenhause des Rathauses zu Berlin. Wenn man nichts anderes zu ihrem Ruhme sagen kann, so ist es doch das eine, dass sie alle auf die Wand gemalt worden sind, obwohl einzelne Künstler mit dieser Technik ganz und gar nicht einverstanden waren. Das lag aber an der Wahl der mit der Ausführung der einzelnen Gemälde betrauten Kräfte, und damit kommen wir wieder auf einen wunden Punkt, an dem nur schwer zu rühren ist. Bei der Aus¬ schmückung des Zeughauses lag die oberste Entscheidung in der Hand KaiserWilhelms I., der einem sachverständigen Beirat auch in künstlerischen Dingen niemals sein Ohr verschloss, der aber gerade bei den Zeughausbildern seine persönlichen Erinnerungen und seine Wünsche gegen die Einwände der Künstler behauptete und außerdem noch bei der Erteilung von Aufträgen einen der Grundzüge seines Wesens, das Gefühl der Dankbarkeit, walten ließ. So erhielten einige um die Kriegsmalerei wohlverdiente Künstler monumentale Aufträge, denen sie weder geistig noch technisch gewachsen waren, und Künstler, denen das Schaffen im monumentalen Stil geläufig war, mussten sich Änderungen in ihren Kompositionen gefallen lassen, die ihrer künstlerischen Überzeugung widersprachen. Da¬ durch ist aus dem malerischen Schmuck der Herrscher- und Ruhmeshalle des Zeughauses ein Bilderbuch geworden, in dem nur wenige Seiten echte Kunstwerke enthalten. Man könnte wohl die großen Malereien an den Schild¬ bögen und im inneren Ring der Kuppel der Herrscher¬ halle von Friedr. Geselschap dazu rechnen, wenn sie nur in einem geistigen und körperlichen Zusammenhänge mit

den anderen Wandgemälden ständen. Es ist sehr schön gesagt, wenn man den Zusammenhang künstlich so deutet, dass der menschliche Geist nach der Betrachtung des Irdischen das Bedürfnis fühlt, zu idealen Dar¬ stellungen emporzusteigen, in denen das Göttliche und das Ewige von allen irdischen Schlacken befreit ist. Tu der Wirklichkeit besteht diese ästhetische Phrase aber eine sehr schlechte Prüfung. Der moderne deutsche Volksgeist will schlechterdings nicht , dass uns die höchsten Ideale der Vaterlandsliebe , des Familien¬ sinns, der Mannestugend, der Tapferkeit und Gerechtig¬ keit durch Triumphzüge römischer Krieger und durch unverständliche Allegorien in Cornelianischem Stile ver¬ körpert werden. Er will die Geschichte unserer Zeit gegenständlich, nicht symbolisch behandelt wissen, und darum hat Anton von Werners Rundbild an der Ber¬ liner Siegessäule „die Einigung der deutschen Stämme“, in dem das realistische Element mit dem allegorischen so geschickt vermischt ist, dass nichts Rätselhaftes übrig bleibt, eine bei weitem größere Volkstümlichkeit er¬ reicht als die mit viel mühevollerem Aufwand von Fleiß und Arbeitskraft konstruirten Malereien von Geselschap, von denen man sich den Anfang einer neuen Epoche der Monumentalmalerei versprochen hatte.

Wenn diese, wie es eigentlich in ihrem Wesen und Zweck liegt, nicht bloß künstlerisch bedeutend, sondern auch volkstümlich sein soll, muss sie sich zu einem Kompromiss verstehen. Nur wenigen der Maler, die die großen Repräsentations- und Schlachtenbilder im Zeug¬ hause gemalt haben, ist die Lösung dieser Aufgabe ge¬ lungen. Einige haben vergrößerte Ölgemälde auf die Wand übertragen, andere haben Illustrationen zu einer im Generalstabswerk geschilderten Episode ins Große, damit aber auch ins Leere gesteigert. Auf den monu¬ mentalen Stil, der vor allem eine geordnete Komposition und bei dieser - wir brauchen mit Absicht einen militärischen Ausdruck volle Frontentwicklung ver¬ langt, haben sich nur wenige verstanden. Am besten haben es Georg Bleibtreu in dem die Besichtigung der Freiwilligen in Breslau 1818 darstellenden Gemälde, Anton v. Werner in seiner Kaiserproklamation in Ver¬ sailles, Fritz Roeber in der Ansprache Friedrichs des Großen an seine Generale vor der Schlacht bei Leuthen und Peter Jctnssen in seiner Episode aus dem Schlachttage bei Torgau gethan, die die Begegnung Friedrichs mit Ziethen am Morgen nach dem Siege darstellt (s. Abb.l). Wenn je¬ mand einen Typus für eine vollkommene Verbindung der architektonisch gebundenen Wandmalerei mit der modernen Wahrheitsliebe suchen will, kann er kein besseres Bei¬ spiel als dieses Gemälde finden: es ist komponirt, aber in jeder Einzelheit offenbart sich ein Studium der Natur, das die erste Voraussetzung zu so vollendeten Schöpfungen ist.

In den Bildern des Berliner Rathauses hat man noch mehr das Gegenständliche, d. h. das realistisch Zufällige walten lassen. Selbst Bleibtreu , der immer die Fahne

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Abb. 1. Begegnung Friedrichs des Großen und Ziethen nach der Schlacht bei Torgau. Nach dem Wandgemälde von Peter Janssen

in der Feldherrnhalle des Berliner Zeughauses.

NEUE MONUMENTALMALEREIEN IN PREUSSEN.

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des monumentalen Stils hoch hielt, hat sich hier zu einem Genrehilde herbeigelassen, der Pflege der \ erwundeten nach der Schlacht bei Großbeeren durch hilfreiche Ein¬ wohner Berlins. Es ist reich an gut beobachteten Einzelheiten, vortrefflich gemalt. Aber der Gegenstand eignet sich nicht für monumentale Darstellung. Von dem, was di.-si- verkamt, hat die vortreffliche, gemischte Deputation der städtischen Behörden, die das Programm für die Ausschmückung des Rathauses aufgestellt und mit seiner Ausführung die ihrer Ansicht, nach geeigneten Künstler beauftragt hat, anscheinend nur eine geringe Meinung gehabt. Wenn es sich darum gehandelt hat, leere Wände zu füllen, so hat sie ihre Aufgabe pro¬ grammmäßig erledigt. Die Kunst hat, soviel sich bis jetzt überblicken lässt, nur wenig dabei gewonnen. Aller¬ dings harren noch die Hauptbilder, drei riesige, figuren- reiche Kompositionen, an denen der Maler Mühlenbruch seit etwa acht .Jahren arbeitet, der Vollendung. Sie bilden den Schmuck dreier Wände des oberen Treppenhauses und sollen nach dem Programm die Wiederaufrichtung des deutschen Kaiserreichs und die Erhebung Berlins zur Reichshauptstadt darstellen. Als der Maler plötzlich aus der Konkurrenz als Sieger auftauchte, erfuhr man über ihn nur, dass er bis dahin als Maler bei der könig¬ lichen Porzellanmanufaktur thätig gewesen war. Er wurde aber von einigen freundwilligen Zeitungen als ein ganz ungewöhnliches Genie , das bis dahin im Ver¬ borgenen geblüht hatte, ausposaunt, und andere Zeitungen, deren Referenten dieses Genie aus den Konkurrenz¬ entwürfen nicht herausgefühlt hatten, wurden in brüskem Ton wegen ihres Widerspruchs gegen die wohlweise Jury zur Ordnung gerufen. Man hat seitdem nichts von diesem neuen Genie gehört und nur wenig gesehen, da die allmählich fertig gewordenen Bilder nur für kurze Zeit den Besuchern des Rathauses enthüllt worden sind. Da der Künstler es als sein Recht beanspruchen darf, dass man sein Werk erst nach der Vollendung beurteile, verzichten wir jetzt auf eine Kritik, in der freudigen Erwartung eines ganz ungewöhnlichen Ereignisses auf dem Gebiete der deutschen Monumentalmalerei.

Für jetzt müssen wir uns mit den abgeschlossenen Arbeiten begnügen, und unter ihnen finden wir wenigstens einige, die das künstlerische Empfinden, das von der Wandmalerei monumentalen »Stil im Verein mit der vollen Wirkung des modernen Kolorismus verlangt, durchaus befriedigen. Es sind die allegorischen Sopraporten und historischen Gemälde, die Josef Seheurenberg und Ilugo Vogel in der Vorhalle ausgeführt haben, durch die man zu dem Sitzungssaal des Magistrats gelangt. In der ihm zugeteilten Supraporte hat Seheurenberg den Handel und den Schiftährtsverkehr Berlins durch allegorische Figuren versinnlicht, während er in dem Geschichtsbilde seinen realistischen Sinn, aber unter den strengen Ge¬ setzen der monumentalen Komposition, walten lassen konnte. Er hat darum diesem Gemälde, das unsere

Abbildung 2 reproduzirt, nur einen allgemeinen Titel gegeben: die Übergabe einer Raubritterburg an den ersten Hohenzollern, den Burggrafen Friedrich von Nürn¬ berg, der sein märkisches Lehen erst Schritt für Schritt den trotzigen Adelsgeschlechtern abkämpfen musste. Der Künstler hat hier eine Reihe von folgenschweren Er¬ eignissen zu einem typischen Bilde zusammengefasst, das den Abschluss einer Epoche darstellt. Sie gipfelt für die Erinnerung der Nachwelt in der Bezwingung der Burg Friesack, mit der der Name der gefürchteten Quitzows verbunden ist, und an sie hat der Künstler auch gedacht, als er die Grundlagen für seine Kompo¬ sition feststellte, in der der Triumph der siegenden, Recht, und Gesittung wiederherstellenden Macht über rohe Gewalt und Gesetzlosigkeit gefeiert wird.

Kommt hier der Beginn des Kolonisationswerkes der Hohenzollern mit dem Schutz bürgerlicher Friedens¬ arbeit und des durch sie gewonnenen Eigentums zur An¬ schauung, so hat Hugo Vogel auf seinem Hauptbilde, das dem Scheurenbergschen benachbart ist, einen zweiten entscheidenden Vorgang in der Geschichte dieses Koloni¬ sationswerkes geschildert: den Empfang der um ihres Glaubens willen vertriebenen französischen Protestanten durch den Kurfürsten Friedrich Wilhelm. So ist, wenig¬ stens ein Teil dieser Bilder in einen geistigen Zusammen¬ hang gebracht worden, der noch durch die drei von Vogel ausgeführten Sopraporten: die Verherrlichung Schlüters, König Friedrich Wilhelm I. in Berlin Bauten besichtigend und die Verherrlichung Schinkels (s. Ab¬ bildung 3) enger geknüpft wird. Es sind die drei Haupt¬ momente in der baulichen Entwicklung Berlins bis zum Jahre 1870: das erste Eingreifen eines großen künst¬ lerischen Genie’ s in diese Bauthätigkeit im Dienste eines pracht liebenden Königs, dem als notwendige Reaktion der Wolmliausbau als Grundlage städtischen Wohlstandes folgte, und zuletzt als Vereinigung beider Bestrebungen die Wirksamkeit Schinkels, die unter dem Schutze eines edlen Fürsten klassische Monumentalbauten für das Volk, für die Pflege von Kunst und Wissenschaft schuf. In diesen halb realistischen, halb allegorischen Darstellungen hat Vogel ein Stilgefühl und eine Phantasie entfaltet, die dieser ungemein begabte, aber leider sehr ungleich und willkürlich schaffende Künstler nur in seltenen Momenten erreicht. Er könnte viel selbständiger und persönlicher sein, wenn ihn nicht seine beständige, auf die neuesten Pariser Evolutionen gerichtete Wissbegier gar zu häufig in falsche Bahnen lenkte. Wie sich einst Menzel hartnäckig gegen fremde, besonders italienische Einflüsse verschloss und dadurch seine Eigenart bewahrte, sollte auch Vogel endlich einmal die Koketterien mit den Launen der französischen Modekünste lassen und sich auf sein besseres Selbst besinnen. Dass Vogel noch ein zweites Geschichtsbild: die Räte von Berlin und Kölln nehmen das Abendmahl in beiderlei Gestalt, im Rathause ausgeführt hat, sei nur der Vollständigkeit wegen er-

Abb. 2. Markgraf Friedrich I. von Hohenzollern wirft die Quitzows und Genossen nieder. Nach dem Gemälde von J. Scheueenberg im Rathause zu Berlin.

NEUE MONUMENTALMALEREIEN IN PREUSSEN.

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wähnt. Sachlich gehört es zn den monumentalen Illu¬ strationen zur Geschichte Berlins, wenn es auch künst¬ lerisch die Leistungen der Nebenmänner weit über¬ ragt.

Der treffliche, von den besten Absichten beseelte Mann, dem das preußische Kultusministerium die Pflege der Monumentalmalerei anvertraut hat und dessen Stimme fast immer bei allen monumentalen Aufträgen, die in Preußen von Provinzial- und städtischen Be¬ hörden oder von Kunstvereinen oder sonstigen Genossen¬ schaften ausgehen, von großem, oft entscheidendem Ge¬ wicht ist, hat während einer fast zwanzigjährigen Thätig- keit schon sehr schwere Enttäuschungen erlebt. Er hat sich bisweilen durch den Enthusiasmus des Kunstkenners hin reißen lassen, Aufträge an Männer zu erteilen, die eine glänzende und ruhmvolle Vergangenheit hatten. Wie oft hat er aber erfahren müssen, daß seine besten Pläne an Unzulänglichkeit des Könnens, vielleicht auch an Saumseligkeit und schlechtem Willen der Beauftragten gescheitert sind. Ein Staatsauftrag ist einmal ein Staats¬ auftrag, und dieser muss durchgeführt werden, auch wenn der Auftraggeber nachträglich zu der Überzeugung gelangt ist, dass er sich geirrt hat.

Bei solchen Enttäuschungen und Misserfolgen, die keinem Sterblichen erspart werden, am wenigsten dem, der mit dem unsäglich wankelmütigen Volk der Künst¬ ler zu tliun hat, ist es um so mehr die Pflicht des un¬ beteiligten Kritikers, auf die Erfolge hinzuweisen, und der größte davon ist die durch die preußischen Staats¬ aufträge ermöglichte und geförderte Entwicklung des Malers Hermann Prell , der sich des Vertrauens, das das Kultusministerium ihm vor etwa dreizehn Jahren geschenkt hat, so würdig gezeigt hat, dass er jetzt der vornehmste und zugleich begabteste Freskomaler Deutsch¬ lands ist. Da jeder Mensch etwas eitel ist und eine Zeitschrift in einer Zeit wütender Konkurrenz am wenigsten Ursache hat, bescheiden zu sein, wollen wir daran erinnern, daß wir zuerst an dieser Stelle (Jahr¬ gang XX, S. 149 153) auf die Bedeutung dieses wer¬ denden Talents aufmerksam gemacht und die reifste unter den monumentalen Erstlingsschöpfungen des Künst¬ lers, den die Geschichte der Baukunst darstellenden Wandgemälden im Festsaale des Berliner Architekten¬ hauses, reproduzirt haben: die Gruppe der bildenden Künste im Zeitalter der Renaissance. Bald nach Voll¬ endung der Berliner Wandgemälde war Prell nach Worms berufen worden, um an den beiden Schmal¬ wänden des dortigen Rathaussaals drei Fresken aus¬ zuführen: auf der einen Seite über zwei Thiiren die allegorischen Darstellungen der Gerechtigkeit und der Tapferkeit, auf der anderen Wand ein realistisches Bild aus der Geschichte der Stadt, die Verleihung einer Ge¬ rechtsame an die Bürger von Worms durch König Heinrich IV. In diesem Gemälde offenbarte Prell eine so gründliche Kenntnis des” Mittelalters, soweit sie für

einen Maler nötig ist, zugleich aber auch ein so richtiges Gefühl für das, was bei monumentalen Darstellungen an realistischem Stil zulässig ist, dass ihm aus diesem glücklich vollendeten Werke wieder ein neuer Auf¬ trag erwuchs, bei welchem das Hauptgewicht auf das Geschichtsbild gelegt wurde: die Ausmalung des Rat¬ haussaales in Hildesheim mit Darstellungen aus der Ge¬ schichte der Stadt. Es war ihm hier ein so weiter Spielraum gelassen worden, dass er die Jahrhunderte von der Einführung des Christentums bis zur Wieder¬ aufrichtung des deutschen Kaiserreichs durch Wilhelm I. umspannen konnte. Der letztere Moment durfte in einer Stadt nicht fehlen, deren Geschichte mit der der Kaiser des alten Reichs vielfach verbunden ist. So ergaben sich drei Hauptabschnitte, in denen die Entwicklung der Stadt gipfelt: das erste Aufblühen von Kunst und Hand¬ werk unter und durch Bischof Bernward, die Befreiung des Bürgertums vom geistlichen Joch durch die Einfüh¬ rung der Reformation und der Aufschwung zu höchster Blüte in Handel und Verkehr unter der Herrschaft der Hohenzollern. Von den Wandgemälden, die diesen drei Hauptepochen entsprechen, haben wir das die erste zu¬ sammenfassende ausgewählt (s. Abbildung 4). Mit glück¬ lichem Griff hat der Künstler die jahrzehntelange Thätigkeit des kunstliebenden und kunstübenden Bi¬ schofs in einen Moment zusammengedrängt, in den Em¬ pfang Kaiser Heinrichs II. durch den Bischof, der mit freudigem Stolz seinem Schutzherrn ein von ihm selbst gefertigtes Kreuz vorweisen lässt. Der Schauplatz ist eine Terrasse vor dem Dom, dessen eherne Thorflügel sich dem Kaiser öffnen. Es ist, als hätte der Kaiser den Bischof, seine Künstler und Werkleute plötzlich bei der Arbeit überrascht und als ob jeder beflissen wäre, dem hohen Gaste die Proben seiner Kunstfertigkeit aus¬ zubreiten. Einem künstlerisch gebildeten Auge wird sich leicht enthüllen, wie der Künstler bestrebt gewesen ist, im Vordergründe bewegte Gegensätze durch die Gegen¬ überstellung der einfachen Handwerkergruppe und der pomphaften Ritter des kaiserlichen Gefolges zu bilden und dann wieder diese Bewegung durch die alles be¬ herrschende Hauptgruppe zu der für den monumentalen Stil unbedingt notwendigen Ruhe zu bringen.

Trotz der großen Meisterschaft, die Prell in diesen mit der großen Medaille der Berliner Kunstausstellung ausgezeichneten Geschichtsbildern entfaltet hat, fühlte er sich dabei nicht in seinem eigentlichen Fahrwasser. Sein Reich ist das Land der Phantasie, wo niemand seiner freien Gestaltungskraft Zügel anlegen kann. Eine solche Erholung von den Schwierigkeiten realistischer, mit Monumentalität zu vereinigender Geschichtsmalerei wurde ihm wie in Worms auch in Hildesheim geboten, wo er wenigstens an einer überschüssigen Wandfläche, an der zum Bürgermeisterzimmer führenden Thür seinen Drang stillen konnte. Hier hat er, in engem geistigen Anschluss an seine allegorischen Gestalten in Berlin

Abb. 5. Gerechtigkeit, Strenge und Milde. Nach dem Wandgemälde von Hermann Prell im Rathause zu Ilildesheim.

(Aus dem Werke: Prof. Herrn. Prelis Wandgemälde in der Rathaushalle zu Hildesheim. Berlin, Verlag von Hessling & Spielmeyer.)

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KLEINE MITTEILUNGEN.

und Worms, die Gerechtigkeit verkörpert, in der edel¬ sten Auffassung, die ein Künstlergeist ersinnen kann: sinnend und wägend zwischen der sich auf ein gewal¬ tiges »Schwert stützenden Strenge und der mit kittender Handbewegung abmahnenden Milde (s. Abbildung 5).

Die Formensprache der italienischen Renaissance hat sich hier mit der deutschen zu innigem Bunde ver¬ mählt. Aber für Prell war dies nur ein Durchgangs¬ stadium. Ganz und gar in das Land der Phantasie ist er erst in den Fresken für das obere Treppenhaus des schlesischen Museums der bildenden Künste in Breslau übergegangen, die in je drei zwar durch Säulenstel- lungen getrennten, aber geistig und kompositionell zu¬ sammenhängenden Bildern die religiösen und geistigen Grundbedingungen der antiken und mittelalterlichen Kultur veranschaulichen. Da wir aus diesem Cyklus demnächst ein Bild in einer Radirung wiedergeben werden, behalten wir uns eine nähere Charakteristik dieser Bilderreihe vor. Für jetzt möge die Bemerkung genügen, dass selten ein geistvoller Gedanke mit allen Mitteln der Darstellungskunst so geistvoll verkörpert

worden ist wie hier. Man hatte dabei dem Künstler in allen Einzelnlieiten freie Hand gelassen. Und das hat sich gut bewährt, allerdings bei einem Manne, der nicht bloß ein fingerfertiger Maler ist, sondern auch eine gründliche Bildung und dichterischen Sinn besitzt. Ein gleiches Vertrauen hat ihm auch Kaiser Wilhelm II. ge¬ schenkt, als er ihm die Ausmalung des Festsaales im Palaste < ’afi'arelli, dem Sitze der deutschen Botschaft in Rom, übertrug. Es sollte nichts Gegenständliches, nichts Historisches sein, das irgend einen Besucher des Saals in seinen nationalen Empfindlichkeiten verletzen könnte. Es sollte aber etwas Deutsches sein, weil doch der Palast der deutschen Botschaft eine „deutsche Enclave“ in Rom ist. So entschied sich der Künstler für eine Darstellung der Jahreszeiten nach Motiven der Edda, die in der Art der italienischen Renaissance von Architekturen um¬ rahmt werden sollen. Wir sind überzeugt, dass Her¬ mann Prell an einer so wichtigen Stätte der Kultur und Kunst, deren Geschichte nach Jahrtausenden zählt, der deutschen Kunst Ehre machen wird!

KLEINE MITTEILUNGEN.

* Pohjchromirte Marmorbüste von Hermann Kolcolsky. Der Schöpfer der anmutigen Mädchenbüste, die in einer heliographischen Wiedergabe dem vorliegenden ersten Hefte des neuen Jahrganges eine besondere Weihe giebt, hat sich weiteren Kreisen erst in den letzten Jahren durch seine interessanten Versuche bekannt gemacht, die Goldelfenbein- plastik der Griechen auf ihre praktische Durchführbarkeit in unserer Zeit zu prüfen und andererseits neue Wege in der Färbung von Marmorskulpturen, ebenfalls im Anschluss an die auf antiken Bildwerken gefundenen »Spuren, einzuschlagen. Bis dahin hatten ihn meist dekorative Arbeiten für den Schmuck öffentlicher Gebäude und Porträtaufträge beschäftigt. Am 12. April 1853 in Berlin geboren, hat Kokolsky zwar den vorgeschriebenen Bildungsgang auf der Berliner Kunst¬ akademie durchgemacht. Aber er schloss sich keinem Meister an, weil er sich, zum Teil auch durch äußere Verhältnisse genötigt, entschieden hatte, seinen Weg in der Kunst selb¬ ständig zu gehen. Sorge und Entbehrung waren auf diesem Wege seine Begleiter, bis er 1882 den ersten Staatsauftrag erhielt, die Ausführung einer Statue Friedrich Wilhelms IV. für das Gerichtsgebäude in Moabit (Berlin). Es folgten die Figuren Kaiser Wilhelms I. und des Kaisers Friedrich Bar¬ barossa für das Rathaus in Osnabrück, zwei Gruppen für das Postgebäude in Görlitz, vier Feldherrnbüsten für das Zeug¬ haus in Berlin , eine Reihe biblischer Figuren für Berliner und auswärtige Kirchen, eine Kolossalbüste Kaiser Wilhelms I.

für Bad Gastein u. a. m. Neben diesen Arbeiten beschäftigte sich Kokolsky mit dem Plane, durch einen praktischen Ver¬ such in die Technik der griechischen Goldelfenbeinplastik einzudringen. Es gelang ihm auch, in dieser Technik eine Büste auszuführen, die durch ihren ungewöhnlichen Farben¬ reiz lebhaften Beifall fand und von Kaiser Wilhelm II. an¬ gekauft wurde. Wegen der Kostspieligkeit des Materials im Verein mit der mühsamen Technik konnten die Versuche leider nicht wiederholt werden. Man hat bei uns zu Lande kein Geld für solche Bestrebungen. Auch von polychromen Marmorbüsten, bei denen der Künstler außer einer zarten Färbung und einer diskreten, meist auf die Musterung der Gewänder beschränkten Vergoldung auch Metallschmuck ver¬ wendet, hat er bisher nur zwei ausgeführt: eine weibliche, mit einem bronzenen Diadem geschmückte, die sich in der Berliner Nationalgalerie befindet, und die durch unsere Heliogravüre wiedergegebene. Das Lichtbild wird zwar dem Adel der Gesichtsbildung, dem Ausdruck und der überaus zarten Modellirung völlig gerecht. Aber wirkliches Leben kommt in das Marmorbild doch erst durch die Färbung hinein, deren treue Wiedergabe sich zur Zeit noch den Mitteln unserer reproduzirenden Künste entzieht. Immerhin ist die Büste auch ohne die farbige Zuthat so reizvoll, dass sie auf jeden, der einem Kunstwerk mit reiner Empfänglich¬ keit gegenübertritt, eine freundliche, zu ruhevollem Kunst¬ genuss einladende Wirkung üben wird. -4. R.

Herausgeber: Carl von Lützoiv in Wien. - Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

POLYCHROME MARMORBUSTE

von Hermann Kokolsky.

LOUIS TUAILLON’S AMAZONENSTATUE.

MIT ABBILDUNG.

<[ unserer Plastik gährt es kaum weniger als in unserer Malerei. Fast alle Konkur¬ renzen und größeren Kunstausstellungen geben davon deutliche, allerdings wenig beachtete Kunde. Scharfe Gegensätze stehen da hart nebeneinander. Pie male¬ risch-impressionistische Richtung, welche besonders Bel¬ gier und Franzosen verfolgen, und eine effekthaschende Fortissimokunst, in der die Monumentalbildnerei Deutsch¬ lands jetzt zuweilen ihr höchstes Ziel zu erblicken scheint, bestimmen das Gesamtbild. Nur vereinzelt treten Schöp¬ fungen auf, die wie diejenigen Adolf Hildebrand’s und Arthur Volkmann’s kerngesund mit allen Fasern im reinen Boden echt plastischer schlichter Formen¬ sprache wurzeln, um von den meisten Ausstellungs¬ besuchern übersehen zu werden Dieses Schicksal war bei dem Werke, dessen Abbildung hier gegeben ist, aller¬ dings ausgeschlossen. Am Eingang zur großen Berliner Kunstausstellung, auf dem Vorplatz vor dem Haupt- portal aufgestellt, zog diese etwas überlebensgroße bronzene Reiterstatue einer Amazone von der Hand des jungen in Rom lebenden Bildhauers Louis Tuaillon aller Augen auf sich, das Urteil herausfordernd und ablehnend konnte dasselbe bei einer so sorgsam durchgeführten Arbeit dieser Gattung wohl überhaupt nicht lauten. Dem prinzip¬ losen Stimmengewirr gegenüber, welches aus zahlreichen Skulpturen der großen Eingangshalle der Ausstellung und vollends aus den Konkurrenzentwürfen zum Berliner Bis¬ marckdenkmal uns entgegenklang, schlug sie einen klaren, reinen Ton an, welcher wohl auch für die Zukunft der deutschen Plastik eine symptomatische Bedeutung hat. Von drastischem Effekt und anekdotenhafter Zuspitzung des Thema’s ist sie gleich weit entfernt. Die Formen- sprache deckt hier unmittelbar den Formens mn. Die Gestalt eines kraftvollen, jugendschönen Weibes mit dem edelsten Geschöpf der Tierwelt zu verbinden das war hier die einzige Aufgabe, welche der Künstler sich stellte. Darum durfte er auch mit gutem Recht ein modernes Ross zum treulich nachgebildeten Modell wählen, ein irländisches Halbblut, das freilich mit den Pferden der antiken Amazonen nur die zoologische Gattung gemein hat, und uns trotzdem hier weit will- Zeitsehvift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 2.

kommener ist, als die Bastarde des Colleoni-Rosses, des schweren Turnierpferdes der Renaissance, bei vielen unserer Reiterdenkmäler. Selbst die Verknotung des Schwanzes fällt nicht störend auf, erhöht vielmehr die Feinheit der Silhouette und den Eindruck der Schnell¬ füßigkeit. Noch steht es fast völlig ruhig, aber die Fu߬ stellung, und besonders der Kopf mit den gespitzten Ohren, den aus dunklem Achat eingelegten Augen und den geblähten, zitternden Nüstern nehmen ihm alles Starre. So steht ein edles Rennpferd kurz vor dem Beginne des Wettstreites, das Schlachtross vor dem Kampfe. Ruhe und Bewegungsfähigkeit sind muster- giltig in echt plastischer Weise vereint. Auch die De- taillirung trifft das rechte Maß. Es ist eine von den heute seltenen Rossedarstellungen, an denen der Künstler und der Pferdekenner gleiche Freude haben dürften. Gleich glücklich war der Meister bei der Wiedergabe der Reiterin. Nichts Ängstliches, nichts Gezwungenes, die rechte Herrin für dieses Tier! Fest und leicht zugleich sitzt sie auf ihm; die muskulös-kräftigen und doch durch¬ gängig gefälligen Formen kommen prächtig zur Geltung, denn das kurze, dünne, chitonartig, aber nur spielend, übergew'orfene Gewandstück dient mehr, sie zu heben, als zu verhüllen. Die Rechte mit der Streitaxt ruht leicht auf dem Widerrist, die Linke auf der Flanke des Rosses. Dabei ist der „Rhythmus“ des ruhigen Sitzens vortrefflich wiedergegeben : der Rythmus der momentanen Ruhe, in welcher die geschmeidigste Bewegung latent ist. In diesem Frauenkörper hat der Künstler wohl unbewusst sich doch der Auffassung genähert, welche die antike Plastik von den Amazonen hatte. Auch das auf schlankem Hals ruhende Haupt, dessen Silhouette mit dem kurzen „griechischen Haarknoten“ besonders reizvoll wirkt, ist unbewusst antik empfunden. Dies feine Profil mit den großen, aus dunklem Achat und gefärbtem Elfenbein eingesetzten, weit geöffneten Augen erinnert ein wenig an Klinger’s „Salome“, nur dass die dortige Sinnlichkeit hier besonders durch den eigenartig ernsten Zug der Mundpartien vollständig beseitigt und durch einen der Amazone angemessenen fast herben Ausdruck echter Jungfräulichkeit ersetzt ist. Die psychologische Belebung beschränkt sich, ähnlich wie am S. Georg Donatello’s,

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LOUIS TUAILLON’S AMAZONENSTATUE.

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anf den Ansdruck „erwartender Kühnheit“ , und dem Titel des Ganzen entsprechend könnte man wohl an¬ nehmen, diese Amazone sei ihren Schwestern voraus¬ geeilt. und halte hier auf gefährlichem Posten in spähen¬ der Wacht. Aber einer so zugespitzten, inhaltlichen Deutung des Grundtextes bedarf es gar nicht: man ver¬ gisst nach demselben zu fragen, denn der schlichte Wohllaut der Formen selbst fesselt hier schon an sich, ähnlich wie in den Schöpfungen einiger hervorragender

Frische fort. Auch die Koloristik ist vortrefflich! Am Rosseleib mehr ein schwärzliches Grau-Braun, am Frauen¬ körper ein rötlicher Grundton; dazu der eigenartig fas- cinirende Glanz der eingesetzten Augen, deren Weiß leicht blutunterlaufen erscheint, in feinbemessener An¬ deutung der Amazonennatur. Auch der weiße, flache Steinsockel erhöht die lebensvolle Wirkung.

Im Ganzen, wie in allen Einzelheiten, ist dieses Werk das Produkt gereifter Schaffenskraft. Nur jalire-

Amazone von L. Tijaillon.

„Neuidealisten“ der modernen Malerei, vor allem wie in den Bildern eines Hans von Marces. Und wie bei den besten unter diesen, ist auch hier die Kunst auf ein ernstes Studium und ein vortreffliches, technisches Können gestützt. In dem prächtig geglückten Guss, der sich beispielsweise in der Oberfläche des Felles am Pferdekörper allen Nuancen des Formencharak¬ ters in erstaunlicher Weise anschmiegt und jeder me¬ chanisch-konventionellen Glätte fern bleibt, lebt noch die rastlose Arbeit der modellirenden Hand in vollster

lange Vertiefung in die eine Aufgabe vermag eine solche, in sich vollendete Lösung zu bieten. Da nimmt es auch nicht Wunder, dass der Künstler, ehemals ein Schüler von Reinhold Begas, seit seiner Übersiedelung nach Rom nur durch etliche, allerdings auch vortreffliche Büsten bekannt blieb. Er hat seine ganze Kraft an dieses eine Werk gesetzt: bei der hastend -flüchtigen Weise, mit denen viele unserer Bildhauer jetzt selbst die größten Aufgaben zu behandeln pflegen, ein doppelter Ruhm, wohl wert, ihn anzuerkennen und zu verbreiten!

ALF HEI) G. MEYER.

IDEEN

ÜBER DEN STUDIENGANG DES MODERNEN MALERS.1)

VON PAUL SCHUL TZE- NAUMBURG.

IE vorliegende Arbeit soll in keiner Weise eine Anleitung zur Ölmalerei sein, ebensowenig ein technischer Führer durch das Gebiet. Erstere sind in gedruckter Form Unmöglichkeiten, letztere in ge¬ nügender Anzahl vorhanden, und wer wissen will, aus was Kremserweiß und Ultramarin be¬ steht, wie man Leinwand grundirt und Pinsel wäscht, der wird eine ausführliche Beschreibung in Ehrhardt’s „Kunst der Malerei“ oder in seiner Bearbeitung von Boli¬ viens „Handbuch der Ölmalerei“ finden. Auch Raupp’s kleiner Katechismus wird gute Dienste leisten.

Und nun nach diesem negativen Aufschluss über den Zweck der Abhandlung den positiven.

Ein Jeder, der aus den beengenden Kreisen der Kleinstadt heraustritt, um sich der Malerei zu widmen, wird in den meisten Fällen einen Ballast von veralteten, zopfigen Anschauungen mit sich herumschleppen, genährt durch eingerostete Anschauungen der Philologen, die seine Lehrer waren und durch den philiströsen Standpunkt seiner Umgebung. Aber auch die Kinder der Großstadt werden häufig nicht frei von diesem Ballast sein, eben¬ sowenig wie die, die sich ohne die gepriesene humanis¬ tische Bildung oder aus praktischen Berufsarten den Künsten zuwenden. Nur wenige werden das Glück haben, in der Nähe der Werkstätte der Kunst aufzuwachsen und so von klein auf künstlerische Anschauungen eingeimpft zu bekommen. Jene nun werden auf den Akademieen sehr selten Gelegenheit haben, sich rasch von diesem Ballast zu befreien, der sie hindert und irreführt. Eines¬ teils, weil es nicht die Gepflogenheit akademischer Lehrer ist, sich intimer mit der künstlerischen Heranbildung ihrer Zöglinge zu befassen, als es ihre Stellung vor¬ schreibt, andernteils, weil sie sehr häufig gar nicht dazu im stände sind. Und doch ist neben den rein praktischen Übungen die Erziehung zu künstlerischen Anschauungen

]) Aus einem demnächst erscheinenden „Vademecum für studirende Maler“.

von großer Wichtigkeit, da sie in reciprokem Verhältnis zu jenen stehen. Die Akademieen lassen ruhig zu, wie sich der ungebildete Geschmack ihrer Zöglinge an Pseudo¬ künstler wendet, deren rohe Erzeugnisse, bar allen Kunstwertes, sich nur an das sinnliche oder sentimentale Bedürfnis der Menge wenden. Diese Götzendiener ziehen einen Schleier um des Adepten Auge, der ihn hindert, je wahre Kunstwerke ganz zu würdigen und sein Streben auf falsche Bahnen lenkt.

Meine Worte richten sich deswegen an alle die, die sich der Kunst widmen wollen und sollen ihnen die wohl unvermeidlichen Irrwege kürzen helfen.

Die heutige Kunst hat sich von so manchem befreit, das unter der Schutzmarke Kunst so mittroddelte und Nichtskönnern willkommene Gelegenheit bot, ihre Pro¬ dukte mit der Gabe, zu gefallen, auszustatten. Aber noch erschreckend wenige auch nur von den Gebildeten des Volkes wissen etwas von dieser modernen Kunst, gegen deren verderbliches Eindringen in ihre Kreise sie einen Ring gebildet zu haben scheinen. Deshalb ver¬ suchen sie mit allen Mitteln ihrem Vorwärtsschreiten Hindernisse in den Weg zu legen: die Vorurteile und die Irrtümer, mit denen sie Furcht vor den vermeint¬ lichen Neulingen bereiten wollen.

„An die Schönheit“ nennt Klinger das letzte Blatt seines Opus „Vom Tode. II.“ Klinger ist ein Heros, einer jener großen Wegweiser, die als leuchtende Sterne dem Dunkel entstiegen und Licht auf neue, unbetretene Pfade warfen. Und an die Schönheit geht das Gebet der Modernen. Es ist eine Lüge, dass sie in ihrer Mitte einen gräulichen Götzen führen, die Hässlichkeit, dem sie ihr Opfer bringen. Es ist eine Lüge, ausge¬ streut von den Besiegten, um Furcht zu verbreiten und nachgeschrieen von den unklaren Köpfen, die nicht wissen, um was es sich handelt, wiederholt von der erschreckten Menge, die stets nur Verwirrung bringt. - Die Schönheit steigt auf ihren Thron, aber es ist eine ernste, hehre Göttin, nicht ein dralles Kind mit rundem Kinn, keine kokette Maske in kurzgeschürztem Kleide,

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IDEEN ÜBER DEN STUDIENGANG DES MODERNEN MALERS.

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sondern ein Lohes Weib; wie Harfenklänge tönt ihre Stimme, ihr Licht ist dem Monde vergleichbar, und wer sie gesehen, dem ist verzehrende Sehnsucht ins Herz gezogen.

Das ist die Sehnsucht des Künstlers, die ihm folgt und ihn leitet, die ihn zum Schaffen stark macht und die nur gestillt wird in dunklen Träumen, die nach Ge¬ staltung ringen.

Es war eine Lüge; aber wer hat sie mehr ge¬ nährt, als die Maler selbst? Nicht die, denen es ernst war, sondern die Charlatans in der Kunst, die Talmi¬ künstler. Es giebt eine Menge talentvolle Maler, die mit dem Pinsel Lügner sind; sie sagen nicht, das, was sie zu sagen haben, sondern das, womit sie zu imponiren glauben. Sie arbeiten in Neuheiten. Kaum hat. sich ein neues Genie der Welt offenbart, ist auch schon der malende Plagiator da und macht ihm das Äußerliche, das dort vielleicht barock, hier bornirt ist, nach, macht es vielleicht mit viel Talent nach und die Menge steht und schreit dasselbe Wehe, das sie dem Genie zugeschrieen. Und all die Kleinen in der Kunst, die auch gern zu den Vielgeschmähten und Vielbesprochenen gehören möchten, weil ihnen dieser Ruhm imponirt, stehen herum und sagen: 0, er hat sein Vorbild verdunkelt! Und dann gehen sie selbst heim und setzen viel ehrliche. Mühe und Arbeit daran, um es auch so zu machen; aber sie bringen es nicht so geschickt fertig, und was heraus¬ kommt, ist Handwerk, stumpfes blödes Handwerk; aber es bevölkert die Säle und überschwemmt das Land, und die Leute sagen: Ah, Respekt, der Pleinairist! Bastim Lepage malte die Heuernte, und tausende und aber¬ tausende blödsinnige Bauernweiber starrten von den Wänden des Salons herab. Sie stehen keinen Zollbreit höher, als die Legionen von Dirndeln, die Defreggers Auftreten nach sich zog und die Legionen Beatrice’s, die die neuauftretende Mystik zur Folge haben wird, mögen sie zehnmal besser gemalt sein, als die sämt¬ lichen Mutterglücks und Jägers Heimkehr, die heute noch hunderte von bedauernswerten Kitschmalern in München und anderswo dutzendweis verfertigen ; sie stehen nicht höher, denn sie sind Lügen.

Die Garantie, die ein Mensch, der sich den Künsten widmet, bietet, liegt zum mindesten grade so viel in seinem ( ’harakter, wie seiner Begabung. Nur derjenige, der es vermag, sich als Mensch zu entwickeln, kann ein guter Künstler werden. Man hat schon zu oft ge¬ sehen, dass glänzende Talente bei haltlosen Charakteren zu Grunde gingen, ebenso, dass zielbewusste ernste Leute ihr geringeres Talent zu schöner Blüte brachten. Es giebt ein Wort „Fleiß ist die Hälfte vom Genie“, wobei jedoch Fleiß nicht wörtlich Biiffelfleiß, sondern ernstes Streben bedeutet. Der Grund, dass die wenigsten Studirenden es auch nur zu leidlichen Malern bringen, ist der, dass bei 90 °/o von ihnen das, was für Talent gehalten wird, lediglich formale Geschicklichkeit ist,

was sie zu tüchtigen Handwerkern befähigt, in nichts jedoch zum Künstler ausreicht. Und sind es trotzdem tüchtige Charaktere, so bringen es einige auch zu Malern, deren Können immerhin respektabel sein kann, deren Werke jedoch nie den Stempel künstlerischer Inspiration tragen.

Es giebt unter diesen Anfängern solche, die über die ganz besondere Gabe einer sauberen, exakten mecha¬ nischen Arbeit verfügen. Diese sind dann der Stolz und die Stütze der Antikenklasse, angestaunt und be¬ wandert von ihren Mitschülern und nicht selten auch von ihren Lehrern. Doch die Fähigkeit, eine Gipsfigur noch so hübsch plastisch nachzuzeichnen, besagt eben leider noch mit nichts, dass der Mann zum Künstler geboren. Schon viele fallen ab, wenn sie vor die Natur, das Modell kommen, bei dem schon in gewissem Grade die Forderung einer selbständigen Auffassung hinzutritt. Andere fangen dagegen an, sich erst da recht zu ent¬ wickeln. Sie zeichnen und malen die besten Akte, man preist sie in allen Schulen schon als die künftigen Meister, aber weiter kommt es nie. In den schönen Einrichtungen der Meisterateliers verblasst ihr Ruhm mehr und mehr, man vergisst ihre Malklassenlorbeern, denn man bekommt nie ein Bild von ihnen zu sehen. Gar manche sind auch dabei, die einen zu kräftigen Anlauf genommen haben, um gar nichts zu produziren. Von den Komponirlehrern in die Höhe gepäppelt, kommen dann ein oder mehrere große Leinwänden zum Vorschein, für die sich stets einige Bewunderer finden, obgleich der Einsichtige gar bald sieht, welche Treib¬ hauspflanzen es sind, die morgen in ihr Nichts zusam¬ menfallen. Wie viele laufen da herum und zehren von dem Eintagsruhm ihrer Erstlinge, reden düster von großen Plänen, die im besten Falle Pläne bleiben, oft aber auch zu mitleiderweckenden Schatten ihrer Erst¬ linge werden. Und gar manche giebt es wieder, die überhaupt erst aufzutauen scheinen, wenn sie ihr eigenes Atelier haben. Dann fliegt Bildchen über Bildchen aus der Werkstatt, eines verkauft sich besser als das andere, und eins ist seichter als das andere. Das sind dann auch Maler geworden, denen der Geschäftsmann gratu- liren kann; aber der Kunst wäre besser geschehen, ihnen wäre ein Mühlstein um den Hals gehängt worden.

Am meisten Gewähr für die künstlerische Begabung hat man noch an den Arbeiten, welche ohne Schule und Lehre daheim in Mußestunden geschaffen sind. Ist an und für sich schon der Drang, solches zu schaffen, anstatt am Biertisch zu sitzen, das sich Nichtge¬ nügenlassen mit dem Schulpensum, ein gutes Zeichen, so wird man an solchen Arbeiten auch am leichtesten sehen können, ob der Betreffende etwas Eigenes zu sagen hat und man sollte sich da auch von den größten Unbehilf¬ lichkeiten nicht beirren lassen, denn das, was da fehlt, kann gelernt werden! Im Gegenteil kann oft zu frühe Formengewandtheit misstrauisch machen, da man fürchten

IDEEN ÜBER DEN STUDIENGANG DES MODERNEN MALERS.

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muss, dass der andere Teil nicht Schritt hält und es sich auch hier rein um formale Begabung- verbunden mit einem gewissen gestaltenden Talent handelt, die ihr Vorbild in Werken der bildenden Kunst und nicht in der Natur sucht. Ein Urteil über die Begabung kann sich da nur derjenige verschaffen, der das Glück hat, sich an einen wirklich feinfühligen Künstler wenden zu können; an Akademieen, wo die Sache geschäftlich ohne Interesse behandelt wird, wird er nur selten auf ein Eingehen rechnen dürfen.

Es ist klar, dass, so verschieden das Kunstschaffen selbst ist, ebenso verschieden auch die Begabungen sind. Es sollte niemand aus der Beobachtung, dass der andere dies und jenes kann, was ihm selbst verschlossen zu sein scheint , auf eine höhere Begabung des andern schließen. Es giebt da Leute, die zum Illustrator geboren scheinen. Sie zeichnen aus dem Kopf hunderte von Figuren, Gruppen, alles was man nur will, schütteln sie aus dem Ärmel; einmal eine gute Hand zu malen, ist ihnen nicht möglich. Gerade diese sind durch die Begabung einer sehr flüssigen Produktion doppelt der Gefahr ausgesetzt, nicht intensiv genug Natur in sich aufzunehmen und so allmählich zu verflachen. Es giebt auch solche, die nur malerisch begabt sind und die erst auftauen, wenn sie die Palette in die Hand bekommen, während sie vorher unbehilflich gezeichnet haben: das Material lag ihnen nicht. Es giebt auch solche, die von Anfang an nur Interesse für Tiere gehabt haben und nur diese malen wollten und konnten, solche, die nur in der Landschaft sich selbst linden. Es giebt ferner solche, deren Zeichengabe hoch entwickelt ist, deren Farbe aber stets ohne Heiz und spröde erscheint, solche, deren Form und Farbengebung eine mühsame und unbeholfene bleibt, in deren tastenden Versuchen sich aber schon stets ein tiefes Innenleben zeigte. Diese letzten sind es oft, aus denen die großen Künstler ge¬ schnitzt werden. Aber alle die aufgezählten können in ihrer Art etwas erreichen, wenn sie sich selbst treu bleiben und den Versuchungen widerstehen, das zu leisten, was dem andern gegeben ist.

Der übliche Bildungsgang war bisher fast stets von den Vorschulen in die Gipsklasse, von da in die Zeichen-, Mal-, Komponirschule. Hatte der Studirende das alles wohl absolvirt, so war er ein fertiger Maler.

Unsere modernen Anschauungen wreichen von die¬ sem Lehrgang wesentlich ab. Vorlagen kopiren ist gänzlich wertlos. Es ist schlimmster Zeitverlust und der winzige Vorteil, mit der Technik etwas vertraut zu werden, wird durch hunderte von schwerwiegenden Nachteilen aufgewogen. Ebenso bringt das Gipszeichnen so viele Gefahren und Unnützes mit sich, dass es nicht betrieben werden sollte, besonders nicht das Zeichnen nach Antiken. Die hohe Formvollendung einer abgeschlossenen Welt giebt dem Studirenden nicht nur keinen Begriff von der Natur, sondern er versteht ihre Schönheit nicht

einmal. Direkt mit der Natur anzufangen, ist für einen jeden das richtige. Ist jemand zum Künstler geboren, so wird dieser Anfang ohnehin meistens in seine Kinder¬ jahre zurückdatiren und das systematische Studium wird ihm keine allzu großen Schwierigkeiten in den Weg legen. Stellen sie sich aber doch ein, so muss er sie eben überwinden; es sind nicht die letzten, die sich ihm in den Weg legen; das ganze Leben ist ein Über¬ winden und die Kämpfe des fertigen Künstlers grau¬ samere, als die des Schülers, den der erste Studienkopf verwirrt. Es ist der Kunst noch nichts verloren ge¬ gangen, weil ein Talent sich durch solche Schwierig¬ keiten hätte abschrecken lassen. Fühlt es nicht die Kraft in sich, nicht abzulassen, so soll es lieber sein ganzes Vorhaben an den Nagel hängen.

Das unablässige Zeichnen und Malen nach der Natur ist dann der einzige Weg wenn auch nicht Ziel, sich in den Vollbesitz des nötigen Könnens zu setzen. Wie dieses Malen und Zeichnen zu geschehen hat, wird der Lehrer dem Schüler sagen. Hier nur einige Rand¬ bemerkungen, die mir notwendig erscheinen.

Seit zwei Jahrzehnten weht eine Anregung durch unsere Kunst, die mit der Wiederentdeckung der deut¬ schen Renaissance und mit dem Studium der Ober¬ deutschen und Niederländer zusammenhängt und viel Gutes mit sich gebracht hat. Nur hat sie etwas unter¬ drückt, was wir gerade an den Quattrocentisten Italiens und dem dekorativen Sinn der Cinquecentisten lernen könnten: die große Naturanschauung. Man lernte die Natur in ihrer Schönheit im Kleinsten und Unbedeu¬ tendsten schätzen und das war gut; aber man verliebte sich im Hautfältchen und Kleinigkeiten und das war nicht gut, denn man verlor den großen Blick; man verlernte, grad auf sein Ziel loszugehen. Der wahre Künstler aber sollte zuerst das Große in seiner Aufgabe sehen, den geistigen Faden, ausgedrückt durch die Farbe und die Form trotz aller deutschen Innigkeit und Anbetung des Ganzen im Kleinen. Nur das bringt ihm das Gefühl dafür, was der moderne Maler Malen nennt.

Es scheint mir vor allem ein Fehler zu sein, Figuren und Landschaft so streng zu trennen, wie es bis jetzt geschieht oder wohl gar die Landschaft von dem Lehrplan auszuschließen. Naturgemäß bildet das orga¬ nische Wesen, der Mensch, ein Problem, das zunächst durch seine Form weit mehr zeichnerisch reizt als die Landschaft, bei welcher die Farbenstimmung meist so viel wie alles ist und deshalb die Grundlage zu unserer mo¬ dernen Farbenanschauung gegeben hat. Die Landschaft hat der Kunst die neuen Bahnen gewiesen und befreiend auf sie gewirkt; die kühnsten Bahnbrecher waren zum großen Teil Landschafter und die größten Koloristen knüpften ihre Farbenideen an sie an. Ich bin des¬ halb ferner der Ansicht, dass derjenige, der in diesem Sinne malen lernen will, sich intim mit der Landschaft befassen sollte, wenn er nur irgendwie für sie begabt

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ist. weil gerade in ilir ihm die neuen Farbenprobleme, die Valeurs, aufgehen. Dazu ist die Landschaft und auch das Stillleben besonders für den geeignet, der bisher nur Figuren gezeichnet hat, da er, wenn er direkt zum Figurenmalen übergeht, stets anfängt, die Figuren farbig zu zeichnen. Er muss erst lernen zu begreifen, was der Begriff „Malen“ eigentlich heißt und dass es das Gegenteil vom Zeichnen ist. Bei den neuen Problemen der Landschaft und des Stilllebens wird ihm das rascher aufgehen und er wird anfangen, die dort gewonnenen koloristischen Anschauungen auch auf die Figur zu übertragen.

Von den wilden Genieausbrüchen eines Makart , der eine Zeitlang in Deutschland als der größte Kolorist der Welt galt, bis zu den delikaten Farbensymphonieen eines Whistler oder Sargent ist ein größerer Schritt, als von den Kartons der Nazarener bis zu den Riesen¬ bilderbogen eines Piloiy. Das koloristische Prinzip, nach dem Whistler seine ersten Akkorde anschlug, ehe Makart noch in die Pilotyschule eintrat, ist heute das allein herrschende und das Problem geworden, das gänzlich zu lösen, die Aufgabe unserer Generation ist. Es ist damit nicht eine spezielle subjektive Farbenanschauung gemeint, die auf den Schild erhoben werden soll, sondern das Prinzip von der Auflösung sämtlicher Töne in Valeurs, das Gegenteil der kolorirenden Malerei.

Derjenige, der noch nicht malerisch sehen gelernt hat, sieht zunächst nur die Lokaltöne, die objektive Farbe des Gegenstandes , man ist versucht zu sagen : den Anstrich. Sein Streben richtet sich darauf, diesen mit Hilfe von Licht und Schatten nachzubilden. Fin¬ den modernen Maler giebt es keinen absoluten Lokalton, nur Stimmungstöne zeigen sich seinem Auge und diese will er in ihrem farbigen Akkord festhalten. Es ist für den Anfänger oft schwer, diese Stimmungstöne, auch wo sie sehr aufdringlich auftreten, entgegen seinem Er¬ fahrungswissen richtig zu geben. So können z. B. das Gegenüberstellen von gewissen Tönen, Reflexe, Spiege¬ lungen und eigentümliche Zustände der Atmosphäre bewirken, dass die Schatten auf dem Wege himmelblau, die blauen Schieferdächer rosenrot oder orangegelb er¬ scheinen. Der grüne Baum kann sich so rotgelb oder so purpurrot färben, dass man seine grüne Farbe nicht mehr wahrnimmt; die meisten aber wissen erfahrungs¬ gemäß, dass AVege grau, Schiefer blau und Bäume grün sind und malen sie so oder schütteln den Kopf, wenn sie sie wahr gemalt sehen.

Der Laie weiß auch selten, welche Macht farbige Akkorde haben können. Thatsächlich kann die feine Gegenüberstellung von einem hellen Rot gegen ein tiefes Grau, anknüpfend meinetwegen an einen Abend auf dem Meere, oder ein helles Weiß auf einem getönten Weiß, anknüpfend an eine helle Figur auf einem hellen Grunde, zu einem Bildmotiv genügen, und wir sind deswegen doch noch lange nicht auf der Höhe der persischen

Teppiche angekommen, wie Friedrich Pecht meinte. Für den Laien mag dann das Äußerliche die Hauptsache bleiben; das Problem, das sich der Künstler stellte und das er bezwingen musste, lag lediglich in dem feinen Abwägen der beiden Töne zueinander. Der Künstler muss diese der Natur nachempfinden, jedoch es geschieht ganz subjektiv, denn Farben sind ein so unfasslicher Begriff, dass nie ein Mensch sagen kann: der Ton auf der Leinwand ist richtig oder unrichtig. Man denke beispielshalber nur an die Wirkung der Komplementär¬ farben. Ein gelber Rahmen wird ein Bild blau gestimmt erscheinen lassen, eine blaue Umrahmung eine warme Wirkung erzielen.

Es giebt also nur einen Weg für den Maler: seiner Empfindung nachzuschaffen, zu sagen: so wirkt die Natur auf mich, und ich male sie so, wie ich sie empfinde. Eine genauere Kontrole auf die Wahrheit giebt es nicht, denn das Bild soll nicht sowohl der Natur als vielmehr der vom Künstler empfundenen Natur gleichen. Das hindert nicht, dass seine Staffelei dicht neben der Natur stehen soll. Ein jeder neue Künstler bringt deshalb neue Farbenskalen mit, ohne fürchten zu müssen, dass er sich wiederholt. Denn so lange wohl, wie die Welt steht, noch nie ein Menschenantlitz ganz genau dem andern geglichen hat und gleichen wird, wird der Künstler nie in Verlegenheit geraten, neue Farbenakkorde anzu¬ schlagen, deren Wohlklang die Welt noch nie gehört; denn ein jeder Künstler wird auch nie über die Skala, über die er verfügt, hinauskommen und in die des andern hineingreifen können. Man wird dies beobachten können, wenn man zwei Maler vor dasselbe Motiv stellt. Gäben sich beide die größte Mühe, so wahr wie möglich zu malen, so würden die Farben auf ihren Bildern doch nicht die gleichen sein. Und jeder hätte Recht.

Es ist für den Maler notwendig, dass er, analog dem, was ich beim Zeichnen sagte, seine Aufgabe groß ansieht. All die tausend Töne, die sich ihm zeigen, verwirren ihn und er ist versucht, seine Aufgabe zeich¬ nerisch anzufangen und die Töne allmählich dazu zu tlmn. Beim Malen ist es jedoch notwendig, viele Töne zusammenzufassen und die hauptsächlichsten Grund¬ stimmungstöne aufzusuchen. Die Ölfarbe ist das ge¬ eignetste Material dazu, um die angeschlagenen großen, die Sammeltöne, zu verfeinern und nachstimmen zu lassen.

Vor der Zeit, in der man es beim Malen mit der Farben¬ wirkung so delikat zu nehmen an fing, vielmehr mit rohen Effekten arbeitete, wandten viele Maler ein billiges Rezept an: sie stimmten alle Bilder in einen warm¬ braunen Grundton, der eine Verwandtschaft mit dem nachgedunkelten Galerieton der alten Meister haben sollte. Man tönte alle Schatten mit Umbra oder Mumie braun an und malte in diese hinein. Natürlich kam das Ganze aus der braunen Stimmung nie heraus, aber das Mittel war einfach und für rohe Augen kam stets etwas Gefälliges dabei zu Tage.

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Natürlich können neben dem wahren Hanptstimmxings- ton die verschiedensten Gegensätze auf der Bildfläche herrschen. Es zeigen sich dann, je nach der Natur des Vorbildes zwei, drei, vier oder auch fünf große farbige Hauptmassen, die man in ihren Tonwerten zu einander abzuwägen hat. Das ist jedoch keine Arbeit von fünf Minuten, sondern eigentlich die Lösung des ganzen Problems: die Töne müssen ebenso delikat wie in der Natur sich gegenüberstehen und man muss auf ihre feinsten Klänge angestrengt horchen. Es sind das keine primitiv mit rot oder blau zu bezeichnenden Töne, sondern sie offen¬ baren ein Meer der feinsten Schwingungen und nur ein gebildetes Auge vermag wahrzunehmen, dass sie schön sind. Der Laie wird sagen: „Ich sehe da nichts besonderes Schönes.“ Ja nun, es ist eben die Aufgabe des Künstlers, das Schöne der Welt sichtbar zu machen, indem ei¬ sern Licht darauf fallen lässt. - Natürlich kann er nicht bei diesen vier oder fünf Grundstimmungen bleiben, sondern er wird auch diese wieder in neue Flächen auf- lösen. Aber es ist gefährlich, die Auflösung auf schließlich zu kleine Flächen auszudehnen; gerade eine große Naturanschauung verlangt, die Flächen groß anzu¬ sehen und zusammenzufassen. Nacli der Feinheit, womit der Maler dieses Problem zu lösen versteht, wird sich seine künstlerische Kraft bemessen.

Dem Anfänger muss die Unmöglichkeit klar werden, je einen Ton für sich allein zu treffen. Eine Farbe erhält überhaupt erst Klang durch die gegenüber¬ gestellte. Aus diesem Grunde ist alles Mischen und Prüfen auf der Palette so zwecklos, da sich ja stets erst auf der Leinwand zeigt, wie der Ton wirkt. Auf der Palette entzieht er sich jeder Beurteilung, da er neben dem Holzton oder beliebigen bunten ungemischten Farbton steht.

Ein weiterer Punkt für die moderne Farbenan¬ schauung ist das Auflösen aller Tiefen in Farben. Die ältere Malerei begnügte sich damit, die Tiefen mit Schwarz und Braun zu markiren. Der moderne Maler kennt kein Schwarz und kein Braun auf der Palette, jedenfalls nicht zur simplen Verwendung für die Tiefen. Schwarz ist Farb¬ losigkeit, und da in der Natur nirgends, am wenigsten in tiefen Tönungen, Farblosigkeit herrscht, hat sie auch kein Schwarz. Es ist hier nicht im Programm, die Wege zu be¬ schreiben, durch die technisch die Tiefen gelöst werden und es ist das auch kaum möglich ; als Beispiel sei nur be¬ merkt, wie Mischungen etwa von Ultramarin und Krapp¬ lack, denen durch geeignete Beimischungen der violette Ton genommen ist, eine Tiefe erzeugen, gegen die gehalten reines Schwarz wie Pech erscheint. Es ist notwendig, dass der Maler sein Bild oft aus großer Entfernung betrachtet und von da aus Bild und Natur vergleicht, um über die Haupterscheinung ins Klare zu kommen und sich durch keine noch so hübschen Details verführen zu lassen, von dem zuerst Erstrebenswerten abzugehen. Zu den Klippen auf diesem Wege gehören auch all die

technischen Witzeleien, die gerade dem Anfänger am meisten imponiren und die ihm oft genug noch von Lehrern empfohlen werden. Die Technik ist da etwas ganz untergeordnetes, an die er gar nicht denken sollte, die sich um so freier ausbildet, je weniger er an sie denkt. Ist es doch seine künstlerische Handschrift, die sich mit der Feder gerade so bildet, ohne dass man sie beachtet. Die Graphologie zeigt uns, wie die Schrift der untrügliche Spiegel des Menschen ist; wie verkehrt wäre es nun, wollte man dem Künstler diese oder jene Handschrift mit dem Pinsel aufoktroyiren oder wollte, er diese oder jene nachahmen. Sie muss sich von selbst bilden und wird dann erst die wahre und somit für ihn die beste sein. Er suche die Töne schlicht und breit möglichst pastös nebeneinander hinzusetzen, auf das Wie kommt es dabei gar nicht an.

Selbstverständlich meine ich hier mit Technik lediglich die Handschrift des Künstlers, nicht die tech¬ nische Kenntnis seines Materials, das er durch und durch kennen sollte. Das Wesen der Ölfarbe verlangt einen pastosen Farbenauftrag, wie die Aquarellfarbe die Lasur verlangt. Nur in einem dicken, möglichst prima Farben¬ auftrag vermag sich die Schönheit und die Leuchtkraft der Ölfarbe zu entwickeln. Jede Lasur verdirbt diese schöne Klarheit und opfert sie einem saftig schmierigen Ton, der einen rohen Geschmack besticht, jedes feiner organisirte Auge jedoch unangenehm berührt. Natürlich ist diese Lasur ein bequemes Mittel für den, dessen Können nicht ausreicht, um den richtigen Ton zu treffen, hinterher noch etwas von ihm darüber hinwegzuschwindeln. Dagegen ließe sich ja an sich nichts einwenden, die Malerei wäre eben dann nur leichter, als sie ist; aber thatsächlich ist damit nur für rohe Augen ein Effekt zu erzielen. Ganz gewiss haben auch alte Meister lasirt; für uns geht daraus nicht die Notwendigkeit hervor, es auch zu thun. Für unsere farbigen Probleme ist es keinesfalls ein passendes Mittel. Die alten Meister waren übrigens zum größten Teil reine Prima-Maler und der Goldton der Galerieen ist Schmutz und nachgedunkelter Firnis. Damit soll nicht gesagt sein, dass dieser Galerie¬ ton nicht sehr schön wäre; im Gegenteil, alle Dinge werden durch Alter und Abnutzung malerischer; nur fragt es sich, ob das, was Lenbach thut: diese Patina künstlich herzustellen, auch für die gesamte Mitwelt Allgemeingültigkeit haben soll.

Wenn ich bisher von prinzipiellem Pastosmalen sprach, so kann das mehr für den das Malen lernenden, als für den fertigen Künstler Gültigkeit haben. Man sollte bedenken, dass für den fertigen Künstler, der seine Mittel durch und durch kennt, ein jedes erlaubt ist, um seine Wirkung zu erreichen; für den, der erst malen lernt, sollte es aber gelten, seine Töne stets aus dem Vollen und Pastosen herauszuarbeiten. Sein Ziel sollte sein, allmählich die Farben breit und immer breiter hinzusetzen und durch feine Massenwirkung der Details

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ganz za entbehren; sein Weg, lieber die Anlage un¬ fertig zu lassen und mehr und mehr darauf zu kommen, prima fertig zu malen. So wird er am ersten dazu kommen, das zu begreifen, was wir heute Malen nennen. Und wenn er das beherrscht, wird ihn nichts hindern, später leicht seine eigenen Wege zu finden.

Auf den Akademieen pflegen gewöhnlich noch mehrere Hilfswissenschaften und Studien auf dem Lehrplan zu stehen: die Anatomie und Proportionslehre, die Per¬ spektive, ] hre, Kunst- und Literaturgeschichte

und Komponirlehre. Die Anatomie ist eine wichtige fiir den Maler eigentlich die einzige, die nicht entbehrlich ist. Es ist leicht ersichtlich, dass las Muskelspiel, welches sich unter der Haut verborgen vollzieht, nachbilden kann, wenn er nicht versteht, was er nachbildet. Es ginge vielleicht bis zu einem gewissen Grade, wenn die Natur stillhielte. Aber man muss die zitternde Beweglichkeit der Körperteile in ihrem ewigen Wechsel beobachtet haben, um zu wissen, wie notwendig die Anatomie ist. Leider wird dieses Studium meistens noch viel zu theoretisch betrieben, während das einzig Ersprießliche das unablässige Zeichnen nach präparirten Leichen wäre. Das bloße Wissen der Muskeln und Knochen nutzt rein gar nichts, sondern nur das beständige Einprägen ihrer Form und Ver¬ richtung, bis sie zur festen Vorstellung geworden sind. Deswegen wird auch der Maler mehr können, der viele Akte ohne einen Dunst von Anatomie gezeichnet hat, als der, welcher ohne Zeichnen ganze Lehrbücher durch- studirt hat.

Proportionslehre ist für den Maler weit überflüssiger. Die moderne Kunst sieht viel mehr auf das Individuelle als auf das Typische und richtet sich nicht nach dem Schema der sonst verdienstlichen Arbeit des Schadow’schen Polyklet, der ja auch viel mehr für Bildhauer als für Maler geschrieben ist.

Perspektivischer Unterricht ist für den Maler die unnützeste Zeitvergeudung. Jeder Maler wird sich beim Zeichnen nach der Natur die für die Praxis notwendigen Erfahrungen selbst bilden, Theorie nutzt ihm dabei gar nichts , sondern nur eine gute Beobachtungsgabe, und wenn er nach Theorie verlangt, wird er sich wohl noch soviel seiner Mathematikstunden entsinnen, dass er sich selbst das notwendigste ableiten kann. Fällt ihm ein¬ mal in der Natur etwas schwer, so nehme er den Motiv¬ sucher zur Hand, so kann er sich mit dessen Hilfe und mit seinen oftenen Augen überzeugen, wie die Linien laufen. Ich habe in meinem Leben noch nicht gesehen, dass ein Maler ohne perspektivische Kenntnisse vor der Natur in V erlegenheit geraten wäre. Und hätte er einmal auf einem Bilde wirklich eine perspektivische Konstruktion zu machen, so fällt es in der Praxis nie einem Künstler ein, sie sich selbst zu machen, sondern er geht zum Architekten und lässt sie sich machen. Da aber die gestellten lebenden Bilder mit dem konstruirten Prospekt auf dem Aussterbe¬

etat sind, so wird auch dieser Fall selten Vorkommen.

Es ist überhaupt besser, die Linien laufen falsch, mathematisch falsch, aber so, wie der Künstler sie ge¬ wollt und empfunden hat, als sie geben dem Architekten keinen Grund zum Ärgernis, stören aber den Maler. Ich kenne auf Bildern absichtliche perspektivische Fehler und doch dürften diese Bilder um kein Haar breit anders sein.

Kostümlehre ist etwas gleich Unnützes. Der mo¬ derne Maler bildet das nach, was ihm im Leben malens¬ wert erscheint, er rekonstruirt nicht und schafft keine Bilderbogen zu kulturhistorischen Erläuterungen, in denen er die alten Originale ja doch nicht übertreffen kann. Fühlt aber ein Maler trotzdem den Drang, sich so in den Geist einer früheren Zeit zu versetzen, wie es Menzel in die des alten Fritz that, so nutzt es ihm dabei gar nichts , dass er als Akademiker in seinen drei ersten Semestern rasch die Kostüme aller Länder und Zeiten einmal durchgegangen, sondern er muss selbst seine Mittel und Wege finden, das ihm notwendige zu studiren, wie Menzel es that. Aber wegen eines Malers, der zu¬ fällig das Kostüm einer Zeit braucht, alle Studirenden mit allen Kostümen aufzuhalten, ist unsinnig. Pedan¬ terie gehört nirgends weniger hin als auf Malerschulen. Und einen ungefähren Überblick über alle Kulturepochen in ihren charakteristischen Erscheinungen wird ohnehin jeder gebildete Mensch mit offenen Augen haben. Ganz gewiss sind solche kulturhistorische Studien für jeden und besonders für den Maler interessant, anregend und geschmackbildend; wollte man aber all die Dinge, die gut sind oder die, die eventuell einmal im Leben ge¬ braucht werden könnten, in den Lehrplan aufnehmen, so käme man wohl nie zu den Hauptsachen. Diese Dinge sollten dem Eifer und dem Interesse eines jeden Einzelnen überlassen bleiben oder sollten sich auf Beeinflussungen im privaten Verkehr beschränken. Auch der Gedanke, den Leuten, denen eine allgemeine Bildung fehlt, durch Unterricht in Kunstgeschichte und Litteratur einen Anhalt zu bieten, ist ja ganz schön, aber praktisch hat sich ergeben, dass rein gar nichts dabei herauskommt. Durch Bildung ist noch niemand ein großer Künstler geworden; fühlt aber jemand den Drang, weiter zu studiren, so kann sich auch der Mittelloseste aus den Bibliotheken das nötige Studienmaterial verschaffen, ob er nun Maler ist oder etwas anderes.

Endlich kommt der schlimmste Zopf, die Komponir¬ lehre, bei deren bloßem Namen man sich ein wenig in die Zeit der Lairesse und Lebrun zurückversetzt fühlt. Einsichtsvollere Lehrer haben ihr oft den Namen „Kom- ponirübungen“ gegeben. Aber auch diese führen praktisch nie zu etwas. Das Zwecklose derselben geht schon aus der Verschiedenheit der Talente hervor. Da ist der eine, dessen geistreich scharfe Beobachtung ihn zum Porträt¬ maler begabt macht; da ist einer, dessen Begabung nach weichen träumerischen Landschaften hiudrängt. Da ist

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wieder einer, der sicli nur für Schafe und Ochsen inter- essirt, wieder einer, der sich in weltfernen Reichen seiner Träume bewegt. Und jetzt kommt meinetwegen die Aufgabe „Christus auf dem Ölberg“ zu illustriren. Nun ist es aber eine nicht wegzuleugnende Thatsache, dass man nur das bilden kann, was einen interessirt und dass nur das künstlerischen Wert haben kann, was von innen heraus nach Gestaltung drängt. Was aber bei den Übungen herauskommt, ist ungenießbares, gequältes Zeug, das im besten Fall geschickt gemacht ist. Im seltensten wird die Aufgabe einmal mit einer eigenen Vision Zusammentreffen, komme man doch da nicht mit der dummen Phrase: „Ja, wenn es ihm auch nicht liegt, so nutzt es ihm doch!“ Es würde ihm auch noch manches nützen, gewiss auch ein Kursus in der doppelten Buch¬ führung. Die besten Arbeiten dieser Ivomponirübungen sind aber stets Zeichnungen auf der Höhe der üblichen Buch- und Blatt-Illustrationen, die besser unterblieben.

Und die, bei denen die Gestaltungskraft reich quillt, wie etwa bei Genies wie Stuck, die bedürfen nicht der Anregung, durch Namhaftmachen von Motiven, sondern sie zeichnen und bilden wie aus einer Naturnotwendig¬ keit die inneren Gesichter, die nach Gestaltung drängen. Aber nur die, die sie sehen, nicht solche, die man ihnen zu knacken giebt. Häufig bilden sich unter den Studi- renden auch private Komponirvereine, die aber meist in Bierabenden, oder, wenn Kunstjüngerinnen dabei sind, in Tanzkränzchen endigen, bis sie sich im Sande ver¬ laufen. Das ist das nie ausbleibende Ende aller solcher Bestrebungen gewesen.

Bisher sprach ich nur von Studien. Ist der Studi- rende nun so weit, dass er den Fachunterricht verlässt, so wird er daran gehen wollen, sein erstes Bild zu malen.

Eigentlich sollte es ein erstes Bild nicht geben. Ein intensiv künstlerisch begabter Mensch wird dann schon eine Entwicklungskette hinter sich haben, wo er ver¬ sucht hat, Bilder zu schaffen, sei es durch bildmäßiges Auffassen von Studien, porträtartigen Studien, land¬ schaftlichen Bildern oder auch durch Konzeption von innerlich Geschautem. Es hat etwas niederdrückendes, wenn jemand, der noch nie versucht hat, etwas eigenes zu sagen, den Entschluss fasst: nächsten Mittwoch fange ich an, etwas zu sagen. Gehen wir über den Zopf der Akademieen hinweg, welche sagten: „Nehmen Sie eine interessante Idee . . .“ etc. Das ist heute dort noch genau so, und wird dadurch nicht anders, dass moderne Arbeiterblousen und Militärhosen statt Trikots und Helle¬ barden figuriren.

Die Idee des Bildes liegt in der sinnfälligen Schönheit der bemalten Leinwand und nicht in dem dargestellten V organg. Man sollte sich darin an die alten Meister wenden, nicht um sie nachzuahmen, sondern um von ihren Prinzipien zu lernen. Diese malten aus Freude an der sinnlichen (nicht = sexuellen) Wirkung; der Vorgang ist ihnen ziem¬ lich gleichgültig und oft nicht einmal klar zum Ausdruck Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 2.

gebracht. Gerade bei den älteren guten Meistern tritt das hervor, wie bei ihnen ein malerisch reizvolles Gast¬ mahl zu einer Hochzeit von Kana, ein jugendlich schöner Menschenleib zu einem St. Sebastian und eine glückliche Mutter mit ihrem Säugling zu einer Madonna herhalten muss.

Um mehr Klarheit darüber zu erhalten, was für Vorwürfe im Bereich des modernen Malers liegen, sehe man sich einmal in einer guten Ausstellung um. Ich meine nicht in den internationalen Jahrmärkten, sondern in den vornehm arrangirten Sälen kleiner Vereinigungen. Wenn nun einmal klassifizirt werden soll, so sehen wir auch da Figurenbilder, Tiere, Landschaften, mehr oder minder vereinigt ; sie teilen sich scheinbar in zwei Haupt¬ klassen: die einen, die mehr einen Naturausschnitt mit möglichst überzeugender Wahrheit darstellen, die andern, die mehr den Extrakt aus der Summe solcher Natur¬ beobachtungen, Neubildungen, innerlich Geschautes geben. Aber sie lassen sich nicht in Klasse A und B einteilen, jedes hat Qualitäten von der andern, denn der Natur¬ ausschnitt sänke zur Momentphotographie herab, wenn er der subjektiven Wiedergabe entbehrte, und die andere Ab¬ teilung verlöre in der Fühlung mit der Natur den inneren Halt. Man hat diese beiden Richtungen oft mit Realismus und Idealismus bezeichnet und es ist viel Unfug mit dem Worte getrieben worden. Mir fällt ein Vergleich ein der meine Ansicht deutlich machen kann. Ist der elek¬ trische Funke, ist der Flammenbogen, der zwischen den beiden Kohlenspitzen glüht, negativ oder positiv? Ist der eine Teil mehr negativ, der andere mehr positiv? Wo trennen sie sich? Er knüpft an dem einen Pole an und schwingt sich zu dem andern, dem positiven hinüber. So spannt wohl auch die Kunst die Brücke von einem Pol, dem realistischen, zum andern, dem idealistischen, doch kein Stein der Brücke ist deswegen realistisch oder idealistisch zu nennen. Der eine liegt dem einen Pol näher, als der andere, keiner aber kann der beiden stützenden Endpunkte entbehren.

Wir wollen sehen, welcher Art diese Darstellungen wären. Wir finden keine Anekdoten mehr. Es sind Menschen, die sich bewegen, wie sie es im Leben thun, sitzen und stehen und die Künstler haben Schönheiten dabei herausgefunden, die der Laie im Leben nicht sah. Da sind trauliche Winkel, in denen der Theekessel summt, plaudernde Menschen, die im Zwielicht zusammen¬ sitzen, Individuen in ihrem Milieu, die Porträts heißen. Da sind schlanke, biegsame Frauengestalten, die in Gärten wandeln, das Leben der Straßen mit ihrem eleganten Treiben und dem schlürfenden Schritt der Vertreter des vierten Standes. Da sind die frommen Legenden, die Märchen unserer Kindheit, nach denen sich der Mensch zurücksehnt, wie nach dem verlorenen Paradiese, da wird heitere antike Sage in deutschem Kleide wieder¬ geboren. Da ist das ganze Landleben. Säende und erntende Bauern, wie sie von der Arbeit heimkehren,

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zum Fischfang' ausrücken oder den Feiertag heiligen; sind ihre Arbeitsg'enossen, die Stiere und Pferde; da sind die weidenden Herden, die Schäfer auf ihren Gras¬ halden; der weite Himmel spannt sich über die Ebene oder lugt verstohlen durch die Wipfel alles, was das Menschenange freut, wenn es offen durch Gottes schöne Natur schreitet, ist da verwertet. Aber noch mehr ist da: alle Klänge einer Menschenseele, ihre Empfindungen und Träume reden da in Tönen zu dir. Leise reden sie, ohne Aufdringlichkeit, aber mit der stillen Gewalt, die nur Tönen verliehen ist. Oder ist das nicht mehr, als bloßes Abmalen eines Stückchen Natur, wenn es die Seele in ihren Grundtiefen berührt und alle ihre Saiten erzittern lässt? Wo treten uns die Ahnungen vom Ge¬ heimnisvollsten und Heiligsten näher, was redet ein¬ dringlicher von Gott und der Herrlichkeit seiner Schö¬ pfung und der Unsterblichkeit und allem Großen, als die Kunst? Und wo zeigt sich ihre ganze Mystik mehr, als in der Landschaft, wenn keine Lebewesen ihre hehre Andacht stört? Entzückende Bilder der Dämmerung! Wenn die Nacht herniedersinkt und in ihren blauen Schleiern die Erde sich ihrer Schwere und Körperlmftig- keit entkleidet. Der Hauch der abendlichen Herdfeuer schwingt sich in wundersamen Linien dem Äther zu, feierlich schallen die unhörbaren Töne der Feierstunde zum Ohr des Einsamen; wolllüstig hebt sich die ver¬ schwiegene Glut des Mondes über die duftigen Säume der Wälder, zauberischer und bethörender klingen die tagscheuen Stimmen, immer mächtiger und harmonischer tönt ihr Sphärengesang. Tiefer und schweigender dämmert die Nacht, milchiche täuschende Klarheit breitet der Mondschein über die schlafenden Menschengebilde, und die darin rasten, ahnen nichts von dem stummen Zauber, der über ihnen sein Wesen treibt! Kann uns das Bild davon etwas sagen, so ist es das vergeistigte Kunstwerk, das, was sich die Modernen als Ziel gesetzt! Es appellirt an die Seele des Menschen, während die Pedanten die Forderung stellen, es solle als Illustration geistvoller Spekulationen sich an den Verstand wenden.

Nutzlose Frage nach dem Verstehen eines Bildes. Ein gutes Bild kann schlechterdings nicht „verstanden“, sondern nur empfunden werden, denn es hat nur die eine Bestimmung: ästhetischen Genuss zu bereiten. Ob man weiß, was der Hergang bedeutet oder nicht, ist für den Kunst¬ genuss vollständig gleichgültig, und alle guten Bilder werden ohnehin für sich selbst sprechen. Das eine wird sagen: ich bin ein schöner Mensch, und das andere: ich bin der Abend, der sich über die Gefilde breitet. Nicht an den Attributen soll man es erkennen, sondern an dem, was das Bild elementar redet. Gerade in der Kraft, mit der es redet, liegt ja sein Wert. Und nun auch gesetzt den Fall, das, was es redete, sei nicht so ein¬ facher Natur, dass es sich in vier Worte fassen ließe? Überlasse dich seinem Zauber und genieße, etwas anderes ist auch da nicht zu raten. Ja, es giebt Fälle, wo mir

etwas von dem Duft der Bilder genommen war, wenn ich langatmige Erklärungen und trockene Deutungen über sie hören musste, dass sie mir profanirt erschienen, wie einem ein verschwiegener, trauter Waldes versteck ent¬ weiht ist, wenn man dort eines Tages die Reste eines Picknicks in Gestalt von Stullenpapieren und Bier¬ flaschen findet.

Das Gebiet der Malerei liegt vor uns ausgebreitet. Der junge Maler wird dem Zuge seiner Begabung folgen und sich einen Plan machen. Nehmen wir zuerst das näclistliegende. Die Basis zu aller Kunst ist das Porträt. Die Kunst knüpft stets zuerst mit der Nachbildung des menschlichen Körpers an. Im Porträt lag die Kraft keimender Kunst und dasselbe war das Verjüngungsmittel absterbender Kunstpflege; es ist das einzige Fehl, auf dem schematische Nachbildung zu gar nichts führt, sondern vertieftes Studium der Natur von selbst zur Notwendig¬ keit wird. Der Anfänger wird deshalb einen sicheren Weg beschreiten, wenn er, zum erstenmal auf eigene Füße gestellt, vielleicht infolge von Lücken in seiner Entwicklung, nicht Rat weiß, sich dem Bildnis zuwendet. Er wird, wenn er mit Ernst daran geht, von dem Ge¬ lernten nichts verlieren und Neues dazu lernen.

Auch im Bildnis ist, oder sollte sein, nicht einfach der betreffende Mensch abgemalt, sondern es sollte allen Anforderungen eines jeden andern Bildes genügen, wenn es den Anspruch auf ein Kunstwerk machen will. Die erste Anforderung dafür ist durchaus nicht die Ähnlichkeit; für den Besteller mag es das Wichtigste sein, mit dem Kunstwerk hat es nichts zu thun. Lenbach’s Frauen¬ porträts zeichnen sich oft durch eine vorteilhafte Un¬ ähnlichkeit aus, ohne je im gewöhnlichen Sinne des Wortes geschmeichelt zu sein; ihrem Kunstwerte thut das in nichts Abbruch. Wenn es dem Künstler gelingt, in seinem Bilde einen Charakter, einen ganzen Menschen hinzustellen, zu dem ihm der Porträtirte auch nur die Anregung geboten hat, und es ist mit durchaus künst¬ lerischen Mitteln dargestellt, so erfüllt es alle Ansprüche an ein Kunstwerk. Natürlich muss ein Mensch wie Lenbach dahinter kommen; gewöhnliche Sterbliche werden gut thun, dem Individuum aufs feinste nachzu¬ gehen und froh sein, wenn sie deren seelisches Gehalt klar genug auf die Leinwand gebannt haben. Soweit von dem zeichnerischen Teil. Aber es giebt auch eine koloristische Ähnlichkeit; ich meine damit nicht, dass die rote Nase des Herrn Huber auch mit genügend viel Zinnober gemalt ist, sondern die Stimmungsähnlichkeit, das für das Individuum richtig mitempfundene Milieu, das seelische Fluidum, von dem die Farbe redet. Wenn der Maler also neben dem Bestreben, seinen Besteller bezüglich der Ähnlichkeit zu befriedigen, auch ein Kunst¬ werk schaffen will, so wird er seine definitive Arbeit nicht eher anfangen, als bis er mit dem gestellten Ganzen so zufrieden ist, dass es zum Motiv eines Bildes dienen kann. Ganz besonders für das zu zweit bemerkte, die

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Stimmungsähnlichkeit, ist es notwendig, dass er keinen Menschen malt, den er noch gar nicht kennt. Hat er einen oder eine Unbekannte zu porträtiren, so sollte er die Person erst so lange beobachten, bis er sich eine feste Auffassung von derselben und ihrem wahren Milieu gebildet; er sollte ihre Lebensart und Gewohn¬ heit, ihre Kreise, ihre Seele kennen lernen, mit ihr viel reden, kurz, sich des ganzen Menschen bemächtigen. Das was man nicht kennt, kann man nicht darstellen. Hat man es aber gut kennen gelernt, so wird sich dem Künstler bald eine bestimmte Auffassung als etwas innerlich Geschautes offenbaren, das sich mit jedem Tag zu mehr Klarheit durchringt. Ein hastiges An¬ fängen führt entweder zu Dutzendporträts oder zu einem Schiffbruch, nach dem der Maler von vorn beginnen möchte, wenn es ihm die Verhältnisse gestatten.

Wie er anfängt, das richtet sich natürlich nach der Natur seines Talentes. Der eine wird unzähliche Skizzen machen, und sich so nach und nach klären; der andere wird nur beobachten und so lange Stellung und Um¬ gehung probiren, bis er das Rechte gefunden. Nur eins sei hier über das Wo gesagt. Die üblichen Ateliers eignen sich nur der Ungestörtheit während der Arbeit und der Bequemlichkeit bezüglich des Materials wegen gut zu Porträts. Schon das Licht ist meistens abscheulich. Diese Räume mit dem ewig nach Norden gerichteten Fenster, in das nie ein zitternder Sonnenstrahl sich verirrt, erinnern mich stets an feuchte Keller, in denen einem nach einiger Zeit unheimlich wird. Und ganz abgesehen davon: man sieht den Menschen ja sonst nie im Leben in dem scharfen, von einer Seite kommenden Licht, was denkbar unmalerisch ist, wenn es nicht durch durch¬ sichtige Stoffe gedämpft und zerstreut wird. Es eignet sich ja ganz gut für Studirende, die in der scharfen Trennung zwischen Licht und Schatten zeichnerisch gut die Formen kennen lernen, aber nicht zum Malen. Wie viel feiner ist das zerstreute Licht der Wohnungen wobei indessen nicht der geschmacklosen Fenstereinteilungen der Mietskasernen, mit je zwei und drei schmalen Fenstern in jedem Zimmer das Wort geredet sein soll, die jeder Einrichtung Hindernisse in den Weg legen oder die zarte Dämmerung des Oberlichtes. Steht aber nur das Atelier zur Verfügung, so suche man es wenigstens durch Vorhänge von gazeartigen Stoffen, z. B. Pomasin, zu ver¬ feinern und zu dämpfen, wodurch jenes zarte Rieseln des Lichtes entsteht, das jedes Malerauge entzückt und so an¬ nähernd die gewohnte Belichtung des Gesichtes herauszu¬ bekommen; man suche durch Wandschirme lauschige Dämmereckchen herzustellen, in derem Helldunkel eine malerische Beleuchtung entsteht oder suche sonst etwas: nur nicht das kreidige gräuliche Nordlicht mit seinem Schwarz und Weiß.

Wenn es geht, suche man den Menschen in seiner eigenen Häuslichkeit zu fassen. Die wenigsten Besteller werden dort zwar Staffelei und Paletten haben wollen,

in gewissen Fällen aber geht es doch. Man entgeht dann auf alle Fälle dem oft so geschmacklosen „Hintergrund“. Es wird jedenfalls leichter sein, die Hausfrau in ihrem Boudoir oder den Gelehrten am Schreibtisch zu malen, als im Atelier, besonders bei Anfängern, die noch über keinen ausgedehnten Atelierapparat verfügen. Wenn es geht, kann man ja auch im Atelier eine solche Auffassung stellen, bedenke jedoch, dass eine auffallende Zuthat von solchen Attributen unfein wirken würde, ebenso wie diskrete Zuthaten das Ganze ungemein verfeinern und stimmen können. Mir schweben bei solchen Porträts und besonders denen von Frauen stets die Engländer und Schotten vor, deren unnachahmliche Vornehmheit des Arrangements und des Farbenbouquets uns viel Anregung geboten hat. Besonders hat Whistler mit seinem zurück¬ haltenden Farbenzauber ganz neue Bahnen gewiesen. Wie ungemein malerisch auch ganz ruhig getönte Flächen oder gerade diese beim Porträt wirken, sehen wir z. B. bei Van Dyck; indessen darf sich niemand verhehlen, dass gerade diese schlichte ruhige Tönung zu einer kolo¬ ristischen Lösung bei weitem mehr der Meisterschaft bedarf, als ein Stück Interieur. Diejenigen, die es nach¬ machen möchten und es mit einem beliebigen dunkel getönten Hintergrund gethan glauben, zeigen, dass die Vorstellung eines koloristischen Problems ihnen noch nie aufgegangen. Es gab einmal eine Zeit in Deutschland nach der Gründerperiode, als alle Kommerzienrätinnen und Bauunternehmer sich in Öl malen ließen, was ja an sich ganz schön war. Allein es bildete sich dabei, besonders in Berlin, eine ganz unerträgliche Art von Protzenmalerei heraus, bei der man sich nicht genug thun konnte in farbigen Samt und Seidenstoffen; da musste als Hintergrund möglichst eine Plüschdraperie in Altgold hängen, davor ein Atlaskleid, natürlich dekolletirt, bei dem alle Falten mit photographischer Genauigkeit bis herunter gemalt waren zum Greifen ! Sie lebt heute noch, besonders in Berlin. Neben Porträts von Künstlern berühren sie wie die Tanzmusik beim Herrn Kommerzienrat Cohn gegen die vornehmen Tongedanken einer Beethoven’schen Symphonie. Ist der Farbensinn eines Malers genügend ausgebildet, so wird er sich von selbst nicht dazu verstehen, eine solchen Bestellern adaquäte Malerei zu geben. Er kann die unvornehmste Person der Welt doch vornehm malen, nicht vornehm machen, sondern sie als das geben, was sie ist, aber mit vornehm künstlerischen Mitteln. Boldini giebt einige gute Beispiele dafür.

Man braucht nicht Lenbach nachzuahmen und kann doch das Prinzip aufrecht erhalten, jedem Ding nur die Ausführung zu geben, die es bedarf, um künstlerische Sprache zu erhalten.

Das Porträt führt zum Stillleben. Diese Entwicklung soll nicht die historische sein. Schon beim Milieu des Porträts wird man sehen, welch feiner malerischer Reiz in den zufällig entstehenden Nebendingen auf dem Bilde liegt; in dem Tischchen mit Büchern oder einer ein-

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fachen Vase mit den matten Blüten darin. Und bald kann man sehen, wie diese Zuthaten bildmäßig anfgefasst zum Selbstzweck werden können. Gerade das Stillleben hat eine große Entwicklung in diesem Jahrhundert durch¬ gemacht. In einer Zeit, als man Malerei überhaupt verlachte, gab es den Begriff Stillleben nicht und bei den ersten tastenden Versuchen, sich die Malerei wieder¬ innen, wusste man noch nichts von den feinen Stimmungsqualitäten desselben. Mit dem Steigen der Malerei hob es sich mehr und mehr, bis es sich heute an den völlig gleichberechtigten Platz in der Malerei gestellt hat, wie die stolze „Historie“ , wenn sie noch lebt. Es heißt nicht mehr: 6. Das Stillleben.

Wie es gemalt ist, darauf kommt es an und nicht was gemalt ist. Und alle gute Malerei ist recht, Stim¬ mung zu erwecken. Nur muss man sich unter Stillleben auch nicht mehr das vorstellen, was man 1850 darunter verstand: einen Aufbau von Früchten in einer an sich schönen Vase und alles in der Art der holländischen Kleinmeister, deren Werke oft halb Kunstwerk, halb Kunststück sind, durchgeführt, nur nicht so gut, wie diese. Der Franzose giebt den Begriff viel richtiger: natu re morte, es ist kein Lebewesen (höchstens ein totes) auf dem Bilde, auch kein paysage; ein Stück Natur, das zwischen beiden liegt und jedes Stück Natur ist malenswert.

Nur soll man sich das Stillleben suchen und nicht aufzubauen suchen wenigstens kann das letztere mü¬ der, welcher schon sehr viel ähnliches in der Natur beobachtet hat. Wir kommen in eine dunkle Küche. Die Bäuerin hat gerade Gemüse gereinigt, auf dem nassen Tische liegen die Früchte, das Messer glänzt dazwischen heraus, ein blankes Kupfergeschirr steht daneben und das Licht fällt gedämpft durch das hohe kleine Fensterehen darauf: ein Stillleben.

Oder: wir waren beim Gärtner. In der dunklen Ecke des Treibhauses hatten die Mägde Kränze gebunden, verlorene Blüten liegen vergessen umher; vorn noch ein fertiger Kranz, Dämmerung sank darüber: ein Stillleben,

Oder: wir sind gerade vom Diner aufgestanden. Halbgeleerte Sektgläser stehen umher, geschälte Orangen, halb zerschnitten, sind liegen geblieben, gefüllte Schalen mit Knackmandeln stehen dazwischen. Von vorn wirft der scheidende Wintertag matte blaue Lichter herein, während von hinten ein warmer rötlicher Schein von den Lampen, die der Diener gerade angeziindet, über alles fällt: ein Stillleben.

Dem Maler begegnen auf Schritt und Tritt solche, vom koloristischen, also rein künstlerischen Standpunkt aus höchst reizvolle Aufgaben. Selbstverständlich ist es, dass in den meisten der angeführten Fälle es nicht möglich sein wird, alles an Ort und Stelle zu malen. Aber man wird die Anregung benutzen und alles an einem sicheren Platz ähnlich stellen. Allmählich wird man auch darauf kommen, ähnliche Kompositionen frei

zu erfinden, vielleicht durch Anregung einiger malerischer Gegenstände, die man gerade hat. Das Beobachten der Natur bewahrt davor, sich eine Vorstellung vom Still¬ leben im prunkvollen Aufbauen von schönen Gegenständen zu denken. Nicht kunstgewerblich vollendete Gegen¬ stände machen die Schönheit des Stilllebens aus, sondern der malerische Beiz der Ensemble. Ein alter glasirter Topf ist deshalb viel malerischer, als der schönste Tafelaufsatz.

Das Stillleben führt zur Landschaft. Wir führen es unter freien Himmel und erweitern den Raum die Landschaft. Das Streben des Dilettanten ist gewöhnlich darauf gerichtet, irgend eine hübsche Ansicht aufzu¬ nehmen. Der Künstler richtet in der Sprache der Töne ein Gebet an die Schönheit; dieser Satz gilt nirgends mehr als in der Landschaft, in der durch keine Laster und Leidenschaften entstellten Natur. Durch Gegen¬ überstellung von Tönen möglichst viel zu sagen, das ist seine Aufgabe, das Berichten über schöne Architektur, interessante Gegenden und Reiseerinnerungen überlässt er dem Photographen.

Trotzdem wird dem Künstler nicht jede Gegend gleich Zusagen, die eine wird ihn kalt lassen, die andere ihn begeistern. Aber er soll seine Wahl nicht nach der gerade herrschenden Mode richten, sondern nach seiner eigensten Empfindung. Die Zeit, dass mau nach Italien gehen musste, ist längst vorbei. Damals war des Anfängers Streben vor allem darauf gerichtet, einen guten „Baumschlag“ zu zeichnen. Ca- lame und Schirmer waren Vorbilder gewesen. Noch bis vor ganz kurzem glaubten viele, sie müssten un¬ bedingt aus Holland ihre Motive holen, um auf der Höhe zu sein. Auch das hat sein Gutes gehabt. Hollands weiche Luft ließ manchem die intimen Reize der Atmo¬ sphäre aufgehen und die Schlichtheit seiner Häuschen und Bewohner ließ sie den malerischen Reiz im Unschein¬ baren finden. Aber auch das hat seine Mission erfüllt und muss ein Ende haben. 0 schlimme Mode! Hat denn nicht jeder Mensch seine Heimat, seine traute Heimat, deren Plätze und Straßen, Wälder und Wiesen, deren Hügel und Berge, Fluss oder Meerstrand ihm sein Wiegenlied gesungen, die ihm heut noch in zärtlichen Worten lange Geschichten erzählen, von dem Glück seiner Kindheit, dem Schwinden der Jahre, vom Kommen und Gehen; wo jeder Stein und jeder Baum lebt und redet, wo die gewundenen Linien der Straßen, hinter denen das Kind die „Welt“ ahnte, ihm heute noch Symbole einer ungestillten Sehnsucht ins Weite bilden? 0 hohes Lied der Heimat! Besänne sich ein jeder auf sie, es stände besser um die Verinnerlichung der Kunst, die gerade die vornehme Schar der Modernen, die sich zum Schutz gegen das hässliche Modegeklingel zusammen- gethan, anstreben. Dort findet ein jeder was er braucht, um etwas zu sagen, wenn er überhaupt etwas zu sagen hat. Hier findet er Formen, die sein Eigentum sind,

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weil er sie kennt, hier findet er Feinheiten, die die Scholle keinem andern verrät, als ihrem Sohne. Hier ist er Herr, der in der Welt draußen nur Gast ist. Hier ist er stark, weil er die Erde liebt, wie das Kind die Mutter liebt, um so heißer liebt, wenn er Thränen auf ihr geweint ; hier wohnen die Träume seiner Kindheit, die auch im traurigsten Leben wie der Stern des ver¬ lorenen Paradieses herüber schimmert; hier wird er nicht suchen, was er zu sagen hat, weil es die Mode erforderte, sondern die Zungen werden über ihn kommen und er wird reden, wie einem, dem das Herz voll ist. Und deshalb wird sein Mund keine Lügen sprechen. Und das ist das erste Gesetz.

Das alles vorausgesetzt, wenn er überhaupt reden kann, wenn ihm die Sprache der Formen und Töne ge¬ geben ist, die ihn zum Künstler macht. Aber wenn ihm die Gabe verliehen ist, so wird er sie so in den Dienst des wahren Ideals und nicht in den des Mode¬ idols stellen.

Das maßgebende beim Malerischen soll stets die Farbe sein, die Form ordnet sich vollständig unter und die Farbe bestimmt das Motiv. Da nun die Farben der Natur vermöge des atmosphärischen Einflusses und des Sonnenstandes beständig wechseln und dasselbe Stück Natur jeden Tag hunderte von verschiedenen Stimmungen bieten kann, ist es klar, dass man eigentlich nie von einem „Motiv“ reden kann, das sich da oder dort be¬ findet. Das malerische Motiv ist eben die Stimmung, die sich über das materielle breitet, welches so gleich¬ sam nur der Träger der Stimmung wird. Es giebt auch nie Motive an sich. Jedes Motiv muss individuell offenbar werden, denn ein jeder Mensch sieht die Welt mit seinen Augen an und einem jeden erscheint ihre Poesie in etwas anderem. So ist die Natur gleichsam nur ein Vorwand, an die er anknüpfend im Grunde nur sich selbst giebt. Das ist das Wesen des Kunstwerks.

Die Landschaft führt zum Figurenbilde. Sie be¬ völkert sich; in die Wiesen ziehen die Hirten, in die Felder die Landleute ein, in den Gärten wird gearbeitet, Kinder bevölkern die Fluren dort die Arbeit, hier die Idylle. Sie setzen sich fort in den Wohnungen der Armen und Reichen, der eleganten Frau, der Gesellschaft, auf den Straßen und in den Hütten der Proletarier. Und von dem Körperlichen löst sich das Geistige los; die. Formen werden Symbole, das Reich des Übernatür¬ lichen öffnet sich. Wie wird nun meistens das erste Bild begonnen? Ist der Maler über den zopfigen Respekt vor der traditionellen Einführung durch die Historie hinaus, so wendet er sich gar häufig, statt an sich selbst, an Vorbilder. Nicht an das, was er zu sagen hat, denkt er, sondern an das, was ihm auf der vorjährigen Aus¬ stellung am meisten imponirt hat. Und so entstehen die Holländer Bilder der Dutzendmaler der verflos¬ senen Jahre, die schon viel wohlverdienten Spott haben einstecken müssen. Es ist nun an sich noch

durchaus kein Zeichen von Talentlosigkeit, wenn sich der Maler nicht von früh an gleich selbst findet. Mehr oder minder muss ja ein jeder suchen, wofür er geschaffen ist, und nur Genies wie Menzel, Klinger betreten mit ihrem ersten Schritt schon die Bahn, deren Erfüllung ihre Mission ist. Der Anfänger soll sich nicht davon abschrecken lassen, Dinge darzustellen, an denen es ihm wirklich liegt, weil es heut grad nicht Mode ist, sie darzustellen. Etwas ganz eigenartig und individuell Gesehenes wird stets den Beifall der echten Künstler finden.

Unsere akademische Erziehung lässt es noch immer, ganz abgesehen von den klassicistischen Idealen, als das Ehrenwerteste erscheinen, Figurenbilder zu malen, obgleich viel weniger Talente dazu hinneigen, als sich damit abgeben; Hat doch die ganze Münchener Akademie keine Fakultät für Landschaft '), Stillleben ebenso und das Porträt wird als Lückenbüßer angesehen. Und doch lehrt uns ein Blick in die moderne Kunst, dass jedes Fach gleichbedeutend als Selbstzweck ist und sogar nur der viel kleinere Teil auf Figurenbilder fällt.

Es ist wohl selbstverständlich, dass man die Figuren in denselben Lichtbedingungen stellt, wie man sie malt. Trotzdem ist die Realisirung dieses Grundsatzes schwer durchzuführen, da dann z. B. alle Vorgänge im Freien auf die warme Jahreszeit verlegt werden müssen, obgleich gerade der Winter die Hauptthätigkeit des Malers ein¬ schließt. Nach Studien malen werden die wenigsten wollen und sich eine Freilicht-Beleuchtung im Atelier durch Re¬ flexe etc. herzustellen, wird nie zu etwas Ehrlichem führen. In großen Städten trifft man häufig auf Glashäuser, aber auch in denen wird nicht immer das gewünschte Ziel erreicht. Man denke sich allein den Fall, dass draußen Schnee liegt, so wird man so viel weiße Reflexe erhalten, denen selbst durch Aufhängen von Tüchern etc. nicht abgeholfen ist. Zum wenigsten giebt es dann nie die Beleuchtung, die zu dem gegebenen Stimmungsmotiv passt, wie z. B. direkten Sonnenschein, oder das grüne Licht einer Laube. Wer so etwas wirklich überzeugend darstellen will, muss es unter den Bedin¬ gungen im betreffenden Raum malen. Der Maler sollte sich deswegen von vornherein der Schwierigkeiten solcher Aufgaben bewusst werden und lieber das Beginnen der¬ selben auf geeignete Zeiten verschieben. Spielt der Vorgang im Innenraum, so sollte sich ganz besonders der Anfänger die Bedingungen desselben genau stellen. Gerade auf den Komponirschulen der Akademieen trifft man viel die verderbliche Lehre, dass man den Raum um die Figuren herum nach Zeichnungen oder Photo¬ graphien aus dem Kopf stimmen könnte. Wenn auch Meister, deren Können durch lange Erfahrung gestärkt ist, dieses Verfahren einschlagen können, so dürfte es

1) Beim Lesen der Korrekturen höre ich von der Be¬ rufung Zügel’s. Also ein Fortschritt!

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Anfängern stets gefährlich sein und man sieht sehr häufig trübselige Resultate solcher Bestrebungen. Wie es an¬ zufangen, ist schwer zu beschreiben; hie und da wird man die Bedingungen des Raumes doch nachahmen können, häufig wird man mit Bild und Modell iu die betreffenden Räume ziehen müssen, beides verbinden, große Studien im Raum malen etc.; jedenfalls sich nicht mit einei Lösung begnügen , die nur den Laien durch erzählende Deutlichkeit befriedigt, dem Maler aber keine Qualitäten zeigt.

Es giebt auch wieder gewisse Begabungen, die dem Zuge derselben folgen, wenn sie bald von einer ab¬ hängigen Nachahmung der Natur zu einer freieren, un¬ abhängigeren übergehen, solche, deren Schaffen von Anfang an nur auf das Große, auf das Bestreben, mit den einfachsten Mitteln das zu sagen, was sie empfinden und dadurch eine um so eindringlichere Sprache zu reden. Indem sie den Reiz des Zufälligen in der Natur ver¬ schmähen, geben sie gleichsam nur den Extrakt der¬ selben, das zusammenfassende Erinnerungsbild. Mehr oder minder sind das alle genialen Zeichner, von Rethel, Schwind und Ludwig Richter bis zu Klinger; aber auch die Maler Böcklin, Marees, Thoma, Stuck etc. gehören dahin. Dass auch eine solche Kunst nur lebensfähig ist , wenn sie sich mit Natur sättigt, ist selbstverständlich; die Aufnahme geschieht bei jedem Künstler in gleicher Weise: durch die Natur. Nur die Wiedergeburt zeigt sie hier in verändertem äußeren Ge¬ wände, das das Innere noch deutlicher zu Tage treten lässt, als in der Natur, wo es versteckt liegt und eben nur Sonntagsaugen sich offenbart, während das Kunst¬ werk deutlich zeigt, welche seelische Emotionen durch das Sichtbarwerden der Natur in dem Künstler erweckt werden.

Ein Weg zu dieser Kunst kann niemand gezeigt werden und nur der, dem er vorgezeichnet ist, kann ihn gehen. Vorab dem Studirenden, dem Anfänger kann nur geraten werden, nie von der Natur zu abstrahiren; wie seine Begabung auch sein möge, wird ihn die strengste Naturnachahmung doch stets auf den richtigen Weg führen. Denn das Abweichen von dem Sinnfälligen darf nicht ein gewolltes, beabsichtigtes sein, sondern der Künstler muss einer inneren Notwendigkeit folgen, er muss es so sehen: nicht als ob seine Augen optisch anders konstruirt wären, aber seine Vorstellungsbilder werden andere. Das ist die wahre Lehre des Impressionismus, dass sich im Künstler die Eindrücke als keimende Kunstwerke niederschlagen. Man hat das entstellt und die Menge denkt sich folgendes darunter: dass der Impressionist nur den Moment einer Beobachtung, der ihn malerisch gereizt, wiedergeben wollte. Das könnte aber am Ende die farbige Momentphotographie am besten. Jeder moderne Künstler ist mehr oder minder Impressionist: er will die Stimmungsmomente, die er beim Anblick der Natur empfunden, farbig wiedergeben. Die Verwendung der

Photographie lässt von Tag zu Tag nach und ich wüsste verschwindend wenige feine Künstler, die sie zu ihren Bil¬ dern benützen. Denn zum ersten sagt uns beim Malen, wo es nur auf den Toneindruck ankommt, die farblose Photographie rein gar nichts und ist erst die farbige da, so wird die subjektive Farbenempfindung noch allein von Wert sein. Und auch rein zeichnerisch ist sie nicht von Belang: die Ausführung, die die scharfe Photographie zeigt, hat das Kunstwerk nicht nötig und ist nur für Laien da; und die große Zeichnung wird der Künstler stets nur vollkommen vor der Natur und aus sich heraus geben können. Je mehr sich die Wissenschaft der vollkom¬ mensten mechanischen Reproduktion nähert, desto weiter muss sich die Kunst von dem gleichen Ziel entfernen. Mit andern Worten: von dem Tag an, wo die farbige Moment¬ photographie ihren Höhepunkt erreicht, ist der Kunst nicht der Garaus gemacht, sondern sie ersteht, von ihren letzten Schlacken befreit, in neuem Glanze; mit ihr wird nicht dem Naturstudium, sondern der Bestrebung, die nur im objektiven Nachbilden der Natur ihr Endziel sieht, ein Ende gemacht, um der individuellsten Kunst das Feld zu räumen.

Zum Schluss noch einiges über den Malerberuf.

Zuerst die pekuniäre Frage dabei. Es ist zwar Thatsache, dass die allerwenigsten großen Künstler als Söhne von vermögenden Leuten geboren wurden und daraus geht wohl hervor, dass Mittellosigkeit nicht un¬ bedingt ein Abhaltungsgrund zur Ergreifung der Künstler¬ laufbahn sein sollte. Wenn das Genie nicht vorher untergeht, wird es schließlich stets triumphiren. Ist das Genie nun dabei aber ein recht unpraktischer Mensch, wie zumeist, so triumphirt es oft erst als toter Mann. Die Zahl dieser Märtyrer ist groß, immerhin sind sie nicht im Elend verkommen, sondern nach der allergrößten Mehrzahl in wohlhabenden Verhältnissen, nur ohne die ihnen zukommende Stellung, gestorben. Diese Erwägung wird nun ganz gewiss kein wirkliches Genie abhalten, die Dornenbahn zu beschreiten, denn es liegt in seinem Wesen begründet, dass er sie gehen muss und die Hoff¬ nung, zu reussiren, wird ihn nie verlassen. Nur sollten sich alle die, die nicht diese Notwendigkeit in sich ver¬ spüren, hüten, diesen Spruch auf sich anzuwenden. Im Anfang sprach ich davon, dass aber gerade diese oft pekuniär am meisten erreichen und sich, in Erwägung dessen, ganz gewiss nicht zu Gunsten der Kunst, abhalten lassen, Maler zu werden. Aber auch ein Erfolg nach dieser Seite ist mehr als fraglich und ein jeder sollte sich ernsthaft überlegen, ob er nicht zu den 9/10 der¬ jenigen gehört, die untergehen oder sich zum größten Teil später verwandten Berufszweigen zuwenden. - Wie lange die notwendigsten Mittel zum Studium reichen müssen, ist schwer zu sagen; gut ist jedenfalls, wenn sie 6 7 Jahre währen; ob der Ausgebildete jedoch dann auch nur annähernd sich erhalten kann, ist beim Maler rein gar nicht zu sagen. Die Erfahrung hat gelehrt,

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dass viele früh dazu kommen, sich eine Existenz zu gründen, bei weitem die meisten schwere Jahre durch¬ zumachen haben.

Seit etwa 10 Jahren haben die Frauen angefangen, sich das Gebiet der Malerei zu erobern. Waren noch vor 1870 Malerinnen Seltenheiten, so fehlt jetzt nicht viel, dass sie denselben Prozentsatz darstellen, wie die Maler. Bei sehr vielen steht allerdings das Malen nicht höher, als das Sticken oder Holzhrennen oder sonst eine Beschäftigung, die die Zeit angenehm vertreibt. Zudem ist der Aufenthalt in den Ateliers amüsanter, als der in Stickschulen und bringt einen eigenen romantischen Nimbus. Immerhin ist die Bewegung gut, denn sie bringt durch die zukünftigen Mütter Verständnis oder doch Interesse für Kunst in Familien, die ihr sonst ganz fern stehen, sie verfeinert den Geschmack und bildet das Auge. Eine recht große Anzahl Damen steht jedoch heute den Männern als vollgültige Konkurrenten gegenüber. Wie in der Musik, sind sie selten kühne Bahnbrecher, dafür aber desto feiner anempfindende Talente und ihr malerischer Sinn hebt sich von Generation zu Generation derart, dass derjenige, der es zu beobachten Gelegenheit hat, mit Überraschung sieht, dass gerade das malerische Empfinden der Frau näher zu liegen scheint, als dem Manne, der sich seiner Aufgaben oft mit einem ganz unnötigen Aufwand von Kraft und Schwerfälligkeit ent¬ ledigt, wo die Frau mit einer gewissen angeborenen Anmut und Geschicklichkeit die Aufgabe spielend löst.

Bietet gerade die Malerei den Frauen oft einen angemessenen Beruf und angenehme sociale Stellung, so hat er auch seine Schattenseiten. Ein weibliches Künstlerproletariat wäre weit schlimmer, als ein männ¬ liches, aus dem einfachen Grunde, weil die Frau weniger geschützt ist. Naturgemäß mischen sich bei dem starken Andrang ein großer Prozentsatz von haltlosen Charak¬ teren dazu, die leicht auf Abwege geraten können, um so mehr, da die unreifen Köpfe der meisten Studirenden Unpassendes oft für geniale Erlaubtheiten halten und den bisher üblichen Ton der guten Gesellschaft als Spie߬ bürgertum perhorresciren , was um so peinlicher wirkt, wenn es Frauen sind. Thatsächlich ist auch schon in sonst noch ganz unverdorbenen Kreisen häufig ein Ton eingerissen, der für die notwendige Begleiterscheinung der Kunst proklamirt wird, die Frauenemancipation aber von ihrer nicht schönen Seite zeigt. Der Künstlerberuf bringt die Mädchen leicht mit Dingen und Kreisen in Berührung, die ihnen lieber fremd blieben, zum Künstler¬ tum auch durchaus nicht notwendig sind. Von den Lehrern und dem elterlichen Einflüsse wäre da das Beste zu erwarten, soweit die Eltern überhaupt über die Ver¬ hältnisse genügend orientirt sind; bis jetzt sind die er¬ wähnten Missstände auch noch durchaus keine typischen.

Bei jungen Leuten der männlichen Studirenden liegen gleiche Befürchtungen nicht so nahe. Denn zum ersten werden allen jungen Männern, wess Standes sie auch

seien, die Versuchungen so nahe geführt, dass es Märchen sind, dass die weiblichen Modelle für die studirende Jugend eine besondere Gefahr bildeten. Studenten oder junge Leute praktischer Berufsarten sind um kein Haar sittlicher als Kunststudirende. Im Gegenteil: den letz¬ teren wird über so manche Dinge der Schleier derart von dem Auge gezogen, dass sie gänzlich ihre Anziehung verlieren, während die verhüllten Reize, die Ursachen einer verdorbenen Phantasie, bei jenen viel eher in den Sumpf führen, eben ihres phantastischen Schimmers wegen, ohne dass sie es auch nur wissen. Es ist doch eigentlich schlimm, dass ein Durchschnittsmensch beim Anblick eines nackten weiblichen Körpers vor allem zuerst nur sexuelle Gedanken hat. Bei einem Künstler ist das weit weniger der Fall ; er kann thatsächlich ganz in der Schönheit aufgehen, ohne irgend welche andere Erregungen unterdrücken zu müssen. Wer steht da höher?

Der Laie hat von Modellen meist eine falsche Vor¬ stellung. Er denkt sich unter Modellen üppige, ver¬ führerische, rosige Weiber, die ihre Reize in holder Scham preisgeben, wie er sie auf gewissen Bildern häufig sieht. Thatsächlich besteht die Kaste der Modelle aus blöd dreinschauenden Geschöpfen, mit Dienstmädchen¬ gesichtern, selten mit durchaus gutem Wuchs, sondern meist nur teilweise brauchbar, mit jämmerlich ver¬ schnürtem Brustkorb und den verkrüppelten Füßen der ganzen „civilisirten“ Menschheit. Dabei unsauber, mit fettigem Haar. Der Maler lässt die Kleider meist mit einer gewissen Sorgfalt an Stellen legen, auf denen er sich nie setzt. Blöd und ohne Scham entkleiden sie sich, ohne Anmut stehen sie da. Selten verirrt sich einmal ein hübscheres Exemplar darunter, eine Schönheit nie. Ich spreche von dem Typus der deutschen Modelle. Die Italienerinnen zeigen oft bei noch etwas größerem Schmutz einen Anklang an antike Formen, Französinnen bei noch stärkerer Verkrüppelung durch Corset und Stiefel etwas mehr Grazie in den Bewegungen. Der allgemeine Eindruck bleibt meist derselbe.

Dass es hie und da Malern gelingt, Personen als Modelle zu erlangen, die über die ganze verführerische Anmut der Weiblichkeit verfügen, ändert daran nichts; der Typus der Modelle bleibt sich gleich.

Und so ist es auch ungefähr um den Nimbus bestellt, den das Bohemeleben des Malers im allgemeinen ausübt, der oft stark genug ist, um junge Leute zu der Wahl der Künstlerlaufbahn zu bestimmen. Was schweben ihm da für phantastische Träume vor, von üppig ausge¬ statteten Ateliers mit den schwellenden Kissen auf weichen Ottomanen, den herrlichen Gemälden da hinten im Grunde, reizenden jungen Mädchen, die die Modelle dazu gewesen, gerade so süß, wie die gemalt gesehenen; von dem genial¬ leichtsinnigen Leben, den Künstlerfesten!

Nein, das sind Phantasieen; das Atelier ist eine Werkstätte, nichts anderes. Nicht alle Leute haben das

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Geld Makarts und die Lust daran, sich ihre Werkstätten als Märchenräume zu verbauen.

Wisst ihr, wo sich das Kunstleben konzentrirt, wie es bei ernsthaften Künstlern aussieht? In den trostlos langen, öden Straßen, hinten in den Rückgebäuden liegen die Ateliers. Große kahle Räume, weiß getüncht. Keller¬ artig fällt das kalte Nordlicht herein, nur selten findet sich noch ein anderes Fenster oder ein Glasausbau. Das Mobiliar ist bescheiden. Ein Polstersitz oder ein flacher Divan, ein antiker Schrank, ein paar Hocker aus schlichtem Holz, ein großer Tisch mit den Malgeräten. Die Haupt¬ sache im Raum ist das Werk. Die Wände sind frei, um Platz für das Stellen und Arrangiren des Modells zu lassen. Und wenn es dunkelt, dann wäscht der Maler seine Pinsel und geht müde und in Gedanken an seine Arbeit fort, zum Essen. So sieht es zumeist bei denen aus, die die Kunst ernst genommen, die ihre Achse um ein Stück vorwärts bewegt haben. Es giebt auch einige Glückliche, denen ihre Kunst die Mittel bescheert hat, sich einen Palast zu bauen, wie Lenbach es tliat. Aber auch in seinem hohen Raum , wo er zumeist arbeitet, siehts ernst genug aus.

Und dann giebt es ja auch noch genug Hanswurste, die mehr wegen ihres Ateliers als der Bilder drin Maler sind, jene, zu denen die Fremdenführer die Reisenden führen. Ihre Werke zeigen dann, was an ihnen ist.

Das Leben des modernen Malers ist nicht so ro¬ mantisch, wie die meisten glauben, aber auch nicht so gigerlhaft, wie man nach den „Fliegenden Blättern“ oft annehmen müsse.

Dann die Künstlerfeste! Auch die spiegeln sich in den Augen der Draußenstehenden anders, als sie sind. Ganz gewiss wird der Künstler, wenn etwas derartiges zu arrangiren ist, das Vollkommenste darin leisten. Nur ist es eine irrige Annahme, dass diejenigen, die sich heute für derartige Zwecke hergeben, die großen Künstler wären. Diese haben in den meisten Fällen mehr zu thun, als Wochen mit solchem Firlefanz zu vergeuden. Es gab einmal eine Zeit, es war Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre, als nach trostloser Nüchternheit der Farben¬ rausch der neu entdeckten Renaissance in der Künstlerwelt festlichen Einzug hielt. Damals, als altdeutsch die Losung war, blieb niemand von der Bewegung unberührt. Alles, auch die ältesten Künstler machten sie mit und ver¬

suchten sich mit allen Mitteln in den Rausch der Farben und des Prunkes zu versetzen. Da hatten die Kiinstlerfeste eine gewisse Mission und auch die Bilder aus jener Zeit muten ein wenig wie Künstlerfeste an. Diese Zeit ist längst vorüber, das Gute derselben ist angenommen und verwertet. Die Künstlerfeste sind unzeitgemäß geworden. Es werden noch welche ver¬ anstaltet, es gehen sogar gute Künstler hin, aber auch nur aus dem Grunde, weil auch sie nicht über dem Menschen stehen und das Bedürfnis nach Tanz, Flirt und Sekt haben.

Die verbummelten Talente, deren Leben zwischen Arrangiren, Bier und dazwischen etwas flüchtig hinge¬ worfener Arbeit dahinfließt, sind eine der betrübendsten Erscheinungen in der ganzen Malerwelt. Sie bilden eine ganze Kaste, aus der, wenn sie nicht ganz verkommen, dann alles mögliche hervorgeht: Gastwirte, Fremden¬ führer oder sonst etwas. Es giebt noch eine zweite Art von Unglücklichen, die auch der Kunst den Rücken wenden mussten, aus Not gezwungen oder weil sie nicht den Mut oder die eiserne Energie hatten, die Prüfungs¬ zeit zu bestehen. Oft sind es ungemein tüchtige Menschen, welche viel versprachen; aber sie mussten verwandte Berufszweige ergreifen , um sich und die Ihren zu erhalten.

Schließlich giebt es noch eine große Zahl, die Maler bleiben, wenn ihr Beruf noch den Namen verdient. Sie verdienen ihr Brot mit Farben und dem Pinsel, das ist das einzige, was an den Maler erinnert. Es sind nicht einmal die, die den Geschmack des Publikums korrumpiren, sondern sie arbeiten im Handwerk für Kunsthändler 4. Klasse, für Lithographen etc. und ihre Erzeugnisse beeinträchtigen nicht den Kunstmarkt.

Im allgemeinen werden diese Erwägungen wenig helfen, denn sie sind schon hundertmal ausgesprochen worden und haben nicht gehindert, dass sich das Heer der Unberufenen dem Malerberuf zuwendet. Der Zweck meiner Bemerkungen ist erfüllt, wenn ich einigen ernst¬ haften Talenten die Irrfahrten, auf denen sie zum Rechten gelangen, etwas verkürzen half und den Lehrern, die mit mir dieselben Ansichten vertreten, im Fördern künstlerischer Anschauungen bei ihren Schülern einen Dienst erwies.

Aus Joseph Sattler’s Wiedertäufern. (Berlin, J. A. Stargardt.)

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JOSEPH SATTLER'S WIEDERTÄUFER.

I10SEPH Sattler bat sich vor vier Jahren durch seinen „Bauernkrieg“ eingeführt. Es waren kräftige Bilder aus einer der wildesten Epi¬ soden deutscher Geschichte, überraschend nachempfunden, den alten Meistern der deutschen Kunst durch Art und Phantasie verwandt. Die bescheidene Ausgabe, die der junge Künstler damals im Selbstverlag wagte, bestand aus nur wenigen Abdrücken und ist selten geworden. Jetzt hat er eine ähnliche Aufgabe in breiterem Rahmen lösen können. Die „Wiedertäufer“, *) die soeben in demrührigen

1) Joseph Sattler, Die Wiedertäufer, Verlag von J. A. Stargardt, Berlin. 30 Blatt. Fol. Ladenpreis M. 20. Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 2.

Verlage, von J. A. Stargardt in Berlin erscheinen, bilden ein stattliches Heft von dreißig mannigfachen Bildern in verschiedener Technik und vortrefflicher typogra¬ phischer Gesamtwirkung. Einige Proben daraus ver¬ danken wir der Güte des Verlegers.

Sattler ist kein Illustrator im landläufigen Sinne. Er sucht nicht alles zu geben, sondern nur, was ihn eben anzieht. Der alten Zeit sucht er auch durch die Auswahl und die Form seiner Bilder gerecht zu werden: bald sind es Einzelvorgänge, bald Volksmassen, bald die Helden, bald Typen aus der rühmlosen Menge; dazu Spottblätter in derbem Schnitt und voll kecker Satire, wie sie damals umlaufen mochten, und sinnreiche Sym-

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JOSEPH SATTLER’S WIEDERTÄUFER.

bole. Die denkwürdigen Ereignisse von Münster, der Aufruhr, das Königtum des Schneider-Propheten, die Kämpfe der Belagerung, die grausige Hungersnot, end¬ lich der Sieg der bischöflichen Belagerer und das Ende der Häupter, das alles bot reiche Ernte für einen phantasievollen Bildner. Was wir an den früheren Werken des Künstlers geschätzt haben, findet sich auch liier wieder. An die energischen Blätter des Bauernkrieges erinnern die Kriegs- und Volksscenen. etwa die unheim¬ liche Kalktaufe, wo auf die stürmenden Landsknechte von der Mauer herab zischender Kalk gegossen wird, oder das ergreifende Bild aus den letzten Tagen der Hungersnot, das der Künstler boshaft genug „Münsterisch Straßenleben“ betitelt. Die düstere Tragik seines „Todten- tanzes“ hat Sattler einem anderen Blatte eingehaucht, das die Scharen der hohläugigen Hungernden vor dem Rathause schildert. In den mehr dekorativen Blättern, den Sinnbildern, den Spottblättern, erkennt man die ge¬ schickte Hand, die in den Ex-libris so reizvolle Anord¬ nungen geschaffen hat.

Auf die Art der Wiedergabe seiner Zeichnungen hat der Künstler diesmal besonderen Wert gelegt. Hier ist ein erheblicher Fortschritt gegen den „Bauernkrieg“, der gleichmäßig in Lichtdruck reproduzirt war. Die meisten Blätter der „Wiedertäufer“ sind nach Strich¬ zeichnungen in guten Ätzungen gegeben. Wo neben den Strichen ein leichter Ton erwünscht schien, ist der

Lichtdruck herangezogen worden, ohne dass dadurch der Charakter einer Strichzeichnung geändert wäre. Die Gruppe der Hungernden ist nach einer Tuschzeichnung, ein anderes Blatt in sauberem Farbenlichtdruck repro¬ duzirt. Ganz neu sind die Versuche, die der Künstler in Radirung gemacht hat: die große Ausgabe enthält deren drei, von denen in der allgemeinen Ausgabe zwei durch Lichtdruck nachgebildet sind. Hier erstrebt Sattler malerische Wirkungen nach Art der neuesten Schule; aus dem Halbdunkel heben sich nur wenige Gestalten heraus, und der Phantasie des Beschauers bleibt es über¬ lassen, sich den Hintergrund und die Nebenfiguren aus¬ zuführen.

Trotz dieser Versuche glauben wir, dass die Stärke des Künstlers im Umriss und in der kernigen Zeichnung liegt, in den klar geschauten, energischen Bildern; eine reiche Phantasie hat es nicht nötig, sich mit Andeutungen zu begnügen, hinter denen sich heute so oft die halben Talente verstecken. Der markige Federstrich und fleißiges Naturstudium sollten Sattlers Leitsterne bleiben. Wie gerne sähen wir mit solchen Mitteln auch die helle Seite unserer Reformationszeit von ihm verkörpert, etwa Ulrich von Hutten’s mannhafte Gestalt; was könnte er uns leisten, wenn er, so sich selber treu, auch im Kampfe und Ringen der Gegenwart, in den Volksmassen, in der Welt der harten Arbeit und der Not, das Bleibende in Lapidarschrift zu schildern wüsste. P- JESSEN

Schlussvignette aus Joseph Sattler’s Wiedertäufern. (Berlin, J. A. Stargardt.)

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Hungersnot in Münster (Miinsteriscli Straßenleben). Aus Joseph Sattler’s Wiedertäufern (Berlin, J. A. Stargardt.)

G

l ; cli.iuitfuscli i-.-iii. Aiiohen, Dom. (Aus A. Springer, Handbuch der Kunstgeschichte. II. Mittelalter. Leipzig, E. A. Seemann.)

KLEINE MITTEILUNGEN.

Anton Springer’s Handbuch der Kunstgeschichte. II. Band:

Das Mittelalter. Mit 363 Abbildungen im Text und drei

Farbendrucken. Leipzig, E. A. Seemann. Geb. 5 M.

In einem stattlichen Bande von 35 Bogen liegt nun auch der zweite Teil der durch Einfügung von Abbildungen in dem Text zu einem „Handbuch“ umgestalteten „Grund¬ züge der Kunstgeschichte“ vor. Das Mittelalter war das von Springer bevorzugte Forschungsgebiet, das er durch seine feinsinnigen Untersuchungen für Schüler und Nachfolger nach mancher Richtung hin erschlossen und gangbar ge¬ macht hat. Was er vor acht Jahren niederschrieb hat auch heute noch volle Geltung, so dass der Herausgeber des Hand¬ buches sich mit Recht in allen wesentlichen Punkten jeder Neuerung enthalten konnte. Einer Verbesserung begegnen wir nur bei der Darstellung der gotischen Baukonstruktion, deren Wesen in der neuen Redaktion allerdings anschaulicher hervortritt. Die sonstigen Veränderungen fallen auf den Illustrationsapparat, aus dem die älteren ungenügenden Ab¬ bildungen in den „Bilderbogen“, wie z. B. der Sarkophag des Junius Bassus, ausgeschieden und durch neue, nach photo¬ graphischen Aufnahmen gefertigte Holzschnitte oder Auto¬ typien ersetzt worden sind. Einen besonders dankenswerten Schmuck bilden die drei farbigen Tafeln.

Das Mittelalter ist erst seit Kurzem, nachdem die roman¬ tische Richtung in der modernen Kunst ihre Vorherrschaft eingebüßt hat, in ein neues Stadium wissenschaftlicher For¬ schung eingetreten. Gründlicher und objektiver als zuvor wird der Geschichte der mittelalterlichen Dinge nachgespürt und besonders auf dem Gebiete der bildenden Künste wurde neuerdings eine Reihe von wichtigen Aufschlüssen gewonnen. Auf den Universitäten und den technischen Hochschulen wird dem Studium der mittelalterlichen Stile die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Schon die Notwendigkeit, die mittelalterlichen Denkmäler zu conserviren und zu restauriren, begründet diese Gepflogenheit. Für alle diese verschiedenen Arten des Studiums bietet der vorliegende Band dem An¬ fänger das beste Vademecum. *

D. Victor Schnitze, Professor an der Universität Greifs¬ wald, Archäologie der altchristliehen Kunst. Mit 120 Abbildungen. München 1895, 0. H. Becksche Ver¬ lagsbuchhandlung, Oskar Beck. gr. 8°. XII, 382 S. M. 10.—.

Der altchristlichen Kunst wird in unserer Zeit ein reges Studium gewidmet. Lange über Gebühr vernachlässigt, wird es jetzt besonders von Theologen gern getrieben. Es scheint, als ob das Jahr 1895 einen reichen Ertrag für die Kunst¬ geschichte der ersten christlichen Jahrhunderte liefern würde. Professor Kraus in Freiburg i. Br., der nimmermüde, hat, einer Notiz der Hochschul -Nachrichten zufolge, den ersten Band einer Geschichte der christlichen Kunst handschriftlich vollendet. Von E. Hennecke ist ein stattlicher Band über altchristliche Malerei und altkirchliche Litteratur (erscheinend in Leipzig bei Veit & Co.) bereits angekündigt. Hoffen wir, dass diese Schriften die gleiche gute Aufnahme finden, die der vorliegenden „Archäologie der altchristlichen Kunst“ von V. Schultze ohne Zweifel zuteil werden wird. Der Verfasser hat den Titel, um den sich streiten liesse, gewählt, um anzudeuten, dass er den von ihm zu verarbeitenden Stoff nicht rein ge¬ schichtlich darzustellen beabsichtige. Darum hat er auch nicht eine chronologische Reihenfolge zu gründe gelegt, sondern scheidet nach sachlichen Kategorien; nach einer Einleitung führt er uns fünf Teile vor: die kirchliche Baukunst, die Malerei, die Skulptur, Kleinkunst, Ikonographie. In den kleineren Unterabteilungen, in den einzelnen Paragraphen, ist allerdings möglichst das chronologische Prinzip ma߬ gebend gewesen. In diesem Rahmen stellt der Verfasser zusammen, was auf den Namen „altchristliche Kunst“ An¬ spruch machen kann, oder, um mit den Worten des Ver¬ fassers zu reden : den Kunstbesitz des Christentums und der Kirche im Rahmen des klassischen Altertums. (S. 1.) Ganz richtig wird darauf aufmerksam gemacht, dass es einen ein¬ heitlichen Zeitpunkt der Begrenzung der altchristlichen Kunst nicht giebt, dass im Osten die Grenze tiefer zu ziehen ist als im Westen, dass auch provinzielle Eigentümlichkeiten es

KLEINE MITTEILUNGEN.

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veranlasst haben, dass vereinzelt in den Provinzen das künst¬ lerische Schaffen sich länger auf einer gewissen Höhe ge¬ halten hat, als in der Hauptstadt. Nur könnte man bei einer solchen Charakteristik der altchristlichen Kunst, wie mir scheint, mit vollem Rechte, die Frage aufwerfen, ob man in ihren Bereich nicht auch die Erzeugnisse der karo¬ lingischen Kunst (zum Teil) hereinziehen müsse. Der Ver¬ fasser hat das auch einmal selbst gethan, indem er S. 197 den Utrechtpsalter als Typus einer Psalterillustration aufruft. Die Art der Darstellung und die Betrachtungsweise des Ver¬ fassers sind durch seine früheren Publikationen hinlänglich bekannt. Ich glaube darum vou einer eingehenderen Cba-

beaux-arts; Paris, ancienne maison Quantin, 1892.) Besonders freudig begrüsse ich es, dass der Osten genügend berück¬ sichtigt worden ist. Der Verfasser kennt auch hier sehr vieles aus eigner Anschauung. Irre ich nicht, so gehen wir einer Zeit entgegen, wo das Ansehen Roms auch in Sachen der christlichen Archäologie überholt werden wird. Was wir vom Orient zu erwarten haben , finde ich an vielen Stellen des Buches angedeutet. Erst wenn wir hier klarer sehen, als es bis jetzt möglich ist, wird die altchristliche Kunst in die richtige historische Beleuchtung rücken. Dann wird es auch Zeit sein, die Frage nach ihrer Abhängigkeit von der Antike endgültig zu lösen und dem Prozesse nachzu-

Yom Sarkophag des Junius Bassus. Rom, Peterskirolie.

(Aus A. Springer, Handbuch der Kunstgeschichte. II. Mittelalter. Leipzig, E. A. Seemann.)

rakterisirung absehen zu dürfen. Es ist eine Freude, zu sehen, wie Schultze den von ihm eingeschlagenen Weg rüstig weiter gegangen ist, von gerechtfertigtem Widerspruch ge¬ lernt hat, durch ungerechtfertigten in seinen Anschauungen bestärkt worden ist. Die Selbständigkeit der Forschung tritt überall zu Tage. Es sollte mich darum nicht Wunder nehmen, wenn auch dem neuen Werke gegenüber der Wider¬ spruch sich erhöbe. An Versehen, Fehlern und gewagten Behauptungen mangelt es nicht. Doch sollte der Dank für das Ganze, was der Verfasser bietet, das Unbehagen über Einzelheiten überwinden. Ich sehe den Wert des vor¬ liegenden Buches vor allem darin, dass der Versuch gemacht wurde, eine möglichst vollständige Zusammenstellung des Stoffes zu liefern. Daran fehlte es durchaus. Auch Perate’s Handbuch: 1’ Archeologie chretienne, hatte diesem Mangel nicht abhelfen können. (Bibliotheque de l’eseignement des

gehen, der gerade jene Periode der Kunst so bedeutsam macht: dem Prozesse der Wechselwirkung der alten Form und des neuen Inhaltes. Die Lösung dieser beiden Auf¬ gaben ist fürwahr die edelste Frucht, die die Wissenschaft hier zu pflücken hat. Soweit wir es bis jetzt kennen, liegt das Material in Schultze’s Archäologie gesammelt und zuge¬ schnitten vor. Sache des klassischen Archäologen und des Kunsthistorikers ist es, hier mitzuwirken. Hoffentlich ist es dem Herrn Verfasser bald vergönnt, uns seine Lösung in systematischer Arbeit vorzuführen. Sie soll mit gleicher Freude begrüsst werden, wie das vorliegende Buch.

Von dem Rechte des Rezensenten Gebrauch machend hebe ich noch Folgendes hervor: die Anfügung eines syste¬ matischen Teiles (Ikonographie) hat zahlreiche Wiederholun¬ gen verschuldet. Doch ist gerade dieser Teil sehr wertvoll. Mit Recht erklärt sich der Verfasser gegen die „Katakomben-

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KLEINE MITTEILUNGEN.

kirche“ (S. 110 tf.). Die unhistorische Deutung cler Oranten, die "Wilpert gegeben hat, wird energisch zurückgewiesen (S. 170). Tn der Orans unter Umständen eine Personifikation des Gebete zu sehen (S. 175 ff., 377), ist doch sehr bedenklich; der Verf. will allerdings auch nur die Möglichkeit darthun.

_ Das3 die Deutung des bekannten Gemäldes in der Fris-

cillabatakombe auf die Einkleidung einer gottgeweihten Jungfrau eine Unmöglichkeit ist (S. 3i2), kann keinem Zweifel unterliegen. Die einzig mögliche Erklärung bringt das erste Heft der bei Mohr in Freiburg erscheinenden archäologischen Studien zum christlichen Altertum und Mittelalter. Ebenso öglich aber erscheint mir Schultze’s Deutung zweier Katakombenbilder auf Pauli Schiff bruch vor Malta (S. 1G7 ff'., erhör des Apostels vor dem Prokonsul Sergius Paulus (S. 354, 363). Auch die „bärtigen Engel“ sind doch mehr als bedenklich (S. 350 ft'.). Den christlichen Ursprung der barberinianischen Terracotta (S. 340) hat Springer nicht be- strittcn (vgl. Repertorium für Kunstwissenschaft, 1884, S.3S1 ft'.), sondern nur abgelehnt, die Darstellung für ein Weltgerichts¬ bild zu nehmen. Mit diesem Widerspruche wird er Recht behalten, umsomehr, als die Umschrift Victoria entziffert worden ist. Die Auswahl der Litteratur ist verständig ge¬ troffen. Einzelnes Wichtige fehlt. Zu S. 27 (248, Anm. 1) fehlt das Verzeichnis der unbekannten spanischen Sarkophage in den Mitteilungen des kaiserlich deutschen Instituts, Rö¬ mische Abteilung, Bd. IV, 18S9, S. 77, 78. Zu den christ¬ lichen Altertümern in Marseille (S. 27) ist jetzt De Blants Katalog zu vergleichen : Catalogue des monuments chretiens du musee de Marseille (inscriptions, sarcophages, marbres divers, terres cuites, bijoux) 8Ü. 110 S. Paris, imprimerie nationale 1894. Zu dem Taufbilde in S. Giovanni in fonte in Ravenna (S. 205) sind die Notizen in den Mitteilungen des Instituts, Römische Abteilung, Bd. II, 1887, Nr. 296 ff. unberücksichtigt geblieben, aus denen hervorgeht, daß die Schale in der Hand des Täufers einer Ergänzung im 17. Jahr¬ hundert ihre Entstehung verdankt. Die Etudes d’archeo- logie juive et chretienne von David Kaufmann (Paris 1887; Separatabdruck aus der Revue des etudes juives, torne XIV) vermisse ich S. 184 ff. Kaufmanns, „Sens et origine des sym- boles tumulaires de l’ancien testament dans l’art chretien primitif“ fördern die Forschung über die Bedeutung der Katakombenbilder an mehr als einem Punkte. Ebenso ver¬ misse ich S. 220 ft’, den Hinweis auf einen (für die Symbolik der altchristlichen Kunst) wichtigen Artikel von Franz Wick- hotf in der Römischen Quartalschrift III, 1889, S. 158 tf. Eine Neigung zu gesuchten und gewagten Ausdrücken ist mir öfters aufgefallen. Abkürzungen bei der Anführung von Büchertiteln sollte man möglichst vermeiden; was dabei an Raum gewonnen wird, geht an Deutlichkeit verloren. Schwarze hat ein Buch geschrieben, betitelt: Untersuchungen über die äussere Entwicklung der afrikanischen Kirche. Es wäre gar nicht nötig, den Vornamen des Verfassers anders als mit A. anzuführen; S. 28 ist aber Th. gedruckt, S. 35, Anm. 1 Alex., was gewiss jeder mit Alexander auflöst. Der Mann heisst aber Alexis; er schreibt zudem nicht Ent¬ wickelung, wie Sch. immer drucken lässt, sondern Entwick¬ lung. Auch sonst finden sich Ungenauigkeiten in Bücher¬ titeln, doch verhältnismäßig selten. Der Druck ist im Ganzen korrekt. Der Nominativ pluralis von olxog heisst olxoi, nicht oi'xoi, wie konstant gedruckt ist. Propinarii S. 45, Anm. 1 geht wohl auf Gieseler, Lehrbuch der Kirchen¬ geschichte I4 Nr. 259, Anm. 6 zurück. Nr. 134, Z. 21 von oben muss es heißen: Vita S. Melaniae iunioris I, c. 21 (Ana- lecta Boiland. 1889.) Die 120 Abbildungen sind gut aus¬ gewählt; einzelne sind durch die Anwendung der Zinkotypie

recht undeutlich. Das Register könnte reichhaltiger sein. Hoffentlich lässt sich niemand durch die Ausstellungen, die ich gemacht habe, den Genuss des schönen Werkes trüben. Der Verfasser hat oft darauf aufmerksam gemacht, wie viel in christlicher Archäologie noch zu thun sei. Mögen sich viele finden, die von ihm lernen und mit der gleichen Wärme für den Gegenstand und maßvoller Kritik ihm nach- arbeiten !

Halle a. S. GERHARD figker.

Le Gallerie nazionali italiane. Notizie e Documenti.

Anno I. Per cura del Ministero della Pubblica Istruzione.

Roma, 1894. Fol.

Die staatliche Pflege der Kunst und Kunstwissenschaft hat in den letzten Jahren in Italien einen kräftigen Aufschwung genommen. Dafür legen die methodisch vorgenommenen Aus¬ grabungen, die Errichtung der neuen Museen wie der archäo¬ logischen Schule in Rom, die von der Akademie der Lincei veröffentlichten, regelmäßigen Berichte über neu entdeckte Denkmäler sowie die von derselben Akademie herausge¬ gebenen Monumenti ant.ichi Zeugnis ab. Kommen die ge¬ nannten Veranstaltungen der Wissenschaft der alten Kunst zu Gute, die, wie es auch anderwärts der Fall war und hier durch die besonderen Verhältnisse um so begreiflicher ist, dem wissenschaftlichen Betriebe der neueren Kunst voran¬ gegangen ist, so beginnt sich nunmehr auch dieser gleiches Interesse und Sorgfalt zuzuwenden. Seit Jahren ist eine umsichtige Verwaltung bemüht, der vielfachen Verwahr¬ losung der öffentlichen Galerien ein Ziel zu setzen, zerstreute Kunstwerke von der Gefahr des Unterganges oder der Ent¬ führung ins Ausland zu befreien, und eine von modernen wissenschaftlichen Anschauungen getragene durchgreifende Umgestaltung der staatlichen Kunstsammlungen ist im Zuge. Die Folgen dieser Thätigkeit waren zumeist bisher nur an Ort und Stelle wahrzunehmen; mit dem vorliegenden ersten Bande einer neuen Publikation tritt sie nunmehr auch vor die weiteren Kreise der Öffentlichkeit. Das Werk schließt sich in Inhalt und Ausstattung an die Jahrbücher der preußischen und österreichischen Kunstsammlungen an, und den Vergleich mit diesen braucht das Unternehmen des italienischen Ministeriums sicherlich weder was die Wich¬ tigkeit, noch was den Reichtum des hier auf seinem ursprüng¬ lichen Boden in unabsehbarer Fülle zu Gebote stehenden Materials betrifft, zu scheuen. Es sind durchaus thatsäch- liche Mitteilungen, mit Ausschluss eigentlicher Abhandlungen,., die diesen ersten, 224 Seiten starken und mit 17 schönen Heliogravüren von Danese in Rom geschmückten Band füllen. Gleichwie in den vorerwähnten analogen Publikationen ist die antike Kunst auch hier nicht ausgeschlossen ; gleichwohl fällt der Hauptanteil den Werken des Mittelalters und der Neuzeit zu. Voran geht dem Bande eine über die Ziele der Publikation aufklärende Relation an den Minister Baccelli, ver¬ fasst von Adolfo Venturi, dem Leiter und wesentlichen Träger des Unternehmens, gleichwie der Thätigkeit selbst, von welcher er Rechenschaft ablegt. Der folgende Inhalt gliedert sich in zwei Abteilungen: die erste (,,le Gallerie nazionali“) berichtet über die im vorausgegangenen Verwaltungsjahre (1. Juli 1893 1. Juli 1894) geleistete Thätigkeit, die sich auf die folgenden Sammlungen bezieht. I. Die Galerie der Brera in Mailand: über zwei aus der Sammlung Barbi- Cinti in Ferrara neu erworbene (auf den beigegebenen Tafeln reproduzirte) Gemälde von Francesco del Cossa. II. Parma : Bericht Corrado Ricci’s über die gänzliche Neu¬ ordnung der Galerie (wobei Correggio’s Madonna della sco- della und Girolamo Mazzola’s Concezione zu ihren ursprüng-

Rathaus zu Löwen. (Aus A. SrKJNGEES Handbuch der Kunstgeschichte, II. Mittelalter. Leipzig, E. A. Seemann.)

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KLEINE MITTEILUNGEN.

liehen prächtigen Altarrahmen kamen), mit geschichtlichen Notizen über die Sammlung. Restauration der Fresken Araldi’s in der Cella di Sta. Caterina. III. Modena : Be¬ reicherung der Gemäldesammlung und Neuaufstellung durch Venturi und Giulio Cantalamessa. Bericht Lucio Mariani’s lie estensischen Antiken. IV. Venedig-. Medaillen (und im Anhang Renaissancebronzen) des Museo archeologico.

: Bereicherung der Galerie durch Geschenke und aus den Magazinen genommene Werke (darunter die auf Taf. XVI wiedergegebene Venus von Lorenzo di Credi). VI. Rom: Berichte Cantalamessa’s und Mariani’s über die fideikommissarischen Galerien und Antikensammlungen (Sciarra, Doria-Pamphili, Spada, Barberini, Colonua, Rospi- glosi, Boneompagni-Ludovisi). Im Anschluss an die genann¬ ten beweist VII. ein Bericht J. B. Supino’s über das Museo civico in Pisa, dass auch die in städtischem Besitze befind¬ lichen Kunstsammlungen in dem Werke Berücksichtigung finden sollen. Der zweite, der Veröffentlichung kunstge¬ schichtlicher Dokumente gewidmete Teil konnte kaum wür¬ diger eröffnet werden, als mit dem Abdrucke des i. J. 1892 im Archiv der Basilica von Loreto wiedergefundenen Libro dei conti Lorenzo Lotto’s aus den Jahren 1538 56, das mehr als ein Rechnungsbuch, ein förmliches Tagebuch ist, in dem der alternde Meister mit minutiösester Genauigkeit die Vor¬ kommnisse fast jeden Tages aufzeichnet, durch den Einblick in das intime Leben des Künstlers eines der merkwürdigsten Dokumente. Wo ein einziges Verwaltungsjahr so reichen Stoff bietet, kann der Fortsetzung nur mit hochgespannten Erwartungen entgegengesehen werden. Die inzwischen voll¬ endete Neuordnung der Kupferstichsammlung in Bologna, ferner der Galerie in der Akademie sowie des Museums im Dogenpalast zu Venedig, die aus der Vereinigung der Galerien Corsini und Torlonia sowie Geschenken und Gemälden des Monte di Pieta gebildete Nationalgalerie in Rom mit dem darangeschlossenen Gabinetto nazionale delle stampe, endlich die bevorstehende Neuaufstellung der Uffiziengalerie zu Florenz in fast verdoppelten Räumen werden selbstverständ¬ lich ihren Ausdruck in dem ersten Teile des neuen Bandes finden, während für den zweiten die Veröffentlichung von auf die ehemals farnesische Galerie in Neapel, sowie auf die Zerstreuung von Kunstwerken in der Napoleonischen Zeit bezüglichen Dokumenten in Aussicht gestellt wird. So sei denn dem neuen, vielversprechenden Unternehmen bester Erfolg und Fortgang gewünscht! E. L.

Max Klinger’ s Radirung ,,Die Quelle“ gehört zu jenen fünf Blättern des Künstlers, welche nach Gemälden Arnold Böcklin’s geschaffen wurden. Während jedoch vier von ihnen (die Toteninsel, die Lebensalter, Sommertag und Burg am Meere) sich begnügen, das jeweilige Vorbild mit den Mitteln der Graphik möglichst treu wiederzugeben, unter¬ nimmt der Künstler in diesem gewissermaßen eine Umdich¬ tung des in seinem Besitze befindlichen Böcklin’schen Ge¬ mäldes unter Beibehaltung des lyrischen Grundtones, der uns so frühlingsfrisch aus dem kleinen Bilde entgegenklingt. Böcklin’s „Flora“ ist, wie fast alle Schöpfungen des großen Baselei Meisters, nichts anderes als ein Lobgesang auf das

belebende, herzerquickende Element des Wassers, der tau¬ benetzten, lenzesfrohen Natur, unter deren verjüngendem Hauch sich die Erde immer aufs neue mit Gras und Blumen schmückt. Klinger hat die jungfräulich ernste Gestalt, die uns so fragend und träumerisch aus meertiefen Augen anschaut, zur Personifikation der Quelle selbst umgewandelt. Der dunkle Schleier auf den Schultern der Göttin und ihr Wiesenblumenkranz sind verschwunden, sie legt in mädchen¬ hafter Scham die Hand auf die Brust, und die etwas diver- girende Stellung der Augäpfel verleiht dem jugendlich schönen Antlitz einen eigentümlichen Reiz weltentrückter Melancholie. Wie ein leises Echo berührt uns dieser Blick vom Murmeln der klaren Quelle, die sich im Hintergründe dem saftigen Grün der Erde entringt und durch feuchte Wiesen dahinrieselt: ein Widerklang vom Rauschen des lenzlichen Windes im jungen Laub der Birken, über denen weiße Lämmerwölkchen am tiefblauen Äther dahinziehen. Aus Böcklin’s antiker Göttin ist bei Klinger die nordisch herbere Gestalt der „Frau Holde“ geworden, jener germa¬ nischen Schwester der Flora, welcher die Quellen und Wässer geheiligt sind, und die zur Maienzeit das Land durchzieht, bunte Frühlingsblumen auf ihren Pfaden zurücklassend: „Frau Holda kam aus dem Berg hervor,

Zu ziehn durch Fluren und Auen;

Gar süßen Klang vernahm da mein Ohr,

Mein Auge begehrte zu schauen.“

Nach der handschriftlichen Datirung einiger Exemplare hat Klinger die Platte im Frühjahr 1889 gedruckt. Das Dresdener Kabinett besitzt neben dem fertigen Abdruck auf Japanpapier auch einen Probedruck, auf welchem die Stirn¬ locken des Mädchens noch fehlen, während die rechte Hand unter der linken gekreuzt ihre Brust teilweise bedeckt. Der Künstler hat die Platte später vollständig überarbeitet, die Landschaft in tiefere Wirkung gesetzt und die rechte Hand ausgeschlift'en, Veränderungen, die dem kleinen Blatt zu un¬ leugbarem Vorteil gereichten. Als selbstschöpferische Um¬ dichtung eines geistesverwandten Bildes Arnold Böcklin’s nimmt es in Klinger’s Werk einen hervorragenden Platz ein und wird stets zu den liebenswürdigsten Arbeiten des Künst¬ lers zählen. MAX LEHRS.

Int Tempel zu Sais, Originalradirung von H. Laulcota. Von der begabten Künstlerin, über deren Entwicklungsgang wir schon früher einige Notizen gebracht haben, legen wil¬ den Lesern heute eine neue Radirung vor, die das male¬ rische Empfinden und die charakteristische Darstellungsweise die ihr eigen sind, wiederum bekundet. Das verschleierte Bild zu Sais ist ja eine jedem Gebildeten geläufige Ballade: „Besinnungslos und bleich,

So fanden ihn am andern Tag die Priester Am Fußgestell der Isis ausgestreckt.“

Das wuchtige Wort Schillers: „Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld!“ wird hier in packender Weise illustrirt. So liegt nur ein völlig Zerschmetterter am Boden, den Entsetzen niedergestreckt hat über das zornflammende Antlitz der beleidigten Gottheit. Die Kraft der Gegensätze in Farbenflächen und Linien trägt dazu bei, den düster¬ poetischen Eindruck der Scene zu erhöhen.

Herausgeber: Carl von Lützoiv in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

IM TEMPEL ZU SAIS.

.

Nach Natural auCaahrae “vor. CBrasdh,Ber]tn.

*

Meis eiib ach. Riff arth. & Co.B erlin.

ADOLF MENZEL

MIT ABBILDUNGEN.

ENZELS diesjähri¬ ger Geburtstag ruft die Erinnerung an die Feier zurück, die zu Ehren des siebzigjährigen vor zehn Jahren statt¬ fand. Damals wurde auf ihn gewiesen als auf den größten der lebenden deut¬ schen Künstler, als den Grund- und Eck¬ stein der Kunst unseres Jahrhunderts. Gilt dieser Ge¬ danke auch heute noch? Hat nicht die neue Kunst, der neue Idealismus ihn überwunden, jenen Helden des reinen, wah¬ ren, ungeschminkten Naturalismus? Jenen Schilderer der Welt, wie sie ist, nicht wie der Dichter sie träumt.

Fast sollte man es glauben, denn schon verkünden es schnellfertige Jünglinge der staunenden Welt.

Haben denn wirklich diese Herolde der jüngsten Kunst ein Recht, auch Menzel mit verächtlichem Lächeln in jenen Abgrund zu stoßen, in dem die großen Toten ruhen, Cornelius und sein Gefolge, Piloty und seine Getreuen?

Nun, jene Art Naturnachahmung, die als nackter Realismus heute verachtet wird, die hat Jungdeutschland allerdings überwunden. Wahrheit, wie sie die Photo¬ graphie festhält, starre Hülle ohne individuell belebenden Geist, die lassen wir hinter uns. Aber Menzels Wahr¬ heit war nicht von dieser Art. WTie er die Dinge schaute, sah er sie im Geiste und in der Wahrheit.

Darum nicht überwunden haben die Neuidealisten den Altmeister Menzel, vielmehr ihn erfüllt. In unge- mindertem Glanze strahlt auch heute noch der Ruhm des kleinen Riesen. Wenn der neue Idealismus jenen alten Idealismus der verstorbenen romantischen Schulen

überragt, wenn er in seinen ausgereiften Werken statt der leblosen Schatten, statt der puppenhaften Leonoren, Undinen, Räuber und Ritter heute Gestalten schafft, die bei allem übermenschlich Phantastischen doch Fleisch und Blut haben, doch im Übernatürlichen die Grund¬ formen des Natürlichen bewahren, wenn er statt un¬ möglicher, dürrer Papierfiguren fabelhafte, aber existenz¬ fähige Geschöpfe schildert, wem verdankt er diesen mächtigen Unterbau von Natur und Wahrheit, auf dem er seinen Phantasiebau so kühn errichten kann? Adolf Menzel. Der lehrte die Natur sehen nicht als leb¬ lose Masse, sondern als ein in jeder Faser lebendiges Ganzes. Er zeigte, dass gewissenhafteste Nachahmung auch des kleinlichsten Details niemals große Ideen und Empfindungen ausschließt. Er bewies, dass man Naturalist sein kann, und zugleich voller Phantasie

So wird kommenden Geschlechtern die heutige Künstlergeneration nicht als Überwinderin des Menzel- schen Naturalismus, vielmehr als Schülerin desselben er¬ scheinen, die eine der in seinem Wirken lebendigen Rich¬ tungen erfasst und, oft etwas zu einseitig , ausgebildet hat.

Wie Carstens und Cornelius an der Schwelle, so stehen Menzel und Böcklin am Ausgang des Jahrhunderts. Natur und Wahrheit suchte die deutsche Kunst zu Ende des vorigen Jahrhunderts. Die Antike und die Früh¬ renaissance sollten die Führer sein auf diesem Pfade. Dann wurde Natur und Wahrheit bei den Niederländern geholt, in den Kleiderschränken der Vorfahren und in den Requisitenräumen der Hoftheater.

Aber unermüdlich hatte ein schlichter Berliner Künstler indessen dort die Natur gesucht, wo sie allein zu finden war, im Leben, das ihn umgab. Und als diese Überzeugung im letzten Drittel des Jahrhunderts sich allgemein Bahn brach, zur herrschenden Richtung wurde, da trat dieser Mann hervor, und Adolf Menzel wurde das Ideal einer neuen deutschen Schule, der Schule des aufrichtigen Naturalismus. Wenn seine ersten Fach¬

zeitschrift fir bildende Kunst. N. F. VII. H. 3.

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ADOLF MENZEL.

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alimer ihn zunächst falsch verstanden, wenn sie in seinen Werken mehr die fabelhaft korrekte Wieder¬ gabe der äußeren Erscheinung als die unsäglich feine Nachempfindung des inneren Organismus, des geistigen Lebens bewunderten und diese nachahmten, war das Menzels Schuld?

Menzel wurde Hauptmeister des deutschen Naturalis¬ mus, wie Michelangelo Hauptmeister der italienischen Manieristen, ohne sein Wollen, fast ohne sein Wissen.

n früh auf, der Zeitentwick- vorausschreitend, hat er niemals den .. HG den Leluvr, den Häuptling einer Schülerschar ge¬ spielt. Aber als die deutsche Kunst ihm nachgeeilt war, als sie reif geworden für die Lehren, die aus seinen Werken, nicht aus seinen so selten gespendeten Worten zu gewinnen waren, da wurde sein Einfluss ein über¬ gewaltiger. Und er ist heute stärker denn je. Kein Geringerer als Klinger hat in seiner „Widmung an Menzel“ es ausgesprochen, dass die wilde Phantasie der jungen Schule gebändigt wird durch das strenge, un¬ beugsame Vorbild der Menzeischen Kunst. Und Klinger konnte das aussprechen. Denn er, der ebenbürtige Geistesgewaltige, trägt bei aller Selbständigkeit und Eigenform doch den Stempel Menzeischen Geistes in der Art seines Schaffens. Die künstlerische Gefühlsweise, aus der heraus Menzel so viele seiner Illustrationen und Adressen schuf, sie ist auch der Ausgangspunkt für Klingers Schaffen, so neue Bahnen er auch eingeschlagen.

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Schüler also, im Ateliersinne gesprochen, hat Menzel fast nie gehabt. Was ihn vor anderen groß machte, war auch nicht lehrbar, noch weniger durch „Korrigiren und Erläutern“ übertragbar. Er, der über Aquarell mit Gouachefarben ging, auch wohl mit Ölfarben oder far¬ bigem Stifte hineinkorrigirte, konnte keine „Malmethode“ lehren, wie Schadow oder Piloty. Vor die Natur sich stellen, und ihr mit jeder Linie, die dem Papier versetzt wird, ein eigen beobachtetes, charakteristisch getroffenes Detail entreißen, das war seine „Zeichenmethode“. Auch sie so selbstverständlich, nicht übertragbar auf den, der eben nicht Menzels scharfes Adlerauge, seine grenzenlose Geduld, seine zähe Natur hatte, die ihn befähigten, ein Modell unausgesetzt dieselbe Bewegung wiederholen zu lassen, um sie beharrlich beobachten und in allen Vari¬ anten mit dem Stifte fixiren zu können.

Menzel ist eine einsame Natur, still für sich wirkend. Er hat unablässig seinen Zielen nachgestrebt, damals als sie kaum anerkannt, noch weniger gerühmt wurden. Er darf manchem jüngeren Künstler, der es so eilig hat mit dem „Bekanntwerden“, der mit dem allzeit sehn¬

süchtigen Knopfloch und der für Aufnahme des Professor¬ titels vorbereiteten Visitenkarte umherwandert, ein Vor¬ bild dafür sein, dass man auch aus innerster Überzeugung die Kunst um ihrer selbst willen treiben, dass man ihr zu Liebe dulden und entbehren kann. Seit er als fünfzehn¬ jähriger Jüngling mit der elterlichen Familie nach Berlin übersiedelte, hat er Jahrzehnte geduldet, gelitten und nach des Vaters Tode mitten in den Sorgen um elenden Broterwerb doch niemals den Glauben an sich und seine Kunst aufgegeben. Welche unverwüstliche Zähigkeit steckte in diesem kleinen, unansehnlichen Menschen, der ohne Mittel, ohne Protektion, ja ohne rechte Schulung den Kampf aufnahm und in allem Elend das Höchste erstrebte! Welche Bitterkeit spricht sich in jenen zwölf Lithographien (1833) aus, die „Künstlers Erdenwallen“ so schildern, wie es sich dem jungen Menzel damals dar¬ stellte, als einen Kampf gegen Roheit und Dummheit in den unteren, gegen bornirte Arroganz in den höheren Schichten der Gesellschaft. Und dieses tiefschmerzliche Dokument hat er zu vergolden gewusst durch den leuch¬ tenden Humor, der neben der bitteren Satire doch so wohlthuend auf einzelnen Gestalten ruht, durch die geist¬ volle Art, wie er in den Randzeichnungen die oft so profanen Motive durch kleine symbolische Paraphrasen idealisirt. Die drei Wurzeln seiner Kunst, schärfste Beobachtung der wirklichen Erscheinung, ungekünstelte, rein malerische Verwertung dieser Beobachtungen im Bilde, geistvolle, witzige Belebung und überraschende An¬ wendung derselben sind hier im Keime schon vorhanden.

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Dem achtzigjährigen Meister, dem Veteranen, der von der Pike auf gedient hat, und der heute noch in voller Rüstung thatenlustig und schaffensdurstig im Kampfe seinen Mann steht, ihm werden heute unzählige Huldigungen dargebracht. Der Meister wird sie mit der Ruhe entgegennehmen, mit der er einst Spott und Gleichgültigkeit ertragen, mit der er später die be¬ ginnende Anerkennung und endlich den lauten Beifall ertrug. Aber wie viele unter denen, die heute hoch¬ tönende Worte machen, haben wirklich Menzels Kunst im innersten Kerne erfasst? Täuschen wir uns nicht. Anerkannt wird er jetzt genug, mitempfunden nur selten. Er hat das Seine gethan, und in hunderten, ja tausenden von Werken aller Art allen denen die Lehre von der Wahrheit als oberster Herrin aller Kunst gepredigt, die Augen haben, zu sehen.

Aber das ist es eben die Augen. Prüft nicht heute noch die Mehrzahl, selbst unserer Gebildeten, Kunst¬ werke mehr mit dem Herzen, als mit den Augen? So bleibt uns, die wir Menzels gewaltiges Können staunend verehren, eine Aufgabe. Unser Volk sehen zu lehren, es zu erziehen, dass es auch einem so herben, strengen, unnachgiebigen Meister verstehend folgen kann, ihm immer wieder zu sagen, dass turmhoch, ja bergehoch

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über der seichten, glatten, gefälligen Manier der Tlnunann und Genossen ein Adolf Menzel steht.

Dies Ziel verfolgt seit Jahren die Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft (vorm. F. Bruckmann), die 1890 jene einzig dastehende Prachtausgabe von Menzels Oeuvre veranstaltete, deren vortrefflicher Text, von Max Jordan und Robert Dohme verfasst, sich auszeichnete durch feines Verständnis der künstlerischen Größe Men¬ zels, sorgfältige Sammlung des Materials, und eine Fülle kleiner Beobachtungen und Mitteilungen, wie sie nur auf Grund einer längeren persönlichen Bekanntschaft mit dem Meister zusammenzutragen waren. Es war, als ob

bildeten den Epilog. Nach menschlichem Ermessen schien die Wirksamkeit des Meisters damit im wesent¬ lichen vollendet zu sein.

Aber mit wunderbarer Zähigkeit hält Menzel, wie an allem, so auch am künstlerischen Schaffen fest. Wenn auch das letzte Jahrzehnt keine wesentlich neuen Ziele seiner Wirksamkeit bot, so hat er doch rastlos von den zahllosen, in ihm schlummernden Entwürfen so vieles zur Ausführung gebracht, dass eine Ergänzung des großen Menzelwerkes notwendig wurde. Nach Dolime’s Hin¬ scheiden hat Jordan allein diesen Nachtrag übernehmen müssen, der nun mit einem kurzen Text, sechzehn Voll-

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die ernste, gemessene Art Menzels auf die leicht begeister¬ ten und zu panegyrischem Schwünge neigenden Bio¬ graphen mäßigend eingewirkt hätte. Man darf den Künstler beneiden um diese großartige Abrechnung mit seinem künstlerischen Wirken, beneiden darum, dass nicht nur sein so schlichter Lebensgang einen Schilderer gefunden, sondern vor allem seine Werke in mustergültiger Nach¬ bildung der Mit- und Nachwelt vor Augen gestellt wurden.

Das Werk schloss im wesentlichen mit Menzels Wirken bis 1885 ab. Die schlichten, wohlmeinenden Worte, mit denen der erste Kaiser des neuen Reiches dem Verkünder der Hohenzollerngröße seinen kaiserlichen Glückwunsch zum siebzigsten Geburtstage darbrachte,

bildern und einigen kleineren Textbildern als Supplement zum Menzelwerke erschienen ist.1)

Mit dieser Jubiläumsgabe hat sich der Verlag ein Verdienst erworben. Allein sie kommt bei der Größe, Güte und Kostspieligkeit des Hauptwerkes naturgemäß nur wenigen zu gute. Um den Meister dem deutschen Volke näher zu bringen, bedurfte es eines Auszuges aus jenem Hauptwerke, der durch geringeren Umfang, größere Handlichkeit und geringen Preis weite Verbreitung

1) Das Werk Adolf Menzels 1885—1895. Nachtrag zum Hauptwerk, Text von Max Jordan. München, Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vorm. Bruckmann. (Preis M. 60.)

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sicherte. Ein solches populäres Menzelwerk hat die Verlagshandlung wirklich geschaffen und als prachtvolle, würdige Festgabe dem Meister zum achtzigsten Geburts¬ tage überreicht. ') Ein so vornehm ausgestattetes, so reich illustrirtes Werk um so geringen Preis darzubieten war nur möglich, wenn es auf jenes Prachtwerk sich stützen, sein Abbildungsmaterial demselben zum Teil entnehmen durfte.

Aber es ist nicht etwa nur ein Neudruck eines I eiles der trüberen Illustrationen erfolgt. Manches neue

>gar hinzugetreten. Das tiefempfundene, geistvolle Vater n 1837“ ist iu vergrößertem Maßstabe

»llbild eingefügt, einige andere Entwürfe und Zeich¬ nungen sind neu hinzugekommen, wie z. B. die Festkarte zum Dürerfest u. a. Die Auswahl der beigegebenen Vollbilder ist glücklich, wenn man auch eine Reproduktion der Schlacht bei Hochkirch nur ungern dabei ver¬ missen wird.

Von den Vollbildern der großen Ausgabe sind viele in verkleinertem Formate als Auto typieen oder auch Holz¬ schnitte in die kleine Ausgabe übergegangen, wodurch eine größere Zahl von Abbildungen ermöglicht wurde. Kurz, Bruckmann hat keine Mühe gescheut, um diese Volksausgabe möglichst inhaltsreich zu gestalten.

Es war selbstverständlich, dass Max Jordan für die Abfassung des Textes gewonnen wurde, und in Anleh¬ nung an seine früheren Ausführungen hier nochmals in knapperer Form das Leben und die künstlerische Be¬ deutung Adolf Menzels an uns vorüberführte. Dieser Text, in seiner leichten flüssigen Form, seinem Reich¬ tum an glücklichen Beobachtungen über Menzels Kunst, seiner gewählten Sprache ist höchst wohlthuend zu lesen.

Der alte Hader zwischen Künstlern und Kunst- forschern ist auch heute nicht erloschen. Aber das werden, angesichts solcher Publikationen, wie sie unseren beiden größten lebenden Künstlern, Menzel und Böcklin, neuerdings gewidmet wurden, die Künstler zugeben müssen, dass heute den Lebenden eine Sorgfalt zuge¬ wandt wird, wie sie so mancher große Künstler ver¬ gangener Zeit bisher noch nicht gefunden. Wer als Kunstforscher auf dem veralteten Standpunkt steht leider giebt es. deren noch genug dass lebende Kunst nicht Gegenstand der historischen Forschung sein kann, der müsste vor diesen Menzelwerken doch reuig sein pater peccavi murmeln. Jordan ’s Text erschöpft ja keineswegs, was über den Meister vom Standpunkte des Detailforschers sich sagen ließe. Er beabsichtigt das auch nicht. Aber die Auskunft, die hier neben der

1) Das Werk Adolf Menzels. Eine Festgabe zum 80. Geburtstag des Künstlers. Text von Max Jordan. Gro߬ quart. Mit 31 Vollbildern und 106 Textillustrationen. Mün¬ chen, 1895. Verlagsanstalt für Kunst und Wissensch., vorm. F. Bruckmann. (Preis M. 40.)

allgemeinen künstlerischen Würdigung über die Vorge¬ schichte, Entwicklung und weiteren Schicksale der Werke Menzels geboten wird, liefert doch ein historisches Handwerkszeug, um das man fast die Forscher künftiger Jahrhunderte beneiden könnte. Oder soll man sie bedauern, dass ihnen so wenig zu entdecken übrig bleibt? Und dazu die Fülle von urkundlichem Material, d. h. von Gemälden, graphischen Werken und vor allem von Handzeichnungen!

Es wäre zu wünschen, dass dieses prachtvolle Material vor allem auch der studirenden Jugend, soweit sie mit Kunstgeschichte beschäftigt ist, zu Gute käme. Nur, wer an moderner Kunst seinen Blick für das Wesen künstlerischen Schaffens gebildet hat, wird mit Erfolg an die Rekonstruktion der älteren Künstlerphysiognomieen lierangehen können. Handzeichnungen Raffaels, Dürers, Rembrandts u. a. werden jetzt häufig als Grundlage für kunsthistorische Seminarübungen benutzt. AVie Studien entstehen, wie sie zum Bilde verwendet werden, welche Wandlungen ein Bildentwurf in Skizzen und Studien durchmacht, alles das ließe sich am Menzelwerke dar¬ legen, ohne dass, wie es bei Benutzung älterer Hand¬ zeichnungen unvermeidlich, Kopien und Fälschungen den echten Werken sich beigesellen. Vor allem, was in einer älteren Handzeichnung nur skizzenhafte Nachlässigkeit eines guten Zeichners, was stümperhafte Unfähigkeit eines Nachahmers oder Fälschers ist, das werden diejenigen leichter herausfühlen, die an Skizzen und Studien moderner Meister urteilen gelernt haben. So könnte Menzels Werk, das bahnbrechend war für eine originale deutsche, von der Tradition unabhängige Kunst, auch rückwärts auf das Verständnis und die Kenntnis der alten Kunst seine Wirkung ausiiben.

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Menzels künstlerische Entwicklung führt uns bis in jene Zeit zurück, da Hellenismus und Romantik in Deutschland den Kampf gegen die akademische Zopf¬ kunst führten.

Adolf Menzel haben beide Richtungen zeitweise be¬ rührt, er war aber gesund genug, um sie schon früh¬ zeitig zu überwinden. Dem Klassizismus huldigte er noch in seinen Schülerzeichnungen, von denen leider nur wenige erhalten sind. Tiefgehender war der Eindruck der Romantik, den er nur langsam abzustreifen vermochte, da die ihn umgebende Beidiner Kunst besonders durch Wilhelm Schadows Wirksamkeit in diese Bahnen gelenkt war. Weder in Breslau, wo Menzel am 8. Dezember 1815 als Sohn eines Schulmeisters geboren wurde und die Schule besuchte, noch in Berlin, wohin der Vater iiber- siedelte, um ein lithographisches Institut zu begründen (1830), hat Menzel einen förderlichen Kunstunterricht genossen. In der Hauptsache blieb er an die Ausführung kleiner lithographischer Aufträge gefesselt, und seibst der Versuch, auf der Kunstakademie zu Berlin sich

Albumblatt für Alfred Emil Loffliagen, von Adolf Menzel. Originalzeichnung in der Kupferstichsammlung Friedrich August’s II. in Dresden.

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gründlicher anszubilden, misslang. Aber dem akademischen Unterrichte entrann dafür Menzel ungefährdet. Die Be¬ richte alter Herren, deren Erinnerungen noch bis in jene Zeit zuriickreichten, gehen allerdings ein höchst seltsames Bild von der Lehrmethode wie von der Disciplin dieser Anstalt. Menzel, der schon in harter Arbeit sich seihst regieren und die Welt mit eigenen Augen sehen gelernt hatte, . 333 in die Akademie eintrat, hat hier

von A i sich nicht wohl gefühlt, erregte auch

seinen Lehrern keine sonderlichen Hoffnungen für seine

zels im Gipszeichensaale der Akademie, die dem Direktor Schadow schwerlich Freude machte, wenn er auch in anerkennenswerter Unparteilichkeit den Cyklus rühmend ankündigte.

Wenn Jordan zu „Künstlers Erdenwallen“ bemerkt, dass die Freude au epigrammatischer Prägnanz „dem Künstler später oft als Neigung zur Satire ausgelegt worden sei“, so ist mir diese Unterscheidung zu fein. Mir scheint, dass niemals eine schärfere Satire auf das kunstkritische Publikum geschrieben ist, als sie Menzel

Aus den „Radirversuchen von Adolf Menzel, 1844“.

Zukunft. Eine so selbständige Natur konnte es unmög¬ lich länger in dieser Kunstschablonenanstalt dulden. Es ist ergötzlich, des sanftlächelnden stets gütig humor¬ vollen Ludwig Richter Studienerfahrungen mit denen Menzels zu vergleichen. Menzel hat diese Erfahrungen zwar niemals, wie Ludwig Richter, schriftlich verzeichnet, aber er sprach sich deutlich genug in seinem ersten größeren lithographischen Werke aus, dem Cyklus . Künstlers Erdenwallen“, der im selben Jahre 1833 er¬ schien. Das fünfte Blatt bringt eine Darstellung Men-

im Schlussblatt von „Künstlers Erdenwallen“ gegeben hat. Von dem würdigen Gelehrten mit dem Goethe¬ kopf, der scheinbar vor Begeisterung laut bewundert, in Wahrheit aber nur sein Licht leuchten lassen will, den Modeherren, die scheinbar gleichgültig zu dem Sprecher hinüber äugeln, in Wahrheit aber ein paar Phrasen für die ästhetische Theeunterkaltung aufzuschnappen suchen, dem feisten „Herren Rat“, der einer Durchlaucht die Vorzüge des Bildes so sinnig erläutert, bis zu dem hebräi¬ schen Ivassirer im Hintergründe, der die Früchte vom

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Schaffen des in Entbehrung gestorbenen Künstlers ein¬ heimst, ist jede dieser Gestalten ein mit voller Kraft ausgeteilter Geißelhieb. Die witzigen kleinen Fußnoten symbolischen Inhalts, die Menzel unter jedes Blatt ge¬ setzt, lassen über die Tendenz vollends keinen Zweifel.

Mit „Künstlers Erdenwallen“, das die Misere eines zwischen seinen Idealen und den kleinlichen Nöten des Lebens kämpfenden Künstlers darstellte, hatte Menzel sich fast unvermutet einen Namen gemacht. Im Folge¬ jahre begann er kühn einen Cyklus von „Denkwürdig¬ keiten aus der branden burgischen Geschichte“. Dass er sie nicht im Stile der idealen „Historienmalerei“ aus der Tiefe seiner Phantasie schöpfen könne, stand ihm fest.

Andrerseits fehlten ihm damals alle jene unzähligen Hilfsmit¬ tel, jene Kostümgeschichten und Kulturgeschichten, die heute jedem Theaterregisseur eine historisch treue Gestaltung ge¬ schichtlicher Ereignisse so be¬ quem machen. Wer legte da¬ mals Wert auf „echte Kos¬ tüme?“ In der Sorge um die¬ selben eilte Menzel um Jahr¬ zehnte der Berliner Kunst vor¬ aus, und mit tausend Schwierig¬ keiten war diese Arbeit ver¬ knüpft.

Sie gelang denn auch in den ersten Blättern nur un¬ vollkommen. Wohl offenbarte sich in der Kühnheit, mit der die Modelle für die Wenden¬ krieger und die Reisigen des ersten Markgrafen nach dem Leben gezeichnet wurden, der strenge Realist ; aber in allem äußeren Beiwerk war er doch auf meist sehr phantastische, ungenaue Vorbilder angewie¬ sen. Aber je mehr sich die Darstellungen der neueren Zeit näherten, um so korrekter wurden sie nach den reichlicher fließenden Quellen aus¬ gestattet, und Blätter, wie der Einzug der in die Mark einziehenden Salzburger Protestanten, zeigten den ge waltigen Fortschritt, den der Künstler innerhalb Jahres¬ frist gemacht. Ganz besonders in künstlerischer Hin¬ sicht. Für offizielle Ceremonienbilder, wie die Refor¬ mationsfeier, die Beleimung Friedrichs I., wirkte sichtlich die damalige Historienmalerei mit ihrem schön abgezirkel¬ ten Arrangement der Figuren, ihren theatralischen Be¬ wegungen noch allzustark ein. Mühsam suchte Menzel in Einzelheiten davon frei zu werden. Aber in Volks- scenen, wie jenem Einzug der Salzburger, da fielen für

ihn die Schranken der Überlieferung, und er drang durch mit seinem wunderbaren Blicke für das rein Mensch¬ liche, für das Ungekünstelte.

Vor allem lernte er überraschend schnell die tech¬ nischen Schwierigkeiten überwinden und wer die ersten Blätter mit denen von 1836 vergleicht, die den Frei¬ heitskriegen gewidmet sind, der spürt auch hier Menzels enormes angeborenes Talent für alles Technische der Kunst, jene Gabe, die ihn dazu führte, auf dem Wege des Experiments, der rastlosen Übung, ohne Lehrer, allmählich die technischen Vorzüge aller Mal- und Zeichen¬ mittel sich zu eigen zu machen. Er, der in der Folge die lithographische Technik künstlerisch vervollkommnete, den modernen deutschen Holz¬ schnitt schuf, als Radirer bahn¬ brechend wurde, er hat auch der Ölmalerei, dem Aquarell Gouache, Pastell etc. alles ent¬ rissen, was sie an technischen Feinheiten und Freiheiten ge¬ statten. Und weil er niemals einer Schule angehört, nie¬ mals auf die sogenannte „vene- tianische Technik“ der Düssel¬ dorfer, oder die Asphaltmalerei der späteren Münchener schul¬ mäßig gedrillt worden, hat er sich stets vollste Freiheit ge¬ wahrt, niemals eine eigentliche „Manier“ sich gebildet. Darum wurde ihm auch das Mittel niemals zum Selbstzweck, dar¬ um hat er niemals Bilder ge¬ malt, nur um technische Bra¬ vour zu beweisen, oder nur, um ein Farbenproblem zu lösen. Freilich, eine sogenannte „ele¬ gante Technik“ hat er nie ge¬ habt. Jene verblüffende Ge¬ schicklichkeit, mit der moderne Aquarellisten mit einem Nichts von Farbe Ton und Modellirung zugleich erzielen, blieb ihm fremd. Auch heute noch meint man jedem seiner Bilder eine gewaltige Summe mühsamer Arbeit anselien zu können, entdeckt man in jedem Winkel und in der verborgensten Ecke seiner Ölgemälde eine frappante Farbenkombination, eine originelle Lichtwirkung.

Man begreift es, dass Menzel so viele Werke der Jüngsten nur mit Kopfschütteln betrachtet, jener Meister, die um einer farbigen Sensation willen eine Riesenlein¬ wand mit drei Tönen bedecken, in deren Mitte die farbige Entdeckung schwimmt. Für Menzel, als strengen Naturerforscher, giebt, es ja nichts Nebensächliches im Bilde. Wie auf seinen Studien, so in seinen Bildern

Ghalkotypie von Adolf Menzel.

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Radirte Tischkarte für den Herzog von Meiningen. Von Adolf Menzel.

Halbdunkel verliert, das gleiche Anrecht auf sorgfältige Nachdruck zu gehen, dass sie das Auge in erster Linie Beobachtung, wie der Gesichtsausdruck der Personen berühren.

oder ihre Handbewegungen. Und doch wirken seine Eine solche Sorgfalt auch auf die kleinsten Studien

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hat der Qualm einer Kerze, das Funkeln eines Ornamentes im Hintergründe , die Art, wie eine Schleppe sich im

Bilder, mit geringen Ausnahmen, nicht zerrissen. Er versteht es doch, den Hauptmotiven so viel Kraft und

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zu verwenden, größere Bilder mit tausenden von Detail¬ beobachtungen zu füllen, und dabei fruchtbarer in der Produktion zu sein, als die Mehrzahl der dekorativen Maler, das ist nur denkbar bei einer so hohen Entwick¬ lung der Beobachtungsgabe, wie Menzel sie besitzt, der nicht nur mit der Exaktheit, sondern fast auch mit der Schnelligkeit des Momentphotographen Objekte zugleich

Während der Arbeit an den „Denkwürdigkeiten der brandenburgischen Geschichte“ begann Menzel auf eigene Hand sich mit Ölmalerei zu beschäftigen, wozu, wie Jordan erzählt, die Anregung eines Freundes und Gönners beitrug, des einstigen Malers, nachmaligen Tapeten¬ fabrikanten Heinrich Arnold. Der Verkehr im Atelier des beliebten Berliner Porträtmalers Magnus förderte

Porträtstudie von A. Menzel. Original im Leipziger Museum.

in ihrer Totalität und in unzähligen Einzelheiten sieht. Seit fast siebzig Jahren führt er das Skizzenbuch zu täglichem Gebrauche. Man denke, was ein Auge und eine Hand, oder vielmehr zwei Augen und zwei Hände denn Menzel arbeitet mit beiden gleich geschickt von so hoher natürlicher Beanlagung in diesem Zeitraum an Vollkommenheit erlangen mussten.

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 3.

ihn soweit, dass er 1836 ein kleines Ölbild ausstellen konnte, eine „Schachpartie“ darstellend. Es folgten „Zu den Waffen“, „Konsultation“, „Familienrat“ und 1839 der „Gerichtstag“.

Diese Folge kleiner Genrebilder entsprang des Künstlers Beobachtung des ihn umgebenden Lebens. Aber noch wagte er nicht, dasselbe unmittelbar wiederzugeben.

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Er steckte die Menschen in historische Kostüme. Dennoch fanden die kleinen Bilder, die eine für jene Zeit wunder¬ bare Naturtreue, feine, zurückhaltende intime Schilde¬ rung und, wie der „Familienrat“, vortreffliche Licht¬ wirkung zeigten, nur im engeren Kreise Beachtung.

Süße Leonoren und ideale papierne Ritter konnte en nicht malen. Konventionelle Lüge war ihm fremd, er war zu unbestechlich, wo er der Natur einmal gesehen. Heute erscheint es unbegreiflich, wie diese ernsten, aufrichtigen Arbeiten mit ihrer an hol- ir< bilder gemahnenden feinen Beobachtung so vergessen werden konnten über all’ den faden Mode¬ bildern der Romantik. Aber, was wir heute an ihnen schätzen, ihre Natürlichkeit, stieß eben die Mehrzahl der Zeitgenossen ab, deren Augen gründlich verbildet waren durch klassische Konture und fade Almanachkupfer.

Allerdings, auch in dem reifsten dieser kleinen Genrebilder, dem dramatisch empfundenen „Gerichtstag“ sehen wir heute eine gewisse Ungleichheit, als ob den Modellen die Röcke nicht recht sitzen wollten, in die sie gesteckt sind. Noch wirken diese kostiimirten Menschen ein wenig maskeradenhaft.

Alle die vorgenannten Werke waren doch nur die Nebenfrüchte einer emsigen, dem Broterwerbe dienenden Thätigkeit. Noch war Menzel im Grunde genommen nur der schlichte Lithograph, der zahllose kleine Aufträge erledigen musste, wie sie das Tagesbedürfnis brachte, Vignetten, Titelköpfe, Lehrbriefe, Diplome etc. Gewiss mag er das damals als eine Last empfunden haben. Aber dass Menzel stets in so innigem Zusammenhänge mit dem kleinen Leben blieb, dessen Historiker er dereinst werden sollte, verdankt er doch in mancher Hinsicht diesen Jugendarbeiten, der Thatsache, dass er nicht als be¬ güterter Mann der hohen Idealkunst von Anfang an nachjagen konnte, sondern mit einem Fuß an das All¬ tägliche gefesselt blieb, bis er diesem die malerische Seite abgewonnen und sich ihm freiwillig wieder hingab.

Für jene zum Teil mehr ornamentalen Aufgaben war offenbar Dürer’s Gebetbuch Maximilians ihm, wie so manchem der Zeitgenossen, mustergiltig geworden. Schon hatten die rheinischen Kunstfreunde Dürer wieder populärer gemacht und Cornelius seine neue deutsche Kunst mit dem Wahlspruche „glühend und streng“ auf der des alten Nürnberger Meisters aufzu¬ bauen versucht. Aber erst das Dürerjubiläum von 1828 hatte in weite Kreise Nachrichten von Dürer’s Kunst und Reproduktionen derselben verbreitet. Jordan ver¬ öffentlicht in der kleinen Ausgabe des Menzelwerkes die Festkarte zum Dürerfest von 1887, die nicht nur in der Ornamentik sondern vor allem in der leichten, schwungvollen Federstrichzeichnung den Einfluss des großen Zeichenkünstlers und scharfen , naturwahren

Skizzirers verrät. Denn Dürer, und bis zu einem ge¬ wissen Grade Rembrandt, sind wohl die einzigen „alten Meister“, die in der Zeichnung, wie die Holländer in der Malerei, einen bemerkbaren Einfluss auf Menzel aus¬ übten, ohne dass er doch jemals in Versuchung gekommen wäre, sie nachzuahmen, ihnen zu Liebe seine Eigenart zu opfern. Um wie viel überragt er darin die Majorität der Künstler unseres Jahrhunderts von Thorwaldsen an bis herab zu den Modernen, die nicht gründlich und energisch genug auf ihre Persönlichkeit verzichten konn¬ ten, nur um sich als Hellenen oder Praeraffaeliten oder Tiziane zu geberden.

In solcher Federzeichnungsmanier hat Menzel eine Reihe von Festkarten, Diplomen etc. entworfen, die wir heute wegen ihrer freien, schwungvollen Komposition, wegen ihrer aus üppig quellender Phantasie geschaffenen Scenen, wegen ihrer oft tiefsinnigen oft humorvollen Be¬ züge bewundern.

Von diesen Gelegenheitsschöpfungen sind bereits eine erhebliche Anzahl durch Bruckmann publizirt wor¬ den. Wir fügen hier einen bisher unbekannten Ent¬ wurf ein, den Menzel im Jahre 1838 als Albumblatt für Adolf Emil Loffhagen schuf, und der sich durch feinen, launigen Humor vor vielen anderen auszeichnet. ') Die Blüte deutscher Kunst hat sich hier offenbar erschlossen und eifrig strebt die junge Künstler schaft, das liebliche Wunder so nah wie möglich zu schauen, das Mutter Natur (?) in den Armen hält, während ein Putto Mohn streut, um den Schlummer des jungen Weltbürgers zu fördern und ein zweiter lustige Seifenblasen, Symbole phantastischer Zukunftshoffnungen, in die Lüfte bläst.

Nun klimmen sie von allen Seiten mühsam empor, die strebenden Künstler. Begeistert nahen sich die jüngsten, ein älterer hält in flüchtiger Skizze die Wunder¬ erscheinung fest, andere schleppen noch eine alte Rüstung (die historische Kunst?) mit sich auf dem mühsamen Wege, auf dem sich ein dritter bereits die Füße wund gelaufen.

Da sieht man verschiedene ältere Herren, die zwar noch den guten Willen haben, hinaufzugelangen zu jener Wunderblüte, aber denen die Kräfte fehlen, und w'ieder andere, die durch jähen Sturz das kühne Wagnis büßen. Besser wären sie wohl bei jenem Alten drunten am Fuße des Rankenwerkes zurückgeblieben, der sich verächtlich von dem neuen Leben abwendet, der sich im geruhsamen Geld verdienen nicht stören lässt, wie symbolisch ein Hamster ausdrückt, der neben ihm Korn zum Baue schleppt. Staunend blickt von weitem das liebe Publi¬ kum auf das neue Wunder hin, und links oben sieht man ratlos auf einigen wuchernden Pilzen die Herren der Kritik bedenklich die Dinge prüfen, für die sie wohl

]) Die Originalzeichnung befindet sich im Kupferstichkabi¬ nett König Friedrich August II. von Sachsen, Brühl’sches Palais, Dresden. Federzeichnung (?), auf weißem Papier, Maßstab:

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noch keine rechten Worte linden können. Sollte das Vögle in über ihrem Haupte einen Kukuk bedeuten, der ja auch seine Eier in fremder Leute Nester legt? Man sieht, Menzel, wie die meisten wirklich großen Künstler, hat ein gewisses Misstrauen gegen die Herren von der Feder, und er hatte sicherlich allen Anlass dazu. Es ist unmöglich, all’ die kleinen Anspielungen, die hier noch zwischen den Ranken zu lesen sind, anzudeuten; in solch’ kleinen Anzüglichkeiten und auch Bosheiten ist eben unser Meister unerschöpflich. Und mit welcher Klarheit ist die Fülle der Gestalten gruppirt, wie drastisch und unmittelbar verständlich ist das Bilderrätsel gezeichnet!

Übrigens war Menzel damals gezwungen, alle Ge¬ legenheitsarbeit mitzunehmen, wie er denn z. B. Ende der dreißiger Jahre auch nebenstehenden Medaillenentwurf für das Jubiläum eines höheren Beamten im Auf¬ träge des Generalwardeins Münzrat Loos anfertigte (Original im Stadt. Museum zu Leipzig).

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Aus dieser Periode des Versuchens wird Menzel befreit durch eine Auf¬ gabe, die für Jahrzehnte die Richtung seiner Thätig- keit bestimmen sollte, durch die Holzschnittentwürfe für Kuglers „Geschichte Fried¬ richs des Großen“. Die Aufgabe, einige Illustra¬ tionen zum Leben des gro¬ ßen Königs zu liefern, schien einfach genug. Menzel er¬ fasste sie von so hohem Gesichtspunkte, dass dar¬ aus ein für die Kunst wie für die Kostümkunde wichtiger Umschwung sich anbahnte. Schon bei den Vorbereitungen zu den Brand enburgischen Denkwürdig¬ keiten“ war ihm der allgemeine Charakter dieser Zeit klar geworden. Allein seiner Forschernatur entsprach es, dass er mit gewaltigem Eifer daran ging, sich die gesamte Kultur der Rokokozeit, ihre äußere Erscheinung, den Charakter der Haupthelden, ihre Tracht und Lebens¬ weise mit allen Mitteln zur Anschauung zu bringen. Eine endlose Zahl von Studien, Skizzen, Entwürfen nach Architektur und Kunstgewerbe, Möbeln und Kleidern, alten Porträts und Stichen, begann seine Mappen zu füllen. Ausflüge nach Potsdam, Charlottenburg, sogar eine Reise nach Dresden lieferten weiteres Material. Den großen König, den man zumeist nach dem ungelenken großen Blatte des Chodowiecki und anderen Stichen in der

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Erinnerung hatte, ihn suchte er in Bildern von seiner ersten Jugend bis zum hohen Alter auf. Mit unend¬ licher Geduld begann er die Röcke und Uniformen der Zeit nicht nur nach Stichen zu kopiren, sondern Modelle mit denselben möglichst bis ins Einzelne korrekt zu bekleiden und danach zu studiren. Plötzlich verloren diese Gestalten den Maskerade-Charakter, ihre Haltung wurde charakteristisch, jedes Detail der Uniformirung und Ausrüstung wurde exakt, da auch für kleine Figürchen von ein paar Centimeter Höhe große Studien gezeichnet wurden.

Das Resultat war ein wunderbares Wiederaufleben eines vergangenen Jahrhunderts, jene wissenschaftlich getreue und doch wieder künstlerisch lebendige Rekon¬ struktion der Friedericianischen Zeit, die wir seither mit Menzels Augen sehen.

Es ist ein Genuss, in dem Kugler’schen Werke das allmähliche Heranwach¬ sen Menzels zu verfolgen, der in den ersten Holz¬ schnitten noch stark am All¬ gemeinen der Erscheinung haftet, allmählich immer schärfer und bezeichnen¬ der das spezifisch rokoko¬ mäßige erfasst, und in meist unendlich kleinen Holz¬ schnitten Darstellungen aus dem Leben des Königs und seinen Feldzügen liefert, von solcher Lebendigkeit, malerischen Wirkung und intimen Bekanntschaft mit dem Jahrhundert, dass diese kleinen Holzschnitte wie Entwürfe zu großen Tafel¬ bildern wirken. In Wahr¬ heit hat der Künstler auch einzelne dieser Holzschnitte späteren Gemälden zu Grunde gelegt. Die Tafelrunde von Sanssouci, das Flötenkonzert beschäftigen ihn hier zuerst.

Für die Geschichte des Holzschnittes waren Menzels Illustrationen epochemachend. Die Einführung des Hirn¬ holzes, statt des Langholzes, der dadurch bedingte all¬ mähliche Übergang vom Holzschnitt zum Holzstich, die Zeichnung des Entwurfes auf grundirtem Stock mit Bleistift, Pinsel oder Feder statt auf ungrundirtem Lang¬ holz, alle diese in England und Frankreich schon ein¬ gebürgerten Vorteile nutzte Menzel im Verlaufe der Arbeit auch für sich aus. Freilich blieb er bei seiner Methode der Vorzeichnung, einer flotten, fast radirungs¬ mäßigen, sehr malerischen Strichzeichnung stehen. In¬ dem er aber die Holzschneider zwang, diese fein em¬ pfundenen Linearzeichnungen mit höchster Treue und

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Entwurf einer Medaille von Adolf Menzel. Original im Leipziger Museum.

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Aus den Illustrationen zu Peter Sclilemilil von Adolf Menzel. (Dorgerloh, Nr. 650.)

kongenialem Empfinden naclizusclineiden, die zarte Ab¬ tönung der Linien und ihre malerische Haltung wieder¬ zugeben, zog er eine Holzschneiderschule heran, in der Namen wie Vogel und Unzelmann glänzten.

Der monumentale Liniensclinitt der Renaissance- holzschnitte verschwand dagegen langsam aus der deut¬ schen Kunst. Er machte der malerischen Behandlung in Menzels Sinne Platz.

Fast wie eine Ergänzung zum Leben Friedrichs d. Gr., das 1842 zum Abschluss kam, treten die Illu¬ strationen hinzu für die Prachtausgabe der Werke Friedrichs des Großen, die Friedrich Wilhelm IV. pietät¬ voll veranstaltete. ') Witzig zeichnete Menzel später ein¬ mal eine Titelvignette, den Genius der Kunst darstellend, der auf einem Zwölf-Centimeter-Maß stehend vom höhnisch grinsenden Zirkel eingeklemmt wird. Die Unterschrift „Hic Ehodus, hic salta" spielt darauf an, dass er seine geistvollsten Entwürfe auf einen so kleinen Maßstab zusammendrängen musste. Aber gerade er war der Mann, zu beweisen, dass keine äußeren Hemmnisse das Genie binden können.

Hatte Menzel in den Illustrationen zu Kuglers Werk sich noch ziemlich gewissenhaft als Illustrator, als Schilderer der im Texte beschriebenen Situationen bewährt, so tritt in den Zeichnungen zu Friedrichs des Großen Werken immer stärker seine Neigung hervor, selbständig zu werden, als geistreicher, selbstdenkender Leser den Text mit zeichnerischen Glossen zu begleiten und wohl auch abweichenden Meinungen und Empfin¬ dungen Ausdruck zu geben. In „Künstlers Erdenwallen“ hatte er witzig durch kleine allegorische Fußnoten die Tendenz seine)' Zeichnungen erläutert, in Kuglers Friedrich d. Gr. in Kopfleisten und Vignetten manche feine Be¬ merkung gemacht. In den Zeichnungen für des großen

1) Separatab druck dieser Holzschnitte erschien unter dem Titel: Adolf Menzels Illustrationen zu Werken Fried¬ richs des Großen. Berlin 1886. R. Wagner.

Friedrich Werke umrankt er den Text mit seiner Phan¬ tasie und fast jeder der Holzschnitte giebt eine eigene, scharf pointirte Auffassung der zu Grunde liegenden Worte. In der Methode unterschied er sich kaum von dem großen Ideenmaler Cornelius, der jedem Stoffe den Stempel seines Geistes aufprägte, ihm individuelle Fär¬ bung gab, was seinen Nachfolgern, den Schnorr, Kaul- bacli u. a. so selten gelang. Aber in der Eichtling ihrer schöpferischen Gedanken repräsentiren Cornelius und Menzel zwei Gegenpole. Jener ging bis zu den erhabenen Höhen, wo der Gedanke anfängt, alles Greifbare zu ver¬ lieren, und wo sein Höchstes oft nur durch symbolische Andeutung, nicht durch die sinnliche Erscheinung aus¬ gesprochen werden kann. Menzel aber bleibt, als echter Maler, immer auf dem Boden des Konkreten. Seine Ent¬ würfe ergeben Bilder, die auch ohne Prüfung des in ihnen verborgenen geistigen Aufwandes, ohne Berück¬ sichtigung ihrer Beziehungen zu außerhalb liegenden Dingen an sich wirken als Nachbildung eines Natur¬ ausschnittes.

Und welcher Keichtum an Gedanken ist hier aus¬ gebreitet! Welch’ dramatische Größe in jener Schluss¬ vignette zum siebenjährigen Kriege, da eine starke Männerfaust das Schwert mit dem Siegeslorbeer vom Blute reinigt. Und im Satirischen überschreitet Menzel zuweilen sogar die Grenzen, die dem profanen Menschen erlaubt erscheinen.

Was würde Herr von Koller sagen, wenn man ihm nachwiese, dass Adolf Menzel boshaft genug war, in einem so officiellen Werke höchst bedenkliche Situationen zu verewigen? Dass in den Kokokorahmen, der das Porträt der Pompadour umgiebt, nicht nur sehr ver¬ ständliche Hirschparkanspielungen hineinverwoben sind, sondern auch als Krönung des Ganzen ein Putto in die Posaune stößt, während unter ihm die drastische Scene angedeutet ist, welche auch in einer Eembrandt-Eadirung, dem „lit ä, la frangaise“ verherrlicht wird. Aber un¬ möglich alle diese kleinen Kunstwerke zu beschreiben, deren jedes einzelne Stoff zu einer langen Abhandlung bieten würde. 1843 war der Kontrakt mit Menzel ge¬ schlossen, 1849 lag die Arbeit in 200 Holzstöcken vollendet vor.

Der Gedanke lag für Menzel, den historisch em¬ pfindenden Künstler, nahe, wenigstens einen Teil seiner kulturhistorischenForschungen in wissenschaftlich strenger Form abzurunden und zu publiziren. So begann er, seit 1842, seine Studien über die Uniformirung der preußischen Armee soweit zu ergänzen, dass eine absolut vollständige Sammlung der Montirungen aller preußischen Regimenter mit genauer Angabe der Abweichungen und Besonder¬ heiten, der Gradabzeichen, der Verschiedenheiten im Leder¬ zeug, in Helmformen, Aufschlägen, Knöpfen etc. entstand. Bis 1857 war diese Sammlung auf 443 vom Künstler eigenhändig lithographirte Tafeln angewachsen, die auch die Freikorps, Specialkorps und sogar die bei Pirna ge-

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fangenen und der preußischen Armee einverleihten säch¬ sischen Regimenter umfasste.

Menzel war nie Soldat gewesen, aber der strengste Kommisknopf und Kammerunteroffizier konnte seine Freude an der militärischen Accuratesse, dem streng soldatischen Sinne haben, der hier sich offenbarte. Es schien anfangs, als verschwende Menzel in unverantwort¬ licher Weise seine Arbeitskraft an ein die Vollendung niemals versprechendes Werk. Allein die so dachten, rechneten nicht mit der zähen Kraft dieses „rüde travail- leur“, der inmitten zahlloser anderer Arbeiten immer wieder das Studium dieser seitabliegenden und in lächer¬ liches I )etail hineinzwingenden Materie aufnahm, Regiment um Regiment erforschte und in fünfzehn Jahren nicht ermattete. Kurze Notizen, klare und verständige Rand¬ skizzen ergänzten und vereinfachten die Arbeit.

Wäre dieses Werk nur der Uniformkunde zu Gute gekommen, so lohnte es vielleicht kaum, hier so lange dabei zu verweilen. Aber auch in künstlerischer Hin¬ sicht scheint es mir weit mehr Beachtung zu verdienen, als ihm heute gezollt wird. Niemals vielleicht ist eine trockne Materialsammlung so lebendig wiedergegeben worden. In jedem Rocke steckt eine charakteristische Figur. Die simplen Soldaten werden oft zu Helden ge¬ stempelt durch die Kühnheit und Schönheit ihrer Be¬ wegungen. Viele Tafeln sind fertige, abgerundete Genre¬ bilder, mit wenigen sicheren Strichen ist ein malerischer Effekt erzielt, und nicht was leicht gewesen wäre auf Kosten der Anschaulichkeit. Menzel wusste dem verwöhnten Künstlerauge und den Bedürfnissen des Schneiders zugleich gerecht zu werden. Haben wir doch s. Z. nach diesen Blättern Uniformen anfertigen lassen, die tadellos genau im Schnitt und Ausstattung waren. So gebührt gerade dieser stillen Wirksamkeit, die so wenig äußeren Lohn verhieß und einbrachte, die aus reinem wissenschaftlichen Eifer aus¬ geführt wurde, höchste An¬ erkennung. Durch sie allein schon wäre der Doktortitel begründet, mit dem die Uni¬ versität unseren Meister ge¬ schmückt hat.

Die der Radirung ver¬ wandte Zeichenmethode sei¬ ner Holzschnittehätte Menzel schon zu Versuchen in dieser so dankbaren Technik be¬ wegen können. In der That fallen seine ersten Versuche auch in die vierziger Jahre.

1844 gab er sechs Blatt nebst Titelblatt unter der be¬ scheidenen Aufschrift „Radirversuche von Adolf Menzel“ heraus. Aber als ob er damit nur hätte beweisen wol¬ len, dass er auch das mit Erfolg versucht habe, stellte er Radirnadel und Säuren bald bei Seite und hat nur selten wieder dazu gegriffen. Als in Berlin ein Radir- klnb begründet wurde, hat er gelegentlich mitgethan, wie um die jüngeren Künstler dadurch zu ermutigen.

Dann reizten ihn die malerisch weichen Effekte, welche die Radirung neben scharfer Accentuirung der Lichter gestattet, die gleiche Wirkung in der Litho¬ graphie anzustreben. Anfang der fünfziger Jahre macht er jene „Versuche auf Stein mit Pinsel und Schabeisen“, die ihm in technischer Hinsicht interessante Probleme stellten. Das Aufträgen der Töne auf den Stein, das Überarbeiten der Halbtöne, Herauskratzen scharfer Lichter und Einsetzen fester Schattentöne erlaubte ein ganz malerisches Wirtschaften auf dem Steine, setzte dabei aber jene intime Kenntnis der Eigenheiten des Materials voraus, die Menzel als gelernter Lithograph sich schon in früher Jugend verschafft hatte. Meist sind es Studienblätter, welche so entstanden. Aber 1852 vervielfältigte er auch lithographisch ein Transparent¬ bild, das für die Weihnachtsausstellung des Berliner Künstler Vereins entstanden war, nämlich den zwölfjährigen Jesus im Tempel.

Religiöse Themata finden sich selten unter Menzels Werken. Die Lithographie „das Vaterunser“ von 1837 beweist, dass er nicht teilnahmlos dem evangelischen Leben gegenüber stand. Aber der zwölfjährige Jesus mag doch manchem guten Christen fast als Parodie er¬ schienen sein. Menzel Lat sicherlich nicht entfernt das

Aus Menzels Illustrationen zu den Werken Friedrichs des Großen. (Nr. 44.)

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beabsichtigt. Da es ihm nur auf Wahrheit überall ankommt, musste er sich aber berechtigt fühlen, die Vorbilder für Jesus von Nazareth und die Rabbiner seiner Zeit unter den heute lebenden Stammesgenossen zu suchen Und er fand eine Anzahl prachtvoller drastischer Typen, die er unbedenklich herüber nahm. Bücklin in seinem bekannten satirischen Gemälde der badenden Susauna hat unendlich drollige Karikaturen ischer Greise gegeben. Man vergleiche sie mit Menzels Werk, um zu erkennen, wie weit dieser von ht zu karikiren entfernt ist. Man sollte sich vor allem nicht von dem ersten, wenig sympathischen Anblick abstoßen lassen. Man wird finden, dass die drei Christus unmittelbar umgebenden Schriftgelehrten so wunderbar scharfe Rassetypen, dabei so wirklich in ihrer Art geistvolle Männer darstellen, dass selten etwas Frappanteres gemalt worden ist. Der feinsinnige, an¬ dächtig lauschende Greis hinter Christus, der verbissen, halb unwillig, halb hingerissen lauschende am Betpult, der überzeugte, gutgläubige zur Rechten, endlich der vierte hinter Christus, der mit orientalischer Über¬ schwänglichkeit den klugen Knaben laut zu rühmen scheint! Nicht minder wunderbar beobachtet sind die Lieblingsstellungen und eigenartigen Handbewegungen dieser Greise, ihre schlottrige Haltung, die liederliche Art, wie sie im Eifer der Diskussion die langschleppen¬ den Gebetsmäntel verschoben haben. Und Christus? Der geistvolle, frühreife Judenknabe, schön durch die Be¬ geisterung, die aus seinen dunklen Augen leuchtet, von einem Hauche von Idealität umwittert. Das dunkle Lockenhaar scheint elektrische Funken auszuströmen, die ihn wie ein kleiner Heiligenschein umgeben. Und der Reiz dieser feinen, mageren, fast ätherischen Ge¬ stalt, aufs Höchste gesteigert durch den Kontrast zu den unschönen, fettbäuchigen Gestalten der Greise! Unter allen Versuchen der französischen Künstler, der realistischen Anschauung der Christusgeschichte durch Anlehnung an Orient und heutiges Judentum zu ent¬ sprechen, ist doch keine einzige der Wahrheit so nahe gekommen unter gleichzeitiger Wahrung der geistigen Größe der Christusgestalt. Munkacsy’s „Christus vor Pilatus“ wie platt, wie nüchtern erscheint er gegen Menzels Christusknaben.

Alle die vorgenannten Arbeiten waren über einen gewissen, engeren Kreis kaum hinausgekommen. Erst als die Friedericianischen Scenen in Ölgemälden dargestellt wurden, ward das Interesse allgemeiner. Ein Gemälde in Öl steht eben für den Laien auch heute noch in einem besonderen Geruch eigentlicher Kiinstlerhaftigkeit.

1846 hatte Menzel einige kleinere Genrebilder, 1847 für Kassel ein Historienbild gemalt und ein anderes im Karton fertig gestellt. 1848 gelangt er endlich zur Ausführung seines lang gehegten Lieb¬

lingswunsches, zur Geschichte Friedrich’s des Großen. „Der Stoff ist so interessant, so großartig, ja, worüber sie den Kopf schütteln werden (!), so malerisch, dass ich nur einmal so glücklich werden möchte, einen Cyklus großer historischer Bilder aus dieser Zeit malen zu können.“ So schrieb Menzel 1840 an seinen Freund Arnold in Kassel.

Nun war dieser Augenblick gekommen. Mit dem kleinen Bilde „die Bittschrift“ begann er 1848/49 die Arbeit, 1850 folgte das malerisch feinste „die Tafel¬ runde von Sanssouci“, 1852 das so populär gewordene „Flötenkonzert“, 1854 „Friedrich der Große auf Rei¬ sen“, 1855 für den Breslauer Kunstverein die „Huldi¬ gung der Stände Schlesiens“. Überflüssig ist es, diesen Werken, welche die eigentlichen Träger Menzel’schen Ruhmes im deutschen Volke geworden sind, hier eine eingehendere Erläuterung zu widmen. Ein letzter Rest idealisirenden Strebens der alten Zeit verband sich so glücklich mit der scharfen Charakteristik des strengen Historikers, dass wahrhaft volkstümliche Werke ent¬ standen. Auch der künstlerisch Ungebildete fühlte vor diesen Offenbarungen einer künstlerischen Forschernatur, dass etwas Ungewöhnliches vorliege, wurde bezwungen durch den spannenden Inhalt der Erzählung, durch die offenbare Natürlichkeit und Wahrheit des Vorganges. Aus diesen Bildern konnte ein jeder etwas für sich ent¬ nehmen. Der Künstler konnte sich mehr an die, be¬ sonders in der „Tafelrunde“ hervorragenden, malerischen Qualitäten halten, dem einfachen Museumsbesucher war die anschauliche Schilderung des „jungen“ alten Fritz anziehend, der Psycholog vertiefte sich in die über¬ raschend feine Charakterisirung der Köpfe im „Flöten¬ konzert“, in die so mannigfaltigen Ausdrucksformen der „Tafelrunde“, der Historiker bewunderte die „Echtheit“ und die Frauen priesen die Schönheit des Königs. Heute gelten diese Bilder als seine Hauptwerke und werden als solche gelten, bis die Gestalt unseres Kaisers Wil¬ helm späteren Generationen entschwunden ist, und dann erst Menzels Werke in dieser Hinsicht ganz in den Vordergrund gerückt werden dürften.

Gründlich verfuhr Menzel auch liier. Das einmal angeschnittene Thema wurde in den oben genannten und einigen späteren Arbeiten nach allen Richtungen ausgebeutet, und einige Genrebilder aus der Rokokozeit hinzugefügt. Leider blieb die gewaltigste Schöpfung dieser Gruppe, die 1856 vollendete „Schlacht bei Hoch- kirch“, verhältnismäßig unbekannt, da sie im kgl. Schloss aufgestellt, also wenigen zugänglich und auch dann nur in flüchtigem Vorübereilen unter Führung eines unge¬ duldig treibenden Lakaien sichtbar ist. Nur wen ein günstiges Geschick öfters in die lange Galerie des Schlosses führt, wer Gelegenheit hat, vor diesem und dem Krönungsbilde andauernd zu verweilen, kann die er¬ staunliche Größe und Majestät dieses imposanten Schlacli- tenbildes genießen. Dann aber wirkt es überwältigend.

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Menzel batte im Kugl er- Werke einen kleinen Holz¬ schnitt als Vorwort zum Gemetzel von Hochkirck ge¬ geben, ein Todtentanzbild. In dunkler Nacht stürmt ein preußischer Trommler durch die Lagerzelte, mit seinem Wirbel die Grenadiere aufscheuchend, dass sie ihm folgen sollen ins Verderben, in den Tod. Denn der Trommler ist der Tod. Unter dem flatternden Uniformrocke birgt sich die Knochengestalt, unter dem Dreispitz lugt grässlich der Totenschädel hervor.

Im Bilde aber führt er uns mitten hinein in den nächtlichen Verzweif¬ lungskampf, den jener Holzschnitt allegorisirt.

In langer dünner Feuer¬ linie steht eines der Ba¬ taillone, die Friedrich sel¬ ber von Rodewitz herbei¬ führte, ein zweites avan- cirt im Vordergründe, um die Feuerlinie zu ver¬ längern. Im Dunkel, stol¬ pernd, über Verwundete stürzend, von österreich¬ ischen Kugeln umsaust und niedergeworfen , stürmen die Männer heran, voraus die Offiziere. Wie dunkle Schatten heben sich die feuernden Grenadiere ah von dem hell wogenden Pulverdampf, durch den von Hochkirch her die Blitze der preußischen Batterien zucken, die der Feind erobertund gegen die des Königs gerichtet hat.

Fest stehen die Preußen, viele ohne Hut, z. T. ohne Rock, ohne Stiefeln, wie sie vom Lagerfeuer aufge¬ sprungen sind. Man sieht die Kette bis in die Ferne hin, wo sie in Rauch und Glut des brennenden Hochkirch unsichtbar wird. Und mitten durch den .Kugelregen reitet der König heran, fest und unerschüttert, das Ross parireiul, weil kurz hinter ihm eine Granate Offiziere seines Gefolges niedergerissen hat, dass Mann und Ross sich auf dem Boden wälzen, und die Pferde hoch aufbäumen. Grelle Lichter fahren über die Gestalt des Kriegsherrn, be¬ leuchten das von der furchtbaren Erregung verzerrte Antlitz, aus dem die Augen scharf und klar heraus¬ leuchten. Hoch sitzt er im Sattel, packt den Krück¬ stock fest und scheint durch Zuruf das heranstürmende

Bataillon anzufeuern. Wie ist es möglich, die Manns¬ zucht der Preußen in diesem schreckensvollen nächt¬ lichen Kampfe, die ruhige Größe des Königs in der verzweifelten Hast und der Todesgefahr klarer zum Ausdruck zu bringen !

Und da wagten später noch Bleibtreu und Andere ihre Paradeschlachten mit den anmutig galoppirenden Rossen und freundlich lächelnden Generalen zu bringen, nachdem hier gezeigt war, wie drastische, anschauliche

Schilderung wirklicher Schlacht mit ungesuchter, einfacher, aber die Haupt¬ person zur höchsten Wir¬ kung bringender Kompo¬ sition verbunden werden kann ! Menzel hat niemals ein Schlachtfeld gesehen, er schöpfte das Bild aus seiner Phantasie. Aber wie großartig, wie durch¬ dringend, wie schöpferisch erweist sich diese! Alles ist, als ob es selbstver¬ ständlich so sein müsste. Keine Kunstgriffe, keine Un Wahrscheinlichkeiten zur Erhöhung des Effektes, vielleicht von dem einen abgesehen, dass er den König ein wenig höher auf dem Terrain aufstellt, als nach der Fußlinie der Schießenden anzunehmen wäre, wodurch seine Ge¬ stalt stärker sich hervor¬ hebt.

Die deutsche Kunst ist ja an guten Schlach¬ tenbildern so arm. Hier ist das beste, dessen wir uns rühmen können. Es schlägt die etwas tempera¬ mentlosen Werke von Meissonier und Detaille, und die sehr temperamentvollen, aber etwas thea¬ tralischen von Neuville aus dem Felde. Und dabei wurde es schon 1850 56 gemalt. Wie viel mag da versucht worden sein, ehe dieses wie aus einem Gusse geformte Werk so auf der Leinwand stand, wie wir es vor uns haben!

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Menzel hat gerade an manchem der besten seiner Werke mit unermüdlicher Geduld gefeilt. In seinem Atelier hängt leider eines dieser besten, (Friedrich’s Ansprache bei Leuthen), fast vollendet, aber noch

Studie zum „Zerbrochenen Krug“ von Adolf Menzel.

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immer nicht ausstellungsreif. Jene Schnelligkeit, mit der andere bestellte Arbeit liefern. alle echten „Hof¬ maler- haben sich immer durch diese herrliche Fähig¬ keit ausgezeichnet ist Menzel fremd.

Eine vierjährige Arbeit hat Menzel auf die Dar¬ stellung der „Krönung König Wilhelms I. zu Königsberg“ verwandt. Die große Zahl der darauf angebrachten Porträts kann als Ursache gelten, und war auch that- sächlich, da dem Künstler nur ganz allmählich die be¬ treffenden Herrschaften vor den Pinsel sich stellten, eine der Ursachen, wohl nicht die Gerade ein solches monieubild, das sich von selbst zu komponiren scheint, erfordert, soll es nicht steif und langweilig wie A. v. Werners Reichs- tagseröffnung wirken, ein höchst geschicktes Arrange¬ ment, eine raffinirte Grup- pirung und Lichtführung.

Menzel hat auch das mus¬ tergültig verstanden, dem Vorgänge alles Steife, Ge¬ künstelte zu nehmen, aus einer langweiligen Porträt¬ sammlung hoher Herrschaf¬ ten und Würdenträger ein Bild, ein künstlerisches Bild zu machen.

Wie ganz plötzlich an den Künstler der ehrenvolle Auftrag herantrat, nach Königsberg zu fahren und dort während der feierlichen Handlung Studien für das Krönungsbild zu machen, mit welchen Schwierigkei¬ ten er zu kämpfen hatte, dass erzählt Jordan aus¬ führlich. Er weist auch nach, wie weit Menzel ge¬ nötigt war, bei der Ausführung einige Abänderungen zu machen. Im übrigen beruht die einfache und doch so überzeugende Wirkung des Bildes zum guten Teile darauf, dass fast ebensoviel Charaktere wie Köpfe auf dem Bilde sind. Diese Sammlung von Charakterköpfen derer, die mit König Wilhelm die Zeit der großen Kämpfe durchgestritten, wird unseren Enkeln einst ein wertvolles Dokument sein.

Nicht minder wertvoll sind aber die zahlreichen Studienköpfe zu dem Bilde, meist in der Berliner Natio¬ nalgalerie, die zum Teil noch frischer und unmittelbarer

das Wesen jener in strenger Zucht und einfachen Ver¬ hältnissen heran gewachsenen Beamten und Krieger uns schildern, die Deutschlands jetzige Größe herbeigeführt haben. Menzels scharfem Stifte verdankt die Nachwelt damit ein unschätzbares Vermächtnis.

Seit den fünfziger Jahren macht Menzel alljährlich Reisen in Bäder und Luftkurorte. Angeblich zur Erholung. Ich bin zufällig ihm mehrmals dabei begegnet, habe ihn aber immer nur arbeitend, studierend angetroffen. In der

dumpfen Kellerluft alter Kirchen, unter verfallener Brücke an wenig wohl¬ riechendem Wasser etc. saß er zeichnend, malend bis zum späten Abend und erholte sich. Diese unab¬ lässige, niemals rastende Arbeit macht es erklärlich, warum Auge und Hand gleichsam immer gespannt blieben, warum er auch im Alter ebenso scharf, ja fast schärfer zeichnet als in den besten Mannesjahren. Wer nicht rastet der nicht rostet, vorausgesetzt, dass er wie Menzel nicht nur körperlich, sondern auch geistig die volle Kraft ab¬ solut bewahrt.

Wie er zum Staunen seiner Bekannten früher entdeckt hatte, dass das Rokoko höchst malerisch und keineswegs so hässlich und entartet sei, wie da¬ mals alle Welt glaubte, so fand er jetzt, je mehr er in das Leben hinaustrat, und je länger er es in seiner unendlichen Mannig¬ faltigkeit vor Augen hatte, dass auch das täglich uns umgebende Leben erfüllt ist von malerischen Motiven. Was heute jedes Kind weiß, war in den fünfziger Jahren noch ein Geheimnis in Deutschland

Düsseldorfer und Berliner Künstler hatten wohl im Leben der Bauern und Bürger so etwas wie malerischen Reiz schon gewittert. Aber sie konnten sich damit ent¬ schuldigen, dass die Volkskostüme doch eigentlich histo¬ risch waren, und ihre Genrebilder einerseits durch ihren fabulirenden Inhalt, andrerseits durch diese Kostüme einen „höheren Reiz“ eine Art historischer Berechtigung hatten.

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Menzel selbst hatte ja in früheren Jahren ge¬ dacht, seinen Gestalten das historische Mäntelchen umhängen zu müssen, um sie überhaupt salonfähig zu machen. Jetzt warf er die Maske ab, und kühn griff er hinein ins volle Menschenleben. Vollends, seit er in Paris gelegentlich der Weltausstellung von 1867

doch wahrhaftig niemand den Vorwurf machen, dass er aus Gedankenarmut der Schilderung simpler Lebens¬ ausschnitte sich widme. Und doch sah man ihn die ungeheuere Summe von Geist und witziger Beobachtung, die ihm zu Gebote stand, konzentriren auf die einfachsten Vorgänge des Lebens, denen er immer mehr alles kiinst-

Italienisch Lernen. Radirung von Adolf Menzel. Aus den Publikationen des Vereins für Originalradirung in Berlin.

die stärksten Eindrücke vom modernen Leben empfangen und die verwandten Bestrebungen der französischen Kunst kennen gelernt hatte, ging er zur fast ausschlie߬ lichen Schilderung des modernen Lebens über, und wirkte, unbekümmert um alle Angriffe, als Bahnbrecher, der jungen Generation die Wege ebnend. Ihm, dem die Ideen in überströmender Fülle zu Gebote standen, ihm konnte Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 3.

lieh belebende, alle Schönheitsphrasen, alles novellistisch Erzählende nahm, um reine objektive Daseinsschilderung zu geben.

Menzel fühlte sich wiederum als Forscher und Ent¬ decker, wie in den Tagen, da es galt, Friedrich’s Zeit¬ alter aus der Vergessenheit zu befreien und Wieder¬ erstehen zu lassen. In rußigen Schmieden, ländlichen

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Theatern, im Stall und im Salon, in Kirchen und Syna¬ gogen suchte er malerische Motive, entdeckte sie da, wo sie so nahe vor jedem gelegen, ohne dass es jemand für der Mühe wert gehalten, sie zu finden.

Mit seinen kleinen Erstlingsarbeiten auf diesem Ge¬ biete. die noch den vierziger Jahren angehören, hatte er mehr Widerspruch als Zustimmung gefunden.

In den sechziger Jahren erschien neben seinen iseerinnerungen aus Prager Synagogen, Bauern¬ theatern etc., vor allem jenes noch heute ganz modern wirkende Gouache der „badenden Knaben“, die er in der Saale bei Kosen belauscht hatte, wie sie in köstlichem Jugendübermut ihre Gewandung auf ein Floß schleppen, um dieses den Fluss hinabzustoßen und in adami- tischem Kostüm allerlei Unfug zu treiben. Die helle Lust am Plätschern im lockenden kühlen Wasser, die seltsamen Bewegungen der hageren Knabenkörper, das Hineinstapfen in das flache Wasser, die nicht schönen, aber originellen Bewegungen, das Spiel des Lichtes auf den nackten Körpern schildert er mit sichtlichem Ver¬ gnügen.

Hatte ihn schon das Berliner Straßenleben, beson¬ ders in winterlicher Landschaft, zur Darstellung gereizt, so imponirt ihm doch noch mehr der Wirrwarr, die durch¬ einanderschwirrende Menge in den Pariser Straßen, die er 1867 beim Besuche der Weltausstellung kennen lernt; die bei aller. Einfachheit und Gleichartigkeit durch ihre Reklameschilder, Balkongitter und hochaufgeführten Dach¬ bauten mannigfach belebten Riesenhäuser, die wandelnden Omnibusgebäude zwischen dem Getümmel der Droschken, Lastwagen und Equipagen, die dahinflutende Menschen¬ woge, in der ein Geistlicher im schwarzen, langen Ge¬ wände, der Ouvrier in der Bluse, der Zuave mit roter Hose und Turban, die Arbeiterfrau, die Modedame etc. auftauchen.

Links ein Neubau, der den Ausblick auf Tapeteu¬ fetzen, rußige Kaminreste und einen alten, plakat¬ bedeckten Bauzaun gestattet, rechts die Budike eines Geflügelhändlers und weiterhin ein Kaffehaus,. dessen Gäste auf der Straße Platz genommen haben, Kellner mit flatternder Schürze, und in der Mitte, als einzig ruhender Punkt in dem Treiben, der Gardien mit dem feierlichen Dreimaster und breiten Bandelier in stiller Würde. Der Pariser, stolz auf seine elegante Stadt., wird sie in diesem Bilde kaum wiedererkennen. W7ie kann er sich eine Pariser Straße ohne Flaneurs im Mode¬ gewand und ohne kleine Nähmädchen mit kokett auf¬ gehobenem Röckchen denken! Menzel interessirt aber ebenjene fleißige, hastende, handelnde, arbeitsreiche Stadt, die eigentlich Paris ausmacht, und in der das flanierende genießende Paris der Boulevards eine ganz verschwin¬ dende Rolle spielt. Menzel interessirt das Volksleben im eigentlichen Sinne, jene Menschenkategorieen, die ge¬ meinhin nicht vom Künstler damals beachtet wurden, und von denen er ein so lebendiges, farbiges Bild zu

geben weiß. So malt er auch das bunte Volksleben im Tuileriengarten am Sonntag Vormittag, wenn das Volk der kleinen Leute mit Kind und Kegel von dieser herr¬ lichen öffentlichen Promenade Besitz nimmt.

Hatte sich Menzel in der Darstellung modernen Lebens ein neues Schaffensgebiet erobert, so sollte er bald dahin gelangen, es auch in großem historischen Stile, auszubeuten, historischer Stil dabei natürlich in Menzel’s Sinne verstanden. Wie aus den Zeichnungen zu Friedrichs des Großen Leben die Hauptkapitel heraus- gegriffen und in Bildern festgehalten wurden, so gelangte er auch dazu, aus dem Tagesleben Berlins die Momente und die Gestalten in Bildern festzuhalten, die als ge¬ schichtlich wichtigste zu betrachten sind. Man beachte dabei seinen Gegensatz zu Lenbach in der Wahl der Objekte. Lenbach zieht in erster Linie Bismarck’s Heldengestalt an, die ihm in ihrer Reckenliaftigkeit, ihrer in den Zügen des Gesichtes direkt ausgesprochenen geistvollen Größe brauchbare Unterlage für Porträt- phantasieen liefert. Auch Moltke’s Römerkopf ist ihm ein dankbares Objekt. Aber unseres geliebten ersten Kaisers edle, liebenswürdig schlichte Züge widerstreben der künstlichen Steigerung. Hier war Menzel am rechten Platze. Seiner affektlosen, pietätvoll das Wesen des Modells schonenden Gewissenhaftigkeit lag es viel näher, die feine, eigenartige Größe des ersten Hohen zollernkaisers herauszuarbeiten.

1871 hatte er in der „Abreise König Wilhelms zur Armee“ Berlin geschildert, das zwischen opferbegeistertem Jubel und bangem Zagen schwankend dem Kriegsherren ein Lebewohl zurief, der im einfachen Zweispänner, prunklos wie immer, an der Seite der erschütterten Gattin ernsten Blickes einer noch so ungewissen Ent¬ scheidung entgegenfuhr. 1879 durfte er den sieghaften Helden beim Hoffeste beobachten, der über das spiegelnde Parket langsam zwischen der spalierbildenden Schar hindurchgleitet, im glänzenden roten Leibrock der Gardes- ducorps, ordenbehangen, iu der Hand den schimmernden Stahlhelm. Vor einer der Damen macht er Halt. Ehr¬ furchtsvoll vorgebeugt steht die zarte, schlanke Gestalt der von ihm so huldvoll Ausgezeichneten dort, und der hohe Herr blickt auf sie herab mit dem Ausdruck freund¬ licher Milde und Güte, richtet an sie, wie aus den Mienen der Umstehenden hervorgeht, ein paar jener scherzhaften leutseligen Worte, an denen es ihm nie mangelte, wenn es galt, jemanden zu erfreuen und zu ehren. Dicht hinter dem Kaiser folgt der Kronprinz, der im Gedränge einen guten Bekannten bemerkend, schnell, so im Vorbei¬ gehen, eine witzige Bemerkung mit einer leichten Wendung nach rechts in ein Häuflein von Civilisten hineinruft, allgemeine Heiterkeit entfesselnd. Und nun vergleiche man die beiden Gestalten. Der alte Herr, schon ein wenig, nur ganz wenig, gebeugt, namentlich in der Stellung der Füße das Alter verratend, und daneben die elastische, stark ausschreitende Kraftgestalt

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des damaligen Kronprinzen. Beide liebenswürdig, jeder in seiner Art, beide unter der sich vorbeugenden, neigen¬ den Menge stattliche, fürstliche Erscheinungen, aus der Schar der Höflinge ohne weiteres als die Herrscher er¬ kennbar.

Da ist echte Historienmalerei. Die Geschichte wird einst, wenn sie die äußere Erscheinung und die Psyche der beiden denkwürdigen Männer schildern will, nicht Anton v. Werners Bilder zu Rate ziehen, die so trocken und nüchtern den allgemeinen, äußeren Eindruck liefern, sondern Menzels kleine Bilder, die von dem Wesen, den Bewegungen, der Art des Auftretens jener Männer gewissenhaft Kunde geben.

Nicht minder wertvolles historisches Material giebt, Menzel in der Folge von Gemälden, welche die Hof¬ gesellschaft schildern, so wie sie damals war, nicht wie sie vielleicht sein möchte. Nicht nur Adonisse und Venusse allein, ach nein auch ganz gewöhnliche Sterbliche hat er gemalt, nicht nur schöne, elegante, gut sitzende Toiletten, auch überladene, ungeschickte, weniger kleidsame. Es wäre billiger gewesen, immer just in den Vordergrund ein paar berühmte Männer, ein paar Prinzen oder große Feldherren zu stellen, die jeder kennt. Aber er will ja gerade von jener großen Schar der nicht oder weniger Gekannten erzählen, welche diese prunkvollen Königssäle füllen. Er will erzählen von jenem Ge¬ tümmel in der Spiegelgalerie, in den goldglänzenden, reichen Sälen, unter den schweren, im Kerzenglanz flimmernden Kristallleuchtern, wie man sich da drängt und stößt, und am Büffet jenen Kampf ums Dasein kämpft, der nach dem Rückzuge der Majestäten sich zu entspinnen pflegt. Da und dort Gruppen lachender, plaudernder Damen, an einen Pfeiler gedrängt, ältere Generale und Beamte in ernster Beratung, Hofprediger, Staatsräte, Künstler, Gelehrte in Gruppen umherstehend, raisonnirend oder sich langweilend, dazwischen irrende Ritter in Uniform, die ihre Siegesbeute in Gestalt von Sektgläsern, kalter Küche und Dessert abliefern wollen. Ältere Paare, die bereits den Rückzug antreten, hier und dort noch plaudernd verweilen, überall Wirrnis, Auflösung und in der Ferne jenes Schlachtgewühl am Büffet, wo über die Köpfe der Menge glückliche Sieger Gläser und Teller emporhalten, um sie aus dem Gefecht hinauszuretten. Wie mühsam genießt der alte Geheim¬ rat da vorne seine Eroberung. Stehend, den Hut zwischen die Beine klemmend, mit der Linken Teller, Glas und Messer haltend, so führt er den Bissen zum Munde.

Wunderbar sind die Damen beobachtet. Wie sie sich beim Trinken Vorbeugen die Robe zu schonen, wie sie weit ausbiegen, wenn ein galanter Ulan der Nachbarin etwas servirt, wie sie mit jener merkwürdigen Wendung des Kopfes nach hinten und zur Seite mit der Hand nach dem Haare tasten, prüfend, ob der Schmuck noch nicht verloren, ob die Nadeln auch das künstliche Coiffure-Gebäude noch halten plaudernd, lächelnd,

sehnsuchtsvoll ausschauend. Und die meisten mehr charakteristisch als gerade schön.

Man hat Menzel den Vorwurf gemacht, er sei über¬ haupt unfähig, hübsche Frauenporträts zu geben. Davon kann keine Rede sein. Hübsch im Sinne des falten¬ tilgenden, retoueliirenden Photographen, im Sinne derer, die für süßliche Puppenköpfe schwärmen, hat er aller¬ dings nicht gearbeitet. In der Regel stellt er auch hier das Charakteristische über das trivial Schöne und lässt in einem Antlitz, in welchem gefällige Meister nur die anmutigen, regelmäßigen Züge festhalten würden, auch das durch Abweichung vom Normalen pikant Wirkende zur Geltung kommen. Er hat wohl auch niemals Frauen und Mädchen mit dem Auge des verliebten, schwärmen¬ den Jünglings betrachtet, das aus dem gleichgültigsten Gesichte ein Urbild makelloser Schönheit herauszulesen weiß. Selbst schönen Frauen gegenüber bleibt er der ruhige, objektive Beschauer, der sich alle Schmeicheleien spart. Und da bekanntlich das Antlitz erst noch ge¬ funden werden muss, das absolut normal gebaut ist, das auch nicht den kleinsten Schönheitsfehler aufzuweisen hätte, wie dürfen wir uns da wundern, dass der ge¬ wissenhafte Chronist Menzel von einem solchen auch in seinen Bildern uns nichts erzählt! Soviel darf überdies zugegeben werden, dass er die Gelegenheit, durch An¬ bringung niedlicher Mädchengesichter seinen Bildern einen besonderen Reiz zu geben, mit großer Standhaftig¬ keit, unbenutzt ließ, und dass das auffallend geringe Interesse, das die Frauenwelt im allgemeinen an Menzels Werken nimmt, wohl auf Gegenseitigkeit begründet ist. Menzel ist in seinen Werken eine herbe Natur, der das Sinnliche, soweit es nach dem Sexuellen hin gravitirt, ewig fremd bleibt, oder der wenigstens diesem Sexuell-Sinn¬ lichen nicht das Mäntelchen künstlerischer Begeisterung umhängt, wie das so meisterhaft die großen Franzosen des XVIII. Jahrhunderts verstanden.

Menzel hat nicht die in Ehrfurcht ersterbende Be¬ geisterung für die oberen Zehntausend. Vor seinem kritischen Auge enthüllt sich auch hier das Menschliche - Allzumenschliche. Er hat etwas höchst Modernes darin, dass der Proletarier ihm künstlerisch ein ganz genau so dankbares Thema ist wie der schönste Husaren¬ lieutenant.

So ist er auch der Schöpfer des Bildes geworden, das in Deutschland als eines der ersten, jedenfalls als das erste durchschlagende Werk die moderne Fabrik¬ arbeiterwelt verherrlicht. Was Courbet für Frankreich, that er für uns. In den „Modernen Cyklopen " führt er uns in eines jener riesigen Hüttenwerke, in denen ge¬ waltige Schwungräder wie von unsichtbarer Kraft ge¬ trieben, rotglühende Eisenmassen mit gewaltigen Zangen gepackt werden, wo durch den grauen Nebeldunst hin¬ durch schwarze Eisenstangen, Wellen, Räder, Treibriemen im Gewirre sich zeichnen, zuckende Flammen aus düsteren Ofenhöhlen fahren und die herkulischen Gestalten halb-

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nackter Arbeiter beglfihen. Aber nicht minder fesseln ihn die kleinen Tiroler Dorfschmieden, wo in halbver¬ fallener, verräucherter Hütte am Ofen und Blasebalg der Schmied schafft, wo in die höhlenfarbene Dämmerung durch verfallene Dächer neugieriges Tageslicht hinein- schaut. Von der Mehrzahl der modernen Arbeiterbilder sind aber die Menzel’schen durch eine breite Kluft ge- trennt. Er denkt nicht daran, damit Socialpolitik zu trei¬ ben, um der ..guten Sache willen“ socialis tische Tendenz¬ bilder zu malen. Die moderne Industrie ist so imposant, dass er als Maler nicht daran vorübergehen kann, so wenig wie an einer Prozession von Tiroler Bauern, einer alten Sakristei oder Synagoge. Aber sociale Politik mit seinen Bildern zu treiben, das liegt ihm fern.

Auch in Kissingen weilt er alljährlich, um sich zu erholen und menschliche Dokumente aus dem Badepubli¬ kum zu sammeln. Unsere Heliogravüre giebt ein solches Momentbild.

Sie haben oft etwas ungemein Komisches, diese Brunnenpromenaden, denn sie sind reicher an Kontrasten, als alle anderen Badeorte. In Luftkurorten sammeln sich Naturfreunde oder solche, die es zu sein vorgeben. In Modebädern läuft jene Welt zusammen, in der man sich durch Langeweile die Langeweile vertreiben will, und im Hochgebirge dominirt der Bergsteiger, der Tourist. Überall ein mehr oder weniger homogenes Publikum. Brunnenplätze aber werfen Menschen aller Berufe und Gesellschaftsklassen zusammen, einsame Naturen und Gesellschaftsfexe, Kinder und Greise, arm und reich. Und diese ganze Schar wird in früher Morgenstunde in pro¬ visorischer Toilette nüchtern und halbmüde auf der Brunnenpromenade zusammengetrieben, um mit lächerlich ernsthaftem Gesichte, als ob eine Kulthandlung zu be¬ gehen wäre, einige Becher Wasser in feierlichen Pausen sich hinunterzuquälen. Welcher Genuss für Menzel, diese Menschheit hier zu studiren, wo ihre Charaktere sich so herrlich offenbaren, markante Typen so bunt gemischt sind, das Gedränge unter den Arkaden, in der langen Allee, um die Wärmeöfen mit den Bechern zu schildern. Einsam wandelt dort ein kleiner Professor im wilden Bartschmuck, schäbigem Hut und Rock, hinter ihm die hohe aristokratische Gestalt eines alten Offiziers a. D., der seinem Civilanzug einen sportmäßigen Anstrich giebt. Herr Rentier Schulze aus Berlin bleibt dagegen immer der alte Schwerenöter und gewandte Gesellschafter, und die kurze, runde Gestalt dreht sich beweglich, um einer jungen Frau huldigend zu nahen. Er ist mehr komisch als gefährlich, der bejahrte Don Juan, und das kichernde junge Frauchen, wie der lächelnde geistliche Herr neben ihr nehmen die Huldigung als wohlgemeinten Scherz mit Humor auf. Dazwischen andere, die feierlich das Heil¬ wasser schlürfen, lachend oder gelangweilt dahinschreiten. Nichts Dramatisirtes, nichts Komponirtes an dem Bilde, getreuliche Schilderung, man könnte glauben, nur Fest¬ stellung des Thatbestandes. Aber für alle Zeiten ist

damit festgelegt, so sah im Jahre 1890 das Badepublikum von Karlsbad aus, äußerlich und innerlich, nach seiner Kleidung, seinen Manieren, seinem Wesen. Menzel steckt sich die Grenzen seiner Darstellung, je älter er wird, desto enger. Von poetischen Fabeleien, von der Oykien¬ dichtung geht er zur historischen Einzelschilderung, um dann großen Motiven des Tageslebens sich zuzuwenden, schließlich die unscheinbarsten Scenen aus dem Alltags¬ leben zu behandeln. Immer bleibt er groß in der Art, wie er das Leben auch im Kleinsten und Geringsten lierauszuspiiren weiß, wie er Dingen, die anderen so gleichgültig, nichtssagend und alltäglich scheinen, durch individuelle Auffassung eine künstlerische Existenz giebt und stetig beweist, dass jeder beliebige Winkel der Welt zum Kunstwerk gestempelt werden kann, sofern ein Künstler ihn mit seinem Temperament durchdringt.

Man sieht, inwiefern Menzel typisch ist für das, was wir bis vor wenigen Jahren als specifisch „moderne Kunst“ betrachteten, wie er ihre reinste Form uns ver¬ gegenwärtigt. Man sieht, dass in so überragendem Genie der Geist der „naturalistischen Schule“ nicht platt und trocken als Naturabschreiberei sich gab, ^son¬ dern jene feine Vielseitigkeit bewahrte, die er auch in Emile Zola’s besten Werken besitzt. Aus dem früheren Streben nach Geistvollem und Gefühlvollem war er lang¬ sam dahin gekommen, nichts in der Darstellung der Dinge zu betonen, allzustark herauszuheben, nichts an ihnen zu übertreiben, nach besten Kräften objektive Berichte zu geben, so weit das Menschen überhaupt ver¬ mögen.

Ich habe versucht, die Hauptstationen auf Menzel’s künstlerischem Lebenswege zu bezeichnen. Unmöglich ist es, auf beschränktem Raume jener Fülle von kleineren Arbeiten zu gedenken, die in unerschöpflicher Produktions¬ kraft der Meister schuf. Ein Blick in die vorerwähnten Menzelwerke des Bruckmann’schen Verlages genügt, um die ungeheuere Vielseitigkeit des Mannes zu bezeugen. Dort findet eine große Gruppe von Arbeiten eingehende Würdigung, die ich nur beiläufig erwähnen konnte, die Diplome und Adressen, in die Menzel seinen Geist und seinen Witz, seine Freude an symbolischem Ausdrucke, an originellen Gedanken hineintrug. Diese Menzel werke geben ferner eine stattliche Anzahl von Studienblättern wieder, die zum vollen Verständnis des Meisters so un¬ entbehrlich sind. Mehr als alle Adressen, Ansprachen und Festessen wird diese würdige litterarische Fest¬ gabe weiten Kreisen die Bedeutung Adolf Menzel’s er¬ schließen können. Wie ungeschwächt er heute, an der Schwelle des Greisenalters noch fortarbeitet, dafür legt das oben erwähnte Ergänzungsheft zur großen Menzel¬ publikation Zeugnis ab, das die Mehrzahl der größeren Arbeiten von 1885 1895 in größtem Maßstabe reprodu- zirt. Die Ölmalerei tritt mehr zurück. 1889 malt Menzel

ADOLF MENZEL.

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noch einmal den Aufbruch der Gäste von einem Hoffeste, 1892 zwei reizende, stillpoetische intime Landschaften. Sonst überwiegt die Gouachemalerei, die ihm, der offenbar noch so viel wie möglich aus dem Schatze seiner Beobachtung und Erfahrung uns mitteilen will, als schnellere, weniger Vorbereitung aber große Sicherheit erfordernde Technik wertvoll ist. Unsere Heliogravüre der Kissinger Brunnenpromenade ist gleichfalls nach einem solchen Gouachebilde von 1890 (im Besitz des Herrn E. Meiner in Leipzig) angefertigt. Und rastlos studirt Menzel auch heute noch weiter, wie die wunder¬ baren Bleistiftstudien im Menzelwerke beweisen, die nach dem lebenden Modell gezeichnete Männer und Frauen¬ köpfe wiedergeben. Dass ein solches Ergänzungsheft der Wirksamkeit eines 80jährigen Künstlers gewidmet werden konnte, ist an sich eine höchst merkwürdige, fast einzig dastehende Erscheinung. Sie legt Zeugnis dafür ab, dass unser Adolf Menzel als ein neuer Antäus durch die Berührung mit der Natur sich stetig neue Kraft ge¬ winnt, und wohl so bald sein letztes Wort noch nicht gesprochen hat.

* *

*

Die Feste, die man heuer zu Ehren des Jubilars feiert, versprechen glänzend zu werden. Sie wecken in mir die Erinnerung an jene Menzelfeier, die zu des Meisters siebzigstem Geburtstage von jungen Berliner * Kunstakademikern veranstaltet wurde, die Erinnerung an jenen Abend, da wir in den Kostümen Friederizianischer Soldaten den Altmeister jubelnd umdrängten. Damals prangte der große Saal der Philharmonie in einem flüchtig übergeworfenen Rokokogewande. Auf der Bühne ent¬ faltete sich ein Festspiel, das mit einem lebenden Bilde, dem „Flötenkonzert“, schloss. Menzel ließ diese Hul¬ digungen gerne, aber gelassen über sich ergehen. Un¬ vergesslich aber bleibt mir der Moment, in dem der kleine Herr mit dem Gelehrtenkopf, mit dem durchdringenden scharfen Blicke, der hinter den großen Brillengläsern herausfunkelt, herabtrat aus der Loge in den Saal. Da schlug der Tambour den Wirbel und vor dem improvi- sirten Wachtgebäude trat die lange Garde unter Gewehr, um getreulich nach dem alten Exerzierreglement zu

präsentiren. Und Adolf Menzel nahm die Parade ab. Aber nicht mit der zufriedenen Miene des gefeierten Mannes schritt er durch den Saal. Nein, mit der ge¬ spannten Aufmerksamkeit eines alten Korporals ging er langsam von Mann zu Mann, besichtigte ihn von vorn und von hinten und warf nur gelegentlich kleine Be¬ merkungen über die Adjustirung uns zu, die wir als glänzendes Offiziersgefolge den kleinen schlichten Civi- listen fast verbargen. Nur ein Mann ließ mit gleicher Unbefangenheit Huldigungen an sich vorübergehen und sich durch dieselben von ruhiger, sachlicher Erörterung keinen Moment abbringen, ich meine den großen Schweiger Moltke.

Menzel ist seitdem viel glänzender und ehrenvoller Friederizianisch begrüßt worden. An der Stelle, die ihm Jahrzehnte zuvor für Studienbilder verschlossen ge¬ blieben, hat unser Kaiser ihn glanzvoll empfangen und in feinsinniger Weise geehrt. Aber vielleicht kann da¬ neben auch jene erste Huldigung in des Meisters Er¬ innerung ehrenvoll bestehen. War es doch die Künstler- jugeud, die Vertretung der werdenden deutschen Kunst, die in hellauflodernder Begeisterung dem Manne zu¬ jubelte, der als ewig junger, ewig sich verjüngender auch in seiner Kunst den deutschen Malern einen Jung¬ brunnen zu ewiger Stärkung geboten hatte. Damals durften wir ihm versichern, dass der Samen, den er dem mühsam beackerten Boden anvertraut, herrlich aufgehen, und seine Frucht bringen werde in der deutschen Kunst der Zukunft. Mag diese Kunst sich jetzt auch noch so kraus geberden, stets wird das ernste Antlitz Menzel’s die übermütig aufschäumende zur strengen Gediegenheit wieder zurückführen, werden seine Werke als läuternde, mäßigende, zur Strenge gegen sich selbst mahnende Vorbilder bestehen.

Wir aber, die wir als Deutsche sonst uns nachsagen lassen müssen, dass wir unsere großen Männer erst nach dem Tode feiern, wir sollten doppelt eifrig sein, dem ersten lebenden deutschen Meister, dem, der auch vor künftigen Generationen die Ehre der Kunst des XIX. Jahrh. vertreten wird, noch bei Lebzeiten begeisterten Dank zu Füßen zu legen, an seinem achtzigsten Geburts¬ tage, dem 8. Dezember 1895.

MAX SCHMID- AACHEN.

BÜCHERSCHAU

Franz von Lenbacli. Zeitgenössische Bildnisse. Neue Folge. Vierzig Porträts in Heliogravüre. Ausgabe vor der - »eb. 175 M. Ausgabe mit der Schrift 100 M. (Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vorm. Fr. Bruckmann, München.)

Man hat von Shakespeare einmal gesagt, seine Gestalten seien wie gläserne Uhren: man sähe ihnen durch und durch und erkenne alle Triebfedern ihres Wesens. Das heißt, der Dichter stellt sie so folgerichtig dar, blickt so sehr in die Tiefen der Seele, dass er alle ihre Äußerungen ohne nähere Begründung verstehen lehrt. Auch Hebbel, der uns so mar¬ kante Individualitäten zeichnet, sagt von sich , dass er von allen seinen Figuren die Lebensgeschichte von der Geburt an kenne. Der wahre Porträtmaler verfährt ähnlich. Er giebt dem Bilde des Dargestellten ein Stück Lebensgeschichte mit; er beobachtet seine Gestalten mit hellseherischem Auge und was gewöhnliche Sterbliche kaum dunkel empfinden, Unsagbares, ewig Wechselndes, weiß er in feste Form zu fassen. Von Franz von Lenbach’s Bildnissen wird uns dies Jahr eine neue Reihe in Heliogravüren dargeboten. Welch eine merkwürdig prägnante, epigrammatische Sprache weiß der Pinsel des Malers zu sprechen. Er hat eine Zauberhand, die uns ein edles Gefäß zeigt und gleichzeitig den feinen geistigen Inhalt, der darin sprudelt, mit den Augen schmecken lässt. Er scheint oft die Summe eines Lebens zu ziehen, wenn er das sprühende Auge, den belebten Mund, die sprechenden Falten eines Anlitzes und die Haltung und Ge¬ berde nachschafft. In dem vorliegenden Bande wechseln gekrönte Häupter und self-made men, geistige Kapazitäten, musikalische Genies und sonstige Lieblingssöhne und -Töchter der Natur. Die Repräsentanten gewaltiger Einheiten von Bismarck und Leo XIII. an bis auf Feldherren eines kleinen Gebietes, wie Hans von Bülow sind alle in erhöhten Lebens¬ momenten dargestellt und die Galerie weiblicher Schönheiten, die sich dazwischen hindurchschlingt, ist mit tausenderlei schier unnachahmlichen Reizen ausgestattet. Unbeschreiblich wie der Duft der Blüte, aber ebenso mannigfaltig und grund¬ verschieden zeigen sich die fein organisirten Naturen, deren bildnerische Wesenheit hier für die künftigen Jahrhunderte festgehalten ist. Von köstlicher Pikanterie ist z. B die Halb- figur der Sängerin Lillian Sanderson und in dem Kinder¬ porträt Marion Lenbach reichen sich Van Dyck und Rem- brandt die Hände. Der leicht verschleierte Blick und die abwartende Haltung des Prinzregenten; der überschlaue prüfende Blick des Papstes Leo; das durchdringende, greifende Adlerauge Bismarck’s; das in dichterischem Feuer glänzende von Richard Voss; das selbstzufriedene und berechnete Lächeln Macella Sembrich’s; Hans von Biilow’s lebhafte Attitüde und die sinnige Grazie der Gräfin Görz: das sind malerische Leistungen höchsten Grades, die von Lenbach’s merk¬ würdig intuitivem Können aufsNeue glänzend Zeugnis ablegen.

Neue Kunstblätter. Währendes verhältnismäßig leicht ist, die Elemente darzulegen, auf denen die Wirkung des Kupferstichs beruht, wird es weit schwieriger, dasselbe bei der Radirung deutlich zu machen. Der Kupferstecher wan¬ delt einher wie ein Landmann; der Grabstichel ist sein Pflug, der Furche auf Furche zieht und das ganze Feld mit Mühe und großem Kraftaufwand umackert, damit es hun¬ dert- und tausendfältige Frucht trage. Der Radirer ist ein Schlittschuhläufer, der dagegen von aller Erdenschwere schier befreit, scheinbar sorglos und mühelos über die Fläche weg¬

gleitet; ihn leitet ein feines Gleichgewichtsgefühl und nichts hindert ihn, rasche, kühne Kurven zu ziehen, bald hier, bald dort auszuweichen, zum Ausgangspunkte zurückzukehren, kurz eine Bahn zu beschreiben, wie sie etwa Fortuna’s Kugel eigentümlich ist, so unberechenbar, so launisch, so neckisch leicht und so schwer zu verfolgen. Freilich ist bei dieser anmutigen Bewegung das Gelingen noch mehr auf die Spitze gestellt, als bei dem schwerfälligeren Schneckengange des Kupferstechers. Der beharrliche Fleiß setzt hier aus Punkten und Strichen ein Bild zusammen, das dort eine glücklich geniale Anlage stets als Ganzes, als Einheit fühlen soll. Fast wie die Züge eines guten Schachspielers, der ohne das Breft zu sehen die Wirkung einer Bewegung auf die ganze Umgebung spürt, so sind die Züge des Radirers, der stets seiner innern Anschauungskraft folgt, wenn er im Halb¬ dunkel seiner Platte arbeitet. Doch genug der Gleichnisse, die doch nur halb giltig sind und lediglich eine kurze In¬ troduktion bilden sollen für die Besprechung einiger neuer Blätter, die, so verschieden zart geädert, vom Sturmwind des Verkehrs in die Redaktionsstube hereingeweht worden sind. Ein Vierblatt von ganz ungewöhnlichen Dimensionen bietet neuerdings Bernhard Mannfeld dar. Er hat der Reichs¬ hauptstadt den Rücken gekehrt und seinen Aufenthalt am Rhein, am Main und an der Mosel dazu benutzt, seinen großen Architekturstücken neue anzureihen, *) die von dem großen Fleiße des Künstlers zeugen. Er zeigt uns Köln und Frankfurt in zwei breit behandelten Blättern so, wie ein ge¬ wöhnliches Auge sie selten sieht. Die rauhe Wirklichkeit ist verklärt und vergeistigt und des Künstlers Temperament fügt, was im Leben unharmonisch nebeneinander steht, zu einer Einheit zusammen. Man hat von Mannfeld gesagt, er sähe die Wirklichkeit mit etwas aufgeregten Sinnen phan¬ tastisch an. Wenn das ein Vorwurf sein soll, so ist es einer, der gegen die besten Maler, die besten Dichter erhoben werden kann, ja erhoben werden müsste. Dass er die Wirk¬ lichkeit nicht wie ein radirender Topograph bucht, sondern sie durch seine Augen gesehen und sein inneres Licht beleuchtet uns zeigt, soll man ihm das verargen dürfen? Er lässt nicht alles verdrießlich durcheinanderklingen, sondern schaltet wie ein Herr damit, trennt und verbindet, hebt hervor und schwächt ab, lässt Unbedeutendes gewinnen und Allzumäch¬ tiges zurücktreten. Das Stadtbild der alten Colonia enthält seit Vollendung des Doms durch die zwei großen gotischen Ausrufungszeichen ein Merkmal, das an Mächtigkeit seines Gleichen sucht. Mannfeld zeigt uns die Spitzen des Doms im Hintergründe; ihr unmalerischer Parallelismus wird ge¬ dämpft durch eine kräftige auf- und niederwogende Silhouette des Vordergrundes und durch eine duftige Luftperspektive. Die belebte Wasserfläche des Rheins, von der sich eine dunkle Fähre wirksam abhebt, bildet einen kräftigen Gegen¬ satz zu den vertikalen Elementen; und damit am Himmel ein entsprechendes Gegengewicht sich zeige, läßt der Künst¬ ler eine breite Rauchwolke, die einem Dampfer entsteigt, am leicht bedeckten Firmamente sich verlieren. Das fast mili¬ tärisch Straffe und Starre gotischer Turmhelme wird zu der völligen Haltlosigkeit eines unkörperlichen Gebildes in

1) Verlag von Emil Strauß in Bonn, Bildgröße 75 X 55 cm. Preis: Remarkdrucke auf Japanpapier 250 M., auf Chinapapier 200 M., vor der Schrift je 100 M., mit der Schrift je 30 M.

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BÜCHERSCHAU.

belebenden Gegensatz gebracht. Des Näheren auf die Ana¬ lyse der Wirkung einzugehen, wäre ein ziemlich aussichts¬ loses Bemühen , da ein Kunstwerk ja kein Rechenexempel ist und bei aller Erklärung stets ein ungelöster, unerklärter Rest zurückbleibt. Das ist kein Kunstwerk mehr, bei dem alles ausgeklügelter Effekt ist, bei dem der Wechsel der Gegensätze so äußerlich sich darstellen lässt. Dem Kölner Stadtbilde als Widerspiel ist die Darstellung Frankfurts zu¬ gesellt. Auch hier bildet das mit Booten besetzte Wasser und das volkbelebte Quai den Vordergrund, die alte Häuser¬ reihe mit energisch betontem Eckturm den Mittelgrund, und dahinter ragt, die rechte Seite einnehmend, der malerische

wildernsten Grundton ein liebliches Fugato. Uns will be- dünken, als bestrebe sich der Bau in der Mannfeld’schen Wiedergabe allzusehr , seinem Namen Ehre zu machen. Er ist zu massig schwer, zu schwarz geraten und wirkt etwas silhouettenbaft; diese Silhouette pflanzt sich auch auf das links daneben stehende Haus und die Baumgruppe am Rande fort, wodurch diese dunkle Hauptpartie aus dem lichten Grunde zu sehr herausfällt. Der in der Ferne sichtbare Dom auf der linken Seite des Bildes vermag der prädomi- nirenden Kraft des Mittelgrundes nicht recht entgegenzu¬ wirken; er ist zu isolirt und wirkt für sich, wie ein Bild im Bilde. Auch die beiden lichten Durchblicke, welche im

Lillian Sanclerson von Franz v. Lenbaeh. (Verkleinerte Nachbildung aus: Franz von Lenbach, Zeitgenössische. Bildnisse. Neue Folge.)

Dom in die Luft empor. Wir möchten diesem Blatte vor seinem Partner noch den Vorzug einräumen; es ist einfach, frei und durchaus klar in der Gliederung, und in vielen Partieen recht glücklich behandelt. Den beiden genannten Hochbildern schließen sich zwei ebensogroße Blätter in Breit¬ format an, welche die Porta nigra in Trier und das Stadt¬ bild von Mainz, von Castel aus gesehen, zum Vorwurfe haben. Das uralte Bauwerk an der Mosel wirkt an und für sich höchst malerisch, die alten Rundbogenfenster blicken uns wie mit leeren Augenhöhlen gespenstisch an; aber die ewig neu wuchernde Vegetation und die plaudernden, leben¬ digen Menschlein, die durch die alten Thore des abgestorbenen römischen Riesen hindurchpilgern, bilden zu dem dumpfen

Körper des Baues sich öffnen , betonen eher als sie es mil¬ dern, das Coulissenartige der Hauptpartie. Besonders merk¬ würdig und auch für Mannfeld eigentümlich ist die Auf¬ fassung und Darstellung bei dem vierten Blatte. Die Stadt Mainz erscheint wie ein Nebelbild am fernen Horizonte und grüßt mit ihren Türmen weit über den breiten Rhein. Hier hätte die Darstellung der Stadt nur ein flaues und flaches Blatt gegeben. Der Künstler macht aus der Not eine Tu¬ gend und aus dem Architekturporträt ein Landschaftsbild, indem er eine riesige, dunkle Pappelallee in den Rahmen hereinzieht ; zwei Schiffer , welche einen Kahn stromauf schleppen, und einige junge Damen, die sich an der Aussicht freuen, beleben eine breit hingelagerte Landstraße neben

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BÜCHERSCHAU.

dem mächtigen Strome. Man wird an gewisse italienische Landschaften erinnert, wo die düster aufstrebende Cypresse eine ähnliche, stimmungmachende Rolle spielt, wie hier die llaumgruppen am Ufer. Sie sind breit und keck behandelt und geben dem Blatte Haltung und Kraft; das künstlerische Auskunftsmittel beweist hier recht schlagend, dass es nicht genügt, die Natur schlechthin zu studiren und wiederzu¬ geben, wenn man eine volle Wirkung erzielen will. Nicht die Wahl eines beliebigen Ausschnitts, sondern die eines ganz bestimmten, von störenden Zufälligkeiten möglichst geläu- . S lr, u il bestimmter Empfindung und Ab-

icht treu wiedergegeben, stempelt erst das Dargestellte zum Kunstwerk. Die Empfindung, die den Künstler beim Schaffen beseelte, muss in der Brust des Beschauers als Echo wieder¬ klingen. Spricht keine verwandte Saite an, so ist das Kunst¬ werk stumm. Freilich ist oft der Genießende taub oder schwerhörig; die Kunstwerke sind es, welche immer feinere Diflerenzirungen hervorrufen und zu immer subtilerem Ge¬ nießen erziehen. Ein junger Künstler von bemerkenswertem Talent, der in dieser Zeitschrift als Radirer schon seine künstlerische Visitenkarte abgegeben und ebenfalls wie Mannfeld mit der Architektur sich trefflich abgefunden hat, bietet seine erste größere Leistung auf landschaftlichem Ge¬ biete dar. Es ist Hugo IUI) rieh, gegenwärtig in Breslau, dessen energievolle Platte, „Sturm“ betitelt, 0 ein wohlge¬ lungener Wurf ist. Auf einer Flussinsel erhebt sich von hohen Bäumen und Buschwerk umgeben ein altes Gemäuer, dessen Mitte ein flacher viereckiger Turm bildet, die schin¬ delgedeckten Dächer der Wohnhäuser kaum überragend. Eine mächtige Steinbrücke mit drei Bogen bildet den Zu¬ gang zu dem mauerumschlossenen Eiland. Ein trüber, vom Sturm zerrissener Wolkenschleier dessen eiliger Zug deutlich sichtbar ist, streicht finster über dem Ganzen hin. Die hoch¬ ragenden Pappeln und das Gebüsch bäumen sich unter der Wucht des Orkans; mächtig, dramatisch fast, ist das Leben, das aus dem Kunstwerke spricht. Ein großer Zug geht durch die Darstellung; die Flächen sind markig und breit behandelt und bekunden von Kleinigkeiten abgesehen, schon eine beträchtliche Herrschaft über die technischen Mittel. Die ganze Conception ist zu glücklicher Stunde in des Künstlers Seele gefallen ; Ossianischer Hauch weht in dem Blatte, dass der Schauplatz einer alten Ballade zu sein scheint. Sorgfältiges Naturstudium und ein bemerkenswertes Naturgefühl haben den Radirer zu der trefflichen Ausgestal¬ tung seines Kunstwerkes befähigt. Auch des Druckers soll mit Auszeichnung gedacht sein , der seine schwierige Auf¬ gabe mit Glück gelöst hat. NAUTILUS.

Neue Veröffentlichungen der Vereinigung der Kunst¬ freunde in Berlin. Die Direktion der Berliner National¬ galerie hat vor zwölf Jahren eine Vereinigung begründet, deren Mitgliederzahl heute die der größten Kunstvereine übersteigt. Die ehemals so beliebten Nietenblätter und die großen Kupferstiche der verschiedenen Kunstgesellschaften sind nicht so populär geworden, als die farbigen Nach¬ bildungen, in denen die Firma Ad. 0. Troitzsch excellirt. An Farbe hängt, nach Farbe drängt doch alles. Neuerdings hat die Geschäftleitung den Farbenlichtdruck angewendet und dadurch eine so bestechende Treue der Nachahmung er-

1) Berlin, Stiefbold & Co., Remarkdrucke 60 M., Schrift¬ drucke 20 M.

zielt, dass man sich oft versucht fühlt, mit dem Tastsinn davon zu überzeugen, dass die Bilder nicht pastös gemalt sind. Die den Mitgliedern der Vereinigung neuerdings zur Auswahl dargebotenen 21 Publikationen, durch welche die Gesamtzahl sich auf 142 erhöht hat, zeigen, dass die den verschiedensten Geschmacksrichtungen Rechnung tragende Auswahl dabei doch stets nur das Beste berücksichtigt. Zunächst seien hervorgehoben die beiden Doppelblätter: „Kaiser Wilhelm 11. an Bord des .Duncan Grey‘ auf der Waljagd“ von dem Marinemaler Karl Saltzmann, und die „Apotheose Kaiser Wilhelms des Siegreichen“ von Ferdinand Keller. Als Festgabe für das Jubiläumsjahr des deutsch-französischen Krieges passt vortrefflich Anton von Werner’s „Etappenquartier vor Paris“ (Normalblatt, Bildgröße 49:6572 cm). Sehr will¬ kommen wird vielen Ernst Hildebrand's Bild sein „Königin Luise auf der Flucht nach Memel“, vor dem Schneesturme in einem Bauernhause Schutz suchend (Normalblatt). Eine Perle des Prager Rudolphinums, die holdselige, das Mutter¬ glück verkörpernde „Madonna vor der Grotte“ mit dem sie umarmenden, in ein langes faltiges Gewand gekleideten Jesusknaben, von Karl Müller rein menschlich und doch den frommgläubigen Sinn befriedigend dargestellt , bietet in vollendeter Nachbildung ein weiteres Blatt normaler Größe. Prächtige Landschaften sind die idyllische „Mühle in West¬ falen“ von G. von Canal und das poetische, farbensatte Spätherbstbild „Im Park von Versailles“ (Neptunbassin) von Fr. von Schennis, beides Normalblätter, ferner die Halb¬ blätter „An der Küste der Normandie“ und „Winterland¬ schaft“, deren schlichte Motive von der Meisterhand Eduard Hildebrandt’s außerordentlich reizvoll behandelt sind, sowie die acht Studien und Gemälde von dem Berliner Eduard Fischer. Außerdem ist noch die fünfte Lieferung der Mappen¬ blätter (von denen vier als Normalblatt gelten) erschienen; sie enthält ein Gouachebild von Adolf Menzel, „Trocken¬ platz“, und drei herrliche Architekturstücke des verstorbenen Karl Graeb: das Ölgemälde „Die Grabmale der Grafen von Mansfeld in der Kirche zu Eisleben“ (in der National¬ galerie) und die Aquarelle „Schloss und Kirche in Sigmarin¬ gen“ und ,, Brücken thor mit Wassergraben und Baumgruppen“. Für diejenigen, welcher dieser der Lösung ihrer schönen Aufgabe mit so unermüdlichem Eifer und so günstigen Er¬ folgen sich widmenden Gesellschaft beitreten wollen, sei aus den Satzungen derselben folgendes mitgeteilt: Die Mit¬ gliedschaft wird erworben durch Zahlung eines jährlichen Beitrages von 20 Mark. Dafür empfängt man ein Vereins¬ bild nach freier Wahl zu 20 Mark (Normalbild) oder zwei Halbblätter zu je 10 Mark oder vier Mappenblätter zu je 5 Mark oder gegen Nachzahlung von 20 Mark ein Doppel¬ blatt. Anmeldungen nehmen die Direktion der National¬ galerie und die Geschäftsleitung (Berlin, Markgrafenstraße 57) entgegen.

Eine höchst interessante Festgabe wird dem Altmeister Menzel zu seinem Jubeltage von einem fast gleichalterigen Verehrer dargebracht: Der wohlbekannte Sammler, A. Dor- gerloh, hat ein beschreibendes Verzeichnis der durch Kunst¬ druck vervielfältigten Arbeiten Adolf Menzel’ s verfasst, das der Verlag von E. A. Seemann in der ersten Dezemberhälfte auf den Büchermarkt bringen wird. An die 1500 Nummern führt der stattliche, mit dem Porträt des Meisters geschmückte Band auf; er wird für etwa 10 M. käuflich sein.

Herausgeber: Carl von Lützow in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

BRUNNENPROMENADE IN

1

F Kirostewitz sculps.

DER VILLA DES HADRIA1

Druck von L. Angerer in B erlin

Poöitel au der Narenta.

VON DER SAVE ZUR ADRIA,

BILDER AUS BOSNIEN-HERZEGOWINA.

VON HEINRICH NOE.

BOSNIEN und Herzego¬ wina, als ein einheitliches Ganzes betrachtet, sind mit Eigenschaften ausge¬ stattet, welche dieses Ge¬ biet zu einem der merk¬ würdigsten Touristenlän¬ der gestalten. Das Hoch¬ gebirge, welches die Gemse bewohnt, der stille Berg¬ see, der Wasserfall, der Urwald, die wundersamen Schaustücke der Unter¬ welt im Karstgestein feh¬ len ihm ebenso wenig wie die Anmut bebauter Flur, die Fremdartigkeit des sich in alle Lebenser¬ scheinungen hineindrängenden Ostens, die farbengrelle Pracht des Südens und alles das ist zum Teil durch den Schienenweg, zum Teil durch treffliche Straßen zu¬ gänglich, unter der Obhut einer vorsorglichen Regierungs¬ gewalt und allenthalben durchsetzt von vaterländischen Anklängen, von heimatlichen Einrichtungen und Gast¬ stätten, ein Land, welches den Österreicher anmutet, wie den Franzosen sein Algier.

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 4.

Wir haben in dieser Landschaft zugleich die Ver¬ satzstücke der Alpen und des Orients. Wir haben das Tannen grün und den schäumenden Wildbach neben Bildern, die wie eine Luftspiegelung aus dem fernen Asien hereinragen.

Unser heimisches Wesen hat sich hier und dort in einer Umgebung breit gemacht, wie sie aufregender nicht gedacht werden kann. Hier erschließt sich uns in Berg, Thal und Obdach ein Stück Salzkammergut und in geringer Entfernung davon erhebt sich süd¬ ländisches Wachstum aus dem Grunde, und stellen die Überlieferungen, die Gewänder, der Hausbrauch des Orients seine Staffage bei.

Dieses seltsame Stück Erde ist durch die Eisen¬ bahn unseren Hauptstädten so nahe gerückt, wie viele unserer Alpenländer. Schon ist es in die Zone der Feiertagsausflüge einbezogen , ja bereits durch Sänger¬ fahrten und Ähnliches mit dem zuverlässigen Stempel eines erfreulichen Wanderzieles bezeichnet worden.

Es erfordert den Raum eines umfangreichen Buches, wenn man eine erschöpfende Übersicht über dasjenige bringen will, was Bosnien und Herzegowina dem Reisen¬ den der Gegenwart bereits bieten und noch mehr dem der Zukunft bieten werden.

Eine Reise durch Bosnien-Herzegowina ist eine Fahrt, die zum Teil auf einer gewöhnlichen Eisenbahn,

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VON DER SAVE ZUR ADRIA.

Bogumilen-Friedhof bei Stolae. und Relief von einem dortigen Grabsteine.

zu einem kleinen Teil auf einer Zahnradbahn, dann auf einem Dampfschiffe, nach Wahl streckenweise auch in einem ele¬ ganten, mit Rossen bespannten Fuhr¬ werk zurückgelegt werden kann. Alle Beförderungsmittel mit Ausnahme des Luftballons kom¬ men vor. Noch man¬ nigfaltiger als all dies sind die Um¬ gebungen , durch welche, man geführt wird. Bald saust man über eine un¬ absehbare Fläche, bald geht es neben einem Bergstrom in finstere W älder hin¬ ein, bald zieht die Eisenbahn an einer

belebten Stadt vorüber, bald bringt sie uns hoch hin¬ auf auf einen Alpenpass, auf welchen Schneefelder von Bergen herabschauen, deren Namen dem Wanderer noch niemals in die Ohren geklungen haben. Dann gelangen wir gar auf das Meer und dampfen an Inseln vorüber, auf denen Johannisbrod und Ölbäume den Strand be¬ decken und wo aus manchem Garten die gefiederten Äste der Dattelpalme emporragen.

Einmal sind wir mehr als tausend Meter über dem Meere, dann fahren wir durch tief eingerissene Schluchten, durch welche namenlose Wasserfälle donnern.

Landschaftlich sind hier in der Tliat die größten Gegensätze vorhanden: auf einer sol¬ chen Reise erblickt man die breite Ebene Sla- voniens, dann die Neckarthal- Landschaft bis über Maglaj hinauf, die den Engen des Eisak- thales ähnlichen Pässe von Vranduk, dann weiter hinauf die Wälder, in welchen Adler,

Bär, Wolf und Fuchs sich nicht etwa numme- rirt herumbewegen, wie in unseren sogenann¬ ten Jagdgebieten, und wo manches Hirsch¬ geweih, auf welches man im Sande der hellen Wildbäche stößt, daran gemahnt, dass dieser Herr des Waldes liier noch vor wenigen Jahr¬ zehnten in seinen Behausungen anzutreffen war, sodann das Waldgebiet der heilkräf¬ tigen Quellen von Kiseljak, welches in naher Zukunft zu einem östlichen Wildbad oder Ga¬ stein werden wird. Weiterhin das echte Karst- „Polje“ von Sarajevo mit mächtigem Bergrand,

die an Minareten reiche Stadt mit ihrem morgenländischen Bazar, ihrer klingelnden Pferdebahn, ihren Haremsgittern und Wiener Bierhäu¬ sern, mit den rufen¬ den Mueddins, und den Gymnasialpro¬ fessoren inüniform, dann weiterhin auf grünem Plane das schöne Bad llidze, die Berg¬ wälder von Hadzici, der Almboden, auf dem sich die Was¬ ser der Bosna und der Narenta, die Zuflüsse der Donau und der Adria, schei¬ den, der erste Aus¬ blick auf das weiß glänzende Hochge¬ birge der Herzego¬ wina, die Alpenlüfte des Ivansattels, von wo man aus dem trefflichen Restaurationsgebäude in jene schier noch unbekannte Gebirgswelt. der dinarischen Alpen hinüberschaut, die Jahrhunderte lang hindurch den Thaten der „Helden:‘ und Räuber ein Schauplatz waren, die Wasserfälle und Klammen der Tesica, dann wieder der Aufstieg des Schienenweges von Kon- jica zum Joch über Jablanica, die Via Mala, in welcher die Narenta sich gegen Mostar vordrängt, dann die Stadt Mostar, weiterhin eines der großartigsten Karst-Schaustücke, die Quellen der Buna, und endlich

Vranduk von Norden.

VON DER SAVE ZUR ADRIA.

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Vranduk. Detail der Ruine.

das südliche Meer mit Spalato und Salona, mit den Fjorden von Sebenico und den Kerka-Stürzen und end¬ lich der Quarnero Golf mit dem Lorbeerufer von Abbazia und die waldgrüne Steiermark mit den heimischen Alpen. Das ist das Diorama, welches sich für denjenigen auf- thut, welcher diese abwechslungsreichste aller Fahrten unternimmt.

Wenn auch am flüchtigsten, so doch am raschesten durchreist man das Land auf dem Schienenwege, der von Brod an der Save über Sarajevo und Mostar nach Metkovich an der Narenta führt. Man bekommt auf dieser Strecke wohl die belebtesten, aber nicht gerade durchweg die landschaftlich am meisten auffallenden Gegenden des Landes zu sehen. Doch wird der Anblick der Na- rentaklammen , welche die Bahn durch¬ bricht, wohl von keinem anderen Schau¬ stück des Landes überboten, wie denn überhaupt dieser Bahnbau allenthalben als ein Weltwunder bekannt wäre, wenn er sich in einem durch die Publizität erschlossenen Gebiete befände. Dass der Rückweg auf dem Meere, längs den Küsten Dalmatiens, durch die „Schweiz im Wasser“ gemacht werden kann, giebt diesem Ausflug einen eigenartigen Cha¬ rakter, welchen wir bei keinem anderen wiederfinden, der in dem nämlichen Zeit¬ raum, welcher, wenn es so beliebt wird, eine Woche nicht viel überschreitet, durch¬ geführt werden kann. Vom Fels zum

Meer folgt da in einer Reihe, dicht aneinander gedrängt, Bild an Bild, eine Reiseerinnerung ohne Gleichen.

Die hier bezeichnete Linie Brod-Sarajevo und die andere, weiter westlich gelegene, von Doberlin-Banjaluka bezeichnen die beiden Einbruchsstellen der Eisenbahn in dieses Reisegebiet.

Wer auf seine Zeit weniger ängstlich zu schauen hat, kann wohl die beiden Strecken miteinander ver¬ binden, auch noch von Spalato aus die Rückfahrt über das Meer anschließen. Dazu sind ihm die jetzt überall eingerichteten trefflichen Postfahrgelegenheiten behilflich. Auf diese Weise kann man sich sowohl den Anblick von Sarajevo-Mostar, als auch den der wunderbaren Seeland¬ schaft von Jajce und des Plivathales überhaupt verschaffen.

Wir können Bosnien, von einer oder der anderen nebenan liegenden Einzelheit abgesehen, etwa nach zwei Ausflugsgebieten abteilen, dem des Bosna- und dem des Verbasthaies. In letzterem bieten allerdings die Nadel¬ holzwälder beispielsweise der Karaula Gora zwischen Dolni Vakuf und Jajce, dann die des oberen Plivathales, vor allem aber die nächste Umgebung Jajce’s großartige Landschaftsbilder. Die Wasserfälle der Pliva von Jajce werden an Mächtigkeit der Wirkung von keinem ein¬ zigen Wassersturz unserer Hochalpen erreicht. Nächst dem Gefühle des Staunens, welches dieser mächtige, in der Tiefe zerschmetterte und in Rauchwolken wieder emporsträubende Fluss hervorruft, wird wohl auch jeder Wanderer das der Verwunderung darüber empfinden, dass man bis in die jüngsten Jahre herein von einer solchen Scenerie in der Welt wenig oder nichts wusste. Der Besuch von Jajce ist aber keineswegs die einzige Abweichung von dem Programm einer Bereisung des Bosna-Narentathales, welche wohl noch auf geraume Zeit hinaus dem größten Teile des Publikums genügen dürfte. Wir hätten da die Umgegend von Gorazda und Rogatica, nicht minder die Engpässe des Drinathales, dann die

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Muljuckasclilnckt bei Sarajevo.

gewaltigen Schaustücke der Romanjastraße, wir hätten Prozor, die Radusa-Planina, Gornje Vakuf, das Rarna- thal und so manches andere. Die Erörterung all dieser merkwürdigen Dinge bleibe späteren Arbeiten Vorbe¬ halten.

Versetzen wir uns nunmehr auf die Bahn, welche von Brod an der Save ins Innere des Landes führt.

Der erste Teil der Reise, der im Thale der Ukrina, bietet eine einförmige Landschaft, in welcher Mais¬ pflanzungen, Zwetschgen- und andere Obstbäume die Ebene bedecken. In der Ferne erscheint auf hohem Hügel das Franziskanerkloster Pleanj, an welches sich manche Überlieferung aus der Zeit der Besetzung des Landes knüpft.

Gleichfalls von einem Hügel herab winkt Dervent. Der Schienenweg verlässt das Thal der Ukrina und wendet sich gegen Südosten dem der Bosna zu. Wer jedoch Lust hätte, schon hier das Grab eines Hodscha zu besuchen mit seinen hängenden Lampen und seinen Tep¬ pichen, von einem weißen Minaret über¬ ragt, der könnte bereits da einen in mehrfacher Beziehung lehrreichen Spa¬ ziergang unternehmen.

Jenseits Vrhovi hatten die Erbauer der Bahn einen harten Kampf mit dem unzuverlässigen Boden zu bestehen. Bis zu acht Metern Tiefe mussten Weiden¬ schachte angelegt werden, um Rutsch¬ ungen hintanzuhalten. Auch Han Marica erhebt sich auf einem Hügel, dann aber tauchen bald jenseits der Bosna, die in weiten Kiesauen fließt, die waldigen Höhen ihres Ostufers auf. Wer dort in den Flussauen herumgeht, findet das eine und andere kleine Naturbild, das ihm fremdartig vorkommt. Wasserlilien, 'wie

er sie noch niemals gesehen hat, schwimmen dort auf den stillen Sackgassen, mit wel¬ chen der Fluss hier und dort in das Baum¬ dickicht hineingreift, und Schildkröten sonnen sich auf Stümpfen.

Vor Doboj wird das Thal enger, über der Straße zur Rechten erheben sich Berge, und dort oben dehnen sich die Hochflächen hin, auf welchen Graf Szapäry jene viel¬ genannten, heißen Kämpfe bestand.

Im Thale stehen die Häuser in Obst¬ gärten verstreut, die Bahn aber überschreitet die klare Bosna und zieht sich durch ein fruchtbares Gelände hin, welche, insbesondere bei Priedol und Potocani, dem Wanderer auf das lebhafteste vor die Augen rückt, welcher Reichtum an Wein und Obst hier einmal ge¬ wonnen werden wird, wenn die Segnungen der Gesittung und des Friedens nach und nach ihre Wirkung geltend machen. Immerhin sind aber in die Landschaft gleichwohl Züge eingezeichnet, welche eben diesem Gebiete immer und immer wieder eine eigentüm¬ liche Physiognomie geben. Da erhebt sich die Steil¬ wand von Trbuk, ihrer geflügelten Insassen wegen der „Adlerfelsen“ genannt.

Das Bosnathal besteht aus verschiedenen Weitungen, Kesseln, die durch Engpässe miteinander verbunden sind. Einen schönen Überblick über Berg und Thal gewinnt man von der Veste Maglaj aus, einem der schönst ge¬ legenen Orte der ganzen Strecke. Eine anmutige und quellenreiche Landschaft durchschneidet die Bahn auch dort, wo die Krivaja von den Gebirgen des Südostens her ihre Wasser mit denen der Bosna vermengt. So geht es weiter, an den Wäldern von Globarica vorüber, wobei man zeitweilig Einblick in das weite, gegen

Lugavin-Poka-Mosckee in Sarajevo.

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Kömerbriicke in Mostar.

Serbien bin sich ausdelinende Hügelland gewinnt. Nähert man sich Zepce, so nimmt dieses Hügelland mehr und mehr den Charakter der echten Planina an, und man denkt bei ihrem Anblick an die Abenteuer der Hajduken, die Jahrhunderte lang dort oben immer wieder der Türkenherrschaft trotzten.

Die Felsenge von Vranduk kann sich mit den wildesten Schlünden der Alpen messen, die von Straßen durchzogen werden. Es ist die Via Mala dieses Schienen¬ weges. Tunnels durchbrechen hier die dem Flusse ent¬ gegenstarrenden Felsenmauern, an welchen sich rauschend die Bosna vorüberzwängt.

Bei Zenica, dem „Augapfel“ Bosniens, wo die Franziskaner den heranrückenden Österreichern mit Fahnen entgegenzogen, zweigt die alte Straße nach Sarajevo vom Schienenwege ab. Während jene über Compania-Han, Busovac und Blazuj das Becken von Sara¬ jevo erreicht, hält sich dieser an der Bosna, deren Ufer auch auf dieser letzten Strecke den landschaftlichen Charakter des bisher geschilderten Laufes beibehalten.

Einen hübschen Anblick gewährt der Park von Ilidze vor Sarajevo, das sich immer mehr und mehr zu einem eleganten Badeort mit allen euro¬ päischen Bequemlichkeiten herausent¬ wickelt. Man hat es das „bosnische Baden“ genannt. Die Wirkung des Parkes wird für den Ankömmling sicher¬ lich noch gesteigert, wenn derselbe daran erinnert wird, dass noch kein Jahr darüber hingegangen ist, seit an dieser Stelle schilfige Alt¬ wasser und trübe Tümpel den unfruchtbaren Grund bedeckten.

Im Hintergründe breitet sich Sarajevo aus, über¬ ragt von herrlichen Moscheen und ihren Minarets, ver¬ schönt durch prächtige Neubauten, die dem letzten Jahrzehnt ihr Dasein verdanken. Hier steht der Orient mit jenen Gegensätzen vor uns, wie sie eben von der Besitzergreifung des Landes durch das österreichische Heer geschaffen worden sind. Da gehen die Muselmänner in ihren Turbanen herum, und das Lattenwerk, welches dort das Mauerwerk unterbricht, das sind Haremsgitter. Hier klingelt die Trambahn, dort ruft der Mueddin von seinem Minaret herab. Hier geht der deutsche Schul¬ lehrer, dort begleitet ein Straßensänger die heiseren Töne seiner Gusla mit den Strophen, welche die Helden- thaten des Königssohnes Marco oder irgend eines anderen serbischen Heerführers feiern.

Mit Staunen wird der Gast die Ali Pascha-, Chusref-

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rechtgläu¬ bige Kirche, die Kursumli-Medresse und andere merk¬ würdige Bauten dieser wundersamen Stadt betrachten, wird die Bosna und Moscanica-Quelle besuchen oder die gewaltige Landschaft von Pasin Bedo aus überblicken. Die Erinnerung an Sarajevo wird ihm unauslöschlich bleiben.

Von Sarajevo ab überschreitet die Bahn die größte Ebene (Polje) des Landes, gerät aber von Tarcin ab in gewaltiges Hochgebirge. Beim Ivan-Sattel, wo die Wasserflüsse der Bosna und der Narenta sich scheiden, einem richtigen und wahrhaftigen Alpenjoch, durchbricht die Bahn den trennenden Rücken. In diesen Bergwäldern modern ungeheure Stämme umgestürzt, Säulentrümmer ragen auf, außer den Schafen im raschelnden Laub des Waldbodens sieht man Falken in den Lüften. Jenseits des hohen Passes haben sich auf einmal die zackigen Häupter der Lipeta-Planina und ihrer Nachbarn auf- gethan ein großes Alpenbild, ergreifender durch den Gegensatz enger Waldpässe, durch welche wir bis hier¬ her gestiegen. Da ragt und klüftet sich und blaut aus der Tiefe das Land Herzegowina.

Wie stürzen da die Bäche in Wasserfällen zur Tiefe, wie wird gleich der Rasen grüner, wie rauscht’s und donnert’s in tiefen Schluchten, wie südlich gleißt es und hellt wie chinesisches Blaufeuer die kahlen Grate auf! Oft schaut man in tiefe Strudel hinab, in welchen die Trifthölzer herumkreisen, und in das weiße Schaum¬ gewölk, das vom großen Sturze der eingezwängten Tesaj- nica aufsteigt. Das ist der bedeutungsvolle Eingang in das Hochgebirgsland Herzegowina.

Das Thal wird weiter. In breitem Felsschlund kommt die trübe Narenta herausgeströmt. Die Wasser der eben erst von den Felsen herabgestürzten Tesajnica vermengen sich mit derselben. Große Gebäude stehen

am Ufer eine mächtige Steinbrücke ist über die Wellen der Narenta hingespannt wir sind in Konjica, 56 km von Sarajevo, angelangt.

Von liier aus pflegt man einen der vielen schönen Hochseen zu besuchen, welche in dieses Bergland eingebettet sind. Es ist der Borke-See, ein „Meerauge“ im bleichen Karst, überragt von den Spitzen Kvanj und Crvanj. Wären an den Pliva-Seen bei Jajce, die übrigens auch bedeutend größer sind, die stürzenden hellen Wasser nicht, so ließe sich dieses stille Becken wohl mit jenen berühmteren Seen vergleichen. Größer noch ist seine Ähnlichkeit mit dem Maglie-See in der Herzegowina.

Die ganze Umgegend von Konjica ist reich an großartigen Landschafts¬ bildern. Als wundersamer Gang em¬ pfiehlt sich eine Wanderung zum Vrabac- Sattel, über den sich einmal der alte türkische Saumweg zwischen Sarajevo und Mostar hin¬ überzog.

Jenseits Konjica hebt sich die Bahn allmählich zum Sattel von Jablanica. Von dort sieht man die Nebel in der Tiefe branden, hoch aber und wild, herzerhebend, ragt manches noch namenlose Felsenhaupt auf, die Heimat

Aus Pocitel. Blick auf die Narenta gegen Metkovich.

Begova-, Lugavin- Poka und Kaiser- Moschee, das Scheri- at-Gericht, die alte griechisch-

Briieke über die Buna bei Blagay. Narentaufer bei Mostar.

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Buna- Ursprung bei Blagay.

der Adler. Dort schwimmen auch auf Wolken die Hochgipfel, in deren Höhlen Dreznica und Jasonica, die mächtigen Quellen, als helle Karstströme geboren werden.

Hier hat die Bahnverwaltung eine ihrer trefflichsten Gaststätten aufgestellt. Von ihr aus bietet sich Gelegen¬ heit zu merkwürdigen Ausflügen und Fußpartieen, so¬ wohl in der nächsten Umgebung als auch andere in größeren Entfernungen. So z. B. sind Ausflüge auf die Cvrstnica- Spitze (2227 m) mit Bahn nach Dreznica und von hier aus zu Fuß oder auch zu Pferd auf die Spitze, ins Ramathal mit seinen malerischen Wasser- ausbrüchen, ferner zum schönen Blidinjer-See unter der Cvrstnica und ins Doljankathal, das gleich hinter Jabla- nica ins Narentathal ein¬ mündet, außerordentlich lohnend. Jagdfreunde fin¬ den hier überall reiche Aus¬ beute, namentlich einen vor¬ trefflichen Gemsstand, dann im Prenj-, Moharnica- und Dreznica-Gebiet zahlreiche Lämmergeier, Bären u.s.w.

Für alle diese Ausflüge bietet Jablanica wegen der ausgezeichneten Unter¬ kunft, die man hier findet,

den besten Ausgangspunkt. Von Jablanica an hatten die Türken auf dem rechten Ufer des Stromes einen jener Saumwege längs der steilen Kalkwände hin angelegt, welche unseren Malern und Zeichnern die Vorlagen für so viele herzegowinische Skizzen waren.

Man sieht auf schwindeligem Pfad zur Linken den Abgrund, zur Rechten Karsplatten, an denen sich keine Hand halten kann, einen bewaffneten Mann, der ein zögerndes Maultier führt in der Tiefe einen Raub¬ vogel, hoch oben vielleicht das in die Luft hinaus¬ hängende Wurzelwerk eines in die Felsenritze sich ein¬ klammernden Baumes.

Tremendae fauces, in ganz Europa gieht es

keine Klamm, die sich mit der zwischen Jablanica und

Senica vergleichen lässt. Das ist ein stundenlanger Korridor, den sich die Na- renta tief in den Karst hineingerissen hat. Nur der Fluss ist Thalsohle, alles übrige sind Wände. Die Kühnheit des Menschen hat aber dem Felsen noch Raum für die Straße, die an ihnen auf- und absteigt, weggenommen.

AVie durch Nebel-

St.olac.

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sclileier hindurch erscheint mir die Erinnerung an jenen Engpass, seine alte Saumstraße und das Wasser, welches ihn durchtost. Wer hätte damals gedacht, dass wenige Jahre darauf das Dampfross von Jablanica bis Mostar und bis zur See hinab sausen würde?

Was Österreich hier geleistet hat, übertrifft die Verdienste derjenigen, welche die Einöden der Hochalpen für Ross und Rad geebnet haben.

Besonderes merkwürdig ist der zweite Teil der Klammen, der zwischen Senica und Mostar. Da ver¬ nimmt der Wanderer auf einmal Donner, lauter als das Dröhnen des Stromes. Zugleich bemerkt er unter sich eine Wolke von Wasserstaub hoch aufsteigen und sich ausbreiten. Das ist etwas, was man einen horizontalen Wasserfall nennen kann. Getreu der Eigenschaft des Karstes, die Wasser unterirdisch zu sammeln, lassen auch diese Gebirge ihre Quellen nicht eher frei, als bis sie sieb in unbekannten Höhlungen zum Flusse gesammelt, als welcher sie sodann, kaum eine Klafter vom Strome entfernt, in den sie münden, mit tosender Gewalt aus¬ brechen. Sie schießen so freiheitsbegierig aus der Klüf¬ tung, dass sie am Felsblock im Strom, der sich ihnen ent¬ gegenstellt, sich hoch aufbäumen und alsbald einen Teil ihrer eigenen Flut im aufsteigenden Regen verwandeln. So etwas erfüllt den Wanderer mit Erstaunen, und wunderlich angeregt setzt er den öden Weg fort.

An anderen Stellen klaffen in den steilen Wänden des Strombettes langgedehnte Höhlen. Das Auge vermag nicht abzumessen, wie ein menschlicher Fuß, sei es von oben, sei es von unten, den Boden dieser Höhlen zu er¬ reichen im stände ist.

Und doch tritt blauer Rauch aus ihnen hervor. Es ist keine Täuschung das Fernrohr belehrt den vor Verwunderung Festgewurzelten, dass Menschen am Rand stehen und in den Strom hinabschauen Kinder und Ziegen (eine Hand breit trennt sie vom Wasserabgrund) laufen herum und im Hintergründe brennen Feuer. Solches Troglodyten wesen möchte (freilich ohne Abgründe) sonst nur noch in den Wüsten von Alt-Castilien zu sehen sein.

Am Ende dieser Engpässe gelangt man in das Polje von Mostar. Die Ebene ist mit Steinen besäet, hier und dort von Ginster und Stachelgewächs bedeckt. Schaf¬ hirten, in Felle gekleidet, durchwandern sie.

Die Stadt Mostar hat ein südlicheres Gepräge als Sarajevo. Schon macht sich der Einfluss des nahen Dalmatien geltend.

Das merkwürdigste aller Bauwerke von Mostar ist

eine einbogige Brücke über die Narenta, welche man seiner Zeit Römern zuschrieb, deren Entstehung aber nicht hinter das Mittelalter zurück zu versetzen ist.

Auf dem Gefilde von Mostar bricht sich, von Stepan- grad überragt, jener Burg, die bis auf die neueste Zeit herab von einem düsteren Sagengewebe umsponnen er¬ scheint, die Buna als Quellfluss freie Bahn in einer sehr merkwürdigen Schlucht. Die Höhle ist eine mit Stalak¬ titen reich geschmückte, von geisterhaftem bläulichen Lichte beleuchtete Grotte in der überhängenden , nach vorn geneigten und von Öffnungen, in welchen die ver¬ schiedensten V ogelgattungen nisten, gleich einem Schwamme durchlöcherten mächtigen Felswand.

Man sagt, dieser grüne Karststrom sei der Nieder¬ schlag der Wasser, welche auf die Hochflächen fallen, auf denen die Ansiedelungen Nevesinje und Stolac liegen - und die seltsamsten Erzählungen von Gegenständen, welche dort oben mit Wassern, die sich versenken, in die Trichter hinein verschwunden und hier in diesem Mühl¬ wasser wieder zum Vorschein gekommen sein sollen, gehen von Mund zu Mund. An Pocitelj, das hoch über steilen Wänden einer Narenta-Klamm aufgebaut ist, dann an Capljina and Gabela vorüber wird Metkovich erreicht. Hier sind wir in der Nähe der Mündung jenes Flusses, dem die Eisenbahn auf eine so lange Strecke hin gefolgt ist.

Die Narentamiindung ist eine der seltsamsten Land¬ schaften Europa’s. Zuerst erscheint das Thal, in dem die gewundene Narenta fließt, noch breit. Es ist überall von hohen, weiß- und schiefergrauen, gänzlich nackten Karstbergen eingefasst. Man glaubt nicht, sich dem Meere zu nähern, sondern mitten in diese Felsenwildnis hineinzufahren.

Das Thal ist eben wie ein Billard. Darum er¬ scheinen die Schiffe, die auf näheren oder entfernteren Krümmungen des Stromes fahren, über Binsen, aus denen Tausende von Enten emporflattern, mit ihren aufge¬ blähten Segeln, als ob sie sich in unbegreiflicher Weise auf einer Wiese fortbewegten. Daneben , scheinbar mitten zwischen den Segeln, sieht man alsdann wieder Pferde weiden, oder auf dem roten Pfade Menschen gehen.

Bald kommt die letzte Ausbuchtung der Narenta im Kalkgebirge. Es ist ein rundlicher Binnensee, rings¬ herum von einer bimssteinfarbigen Felsenwand umgeben. Porto Tolero.

Der Blick findet keine Schranke mehr: da ist sie salzhauchig, silberig gekrönt, wogenschaumig, die Tochter der Hemera und des Äthers, Thalatta.

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DIE BEFESTIGUNGSTÜRME VON POMPEJI.

VON R. R EINICKE, EIANNOVER.

MIT ABBILDUNGEN.

ON jeher sind die Reste des verschütteten Pompeji für die wissenschaftliche und die Laienwelt vom allergrößten Interesse gewesen; doch hat sich das Interesse wesentlich auf das, was sich innerhalb der Mauern befindet, erstreckt. Diese Einseitigkeit des Interesses erklärt sich zum Teil aus der argen Zerstörung der Ringmauer, der Türme und Thore, zum Teil auch daraus, dass man hei der großen Fülle des zu Schauenden leicht das weniger Auffallende und weniger leicht im Geist Wiederherzustellende nicht beachtet. Die von Jahr zu Jahr fortschreitenden Auf¬ räumungsarbeiten haben aber auch größere Strecken der Mauern und Türme freigelegt, sodass einiges Neue zu Tage gekommen ist, das vielleicht der Erwähnung wert scheinen möchte.

Wie die meisten Städte des Altertums, war auch Pompeji von einer widerstandsfähigen Mauer umgehen; doch wurden beträchtliche Teile derselben, und zwar an der Westseite und an dem westlichen Teil der Süd¬ seite, schon im Altertum entfernt, um Wohnhäusern, namentlich den sehr interessanten drei- und vierstöckigen Gebäuden Platz zu machen. Die Stadtmauer war ca. 6 m stark und bestand aus zwei Parallelmauern, die jede für sich nach innen mit Strebepfeilern versehen waren. Der Zwischenraum wurde mit Erde ausgefüllt. Die ältes¬ ten Teile der Stadtmauer bestehen aus solidem Quader¬ werk aus Travertin und Tuff, von denen einige Blöcke beträchtliche Dimensionen zeigen (z. B. 1,35 m; 170x0,65 x0,50; 1,90; 1,40x0,72x0,49). An vielen Stellen ist dieses solide Quaderwerk aber ersetzt oder ausgebessert durch ein lockeres Bruchsteinmauerwerk aus Lavasteinen von ziemlich kleinen Dimensionen, die aber durch einen gut bindenden Mörtel verbunden sind. Aus diesem letz¬ teren Mauerwerk bestehen nun auch durchweg die Türme, von denen zehn erhalten sind, alle mehr oder minder jetzt in Trümmern liegend. Ursprünglich werden wohl zwölf Türme vorhanden gewesen sein, wie sich aus einer Inschrift schließen lässt, die sich in zwei Exem¬ plaren vorgefunden hat. Die eine davon in oskischen

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 4.

Schriftzeichen findet sich am Hause des Pansa mit Farbe an die Wand gemalt. Diese Inschrift bezieht sich auf die Belagerung durch Sulla im Jahre 89 v. Chr. Die Türme müssen also schon vor dieser Zeit vorhanden gewesen sein, ebenso wie die erwähnten jüngeren Mauer¬ teile. Overbeck dagegen (Pompeji, 3. Auf., S. 46) sieht in den jüngeren Mauerteilen und Türmen Aus¬ besserungen nach dem Kriege gegen Sulla, eine An¬ nahme, der die obigen Inschriften widersprechen. Wahr¬ scheinlicher ist es, dass die Mauern und Türme in der verhältnismäßig langen Friedenszeit nach dem zweiten Punischen Kriege verfallen waren, und dass man sie dann, als die drohenden Wolken des Bürgerkrieges heraufzogen, ausbesserte; natürlich nahm man sich nicht die Zeit, solides Quaderwerk herzustellen, sondern nahm die Lavasteine, wie sie zur Hand waren, und schuf das locker aussehende Bruchsteingemäuer. Es steht nun frei, anzunehmen, dass zuerst gar keine Türme vor¬ handen waren, dass man diese ganz neu als eine Ver¬ stärkung der Mauer aufführte, oder dass die Türme so verfallen waren, dass sie eine Wiederherstellung von Grund auf nötig machten. An einigen Stellen sieht man, wie das Lavagemäuer mit Stuck bekleidet und in dem Stuck der Fugenschnitt des Quadermauerwerks nachgeahmt wurde. Ob dieses auch noch vor dem Kriege vollendet worden oder ob es eine spätere, lediglich ästhetische Zuthat ist, steht dahin. Die Wehrfähigkeit der Türme wurde dadurch nicht erhöht.

Entsprechen nun die Mauern im allgemeinen den Vorschriften, welche Vitruv (I, 5) darüber giebt, so kann man das von den Türmen durchaus nicht sagen. Hinsichtlich der Mauer kann man noch bemerken, dass sie zuerst niedriger war, als sie sich jetzt dar¬ stellt, dass sie später von 4 auf 8 m erhöht wurde. Die Lage der zehn vorhandenen Türme kann man aus dem Plan ersehen. Vitruv sagt, man solle die Türme nicht mehr als einen Pfeilschuss von einander entfernt anlegen, eine Vorschrift,, die in Pompeji nicht immer befolgt, ist, da die Entfernungen sehr ungleich sind. Im Norden haben wir einen Abstand von ca. 85 m, in

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DIE BEFESTIGUNG STUftME VON POMPEJI.

?end des Amphitheaters 100— 140 m, der Turm u der Porta di Nola und der Porta di Capua regen von jedem dieser Thore ca. 270 m Ab- Gruudrissform entspricht ebenfalls nicht Vorschriften, welcher aus einleuchtenden Grün¬ de oder polyponal angelegte Türme empfiehlt, hteckig, nicht quadrat. Die Axe des Rechtecks liegt senkrecht zur Mauer- Was nun den Aufbau der Türme anbelangt, ein Prinzip in ihnen freilich nicht ver- abcr dasselbe ist nicht streng durchgeführt, ästens angenommen wird. Mazois sowohl, der gs erst drei Türme kannte, als auch Overbeck >. Kap. 1) und neuerdings Mau (Führer durch

einzeln untersucht habe, wobei wir konstatirten, dass die Türme nicht alle gleichmäßig angelegt sind.

Der Einfachheit wegen habe ich die Türme mit fortlaufenden Nummern versehen, welche östlich der Porta di Ercolano beginnen und übrigens aus dem bei¬ gefügten Plan ersichtlich sind. Betrachten wir den Aufbau des ersten Turmes, so sieht man aus den bei¬ gefügten Grundrissen, dass man zunächst durch eine zu ebener Erde sich öffnende Pforte, a) die wohl richtig als Ausfallpforte gedeutet wird, in einen schräg auf¬ wärts steigenden Gang, b) der sich im rechten Winkel an der Hinterseite des Turmes bricht, und so in ein unteres Geschoss kommt, dessen Fußboden nach der Außenseite hin abfällt. Aus diesem mit einem Tonnen-

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Pompeji, S. 86) scheinen anzunehmen, dass die Anlage der Türme genau überall dieselbe sei. Dass dem nicht so ist, werden wir bei Betrachtung der einzelnen Türme sehen. Die Ungleichheiten lassen sich freilich nur schwer feststellen, da die Türme jetzt sehr zerfallen und die unteren Geschosse derselben fast vollständig mit Schutt ausgefüllt sind, und endlich die böse Fieberluft in diesen nie von einem Sonnenstrahl erhellten Räumen für den Forscher nicht sehr zuträglich ist. Gelegentlich meines Aufenthalts in Pompeji lernte ich dort einen englischen Archäologen kennen, von dem unlängst auch ein Buch über Pompeji1) erschienen ist, mit dem ich jeden Turm

1) Facts about Pompei by H. P. Fitz Gerald Marriott. London.

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gewülbe gedeckten Raum gelangt man über eine bei b sich befindende Treppe in einen zweiten gedeckten Raum, dessen Fußboden sich in der Höhe der Wall¬ krone befindet und wie diese horizontal liegt. Dieser Raum sowohl als auch der vorhergehende sind mit Schießscharten nach außen und nach der Seite ver¬ sehen, die nach Art der mittelalterlichen Werke nach außen nur einen schmalen Schlitz darstellen, während sie sich nach innen erweitern. Die beiden Wände dieses Raumes, welche sich nach dem Walle hinwenden, sind durch Thüren (cc) durchbrochen, um eine leichte und freie Kommunikation auf dem ganzen Walle zu ermöglichen. Der obere Abschluss der Thür erfolgt durch einen Bogen, der aus fünf Steinen besteht (siehe die

DIE BEFESTIGUNGSTÜRME VON POMPEJI.

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I. Geschoss.

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Außenseite.

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DIE BEFESTIGUNGSTÜRME VON POMPEJI.

Zeichnung), von denen zwei sehr lang sind, was kon¬ struktiv nicht vorteilhaft erscheint, da die Steine auf diese Weise auch auf Biegung beansprucht werden. An der Hinterseite dieses Geschosses führt eine Treppe b" nach einem ferneren Geschoss, das aber nicht weiter bedeckt, sondern wohl wie die Mauer nur mit einem Zinnenkranz versehen war. Wahrscheinlich ist aber, dass die Treppe, die zu diesem obersten Geschoss führt, vollständig bedeckt und durch ein Treppenhaus abge¬ schlossen war, denn sonst hätte man die Wangenmauer bei d nicht so hoch zu führen brauchen. Doch das steht dahin, da die Türme nirgends bis zu dieser Höhe erhalten sind. In dem mittleren bedeckten Geschoss führt an der Stelle, wo die Treppe rechtwinklich nach der Außenseite führt, bei e, eine jetzt vermauerte Öff¬ nung nach der Stadt. Wahrscheinlich lag hinter der Mauer in dieser Höhe ein Erdwall, durch eine niedrige Stützmauer gehalten, deren Spuren man teilweise wieder erkennen kann. Auf diese folgte dann eine Straße und demnächst die Häuser. Seit der Vernachlässigung der Mauern kam man dann dazu, die Häuser bis an die Stadtmauer heranzubauen, sodass man nur noch stellen¬ weise den Erdwall hinter der eigentlichen Mauer re- kognosziren kann. Unter diesem Turm, ungefähr 25 Fuß nach der Stadtseite zu, in derselben Ebene und am Ende des Vicolo di Modesto (via Quarta, Rep. VI) befindet sich der obere Abschluss eines Ganges, jetzt mit Stein¬ geröll ausgefüllt. Mr. Fitz Gerald Marriott hat ihn untersucht. Die Länge beträgt nach ihm 17,70 in, ein Mann kann aufrecht darin stehen. Aber der Gang steht nicht in Verbindung mit dem Turm, sondern stellt einen Wasserabführungskanal dar und läuft sich unter dem Turme tot. Kanäle von ähnlichen Größenverhältnissen findet man auch sonst in Pompeji. Die Mauer von diesem Turm bis zum zweiten ist teilweise sehr zerstört, zeigt aber sonst eine ziemliche Regelmäßigkeit, indem die untersten Schichten aus Sarnokalkstein, die daraufliegen¬ den aus tufa gebildet sind, vielfach mit dem opus in- certum, jenem lockern Lavabruchsteinmauerwerk, aus¬ geflickt. Der zweite und dritte Turm entsprechen in ihrer Anlage dem ersten. An einer Schießscharte im dritten Turm finden sich zwei kleine Inschriften in den Stuck gekratzt. Die eine AAMtrtjP, ist vielleicht der Name eines Soldaten, die andere, hospes salve, salve sis: quisquis ama (ainat) valle (valeat), ein Wort Ovids.

Der vierte Turm nun ist, wenn wir die vorher¬ genannten drei als regelmäßig bezeichnen wollen, un¬ regelmäßig, indem sämtliche Treppen, Gänge und Aus¬ fallspforten grade entgegengesetzt liegen, wie bei den ersten drei, was bis jetzt nicht beachtet zu sein scheint (siehe den Grundriss). Mau (a. a. 0. S. 86) führt an, dass die Ausfallspforte bei den Türmen so liege, wie Turm I es zeigt, damit der Ausfallende seine beschildete Seite dem Feinde zu wende: ein Gedanke, der auch die Rampenanlage bei den alten Königsburgen in Pergamon,

Tiryns, Mykenä beeinflusst hat. Für den Ausfallenden wäre es jedenfalls am zweckmäßigsten gewesen, wenn er von vornherein dem Feinde die Front zugewendet hätte, aber dann wäre die Ausfallspforte, wenn sie direkt sich nacli dem freien Felde öffnete, zu sehr aller¬ lei Wurfgeschossen und den Angriffen des Sturmbockes ausgesetzt gewesen. Außerdem hätte man in dem Falle einen Ausfall nicht so lange dem Auge des Belagerers entziehen können. Die seitliche Anordnung der Aus¬ fallspforte scheint durchaus gerechtfertigt, aber ein Prin¬ zip, dieselbe so anzubringen, dass der Verteidiger stets die beschildete Seite dem Feinde zuwende, können wir nicht anerkennen, da Turm IV und, wie wrir sehen werden, noch andere der vorhandenen es verleugnen. Mau sagt ferner, dass die Verteidiger, um dem Feinde stets die beschildete Linke zuzukehren, nicht durch die¬ selbe Ausfallspforte zurückzukehren pflegten, sondern durch die des nächsten Turmes. Dann wurde ihr Zweck aber durch die Anlage vereitelt, denn beim nächsten Turm lag ja die Ausfallspforte ebenso, wie beim ersten; die Verteidiger mussten also, wollten sie diese Pforte zum Einschlüpfen benutzen, umbiegen, und dem Feinde ihre ungeschützte Seite zuwenden, und zwar nicht nur für kurze Zeit, sondern für längere, da die Ausfalls¬ pforte nicht mehr als einen gleichzeitig aufnehmen konnte. Noch verhängnisvoller wurde diese Ungeschützt- lieit dadurch, dass die Rückkehrenden im Augenblick oder kurz vor dem Einschlüpfen weniger als sonst auf ihre Sicherheit vor Geschossen, die vom Feinde jeden¬ falls dorthin konzentrirt wurden, bedacht sein konnten. Will man Mau’s letzte Ansicht annehmen, dass die Ausfallenden nicht durch dasselbe Ausfallsthor zurück¬ zukehren pflegten, so wäre es jedenfalls zweckmäßiger gewesen, wenn bei dem einen Turm die Anordnung wie bei I, beim folgenden wie bei Turm IV gewesen wäre. Dann hätte man von einem Prinzip in der Anordnung sprechen können. Dieses ist aber ebenfalls nicht be¬ folgt, sodass wir wohl annehmen können, dass die Lage der Ausfallspforte entweder willkürlich, oder nach ört¬ lichen Gründen bestimmt oder aber, dass das Prinzip im Laufe der Zeit vernachlässigt und in Pompeji jeden¬ falls nicht mehr angewendet wurde. Der fünfte Turm ist wieder regelmäßig im Sinne des ersten, und weicht nur insofern ab, als er nur zwei Schießscharten statt der sonstigen drei besitzt, und dass seine Größenver¬ hältnisse geringer sind, als die der bisher betrachteten. Die Türme VI und VII sind ebenfalls regelmäßig. An der Rückseite von Turm VI bemerkt man sehr gut er¬ haltenen Stuck, in dem der Fugenschnitt eines regel¬ mäßigen Quaderwerks nachgeahmt ist. Die nun folgen¬ den Türme VIII und IX sind unregelmäßig im Sinne von Turm IV, doch lässt sich bei der großen Zerstörung- gerade dieser beiden Türme wenig Genaues feststellen. Dagegen zeigt der letzte erhaltene Turm die unregel¬ mäßige Anlage von Turm IV wieder ganz deutlich,

DIE WAPPENSAGE DER JUNKER VON PRAG.

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wenn auch der obere Teil sehr zerstört und die unteren Räume fast vollständig ausgefüllt sind. Von den übrigen Türmen XI und XII lässt sich nichts sagen, da sie wahrscheinlich dort gestanden haben werden, woselbst sich jetzt die Ruinen der mehrstöckigen Häuser erheben. Endlich werden auch die Thore als besonders wichtige Punkte noch mit Turmanlagen versehen gewesen sein, von denen sich jedoch nichts erhalten hat.

Noch ein Wort über die sogenannten Steinmetz¬ zeichen. In vielen der großen Mauerquadern, ferner in den Randsteinen der Fußsteige, ja im Straßenpflaster findet man eigentümliche Zeichen eingehauen, die oft an griechische, oskische oder pelasgische Buchstaben oder an noch andere, altitalische Alphabete erinnern. Über ihre Bedeutung und ihren Ursprung ist viel ge¬ stritten worden. Mazois giebt davon in Band I nur zehn, alle unrichtig oder ungenau, besser findet man sie in Richter’s „Antike Steinmetzzeichen“. Das voll¬ ständigste Verzeichnis findet sich aber wohl in dem schon erwähnten englischen Werke von Marriott. Wir sind in der That tagelang durch die stillen und ver¬ lassenen Straßen gewandert, der eine nur rechts, der andere nur links die Randsteine der Fußsteige nach solchen Zeichen absuchend, und haben auch eine hübsche Anzahl zusammengebracht. Es sind wohl Genossen¬ schaftszeichen, die sich vom Vater auf den Sohn fort¬ erbten, wie es z. B. bei gewissen Steinschneiderfamilien Sitte war, ähnlich den Werkmeisterzeichen der Bau¬ hütten im Mittelalter, und sie hatten vielleicht den Zwreck, die Kontrole der Arbeit zu erleichtern. Wie alt die Zeichen sind, lässt sich nicht feststellen; vielleicht

so alt wie das Menschengeschlecht, denn man findet sie in Spanien und Griechenland, in Persien und China, an den ältesten baulichen Erzeugnissen menschlicher Kultur.

Es ist noch gar vieles in der verschütteten Stadt, was der Aufklärung und genauen Erforschung bedarf, nicht nur unter den Teilen, die noch unter dem Schutte der Jahrhunderte begraben sind, sondern unter denen, die längst offen liegen und schon wieder den verderb¬ lichen Einflüssen der neuen Zeit unterworfen sind. Dazu gehört auch die Mauer mit den Türmen. Gerade hier wäre eine gründliche Aufräumung am Platze, der Ein¬ zelne kann es nicht.

Der Wanderer aber, der nach Pompeji kommt, möge nicht versäumen, wenn er die Straßen und Märkte, die Wohnhäuser und öffentlichen Gebäude durchwandert, sich an dem heiteren und großen Sinn der Alten er¬ freut, auch der Mauer und den Türmen einen Besuch abzustatten. Er wird sich doppelt belohnt finden. Ein¬ mal lernt er auch diese Werke der Alten kennen und dann gewinnt er herrliche Blicke in die blühende Land¬ schaft, auf das ewige Meer, in das Leben. Versinkt dann der Sonnenball rotglühend in Neapolis’ blauem Golf, sodass der alte Unruhstifter da oben, der all das Unheil hinter uns verursacht, wie in dunkeln Purpur getaucht erscheint, so versteht man die schönen Worte von Gregorovius:

„Aber der Herrscher Vesuv steht herrlich in purpurner

Pracht da,

Sinnend ein Held, der rings auf das Schlachtfeld schaut

und die Toten,

Nirumer von Reue bewölkt und gelehnt am blitzenden

Kampfspeer.“

DIE WAPPENSAGE DER JUNKER VON PRAG.

VON JOSEPH NEU WIRTII.

U allen Zeiten hat die Sage um die Gestalten bedeutender Künstler ihr wundersames Gewebe gesponnen. Die Bewunderung, welche der oft über¬ wältigende Eindruck großartiger Bau¬ schöpfungen des Mittelalters erregte, kleidete sich schon frühe in mannigfache Bau¬ meistersagen, welche teils der landläufigen Unfass¬ barkeit Ausdruck gaben, dass der Menschengeist allein aus Eigenem und ohne übernatürlichen Bei¬ stand guter oder böser Geister so Herrliches hervor¬ zubringen vermochte, teils bestimmten Meistern für bestimmte Fragen hohes Ansehen bei Lebzeiten sowie

noch lange nach ihrem Tode einräumten. Nur wenigen Bauwerken Deutschlands haben die Gene¬ rationen der verschiedenen Jahrhunderte ein so aus¬ gesprochenes Interesse entgegen gebracht, als dem berühmten Turme des herrlichen Straßburger Mün¬ sters, von dem schon Wimpheling behauptet; „Quis satis mirari, satis laudare potest Argentinensem tur- rim, quae caelatura, statuis, simulacris variarumque rerum effigie omniaEuropae aedificia facile excellit?“ Berühmte Männer zollten von Aneas Sylvius ange¬ fangen bis auf Goethe, Clemens Brentano und Schin¬ kel dem staunenswerten Werke und dem gewaltigen Geiste seines Meisters reichen Tribut begeisterter

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DIE WAPPENSAGE DER JUNKER VON PRAG.

Anerkennung.1) Als schönste Verkörperung der letz¬ teren erscheint die schon seit mehr als drei Jahr¬ hunderten bekannte Sage der Junker von Prag, denen die Vollendung des Straßburger Münsterturmes zu¬ gerechnet wurde; nicht minder führte man auf diese Künstler den Ursprung des Malerwappens zurück, i Gebrauch Kaiser Sigismund anlässlich eines wegen Gleichheit der Zeichen mit den elsässischen Herren von Rappoltstein entstandenen Streites den ob ihrer Kunst hochgeschätzten Junkern bestätigt haben sollte.2)

Nicht viele Fragen der deutschen Künstler¬ geschichte des Mittelalters waren so oft Gegenstand eingehender Sonderuntersuchungen als jene der Junker von Prag, ohne dass es eine derselben bisher ver¬ sucht hätte, alle Thatsachen, welche die Grundlagen der Junkersage bilden, kritisch zu überprüfen und Klarheit darüber zu erlangen, inwieweit dieselben zuverlässig sind. Gerade eine nähere Betrachtung der mit dem Namen der Junker von Prag verknüpf¬ ten Wappensage, 3) deren Entstehung sich in augen¬ fälliger Weise überzeugend darthun lässt, bietet einen neuen Beleg dafür, mit welcher Vorsicht Künstlersagen aufgenommen werden müssen, weil sie oft auf einer ganz wunderlichen Verwechselung der Personen und Thatsachen beruhen. Um über letztere betreffs der Junker von Prag die notwendige Gewissheit zu gewinnen, muss zunächst die älteste Überlieferung, welche die Genannten mit der Voll¬ endung des Straßburger Münsterturmes und mit dem Malerwappen in Verbindung bringt, ins Auge ge¬ fasst werden.

Wolfgang Lazius, der bekannte Arzt und Ge¬ schichtsschreiber, berichtet im Anschlüsse an seine

1) Carstanjcn, Ulrich von Ensingen. Ein Beitrag zur Geschichte der Gotik in Deutschland. München 1893. S. 113 u. ff. stellt die darauf Bezug nehmenden Stellen übersicht¬ lich zusammen.

2) Seeberg, Die beiden Juncker von Prag, Dombaumeister um 1400. Naumann’s Archiv für die zeichnenden Künste. 15. Jahrg. (Leipzig 1S69). S. 167 u. ff. Seeberg, Die Juncker von Prag, Dombaumeister um 1400, und der Straßburger Münsterbau (Leipzig 1871), S. 59 u. ff'. Walderdorjf , Die Jungkherrn von Prag. Verhandlungen des historischen Ver¬ eines von Oberpfalz und Regensburg. 28. Band. (Stadtam¬ hof 1872), S. 166 u. ff. Kraus, Kunst und Altertum in Elsass-Lothringen. I. Band. (Straßburg 1876.) S. 388—391 bietet eine vortreffliche Übersicht über die Frage mit Heran¬ ziehung aller Belege.

3) Carstanjcn, Ulrich von Ensingen, S. 103 u. ff., und Gur litt , Beiträge zur Entwickelungsgeschichte der Gotik. Zeitschrift für Bauwesen. 42. Jahrg. (Berlin 1892) Sp. 333 und 334 gehen auf eine Prüfung der Wappensage der Junker von Prag gar nicht ein.

Ausführungen über die Herzoge von Schiltach und Markgrafen vou Urselingen folgendes1): „Habebant in insignibus albis tres rubros minores elypeos; quae et Winspurgenses et Rapoltensteynenses gerunt, sed inversis coloribus; qualia passim videmus pictores arma sive insignia art.is usurpare, ab insignibus illis pictoribus artificio transmissa, quos ante patrum me- uioriam vocabant Die junkhern von Prag, qui extre- mam manum turri Argentoratensi indidere, et quibus ob ignominiam quandam a dominis a Rapoltensteyn irrogatam, gentilicia familiae Rapolsteynensium illa ipsa insignia Sigismundus Imperator confirmaverat“.

Fasst man den Inhalt dieser Sage, welche offen¬ bar auf eine damals in Straßburg landläufige Über¬ lieferung zurückgeht, näher ins Auge, so lässt sich derselbe in folgende Thatsachen gliedern: 1. Die Sage erscheint auf elsässischen Boden lokalisirt; 2. Die Junker von Prag haben an die Vollendung des Straßburger Münsterturmes die letzte Hand an¬ gelegt; 3. Das ihnen zukommende, mit dem all¬ gemein üblichen Zunftabzeichen der Maler überein¬ stimmende Wappen ist von den Junkern von Prag als berühmten Malern auf die Maler überhaupt über¬ gegangen; 4. Die gerade Elsässern auffällige Über¬ einstimmung des Junkerwappens mit jenem der an¬ gesehenen Herren von Rappoltstein, welche dem Ge¬ brauche desselben Abzeichens von seite einer bürger¬ lichen Zunft nicht ruhig zugesehen haben konnten, findet ihre Erklärung darin, dass die höchste Instanz in Wappenfragen, nämlich der Kaiser selbst, den genannten Künstlern die weitere Verwendung des beanstandeten Zeichens gestattete.

Die Lokalisirung der Junkersage auf den Elsässer Boden tritt darin zu Tage, dass die Thätigkeit der Junker von Prag auf das hervorragendste elsässische Bauwerk des Mittelalters, den Straßburger Münster¬ turm, bezogen erscheint und für die Übereinstimmung ihres Wappens mit jenem eines allbekannten Elsässer Adelsgeschlechtes eine besondere Deutung gesucht wird. Daher muss auch die Gewissheit, ob die Wappensage, welche bisher anstandslos in die Dar¬ stellungen der Junkerfrage herübergenommen und als eine der wichtigsten Angaben betrachtet wurde, auf den angegebenen oder wenigstens auf ähnlichen Thatsachen beruht, zunächst vom Eisass aus ge¬ sucht werden. Denn schon der mehrmals betonte

1) Wolfgang Lazius, De gentium aliquot migrationibus sedibus fixis, reliquiis ÜDguarumque initiis et immutationibus ac dialectis libri All. Frankfurt 1600. S. 408. Die erste Ausgabe des Werkes von 1557 war dem Verf. in Prag nicht zugänglich.

DIE WAPPENSAGE DER JUNKER VON PRAG.

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Umstand1), dass das Malerwappen, welches nach dem Berichte des Wolfgang Lazius von den Junkern von Prag auf die Maler übergegangen sein soll, zweifellos bereits vor dem Auftreten der Genannten als Abzeichen der Malerzunft gebraucht wurde, er¬ schüttert die Glaubwürdigkeit des angeführten Sach¬ verhaltes in sehr bedenklicher Weise.

Da den Junkern von Prag die Vollendung des Straßburger Münsterturmes und der Gebrauch eines mit dem Malerwappen sowie mit dem Wappen der Rappoltstein’s übereinstimmenden Wappens zuge¬ sprochen werden, ist in erster Linie zu beantworten, ob die Junker von Prag wirklich die letzte Hand an den Straßburger Münsterturm gelegt haben.

Soweit die gut durchforschten Quellen für die Baugeschichte des Münsters zu Straßburg feststellen lassen, können die Junker von Prag als Meister des Straßburger Miinsterbaues, wenn man die bauleiten¬ den Architekten von dem 1341 auftauchenden Meister Gerlach bis auf den 1439 den Münsterturm voll¬ endenden Johann Hültz von Köln verfolgt, in die genau feststellbare Liste der Münsterbaumeister nicht eingereiht werden.2) Wenn auch der Straßburger Speckle betreffs des Münsterturmes in seinen Auf¬ zeichnungen berichtet: „nachmals habens die zwei Junckherrn von Prag ferdig gemacht vnd Johanns Hild von Cöln“,3) so hat diese erst nach Lazius ge¬ machte Angabe keine unbedingt beweisende Kraft. Denn vor dem Meister Johann Hültz von Köln, der seit Ende Juni 1419 als technischer Leiter des Stra߬ burger Münsterbaues bestellt war und 1439 den Turm vollendete, war bis zum 10. Februar 1419 4) der Meister Ulrich von Ensingen, mit welchem die Straßburger gleich nach der am 31. Mai 1399 er¬ folgten Absetzung des schon 1394 genannten Münster¬ baumeisters Klaus von Lohre zu verhandeln began¬ nen, gerade heim Aufbaue des augenscheinlich nach seinem Plane ausgeführten Straßburger Turmokto- gones thätig. Die zwei vor Johann Hültz erweis¬ baren Münsterbaumeister waren demnach sicher keine Junker von Prag, womit der von Speckle den „zwei

1) Seeberg , Die Juncker von Prag, S. 60. Walderdorff, Die Jungkherrn von Prag a. a. 0. S. 182 und 183. War- necke, Das Künstlerwappen, Berlin 1887, S. 22 u. ff. Bei¬ spiele dazu auch hei Zimmermann, Auszüge aus dem Sancti Christophori am Arlperg Bruederschafft Buech. Jahrbuch der Kunstsammlungen des Allerh. Kaiserhauses (Wien 1885). III, 2. Teil, S. CLVI u. ff.

2) Kraus, Kunst und Altertum in Elsass-Lothringen. I, S. 378-397.

3) Ebenda s. S. 388.

4) Carstanjen, Ulrich von Ensingen, S. 116 und 117, sowie urkundl. Anhang S. 133, N. XIX.

Junckherrn von Prag“ zugewiesene Vollendungsanteil am Straßburger Turme vor Johann Hültz von Köln eigentlich von selbst abgewiesen erscheint. Die Be¬ zeichnung des Wolfgang Lazius, welcher „Die junk- hern von Prag“ als jene hervorhebt, „qui extremam manum turri Argentoratensi indidere“, kann vor dem zweifellos festgestellten Thatbestande nicht bestehen, sondern wird vollständig hinfällig. Als eigentlicher Turmvollender muss Johann Hültz von Köln be¬ trachtet werden. Sein Epitaph bezeichnet ihn aus¬ drücklich als „Werkmeister dis Buwes und Voll¬ bringer des hohen Thurns hier zu Strasburg“.1) Die bekannten, um 1666 gemachten Aufzeichnungen des Straßburger Münsterwerkmeisters H. Heckler, der dieses Epitaph genau kannte, berichtet über ihn2): „Aber Volbringer des hohen Thurns mag er wohl gewesen sein, dan sein Schild und Zeichen gleich anfangs unter den Ausladungs- oder Gesimbsstücken wo die 8 Schnecken darauf stehen und der Thurn wieder anfangt, stehet Johann Hiltzen Schild auf vier Seiten und oben auf bey den kleinen vier Schnecken gleich unterhalb dem jetzigen neu auf¬ gesetzten Helm ist sein Schild und Zeichen nahe und zweifelsohne ist solches auch in der alten Cronen und heim gestanden, welches aber weilen es seithero durch viel Donner Streich verderbt und wieder neu gemacht worden“ u. s. w. Legte man dem Wappen¬ schilde des Johann Hültz am Straßburger Turmokto¬ gone mit Recht beweisende Kraft für die Feststellung des Anteiles an der Turmvollendung bei, so muss man sie in gleicher Weise dem Schilde mit dem Zeichen Ulrichs von Ensingen zugestehen, welcher als der Vorläufer des Johann Hültz erscheint. Nur diese beiden Meister, besonders aber Johann Hültz von Köln, konnten als jene bezeichnet werden „qui extremam manum turri Argentoratensi indidere“, welche Bezeichnung mithin für die Junker von Prag gar nicht zutrifft.

Es fragt sich nun, ob den Junkern von Prag das ihnen von Lazius zugesprochene Wappen auch thatsächlich zukam.3) Die Beantwortung scheint angesichts des Umstandes, dass der durch Lazius überlieferte Sachverhalt nicht weiter erweisbar ist, sich ziemlich schwierig zu gestalten, wird aber immer¬ hin möglich, wenn man in Betracht zieht, welche Wappen jenen „qui extremam manum turri Argen-

1) Kraus, Kunst und Altertum in Elsass-Lothringen , I, S. 394 und S. 701.

2) Ebendas. S. 699.

3) Warnecke, Das Künstlerwappen. S. 11 bis 13 lässt sich auf eine Lösung gar nicht ein.

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DIE WAPPENSAGE DER JUNKER VON PRAG.

toratensi indidere“ wirklich gebühren. Konnte von einem derselben ans eine unrichtige Beziehung auf das Malerwappen, beziehungsweise eine Verwechs¬ lung mit letzterem erfolgen, so dass nicht nur den Personen eine ihnen nicht zukommende Bedeutung, sondern auch einer mit ihnen in Verbindung stehen¬ den Sache ein vollständig haltloser Thatbestand unter¬ schoben worden wäre?

Eine Klärung nach dieser Richtung ermöglicht der Umstand, dass die an dem Straßburger Turm¬ oktogone beschäftigten Meister Ulrich von Ensingen und Johann Hiiltz von Köln an den von ihnen auf¬ geführten Teilen gleichsam zur bequemeren Sicherung ihres künstlerischen Eigentumsrechtes ihre Wappen¬ schilde angebracht haben. Während das Abzeichen Ulrichs von Ensingen ‘) für das Wappen der Junker von Prag nicht in Betracht kommen kann, fällt in jenem des Johann Hültz sofort eine gewisse Über¬ einstimmung mit der Anordnung des angeblich von den Junkern von Prag stammenden allgemeinen Malerwappens auf Wie letzteres auf einem Schilde drei gleiche Schildlein derart angeordnet zeigt, dass zwei derselben nebeneinander gestellt über dem in die Mittellinie des Wappenschildes gerückten dritten erscheinen, so bietet auch das Wappen des Johann Hültz auf einem Schilde drei gleiche, in der Regel als H gedeutete Zeichen1 2), von denen zwei über dem dritten angeordnet sind. Im Hinblicke auf die Buchstabentypen, welche zurZeit der Herstellung der Schilde des Johann Hültz üblich waren, wird es sehr fraglich, ob die drei gleichen Zeichen wirklich als H betrachtet werden müssen 3) und dürfen. Den Ge¬ danken, dass vielleicht ein Steinmetzzeichen vorliege, weist nächst der Form des Zeichens die dreimalige Wiederholung ab, da auf den Meisterschilden deut¬ scher Steinmetzen, soweit sie bekannt geworden, in der Regel nur einmal das betreffende Zeichen be¬ gegnet. Die Feststellung, ob das erwähnte Zeichen ein JI oder ein Steinmetzzeichen oder vielleicht die augenblicklich nicht näher bestimmbare Stilisirung irgend eines Werkzeuges4) bedeute, ist für das den

1) Garstanjen, Ulrich von Ensingen. S. 12 u. ff. Kraus , Kunst und Altertum in Elsass-Lothringen. I. S. 386.

2) Ebendas. S. 393 und 701.

3) Ebendas. S. 396. Garstanjen, Ulrich von Ensingen. S. 92 und 94. Seeberg, Die beiden Juncker von Prag a. a. 0. S. 168.

4) Werkzeuge oder Gegenstände, welche verschiedene Handwerker anfertigten, begegnen auf verschiedenen Innungs¬ wappen; vgl. Kleinpaul, , Das Mittelalter, I, S. 185, 361 u. ff., 387, 389. Bei den Böttchern von Bayonne und La Rochelle findet sich auch die gleiche Anordnungsweise, wie auf dem Maler wappen und dem Schilde des Johann Hültz.

Junkern von Prag zugeschriebene Wappen von weit geringerer Wichtigkeit als die Thatsache, dass das Wappen des Johann Hültz wie das allgemeine Maler wappen (Abbildg. 1) auf der dreimaligen Wiederholung eines und desselben Zei¬ chens ') innerhalb einer Schildfläche be¬ ruht, dass die dreimal wiederholten Zei¬ chen in der Anordnung zweier über dem in die Mittellinie gerückten dritten voll¬ ständig übereinstimmen und das Zeichen des Johann Hültz (Abbildg. 2) in einer nicht mehr so genau über den eigent¬ lichen Sachverhalt unterrichteten Zeit als eine stilisirte Schildform betrachtet wer¬ den konnte. Denn in dem Augenblicke, in

Abb. 2. ...

welchem man die drei gleichen Zeichen

im Wappen des Johann Hültz als Schildlein anzusehen begann, war durch die Übereinstimmung der Anord¬ nung von selbst eine Beziehung auf das allgemeine Malerwappen gegeben.

Die Beantwortung der Frage, ob eine solche Ver¬ wechslung der Wappen während des Zeitraumes, in welchem Wolfgang Lazius sein Material sammelte und verarbeitete, gerade auf Straßburger Boden möglich war, muss zunächst von Straßburger Belegen selbst versucht werden. Über die mannigfachen, in Stra߬ burg während des 16. Jahrhunderts zur Verwendung gelangenden und von Sachverständigen als Muster gewissermaßen empfohlenen Schildformen giebt wohl den besten Aufschluss das Kunstbüchlein , welches „Heynrich Vogtelierr, Moler vnd Burger zu Stra߬ burg“ herausgab.2) Eine Art Vorlagenwerk ent¬ hält dasselbe Schildformen, die nach dem Zeit¬ geschmäcke gebraucht sowie zum Gebrauche em¬ pfohlen wurden. Hält man nun das im Vogtherr¬ schen Kunstbüchlein mitgeteilte Malerwappen3)

1) Klemm, Neues über deutsche Baumeister und Bild¬ hauer aus älterer Zeit. Alemannia, XIX, S. 179, giebt meh¬ rere auch für Straßburg wichtige Beispiele für das Vorkom¬ men von drei Hämmern im Schilde der Steinmetzen und Maurer.

2) Ein Frembdes vnd wunderbarliches Kunstbüchlein allen Molern, Bildtschnitzern, Goldtschmiden, Steynmetzen, waffen- vnd Messerschmiden hochnützlich zu gebrauchen. Dergleichen vor nie keines gesehen oder in den Truck kom¬ men ist. Getruckt zu Straßburg am Kornmarckt bey Christian Müller. Im Jar M D LXXII. Auf dem Titelblatte ist bild¬ nistreu dargestellt ,, HENRICH VOGTHERR DER ELTER SEINS ALTERS . IMXXXXVII * und daneben rechts „HEN¬ RICH VOGTHERR DER IVNGER SEINS ALTERS •XXIIII. Neben jedem Kopfe ist die Jahreszahl 1.5. 3. /\. zu lesen; in der Einleitung nennt sich der Herausgeber in der oben mitgeteilten Art und Weise.

3) Ebendas. F. 1, N. 5.

DIE WAPPENSAGE DER JUNKER VON PRAG.

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neben den Schild des Johann Hültz, so findet man bei einem Vergleiche der oberen Hälfte der Schild¬ lein (Abbildg. 3) und des Hültz’schen Zeichens ge¬ wiss sofort, dass in einem Zeitalter, welches manche ehedem eckige Formen ab¬ zurunden und auszuschwei¬ fen liebte, die obere Hälfte der Schildlein des Maler¬ wappens als eine stilgemäße Umänderung einer älteren, im Hültz’schen Zeichen vor¬ liegenden Form betrachtet werden konnte. Fasst man noch andere Schildformen des Vogtherr 'sehen Kunstbüchleins ins Auge, so schlägt z. B. schon in F. 1 N. 11 oder F 2 N. 7 ein an das Zeichen des Johann Hültz gemahnender Typus durch, der in F F N. 6 und 8 sowie in F 2 N. 5 geradezu die Grundformen des Hültz- sehen Zeichens in der Stilisirung einer späteren Kunstanschauung wiederspiegelt. Man hat daher innerhalb der Zeit, welche für die Sammlung und Verarbeitung des von AVolfgang Lazius veröffent¬ lichten Materials in Betracht kommt, zu Straßburg das Zeichen des Johann Hültz sehr leicht für ein stilisirtes Schildlein halten und in ihm die Grund¬ form anderer eben landläufiger Schildbildungen er¬ blicken können. Mit dieser Möglichkeit war auch die weitere geschaffen, das Wappen des Johann Hültz als ein solches zu betrachten, welches drei Schildlein in der Anordnung von zweien über einem auf einem Wappenschilde vereinigt zeigte. Da ein diese An¬ ordnung und diese Zeichen bietendes Wappen mit dem allgemein bekannten Malerwappen vollkommen übereinstimmte, so setzte man letzeres nunmehr mit jenem Objekte in Verbindung, an welchem das Hültz’sclie Wappen sich mehrmals fand, und bezog es auf den Meister, welcher das betreffende, mit diesem Abzeichen wiederholt versehene Werk voll¬ endet hatte.

Für die Deutung der Wappensage der Junker von Prag ergiebt sich aus den erläuterten That- sachen folgender Sachverhalt. Zwischen den angeb¬ lich den Straßburger Münsterturm vollendenden Junkern von Prag und dem ihnen beigelegten Maler¬ wappen steht als erklärendes Bindeglied der Stra߬ burger Münsterbaumeister Johann Hültz von Köln, der wirklich 1439 den Straßburger Münsterturm vollendete und an dem durch ihn ausgeführten Teile mehrmals sein in der Anordnung dem allgemein Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. -t.

gebrauchten Malerabzeichen gleichendes Wappen angebracht hatte. Als man die Zeichen des letzteren nicht mehr allgemein verstand, sondern mit anderen, erst einem späteren Zeitgeschmäcke geläufig ge¬ wordenen Formen identifizirte und als Schildlein betrachtete, begann man das Wappen des Stra߬ burger Turmvollenders, das als solches nur wenigen bekannt war, mit dem weithin bekannten und ver¬ breiteten Malerwappen zu verwechseln. Das dem¬ selben gleichende Wappen des den Straßburger Münsterturm vollendenden Meisters kommt wie diese Turmvollendung nur Johann Hültz von Köln zu. Und wie man den Genannten in der Volksüber¬ lieferung, welche für die Aufzeichnung des Lazius maßgebend wurde, nicht weiter beachtete, sondern die Junker von Prag als jene ausgab, „qui extremam manum turri Argentoratensi iudidere“, so bezog man auf sie als die angeblichen Turmvollender auch das Wappen des eigentlichen Turmvollenders und fand in den Beziehungen des letzteren zum allgemein gebrauchten Malerwappen die Grundlagen für andere ebenso unrichtige Ansichten.

Es lag ja in der Natur der Sache anzunehmen, dass Meister, welche das Malerwappen führten, gleich anderen Kunstbeflissenen sich auf die Führung des von den Malern unterschiedslos gebrauchten Wappens auch durch ihre Kunstübung einen wohlberechtigten Anspruch erworben hatten. [) Sie mussten nach den Anschauungen des 15. und 16. Jahrhunderts, wenn sie auch als Vollender des Straßburger Münster¬ turmes galten, nicht nur Baumeister, sondern ganz besonders hervorragende Maler gewesen sein, da gerade das ihnen beigelegte Wappen bei allen Malern ausnahmslos in Verwendung blieb. So rückten die Junker von Prag, welchen man die Vollendung des Straßburger Münsterturraes, das an den abschließen¬ den Teilen mehrmals begegnende Wappen und durch eine Verwechslung mit letzterem den Gebrauch des noch allgemein gütigen Malerwappens ganz grundlos zuschrieb, endlich gleich unberechtigt zu Malern von besonderer Bedeutung für den ganzen Zunft¬ verband auf.

Wie kam es, dass man gerade die Junker von Prag als Vollender des Münsterturmes und zugleich mit Rücksicht auf ein angeblich von ihnen gebrauch¬ tes Wappen als berühmte Maler ansah? Diese Auf¬ fassung war nur möglich, wenn man die Genannten

1) Zeiller, Itinerarium Gertnaniae Novantiquae. Teut- sches Reyßbuch durch Hoch- und Nider-Teutschland. Stra߬ burg 1632. S. 214 rückt die Bedeutung als Maler in den Vordergrund.

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DIE WAPPENSAGE DER JUNKER VON PRAG.

welche sicher nicht Münsterbaumeister zu Straßburg gewesen sind, wenigstens nach der Ansicht jener Zeit, die für die Überlieferung der von Lazius auf¬ gezeichneten Sage wichtig ist, als an hervorragenden Arbeiten fürs Straßburger Münster thätig erweisen kann.

Das Zeitalter des Wolfgang Lazius betrachtete Künstler, die aus Prag und Böhmen stammten, als Schöpfer hochverehrter Werke des Straßburger Münsters. Das 1404 vom Parlier Konrad Franken¬ burger geschenkte traurige Marienbild „sollten die Junkherren von Prag gemacht haben“, wie Speckle berichtet. ') Die Chronik des mit letzterem gleich¬ zeitigen Malers Sebald Bülieler bezeichnet '1 2) als den Meister des 1410 von Vetterlians dem Münster ge¬ spendeten traurigen Christusbildes den Bildhauer Michel Böliem. Eine Epoche, welche die Herstel¬ lung zweier in größter Verehrung stehender Bild¬ werke den Junkern von Prag und dem aus Böhmen stammenden Meister Michel beilegte, konnte auch die Vollendung des gleich hochbewunderten Stra߬ burger Münsterturmes auf die Junker von Prag be¬ ziehen, welche im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in dem Fialenbüchlein des Hans Schmuttermayer von Nürnberg und in dem vom Regensburger Dombau¬ meister Matthäus Roritzer veröffentlichten „pueclilein der fialen gerechtikeit“ zu den großen berühmten Meistern und unter „Die alten der kunste wissende“ für gewisse bautheoretische Fragen gerechnet wur¬ den.3) Solcher als Baukünstler hochangesehenen Meister schien die Vollendung des Straßburger Turm¬ oktogons vollkommen würdig. Diese Annahme, welche Künstler aus einer mehr untergeordneten Stellung in eine leitende hob, fand einen bleibenden Ausdruck in der 1565 geprägten Medaille, die auf der einen Seite DIE DREI IVNCKHERN VON BRAG-, auf der andern das Straßburger Münster mit der Umschrift TVRRIS ARGENTORATENSIS zeigt4) und eine damals gewiss mindestens den Straßburgern wohlbekannte Beziehung der Genann¬ ten zum Münsterturme veranschaulicht. Da die Prägung der Medaille nur wenige Jahre nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe des Werkes von

1) Kraus, Kunst und Altertum in Elsass-Lothi-ingen. I. S. 387.

2) Ebendas. S. 392.

3) Neuwirth, Die Junker von Prag. Mitteilungen des Vereines für Geschickte der Deutschen in Böhmen, 33. Jahrg., S. 17 u. f. (Auch im Sonderabdrucke als drittes Heft der „Studien zur Geschichte der Gotik in Böhmen“. Prag 1894.)

4) Kraus, Kunst und Altertum in ElsaSs-Lothringen. I, S. 388 und Taf. III. Seeberg , Die Junker von Prag. Taf.

Wolfgang Lazius erfolgte und Speckle nicht viel später den zwei Junkern von Prag und Johann Hültz von Köln die Fertigstellung des Turmes zu¬ rechnete, so galten im dritten Viertel des 16. Jahr¬ hunderts die Junker von Prag zu Straßburg als in hervorragendster Weise an der Vollendung des Münsterturmes beteiligt, indem man ihre für ein minder bedeutendes Werk des Münsters überlieferte Thätigkeit beträchtlich erweiterte. 4) In der Auf¬ zeichnung der Lazius krystallisirte jedoch nur eine im Volksmunde zweifellos schon lange umgehende Anschauung, deren Entstehung mindestens in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückreicht. So¬ bald man das Wappen des Straßburger Turmvollen¬ ders mit dem Malerwappen zu identifiziren begann und die auch als bau verständige Steinmetzen hoch¬ berühmten Junker von Prag als Schöpfer eines ge¬ feierten Bildwerkes im Straßburger Münster noch kannte, war nur ein offenbar bald gethaner Schritt weiterer Gleichsetzung erforderlich, um die nach der Straßburger Überlieferung als Meister des traurigen Marienbildes genannten Künstler zu Vollendern des Münsterturmes, Besitzern des an den abschließenden Turmteilen wiederholt begegnenden, mit dem Maler¬ abzeichen in gewisser Hinsicht übereinstimmenden Wappens und durch letzteres zu berühmten Malern zu machen.

Wie in der Wappensage der Junker von Prag die Beziehung des Wappens des eigentlichen Turm¬ vollenders zu dem Malerwappen etwas Wahres und die Zuweisung der Turmvollendung und eines mit dem Malerwappen übereinstimmenden Abzeichens an die Junker rein Erdichtetes bietet, so erscheint auch in dem zeitlichen Hintergründe, in welchen das Auf¬ treten der Genannten verlegt ist, eine gewisse Be¬ rücksichtigung des wirklichen Thatbestandes gewahrt. Der Streit der Junker von Prag mit den Herren von Rappoltsteiu und seine Beilegung sind in die Re¬ gierung Kaiser Sigismunds verlegt, während welcher Ulrich von Ensingen und Johann Hültz von Köln wirklich gerade am Turmoktogone arbeiteten. Wäh¬ rend diese Meister „qui extremam mauum turri Argentoratensi indidere“ genau in den zeitlichen

1) Auffallend bleibt es, dass die Medaille von 15G5 gar kein Wappen zeigt; denn man würde in einer Zeit, welche den Junkern von Prag durch Vermittelung des Hültz’schen Wappens das Malerwappen beilegte, auf einer zu Ehren der Genannten geprägten Medaille zunächst auch jenes Wappen erwarten, das ihnen angeblich so ehrenvoll bestätigt worden war und, von ihnen ausgehend, für die Kunstübung eine besondere Bedeutung erlangt hatte.

DIB WAPPENSAGE DER JUNKER VON PRAG.

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Rahmen der Sage sich einstellen lassen, rücken die Junker von Prag, falls man sie mit Speckle wirklich für die Schöpfer des 1404 dem Straßburger Münster geschenkten „traurigen Marienbildes“ ansehen will, über denselben etwas hinaus. Das schließt freilich noch nicht aus, dass die Junker von Prag auch zur Zeit Sigismunds Arbeiten für das Straßburger Mün¬ ster geliefert haben könnten. Erfolgte die 1439 er¬ weisbare Turmvollendung zwar nicht mehr unter Sigismund selbst, so fallen doch die Arbeiten am Turmoktogone weitaus zum größten Teile in seine Regierungszeit, in welche somit auch eine gewisse Auszeichnung jener „qui extremam manum turri Argentoratensi indidere“ verlegt werden konnte. Der Zeitraum, in welchem letztere möglich war, ist im allgemeinen richtig fixirt, wenn sich in denselben auch weder die anderweitig erwähnte Straßburger Leistung der Junker von Prag auch die Turmvollen¬ dung selbst einspannen läßt.

Endlich ist noch die Angabe zu prüfen, dass Kaiser Sigismund den Junkern von Prag wegen eines Schimpfes, den ihnen die Herren von Rappoltstein zugefügt hatten, die Führung des diesem mächtigen Geschlechte zukommenden Wappens bestätigt habe. Sobald man den V ollendern des Straßburger Münster¬ turmes durch eine nicht mehr das Richtige des wirklichen Thatbestandes treffende Deutung ein dem allgemeinen Malerwappen vollständig gleiches Ab¬ zeichen zuerkannte, musste gerade einer am Lokalen haftenden Überlieferung gewiss die Übereinstimmung mit dem Wappen eines angesehenen elsässischen Geschlechtes auffallen und den Versuch einer Er¬ klärung herausfordern, die zunächst nur für den Elsässer notwendig war, da andere dem Gebrauche der übereinstimmenden Wappen gewiss nicht mit dem gleichen Bedürfnisse einer Rechtfertigung gegen¬ überstanden, ja ein solches wohl überhaupt kaum empfanden. Rückt die von Lazius mitgeteilte Wappen¬ sage die Entscheidung des Streites zu gunsten der angeblichen Turmvollender wirklich in die Zeit, in welcher die Arbeiten am Straßburger Turmoktogone ihrem Abschlüsse entgegengingen, so wird mit dieser zeitlichen Begrenzung die Wahrscheinlichkeit eines Einspruches der Herren von Rappoltstein doch recht fraglich. Da das Malerwappen schon lange vor der Regierung Sigismunds im Gebrauche war und zu Straßburg selbst bereits vor 1350 von der Maler¬ genossenschaftgeführt wurde, so ist nicht einzusehen, weshalb die Rappoltsteine gerade gegen die Junker von Prag in einer Sache aufgetreten sein sollen, in der es sich, wie die Bestätigung des Wappens durch

den Kaiser schließen lässt, hauptsächlich um die Be¬ rechtigung der Wappenführung gehandelt haben müsste. Ein solcher Einspruch wäre wohl recht gut denkbar in jenem Zeitpunkte, in welchem die Ver¬ wendung eines die Geltung älterer Wappen beein¬ trächtigenden Abzeichens bei einer zur Führung solcher Wappen minder berechtigten Gesellschafts¬ klasse zum erstenmale einsetzte und einen Wider¬ stand der mehr und länger Berechtigten von selbst herausfordern musste. Wollte das elsässische Adels¬ geschlecht sich überhaupt dagegen verwahren, dass sein Wappen auch von anderen geführt werde, dann hätte die Einsprache bereits lange vor der Zeit er¬ folgen müssen, in welcher die Junker von Prag die ihnen beigelegte Arbeit für das Straßburger Münster lieferten. Nähme man an, dass vielleicht erst ein besonders überhebendes Auftreten der Junker von Prag, welche sich auf die Führung des bedeutendsten elsässischen Baues viel eingebildet hätten, die Herren von Rappoltstein zur Einsprache drängte, so wird diese Ansicht durch die Thatsache hinfällig, dass ja den Junkern von Prag beim Straßburger Turmbaue überhaupt nicht die ihnen zugeteilte Rolle der Vollender des kunstvollen Werkes zufiel. Gegen das Wappen des eigentlichen Turm Vollenders konnten aber die Rappoltsteine vernünftigerweise gar keine Einsprache erheben, weil dasselbe mit ihrem nur in der Anordnung, nicht aber im Typus der Zeichen übereinstimmte. So wird es im hohen Grade un¬ wahrscheinlich, ob ein Streit zwischen den Herren von Rappoltstein und den Junkern von Prag über¬ haupt jemals stattfand. Ja, die Thatsache, dass zur Zeit Kaiser Sigismunds den Junkern von Prag das erst später durch eine Verwechslung auf sie be¬ zogene Malerwappen gewiss nicht zukam, macht es einfach unmöglich, dass der von Lazius mitgeteilte Thatbestand wahr ist. Nicht von Kaisers, sondern von Volkes Gnaden fiel den Genannten mit der an¬ geblichen V ollendung des Straßburger Münsterturmes auch das Maler wappen zu. Als man die Junker für die Vollender des Straßburger Münsterturmes zu betrachten anfing, das Wappen des eigentlichen Turmvollenders auf sie bezog, durch Verwechslung der Zeichen als Malerwappen betrachtete und sie selbst zu Malern machte, suchte man einfach die auffällige Übereinstimmung des Wappens mit jenem eines allgemein geachteten elsässischen Herren¬ geschlechtes durch einen ganz besonderen Vorfall zu erklären.

Die Junker von Prag, welche nach zwei über¬ einstimmenden Nachrichten des 15. Jahrhunderts

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DIE WAPPENSAGE DER JUNKER VON PRAG.

bauverständige, hocliangesehene Steinmetzen gewesen sein müssen1! und nur auf Grund einer verhältnis¬ mäßig späten Angabe des 16. Jahrhunderts ein be¬ stimmtes Werk des Straßburger Münsters ausgeführt haben sollen, erscheinen nach den eben beleuchteten Thatsachen und Erwägungen vollständig ohne jede Berechtigung mit dem Malerwappen in Verbindung gebracht und zu Malern gemacht. Der Vorgang gestaltete sich offenbar in folgender Weise. Zuerst legte man den Junkern von Prag, welche zur Zeit eines am Turmoktogone arbeitenden Meisters angeb¬ lich ein vielbewundertes und verehrtes Bildwerk für das Straßburger Münster lieferten und thatsächlich seit dem 15. Jahrhunderte als Autoritäten ersten Ranges in Bauangelegenheiten galten, die unter Sigismunds Regierung rasch vorwärts schreitende und bald nach seinem Tode abgeschlossene Vollendung des hochgepriesenen Straßburger Münstertumes bei, obzwar letzterer nachweisbar nur ein Werk der Meister Ulrich von Ensingen und Johann Hültz von Köln sein kann. Mit dieser Vollendung wies man folgerichtig das Wappen, welches der wirkliche Turmvollender Johann Hültz an den oberen Teilen des Straßburger Münsterturmes mehrmals angebracht hatte, mit gleicher Grundlosigkeit den Junkern von Prag zu. Flüchtigkeit der Betrachtung, unzutreffende Deutung der nicht mehr verstandenen Zeichen und unbestreitbare Übereinstimmung mit der allgemein bekannten Anordnung des Maler Wappens ließen nun¬ mehr das widerrechtlich den Junkern von Prag beigelegte Wappen mit dem Malerwappen iden- tifiziren, zu dessen Führung nach den Anschau¬ ungen des 15. und 16. Jahrhunderts nur Maler be¬ rechtigt sein konnten. Daher mussten die Junker von Prag, weil sie das Malerwappen angeblich führten, auch Maler gewesen sein. Die Zuweisung des Maler¬ wappens an die Genannten brachte sie in einer auf elsässischem Boden emporgediehenen Sage in einen gewissen Gegensatz zu einem elsässischen Herren¬ geschlechte, das sich eines ganz gleich angeordneten Wappens mit denselben Zeichen bediente, weshalbrnan die Berührung beider besonders erklären zu müssen vermeinte, obzwar den Junkern von Prag das Maler-

1) Neuwirth, Die Junker von Prag a. a. 0. S. 26—29.

wappen, welches man ihnen als den vermeintlichen Turmvollendern nur durch Vermittelung des Wap¬ pens des wirklichen Turmvollenders beilegte, that¬ sächlich durchaus nicht zukam.

So stellt sich die von Wolfgang Lazius mit¬ geteilte Wappensage der Junker von Prag als ein konsequent weiter entwickeltes System vollständig unrichtiger und unhaltbarer Ansichten dar und ver¬ dient aus dem für die Lösung der Junkerfrage in Betracht kommenden Materiale gänzlich ausgeschieden zu werden. Die Identifizirung der Junker von Pra°- mit den Vollendern des Straßburger Münsterturmes bildet die durchaus haltlose Grundlage für andere gleich unberechtigte Annahmen. Wie die Junker von Prag weder jene waren, qui extremem manum turri Argentoratensi indidere, noch irgend einen An¬ spruch auf die Führung des dem wirklichen Turm¬ vollender Johann Hültz von Köln zukommenden Wappens hatten, ebensowenig können sie das un¬ richtig mit letzterem identifizirte Malerwappen ge¬ führt, geschweige denn dasselbe den Malern über¬ haupt als eine Art kostbarer Zunfterbschaft Unter¬ lassen haben noch auch Maler und in einem Gegen¬ sätze zum elsässischen Geschlechte der Herren von Rappoltstein gewesen sein.

Die Angaben der Wappensage der Junker von Prag verlieren sich vollständig im Gebiete der Fabel und willkürlicher Erfindungen. Mit ihnen fällt ein Beleg von bisher besonders geschätzter Beweiskraft, welcher die Teilnahme der Junker an der Ausführung eines vielbewunderten Kunstwerkes zu verbürgen und ihnen eine ganz ausnehmend wichtige Rolle auf dem Gebiete der spätmittelalterlichen Architektur und Malerei zugleich zuzuweisen schien, in nichts zu¬ sammen. Dieser Verlust wiegt angesichts der un- gemein spärlichen Nachrichten über die Junker von Prag und bei der augenblicklichen Unmöglichkeit der Beschaffung eines Ersatzes doppelt schwer; aber seine Begründung giebt wenigstens Wahrheit und Klarheit in einer noch mehrfach recht dunklen Frage der mittelalterlichen Künstlergeschichte und einen interessanten Beitrag zu dem Kapitel, wie Künstler- sagen entstehen und, jeder haltbaren Begründung entbehrend, ohne kritische Überprüfung sich durch Jahrhunderte erhalten können.

LUCAS CRANACH'S HOLZSCHNITTE UND STICHE.1)

MIT ABBILDUNGEN.

IE Reihe mustergültig hergestellter und mit gelehrten Erläuterungen versehener Reproduktionswerke, welche der Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts seit einiger Zeit herausgiebt, ist unlängst wieder durch eine würdige Publikation über Cranach vermehrt worden, die der Beachtung aller ernsten Kunstfreunde empfohlen sei. Cranach war freilich kein Poet wie Dürer und kein Porträtist wie Holbein, aber in sei¬ nen frühen und echten Werken macht sich ein starkes Talent geltend, das uns durch „feine Be¬ obachtung fesselt oder durch reizende Anmut und die naive Phantastik ent¬ zückt, mit der er seine künstlerische Traumwelt vor uns ausbreitet“. Lipp- niann hat in dem vorlie¬ genden Werke fleißig alles zusammengestellt, was den Meister uns durch Bild und Wort nahe bringen und seine Entwicklung klar machen kann.

Die Jugendzeit bleibt freilich immer noch in tiefes Dunkel gehüllt. Cra¬ nach (geh. 1472) war 32 Jahre alt und schon ein ganz fertiger Meister, als er das frühste uns erhal¬ tene datirte Bild malte: die „Ruhe auf der Flucht“ der Sammlung Fiedler in München (v. J. 1504). Der

1) Lucas Cranach. Sammlung von Nachbildungen seiner vorzüglichsten Holzschnitte und seiner Stiche, hergestellt in der Reichsdruckerei und herausgegeben von F. Lippmann. Berlin, G. Grote's Verlag. 1895. Fol.

älteste datirte Holzschnitt Crauach’s stammt aus dem Jahre 1505. Die frühen Arbeiten des Meisters in dieser Technik erweisen den begreiflichen Einfluss Dürer’s, in der Erfindung wie in der Behandlung. Auch der An¬ schluss au italienische Vorbilder, namentlich Plaketten, ist evident; ein Aufenthalt Cranach’s im Süden lässt

sich jedoch nicht nach- weisen. Unter den gleich¬ zeitigen Deutschen zeigt sich Albrecht Altdortfer dem Cranach am nächsten verwandt, vornehmlich in den Landschaften der frü¬ heren Zeit Cranach’s, in dessen reichfigurigen Ma¬ donnendarstellungen, auch im Kolorit und in der Behandlung des Kupfer¬ stiches. Im Sommer 1508 befand sich Cranach als Abgesandter des Kurfür¬ sten Friedrich des Weisen, dessen Hofmaler er seit 1504 war, in den Nieder¬ landen, u. a. in Mecheln und in Antwerpen. Eine tiefere Einwirkung von Seiten der niederlän¬ dischen Kunst hat er in¬ dessen durch den mehr- monatlichen Aufenthalt dort nicht erfahren; nur im architektonischen und ornamentalen Beiwerk macht sich so etwas wie der krause Stil des Ma- buse oder Orley vorüber¬ gehend bemerklich.

Sehr wichtig für die richtige Auffassung von Cranach’s Wirksamkeit am Hofe zu Wittenberg ist die Mannigfaltigkeit der Auf¬ träge, die der Künstler dort auszuführen bekam. Es war das nur möglich bei förmlich fabrikmäßigem Be¬ triebe. Da mussten Porträts und Jagdstücke „schock¬ weise“ hergestellt, Wandbekleidungen in Leimfarbe

Silberstiftzeiclinung von Lucas Cranach.

(Aus Lippmann, Lucas Cranaeli. G. Grote’s Verlag, Berlin.)

94

JEANNE D’ARC VON PAUL DUBOIS.

gemalt, Turnierdecken, Wappen, Behänge u. dergl. ge¬ liefert werden. Neben dem so beschaffenen Betrieb der Malerei hatte Cranack eine Papier- und Buchhandlung, eine Apotheke, sowie wahrscheinlich eine Zeit lang auch eine Buchdruckerei; vielleicht hauptsächlich zu dem Zweck, um seine Holzschnitte selbst drucken zu können. Dafür spricht die Schönheit und Klarheit der guten, alten Ab¬ züge, wie solche noch von den frühsten seiner Schnitte erhalten sind.

Es ist nach alledem leicht erklärlich, dass Cranach sich auch bei seiner Kunst vielfach der Gehilfenhände bedienen musste. Seit 1535 ist sein zweiter Sohn Lucas (geh. 1515) als Helfer nachweisbar. Und es ist eine Hauptaufgabe der Kritik, die Arbeiten beider von einander zu scheiden. Lippmann widmet der Thätigkeit des jüngeren Cranach am Schlüsse des Werks eine ein¬ gehende Betrachtung. Für die acht erhaltenen Kupfer¬ stiche steht die Urheberschaft des älteren Cranach fest; ebenso für einige Handzeichnungen und viele Bilder der früheren Zeit; in den späteren wird mehr und mehr die Gehilfenhand sichtbar. Komplizirt ist die Frage bei den Holzschnitten. Sie sind sehr ungleich: einige vollkommen im Stile Cranach’s, gewiss Faksimileschnitte seiner Zeich¬ nungen, andere sicher nur Arbeiten nach seinen Skizzen, ja selbst rohe Fabrikware. Die besten Holzschnitte fallen in die Zeit von 1505 bis zum xAnfange der zwanziger Jahre. Sie sind mit seinem Monogramm, mit der geflügelten Schlange, seiner Marke, und mit den beiden sächsischen Wappen bezeichnet. In der früheren Zeit scheinen den Schnitten immer derbe Federzeich¬ nungen zu Grunde gelegen zu haben; gegen 1515 be¬ ginnt eine zartere Weise, auf Grundlage von Zeichnungen mit dem Silberstift (s. die Abbildg.). Meisterhaft übte Cranach auch den Farbenholzschnitt. Seine zwei Schnitte v. J. 1506, der „Heil. Christoph“ und „Venus und Amor“

sind die frühsten datirten, künstlerisch vollkommenen Arbeiten in dieser Technik, die wir kennen. Sie sind mit zwei Platten gedruckt, einer braunen und einer schwarzen; das weiße Papier giebt dabei die höchsten Lichter. In einzelnen Fällen sind Gold und Silber zu dem gleichen Zweck angewendet: ein Verfahren, das dann von Augsburger Druckern dem Cranach nachge¬ macht wurde. Unter den Kupferstichen Cranach’s müssen vornehmlich die drei Lutherbildnisse von 1520 und 1521 hervorgehoben werden; sie sind das Einfachste und zugleich Geistigste, was er in dieser Technik ge¬ leistet hat. In den letzten Decennieu seines Lebens gab Cranach die Beschäftigung mit dem Holzschnitt und dem Kupferstich auf und übte nur noch die Porträt- und Historienmalerei. Eines seiner interessantesten Bildnisse aus den letzten Zeiten ist das 1550 in Augsburg ent¬ standene Porträt Tizian’s. Bis ans Ende (1553) malte er an dem großen Altargemälde der W eimarer Stadtkirche.

Die dem Lippmann’schen Werke beigegebeuen Tafeln enthalten außer den acht Kupferstichen des Meisters sämt¬ liche größeren hervorragenderen Holzschnitte desselben, die als Einzelblätter erschienen sind, nebst vier Proben aus der Folge „Christus und die Apostel“ und aus den „Martyrien der Apostel“. Eine Probe aus der Holz¬ schnittpassion ist in den Text eingedruckt. Die Kopro¬ duktionen haben durchweg die Größe der Originale und sind nach den besterhaltenen alten Abdrucken angefertigt, welche man auftreiben konnte. Deutsche, österreichische, englische und französische Sammlungen steuerten dazu bei. In wie tadelloser Weise die Nachbildung ausge¬ führt ist, mag das Holzschnittblatt der Heil. Katharina (B. 71) zeigen, das mit Bewilligung der Verlagshandlung dieser Anzeige beigegeben ist. Es gehört zu den spätest- datirten und vollendetsten Einzelblättern von Cranach’s Hand. C. v. L.

JEANNE D’ARC VON PAUL DUBOIS.

MIT ABBILDUNGEN.

IE für Rheims bestimmte bronzene Reiter¬ statue der Jungfrau von Orleans von Paul Dubois, welche den Haupterfolg der fran¬ zösischen Skulpturenabteilung im letzten Salon der Champs-Elysees bildete, ist ein so hervorragendes Werk der gesamten modernen Bildnerkunst, dass wir uns veranlasst fühlen, es den Lesern heute in zwei Ansichten vorzuführen. In der einen, kleineren, die in unsern Text eingefügt ist, kommt die Haltung und charakteristische Bewegung der Figur, in der andern, die als größere Tafel beiliegt, namentlich der Ausdruck des Kopfes der Jungfrau zur vollen Wirkung.

Schon als Dubois’ im Salon von 1889, zuerst mit dem Modell seiner Jeanne d’Arc vor das Publikum trat, wurde die naheliegende Parallele zwischen seinem Werke und der bekannten Bronzestatue Fremiet’s auf dem Pariser Pyramidenplatze gezogen. Die Wage des Ur¬ teils balancirte hin und her. Für Fremiet’s kühne Reiterin mit der hoch erhobenen Fahne und dem volks¬ tümlichen Zuge des heldenhaften Dreingehens, flel der frische Naturalismus in Auffassung und Durchbildung schwer ins Gewicht. Die Masse der Beschauer war und bleibt entzückt von der Derbheit der Erscheinung, der Naivetät des Ausdrucks, den malerischen Linien der Silhouette. Namentlich in der ersten Gestalt, welche

Die heilige Katharina. Holzschnitt, von Lucas Cranach. (Aus F. Lippmaun, Lucas Cranach. G. Grote’s Verlag, Berlin.)

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Freiniet später in den Accenten etwas abge- sch wacht hat, spricht aus seiner Schöpfung der echte Naturlaut eines großen Talents.

Dubois hatte von vornherein den Schwer¬ punkt seines "Werkes auf einer andern Seite ge¬ sucht. Seine Jeanne d’ Are ist nicht in erster Linie Heroine, sondern gott¬ begeisterte Seherin. Das Schwert etwas ungeschickt in der zarten Hand hal¬ tend, steht sie steil im hohen Sattel, den Segen des Himmels auf ihr Werk herabflehend. Ket¬ tenhemd und Panzer be¬ decken die schlanke, kaum den Kinderjahren ent¬ wachsene Gestalt. Unter dem Helm wird ein feines Köpfchen sichtbar, fern von banaler Schönheit, aber ganz Hingebung an die heilige Sache, die Augen erfüllt von religiöser Schwärmerei.

Man hat bei dem Vergleich der ausgeführten Bronze mit dem ursprünglichen Modell an Dubois’ Reiterstatue

zu viel herbes und „gold¬ schmiedmäßiges Detail“ entdecken wollen, das an den kleinlichen Stil man¬ cher alt - florentinischen Quattrocentisten erinnere. Wir glauben, mit Unrecht. So wie das Werk in seiner Grundempfindung ein echt modernes ist, erfüllt von jenem glaubensstarken Patriotismus, der in der Tiefe der französischen Volksseele schlummert, so trägt es andererseits den Stempel der Klassicität durch den Verein von hoher innerer Ruhe des Stils und ungeschminkter Wahrheit in den Formen wie im Ausdruck. Nicht wenig trägt dazu die un- gemein lebendige und doch maßvolle Bewegung des Rosses bei. Die streng gezeichneten Beine greifen energisch aus, der Kopf ist dagegen etwas eingezogen: gerade dieses Zusammen¬ fassen der Kraft giebt dem Ganzen den Ausdruck des von siegreicher Macht beseelten, unaufhaltsamen Vordringens.

C. v. L.

JEANNE D’ARC VON PAUL DUBOIS.

Jeanne d’Arc, von Paul Dubois.

ZU DER RADIRUNG.

* Aus der Villa des Hadrian. Nach dem Gemälde von Her mann Krüger radirt von Fritz Krostcwitz. Wer das Original dieser Radirung in seiner sicheren Pinselführung, in seiner satten Farbenpracht und seiner vollen plastischen Wirkung auf der vorjährigen großen Kunstausstellung in Berlin kennen und schätzen gelernt hat, hat gewiss, wenn er nicht zufällig den Maler gekannt hat, vermutet, die erste reife Frucht eines aufstrebenden Künstlerschaffens, einen Widerschein der Kunst Oswald Achenbach’s vor sich zu sehen. In Wirklichkeit hat der Künstler, dem wir diesen köstlichen Auszug aus einer klassischen Ruinenstätte ver¬ danken, bereits die Sechzig überschritten, und es scheint demnach, als ob die Jugendkraft, die die beiden Großmeister der Düsseldorfer Landschaftsmalerei durchströmt, auf ihre Schüler zurückstrahle. Freilich ist Hermann Krüger erst spät zur Ausübung der Malerei gekommen. Am G. Ok¬ tober 1834 in Kottbus geboren, war er von seinem Vater für den Kaufmannsstand bestimmt worden, und erst mit 23 Jahren wurde er durch den Tod des Vaters Herr seines Schicksals. Ein halbjähriger Aufenthalt in Rom und der Verkehr mit dort lebenden Künstlern bestimmten ihn, den seit frühester Jugend gehegten Wunsch, Maler zu werden, zu verwirk¬ lichen. Seine ersten Versuche dazu machte er in München

unter der Leitung des Professors Adalbert Waagen und im Anschluss an die Richtung Albert Zimmermann’s. Aber schon damals sah er in den italienischen Landschaften Oswald Achenbach’s das höchste Vorbild, dem er nacheifern wollte. Indessen zwangen ihn Familien Verhältnisse zu einem längeren Aufenthalt in Dresden und Berlin, wo er sich bei Professor Max Schmidt weiterbildete, und erst nach dem Tode seiner Mutter konnte er sich nach Düsseldorf begeben, wo er zunächst Schüler Albert Flamm’s wurde und später auch in ein enges Freundschaftsverhältnis zu Oswald Achen¬ bach trat, mit dem er häufig Reisen nach Italien machte. Seine Bilder, deren Motive meist Unteritalien und Sizilien entnommen sind, 'sind nicht zahlreich und erscheinen nur selten auf großen Ausstellungen, wo sie schnell Freunde und Käufer finden. Auf dem Bilde, das unsere Radirung wieder- giebt, hat der Maler sich nur in der Ruine links im Vordergründe mit dem sich über einer dunklen Tiefe wölbenden Mauer¬ bogen an die Wirklichkeit gehalten. Im übrigen hat er frei komponirt und gedichtet einem Musiker gleich , der Variationen über ein gegebenes oder selbstgewähltes Thema bietet. Den Gesamtcharakter dieses Ruinenfeldes und seiner schweigenden Umgebung hat er meisterhaft getroffen, und der Radirer hat die Stimmung, die Tonhaltung glücklich nach¬ empfunden. A. R.

Herausgeber: Carl von Liitzow in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

JE ANNE D’ ARC VON P. DIJBOIS.

Zeitschrift für bildende Kunst IMF. VJJ.

DAS STROHHAUS IN ITALIEN.

MIT ABBILDUNGEN.

N einem Vorträge, den Herr Oberst v. Ban- calari vor einigen Jahren in der An¬ thropologischen Gesellschaft in Wien über das Bauernhaus hielt, sprach der¬ selbe die Ansicht aus, dass die ursprüng¬ liche Form des italienischen Bauernhauses, wenigstens des oberitalischen, das Strohhaus gewesen und dass die Bedachung mit Ziegeln erst als eine spätere Form aufzufassen sei. Man darf dabei freilich nicht vergessen, dass der Anthropologe in Zeiten zurück¬ greift, mit welchen wir nicht mehr zu rechnen gewohnt sind.

Da der ge¬ nannte Forscher, seinen Weg durch die Alpen bis in die italische Ebene verfolgend , auch bemerkte, dass er in Italien mit eini¬ ger Mühe noch ein solches Strohhaus ausfindig gemacht habe, so erinnerte ich mich an seinen

Fig. 1. Partie aus einer Topographie des alten Venedig. (Stich aus der Biblioteca Marciana, Venedig.) Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. II. 5.

Vortrag, als ich das erste Strohhaus auf meiner letzt¬ jährigen Reise bemerkte und, einmal auf den Gegen¬ stand aufmerksam geworden, gewahrte ich mit Er¬ staunen, dass man Strohhäuser in ganz Italien findet, und zwar nicht nur vereinzelt, sondern zu ganzen Dörfern vereint.

Meine Beobachtungen in diesem Sinne halte ich in mancher Beziehung für nicht unwichtig, und wenn das Strohhaus auch mit der Kunst in Italien wenig zu thun

hat, so ist doch die Existenz des¬ selben allein schon interessant ge¬ nug, um das Bild des Landes zu vervollständigen ; auch trägt die Be¬ obachtung zum Verständnis man¬ cher landschaft¬ lichen Darstel¬ lung auf alten Bildern bei.

Schon auf alten Darstellungen von Grado und Venedig (Fig. 1) sieht man, dass die ersten An¬ siedlungen in den 13

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DAS STROHHAUS IN ITALIEN.

Fig. 4 a. Faksimile nach einer Federzeichnung von Tizian, Uffizien.

Lagunen aus ganz einfachen Strohhütten bestanden, nicht, wie sehr oft irrtümlich angenommen wird, aus Pfahlbauten im Sinne jener unserer Alpenseen. Solche Ansiedlungen aus Strohhütten findet man noch heute zwischen Aquileja und Grado. Es ist ein eigentüm¬ licher Anblick, mitten in den Lagunen diese Fischer¬ hütten in Gruppen von 3 bis 20 bei einander zu sehen, ganz aus Stroh oder vielmehr aus Schilf, alle mit der Thüröffnung nach Süden, ohne Fenster und ohne Kauch- fang. Nur wenig über dem Wasserspiegel sind sie erbaut, soweit der Boden als fest zu betrachten ist. (Fig. 2.)

Unabsehbar scheint die Ebene, in der das Wasser mit dem Lande ringt; die Sonne brütet darüber und bringt Zerrbilder aller Art durch den Wechsel von kalter und warmer Luft, von Lagune und Wasser hervor. Farbenprächtig, goldgelb heben sich die Strohhäuser und manches farbige Segel von der duftig blauen Wand der fernen Alpenkette ab, die oben wie mit einem Spitzenschleier, den schneebedeckten Firnen, überhangen ist. So beiläufig muss man sicli den Uranfang Venedigs vorstellen. Freilich ist dieses Bild nicht immer so freundlich. Wenn im März die Südstürme wehen, da rollen die weißen Wogen und die schwarzen Wolken über die ganzen Lagunen dahin, und wehe dem Fischer, der nicht rechtzeitig seine Strohhütte erreicht, ein ein¬ faches Kreuz, in die feuchte Lagune gesteckt, bezeichnet

den Ort, wo er verunglückt ist, und deren giebt es viele dort.

Auf alten Bildern und Handzeichnungen sieht man wohl zumeist nur Darstel¬ lungen von Gebäuden aus Stein, besonders auf denen der umbrisclien Schule. Das darf uns aber nicht wundern, da die befestigten Gebirgs- dürfer und Städte wohl immer zum größten Teil aus Stein gewesen sind. Da finden wir höchstens einmal als Vorbau zu einem Gebäude eine offene Halle aus Balken ge¬ zimmert, die mit Stroh überdeckt ist, wie in dem Ge¬ mälde von Angelo Gaddi (1333) in den Uffizien: übrigens ein beliebtes Motiv als Baum für Darstellungen der Ge¬ burt Christi.

Es ist wohl anzunehmen, dass Strohhäuser nur da häufig zu finden waren, wo das Material dazu reichlich vorhanden, weshalb in den Gebirgen, wo Holz und Stroh nicht so leicht zu haben waren wie in der Ebene, der

Fig. 4. Faksimile einer Zeichnung nach Agostino Caracci. Venedig.

Steinbau und die Stein- oder Ziegelbedachung vorge¬ herrscht haben.

Namentlich die oberitalienischen Maler stellten häufig Häuser mit Strohbedachung dar, oft mit Ziegelhäusern vermischt.

Fig. 6. Strohhäuser aus der venezianischen Ebene.

DAS STROHHAUS IN ITALIEN.

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Auf alten Bildern sind die Strohbedachungen nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen; nur die auf¬ fallende Steilheit der Dächer und die ihnen gegebene graue oder braune Farbe lassen dieselben erkennen (Pier di Cosimo, 1462, Florenz, Fig. 3). Auch Basaiti hat eine Zeichnung in den Uffizien, in welcher er eine Mühle mit sehr viel Holzwerk darstellt; man könnte glauben, eine altdeutsche Landschaft vor sich zu sehen, wäre diese

Mühle nicht an einen großen steinernen Turm, der die Provenienz documentirt, angebaut. Überhaupt war Holz im Mittelalter in Italien kein so seltener Artikel wie heute; Holzkonstruktionen und Riegelwände finden sich auf Bildern nicht selten. (Fig. 4 und 5.)

Wer von Venedig nach Padua fährt, sieht genug Häuser mit Stroh gedeckt in allen erdenklichen Formen, je nach dem Zweck derselben. Für das Wohnhaus des Bauern ist aber die Form Fig. 6 typisch. Es ist cha¬ rakteristisch für das Strohhaus, dass der Unterbau, ob er nun aus Stein oder Stroh bestehe, sehr niedrig ist; woraus man vielleicht schließen kann, dass die Urform dieser Häuser ganz aus Stroh zu denken sei. Ähnliche Formen, wie Fig. 7, finden sich auf Zeichnungen von Campagnola und Giorgione.

Der Rauchfang, wenn einer vorhanden ist, wird stets an die Außenseite des Hauses angebaut. Besonders häufig zu ganzen Dörfern vereint treten Strohhäuser weiter südlich in Rovigo, Polesella und an andern Orten auf. Von weitem sieht man schon aus dem Grün der Obstbäume die steilen Dächer emporragen, zumeist größere Häuser mit zwei Kaminen, zwischen denen die Fenster angebracht sind. (Fig. 8.) Ein anderer Typus (Fig. 9), vielleicht nur von Stallungen, besteht aus einem läng¬ lichen Gebäude, dessen eine Hälfte durch Pfeiler ge¬ tragen wird und so eine offene Halle bildet, als Depot für Wagen und Ackergeräte, sowie wahrscheinlich als Durchfahrt für die Heuwagen, die von hier aus gleich ihren Vorrat an den Dachraum abgeben, wie ja dies bei unsern Bauernhäusern gleichfalls vorkommt.

Man kann hier ganz genau beobachten, wie sich das Ziegelhaus aus dem Strohhaus entwickelte. Durch das Wegfällen des hohen Dachstuhles wird es möglich, noch ein Stockwerk hinzuzufügen, sonst bleibt der Grundriss des Gebäudes genau derselbe. Ich bemerke hier aber, dass die ganz modernen Steinhäuser sich gänzlich von dieser Form emanzipiren ; nur die sichtlich älteren Häuser haben fast durchwegs die oben bezeichneten Formen und diese dürften schließlich ganz verschwinden.

Vor Pistoja fehlt das Strohhaus gänzlich, wenn

Fig. 7. Strohhaus in der Nähe von Padua.

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DAS STROHHAUS IN ITALIEN.

Fig. 11. Dorf aus Stroh gebaut aus Cervara (römische Campagna).

man von Stallungen und Wächterhäusern absielit, da hier die gebirgige, waldreiche Gegend starkes Holz zur Steinbedachung genug liefert. Wenn man aber aus dem Gebirge in das römische Gebiet gelangt, so treten Strohhäuser wieder regelmäßig auf. Schon in Arezzo sieht man einzelne Häuser mit starkem Gebälk aus Holz, wie auch Bauten mit Riegelwänden, wobei aber statt der Ziegelfüllung Strohgeflecht verwendet wird. Ganze Gehöfte aus Stroh gewahrt man in der Ebene, niedere Strohhäuser mit steilem Dach, und vor dem Eingang, der stets an der Schmalseite ist, eine Art Veranda, gleich¬ falls mit Stroh gedeckt, die ihn vor der Sonne schützt.

In der römischen Campagna gewahrt man von weitem nur die großen kastellartigen Gebäude der Nobili mit ihren hallenartigen Fruchtböden; aber wenn man abseits von den großen Straßen die Campagna bereist, sieht man, dass die Mehrzahl der Hirten, die ja hier die Haupt¬ masse der Bevölkerung bilden, in Strohhäusern wohnen. Bekannt ist die sog. Campana (Fig. 10), ein runder Bau aus Stroh mit einem spitzen, kegelförmigen Dach, manch¬

mal ohne diesen Unterbau, also glockenförmig, was schon der italienische Name sagt, vom Boden auf ein einziger Kegel, wie ein Indianerzelt. Die Thür ist aus Holz, mit Stroh verkleidet. Neben dem Gebäude sind stets Einzäunungen aus Weidenruten oder jene tragbaren Ein¬ zäunungen aus Garnnetzen für die Schafe. Manchmal auch auf vier Pfählen eine kleine Hütte für den Wächter oder vielleicht ein Schlafraum für den Hirten zur ge¬ fährlichsten Zeit der Malaria.

Agostino Caracci bildet ein ähnliches Gebäude in einer Zeichnung in der Akademie zu Venedig ab. (Fig. 4.) Die Campana steht stets vereinzelt auf einer Anhöhe, während andere Gebäude aus Stroh ganze Dörfer bilden. Am Wege zwischen Rom und dem Sabiner-Gebirge kann man deren häufig sehen, so in Cervara und Lunghezza (Fig. 11). Ich habe in dieser Weise Gruppen von 30 bis 50 Häusern beisammen gesehen.

Bei Terracina soll gleichfalls ein großes Dorf ganz aus Stroh gebaut stehen, das ich aber aus eigener An¬ schauung nicht kenne.

Fig, 9 a. Bauernhaus aus ßovigo. (Seiten- und Straßenansiclit.)

DAS STROHHAUS IN ITALIEN.

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Fig. 10. Eine Campana (römische Campagna).

Dass in antiker Zeit Strohhäuser existirt haben, ist sehr wahrscheinlich, wenngleich meines Wissens weder die alten Schriftsteller noch die Künstler in ihren Werken deren Erwähnung thun; selbst im Virgil, dessen ländliche Gedichte wahre Plein- air-Bilder sind, ist keine bestimmte Andeutung davon zu finden. Nur auf zwei

pompejanischen Wandbildern fand ich Strohhäuser dar¬ gestellt, kleine viereckige Gebäude, deren Dach die Form eines runden Dachziegels hatten. (Fig. 12.) Man erkennt deutlich die vorstehenden Dachsparren am First und einen auf Holzsäulen ruhenden Vorbau.

LUDWIG HANS FISCHER.

Fig. 12. Strohhaus nach einem pompejanischen Gemälde.

STUDIEN

ZUR ELFENBEINPLASTIK DES 18. JAHRHUNDERTS.1)

MIT ABBILDUNGEN.

III. Die Familie Lücke.

N der Elfenbeinsammlung des Grünen Gewölbes zu Dresden befindet sieb unter Nr. 246 ein 0,860 hohes Krucifix, ein Werk von ausgezeichneter Arbeit, das in sechszeiliger Kursivschrift die Bezeich¬ nung trägt: „Job. Christoph Ludwig Lücke. Fecit. Dresden. 1737.“ 2)

Wer die keramische Litteratur der letzten Jahre mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt hat, wird an ver¬ schiedenen Stellen dem Namen eines Mannes begegnet sein, der bald als Modelleur oder Modellmeister, bald als Arkanist unter dem Vorgeben, im Besitze des Geheim¬ nisses der Porzellanfabrikation zu sein, hier und dort auftauclit, an verschiedenen Fabriken eine scheinbare Thätigkeit entfaltet und schließlich, in der Regel nach kurzem Aufenthalt, auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Dieser Mann nannte sich Johann Christoph Ludwig (von) Lücke, führte also, wenn man von dem Adelstitel, den er sich zuweilen beizulegen pflegte, absieht, denselben Namen wie jener Dresdener Elfenbeinschnitzer. Aus diesem Grunde hat man beide für identisch erklärt und wird hieran wohl festhalten müssen, so sehr auch die ganze abenteuerliche Laufbahn dieses Mannes dagegen zu sprechen scheint. Die letztere wollen wir im Folgen¬ den mit Hilfe der vorhandenen Nachrichten zunächst betrachten, da sie vieles Interessante bietet und geradezu typisch ist für jene Zeit der fahrenden Porzellanmacher, jener Nachkommen der alten Alchymisten.

Die frühesten Nachrichten weisen auf Meißen, bezw. Dresden hin. An der dortigen Porzellanfabrik war nämlich von Mitte April 1728 bis Ende Januar 1729 der Bildhauer Johann Christoph Ludwig Lücke als Modellmeister beschäftigt. Was derselbe während dieser kurzen Thätigkeit für die Manufaktur geleistet

1) Vergl. Kunstgewerbeblatt. N. F., VI, p. 6 fl', u. p. 49 fl'.

2) Siehe: Das Königl. Grüne Gewölbe zu Dresden. Eine Auswahl der wichtigsten Nummern von J. Erbstein. 1892. p. 4.

hat und wie wenig er im stände war, den an ihn ge¬ stellten Anforderungen zu genügen, darüber geben uns die noch vorhandenen Akten eingehende Auskunft. ') So heißt es z. B. in dem Rapport Nr. XIX vom 25. Sep¬ tember 1728, § 114: „Hingegen thut der hiesige Mo¬ dellmeister Lücke noch immer sehr douce mit seiner Kunst, und wäre nunmehr bald Zeit, wenn er es dem vorigen Bildhauer Kirchner, als seinem antecessori im modelliren und poussiren wo nicht zuvor, doch wenig¬ stens gleich thun wollte. Denn was Lücke bisher an ein und anderen inventirc und gefertigt, sind nur Klei¬ nigkeiten gewesen, die aber von den hiesigen Manu¬ fakturleuten noch weit faconirlicher und geschickter poussirt werden können. Wie es das Ansehen hat, ver¬ steht derselbe in der Zeichnung sehr wenig, in der Architektur aber, als worauf es bei hiesiger Fabrique am meisten ankommt, gar nichts. So kann er auch kein Modell aus Holz machen, und muß er selbst zuge¬ stehen, dass er in Holze niemals gearbeitet. Und wenn nun gleich dann und wann aus Thon gewisse Modelle, als bisher geschehen, gefertigt werden, so gehen doch diese beim Abformen sogleich in Stücke, wenn selbige aber von Holz gemacht würden, so könnten diese den Arbeitern vielmehr zum Modell dienen und so dann desto eher nachgemacht werden.“ In einem andern Bericht vom 4. Dezember 1728, § 136 wird mitgeteilt: „Es Hat der Bildhauer Lücke ein Modell zu einem Pokale mit Zierrathen gefertigt und bis 4 Wochen lang darüber zugebracht, wie es aber das Ansehen hat, wird dieses Modell, da ganz keine Facon daran sich findet, auch die derbei angebrachten Zierrathen nichts taugen, der Fa¬ brique keinen Nutzen bringen, noch weniger in consi- deration zu ziehen sein, maßen dergleichen Stücken

1) Sorgfältige Auszüge aus diesen Akten , die Herr H. Stegmaun schon vor längerer Zeit von der Direktion der Königl. Porzellanmanufaktur zu Meißen erhalten hatte, sind mir von demselben freundlichst zur Verfügung gestellt worden.

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schon vorher weit besser und fagonirlicher von den hiesigen Manufakturleuten gefertigt worden. So ist auch darzuthun, dass der Former Fritzsche ohngeachtet derselbe in der Zeichnung sehr wenig versteht, ein besseres Modell, als der Bildhauer Lücke nach denen Zeichnungen verfertigt hat.“

Die Unzufriedenheit mit Lücke’s Leistungen, die er vergebens durch allerlei nutzlose Vorschläge wieder gut zu machen suchte, wuchs immer mehr, sodass seine Vorgesetzte Behörde schon im Dezember 1728 an seine Entlassung gedacht zu haben scheint; doch erfolgte dieselbe erst Ende Januar 1729, wobei in dem hierauf bezüglichen Rapport vom 15. d.

M., der auch ein Gesuch Lücke’s um eine weitere Hinausschiebung seiner Entlassung berührt, be¬ merkt wird: „Da aber dieser Lücke bisher wenig nutzbares im modelliren und poussiren prae- stirt, über dieses in keiner guten liarmonie mit denen hiesigen Ma- nufactur- Leuten stehet, als mit welchen er sich doch der Arbeit halber billig vernehmen und sich mit ihnen in ein gut comportement setzen sollen , ein solches aber allen gethanen Erinnerungen un¬ geachtet von ihm keineswegs zu erlangen gewesen, so beruhet zu E. Hochlöblichen Commission gnä¬ diger Entschließung, ob Sie seine petito hierunter deferiren wollen.“

Allein das oben erwähnte Gesuch sowie ein weiteres, das Lücke unter dem 29. Januar 1729 direkt an die Kommission richtete, und in dem er bat, man möchte ihn doch bis Mitte April d. J. be¬ halten, da er alsdann gerade ein Jahr beschäftigt gewesen sei, hatten keinen Erfolg, und so musste er am 31. Januar 1729 die Manufaktur verlaßen, wobei ihm nicht einmal gestattet wurde, das Prädikat „Modellmeister“ weiter¬ führen zu dürfen.

Es vergeht nach diesem ersten Auftreten ein Zeit¬ raum von etwa 20 Jahren, ehe wir wieder sichere Kunde über Lücke erhalten. Zunächst taucht er im Jahre 1750 an der Wiener Porzellanfabrik auf, wo er, wie von Falke berichtet,1) mit Niedermayr zusammen als „Modellmei¬ ster“ beschäftigt war und, unterstützt von diesem, die Leitung über sämtliche Ateliers der Bossirer, Modelleure, Schleifer und Kapselmacher in Händen hatte. Allein während Niedermayr noch bis 1784 dort in fruchtbringen¬

1) Die k. k Wiener Porzellanfabrik, p. 12.

der Weise wirkte, hören wir von Lücke außer dieser kurzen Erwähnung nichts weiter. Dagegen erscheint er bereits im nächsten Jahre auf einem ganz anderen, weit entlegenen Schauplatz.

Als der Oberjägermeister von Langen an der Spitze der Fürstenberger Porzellanmanufaktur stand und mit Hilfe aller möglichen Leute sich abmühte, dem Geheim¬ nis der Porzellanfabrikation auf die Spur zu kommen, wurde er im Jahre 1751 von einem seiner Agenten in Bremen auf einen dort wohnenden Herrn von Lücke aus Hamburg aufmerksam gemacht, der vordem in Dresden königlicher Hofbiidhauer und später an der kaiserlichen Porzellanfabrik zu Wien Ober¬ direktor gewesen sei. Langen zögerte nicht, sich mit demselben in Verbindung zu setzen und er¬ hielt von ihm, der inzwischen nach Hamburg übergesiedelt war, die Nachricht, daß er „nicht nur dieses besondere Geheimniss des Wienerischen ächten Porcellains als ein Nebenwerk seiner edlen Bildhauerkunst durch große Ko¬ sten und Zeitverlust auf das ge¬ naueste erlernt, sondern auch durch Practic und Zeit, so er auf der sächsischen Fabrik zu Meißen als Ober-Modell- und In¬ ventionsmeister, als wie auch zu Wien als Ober-Direktor des gan- tzen sämmtlichen Werkes zu di- rigiren, von dieser Wissenschaft die allergenaueste Kenntniss er¬ halten habe.“ Trotz dieser ver¬ lockenden Aussichten und der glänzenden Titel, die er sich bei¬ legte er Unterzeichnete sich J. C. Ludowig v. Lücke „Ihro Kaiserlicher Majestät Kunst- Kämmerer und Director“ ver¬ zichtete von Langen auf die Dienste dieses Mannes, an dessen Brauchbarkeit für seine Zwecke er wohl mit Recht zweifeln mochte. Doch war die Angelegen¬ heit mit dieser Absage keineswegs erledigt; denn bald nachher kam Lücke in Begleitung eines jüngeren Bruders nach Fürstenberg, um dort als Modelleur Be¬ schäftigung zu suchen. Allein beider Aufenthalt war nur von kurzer Dauer und ohne ihr Anliegen beim Ober¬ jägermeister vorgebracht zu haben, zogen sie wieder von dannen, nachdem sie ein neuer Beweis für Lücke’s unverträglichen und händelsüchtigen Charakter in einen Streit mit dem Krugwirt und dessen Gästen ge¬ raten und von letzteren aus der Wirtsstube hinausge¬ worfen waren. Diese Fürstenberger Episode, die uns H. Stegmann in seiner Geschichte der Fürstenberger

Fig. 1. Die Wiedererweckung der Kunst von .1. Chr. L. Lücke Dresden, Grünes Gewölbe.

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Porzellanfabrik, p. 22 ff. so hübsch und anschaulich schil¬ dert, mnß in das Jahr 1751 oder 52 fallen; denn schon 1752 finden wir den Ruhelosen, eine echte Vaganten- natur, in Kopenhagen, wo er sich, einige Unter¬ brechungen abgerechnet, bis 1757 aufgehalten zu haben scheint und, unterstützt von seinem Sohne, Versuche in Herstellung von Porzellan machte, die nach Aufwen¬ dung von 4000 Reichsthalern ohne Ergebnis endigten. ')

Inzwischen hatte er aber bereits am 29. November 1754 von Schleswig aus, wo er damals weilte,1 2) an die königliche Regierung ein Gesuch gerichtet, in dem er erklärte, er wolle, um sich für eine ihm von König Friedrich V. von Dänemark ausgesetzte Pension dank¬ bar zu erweisen, „seine erlernte Kunst und Wissen¬ schaft in Schleswig weiter fortsetzen und zu solchem Zwecke eine Fabrique von echter und unechter Porce- laine anlegen“ und zugleich gewisse Privilegien für die¬ selbe erbat.3) Diese letzteren wurden ihm auch im folgen¬ den Jahre durch einen königlichen Erlaß erteilt, nach¬ dem gewisse Bedenken des Rates zu Schleswig abge¬ schwächt waren, allein das ganze Unternehmen mußte erst von anderer Seite in Schwung gebracht werden, während von Ludwig von Lücke seit 1758 überhaupt nicht mehr die Rede ist.

Hiermit schließt in der Geschichte der Keramik die Laufbahn dieses merkwürdigen Mannes, der, wenn man die im Vorhergehenden zusammengestellten Nach¬ richten vorurteilsfrei und unbefangen prüft, sich als eine höchst leichtfertige, unverträgliche und künstlerisch durchaus unbefähigte Persönlichkeit zu erkennen giebt, als eine jener Glücksritter- und Hochstaplergestalten, wie sie das 18. Jahrhundert in so großer Zahl hervor¬ gebracht. Ruhelos und unstät wandert Lücke umher, bald hier, bald dort anklopfend, aber überall, wo er, prahlend mit seinem Adelsprädikat und allen möglichen stolzklingenden Titeln, seine Dienste anbietet, gar bald als unfähig erkannt und schleunigst wieder entlassen. Wie ein solcher Mann ernsten künstlerischen Aufgaben überhaupt hat gewachsen sein können, begreift man unter diesen Umständen nur schwer; wie er aber vol¬ lends mit einem so hervorragenden Künstler, wie dem Meister des oben erwähnten Dresdener Kruzifixes und der eben dort befindlichen Gruppe der „Wiedererweckung der Kunst“ identifizirt werden kann, ist erst recht nicht zu verstehen. Es erscheint fast unmöglich, dass ein Mann

1) Vergl. C. Nyrop, Den Danske Porcellaensfabrikations Tilbliven. Kopenhagen 1878. p. 17ff.; E. v. Ubisch, Kunst¬ gewerbeblatt. N. F. V, p. 214; J. Brinckmann, Führer durch das Hamburger Museum, p. 457.

2) Schleswig und Flensburg, wo sich Lücke gleichfalls zeit¬ weise aufhielt, gehörten damals zu Dänemark. Wir müssen also annehmen, dass er nicht beständig in Kopenhagen war, sondern im Lande umherzog und bald hier bald dort Auf¬ enthalt nahm.

3) Siehe J. Brinckmann a. a. 0. p. 365.

wie Lücke, der 1729 wegen Unbrauchbarkeit mit Schimpf und Schande die Meißener Manufaktur verlassen mußte, acht Jahre später so wundervolle Werke wie die eben genannten hätte hervorbringen sollen, und ferner, dass derselbe Mann schon wenige Jahre nach seiner schmach¬ vollen Entlassung unmittelbar am Orte seiner ersten unrühmlichen Thätigkeit zu der angesehenen Stellung eines Hofstall- und Kunstkabinettbildhauers sich hätte emporschwingen sollen.

Und doch, so sehr man sich auch dagegen sträuben und so wenig überzeugend dies auf den ersten Blick erscheinen mag, es läßt sich nach Ausweis der Akten kaum daran zweifeln, dass beide identisch, dass der Modelleur und Arkanist Johann Christoph Ludwig Lücke und der Elfenbeinschnitzer dieses Namens ein und die¬ selbe Person gewesen.

Allerdings kann man eine so merkwürdige Er¬ scheinung, einen so zwitterartigen Charakter nur dann verstehen und begreifen, wenn man ihn aus der Eigen¬ art der Zeitverhältnisse erklärt und im engsten Zu¬ sammenhänge mit der Kultur und den Sitten jener Epoche betrachtet. Nur auf dem Boden einer Zeit, in der Alchimisten und Pozellanlaboranten die Lande durch¬ zogen, um an Fürstenhöfen ihre Geheimnisse anzubieten, und Betrüger aller Art den Ehrgeiz und die Leicht¬ gläubigkeit der Großen planmäßig ausbeuteten, konnte ein Mann, so voller Gegensätze und Widersprüche, wie dieser Lücke, erwachsen, der sich in der Geschichte der Keramik als einen unfähigen Vaganten und Abenteuern’, in der Kunst der Elfenbeinschnitzerei hingegen als einen der tüchtigsten Meister des 18. Jahrhunderts zu erken¬ nen giebt. Auf letzterem Felde wollen wir sein Leben zunächst weiter verfolgen.

Im Königl. Sachs. Staatsarchiv *) befindet sich Loc. 379 Bl. 29. 30 ein Gesuch des Bildhauers Job. Christoph Ludwig Lücke vom 7. Juli 1733, worin es u. a. heißt, der verstorbene König habe seine Arbeit zu verschiede¬ nen Malen für das Grüne Gewölbe angenommen und ihm die vakante Balthasar’ sehe Pension2) und Versorgung verheißen; auch habe er selbst, um in Dresden bleiben zu können, ein Anerbieten des Weimarer Hofes abge¬ lehnt, obwohl er dort als Hofbildhauer und auch in Eng¬ land, wohin er mit königlicher Unterstützung hätte reisen dürfen, seinen guten Unterhalt gefunden haben würde. Am Schlüsse bittet er dann um die obener-

1) Auszüge aus den Akten des Sächsischen und Schwe¬ riner Archivs, sowie ein reiches Material an Notizen und litterarischen Bemerkungen verdanke ich der Freundlich¬ keit des Herrn Dr. E. von Ubisch, Direktors des Zeug¬ hauses in Berlin, der mir dieses von ihm vor einiger Zeit gesammelte Material in der bereitwilligsten Weise für meine Arbeit zur Verfügung stellte, wofür ich ihm an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank sage.

2) Es ist hier offenbar Balthasar Permoser gemeint, der 1732 zu Dresden starb.

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wähnte Pension sowie um 65 Dukaten, die er für ge¬ lieferte Büsten noch zu erhalten habe.

Drei Jahre später, am 8. November 1736, richtet derselbe Lüche ein zweites Gesuch ähnlichen Inhalts an den König, worin er wiederum auf seine mehrjährigen Reisen in England, Holland und Frankreich zu sprechen kommt, von seiner früheren und jetzigen Thätigkeit als Elfenbeinschnitzer und Marmorbildner berichtet, seine Ernennung zum „Stall-Bilthauer“ hervorhebt, und schlie߬ lich in Berücksichtigung der schlechten Zeiten und sei¬ ner ärmlichen Lage nochmals um Einlösung jenes schon früher erwähnten Versprechens des verstorbenen Königs bittet, damit er im Lande bleiben könne; zugleich über¬ reicht er zum Beweise seiner Kunstfertigkeit eine Gruppe in Elfenbein, darstellend „die Zeit, wie sie die gefallene Kunst hebet“, von der noch weiter unten die Rede sein wird. Nachdem man ihn schon 1734 auf ein Gesuch um Erteilung eines Privilegiums für die von ihm in Wachs und Gips zu verfertigenden Porträts en bas relief, damit vertröstet hatte, die Sache solle noch weiter untersucht werden, erhielt er auch auf sein letztes Gesuch nur die unbestimmte Antwort, er möge Geduld haben. Inzwischen scheint sich aber, trotz mehrfacher äußerer Erfolge, seine materielle Lage nicht gebessert zu haben, und offenbar haben weder die ihm verliehenen Titel 1742 führte er das Prädikat „Kunst¬ kabinettsbildhauer“ noch die poetische Verherrlichung seiner Werke noch auch der klingende Lohn, den er dafür er¬ hielt, ihm und den Seinen eine aus¬ kömmliche Existenz zu bereiten ver¬ mocht. Daher sehen wir ihn, wie sich aus den im Großherzoglichen Hauptarchiv zu Schwerin auf bewahrten Akten ergiebt, zeitweise nicht allein für den Dresdener, sondern auch für den mecklen¬ burgischen Hof beschäftigt, in dessen Diensten sein Bruder Karl August Lücke gerade damals als Bildhauer thätig war. So heißt es z. B. in einem Promemoria vom 18. Oktober 1742 für den Kabinettbildhauer Lücke aus Dresden, er „solle alle Viertel Jahr ein Kopf en bas relief aus Elfen¬ bein so groß, wie sein Bruder hier macht und den vor¬ zustellenden Affeckt“ anfertigen, oder „3“ hohe en buste gemachte Brustbild mit Piedestal, für die ihm alle '/4 Jahr versprochenen Dukaten“, wofür er dann auch alle Kommissionen in Dresden übernehmen müsse. Aller¬ dings scheinen seine Beziehungen zum Schweriner Hofe nur von kurzer Dauer gewesen zu sein; denn sei es, dass Lücke’s Leistungen den Herzog nicht befriedigt oder dass Intriguen und Verleumdungen das Ver¬ hältnis zwischen Beiden getrübt haben, genug, in einem letzten Briefe von 15/3. 1743 macht Lücke seiner Wut

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. II. 5.

gegen seinen Bruder Luft, der neidisch auf ihn sei und ihn zu vernichten trachte, weil dessen Werke weniger schön seien als seine eigenen. Von diesem Zeitpunkt an scheint der Künstler nicht mehr für den Schweriner Hof gearbeitet zu haben und erst im Jahre 1749 suchte der mecklenburgische Geheimsekretär Ruhland (?) bei seiner Anwesenheit in Dresden wieder von neuem doch ohne Erfolg mit demselben anzuknüpfen.

Dieses Jahr 1749 bildet den Abschluß der ersten Periode im Leben dieses merkwürdigen Künstlers. Er beginnt, um die Hauptpunkte nochmals kurz zu wie¬ derholen, seine Laufbahn als Modelleur in Meißen, muß aber wegen Unbrauchbarkeit in diesem Fache entlassen werden und wendet sich nunmehr der in der Familie heimischen Kunst der Elfeniteinschnitzerei zu, die er offenbar schon vor seiner Meißener Thätigkeit ausgeübt und wohl nur zu Gunsten dieser letz¬ teren, von der er sich einen größeren Gewinn versprochen haben mochte, eine Zeit lang aufgegeben hatte. Seine Ar¬ beiten verschaffen ihm die Gunst des Königs und eine Reiseunterstützung, die ihn in den Stand setzt, England, Holland und Frankreich aufzusuchen. Zurückgekehrt läßt er sich wieder in Dresden nieder und verfertigt hier, vorzugsweise für den Hof beschäftigt, eine große Zahl meisterhafter Werke, die zum Teil noch heute erhalten sind.

Ihnen wenden wir uns nunmehr zu, um alsdann im Anschluß an die¬ selben nochmals auf das Leben des Künstlers zurückzukommen. Da eine zeitliche Ansetzung seiner erhaltenen Arbeiten nur zum Teil möglich ist, dürfte es sich aus verschiedenen Grün¬ den empfehlen, dieselben lieber auf Grund ihrer Signaturen zu gruppiren.

Das Werk, das die vollständigste Bezeichnung trägt, wurde bereits am Eingänge dieses Aufsatzes kurz er¬ wähnt. Es ist das im Jahre 1737 vom Künstler zu Dres¬ den verfertigte und jetzt im Grünen Gewölbe befind¬ liche Kruzifix, eine Arbeit von hohem Kunstwert, die sich aus der Fülle ähnlicher, meist handwerksmäßig her¬ gestellter Werke, wie sie das 17. und 18. Jahrhundert zum Schmucke der Altäre hervorgebracht, vorteilhaft heraushebt und neben einer feinen, hier und da natu¬ ralistischen Durchbildung der Formen eine tiefe, seelen¬ volle Auffassung bekundet. Welch tiefen Eindruck dieses Werk schon zurZeit seines Entstehens machte, und wie hoch man damals die Kunst des Meisters überhaupt schätzte, beweisen die Verse, die Mierander demselben widmete: ')

1) Beschreibung des Grünen Gewölbes zu Dresden Auflage. 1739. S. 30.

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Fig. 2. Herkules von J. Chr. L. Lücke. Braimsekweig, Herzog!. Museum.

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„Du hast Dich zwar, berühmter Lück, vor allen Künstlern hoch geschwungen,

Doch ist nach Dir kein Meisterstück so gut, als dieses Bild gelungen,

Dadurch der Heyland aller Welt, wie er vor uns am Kreuz gestorben,

Tn Elfenbein wird vorgestellt, damit hast Du mehr Ruhm erworben,

Als durch das schnöde Venusbild Praxiteles im Griechen Lande

Beim blinden Heidentum erhielt, denn solches diente nur der Schande.

Hier aber hat sich Kunst und Fleiß mit der Devotion ver¬ bunden

Darum behältst du auch den Preis und hast, was Du ge¬ wünscht gefunden.

So fahr denn fort, gepriesener Lück! dergleichen ferner zu bereiten

So wird Dich Reichtum, Ehr und Glück nach Würden bis ins Grab begleiten.“

Gleich ausgezeichnet scheint ein zweites Kruzifix gewesen zu sein, das im „Catalogus der Rariteiten van Pieter Locquet, Amsterdam 1783, Nr. 64“ als eine Arbeit J. C. oder J. C. L. Lücke 's beschrieben wird, ') und weiter¬ inn eine im Auktionskatalog der einstmals hochberühmten Sammlung Gerrit Braamcamp, Amsterdam 1771, Nr. 33 aufgeführte Kreuzigungsgruppe mit allegorischen Ge¬ stalten,1 2) die dann später wieder von Füssli in seinem Allg. Künstlerlexikon 1779, p. 380 als ein Werk J. C. L. Lücke’ s erwähnt wird. Man wird kaum fehlgehen, wenn man in dem Meister beider, wie es scheint, verscholle¬ ner Werke den Dresdener Hofbildhauer wiedererkennt, dessen Spezialität gerade derartige größere Gruppen in Elfenbein gewesen zu sein scheinen. Denn auch ein weiteres W erk im Grünen Gewölbe, das eine allegorische Gruppe „Die Wiedererweckung der Kunst“ darstellt und mit „I. C. L. LÜCKE“ bezeichnet ist,3) ist uns bereits als eine Arbeit von der Hand desselben Künstlers aus dem Jahre 1736 begegnet. Es ist die 25 cm hohe Gruppe dreier Figuren (Fig. 1 ), eine Kronosartige männliche Gestalt von muskulösem Körperbau mit kahlem Schädel und wild flatterndem Barte, die eine auf einem Globus sitzende, nur unterwärts leicht von einem Mantel bedeckte Mäd¬ chengestalt im Arme hält, und daneben ein weinender Knabe mit Malergerät, das Ganze in Komposition und Charakter verwandt mit jenen, in der damaligen Zeit so sehr beliebten Raptusdarstellungen, mit denen es die Kühnheit im Aufbau, das Leidenschaftliche in den Bewegungen und das Malerische in der Gesamtanord¬ nung teilt. Dazu kommt die wundervolle Durchführung im Einzelnen, das sichere anatomische Verständnis, das

aus der kraftvollen Muskulatur des männlichen wie aus der weichen Formengebung des weiblichen Körpers spricht, und schließlich auch die Virtuosität, mit der der Künstler Stoff und Technik beherrscht. Es ist ein in jeder Beziehung charakteristisches und vorzügliches Werk.

Im Zusammenhang mit den bisher genannten Ar¬ beiten wäre dann noch eine Gruppe von zusammenge¬ wachsenen Zwillingen im Grünen Gewölbe zu erwähnen, die nach einer beigegebenen Erklärung im Jahre 1742 vom Künstler angefertigt wurde und deren lebensgroßes Gipsmodell sich heute im Stadt. Museum zu Dresden be¬ findet. *)

Diesen größeren gruppenartigen Werken des Künst¬ lers schließt sich eine Reihe kleinerer Arbeiten an, die nicht nur dasselbe stilistische Gepräge haben, sondern auch in der Signatur fast genau mit einander über¬ einstimmen. Es sind zum größten Teil Reliefs, fast alle mit dem Monogramm bezeichnet, das, wie es scheint, aus den Buchstaben C. L. und J., den Anfangsbuch¬ staben der Vornamen des oben erwähnten Johann Christoph Ludwig Lücke, zusammengesetzt ist. Selbst¬ verständlich muss das L. da, wo das Monogramm, wie fast in allen Fällen, allein ohne den Zunamen vorkommt, auch zugleich den letzteren vertreten, da der Künstler unmöglich nur aus den Anfangsbuchstaben seiner ver¬ schiedenen Vornamen sein Monogramm gebildet haben wird.

Die vollständige Signatur d. h. das Monogramm mit dem Zunamen, wie neben-

k stehend, trägt nur ein Werk, das, zumal es auch das einzige Rundbildwerk der ganzen Gruppe ist, hier vorangestellt sei. Es ist die im Be¬ sitze des Hamburgischen Museums für Kunst und Ge¬ werbe befindliche kleine Büste des 1750 verstorbenen Hamburger Bürgermeisters David Doormann, die den Dargestellten, einen bartlosen Herrn mit Allongeperücke und weitem, faltigem, vorn zugeknöpftem Mantel, in seinen letzten Lebensjahren wiedergiebt und demgemäß zwischen 1745 und 50 entstanden sein wird.2)

Alle übrigen Werke tragen, wie schon gesagt, nur das einfache Monogramm; so zunächst drei Arbeiten im Grünen Gewölbe, nämlich „die (zum Kreuze) aufwärts blickenden Köpfe der Maria und des Evangelisten Johannes“ (Nr. 348, 350), zwei Reliefs auf schwarzem Grund in Holzrahmen; sodann ein Kopf der Diana im Profil nach links und schließlich ein ovales Medaillonbildnis von König August III. (Nr. 62), von dem sich ein zweites Exemplar in den Königl. Museen zu Berlin befindet (Nr. 746), das den König im Profil nach links darstellt,

1) Siehe Chr. Kratnm, de Levens en Werken der hol- landsche en Vlaamsche Kunstschilders u. s. w. T. 3, 4,

p. 1022.

2) Siehe Kramrn a. a. 0.

3) Siehe Erbstein a. a. 0., p. 5, Nr. 337.

1) Vergl. Sächsisches Kuriositätenkabinett 1742, p. 383.

2) Siehe J. Brinckmann a. a. 0., p. 724. Eine Photo¬ graphie dieser Büste und die Pause der Signatur verdanke ich der Güte des Herrn Dr. F. Deneken.

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die Brust mit Küraß und Hermelin bedeckt, das Haar der Perücke durch ein Kopfband zusammengehalten. !) Gestützt auf die stilistische Ähnlichkeit mit jenen bei¬ den Köpfen (Nr. 348, 350) hat man dann ferner noch drei unbezeichnete Werke im Grünen Gewölbe, nämlich die „Brustbilder eines Knaben undeines Mädchens“ (Nr. 227, 229) sowie das „Brustbild der Lukretia (Nr. 140)“, stark erhobene Arbeiten auf schwarzem Sammetgrunde, mit ziemlicher Sicherheit demselben Künstler zuweisen kön¬ nen. Dasselbe glaube ich endlich auch von drei im Großherzoglichen Museum zu Schwerin befindlichen Ar¬ beiten annehmen zu dürfen, von denen die eine das Medaillonbrustbild einer gekrönten Fürstin mit der Signatur „Lvck fe.“ versehen ist,2) während die zweite ein kleines, der Grundlage entbehrendes Reliefporträt des Grafen Harcolini auf Grund eines alten gleich¬ zeitig geschriebenen Zettels dem Lücke beigelegt wird, und die dritte „Ein goldener Rink, worauf! der König und die Königin von Sachsen in Elfenbein geschnitten von Liick“ sich in leichte und ungezwungene Ver¬ bindung mit einer Stelle aus dem Promemoria bringen lässt, das dem Kabinettbildhauer Lüche aus Dresden am 18. Oktober 1742 vom mecklenburgischen Geheim¬ sekretär Ruhland (?) übersandt wurde und worin es Punkt 6 heißt , er solle „nach dem en bas relief pousirten Brustbilde S' 4 kleine Porträts von Hirsch-Zahn, in den Ring zu fassen“ machen. Wie bei den zuvor ge¬ nannten, so trage ich, angesichts dieser gewichtigen Be¬ weismittel, auch bei diesen drei Werken kein Bedenken, sie unserm Joh. Christoph Ludwig Lücke zuzuweisen.3)

Nicht ganz so sicher glaube ich dagegen bei einer

1) Über dieses und die andern, weiter unten erwähnten Werke des Meisters in den Berliner Museen hat mir Herr Professor Dr. von Tschudi Näheres mitgeteilt, dessen Freund¬ lichkeit ich auch die Photographieen von drei derselben verdanke.

2) Doch könnte dieses Werk auf Grund einer gewissen Übereinstimmung in der Signatur möglicherweise auch in die zweite Schaffensperiode dieses Lücke zu setzen sein.

3) Genaue Mitteilungen über diese, sowie andere im Schweriner Museum befindliche Arbeiten dieser Künstler hat s. Z. Herr Hofrat Dr. Schlie an Herrn Dr. von Ubisch ge¬ macht. Zu dieser Gruppe von Arbeiten des Meisters dürfte auch das, wie es scheint, verschollene Hochrelief einer Ju¬ dith gehören, das einst dem Rödinger Museum in Hamburg angehörte und im „Verzeichnis über das von weiland dem Herrn Oberalten Peter Friedrich Röding hinterlassene Kunstmuseum, Hamburg 1847“ folgendermaßen beschrieben wurde: „694. Judith in einer Hand das Schwert, in der anderen Holofernes’ abgeschlagenes Haupt emporhaltend; Halbfigur, meisterhaft in Hautrelief geschnitten, aus einem Stücke, angeblich dem Schulterblatte eines Rhinoceros, dessen Textur im Kopfe des Holofernes im natürlichen Zustande erscheint, wogegen die Figur der Judith bemalt ist und mit Gold verziert. Einer handschriftlichen Notiz auf der Rück¬ seite zufolge, von Lücke verfertigt. 12 und 13 Vs Zoll in einem Rahmen von Schildkrot, Ebenholz und Elfenbein mit Flammleisten.“

andern Gruppe von Arbeiten zu sein, die man ebenfalls mit dem Künstler in Beziehung zu bringen versucht hat. Ich zähle dieselben, soweit sie mir bekannt ge¬ worden sind, zunächst hier auf. Es sind folgende:

1. Nackter Jüngling in der Stellung des Borghe- sischen Fechters.

2. Herkules mit Keule und Löwenfell. (Fig. 2.)

3. Merkur mit Geldbeutel und Stab, frei nach Giovanni da Bologna behandelt.

4. Venus in der Stellung der Medicäischen. Sämtliche vier Figuren, die etwa 0,100 hoch sind und sich im Herzoglichen Museum zu Braunschweig befin¬ den,1) zeichnen sich durch eine große Zierlichkeit und etwas manierirte Formenbehandlung, vor allem in der Muskulatur der nackten Körper, aus. Zwei derselben (1. 2) tragen an der Unterseite der Elfenbeinpostamente den mit vergilbter Tinte aufgeschriebenen Namen Luiclc , während sich drei von ihnen (1. 3.4) als Wiederholungen im Besitze des Freiherrn Karl Rolas du Rosey befun¬ den zu haben scheinen, dessen umfangreiche Kunstsamm¬ lung im Jahre 1863 zu Dresden unter den Hammer kam. Im Katalog derselben werden nämlich I. Abteil. Nr. 1624 26 3 Figuren aufgeführt, die, wie es scheint, den oben genannten ähnlich waren und von „Johann Lücku verfertigt sein sollten. Das Gleiche wurde von mehreren anderen Elfenbeinwerken behauptet: einem, auf einem Warenballen stehenden Merkur (1623), ferner der Gruppe zweier Figuren, die Zeit darstellend, welche die Schönheit entführt (1627), sodann einem Scaramuz in Soldatenkostüm, der seinen Hut mit einem Pistolenschuss durchbohrt (1628), und endlich von zwei fast vollrunden Hochreliefs (1698. 1699), von denen das eine ebenfalls einen Scaramuz darstellte, „mit dem höhnenden italieni¬ schen Geste, den Daumen zwischen den Zähnen haltend“, das andere als Gegenstück eine ebensolche Figur, „das Pistol auf seine Brust abdrückend, aber nur den Hut durchbohrend.“ Von letzteren beiden Reliefs besitzt das Grüne Gewölbe Wiederholungen, die, wie das auch von jenen hervorgehoben wird, ausgeschnitten, auf schwarzem Sammet befestigt und eingerahmt sind und als „anschei¬ nend von Lücke“ bezeichnet werden.2) Diese Zuweisung mag vielleicht das Richtige treffen; doch dürfte es immerhin fraglich sein, ob wir den Meister dieser bei¬ den Reliefs wirklich in der Person des Dresdener Elfen¬ beinschnitzers oder nicht vielmehr in einem andern Mit- gliede der Familie Lücke zu suchen haben werden. Zu dieser Annahme veranlasst mich nämlich die Thatsache, dass das Schweriner Museum zwei oblonge Tafeln in Hochformat besitzt, auf denen „fast in Vollfigur“ „zwei militärisch kostümirte Harlekine“ dargestellt sind, „der eine sich geberdend, wie wenn er die Pistole zum An¬ schlag auf seinen Gegner wenden werde, der andere

1) Vgl. den Führer, p. 225 ff., Nr. 173—176.

2) Siehe Erbstein a. a. 0., p. 3, Nr. 138. 139.

14*

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angstvoll den Daumen lutscliend.“ Da diese Schweriner Reliefs, die ich leider nicht aus eigener Anschauung kenne und von denen das eine auf der Rückseite „C. A. Llick Fee“ bezeichnet ist, in der Art der Arbeit wie auch in den Darstellungen mit den Dresdener bezw. den du Rosey- schen übereinzustimmen scheinen, liegt die Vermutung nahe, dass auch diese letzteren von demselben Künstler herrühren, den wir als den Bruder unseres Job. Christoph Ludwig noch weiter unten kennen lernen werden.

Was aber die übrigen, oben erwähnten Arbeiten anbetrifft, so wird man sich, so lange der Aufbewahrungs¬ ort jener Elfenbeine der Sammlung du Rosey nicht fest¬ gestellt und die Möglichkeit einer Prüfung obiger An¬ gabe über den Meister gegeben worden ist, nur mit

auch die vier Braunschweiger Statuetten jenem Kiiustler zuzusprechen sein, wenn anders die Aufschrift Luick, die einen durchaus unverdächtigen Eindruck macht und ohne Zweifel alt ist, für gleichbedeutend mit dem Namen Lücke gehalten werden kann.1) Dialektisch weist diese Auf¬ schrift auf Holland hin, und wir kennen mehrere Künstler dieses Landes , die den Namen Luick (Luyck) führten. Wenn aber Ivramm in seinem oben erwähnten Künstler¬ lexikon, p. 1022, aus einer gewissen Ähnlichkeit beider Namen auf eine Verwandtschaft des Bildhauers Luick mit dem Antwerpener Maler Franz Leux schließen zu dürfen geglaubt, so möchte er doch hierin zu weit gegangen sein ; wohl aber kann der Name Lücke, ins Holländische übertragen, nach einem ganz natürlichen Wortbildungs-

Fig. 3. Schlafende Schäferin von Ludwig von Lücke. München, Bayer. Nationalmuseum

einer gewissen Vorsicht über ihren Urheber äußern können. Doch dürften dieselben meines Erachtens, wenn sie in der That von einem Lücke herrühren, nach dem ganzen Charakter der Arbeit, an der besonders das Zierliche und die übertriebene Wiedergabe der Musku¬ latur betont wird, mit einem hohen Grade von Wahr¬ scheinlichkeit dem Dresdener Hofbildhauer zugeschrieben werden. Denn für diesen ist gerade die sorgfältige und fast peinliche Detailbehandlung bezeichnend, wie sie uns an den schon genannten Werken entgegentrat; auf ihn würde vor allem auch die Gruppe der „Zeit, welche die Schönheit entführt“, vorzüglich passen, die wir uns ähn¬ lich komponirt wie seine „Wiedererweckung der Kunst.“ im Grünen Gewölbe denken dürfen.

Unter dieser Voraussetzung würden dann natürlich

prozess Luik = unser Luke gelautet haben. Wie dem aber auch sei, jedenfalls wird diese dialektische Namensänderung nur dann recht verständlich, wenn wir annehmen, dass der Künstler dieselbe infolge eines, sei es längeren oder kürzeren Aufenthaltes in Holland vorgenommen habe. Dass Joh. Christoph Ludwig Lücke wirklich in Holland gewesen ist, haben wir bereits oben aus seinen eigenen Worten erfahren; allein auch aus

1) Das scheint kaum zweifelhaft, da sich Lücke auch in einem Briefe (siehe Schweriner Akten) einmal C. A. Luick unterzeichnet. Überhaupt wird die verschiedene Schreib¬ weise des Namens nicht sehr in Betracht kommen können, da Fälle genug bekannt sind, in denen Künstlernamen, sei es aus dialektischen Gründen, sei es aus Missverständnis mit größter Willkür, sogar vom Künstler selbst, geschrieben werden.

STUDIEN ZUR ELFENBEINPLASTIK DES IS. JAHRHUNDERTS.

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seinen Werken können wir auf einen Aufenthalt in diesem Lande sclüiessen, da wir bereits zwei Arbeiten seiner Hand als ehemals in holländischem Privatbesitz befindlich kennen gelernt haben, wozu Kramm a. a. 0. noch eine dritte als in seinem eigenen Besitze vorhan¬ den erwähnt, nämlich ein ovales Medaillonbildnis, das vermutlich den Amsterdamer Bürgermeister Hermann van de Poll darstellte und mit J. C. Lück bezeichnet war. Soviel über diese Gruppe von Arbeiten und ihren Urheber, in dem den Meister Johann Christoph Lud- icig Lücke zu erkennen, uns kaum noch ein triftiger Grund verbietet.

Es bleiben sodann noch einige weitere Werke übrig, die ich, wenn sie auch eine etwas andere Bezeichnung tragen, doch aus verschiedenen Gründen demselben Meister zuschreiben und zwar in die zweite Periode seines Schaffens versetzen zu müssen glaube. Diese zweite Periode, die mit dem Jahre 1750 beginnt, ist die Zeit des Wanderns, wo aus dem sesshaften Künstler ein vagirender Abenteuerer geworden, der, von der Sucht nach Reichtum und Gewinn getrieben, die heimische Scholle verlässt, um, dem allgemeinen Zuge der Zeit folgend, als Porzellanmacher sein Glück zu versuchen.

Freilich trat er nicht völlig unvorbereitet an diesen Beruf heran; hatte er doch in Meißen und Dresden an der dortigen Manufaktur gelernt und wenn auch, wie wir sahen, seine Thätigkeit ein wenig glänzendes Ende fand, so mag er doch wohl nebenher Gelegenheit genug gehabt haben, sich einige Kenntnisse in der Bereitung des Porzellans zu erwerben, die er nunmehr verwerten zu können glaubte. So fanden wir ihn zunächst kurze Zeit in Wien als „Modellmeister“ beschäftigt; von da nach Hamburg übergesiedelt, stattet er bald darauf, wie es heißt, in Begleitung eines jüngeren Bruders,1) Fürsten¬ berg einen flüchtigen Besuch ab und taucht schließlich im Jahre 1752 in Kopenhagen auf, um dort und in andern Städten Dänemarks gemeinsam mit seinem Sohne in fruchtlosen Versuchen mit Bereitung von Porzellan und Fayence Zeit und Geld, das man ihm willig dar¬ bot, zu vergeuden.

Merkwürdigerweise hat er sich aber inzwischen den Adelstitel beigelegt: aus dem bürgerlichen Joh. Christoph Ludwig Lücke ist plötzlich man weiß nicht wie und woher ein Ludwig von Lücke geworden. Man würde an der Identität beider zweifeln können, wenn nicht gewichtige Zeugnisse dieselbe ausdrücklich erwiesen. Zunächst zeigt ein im Schweriner Archiv befindlicher, mit „Hamburg d. 10. April 1767“ datirter Brief dieses Ludwig von Lücke , wie Herr Dr. von Ubiscli bemerkt, genau dieselbe Handschrift wie die Briefe jenes Dresdener Künstlers; sodann aber und das betrachte ich als den Hauptgrund ist in dem

1) Es kann dies nur der weiter unten erwähnte Karl August gewesen sein.

Dresdener Hauptarchiv ein Gesuch desselben Ludwig von Lücke vom 8. August 1767 (A. Loc. 11 103. 1767 Bl. 1) erhalten, in dem er eine Bildhauer - Fabrik an- legen zu wollen erklärt und zu diesem Zweck um 1000 Thaler Vorschuss und ein Haus bittet, da er sich entschlossen habe, in Sachsen sich wieder nieder zu lassen. In diesem Gesuche hebt er ausdrücklich her¬ vor, dass er beim Großvater und Vater des jetzigen Herrschers als Kunst- und Kabinettbildhauer in Diensten gestanden, sich an verschiedenen auswärtigen Höfen, wie in Dänemark und England aufgehalten und die in letzterem Lande beliebte Papiermache-Arbeit erlernt habe, und macht schließlich auf seine Elfenbeinarbeiten im König]. Kunstkabinett aufmerksam, die seine Tüchtig¬ keit in dergleichen Sachen bezeugen könnten. Aus diesem Gesuch , das übrigens von Xaver , dem damaligen Administrator Sachsens, bewilligt wurde, erhellt mit Sicherheit, dass Joh. Christoph Ludwig Lücke und Lud¬ wig von Lücke identisch gewesen sind; freilich wird dadurch noch nicht erklärt, wie und von wem ihm der Adelstitel verliehen wurde, ob er ihn vom säch¬ sischen oder dänischen Hofe erhalten hat. Denn dass er denselben thatsächlich besessen und sich nicht etwa eigen¬ mächtig beigelegt hat, dass er ferner trotz seiner notorisch geringen Erfolge auf keramischem Gebiete gerade auch zum dänischen Hofe in näherer Beziehung gestanden haben muss, beweisen sowohl seine Briefe als auch vor allem seine Werke.

Unter letzteren nenne ich an erster Stelle ein in den Sammlungen der dänischen Könige im Schlosse Rosenborg in Kopenhagen befindliches Elfenbeinwerk, das, wie mir auf meine Anfrage Herr Inspektor Dr. P. Brock gütigst mitteilte, den mit dem Elefantenorden und einem Stern geschmückten Erbprinzen Friedrich, Sohn König Friedrichs V., als Wickelkind darstellt und die Bezeichnung „L. von Lücke fecit“ trägt. Diese 0,180 lange Figur muss, da jener Prinz 1753 geboren wurde, noch in diesem oder in dem darauffolgenden Jahre entstanden sein; der Künstler aber scheint, da man ihm kurz nach seiner Übersiedelung nach Kopenhagen eine solche Aufgabe anvertraute, ein gewisses Ansehen genossen und vielleicht sogar die Stelle eines Hofbildhauers am dänischen Hofe bekleidet zu haben. Diese Vermutung erhält eine gewisse Stütze durch den Umstand, dass in einem um 1800 angefertigten Inventar des Herzogi. Mu¬ seums zu Braunschweig (D, p. 119, Nr. 199) ein „Brustbild Friedrich des Fünften Königs von Dannemark von Bisquit- Porcellaine en relief“ angeführt wird, mit der Bemerkung „1754 zu Flensburg von Lud. von Lücke verfertigt.“ Ist auch das Werk selbst verloren, so genügt doch seine Beschreibung in Verbindung mit der eben genannten Figur in Rosenborg, um obiger Annahme einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Möglicherweise hat Lücke seine Misserfolge als Keramiker durch seine Arbeiten in Elfenbein und Thon wieder wett zu machen

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PETER PAUL RUBENS.

verstanden, sodass er diesen Arbeiten,1) an denen der König besonderes Wohlgefallen gefunden zu haben scheint, nicht nur die schon oben erwähnte Pension, sondern vielleicht auch sogar das Adelsprädikat zu ver¬ danken gehabt hat, wenn er, was wahrscheinlicher ist, dieses letztere nicht schon früher vom sächsischen Hofe erhalten hatte. Doch wie dem auch sei, jedenfalls war auch in dieser zweiten Periode seines Lebens seine Geschicklich¬ keit in der künstlerischen Behandlung des Elfenbeins nicht erlahmt, wie uns ein zweites, wohl damals ent¬ standenes Werk des Künstlers glänzend bestätigt, näm¬ lich die im Bayerischen Nationalmuseum zu München be¬ findliche Figur einer schlafenden Schäferin (Nr. 230, Saal 18). 2) (Fig. 3) Das mit einem Hemd nur lose bekleidete, fast

1) Von Arbeiten des Künstlers in Schleswig- Holstein werden in Haupt’s Bau- und Kunstdenkmälern dieser Pro¬ vinz II, p. 535 geschnitzte Sachen des „berühmten von Lyk“ erwähnt, die zur Ausstattung des Gutes Jersbeck gehörten. Weitere Arbeiten des Künstlers aus dieser Gegend sind mir nicht bekannt geworden.

2) Genauere Mitteilungen über diese Figur verdanke ich der Direktion des Bayer. Nationalmuseums; eine gute Photographie derselben hat Herr Hofphotograph Teufel in München angefertigt.

nackte Mädchen liegt, den Kopf auf den rechten Arm gestiizt, auf einem vergoldeten und polychromirten Rokokoruhe- bett aus Holz, an welchem ihr Hirtenstab lehnt. Die Formen des jugendlichen Körpers sind zart und delikat, die Züge des Kopfes merkwürdig individuell und fast porträtmäßig, sodass die ganze Figur einen außer¬ ordentlich lebendigen Eindruck macht, der durch die farbige Behandlung einzelner Teile, wie Mund, Augen¬ brauen, Haar, Hutbänder u. s. w. noch wesentlich verstärkt wird. Auf der Innenseite einer Gewandfalte findet sich in demselben Schriftcharakter wie bei der Figur in Rosen¬ borg die Bezeichnung des Künstlers, die, soweit sie lesbar ist, ,.. . . wig von Lücke fecit“ lautet. Wie und wann dieses vorzügliche Werk nach München gekommen ist, habe ich nicht in Erfahrung bringen können; der Charakter desselben und seine für eine Einzelfigur un¬ gewöhnliche Größe es ist gegen 0,400 lang unter¬ scheidet es merklich nicht nur von anderen figürlichen Elfenbeinarbeiten, sondern auch von den oben genannten Werken des Meisters.

Hiermit verlassen wir denselben vorläufig, um uns zunächst auch den übrigen Gliedern dieser Künstler¬ familie zuzuwenden.

(Schluss folgt.)

PETER PAUL RUBENS.

VON ADOLF ROSENBERG.

MIT ABBILDUNGEN.

V. Die ersten Jahre in Antwerpen 1608 1612.

LS Rubens am 28. Oktober 1608 von Rom aus seinem Gönner Chieppio in Mantua seine schleunige Abreise nach Antwerpen meldete mit dem Versprechen, baldigst wieder zurückzukehren, weilte seine Mutter nicht mehr unter den Lebenden. Bereits am 19. Oktober hatte die mutige Frau, deren ganzes Leben fast ein einziger Kampf um die Wohlfahrt und das Gedeihen ihrer Kinder gewesen war, ihre Augen geschlos¬ sen, und Rubens konnte nur noch an ihrem Grabe beten, ob¬ wohl er, wie die „Vita“ sagt, „citatis equis“ „auf be¬ flügelten Pferden“ oder mit Schnellpost nach Hause ge¬ eilt war. Ein arbeitsamer Mann wie er wird sich nicht lange einer unfruchtbaren Trauer hingegeben haben, und bei dieser Thätigkeit trat die Absicht seiner Rückkehr nach Italien immer mehr zurück, wenn auch die Erinnerung an Italien nicht verblasste. Zweierlei Gründe haben, wenn man der als glaubwürdig befundenen „Vita“ folgt, ihn endgültig von seiner Absicht abgebracht, trotzdem man es von Italien aus an Lockungen nicht fehlen ließ. Das Statthalterpaar, Erzherzog Albert

und Erzherzogin Isabella, wollten dem Maler, der sich durch die Ausführung der Gemälde für die Kirche Sa. Croce in Gerusalemme in Rom dem ersteren bereits empfohlen hatte, eine Gunst erweisen und bestellten bei ihm ihre Bildnisse. Sie oder das Wesen des Malers oder beides zusammen scheinen den Erzherzogen so ge¬ fallen zu haben, dass sie ihn, wie die „Vita“ sich ausdrückt, „in ihren Hofstaat aufnahmen und ihn mit goldenen Ketten fesselten“, um ihn an der Rückkehr nach Italien zu hindern. Aus der Rhetorik des Ciceronianischen Stils in die Prosa übertragen, bedeutet das soviel, dass Rubens am 23. September 1609 zum Hofmaler mit einem Jahres¬ gehalt von 500 Gulden ernannt wurde. Die „goldenen Ketten“ sind übrigens insofern buchstäblich zu nehmen, als Rubens zu gleicher Zeit eine goldene Gnadenkette erhielt, vermutlich als Entgelt für die beiden Bildnisse, die übrigens nicht mehr mit Sicherheit unter den vor¬ handenen nachzuweisen sind. Vielleicht waren es die, die der Holländer Jan Müller im Jahre 1615 gestochen hat.

Obwohl Rubens durch diese Ernennung nach da¬ maliger Sitte „in das Hofgesinde“ der Erzherzoge auf-

PETER PAUL RUBENS.

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Bauerngehöffc. Zeichnung von P. P. Rubexs im Dresdener Kupferstichkabinett.

genommen wurde und demnach verpflichtet war, in Brüssel zu wohnen, setzte er es dennoch, wie die „Vita“ ausdrücklich hervorhebt, durch, dass er zur freieren Ausübung seiner Kunst seinen Wohnsitz in Antwerpen behalten durfte. Im übrigen gewährte ihm diese Er¬ nennung noch gewisse Freiheiten, besonders eine völlige Unabhängigkeit von den Satzungen der Lukasgilde, bei der er auch nicht seine Lehrlinge anzumelden brauchte, was übrigens in Anbetracht gewisser chronologischer Schwierigkeiten für den Geschichtsschreiber zu beklagen ist. Die „goldene Fessel“ war und das ist der zweite Grund für seine Sesshaftigkeit einer zarteren und dennoch festeren gefolgt. Als Rubens sich bei seiner Rück¬ kehr nach seiner Verwandtschaft umsah, fand er nur seinen Bruder vor, der inzwischen Stadtsekretär ge¬ worden war. Dieser hatte die Tochter des Stadtsekre¬ tärs de Moy geheiratet, und daraus waren neue ver¬ wandtschaftliche Beziehungen erwachsen, in die auch Peter Paul hineingezogen wurde. Philipps Schwägerin, die Gattin des Stadtschreibers Jan Brant, hatte eine Tochter Isabella, die das Herz des jungen Malers gewann, und bald nach seiner Bestallung als Maler des erzherzoglichen Hofes in Brüssel, am 13. Oktober 1609, führte er die Braut heim. Über das Persönliche hinaus gewinnt dieses Ereignis dadurch eine große Bedeutung für die Kenntnis von Rubens’ künstlerischem Ent¬ wickelungsgang, dass sich daran das erste Bild knüpft, von dem wir sicher wissen, dass es Rubens im ersten Jahre nach seiner Heimkehr aus Italien gemalt hat. Es ist das berühmte Doppelbildnis in der Münchener Pinakothek, das ihn und seine Braut oder junge Frau unter einer Geisblattlaube sitzend darstellt. Da es gut erhalten ist, auch durch die spätere Aufleimung der Leinwand auf Holz nicht wesentlich gelitten zu haben

scheint, unterrichtet es uns so zuverlässig wie kein zweites über das Maß des koloristischen Könnens, das Rubens aus Italien mitgebracht hatte. Denn dass er seine Mal weise während eines einjährigen Aufenthalts in der Hei¬ mat nicht schon verändert haben kann, ist zweifellos. Von den in Antwerpen thätigen Malern hat ihn gewiss keiner beeinflusst; er war nicht der Empfangende, vielmehr der Gebende. Da sehen wir denn, dass er aus Italien eine starke Empfindung für das Licht mitgebracht hatte, die sich von Jahr zu Jahr zur Sehnsucht, schließlich zu inbrünstiger Liebe steigerte. Freilich besaß er da¬ mals noch nicht die Kunst und die Kraft, das Licht auf allen Lokalfarben spielen zu lassen und dann doch diese Fülle zerstreuten Lichtes durch eine gewaltige Harmonie, durch einen tiefen Grundaccord zusammen zu zwingen. Das Münchener Bild sieht allerdings , ebenso wie der sterbende Seneca in derselben Galerie und der heilige Sebastian im Berliner Museum, die ungefähr der¬ selben Zeit angehören, sehr glänzend und leuchtend in der Färbung aus. Vielleicht wird diese Leuchtkraft aber erst einer späteren Behandlung mit Firniss ver¬ dankt, der ursprünglich gedämpfte Farben stärker auf¬ gemuntert hat. Wenigstens giebt es Bilder aus dieser Zeit, die von erheblich matterer, dafür aber auch gleich¬ mäßigerer Farben Wirkung sind.

Wenn wir rückwärts blicken, ist das große Altar¬ werk in Sa. Maria in Vallicella in Rom die Arbeit, mit der wir das Doppelbildnis der Münchener Pinako¬ thek, soweit es sich um das Malwerk handelt, allein vergleichen können. Bis in den Oktober 1608 hinein hatte Rubens daran gearbeitet, in seiner Werk¬ statt, wo er sich die Lichtverhältnisse nach Belieben einrichten konnte. Die drei Bilder wurden auf Schiefer¬ platten gemalt, was damals gerade Mode geworden war,

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PETER PAUL RUBENS.

1) Die Kirche wurde gerade einer ziemlich umfassenden Restauration unterzogen. Auch wurde auf der rechten Em¬ pore über dem Chor eine neue prächtige Orgel aufgestellt. Wegen dieser Arbeiten waren alle Vorhänge, Draperieen etc. entfernt worden, so dass die Beleuchtung eine ungewöhnlich günstige war. Bei dieser Gelegenheit bemerke ich, dass Rubens’ Jugendbild in der Kirche Sant’ Ambrogio in Genua, die Beschneidung Christi auf dem Hochaltar, sich schlechter¬ dings jeder näheren Betrachtung und Beurteilung entzieht. Es wird nicht nur durch das Kreuz und die Altar¬

leuchter, sondern an hohen Festtagen auch durch hoch hinaufreichenden Blumenschmuck zum größten Teile ver¬ deckt, so dass nur wenige Einzelnheiten zu unterscheiden sind. Wenn das Bild nicht bereits, was befürchtet werden muss, völlig verdorben ist, wäre seine Rettung baldigst zu wünschen. Die lieblose Behandlung des Hochaltarbildes ist um so auf¬ fälliger, als Rubens’ Meisterwerk in derselben Kirche, das Wunder des hl. Ignatius, mit größter Sorgfalt gehütet wird und demgemäß so frisch und leuchtend wirkt, wie nur wenige der großen Altai-bilder des Meisters.

und bei diesem ungewohnten Malgrund hatte Rubens einen schweren Stand. Er malte sozusagen auf den blauen Dunst, und die Möglichkeit, gewisse Fehlgriffe an Ort und Stelle zu verbessern, wurde ihm durch seine plötzliche Abreise von Rom genommen. Er hat die Bilder denn auch nicht an ihrem Orte gesehen, und von denen, die sie später gesehen und beurteilt haben, hat sich auch niemand wegen der ungünstigen Beleuchtungsverhältnisse eine richtige Vor¬ stellung von ihnen machen können.

Erst in neuerer Zeit ist das an¬ ders geworden.

Die Kirche, die früher von engen Gassen umgeben war, liegt heute an einem freien Platze, zu dem sich der vorüber füh¬ rende Corso Vit- torio Emmanuele hier ausweitet. Es flutet also mehr Licht hinein, und wenn man zum Be¬ suche der Kirche einen sonnenhellen Frühlingsmorgen benutzt, wie er mir im April vori¬ gen Jahres be- schiedenwar, ^ge¬ winnt man von der Art, in der Rubens während seiner letzten italieni¬ schen Zeit zu ma¬ len gelernt hatte, ein ganz anderes Bild, als es bis¬ her von den Bio¬ graphen gezeich¬ net worden war.

Trotz der überaus

sorgsamen Hütung der Bilder sind die Farben freilich etwas stumpf geworden, was aber weniger an der Mal¬ weise als an dem Malgrunde, dem Schiefer, liegt. Trotz¬ dem giebt. es eigentlich auf allen drei Bildern keine absolut toten Stellen. Auf dem Bilde zur Rechten dominirt sogar das weiße Gewand der heiligen Domi- tilla in so leuchtender Helligkeit, dass man ein antikes Marmorbild vor sich zu haben glaubt, das plötzlich in

diese Gesellschaft christlicher Mär¬ tyrer hineintritt. Die beiden Heili¬ gen Nereus und Achilleus sind ern¬ ste, strenge Cha¬ rakterköpfe, die niemand so leicht vergisst, der sie einmal gesehen hat, nicht die aka¬ demischen „Cha¬ rakterköpfe“ der Caracci, sondern Typen von jener Aufrichtigkeit und Inbrunst der Em¬ pfindung, die uns an die knieenden Donatoren auf den Altarbildern der van Eyckundihrer Nachfolger erin¬ nern.

Wenn man also von der Ver¬ schiedenartigkeit des Malgrundes absieht, besteht zwischen diesem letzten Werke aus Rubens’ italieni¬ scher Zeit und dem leuchtenden Denk¬ mal seines jungen Eheglücks kein allzugroßerünter-

Der heilige Hieronymus. Gemälde von P. P. Rubens in der Dresdener Galerie.

PETER PAUL RUBENS.

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schied, und es dauerte auch noch geraume Zeit, bis sich eine merkliche Umwandlung in seiner Malweise vollzog. Darum ist es auch schwer, eine Anzahl von Bildern chronologisch zu fixiren, die ein specifisch italienisches Gepräge tragen. Sind sie noch in Italien oder schon in Antwerpen gemalt? Das ist die Frage, die sich die Rubensforscher vor einer Reihe von Bildern vorlegen, die schon darum nicht außer Acht gelassen werden dürfen, weil sie in großen, viel besuchten Galerieen zu sehen sind. Die Untersuchung wird noch

Wandlungen eine durch und durch selbständige Phy¬ siognomie angenommen hatte. In der Rechnung ist zwar nur von „retoqueren“, d. h. retouchiren die Rede; aber man weiß, was Rubens darunter verstand, wenn es auch nur galt, eine Schülerarbeit zu retouchiren. Und nicht einmal diese Retouche von Rubens’ eigner Hand ist uns auf dem Triptychon erhalten geblieben Nachdem es 1794 aus der St. Walburgiskirche, für die es Rubens in der zweiten Hälfte des Jahres 1610 ge¬ malt hatte, von den Franzosen nach Paris entführt und

Der heilige Hieronymus. Gemälde von A. van Dvcic in der Dresdener Galerie.

dadurch besonders erschwert, dass gerade die Werke des Meisters, um die sich sein ganzes Schaffen in der Periode von 1608 1612 dreht, durch spätere Übermalungen verändert worden sind, durch fremde und eigene. Gerade das Hauptwerk des Künstlers, das am Anfang dieser Epoche steht, das berühmte Trip¬ tychon der Kreuzaufrichtung, ist von Rubens selbst später übermalt worden. Es geschah, wie aus den noch in Abschriften vorhandenen Rechnungen hervorgeht, im Oktober 1627, zu einer Zeit also, wo Rubens’ kolo¬ ristische Ausdrucksweise sich bereits völlig von der seiner italienischen Periode entfernt und nach mehreren

1815 wieder an den König der Niederlande zurück¬ gegeben worden war, wurde es die Walburgiskirche war 1798 abgebrochen worden in der Kathedrale aufgestellt. Obwohl es damals gründlich gereinigt wurde, befand es sich dreißig Jahre später, nachdem die bei dem zweimaligen Transport erlittenen Schäden allmählich offenbar geworden waren, in einem so be¬ klagenswerten Zustande, dass eine Kommission zur Prüfung des Sachverhalts niedergesetzt wurde. Ihr Bericht1) giebt ein so überaus trostloses Bild von dem

1) Abgedruckt bei Rooses, L’oeuvre de P. P. Rubens II,

p. 82.

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. II. 5.

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PETER PAUL RUBENS.

Zustande gerade des Hauptstftcks, dass schon damals nur noch wenig von Rubens' eigener Hand übrig ge¬ wesen sein kann, und das wird auch durch die That- sache bestätigt, dass der Restaurator für die Wieder¬ herstellung beider Triptycha auch die Kreuzabnahme befand sich in schlechtem Zustande die Summe von 10400 Francs erhielt. Seine Arbeit muss also sehr beträchtlich gewesen sein.

AVenn Rooses bei diesem Thatbestande sagt, dass ..dieses Meisterwerk dem Datum nach das letzte der Bilder ist, die Rubens’ italienischer Manier angehören“, und dieses Urteil vornehmlich auf das Kolorit stützt, so steht dies mit der Geschichte des Bildes in AA7ider- spruch. Es scheint mir nicht zulässig zu sein, von einer „dunklen Manier“ des Meisters zu sprechen, die etwa die ganze Zeit seines Aufenthalts in Italien und die beiden ersten Jahre nach seiner Rückkehr beherrscht hätte. Man denke nur an die Heimsuch¬ ung Mariä in der Galerie Borghese und an Romulus und Remus in der Galerie des Kapitols in Rom, und kann es ein helleres Bild geben als den heiligen Hiero¬ nymus in der Dresdener Galerie, den die Mehrzahl der Forscher jetzt in die Zeit bald nach Rubens’ Rückkehr aus Italien versetzt? Aber darin hat Rooses recht, dass er die ,, Kreuzesaufrichtung“ als dasjenige Bild bezeichnet, worauf uns zum letztenmale die Typen, die Rubens durch das Studium Giulio Romano’s, Michelangelo ’s des Großen und Michelangelo’s da Caravaggio angenommen hatte, in ihrer riesenhaften, weit über menschliches Maß hinaus gesteigerten Erscheinung begegnen. Und nicht bloß in den Typen, sondern auch in kompositionellen Motiven hat Rubens eng an seine italienischen Studien angeknüpft. AA7ie Rooses herausgefunden hat, ist die Kreuzesauf¬ richtung das Mittelbild wie die damit inhaltlich zu¬ sammenhängenden Seitenflügel in den großen Linien und den Hauptmotiven eine Nachbildung der linken Hälfte des Freskogemäldes von Tintoretto in der Scuola di San Rocco in Venedig, das die Höhe von Golgatha mit den drei Kreuzen darstellt. Das des einen Schächers wird von den Henkern in die Höhe geschoben und ge¬ zogen. und danach hat Rubens seine Komposition ge¬ staltet, An solchen Entlehnungen fand damals niemand etwas Arges und Unerlaubtes; sie waren sogar sehr be¬ liebt, weil jeder junge Künstler die Kraft in sich fühlte, einen berühmten Vorgänger zu übertreffen und zu zeigen, wie er es besser zu machen verstände. Und das hat Rubens in diesem Falle wirklich gethan, indem er die Kraftent¬ faltung der Henker noch weit überbot und ihnen dem entsprechend eine Muskulatur gab, die er in Rom ver¬ mutlich an dem farnesischen Herkules studirt hatte. Um so wirksamer ist der Gegensatz, den diese rohen Ath¬ leten zu dem gemarterten Heiland bilden, in dessen gottergebenem Antlitz wieder der germanische Idealis¬ mus zum Durchbruch kommt, getragen und geadelt durch das Schönheitsgefühl, das die Christusköpfe Guido

Reni’s auszeichnet. Da dieser frühreife, hochbegabte Schüler der Caracci im Sommer 1605 zu längerem Aufenthalte in Rom eintraf, ist es wahrscheinlich, dass Rubens ihn oder doch seine Arbeiten kennen gelernt hat.

Auch ein Reflex seines großen Altarwerks in Sa, Maria in Vallicella in Rom ist auf das Triptychon der Kreuzes¬ aufrichtung gefallen, ein Beweis mehr dafür, dass die hei¬ mische Luft in der ersten Zeit nicht im geringsten auf sein Erinnerungs- und Gestaltungsvermögen eingewirkt hat. A’ielleicht wollte er sogar mit Absicht die Hauptgestalten jenes Altarwerks, das er mit Stolz als „eines der am wenigsten mißlungenen“ AVerke seiner Hand erklärt hatte, den Leuten in der Heimat von neuem vorführen. Denn auf den Außenflügeln des Triptychons erkennen wir in dem Bischof Eligius und der heiligen Katharina die herrlichen Gestalten des heiligen Gregorius und der heiligen Domitilla wieder, die mit ihrer Majestät das ganze Altarwerk in der römischen Kirche beherrschen. -

Der Reproduktion des hl. Hieronymus in Dresden (s. die Abb. S. 112) haben wir das in derselben Galerie vorhandene Bild van Dyck’s gegenübergestellt (s. die Abb. S. 113), weil es allgemein als eine freie Nachbildung des Rubens’schen Gemäldes und zwar aus van Dyck’s Lehr¬ zeit bei Rubens gilt, AVir werden darauf bei Er¬ örterung der neuerdings mit Eifer aufgeworfenen Frage zurückkommen, ob Rubens mehr von van Dyck oder ob dieser, wie man früher geglaubt hatte, mehr von Rubens gelernt hat. Etwas Gigantisches, Übermenschliches hat Rubens’ heiliger Hieronymus, wenn er wirklich noch in der italienischen Zeit gemalt sein sollte, jedenfalls nicht. Es ist ein Greis von durchaus menschlichem Maß und menschlicher Gebrechlichkeit. AVeit mehr ent¬ spricht dem Heldenmaß aus Rubens’ italienischer Zeit der heilige Sebastian in der Berliner Galerie, der auch in der noch größeren Wärme des Tones mehr Italienisches an sich hat, und der mit den Philistern ringende Simson auf dem Bilde der Münchener Pinakothek, das den \Ter- rat der listigen Buhlerin Delila und die Niederlage des gewaltigen Mannes von Juda darstellt (s. die Abb. S. 115). AVenn irgend ein Gemälde von Rubens den Einfluss des Michelangelo da Caravaggio in dramatischer Kom¬ position, in scharfem Gegensatz der Lichtwirkungen und in Massigkeit der muskulösen Körperformen in voll¬ kommener Klarheit zeigt, so ist es dieses. Gleichwohl versetzt es Rooses in die Zeit von 1612 1615, also in die ersten Jahre jener zweiten Periode in des Künst¬ lers Schaffen, die mit dem großen Triptychon der Kreuzabnahme eröffnet wird. Man ersieht daraus, wie mißlich es ist, die Wandlungen, die sich in der Aus¬ drucksweise des Meisters vollzogen, an bestimmte Jahre oder gar an einzelne Werke zu binden. Auch der Kopf der Delila auf dem Münchener Bilde hat noch gar nichts von jenen speciflsch Rubens’schen Typen an sich, die wir später auftauchen sehen, nachdem sich der Künstler all¬ mählich wieder in seine Heimat und unter die Menschen

PETER, PAUL RUBENS.

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seines Stammes eingelebt hatte, and die dann schnell zu seinem ständigen Kompositionsmaterial wurden.

Besser sind wir über die Zeit unterrichtet, in der ein zweites Hauptwerk aus Rubens’ erster Antwerpener Periode nach seiner Rückkehr aus Italien entstanden ist: die große Anbetung der Könige im Pradomuseum zu Madrid, das erste in der langen Reihe dieser Dar¬ stellungen, die ein Lieblingsthema des Meisters waren, weil er dabei so recht seine Prachtliebe entfalten, der Virtuosität seines Pinsels in der Wiedergabe kostbarer Gewänder, glänzender Kleinodien und allerhand Kleider¬ und Menschenpomps freien Lauf lassen konnte. Das Bild hat seltsame Schicksale erlebt. Um 1008 hatte der Magistrat der Stadt Antwerpen beschlossen, einen der großen Säle des Rathauses, die soge¬ nannte „Statencamer“, mit Kunstwerken aus¬ zuschmücken. Einiges Vorhandene wurde ge¬ kauft, anderes bestellt, darunter auch das große Bild einer Anbetung der Könige, dessen Ausfüh¬ rung Rubens übertragen wurde. Am 29. April 1610 erhielt der Maler als erste Rate tausend Gulden und am 4. Au¬ gust als zweite und letzte achthundert Gul¬ den. In der Zwischen¬ zeit muss das Bild also vollendet worden sein.

Leider blieb es nicht lange an seinem Platze.

Im August 1612 kam ein außerordentlicher Gesandter des Königs von Spanien, Don Ro-

drigo Calderon, Graf von Oliva, nach Antwerpen, und da dieser beim Könige in hoher Gunst stand, beschloss der Magistrat, ihm eine besondere Ehrung zu erweisen, in der Absicht, ihn für die Interessen des Antwerpener Handels, die er beim Könige vertreten sollte, günstig zu stimmen. Dazu wurde Rubens’ Bild ausersehen, und man überreichte es dem spanischen Würdenträger mit der Bemerkung, „es wäre das schönste und seltenste Geschenk, das der Magistrat besäße.“ Man darf darin wohl mehr als eine Phrase sehen. Es klingt darin schon der Ausdruck berechtigten Stolzes wieder, womit die Antwerpener auf den Schöpfer der Kreuzesaufrichtung und der Kreuz¬ abnahme blickten.

Leider ist uns auch dieses Bild nicht in der Ge¬ stalt erhalten, die ihm 1610 verliehen worden war, und zwar war es wiederum der Meister selbst, der die ur¬ sprüngliche koloristische Physiognomie seines Werkes gründlich veränderte. Als Freund des Herzogs von Lerma wurde der Graf von Oliva in dessen Sturz im Jahre 1618 verwickelt, und nicht genug damit, es wurde auch durch den Herzog von Olivarez, den Nachfolger Lerma’s, eine Anklage wegen Mordes gegen ihn erhoben. Er wurde verurteilt und 1621 enthauptet. Bei dem Verkauf seines Nachlasses erwarb König Philipp IV. das Gemälde. Als Rubens sein Werk während seines

Simsoii und Delila. Gemälde von P. P. Rubens in der alten Pinakothek zu München.

zweiten Aufenthalts in Spanien von 1628 auf 1629 im Palaste des Königs wiedersah, genügte es ihm nur noch so wenig, dass er es nicht nur retouchirte d. h. übermalte und veränderte, sondern auch merklich vergrößerte. Das wird von Pacheco in seinem Buche ,Arte de la Pintura1 überliefert und auch durch den gegenwärtigen Zustand des Bildes bestätigt, das an der rechten Seite deutlich eine Naht zeigt, mit der ein Stück Leinwand angesetzt ist.1) Die Übermalung hat Waagen, der nur von der

1) Vgl. auch Crux ad a Villaamil, Rubens diplomatico espanol (Madrid 1874) S. 143: , Por ultimo hallando en palacio su grau cuadro de la Adoration de los Reyes . . . Io retocö, mudö y agrandö notablemente.“

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PETER PAUL RUBENS.

Erweiterung der Komposition durch einen Zusatz Kennt¬ nis hatte, nicht auch von der Geschichte des Bildes, ver¬ anlaßt, es der mittleren Zeit des Meisters zuzuweisen, ..als er auf der vollen Höhe seiner Kunst stand.“ Das spricht nur zu Gunsten des scharfsichtigen Periegeten, der sich, ohne sich viel mit historischen Forschungen zu befassen, nur auf seine Augen verließ, und darum ist es noch heute von Wert, sein Urteil zu hören. Nachdem er zunächst hervorgehoben, dass unter allen ihm bekannten Darstellungen desselben Gegenstandes von Rubens’ Hand dieser der Preis gebühre, fährt er fort: ..Die ganze Komposition ist ebenso großartig als eigentümlich. Die hier stehend genommene und sich etwas vorwärts neigende Maria ist in Kopf und Gestalt von seltener Schönheit. Letzteres gilt auch mehr oder minder von den übrigen Figuren. Dabei ist das Ganze, von sehr großem Umfang, von wunderbarer Tiefe und Wärme des Helldunkels und einer seltenen Glut der Farbe, welche ihre größte Höhe in dem purpurnen Ge¬ wände des in der Mitte stehenden Königs, einer maje¬ stätischen Gestalt, erreicht, aber sich auch noch in dem Mantel von Goldbrokat des knieenden Königs in glän¬ zender Weise geltend macht.“ •) Die , seltene Glut der Farbe“ ist wohl auf das erneuerte Studium Tizians zurückzuführen, dem sich Rubens während seines zweiten Aufenthalts in Spanien mit jugendlicher Begeisterung hingab und das bald in seinen folgenden Schöpfungen die herrlichsten Früchte zeitigen sollte.

Leider ist dieses Bild weder von Laurent noch von Braun photographirt worden, so dass wir es nicht re- produziren können. Es giebt davon nur eine ältere Lithographie, die modernen Ansprüchen nicht mehr ge¬ nügen dürfte.2) Auch würde ihre Reproduktion nur für die Beurteilung der jetzigen Komposition von Wert sein, nicht aber für die Kenntnis der künstlerischen Entwicklung, die Rubens in den Jahren 1600 und 1610 erreicht hatte.

Wenn wir weiter die Bilder durchmustern, die Rubens während der ersten vier Jahre nach seiner Rückkehr aus Italien gemalt hat, tritt am stärksten eine Gruppe mythologischer Darstellungen in den Vorder¬ grund. WTir linden, indem wir der von Rooses auf¬ gestellten, im großen und ganzen stichhaltigen Chro¬ nologie folgen, der Reihe nach den Raub der Proserpina (im Schloß Blenlieim verbrannt), den Tod des Argus (in Dudley House in London), Ixion von Juno getäuscht (in Grosvenor House in London), Prometheus auf dem Kaukasus, Juno, Venus und Argus und Venus und Adonis (in der Eremitage in St. Petersburg). Es ist schwer, bei einem Manne wie Rubens, der in den

1) A. v. Zahns „Jahrbücher für Kunstwissenschaft“ I (1868), S. S9-90.

2) Eine flüchtige Zeichnung findet man in der Gazette des Beaux-Arts III. Per. Bd. XI, S. 77. Der begleitende Text enthält nichts neues zur Kritik des Bildes.

römischen Klassikern gründlich belesen war und nament¬ lich seinen Ovid und Virgil auswendig kannte,1) den Gedanken an einen geistigen Zusammenhang dieser Bilder abzuweisen. Der Verkehr der Götter mit den Menschen ist ihr gemeinsamer Grundzug, und im be- sondern tritt noch als Einzelmotiv die Bestrafung der „Hybris“, der menschlichen Vermessenheit durch gött¬ liche Kraft hervor. Leider hat auch über diesen Bildern ein ungünstiger Stern gewaltet. „Juno, Venus und Argus“ ist, nachdem es noch bis 1859 in einer englischen Privatsammlung gewesen war, verschollen, „Ixion von Juno durch eine Wolke getäuscht“ ist als „shocking“ von seinem Besitzer der Besichtigung, die in englischen Privatschlössern ohnehin sehr beschränkt ist, entzogen worden, so daß weitere Kreise es nur noch nach dem schwülstigen, in den Formen verblasenen Stich des Holländers Pieter van Sompelen beurteilen können, „Venus und Adonis“ in Petersburg zeigt in der Landschaft und in den Tieren die Mitwirkung fremder Hände, der „Raub der Proserpina“ ist durch Brand ganz und gar vernichtet worden, und das Bild der Reihe, auf das wir das größte Gewicht legen, weil es durch Rubens selbst beglaubigt worden ist, hat durch Feuer gelitten. Es ist der an den Kaukasus ge¬ schmiedete Prometheus, dem der Adler des Zeus die Leber abfrißt.

Im Anfang des Jahres 1618 hatte Rubens mit dem englischen Gesandten im Haag, Sir Dudley Carletou, der während eines längeren Aufenthaltes in Venedig eine Anzahl von antiken Skulpturen zusammengebracht hatte, Unterhandlungen wegen Überlassung dieser Sammlung angeknüpft. Der Engländer wollte die auf 6000 Gulden geschätzten Antiken gegen Bilder von Rubens eintausclien, und dieser sandte ihm eine Liste der Bilder ein, die er in seiner Werkstatt zum Verkauf hatte. An der Spitze dieser Liste, die auch sonst für die Datirung einzelner Werke des Meisters von Wichtigkeit ist, steht: „Ein gefesselter Prometheus, auf dem Berge Kaukasus mit einem Adler, der ihm die Leber aushackt. Original von meiner Hand, und der Adler ist von Snyders gemacht.“ Wohin ist dieses kostbare Bild geraten, für das uns das Zusammenwirken des größten Menschen- und des größten Tiermalers der Antwerpener Schule von dem ersteren selbst bezeugt wird? Wie von vielen Werken des Meisters giebt es auch von diesem zwei Exemplare. Eines tauchte im englischen Privatbesitz (Herzog von Manchester) auf der berühmten Ausstellung in Manchester im Jahre 1857 auf und wurde damals von W. Burger, dem Geschichtsschreiber der Ausstellung sehr abfällig beurteilt: „Der Mann und der Vogel haben nichts Wunder-

1) Wir erinnern nur an die von Michel (Histoire de la vie de P. P. Rubens, Brüssel 1771) überlieferte Anekdote, nach der der Herzog von Mantua seinen Hofmaler einst bei der Recitation Virgilischer Verse aus dem Gedächtnis be¬ troffen haben soll.

Die Amazonenscklackt.. Nach dem Gemälde von P. P. Rubens in der alten Pinakotkek zu Müncken.

3auenigehöft. Zeichnung von P. P. Rubens. Berliner Kupferstichkabinett.

bares.“ Das zweite Exem¬ plar besitzt das Museum in Oldenburg, und zu dessen Gunsten ist W. Bode mit überzeugenden Gründen ein¬ getreten, obwohl das Bild im Katalog der Oldenburger Galerie nur als eine spä¬ tere Wiederholung“ bezeich¬ net war. „Die Angabe“, so schreibt Bode in seinem Ga¬ leriewerke, *) dass „das ur¬ sprüngliche Gemälde in Eng¬ land verbrannt“, beruht wohl auf einer nur teilweise rich¬ tigen Überlieferung: das Bild, das Tischbein 1 804 vom Lord Bute erwarb, zeigt nämlich Spuren von Brandschaden ; es ist also schon danach wahrscheinlich das im Brande beschädigte Original, das der englische Besitzer als an¬ scheinend wertlos abgab. Da¬ mit stimmt die Malerei über¬ ein, die keineswegs die Hand eines späteren Kopisten, son¬ dern in der Figur des Pro¬ metheus die des Rubens, im Adler die Hand seines Freun¬ des Snyders erkennen lässt. Freilich hat das Bild, infolge des Brandes, eine starke Restauration über sich er¬ gehen lassen müssen; die Farben sind durch scharfes Putzen zu kalt und durch Übermalungen, namentlich in den Schatten, zu schwer und hart. Aber es ist noch ge¬ nug erhalten, um daran den Meister selbst zu erkennen. Die noch beinahe akade¬ mische Auffassung der ko¬ lossalen Formen und der übertriebenen Muskeln , die kalten, grauen und bläu¬ lichen Schatten und die roten Reflexe sind charakteris-

1) Bilderlese aus kleine¬ ren Gemäldesammlungen in Deutschland und Österreich. Heft VIII und IX, S. 71 u. 72 (Wien 1888).

PETER PAUL RUBENS.

PETER, PAUL RUBENS.

tische Merkmale für die Zeit nach der Rückkehr ans Italien.“

Im Gegensatz zu Bode ist Rooses geneigt, das Bild im Besitz des Herzogs von Manchester für das Original zu halten; im Nachtrage zu seinem Werke, wo er noch einmal auf das Oldenburger Exemplar zurück¬ kommt, ändert er jedoch in einigen Punkten seine Meinung. Auch er erkennt, dass der Adler von Snyders gemalt ist. Aber die Figur selbst sei von einem Schüler gemalt und nur von Rubens zum großen Teile retouchirt worden; ebenso wie die Draperie und der Himmel. Auch in der Behandlung der Felsen glaubt Rooses eine fremde Hand zu sehen. Wenn die beiden ersten Rubens¬ kenner, die unsere Wissenschaft besitzt, in so wesent¬ lichen Punkten von einander abweicheu, tliun wir am klügsten, die Lösung der Streitfrage bis zum Wieder¬ auftauchen des fragwürdigen Bildes aus dem Besitze des Herzogs von Manchester zu vertagen. Adlmc sub judice lis est!

Anders und besser steht es mit einem berühmten mythologischen Bilde , das ebenfalls in der Zeit von 1610 1612 entstanden ist, mit der Amazonenschlacht in der Münchener Pinakothek (s. die Abb. auf S. 117). Rubens selbst gedenkt dieser Komposition in einem Briefe von 1622, worin er bei einer Aufzählung von Kupferstichen nach seinen Werken bemerkt, dass ein aus sechs Blättern bestehender Stich nach einer Amazonen¬ schlacht sich schon seit drei Jahren in den Händen des Stechers befände, von dem er die Platten aber nicht heraus¬ bekommen könne. Es ist der Stich von Vorsterman, der das Datum des 1. Januar 1623 trägt. Der Stecher arbeitete aber nicht nach dem Original, sondern nach einer Zeichnung, die, wie Bellori berichtet, von van Dyck aus¬ geführt und, nach einer Angabe des feinen Kenners Mariette, von Rubens retouchirt worden sein soll. Das Gemälde muss also noch früher als 1619 entstanden sein. Es befand sich etwa seit der Mitte des 17. Jahr¬ hunderts in der Galerie des Herzogs von Richelieu, wo es der französische Maler und Kunstschriftsteller Roger de Piles kennen lernte und beschrieb. Das Bild inter- essirte ihn so lebhaft, dass er in einem der Briefe, die er an Philip]) Rubens, den Neffen des Meisters, richtete, um sich Dokumente für die von ihm geplante Lebens¬ beschreibung des Künstlers zu verschaffen, direkt nach der Entstehungszeit des Bildes fragte. Philipp Rubens antwortete ihm, dass die Amazonenschlacht „ungefähr um 1615“ gemalt worden wäre.1) Aber auch dieses Datum scheint noch etwas zu spät angesetzt zu sein. Nach einer Überlieferung2) soll Rubens nämlich das Bild einem

1) Der Brief ist veröffentlicht von C. Ruelens im ,, Bulletin Rubens“ II, p. 164—167. (Brüssel 1884.)

2) Von Bullant in der „Academie des Sciences“ II, 472, citirt bei Rooses, L’oeuvre etc. III, p. 53, wo auch die Nach¬ richten über die Geschichte des Bildes zusammengestellt sind.

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gewissen Cornelis van der Gheest, einem der Kirchen¬ vorsteher von St. Walburgis, geschenkt haben, zum Dank für die Mühe, die sich dieser gegeben, um Rubens den Auftrag zu verschaffen. Er scheint sogar ganz allein die Sache eingefädelt und durchgesetzt zu haben. Denn Rubens bewahrte ihm noch über das Grab hinaus seine Dankbarkeit, indem er den von II. Witdoeck 1638 vollendeten Stich nach der Kreuzaufrichtung dem Ge¬ dächtnis des wackeren Mannes widmete, wobei er ihn in der Widmung als „seinen ältesten Freund und seinen stetigen Gönner von Jugend auf“ pries. Sein Name erscheint auch neben dem des Pastors der Kirche und einigen ungenannten Kirchenältesten in einer kleinen Rechnung von 9 Gulden und 10 Stübern über eine Zeche, die im Juni 1610 in dem Wirtshaus „Klein Seeland“ gemacht worden war, wo man den Vertrag über die Lieferung des Altarwerkes mit Rubens abschloss und nach alter vläraischer Sitte kräftig „begoss“. Da das Altarbild 1612 fertig war, ist anzunehmen, dass Rubens seinem Gönner die Amazonenschlacht um dieselbe Zeit- geschenkt habe, und damit stimmt auch der koloristische Charakter des Gemäldes, dessen rötliche Lichter und bläulich-grünliche Schatten innerhalb eines dunkelbraunen Gesamttons noch ganz und gar in der von Rubens in Italien gewonnenen Farbenanschauung wurzeln, wobei aber nicht außer Acht zu lassen ist, dass hier auch das Motiv für die Wahl eines tiefen, auf einen dunklen Grundton gestimmten Kolorits entscheidend war. Es konnte nur die Schrecken der Schlacht am Thermodon, des gewaltigen Kampfes auf der Brücke, das Grauen¬ hafte des Gemetzels und des Sturzes der niedergeschlagenen Menschen und Rosse in die Fluten des selbst in Mit¬ leidenschaft gezogenen und darob zornig gewordenen Stromes erhöhen.

Als Rubens dieses Bild malte, war er 35 Jahre alt. Keines spiegelt so sehr wie dieses die Summe seiner italienischen Studien wieder, keines zeigt aber auch so eindringlich die souveräne Meisterschaft, mit der er damals alles Erlernte in seinen Besitz gebracht, umgeprägt und zu etwas ganz Eignem und Neuem gestaltet- hatte. Was Michelangelo, Giulio Romano und Correggio an gewalt¬ samen Verrenkungen, Überschlagungen und Verkürzungen des menschlichen Körpers verwegenen Sinnes gewagt hatten, finden wir hier gesammelt und übertroffen. In den rechts und links herabstürzenden Körpern sehen wir bereits die ersten Schritte, die Rubens als der Virtuose der „jüngsten Gerichte“ über Michelangelo hinaus tliun wollte und that. Wohl erinnert das Motiv der Amazonen¬ schlacht stark an Raffaels Fresko der Konstantinsschlacht im Vatikan. Aber wie zahm und „akademisch“, wie klassisch-kühl ist der Kampf auf der milvischen Brücke im Vergleich mit der wilden Romantik der Rubens’schen Amazonenschlacht? Jetzt, wo Rubens wider Er¬ warten schnell festen Boden in der niederländischen Heimat gefunden hatte, wo ihm die Wogen des vlämischen

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KLEINE MITTEILUNGEN.

Lebens gewissermaßen an die Hüften stiegen, fühlte er den Mut eines Überwinders. In der malerischen Aus- drucksform schwankte er noch einige Zeit , wie er übrigens auch später als Maler niemals ein bestimmt formulirtes Programm gehabt hat. Aber seine Figuren verloren allgemach den italienischen, meist aus Bildern gelernten Charakter, und der vlämische Typus, freilich in sehr gesteigerter Auffassung, kam, namentlich bei den Frauengestalten, bald zum Durchbruch. Diese Massen holder, meist blonder Weiblichkeit treten uns zuerst in der Amazonenschlacht entgegen, und von da ab sind die fetten Heroinen mit den glatten strohgelben Haaren, den wasserblauen Augen, den kräftigen Händen und den breiten, ausgetretenen Füßen mit stark hervordriugeuden Ballen und verkrümmten Zehen die vornehmsten Ver¬ treterinnen des weiblichen Geschlechts auf allen Bildern, die Rubens gemalt hat oder von seinen Schülern hat malen lassen.

Als der Künstler wieder Fühlung mit dem Heimat¬ lande seiner Eltern gewonnen hatte, kehrte er auch wieder in die Natur ein. Wie er in Rom seiner alten Liebe, der Landschaftsmalerei, nicht vergessen hatte, so nahm er auch nach seiner Rückkehr seine landschaft¬ lichen Studien wieder auf. Die ersten Beweise dafür scheinen uns drei Zeichnungen zu sein, die nicht nur in ihren Motiven, sondern auch in ihrem Format und in ihrer eigentümlichen, bei Rubens ungewöhnlichen Technik so auffällig übereinstimmen, dass ihre zeitliche Zu¬ sammengehörigkeit nicht abzuweisen ist. ]) Die eine be¬ ll Von ähnlicher Technik und fast gleichem Format ist eine von Rooses L’oeuvre V, p. 240 erwähnte, in der Samm-

findet sich im Kupferstichkabinett zu Berlin (s. die Abb. auf S. 118), die zweite in der Albertina zu Wien und die dritte im Dresdener Kupferstichkabinett (s. die Abb. auf S. 111). Alle drei stellen sie ländliche Gehöfte, Bauernhäuser mit Nebengebäuden, mit Wagen, Menschen, Pferden, Schweinen u. dgl. im Frühling oder Spätherbst dar und alle drei sind mit der Feder gezeichnet, mit chinesischer Tusche und im Hintergründe mit blauer Tusche leicht lavirt.* 2) Die Bezeichnung, die das Berliner Blatt links unten zeigt, ist zwar alt, aber nicht echt. Dafür trägt die Zeichnung aber auf ihrer Rückseite eine Inschrift, in der sowohl Lippmann als Rooses Rubens’ Hand erkennen. Sie lautet: De hoeve by et rughen velt d. h. der Hof bei dem Roggenfeld. Wie Rooses er¬ mittelt hat, hieß Rughen velt ein Ort in der Nähe von Antwerpen, an der Straße von Deurne nach Wijneghem, und noch heute führt ein Wirtshausschild diesen Namen.

Auch aus diesen Zeichnungen ersehen wir, mit wie inbrünstiger Liebe sich Rubens in die im Vergleich zu Italien doch nur kümmerlichen Reize seiner Heimat ver¬ senkte und wie schnell es ihm gelang, nach achtjähriger Entfremdung den echt vlämischen Accent wiederzufinden.

lung Malcolm in London befindliche Zeichnung einer Ama¬ zonenschlacht, die ein Entwurf zu dem Bilde zu sein scheint. Das wäre ein Beweis mehr dafür, dass die drei Landschaften in der ersten Zeit nach Rubens’ Rückkehr entstanden sind.

2) Rooses ist der Ansicht, dass alle drei Zeichnungen die gleiche Mache zeigen. Mir scheint jedoch die Dresdener Zeichnung etwas weniger frei, etwas kleinlicher behandelt zu sein als die beiden andern. Vielleicht erscheint die Zeichnung aus diesem Grunde manchen verdächtig, und Braun hat sie auch darum wohl nicht photographirt.

KLEINE MITTEILLINGEN.

Der Verein für Originalradirung in Berlin teilte un¬ längst mit, dass die Kaiserin Friedrich das Protektorat über den Verein übernommen habe. Das Relief, welches der Verein dadurch auch in den Augen der Unkundigen erlangt hat, ist angesichts der steten Fortschritte, die sich in den Veröffentlichungen des Vereins zeigen, ein durchaus ange¬ messenes. Das eben erschienene zehnte Heft vereinigt eine Anzahl solider, tüchtiger Arbeiten, keine tastenden Versuche oder technischen Spielereien, sondern durchgebildete Kunst¬ werke, welche Feingefühl und durch Übung wohlentwickelte Herrschaft über das schwierige Verfahren gewahren lassen. Altmeister Menzel hat auch zu diesem Hefte einen Beitrag geliefert „das Letzte“, hoffentlich aber nicht Letzte, was er radirt hat. Das „Letzte“ ist ein Kleinod, das eine arme Frau versetzen will. Der Pfandleiher oder Käufer betrachtet die Gemme des Ringes eben mit prüfendem Blicke. Es ist wieder eine radirte Studie, wie Menzel schon mehrere in den Sammlungen des Vereins gegeben hat. Von dem sonstigen Inhalt des Heftes nennen wir vor allem W. Feldmann’ s Blatt ,,lm Sonnenschein“, das von überraschender Natur¬ wahrheit und feiner Beobachtung des spielenden Lichts ist. Nicht ganz so rein und bestimmt ist der Eindruck, der aus der Arbeit Hans Hermann’ s spricht, aber auch hier verrät

jeder Strich einen fertigen Meister, der zur völligen Herr¬ schaft über die Mittel gelangt ist und Platte und Stichel handhabt wie ein guter Musiker Geige und Bogen. Auch Kohnerl’s dumpf gestimmte Waldeinsamkeit verdient Worte der Auszeichnung; dieser romantische Winkel wird haupt¬ sächlich vermöge seiner Poesie und des elegischen Grundtons auf die Gemüter wirken, welche zunächst das Gegenständ¬ liche einer Darstellung schätzen. Das Gleiche gilt von Ph. Franck’s Beitrag, der uns einen Blick in den Berliner Tier¬ garten thun lässt; Wald und Wasser, mit Schwänen besetzt, bilden das Motiv. Ismael Gentz zeigt uns eine Scene aus Tripolis: eine Abendandacht bei spärlichem, ungewissem Licht der flackernden qualmenden Flamme einer von der Decke herabhängenden Ampel. Slcarbina zeigt uns eine Waldhexe, ein schlankes Weib mit zartem Schleier von etwas tropischem Typus. Das Ganze ist mit der Verve, die Skarbina eigen ist, aber zugleich etwas visionär behandelt. Endlich ist noch Eschke's stürmische See mit einem Segelschiff zu erwähnen, eine tüchtige, durchgeführte Arbeit von malerischer Wirkung, und die kleine interessante Titelradirung von Hans Loosehen, die wir statt aller Beschreibung den Lesern gleich in eftigie vorführen.

Die diesem Hefte beigefügte Radirung „Walküre“ rührt von Johannes Qehrts in Düsseldorf her, der sich gegenwärtig mit der Verkörperung der Gestalten nordischer Mythologie beschäftigt.

Herausgeber: Carl von Lützow in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

DER WITTELSBACHER BRUNNEN IN MÜNCHEN.

Von ADOLF HILDEBRAND.

DER WITTELSBACHER BRUNNEN IN MÜNCHEN.

MIT ABBILDUNG.

M 12. Juni 1895 ist die Vollendung des Brunnens auf dem Maximiliansplatz ge¬ feiert worden. Über den Zusammenhang mit der örtlichen Umgebung und über die Gründe, aus denen der Brunnen gerade so gestaltet wurde, wie er nunmehr voll¬ endet vor uns steht, hat sich Adolf Hildebrand , der Künstler selbst, in der „Süddeutschen Bauzeitung“ vom 22. November 1894 ausgesprochen. Jeder, der die Aus¬ einandersetzung las, musste seine Freude haben an dieser in den Künstlerwerkstätten nicht sehr häufigen verstandesmäßigen Klarheit. Dort sprach der Architekt, der sein Thun begründet; der Bildhauer spricht sich ohne Worte aus in den Maßen und Formen seines Werkes. Dieser stummen Aussprache nachzugehen, ihr soweit dies möglich ist Worte zu verleihen, ist die Aufgabe des Empfangenden und Genießenden.

Wenn man sich die Eindrücke klar macht, die man vor dem Werke empfängt, so ist das Erste und Stärkste die ungemeine Selbstverständlichkeit desselben. Man kommt seit einem Menschenalter von Zeit zu Zeit nach München, kennt die Straßen und Plätze, und vor allem genau den Weg, der von der Eisenbahn an der West¬ ecke des Maximiliansplatzes vorüberführt. Plötzlich steht anstatt des bekannten Bretterverschlags an dem Vor¬ sprung des Rasenplatzes ein kolossaler Brunnen, von dem die Zeitungen sozusagen nichts weiter gemeldet hatten , als dass er feierlich eingeweiht und später an¬ gestrichen worden sei. Wie nahe läge es, dass man sich erst mit der neuen Thatsache abfinden, sich an sie gewöhnen müsse, Nichts davon. Man hat die unmittel¬ bare Empfindung, dass dieses Kunstwerk ein organisches sei, gleichsam hervorgewachsen aus dem Boden, auf dem es steht, man kann sich kaum mehr vorstellen, dass diese Seite der Effner’schen Anlagen jemals einen andern Abschluss gehabt haben sollte.

In einer scheinbar natürlichen Schichtung dringt das Gestein in rohen Blöcken aus dem Grün des Bodens, um sich in Mauerwerk und Skulptur fortzusetzen. Aus dem Unorganischen der Felsblöcke zum höchsten Er¬ zeugnis der Kunst, der Wiedergabe der menschlichen Gestalt.

Um die Gesamtbreite der Anlage läuft eine Brüstung, welche das untere Becken umfasst. Die hintere Wand dieses Beckens ist in sieben Bogenstellungen gegliedert; aus der Mitte einer jeden speit ein phantastisches Tier¬ haupt das Wasser hervor, das aus dem oberen Becken in verborgenen Gängen niederdrückt. In der Mitte sehen wir den Aufbau mit zwei Brunnenschalen. Aus der oberen drängt der weiße Sprudel mit Macht empor, über die Ränder der unteren Schale fällt er schleier¬ artig herab. Zu beiden Seiten stehen die beiden mäch¬ tigen Gruppen: ein Gigant auf dem Rücken eines Wasser¬ rosses. eine Frau auf dem Wasserstier, mit der spendenden Schale.

Umgehen wir das Steingeschiebe, um auf die Er¬ höhung zu gelangen, so sehen wir, was wir von vorne schließen konnten, dass das Wasser aus den Schalen des Aufbaues in ein mächtiges Becken niederfällt, das sich auf der Erhöhung der Parkanlage befindet.

Nirgends ein toter Punkt, überall Leben und Be¬ wegung. In allen Wandlungen zeigt sich uns das viel¬ gestaltige flüssige Element, im Aufstreben, im Herab¬ rauschen, im geteilten Strahl, in wuchtigen Güssen, in kurzwellig-bewegten Flächen.

In der Gesamtanlage ist mit wunderbarem Erfolg die Breitenwirkung angestrebt. Man denkt nicht daran, dass der Brunnen mit der Architektur der Umgebung, den vielstöckigen Häuserkisten, zu kämpfen habe; mit dem Hintergründe der dunkeln Bäume füllt er das ganze Sehfeld.

Die architektonische Grundform ist der Bogen; in einem Bogen umfängt zweimal die Brüstung die Ge¬ wässer, eine Bogenlinie setzt hinter den beiden Gruppen an und findet ihren Mittelpunkt über der oberen Schale.

Bei der Betrachtung der Einzelheiten erfreuen wir uns an der verschwenderischen Fülle der Gestaltungen, die der Genius des Künstlers spendet, gleich den Gaben der Natur im sprossenden Frühling. Die Füllungen der Pilaster der Vorderseite zeigen Wassertiere, die sich zwischen den blitzenden Strahlen und Tropfen zu be¬ wegen scheinen; an dem gewaltigen Knauf, der die Schalen trägt, sehen wir hinter dem beweglichen Schleier¬ fall vier Masken Grundstimmungen des Elementes

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. II. 6.

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DER WITTELSBACHER BRÜNNEN IN MÜNCHEN.

versinnbildlichend den gewaltthätigen Humor des alten, tosenden Wassermannes, den jünglinghaft -fröh¬ lichen Sprudel der Quelle, die Schreckhaftigkeit der tod¬ bringenden Tiefe. die Sirenenlockung des wohligen "W assers.

Der trotzigblickende Gigant auf dem emporstür¬ menden Wasserpferde ist in voller Bewegung. Einen Felsblock schieben die Hebel der Arme eben nach rück¬ wärts, um ihn im nächsten Augenblicke mit gewaltigem Wurfe zu entlassen.

Den Gegensatz bilden die ruhigen Linien der an¬ anderen Gruppe; auf dem Wasserstier sitzt nach der Seite eine schöne Frau. Mit der rechten Hand fasst sie in ruhiger, der Bewegungsrichtung zugeneigter Haltung das Horn des Fabelwesens, in der Linken hält sie die Schale.

Die Bedeutung, welche der Symbolik in der plasti¬ schen Kunst zukommt, soll hier nicht erörtert werden. Gewiss ist das plastische Kunstwerk um seiner selbst- willen da, und wie jedes Kunstwerk „ein Aus¬ schnitt der Natur, gesehen durch ein Temperament“. Die beiden Gruppen Hildebrand’s erfüllen diesen An¬ spruch, sie. wirken „an sich“. Es scheint uns aber dem Kunstwerk kein Unrecht zu geschehen, wenn wir des geistigen Inhalts uns bewusst werden, vorausgesetzt, dass dieser Inhalt nicht mit der Zange der Reflexion geholt werden muss, sondern sich jedem sozusagen von selbst offenbart.

Eine Anzahl der Schöpfungen Hildebrand’s wir er¬ innern an seinen Athletenjüngling in Berlin will nichts geben als die organische Schönheit der menschlichen Gestalt. Bei den Gruppen des Wittelsbacherbrunnens ist es schon durch die architektonisch gegebene wechsel¬ seitige Beziehung der beiden Gruppen geboten, sich über den Inhalt dieser Beziehungen klar zu werden.

Einem Mann aus dem Volke wird vor diesen beiden Gruppen sich alsobald der Gegensatz aufdrängen von bös schadenbringend, und gut wohltliätig. Diesen Gegensatz in Verbindung zu dem Element ge¬ bracht, das dem Brunnen entströmt, wird er sich der Muhren erinnern, welche der Gebirgsstrom verderben¬ bringend über seine Wiesen wälzt, und die Schale der guten Frau erinnert als freundliches Gegenstück an den Regen, der ihm die Felder segnend bewässert. Eine phantasievolle Intelligenz sieht, da die Gruppen an einem Münchener Brunnen stehen, in dem Manne den kaum zu bändigenden Isarstrom, der vom Gebirge her¬ unter das Gerolle bis in die Auen der Stadt führt, und in der Frau die Nymphe der Quellenleitung, welche den Typhus bändigte, und aus einem verrufenen Fieberort eine der gesündesten Großstädte Europa’s machte. Ein anderer mag andere Gedankenreihen anspinnen, ein wirkliches Kunstwerk ist eben wie die Natur vielseitig und unerschöpflich.

Mit griechischer Mythologie haben diese Gruppen, obwohl sie an die herrlichsten Werke des griechischen

Meißels erinnern, nichts zu tlmn; es sind zeitlose Ge¬ bilde, die aus einer deutschen, tiefgründigen Naturan¬ schauung hervorgegangen und von der Bildungskraft des Künstlers in die Höhen reiner Schönheit emporge¬ hoben sind. Man sieht hier so recht, wie der Künstler aus dem Vollen arbeitet. In nichts erinnern diese Gruppen an die bekannte Art jener Figuren, denen man- auf den ersten Blick ansieht, dass sie zuerst in kleinen Maßen geknetet und dann in große Verhältnisse übersetzt und dadurch unruhig geworden sind. Nichts erinnert an die sklavische Rücksichtnahme, an die Arbeit des Punktirers, alles macht den Eindruck, als ob das Werk von der Hand des Künstlers selbst unmittelbar aus dem Marmor herausgehauen sei, um dann mit dem Zahneisen übergangen zu werden. Diese echte Arbeitsweise gab einem Kritiker den Anlass, mit einem Seitenblick auf die malerische Behandlung des Giovanni di Bologna von einer „Rohheit des ausführenden Steinmetzen“ zu reden, während es doch ein arger Mißgriff gewesen wäre, den körnigen Untersberger Stein an dekorativen Gruppen, die sich der Architektur einzufügen und im Freien weit¬ hin zu wirken haben, in gleicher Weise zu bearbeiten, wie etwa den für die Nahansicht einer Halle bestimmten cararischen Marmor. Bemerkt mag werden, dass die Gruppe des Schleuderers eine andere, sozusagen derbere Oberfläche zeigt, als die Gruppe der Frau, sodass wir auch hier einer stilvollen Übereinstimmung von Inhalt und Ausdrucksweise begegnen.

Immer muss bei der Betrachtung festgehalten werden, dass wir hier eines der seltenen Beispiele von Ver¬ einigung der Architektur und der Plastik vor uns haben. Die richtige Abwägung der beiden Bestandteile ist von ausschlaggebender Bedeutung.

Die plastischen Gruppen sind Teile der Architektur und haben als solche zu wirken. Sie würden, auch ab¬ getrennt vou der Architektur als Einzelgruppen, in einer Glyptothek etwa, sich zur Geltung bringen; diese Vollendung der plastischen Arbeit steigert ihrerseits wiederum die Ansprüche an die Architektur, welche ebenso fern von einem bestimmten historischen Stil, ebenso zeitlos wie die Gruppen, nur aus dem Zwecke heraus gefunden sein muss. Der Ruhe und Geschlossen¬ heit der Gruppen musste die Einfachheit der Architektur entsprechen, die in Wiederholung und feiner Abänderung des Nischenmotivs ihren Ausdruck gefunden hat.

Für die symbolische Andeutung genügt es voll¬ kommen, dass die Gruppen auf dem Brunnenrande als Teile der Architektur sich aufbauen. Würden sie, wie der durch Panoptikum-Effekte verdorbene Sinn des so¬ genannten „Publikums“ verlangt hat, im Wasser stehen, so würde die scharf abgewogene Harmonie zwischen ar¬ chitektonischen und plastischen Teilen zerstört, die Archi¬ tektur würde das Übergewicht erlangen, die beiden Gruppen würden aus organischen Bestandteilen dekorative Zuthaten.

DER WITTELSBACHER BRUNNEN IN MÜNCHEN.

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Eine Arbeit wie die des Maximiliansbrunnens hat zur Voraussetzung, mit und neben der künstlerischen Intuition, eine sehr klare Empfindung für das, was not tliut. Man wundert sich, wenn man in den Erörterungen über dieses Werk das tiefe Denken und die feine Be¬ rechnung in einen Gegensatz gebracht sieht zum naiven Schaffen. Wirklich große Kunstwerke kommen eben nur zu stände, wo über dem schaffenden Urgrund des Unbewussten die Logik und Energie waltet, welche die Gestalten des Urgrundes zu fassen und zu formen die Macht hat. Waren Leonardo und Michelangelo oder Richard Wagner weniger naiv schaffend, weil sie alle tiefe Denker waren? Leider giebt es noch immer Menschen, welche meinen, die Naivetät des Künstlers läge in der Unklarheit. Davon ist allerdings in den Arbeiten Hildebrand’s nichts zu finden.

Bei einem so großen Werke ist es immer von Interesse zn wissen, welche Summen es erfordert hat. Auch späteren Generationen wird es von Wert sein, die Kosten dieses Werkes mit denen anderer Arbeiten in anderen Hauptstädten vergleichen zu können.

Ursprünglich waren für den Brunnen bewilligt 200.000 M. Als man sich entschloss, anstatt des weichen Lothringer Kalksteines, des Savonniere, den wetterbe¬ ständigen Untersberger Marmor zn wählen, wuchsen die Kosten nur um die 30.000 M. für das Material, da der Künstler die im Verhältnis zur Arbeit am Lothringer Stein dreifach so mühevolle Arbeit am Untersberger Marmor ohne Nachforderung übernahm. Die Architektur erforderte eine Ausgabe von 113.000 M. , so dass für

den plastischen Teil 87.000 M. blieben. Abgesehen von der persönlichen Arbeit des Künstlers, blieb an Atelier¬ unkosten und Arbeitslöhnen eine Ausgabe von 52.000 M. Da sich bei den Baukosten eine Ersparnis ergab, kam bei der Schlussabrechnung auf den Künstler die Summe von 45.000 M. Die Arbeit begann im Sommer 1891 mit der Herstellung der großen Modelle nahm also vier Jahre angestrengtester Thätigkeit in Anspruch.

Wenn der Maximiliansbrunnen heute erst von einem verhältnismäßig kleinen Kreise als ein monumentales Werk allerersten Ranges erkannt wird, so ist dies selbst¬ verständlich und kann nicht anders sein. Der Künstler wäre nicht der, welcher den anderen vorausdenkt und vorausschaut, wenn das, was er schaut und denkt, von allen ohne Weiteres verstanden würde. Der wahre Künstler teilt der Menschheit durch seine Werke mit, was organisch, harmonisch, groß und schön sei. Er be¬ stimmt, und nicht das sogenannte Publikum ; denn wenn dem so wäre, so würde ja das Publikum der Künstler sein, welcher das Schöne hervorbringt. Der Prozess des Durchdringens zur richtigen Schätzung vollzieht sich bald in Jahren, bald in Dezennien, um so langsamer, je höher das Kunstwerk über der ästhetischen Durch¬ schnittsbildung steht, und je weniger es sich der herr¬ schenden Phrase anpasst. Es gilt eben das von Schopen¬ hauer aufgenommene Wort Mahlmanns:

„Ich denke, das wahre Große in der Welt Ist immer nur das, was nicht gleich gefällt.“

Straßburg i. E.

A. SCHRICKER.

Plakette aus dem 15. Jalirh. Berliner Museum.

EIN VERSCHOLLENER GIEBEL.

MIT ABBILDUNGEN.

S kann verwegen scheinen, von einem Giebel, von dem kein einziges Fragment aufgefunden wurde, von dem keine Be¬ schreibung überliefert ist,, von dem wir weder Ort noch Stelle kennen, von dem nicht einmal die Kunde auf uns kam, eine vollständige Rekonstruktion liefern zu wollen; aber so gut wie das Ohr Verse aus Prosa heraushört, kann das Auge aus einem, wenn man so sagen darf, gelösten Bilde die Elemente von gebundenen Giebelkompositionen heraus lesen. Das klassische Beispiel dafür wird das Puteal in Madrid und der Parthenongiebel bleiben. Auch sonst mögen noch verborgene Quellen da sein ; aber kaum viele, die so reichhaltig fließen, wie diejenige, die ich entdeckt zu haben vermeine.

Schon seit einigen Jahren hatte ich die Beobachtung gemacht, dass die Hauptseite der berühmten Talosvase aus der Sammlung Jatta beinahe alle Elemente einer Giebelkomposition aufzuweisen habe, und hatte auch wiederholt eine Rekonstruktionsskizze entworfen; erst vor kurzem aber habe ich diesen Entwurf ernstlich durchgearbeitet, als es für mich galt, einen Beitrag zu liefern zu dem Album, das Herrn Prof. Aug. Allebe als An¬ denken an seine fünfundzwanzigjährige Thätigkeit an der Amsterdamer Akademie der bildenden Künste von seinen Schülern gewidmet wurde.

Erst die richtige Abteilung der Hauptseite der Vase in Baumeisters Denkmälern des klassischen Altertums S. 1722, Fig. 1804, führte mich auf den Gedanken, dass eine Giebelkomposition dem Vasenmaler zur Vorlage ge¬ dient habe.

Der fliehende Argonaut und die Kreta, die sich fast in derselben Weise entsprechen wie die Athena und der Gott mit der Doppelaxt des Parthenongiebels, die Boreaden Zetes und Kalais einerseits, Poseidon und

Amphitrite andererseits, die ganz das Schema von Eck¬ figuren haben, und endlich die Mittelgruppe der den Talos einfangenden Dioskuren, die sich auch gegenseitig wiederholen, waren es vorzugsweise, die mich auf den Gedanken dieses Versuches führten.

Nur die Medeia schien zunächst zu widersprechen, da ihr eine Gegenfigur fehlte, aber auch diese bot sich beinahe ungesucht. Es fehlt doch in dem Bilde die Schutzgöttin der Argonauten, die Athena, die selten bei ihren Abenteuern zu fehlen pflegt. Ich wandte mich zur Rückseite der Vase, wo die Teilnehmer noch einmal wie nach dem Siege zusammengestellt erscheinen und fand dort eine Athena, die, soweit sie erhalten,1) ein genau entsprechendes Gegenbild zur Medeia darbot.

Es galt jetzt die Komposition zusammen zu setzen und ich behielt dazu möglichst alle Details des Vorbildes bei. Hinter der Mittelgruppe zeigte meine Vorlage eine Platane, die ich beibehielt, weil sie die Giebelspitze über dem Kopfe des Talos ausfüllt, und die ganze Kreta an¬ deutet, und ich berufe mich dabei auf den Ölbaum, der die Mitte des westlichen Parthenongiebels einnahm. Unter einem Pferde des Polydeukes wachsen Gestrüppe, die ich zur Dekoration der unvermeidlichen Stützen der Giebelpferde an wandte, wobei sich die Frage regte, ob nicht auch die Stützen der Parthenongespanne in ähn¬ licher Weise durch Malerei als Myrten(?)biische charak- terisirt gewesen sind.

Die Argo, worauf die Boreaden, höher als auf dem Giebelboden aufzuliegen kamen, konnte an der andern Seite einem Ruhebett entsprechen, wie es am Parthenon die Moiren haben und die linke Giebelecke, wo die Argo etwas allzu eintönig wirkte, konnte glücklicherweise

1) Nicht erhalten und falsch restaurirt sind Kopf und rechter Teil der Brust.

EIN VERSCHOLLENER GIEBEL.

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durch den Delphin der Vase belebt werden, wie man überhaupt gern Tiere zur Ausfüllung dieser Ecken an¬ zuwenden pflegte. Ich erinnere an den Krebs des Hydragiebels, die Hühner der Schatzhäuser von Olympia, den Hund des Heroons von Xanthos (s. g. Neriden- monument), um von den Pferdeköpfen des Parthenon nicht zu reden, aber vor allem auch an die sich ent¬ sprechenden Fisch- und Schlangenleiber der attischen Porosgiebel. Eben diese Giebel veranlassten mich dann, dem Delphin entsprechend, in der rechten Ecke vor¬ schlagsweise einen „Ketos“ einzuzeichnen, der wohl etwas zu anspruchsvoll geraten ist, der aber an der Götterseite das Meer symbolisirt, wie es der Delphin an der Seite der Menschen in mehr naturalistischer Weise sichtbar macht. Wir kommen gleich darauf zurück.

den westlichen Parthenongiebel nachweisbar scheint. Es ist hier nicht der Ort, darauf ausführlicher einzugehen; aber mag man denken über die Petersburger Vase mit dem Streit um Attika, wie man will, eins scheint unab¬ weisbar, dass der Vasenmaler unter dem Banne der Darstellung des Parthenongiebels stand, was er wohl auch selber durch den kleinen Tempel seines Bildes aus¬ spricht. Wie den Ölbaum, so Hat er wohl auch seine Nike diesem Giebel entlehnt. Dieser Nike entstammen die Flügelfragmente, die Michaelis Taf. 8 abbildet.

Dass sowohl Talos als auch die Boreaden gegen den Gebrauch ungeflügelt erscheinen, erklärt sich leicht, so¬ bald wir einen Giebel als Vorlage annehmen, wo alle diese Flügel schwer hinein passen würden.

Übersehen wir jetzt noch einmal die Darstellung

Die Talosvase. Vorderseite.

Erst muss ich noch einige Nebensachen erläutern. Zunächst habe ich die beiden Boreaden umgestellt, das heißt, ich glaube annehmen zu dürfen, dass der Vasen¬ maler hier seiner Bildfläche zuliebe von der Anordnung des Giebels abgewichen ist, da die Figuren umgewechselt viel mehr den Charakter von Eckfiguren haben. Dann habe ich auch den Mantel der Kreta in der allbekannten Weise sich durch den raschen Gang in der Luft auf¬ bauschen lassen und habe damit unabsichtlich eine formal dem Aplustre der Argo entsprechende Linie erhalten. Ich bilde mir ein, dass diese Entsprechung wie eine Gegenprobe die Zulässigkeit meines Versuches zu er¬ weisen scheint. Zuletzt habe ich noch eine kleine Figur der Rückseite der Vase in meine Darstellung aufzu¬ nehmen gewagt. Die kleine Nike meine ich, die leider nur ganz fragmentarisch erhalten ist. Ich habe mich dazu nicht verleiten lassen durch die Nike, die ich für den Ostgiebel des Parthenon erwiesen zu haben meine, aber durch die kleinere Nike in dem Ölbaum, die mir für

der Talosjagd, wie sie sich in der gewonnenen Form ergiebt. Links sieht man das Meer, im Hintergründe, wo die Argo gelandet ist und der Strand die Insel an¬ zeigt. Dort hat Talos die Argonauten bedroht und noch flieht ihr Führer (?) zum Schiffe zurück. Aber schon hat Medeia Rat geschafft und ihre Zaubermittel haben sich auch auf den ehernen Mann wirksam erwiesen und ihn betäubt, sie bleibt ruhig an der Küste stehen, während die Dioskuren auf ihren windschnellen Rossen quer durch die Insel den Hüter Kreta’s jagen , um ihn einzufangen und ganz unschädlich zu machen. Schon ist Polydeukes vom Pferde gesprungen und ergreift den Talos, wie er eben zusammensinkt, und Nike, von Atliena gesendet, setzt ihm den Kranz des Segens auf das Haupt. Atliena selber erblickt man noch mehr nach vorne, wie sie mit der ansgestreckten Hand dem Lauf des Talos Einhalt gebietet und an ihr vorbei flieht, immer mehr nach vorne, die Nymphe der Insel, die Kreta, zu ihrem äußer¬ sten Strande, wo wieder, ganz im Vordergründe, das

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EIN VERSCHOLLENER GIEBEL.

Meer und die Götter des Meeres erscheinen.1) Im Vordergründe also die Götter und göttlichen Wesen, die Ort und Handlung symbolisiren, im Hintergründe die Heroen, die selber die Episode abspielen, in einer beinahe landschaftlich ausgestatteten Umgebung, auf einem Situationsplan, der sich ungefähr so gestalten würde, wie die Zeichnung auf Seite 124.

Wenn man sich wundern sollte, dass die eine Ecke den Vordergrund, die andere den Hintergrund darstellte, so muss man sich vergegenwärtigen, dass wir heutzu¬ tage so sehr von den Kinderjahren an gewohnt sind an die perspektivische Projektion auf einer Fläche, dass

hervorzuheben. Mutatis mutandis ist das Prinzip das¬ selbe.

Auch sonst wird diese Darstellungsweise zu er¬ kennen sein, u. a. am Ostfries des sog. Theseion, wo sich der Streit durch einen Bergpass durchzieht; aber ich erachte es verfrüht, schon jetzt die Konsequenzen meiner Vermutung ziehen zu wollen, ehe das Prinzip die Feuer¬ probe der Kritik bestanden hat.

So wage icli es auch noch nicht, den Gewinn zu erörtern, der sich aus den fast durchweg1) inschrift¬ lich bezeugten Figuren dieses Giebels für andere Giebel ergeben könnte.

Die Talosvase. Rückseite.

uns jede andere Darstellungsweise fremdartig berührt, ja dem ungeübten Auge immer falsch erscheint. Sobald man sich aber frei zu machen weiß von unserer An¬ schauung, wird man die vorgeschlagene Auffassung als möglich gelten lassen müssen, ich hoffe aber auch als wahrscheinlich annehmen.

Als erklärende Parallele führe ich die Beleuchtung von Gemälden des 17. Jahrhunderts an, wo Hintergrund und Vordergrund im Schatten, in Ton gemalt sind, um die Hauptgruppe in der Mitte durch starke Beleuchtung

1) Der Vasenmaler hat seiner Bildfläche zuliebe die Seegötter in den Hintergrund verwiesen und dabei den Zu¬ sammenhang gelöst.

Auch die Frage nach dem möglichen Aufstellungs¬ orte des Giebels scheint mir gewagt, obgleich diese wenigstens nicht verfrüht heißen kann. Da Kreta wohl außer Betracht bleiben muss , würde man sonst einen kretischen Mythus oder ein kretisches Märchen nirgends eher suchen als in Attika.

Die Übereinstimmung mit dem Parthenongiebel ist so auffällig, dass ich, zumal da eine Vase unsere einzige Quelle ist, selbstverständlich an Attika denken möchte. Zwar weiß unsere Überlieferung dort wenig

1) Nur der Argonaut, der zur Argo flieht, hat keine In¬ schrift, die der Kreta wurde erst nach der Reproduktion der Darstellung entdeckt.

EIN VERSCHOLLENER GIEBEL.

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oder gar nichts von anderen bildlich geschmückten Giebeln, wie am Parthenon, aber die Monnmente haben doch schon einiges zu erkennen gegeben. Vom sog. Theseion weiß man wenigstens, dass es Bilderschmuck in beiden Giebeln gehabt hat und in Eleusis hat man die Fragmente eines kleinen Giebels gefunden, der in einem ganz ähnlichen Verhältnis wie diese zum Parthenon gestanden zu haben scheint. Groß kann auch unser Giebel nicht gewesen sein, das geht aus der beschränkten Figurenzahl hervor, die nur auf Kosten der Geschlossen¬ heit der Komposition zu vermehren wäre, denn wie die erhaltenen Giebel uns belehren, steht die Figurenzahl in Widerspruch mit dem, was man aprioristiscli ver¬ muten könnte, zu der Größe des Giebels ungefähr im Verhältnis.

Würde man weiter fragen wollen, welchem Tempel er angehört haben möge, so muss ich die Antwort schuldig bleiben. Von einem Dioskurentempel , wohin er passen könnte, weiß ich nichts. Auch wäre ein solcher nicht unbedingt zu verlangen. Ist es erlaubt, eine unbeweis¬ bare Vermutung, nicht mehr als eine bloße Möglichkeit auszusprechen, so wage ich zu erraten, dass es der west¬ liche Giebel des sog. Theseion gewesen sein könnte. Die Größe ist ungefähr so wie wir vermuteten. Der Stil würde vortrefflich stimmen, ja scheint dem Ostfries dieses Tempels noch näher zu stehen als den Parthenongiebeln. Auch der Inhalt, scheint es mir, passt nicht übel. Ich denke mir an diesem Tempel, worin man jetzt wohl allgemein das Hephaisteion erkennt, wo Athena und Hephaistos gemeinsam verehrt wurden, im Ostgiebel die Geburt des Erichthonius, ihres Sohnes und Pfleglings, an der Westseite einen Sieg der Athena über Hephaist, indem ihre Schützlinge das furchtbare Gebilde des kunst¬ fertigen Gottes überwältigen. Beides aber wird uns wohl immer ein unkontrollirbares Phantasiegebilde bleiben müssen, da es uns an Mitteln zur Erkenntnis fehlt.

Ich sprach von dem Stile dieses Giebels, hatte da¬ bei aber die Figur des Talos selber ausnehmen müssen, da im Vasenbilde klar ist, wie der Künstler für das Werk des Daidalas oder Hephaist sich an ältere Vor¬ bilder angelehnt hat. Eher als von Myron hat er sich beeinflussen lassen von Kresilas, dessen Hermolykos die¬ selbe Beinstellung und eine ganz ähnliche Situation ge¬ habt zu haben scheint. Gewissen Behauptungen gegen¬ über bleibt es auf jeden Fall interessant, dass wir auch hier einen „deficiens“, keinen Sterbenden, vor uns haben.

Was für die vermutete Existenz des Giebels wich¬ tiger scheint, ist, dass wir, wie ich denke, die Fragmente besitzen eines Giebels, der von dem Talosgiebel beein¬

flusst sein dürfte; den Giebel aus dem epizephyrischen Locri, meine ich, worin Petersen wohl mit Recht eine Darstellung der Schlacht bei Lagra vermutet hat. Ja, die wenigen Fragmente, die wir besitzen, stimmen so sehr überein, dass ich bei dem Bekanntwerden zunächst daran gedacht habe, sie für diesen Giebel in Anspruch zu nehmen. Wieder sind es zwei berittene Dioskuren, von dem der eine vom Pferde springt, und wieder schließt sich, wie es scheint, an diese bewegten Figuren eine ruhig stehende weibliche Figur, nach der Größe zu urteilen, mehr der Ecke zu, an. Aber die Dioskuren von Locri bewegen sich unzweifelhaft der Mitte zu, und nehmen auch eine weiter von der Mitte entferntere Stelle ein, mehr derjenigen entsprechend, die sie in der Eberjagd in dem tegeatischen Giebel des Skopas einge¬ nommen haben müssen. Auch reiten sie in Locri über das Meer, nicht über Land. Nun will ich nicht ver¬ hehlen, dass ein Schüler der Bildhauerklasse der hiesigen Akademie, Herr Wortmann, den ich als letzte Übung in der Ornamentik den Talosgiebel zu rekonstruiren ver¬ anlasst hatte, auch die Pferde der Mitte zu dargestellt hat, indem er beide Dioskuren abgestiegen, Polydeukos und Talos als Mittelgruppe und Medeia als Pendant des Kastor bildete; aber einerseits hatte er sich dazu nur bestimmen lassen durch den Wunsch, einen nicht zu tiefen Giebelboden anzunehmen, was nach dem Parthenon doch unnötig ist, und andererseits hatte er bei den sonstigen Vorzügen seiner Komposition gar nichts fest zu halten gewusst von dem Vorwärtsstürmen der rasenden Jagd, wie es die Vase zeigt. Ich vermelde diesen Versuch denn auch nur wegen des Giebels von Locri, wo wir die¬ selbe Umwandlung wahrnehmen, die dort wohl besser motivirt war.

So hat sich denn dieser Giebel, vermutungsweise wenigstens, zeitlich und örtlich flxiren lassen und seine eigene Stelle in der Entwicklungsgeschichte der Giebel¬ komposition eingenommen und manche Erörterungen würden sich hier noch anreihen lassen, z. B. über die Rolle, die das Pferd im Giebeldreieck als Vermittler zwischen den größeren Mittelflguren und den kleineren Nebengestalten einnimmt; es scheint aber ratsam, hier einzuhalten , um nicht allzusehr abzulenken von der Hauptsache, die mir weniger in der Rekonstruktion des Giebels selber zu liegen scheint, als in der Erkenntnis der Anzeichen, die es ermöglichen, aus der freien Darstellung der Vase die Glieder der gebundenen Komposition wieder zu erkennen.

Amsterdam, im September 1895.

J. SIX.

T1NTORETTO ALS PORTRÄTMALER.

MIT ABBILDUNGEN.

NTER den zahlreichen Büsten hervor¬ ragender Venetianer, die im Hofe des Dogenpalastes in der oberen Säulenhalle aufgestellt sind, befindet sich zwischen Tizian und dem Dogen Andrea Gritti diejenige Tintoretto’s mit der Unterschrift:

Jacopo Robusti Sopprannomato ilTintoretto Emulo ai maggiori artisti Di tutti il piff ardito, il piu diverso

Fu cosi rapido d’ingegno e di mano

Che si disse il fulmine della pittura.

N. 1512. M. 1594.

Das Geburtsdatum ist zwar falsch angegeben , da der Künstler erst im Jahre 1519 das Licht der Welt erblickt hat. Aber die mit wenig Worten gegebene Charakteristik ist ganz vor¬ trefflich. Die Büste selbst ist eine konventionelle, we¬ nig bedeutende, antikisiren- de Bildhauerarbeit und der dargestellte Kopf ist nichts weniger als schön. Wie unvorteilhaft sticht er z. B. von dem geistreichen, hoch- bedeutenden, ausdrucks¬ vollen Haupte Tizian’ s ab!

Immerhin liefert uns der auffallend schmale Kopf des bejahrten Tintoretto mit dem vollen, kurzlockigen

Haupt- und Barthaar, mit der gefurchten Stirn und den hohlen Wangen, mit den tiefliegenden, groß ge¬ öffneten und starr geradeaus blickenden Augen, eine lebendige Illustration zu den Worten der unter der Büste befindlichen Inschrift. Der Kopf drückt in äußerst charakteristischer Weise die verzehrende Leidenschaft¬ lichkeit aus, welche Tintoretto in höherem Grade als irgend einem anderen Maler eigentümlich gewesen ist.

Männliches Bildnis. Von Tintoretto. Prado, Madrid.

Die künstlerische Persönlickeit dieses Mannes er¬ klärt sich hauptsächlich aus drei maßgebenden Faktoren. Dass er zu Venedig geboren ward. Dass sein Leben in die Zeit des Eklekticismus fiel. Endlich dass er wie bereits hervorgehoben wurde eine urkräftige, durch und durch männliche, eine feurig leidenschaftliche

Natur war. Als Venetianer musste er in das Atelier des damals Venedig künst¬ lerisch beherrschenden Ti¬ zian eintreten. Als Eklek¬ tiker begnügte er sich nicht mit dem Studium eines ein¬ zigen Meisters, sondern er suchte noch andere Bil¬ dungselemente in sich auf¬ zunehmen. Als kräftige, männliche, leidenschaftliche Natur erkannte erinMicliel- angelo die ihm am meisten kongeniale Persönlichkeit. Er strebte die Zeichnung Michelangelo ’s mit dem Ko¬ lorit Tizian’s zu verbinden. Man kann aber nicht zwei Herren dienen, um wie viel weniger zwei einander so sch ar f entgegenges etzten Persönlichkeiten. So hat auch Tintoretto das Pro¬ blem nicht gelöst, das er sich gestellt hatte. Zwar übertrifft er Tizian durch die Plastik seiner Model- lirung, eine unmittelbare Folge des Michelangelesken Einflusses, aber er steht ihm dafür an Pracht, Schönheit und Leuchtkraft der Farbe bedeutend nach. In koloristischer Beziehung nimmt Tintoretto überhaupt die letzte Stelle unter den klassi¬ schen Malern der venetianischen Schule ein, den Gior- gione und Palma, den Veronese und Moretto, den Bor- done und Pordenone. Sein Farbenbouquet ist nichts weniger als duftig, einige Töne seiner Palette sind geradezu als hässlich zu bezeichnen. Ferner gefiel

TINTORETTO ALS PORTRÄTMALER.

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sich Tintoretto in den külmsten Verkürzungsproblemen, aber er war nicht imstande, dieselben stets in befriedi¬ gender Weise zu lösen. Er gehört zu den ersten Künstlern, welche den Michelangelesken Stil übertrieben haben. Er wollte dramatisch wirken und er wirkt auch außerordentlich dramatisch. Aber über groß erfundenen und lebendig bewegten Vordergrundsfiguren verliert er den Blick auf das Ganze. Er zersplittert seine Kräfte in Episodenmalerei, wodurch seine großen Kompositionen häufig unübersichtlich werden.

Am treuesten hielt Tintoretto an der einheimischen Kunstweise im Bildnisfach fest. Er -sah wohl ein oder er fühlte wenigstens, dass auf diesem Gebiete die ve- netianische Schule allen an¬ deren voraus sei. Ferner konnten sich im Porträt seine eben gerügten Fehler, die übergroße Vorliebe für Verkürzungen und die Ver¬ worrenheit der Komposition nicht wie auf anderen Stoff¬ gebieten geltend machen.

So kommt es, dass sich uns Tintoretto als Bildnismaler von seiner liebenswürdig¬ sten Seite zeigt. Er offen¬ bart sich da als ein voll¬ reifer, durchaus abgeklär¬ ter, harmonisch in sich ge¬ schlossener Künstler. Da¬ her tritt er uns auch im k. k. Hofmuseum in Wien, wo er sehr bedeutend durch Porträts vertreten ist, un¬ gleich sympathischer ent¬ gegen als in seiner Vater¬ stadt Venedig, wo wir außer vorzüglichen Porträts noch eine Menge seiner großen, bisweilen recht langweili¬ gen Kompositionen zu sehen bekommen. Überhaupt stehen Tintoretto’s Arbeiten hinter all’ den herrlichen Kunst¬ schätzen der Lagunenstadt weit zurück, während in Wien seine Bildnisse mit zu den ersten Zierden des an venetianischen Werken so reichen Museums gehören.

Tintoretto’s Bildnismalerei basirt auf derjenigen Tizian’s. Im Original wird man Porträts der beiden Künstler ziemlich leicht von einander unterscheiden können. In Abbildungen dagegen sehen sie sich oft verzweifelt ähnlich. Wenn man aber eine große Anzahl Bildnisse von Tizian und Tintoretto eingehend studirt, so entdeckt man auch abgesehen von der Malweise tief¬ greifende Unterschiede. Tizian spielt in der Entwick¬ lungsgeschichte des Porträts die bedeutendste Rolle.

Er zuerst verband mit vollkommener Freiheit der Auf¬ fassung eine imposante Großartigkeit der Darstellung. Aber Tizian lässt doch wie ein geschickter Photograph seine Personen die für sie geeignetste Stellung einnehmen, er heisst sie ihre Arme und Hände in die und die Lage bringen, er legt ihre Gewänder in die denkbar schönsten Falten. Mit einem Wort: so wunderbar Tizian’s Porträts sein mögen, so sind sie doch von einer gewissen Pose nicht freizusprechen. Andererseits führt Tizian seine Porträts sehr liebevoll durch und zwar nicht bloß die Köpfe, sondern auch die Hände, das Gewand und alles mögliche Beiwerk, das er im großen Ganzen reichlich anzu¬ bringen pflegt. Zu dem Bei¬ werk gehört auch die be¬ kannte dekorative Säule mit dem schön drapirten Vorhang, sowie das von Giovanni Bellini herüber¬ genommene Motiv des klei¬ nen rechteckigen Fensters mit dem Ausblick in die Landschaft. Bei Tintoretto ist dies alles anders. Zwar kommt auch bei ihm das Fenster mit dem Ausblick in die Landschaft gelegent¬ lich vor, z. B. in sehr an¬ sprechender Weise auf dem Porträt eines als Laur? Amulius bezeiclnieten Pro¬ kurators aus dem Jahre 1570 (Dogenpalast, Atrio quadrato). Man sieht hier durch das Fenster auf das von Gondeln belebte und von der untergehenden Sonne beleuchtete Meer. Aber im Allgemeinen ist dieses Motiv des malerischen Durchblickes bei Tinto¬ retto nicht üblich. Eben¬ so verhält es sich mit Säule und Vorhang. Dagegen bringt der Künstler öfters ein Wappen an, vermut¬ lich auf besonderen Wunsch des Bestellers. Im All¬ gemeinen aber verschmäht er jegliches Beiwerk. Er giebt auch den Dargestellten fast nie in ganzer Figur, sondern vom Körper in der Regel nur soviel, dass er beide Arme mit den Händen anbringen kann, also eine Art Mittelding zwischen Kniestück und Brustbild. Da¬ neben kommt auch häufig Brustbild bei ihm vor. Dass Tintoretto keine Reiterporträts gemalt, erklärt sich ganz einfach daraus, dass es in Venedig eben keine Pferde giebt, der Künstler diese Tiere mithin nicht eingehend studiren konnte und auch seine Besteller, die venetia¬ nischen Würdenträger, schwerlich auf den Gedanken

Bildnis einer venezianischen Dame. Vuu Tintoretto. Hofmuseum, Wien, Nr. 511.

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. II. ß.

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TINTORETTO ALS PORTRÄTMALER,

kommen konnten, sich zu Pferde malen zu lassen. Übrigens legt Tintoretto auf die Durchbildung des menschlichen Körpers wenig Wert und vernachlässigt besonders die Hände. Dieselben bilden regelmäßig den schlechtesten Teil des ganzen Bildes. Eine angeblich demonstrirende, in Wahrheit aber recht nichtssagende Handbewegung ist für ilm sehr charakteristisch. Das Gewand skizzirt er gewöhnlich ganz einfach mit wenigen Tönen und deutet die belichteten Faltenbrüche mit breiten kühnen Pinselstrichen an, deren Wirkung ganz famos ist. Auch liebt er es, seine dargestellten Persönlichkeiten nicht in die Mitte des Bildes zu setzen, sondern sie etwas zur Seite zu rücken und sie zugleich schräg zur Bildfläche

Prokurator Andrea Cappello. Von Tintoretto. Venedig, Akademie.

anzuordnen. Die Köpfe werden in Dreiviertel-Profil, fast in Vorderansicht gegeben, während die Augen ge¬ wöhnlich nach der anderen Seite wie der Kopf gewandt sind oder starr aus dem Gemälde herausblicken und sich in diejenigen des Beschauers einzubohren scheinen. Dieses Raffinement übertrumpft Tintoretto bisweilen noch durch ein anderes, indem er das vom Beschauer ent¬ ferntere Auge zu klein darstellt oder zu wenig hervor¬ treten lässt. Es ist das ein Raffinement, welches uns geradezu modern anmutet. Auf die Darstellung des Kopfes konzentrirt Tintoretto sein ganzes Können. Dabei wird der Darzustellende nicht etwa kleinlich Zug für Zug hingepinselt, sondern seinem innersten Wesen nach und dabei doch in momentaner Erregung erfasst und

mit kecken Zügen auf die Leinwand hingezaubert. Tintoretto’s Bildnisse sind wirklich so schön, dass man sich an ihnen gar nicht satt sehen kann. Welch’ wunder¬ bare Charakterfigur hat er z. B. in dem Senator im Dogenpalast Vorzimmer J. Nr. 299 oder in dem Proku¬ rator C. Morosini oder in dem Dogen Alvise Mocenigo, welch’ Kapitalstück in seinem Nicolö Priuli geschaffen! (Venedig, Akademie, Saal X, Nr. 3; Saal XVI, Nr. 27; Dogenpalast, Atrio Quadrato.) Durch die geschilderte Vereinfachung einerseits und die geschickte Steigerung andererseits, vorzüglich aber durch die bedeutend plasti¬ schere Modellirung erreicht Tintoretto in seinen Porträts eine bedeutend wuchtigere Wirkung als Tizian. Als

Doge Alvise Mocenigo. Von Tintoretto. Venedig, Akademie.

malerische Leistungen stehen die Bildnisse Tizian’s natürlich höher, als Charakterköpfe kommen ihnen die¬ jenigen Tintoretto’s gleich. Tizian ist mehr Idealist, Tintoretto mehr Realist. Jener ist edler, stimmungs¬ voller, schönheitstrunkener, dieser rücksichtsloser, sach¬ licher, wahrer.

Tintoretto verhält sich in mancher Beziehung zu Tizian, wie van Dyck zu Rubens. Rubens und Tizian sind universell. Van Dyck übernimmt im wesentlichen nur das Porträt von seinem Meister, zeigt sich aber auf diesem beschränkten Gebiet vielleicht noch größer, jeden¬ falls bedeutend feiner und vornehmer als jener. Tinto¬ retto erreicht seinen großen Vorgänger auch nur im Porträt. Rubens hat Rubens’sche Hände gemalt,

TINTORETTO ALS PORTRÄTMALER.

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Tizian Tizian’sche Hände. Beide aber haben dennoch bis zu einem gewissen Grade individualisirte, jedenfalls äußerst lebensvolle Hände gemalt. Ihre beiderseitigen Schüler aber vernachlässigen die Hände, bei Beiden sind sie immer konventionell, immer die gleichen: bei van Dyck lang, schlank, schwindsüchtig, aristokratisch; bei Tintoretto breit, plump, bäurisch, nichtssagend.

Noch eine andere Parallele drängt sich uns auf. Zwischen Tintoretto und unserem Lenbach. Bei Beiden finden wir dieselbe Verachtung der Hände. Beide können und wollen sie nicht malen. Beide konzentriren ihr ganzes Können auf das menschliche Angesicht. Dieses aber geben sie in überaus geistreicher, lebensprühender Weise wieder.

Bei aller von ihm angestrebten Einfachheit verleiht Tintoretto dennoch den von ihm dargestellten Personen einen Zug von Größe, den sie samt und sonders in Wirklichkeit trotz aller italienischen Grazie doch kaum gehabt haben dürften. Aber im übrigen wird dem Porträtirten we¬ der etwas hinzugefügt noch hinweg¬ genommen. Tintoretto idealisirt we¬ der, noch karikirt er. Er giebt in der That seine Venetianer mit einer oft geradezu erschreckenden Naturwahrheit wieder. Als offi- cieller Bildnismaler Venedig’s hatte er alle Dogen und Senatoren, Pro¬ kuratoren und Provveditoren zu malen. Seine Modelle waren nun trotz ihrer hochtönenden Titel häufig nicht die besten Charaktere. Erzählt uns ja die Geschichte der Republik Venedig genugsam von Verrat und Mord! Unter den so überaus zahl¬ reichen Porträts Tintoretto’s dürfte der deutsche Beschauer selten ein ihm wahrhaft sympathisches Gesicht antreffen. Allerdings kommt auch dies vor z. B. bei dem würdigen greisen Sena¬ tor in der Akademie zu Venedig. Saal X, Nr. 42. Im All¬ gemeinen aber schauen diese Männer zwar alle energisch und klug, jedoch ebenso falsch und verschlagen, stolz und hochmütig aus. Der eine Prokurator in der Wiener Galerie hat geradezu ein Verbrechergesicht. In interessantem Gegensatz zu den bleichen, feinen und hinterlistigen Räten steht der Admiral Antonius Lando, ein biederer und brutaler Kriegsmann mit frisch gerötetem Antlitz. (Dogenpalast, Vorzimmer.)

Einige der von Tintoretto gemalten Porträts venetia- nischer Würdenträger sind auf der Vorder- oder wenig¬ stens auf der Rückseite mit Daten bezeichnet. Diese Jahreszahlen beziehen sich aber nicht, wie man a priori annehmen würde, auf die Entstehungszeit der Bilder. Unmöglich kann z. B. das Porträt des Prokurators

Antonio Cappella bereits 1523 oder gar dasjenige des Prokurators Jacobus Superantio schon 1514 gemalt worden sein, da der Künstler ja überhaupt erst 1513 geboren wurde. (Venedig, Akademie, Sale Palladiane, Nr. 58 und Saal XIV, Nr. 2.) Diese Daten beziehen sich vielmehr auf den Amtsantritt der Dargestellten. Man kann nun zweifellos getrost behaupten, dass die Porträts der venetianischen Würdenträger während deren Amtsdauer entstanden sind. Die Datirung, welche wir auf diese Weise gewinnen, ist nur eine so approximative, dass wir daraus keine Schlüsse auf die Entwicklung Tintoretto’s als Porträtmaler ziehen können. Immerhin ergeben die positiv feststehenden Jahreszahlen die eine höchst interessante Thatsache, dass sich die Thätigkeit unseres Künstlers im Bildnisfach nicht nach der Sorgfalt und Glätte, bezw. der Freiheit und Skizzenhaftigkeit

der Ausführung in Perioden gliedern lässt, wie [das z. B. bei Franz Hals der Fall ist. Das erwähnte ganz dekorativ behandelte Bild des Morosini z. B. muss' vor 1562 gemalt worden sein, da jener in diesem Jahre starb. Das einschließlich des Gewandes und der Hände unge¬ wöhnlich sorgfältig ausgeführte Bildnis des Dogen Mocenigo kann dagegen frühestens 1570 entstanden sein, da der Dargestellte erst von diesem Jahre an die Dogen- wiirde bekleidete. Die auffallend sorgfältige und durch¬ geführte Behandlung des letzteren Bildes erklärt sich eben aus dem Umstand, dass es einen Dogen darstellt, der als solcher vielleicht besonders gut bezahlte. Immer¬ hin kann man annehmen, dass das mit den abgekürzten Worten: VJNC.S MAUROC. EQUJ. und dem Datum 1580 bezeiclmete Porträt im Atrio Quadrato des Dogen¬ palastes, welches eine ebenso geistvolle wie skizzenhafte Behandlung erkennen lässt, für die Spätzeit des Meisters

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TINTORETTO ALS PORTRÄTMALER.

charakteristisch ist. Vor diesem Bilde Tintoretto's drängt sich einem unwillkürlich trotz aller Verschieden¬ heit der Gedanke an die Werke aus der Spätzeit des Franz Hals auf.

In den Ausland hat Tintoretto lauter venetiani- sche Senatoren und Prokurato¬ ren verewigt, welche alle eine gewisse Fami¬ lienähnlichkeit mit einander be¬ sitzen. Die Por¬ träts im Prado zu Madrid zeigen uns jedoch, dass sich Tintoretto nicht bloß in der Darstellung die¬ ses einen eng um¬ grenzten Typus ausgezeichnet hat. Vielmehr ge¬ hören der vor¬ nehme, kluge, iro¬ nische, Lebemann, der elegante, thatkräftige, scharf¬ blickende General, der verschlagene Erzbischof Petrus mit zu den feinsten Charakterfiguren, welche der Künst¬ ler überhaupt geschaffen hat. (Nr. 412, 421, 417.)

Bisher haben uns nur Bildnisse ausgereifter Männer beschäftigt. Tintoretto hat nur sehr selten Frauen gemalt.

Jünglings- oder Kinderporträts von seiner Hand sind mir über¬ haupt nicht bekannt. Zum großen Teil lag das gewiss dar¬ an, dass er hauptsächlich von Männern , welche vermögend und in angesehenen Stellungen waren, Aufträge erhielt. Jedoch sind wir wohl berechtigt, aus dem ganzen durch und durch männlichen Wesen des Künst¬ lers zu schließen, dass er sich auch persönlich ähnlich wie unser Dürer mehr für ener¬ gisch ausgeprägte, bärtige Männerköpfe, als für zarte Frauen-, Kinder- und Jünglings- Angesichter interessirt hat. In dieser Beziehung nimmt er, wie in so vielen anderen, eine Ausnahmestellung unter den klassischen venetia- nischen Malern ein. In ganz Venedig ist mir kein einziges weibliches Bildnis von ihm bekannt. Dagegen

existirt z. B. ein solches in der kleinen Sammlung im Pal. Pompei in Verona (Nr. 45), eine unbedeutende Arbeit. Das merkwürdige Bild Nr. 511 (Nr. 309) im Hofmuseum zu Wien wird im officiellen von Engerth- schen Katalog zwrar als eine Arbeit Tizian’s aufgeführt. Wickhoff (Gazette des Beaux-Arts, 1893, p. 140) da¬ gegen erklärt das Bild als eines der seltenen Frauen¬ bildnisse Tinto- retto’s. Er führt für seine wie mir scheint sehr richtige An¬ sicht die treffende Begründung an, dass nur Tinto¬ retto, aber kein anderer es ge¬ wagt hätte, dieses rein physische, aller Seele und allen Geistes ent¬ behrende Weib so in voller Wahr¬ heit der Auffas¬ sung darzustel¬ len. Derselbe

rücksichtslose Naturalismus und dieselbe seelenlose Auf¬ fassung charakterisiren auch die verhältnismäßig zahl¬ reichen Frauenporträts unseres Künstlers im Prado zu Madrid. Es sind dies lauter Brustbilder, welche wahr¬ scheinlich Angehörige derselben Familie oder gar die¬ selbe Person in verschiedenem Lebensalter darstellen, da stets der nämliche dem Tizian verwandte, aber an Schönheit und Vornehmheit weit geringere Typus in ihnen wiederkehrt. Das gekräuselte Haar tritt mit¬ ten auf der Stirn etwas vor, geht nach beiden Seiten zu¬ rück und bildet so die hüb¬ schen freien Stirnecken. Die Stirn selbst ist breit, niedrig und ziemlich stark gekrümmt. Die Brauen sind sehr gerade und erscheinen daher unver¬ hältnismäßig lang. Die Augen sind in der Form etwas geschlitzt und stumpf im Aus¬ druck. Der Mund ist groß, die Lippen sind stark wulstig. Das Gesicht ist voll, das Kinn rund und stark, der Körperbau gedrungen, der mehr oder weniger entblößte Busen üppig. Die Hände endlich sind kurz und fleischig. Man kann schon aus dieser Beschreibung erkennen, dass

meisten sowohl in Venedig als auch im

Von Tizian’s „Zinsgroschen“. Dresden.

Rechte Hand des hl. Marlins auf Tintoretto’S „Vermählung der hl. Katharina mit dem Christkinde“. Venedig, Dogenpalast.

TINTORETTO ALS PORTRÄTMALER.

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Vom Bildnis des Doktors van Tkulden von Rubens. München, Pinakothek, Nr. 800.

das weibliche Schönheitsideal Tintoretto’s seinem ganzen kräftigen, ja etwas derben Wesen entspricht. Unwill¬ kürlich denkt man an die allerdings weit höhere, aber doch verwandte Schönheit der Helene Fourment, der Gattin des Peter Paul Rubens, mit dem Tintoretto über¬ haupt manche Ähnlichkeit be¬ sitzt. Auf dem Bilde Nr. 440 der spanischen Gale¬ rie offenbart sich uns der eigen¬ tümliche Frauen¬ typus der Tinto¬ retto in der ver¬ hältnismäßig noch am meisten schlanken , fri¬ schen, zarten und lieblichen, auf Nr.

444 dagegen in der breitesten, gröbsten, plump¬ sten und gewöhn¬ lichsten Art. Ma- drazo im „Cata- logo del Museo del Prado“ (Madrid, 1872, pag. 229) spricht die An¬ sicht aus, dass zwischen all den erwähnten Bildnissen einerseits und dem Porträt der Marietta, der Tochter des Künstlers, andererseits eine gewisse Familien-Ähn- lichkeit bestünde. Diese Ansicht ist vollkommen falsch. Mag der Stich (in den „Vidas de illustres pintores“ des Ridolfi), wel¬ cher die Züge der Marietta wiedergiebt, auch noch so roh sein, so tritt uns die Künstlertochter darauf im¬ merhin als eine sympathi¬ sche Erscheinung mit fri¬ schem reinen Gesicht und großen runden Augen ent¬ gegen. Es fehlt ihr durch¬ aus jener pikante Beige¬ schmack der Madrider Frauenköpfe. Außerdem ist Marietta Italienerin. In den Brustbildern des Prado dagegen glaube ich einen spanischen Typus zu er¬ kennen, womit die obige Analyse der Köpfe jedenfalls durchaus übereinstimmt. Die Hypothese des Madrider Kataloges scheint mir überhaupt nichts als ein aus der Analogie hergeleiteter Trugschluss zu sein. Tizian hat

Vom Bildnis des Herzogs von Croi von van Dyck München, Pinakothek, Nr. 841.

seine Tochter Lavinia häufig auf seinen Bildern dar¬ gestellt, also so denkt sich der Verfasser des Kata¬ logs hat man auch in den Frauenporträts des Tintoretto dessen Tochter Marietta zu erblicken. In summa steht Tintoretto, der Frauenmaler, hinter

Tintoretto , dem Schöpfer männ¬ licher Bildnisse, weit zurück.

Wenn bisher von männlichen Porträts gespro¬ chen wurde, so war immer nur das Porträt eines Einzelnen ge¬ meint Tintoret¬ to hat jedoch auch gelegentlich meh¬ rere Bildnisse zu einer Gruppe ver¬ einigt. Er dürfte der erste Künst¬ ler gewesen sein, der eine derar¬ tige Zusammen¬ stellung vorge¬ nommen hat. Im folgenden Jahrhundert, dem 17., wur¬ den die Gruppenporträts sehr beliebt und zwar bei den Holländern, bei van der Heist und Franz Hals, bei

Rembrandt und vielen an¬ deren. An irgend welchen kunstgeschichtlichen Zu¬ sammenhang ist dabei na¬ türlich nicht zu denken. Dagegen ist hier wie dort der Ausgangspunkt genau der nämliche. Eine Anzahl von Amtsgenossen lässt sich zum Ausdruck ihrer Zu¬ sammengehörigkeit auf einem Bilde darstellen. In Venedig wie in Holland waren diese Gemälde für öffentliche Gebäude be¬ stimmt. Während aber die Holländer gleichviel ob Männer oder Frauen , ob Bürger oder Soldaten gemütlich beisammen sitzend oder gar mit einander schmausend und zechend dargestellt sind, ordnet Tinto¬ retto ganz einfach mehrere an und für sich vorzüglich gemalte Porträts neben einander an oder er baut eine symmetrische Gruppe auf, aber er stellt auch nicht die geringsten Beziehungen zwischen den einzelnen Person-

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T1NT0RETT0 ALS PORTRÄTMALER.

lichkeiten her. Was könnte wolil bezeichnender sein für den Unterschied zwischen germanischer und romanischer Eigenart! Vor Tiutoretto’s Gruppenporträts fühlt man sich in peinlicher Weise an moderne Gruppen- Photograpliieen erinnert und man fragt sich unwill¬ kürlich: „Ja, was wollen denn diese Leute da beisammen?“ Noch schlimmer wird die Sache, wenn der Maler einer solchen durch und durch realistischen Gruppe irgend ein religiöses Symbol, z B. die Taube des hl. Geistes wie auf einem Bilde des Dogenpalastes (Vorzimmer I., Nr. 306) hinzufügt. Was soll man nun vollends dazu sagen, wenn vor drei Brustbildern venetianischer Senatoren der Auf¬ erstehungschristus aus dem Grabe herausstürmt, wie es auf einem Bilde der Aka¬ demie zu Venedig thatsäcli- lich dargestellt ist? (Saal III, Nr. 1.) Das ist doch gerade herausgesagt eine kolossale Geschmack¬ losigkeit! Man weiß aller¬ dings nicht, in wie weit der Künstler durch seine Auftraggeber gebunden war, aber es ist und bleibt im höchsten Grade merkwür¬ dig, dass ein Mann, welcher im Porträtfach so hervor¬ ragend dasteht und auch in der Entwicklungsgeschichte der Komposition durchaus keine unwesentliche Rolle spielt, Bildnis und Heiligen¬ darstellung in so unge¬ schickter Weise verbunden hat. Und doch ist gerade jenes Bild, welches zwischen 1539 und 50 gemalt wurde, ebenso charakteristisch für die späte Renaissancezeit im Allgemeinen, wie für Tintoretto im Besonderen.

Eine ruhige, repräsentative Auffassung, wie sie für die Verbindung eines Auferstehungschristus mit drei menschlichen Figuren die einzig befriedigende gewesen wäre, war damals bereits zur Unmöglichkeit ge¬ worden. Himmlische Erscheinungen mit menschlichen Porträts auf einem Bilde zu vereinigen, ist gewiss ein sehr schwer zu lösendes Problem. Es ist nun sehr inter¬ essant, zu vergleichen, in welcher Weise andere Künstler dieses Problem aufgegrilfen haben. Die Heiligendar¬ stellungen mit Stifterfiguren bieten uns ja reichliche Ge¬ legenheit dazu. Das Donatorenbildnis hat sich in der Kunstgeschichte vollkommen organisch entwickelt. Im Mittelalter wird der Stifter ganz diskret in die Gruppe der Heiligen eingeschoben, wofür die Vision des hl. Bern¬

hard von Filippino Lippi (Badia in Florenz) ein sehr bezeichnendes Beispiel liefert. Die schlichte Auffassung erhält sich sehr lange und kommt z. B. noch auf der 1495 al fresco gemalten Kreuzigung des Giovanni Donato Montorfano in der Sakristei von S. Maria delle Grazie in Mailand vor. Hier malte Lionardo da Vinci die knieenden Stifterfiguren des Herzogs Lodovico Moro und seiner Gemahlin Bianca Maria mit deren Kindern. Während diese schlichte Auffassung noch zu vollem Rechte bestand, bürgert sich daneben gegen Ausgang des 15. Jahrhunderts eine neue ein, deren wesentlichster Zug darin besteht, dass der Stifter geistig und kompositioneil in die ganze Darstellung eingegliedert wird. In nicht

besonders glücklicher Wei¬ se geschieht dies z. B. auf der 1488 vollendeten S. Conversazionevon Giovanni Bellini in S. Pietro Martire auf Murano. In trefflicher, ja in unübertrefflicher Wei¬ se wird dieses Problem da¬ gegen von Tizian gelöst in seiner „Madonna des Hau¬ ses Pesaro“. Es ist kul¬ turgeschichtlich sehr be¬ zeichnend, dass sich im Mittelalter der Mensch als Menschlein neben den Hei¬ ligen fühlt, zur Zeit der Renaissance dagegen wie ein Gleicher unter Gleichen. Tintoretto greift nun natürlich vollkommen un¬ bewusst auf die mittel¬ alterliche Auffassung zu¬ rück, indem er keinen or¬ ganischen Zusammenhang zwischen den beiden Be¬ standteilen seines Bildes herstellt. Auf den mittel¬ alterlichen Tafeln wird uns der Stifter nie stören, da er sich immer still und ruhig für sich hält, während die Heiligen andererseits wieder ihren Gang gehen. Bei unserem Künstler der Spätrenaissance dagegen fährt der Christus wild aus dem Sarg hervor, schwingt mit der Linken die Auferstehungsfahne und macht mit der Rechten eine demonstrirende Bewegung gegen die Senatoren zu. Die aber tlmn so, wie wenn er gar nicht da wäre. Dadurch kommt in die ganze Darstellung ein solcher Widersinn, dass sie auf den Beschauer abstoßend, um nicht zu sagen, lächerlich wirkt ! Übrigens ist dieses Bild noch in einer anderen Be¬ ziehung für Tintoretto sehr bezeichnend. Die drei Senatoren sind wohl verschieden an Alter und Schönheit, aber an Klugheit und Unergründlichkeit der geschlitzten

Nicola Prinli. Von Tintoretto. Venedig, Dogenpalast.

TINTORETTO ALS PORTRÄTMALER,

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dunkeln Augen sind sie einander gleich. Es sind drei Abbilder der Wirklichkeit, eines so packend wie das andere. Man kann beute noch in Venedigs Gassen und auf dem Markusplatz häutig Gesiebter sehen, welche einen unwillkürlich an Tintoretto’s Porträts erinnern. Und diesen ganz und gar individuell durchgebildeten Köpfen steht ein völlig konventioneller, äußerst langweiliger Christuskopf gegenüber. Damit sind die Grenzen der Be¬ gabung unseres Künstlers angedeutet. Tintoretto, wel¬ cher es in der Wiedergabe wirklicher Charaktere mit jedem aufnimmt, ist vollkommen unfähig, einen Charakter aus sich herauszubilden, einen Typus zu schaffen. Ein anderes Bild Tintoretto’s in der Akademie zu Venedig

Bildnis eines jungen Mädchens. Von Tintoretto. Prado, Madrid.

eigentlichen Sinne wären wir jetzt am Ende angekommen und hätten auch schon die Gemälde berücksichtigt, auf denen himmlische Erscheinungen den Porträt - Gruppen gewissermaßen nur als deren Attribute hinzugefügt sind. Der Vollständigkeit halber muss nun noch kurz auf die¬ jenigen Kompositionen hingewiesen werden, welche sich zu gleichwertigen Teilen aus Porträts und himmlischen Personen zusammensetzen. Hierher gehört z. B. eine Darstellung der Maria mit den Schatzmeistern aus dem Jahre 1566 (Venedig, Akademie, Saal VIII, Nr. 6.) Diese Breitkomposition zeigt links Maria auf erhöhtem Throne, um dessen Stufen die Heiligen angeordnet sind. Dieser Gruppe nahen sich die Schatzmeister mit ihren Dienern.

Bildnis eines Kriegers. Von Tintoretto. Prado, Madrid. Nr. 421.

(Saal XII, Nr. 3) aus dem Jahre 1586: „Die hl. Jung¬ frau mit drei Provveditoren“ gleicht dem eben be¬ sprochenen ebenso sehr in der Auffassung wie in dem allerdings etwas kleineren Format. Daher wäre über dieses Bild genau das nämliche zu sagen, nur dass es im ganzen doch weniger lächerlich und weniger abstoßend wirkt. Die Auferstehung aus dem Grabe ist eine Hand¬ lung, ja sogar eine sehr momentane Handlung und sie lässt sich daher mit einer Gruppe von Porträts viel schwieriger verbinden, als eine Maria mit dem Kinde, die sich ja im Zustande der Ruhe befindet und der an und für sich schon bis zu einem gewissen Grade der Charakter des Repräsentativen innewohnt.

Mit unseren Betrachtungen über die Porträts im

Man erkennt sofort, dass Tintoretto Tizian ’s herrliche Komposition „Die Madonna des Hauses Pesaro“ nachge¬ ahmt, aber auch nicht im entferntesten erreicht hat. Das, worauf es uns hier vor allem ankommt, die individuelle Cha¬ rakteristik der einzelnen Köpfe, ist gerade so vorzüglich wie immer. Tintoretto hat sich in derartigen Darstellungen öfters versucht, verhältnismäßig glücklich z. B. in der „Madonna mit vier Senatoren“. (Venedig, Akademie, Saal VII, Nr. 38.) Mag uns auch die Maria völlig kalt lassen und das segnende Christuskind mit dem plumpen Körperbau und den glotzenden Augen geradezu hässlich wirken, so befriedigt dieses Mal wenigstens die. Kom¬ position. Sie lehnt sich wahrscheinlich auch an die oben erwähnte des Tizian an und gehört zu den

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TINTORETTO ALS PORTRÄTMALER.

ruhigsten und geschlossensten Kompositionen, welche Tintoretto geschaffen hat. Einen bedeutenden Bestand¬ teil dieser Gruppe bilden die Präsentationsbilder im Dogenpalast in Venedig. Was in Rom der Vatikan, das ist in gewissem Sinne in Venedig der Dogenpalast. Bei der Wahl der Stoffe zur Dekoration des Dogenpalastes ging man zugleich von religiösen und patriotischen Ab¬ sichten aus. Es kam den Venezianern darauf an, die Heiligen des Himmels, ebensosehr aber auch die Macht und den Glanz ihrer Vaterstadt zu feiern. Die Macht Venedigs wird aber durch die Dogen verkörpert, also werden diese in die Versammlung von Heiligen einge¬ fügt. Sie flehen z. B. die Maria um Sieg an oder sie danken ihr, wenn der Sieg errungen ist. Tintoretto ist nun mit fünf derartigen Ceremonien-Stücken im Dogen¬ palast vertreten. Er betrachtet den Dogen immer als die Hauptperson der darzustellenden Handlung, weshalb er ilm auch in der Mitte der Bilder anordnet und keine Überschneidung erleiden lässt. Nichtsdestoweniger bildet der Doge regelmäßig eine herzlich langweilige Figur in der Gesamt-Komposition. Ja, Tintoretto geht sogar

in der oberflächlichen Ausführung dieser Dekorations- Stücke so weit, die charakteristische Durchbildung der Köpfe der Dogen zu vernachlässigen. Da indessen diese dekorativen Arbeiten nur in zweiter Linie zur Charak¬ teristik Tintoretto’s hinzugezogen werden dürfen, erleidet seine Bedeutung als Porträtmaler dadurch auch nicht die geringste Beeinträchtigung.

Es ist wie bereits in den einleitenden Sätzen hervorgehoben wurde das Bildnisfach, in welchem uns Tintoretto künstlerisch am meisten befriedigt, aber seine nicht zu unterschätzende kunstgeschichtliche Be¬ deutung liegt doch auf einem anderen Gebiete, auf dem¬ jenigen der großen historischen Komposition. Er spinnt die Fäden weiter, welche von Tizian einerseits und von Michelangelo andererseits auf einen der größten Maler des Nordens hinweisen. Schon dadurch, dass er sich dasselbe Problem gestellt hatte, wie jener Größere, der nach ihm kommen sollte, nämlich Einflüsse Tizian’s und Michelangelos in sich zu vereinigen , bildet Tintoretto in gewissem Sinne eine Vorstufe zu Peter Paul Rubens.

FRIEDRICH II AA CK

Gruppenporträt dreier Senatoren mit der Darstellung des auferstellenden Christus. Von Tintoretto. Venedig, Akademie.

Madonna von Hans Holbein d. J. Handzeichnung im Leipziger Museum.

(Aus dem Werke: „Studien und Entwürfe älterer Meister“. Verlag von K. W. Hiersemann, Leipzig.)

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII.

Kopfleiste von Max Ki, inger. Aus dem Werke: „Studien und Entwürfe älterer Meister“, kerausgegeben von J. Yogel.

STUDIEN

ZUR ELFENBEINPLASTIK DES 18, JAHRHUNDERTS.

MIT ABBILDUNGEN.

III. Die Familie Lücke.

(Schluss.)

CHON an verschiedenen Stellen war von einem Bruder unseres Künstlers die Rede, der, wie wir sahen, am Mecklenburgischen Hofe als Elfenbeinschnitzer in Diensten stand. Dieser, Karl August Lücke mit Namen, war, wie sicli aus den Akten des Schweriner Archivs und der Litteratur nachweisen lässt, ungefähr 19 Jahre in Mecklenburg und zwar in Schwerin und Wittenburg thätig, nachdem er sich vor seiner Übersiedelung dorthin kurze Zeit in Ham¬ burg aufgehalten hatte. Für diesen Zeitraum von etwa 1788 57 befinden sich im Schweriner Archiv fast aus jedem Jahre Schriftstücke, meist Rechnungen und Quittungen über gelieferte Werke des Künstlers, aus denen wir nicht allein einige dieser letzteren kennen lernen, sondern auch erfahren, dass er sowohl in Elfen¬ bein, als auch in Bux, Perlmutter und Alabaster gearbeitet und für seine Leistungen zunächst (seit 1751) den Titel Kabinetts-Bildhauer, später (seit 1754) den eines Kunst¬ direktors erhalten hatte. In seiner Stellung als Kabinetts- Bildhauer bezog er ein Vierteljahrgehalt von 25 Thalern; daneben wurden ihm aber alle seine Arbeiten besonders honorirt und zwar, wie die Quittungen ergeben, recht anständig. So empfing er z. B. „für drei Bilder Hoch¬ reliefs auf blauem Grunde“ 40 Thaler, für ein Elfenbein¬ kruzifix 8 Dukaten, für ein „Elfenbeiner Sebastian“ 60 Thaler, für „Brintz Ludewig bortret und brinzessin bortret“ je 10 Thaler, für eine Gruppe, „Jupiter im Wagen von 2 Pferden gezogen“, sogar 500 Thaler u. s. w. Am 9. Sept. 1754 erhielt er auf seinen Wunsch einen Pass und Urlaub auf 6-7 Monate zu einer Reise nach

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. Heft ö.

Petersburg. Inzwischen aber scheint man, hauptsächlich wohl infolge des Todes seines . bisherigen Gönners, an seine Entlassung gedacht zu haben; denn in einem Ge¬ suche vom 22. Juli 1757 bittet er, anknüpfend daran, dass er vor 19 Jahren in die Dienste des Herzogs Christian Ludwig getreten und jetzt ohne Arbeit sei, im Dienste verbleiben zu dürfen, bis er sein Haus, das er sich habe bauen lassen, verkauft habe. Dieses Gesuch wird genehmigt, und es scheint, dass der Künstler bald darauf Mecklenburg verlassen hat. Wohin er sich von da gewandt hat, und wie sein weiteres Leben verlaufen ist, erfahren wir in ziemlich erschöpfender Weise aus einem eingehenden und zuverlässigen Bericht, den J. Bernoulli, Reisen durch Brandenburg, Pommern und Preußen .... 1777, 1778 I. Reise nach Danzig p. 273 über seinen Besuch bei Lücke giebt, und den ich als die früheste litterarische Quelle über unseren Künstler z. T. wörtlich hierher setze. „Ehe ich wieder,“ so beginnt der Reisende, „in die Stadt zurückkehrte, suchte ich in dem Innern Danziger Anteile von Schottland einen sehr geschickten Künstler auf, der in seiner heutzutage nicht mehr so wie ehemals geachteten Kunst, der Elfenbeinschnitzerei kaum seines Gleichen haben wird. Ich traf Herrn Luck, dass ist sein Name, zu Hause an und seine Bekannt¬ schaft machte mir wahres Vergnügen. Dieser kunst¬ reiche Mann ist zu Dresden gebühren; hat sich aber 18 Jahre am Hofe des Herzogs von Mecklenburg-Strelitz aufgehalten, wo er mit guter Besoldung, dem Titel eines Rathes und der Gewogenheit seines Fürsten in Ansehen stand. Das Ableben des Herzogs und der letzte Krieg nöthigten ihn, sein Heil anderwärts zu suchen. Er ging

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STUDIEN ZUR ELFENBEINPLASTIK DES 18. JAHRHUNDERTS.

nach Russland, wo er noch 5 Jahre unter der Regierung der Kaiserin Elisabeth zu Petersburg zugebracht hat; ein anderer Aufenthalt dortselbst dauerte zwei Jahre.“ Hierauf erzählt B. weiter, wie Lücke zuerst viel erworben habe, da Peter Sclmwalow und vornehme Ranziger Liebhaber seine Gönner gewesen seien, wie es ihm aber später schlechter ergangen sei, nachdem er sein in Dresden und Mecklenburg erworbenes Vermögen verloren habe, und wie er jetzt alt werde und viel Mühe habe, mit seinen 7 Kindern durchzukommen; zugleich zeigte ihm der Künstler schöne Proben seiner Geschicklich¬ keit: kleine Bildnisse in erhobener Arbeit von der rus¬ sischen Kaiserin, dem Großfürsten, dem König von Polen u. s. w.

Mit diesem Berichte Bernoulli’s stimmt weiterhin eine kürzere Notiz desselben Verfassers in Meußel’s Miscell. I (1779) Heft 2 p. 247 im Wesentlichen überein; doch enthält dieselbe noch den folgenden be¬ merkenswerten Zusatz „Man kann auch allerley Arbeit bey ihm bestellen oder ihm zu Portraiten sitzen. Er trifft die Ähnlichkeit glücklich und ist billig. Bey vielen Liebhabern in Danzig siebet man Stücke von seiner Hand, selbst überaus schöne Bildsäulen und Gruppen. Ob es eben dieser Künstler sey, von welchem Herr Fiissli im 2. Supplement zum Allgemeinen Künstler- Lexikon redet, können wir nicht versichern, denn schon dessen Vater und ein Bruder waren geschickte Bild¬ hauer in Elfenbein.“ Gerade dieser letztere Zusatz, der sich in ähnlicher Fassung auch in Fiissli’s Allg. Künstlerlexikon II. 4. Abschnitt (1801) am Schlüsse einer Notiz tindet, die Meußel’s Bericht nach einer mir nicht näher bekannt gewordenen Quelle ergänzt, ist von besonderer Wichtigkeit, da wir liier zum erstenmale von dem Vater dieser beiden Brüder und seiner Tüchtigkeit als Elfenbeinschnitzer Kunde erhalten. Freilich ist dieses meines Wissens die einzige in der Litteratur vorhandene Erwähnung dieses Künstlers, über den auch sonst archivalische Nachrichten nicht vorhanden zu sein scheinen. Vielleicht gelingt es aber an der Hand der noch erhaltenen Werke, näheres über ihn und seine Kunst zu erfahren und seinen wie seines Sohnes Carl August Anteil an denselben genauer festzustellen. Denn auch des Letzteren Arbeiten haben wir bisher noch nicht kennen gelernt; ja, wir haben dieselben aus Gründen, die sich später von selbst ergeben werden, einstweilen absichtlich außer Acht gelassen und nur seine äußeren Lebensschicksale bis zu dem Punkte zu verfolgen ge¬ sucht, wo der Vater zum erstenmale auf den Schau¬ platz tritt. Hiermit ist nun aber der Zeitpunkt gekommen, wo wir auch die Arbeiten dieser beiden Künstler, die nur im Zusammenhänge behandelt werden können, zu betrachten haben.

Im Großherzoglichen Museum zu Schwerin befindet sich ein sehr gut geschnittenes Elfenbeinmedaillon des Herzogs Chretien Louis (-j- 1692) in Hochrelief, dass

auf der Rückseite außer der Titelumschrift die Be¬ zeichnung trägt:

<yCö x 68S uK~ Tee

Es ist dies das einzige datirte Werk, das sich auf Grund des Monogrammes mit C. A. Lücke denn diese Buchstaben sind allein mit Sicherheit zu erkennen in Verbindung bringen lässt. Frei¬ lich ist der nächstliegende Gedanke an den oben genannten Künstler dieses Namens, den Bruder des Dresdener Hofbildhauers, schon der frühen Datirung wegen ausgeschlossen, und es bleibt mithin nur die An¬ nahme übrig, dass es von einem älteren Künstler dieser Familie herrührt, der entweder dieselben Vornamen oder wenigstens Vornamen mit denselben Anfangs¬ buchstaben gehabt hat. Das letztere wäre immerhin ein merkwürdiger Zufall, während sich das Vorkom¬ men derselben Vornamen bei Vater und Sohn gerade auch in Künstlerfamilien ziemlich häufig nachweisen lässt. Ich trage daher kein Bedenken, diese oft be¬ obachtete Thatsache auch auf den vorliegenden Fall anzuwenden und in dem Schöpfer dieses Schweriner Reliefs den Vater von Joh. Christoph Ludwig und Carl August Lücke zu erkennen, der ebenso wie sein jüngerer Sohn geheißen haben wird. Trifft diese Vermutung das Richtige, so würden diesem älteren C. A. Lücke auf Grund der Übereinstimmung in der Bezeichnung noch zwei weitere Werke zuzusprechen sein, von denen sich das eine im Herzoglichen Museum zu Gotha, das andere in den Königlichen Museen zu Berlin befindet. Über das erstere von beiden, darstellend einen „Scheeren- schleifer mit Karren, an welchem ein Hund gespannt ist“ ') (Fig. 4) hat Herr Museumsdirektor Dr. Purgold die Güte gehabt, mir folgende nähere Mitteilungen zu machen: „Die Scherenschleifergruppe unserer Sammlung (die etwas vorgebeugte Figur 0,12) steht auf einem offen¬ bar ursprünglichen Postament aus schwarzem Holz, das auf vier Elfenbeinfüßen von plattgedrückter Kugelform ruht. Dieses ist auf einen zweiten späteren Holzunter¬ satz aus braunem Mahagoni befestigt und zwar mittelst eines in die Mitte der Unterfläche der ursprünglichen Basis eingelassenen Bein-Dübels. Dieser Dübel nun ist in vandalischer Rücksichtslosigkeit mitten in die auf der Unterseite breit und deutlich eingeschnittene Signatur hin¬ eingebohrt und festgeleimt. Die Buchstaben dieser Signatur sind etwas unsicher in Form und Stellung, offenbar aus freier Hand mit dem Messer eingeschnitten, aber gewiss alt.

„Die Figur ist sehr sorgfältig, etwas kleinlich ge¬ arbeitet, mit besonderer Liebe die Flicken und Fetzen des langen Rockes, durch dessen Löcher die Haut durch-

1) Siehe Bube, Das Herzogi. Kunstkabinett zu Gotha, p. 59.

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scheint; auch die langen straffen Haare, Hut, Schuhe und alle Accidentien sehr penibel ausgeführt, das Ganze mit der umständlichen Drechslerarbeit des langen Kar¬ rens mit seinen Schleifrädern etc. macht den nicht sehr erfreulichen Eindruck einer mühsamen Spielerei.“

Die an diesem Werke nur teilweise erhaltene Signatur begegnet uns vollständig und unversehrt mit dem Zusatze „fecit“ an einer 0,080 hohen Elfen¬ beinbüste der Königlichen Museen zu Berlin.1) Die¬ selbe stellt einen etwa 50jährigen, bartlosen Mann mit Perücke dar, der unter dem linken Auge eine kleine Warze hat, und über dem Hock einen Fantasiemantel trägt, der den rechten Arm freilässt. Auch dieses Werk- chen ist, wie die zuvor genannte Gruppe, zwar lebcns-

Meisters, etwa aus dem 1. Viertel des 18. Jahrhunderts stammen.

Ganz anders bezeichnet sind dagegen zwei weitere Werke, die ich aus diesem Grunde lieber der Hand seines gleichnamigen Sohnes zuweisen möchte. Das eine von ihnen, die vorzüglich gearbeiteten Hochreliefs zweier militärisch kostümirter Harlekine im Großherzoglichen Museum zu Schwerin, von denen das eine die Bezeichnung „C. A. Liick. Fee.“ trägt, ist bereits oben im Zusammenhänge mit den Arbeiten des Joh. Christoph Ludwig Lüche und den, dem letzteren zugeschriebenen Wiederholungen die¬ ses Werkes im Grünen Gewölbe und in der Sammlung du Eosey ausführlich beschrieben worden. Dieselbe Signatur trägt aber auch ein in den Königlichen Mu-

Fig. 4. Scheerenschleifergruppe, vermutlich von C. A. Lücke d. älter. Gotha, Herzogi. Museum.

wahr und charaktervoll aufgefasst, aber auch zugleich von etwas kleinlicher, wenig geistreicher Behandlung, wie dies schon Kugler in seiner „Beschreibung der König¬ lichen Kunstkammer“ p. 264 gebührend hervorgehoben hat.2) Dieses sowie das vorgenannte Werk dürften aber nach dem ganzen Charakter der Arbeit einer jüngeren Zeit angehören als jenes Schweriner Medaillon und vermutlich aus einer späteren Schaffensperiode des

1) Siehe Bode und von Tschudi, Beschreibung der Bild¬ werke der christlichen Epoche, p. 149. Nr. 584. Vgl. auch Anmerk. 1, S. 107, 1. Sp.

2) Kugler liest aus dem Monogramm ebenfalls C. A. Lücke heraus. Dasselbe thut auch Ris-Baquot , Markes et Monogrammes 1 p. 105; doch ist die Signatur hier nicht ganz richtig wiedergegeben.

seen zu Berlin befindliches Brustbild in Halbrelief, das einen bartlosen Mann mittleren Alters darstellt mit Haarbeutel, Zopfband und einer geblümten Weste unter dem geöffneten Rocke. Hier dürfte die Tracht des Dargestellten ein Mittel zur Datirung darbieten, auf Grund dessen man die Entstehung des Werkes in die Mitte des 18. Jahrhunderts wohl mit einiger Sicherheit wird ansetzen können. Soviel über die Ar¬ beiten auch dieser beiden Meister, soweit sich dieselben mit Hilfe ihrer Bezeichnungen feststellen ließen.

Ich wende mich zum Schlüsse nochmals dem Leben der drei Künstler zu, um unter Berücksichtigung ihrer Werke und der in den Akten und der Litteratur über sie vorhandenen Nachrichten eine ungefähre Da¬ tirung derselben zu versuchen.

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STUDIEN ZUR ELFENBEINPLASTIK DES IS. JAHRHUNDERTS.

Angenommen, der Vater wäre im Jahre 1688, dem frühesten für ihn in Betracht kommenden Datum, etwa 20 Jahre alt gewesen, so wäre er um 1668 geboren und, bei der ferneren Annahme, dass er einige 60 Jahre alt geworden sei, gegen i 70" gestorben. Sein ältester Sohn Johann C wig würde alsdann, wenn wir

ihn uns zur Zeit seines ersten öffentlichen Auftretens, 1728, im Alter von 25 Jahren denken, etwa 1703 und zwar vermutlich zu Dresden, wohin ja alle näheren Um¬ stände weisen, geboren sein, während sein jüngerer Sohn, von dem wir aus Bernoulli’s Bericht erfahren, dass er 1771 zu Danzig lebte und, wie er damals selbst sagt, bereits anfing alt zu werden, etwa 1710 das Licht der Welt erblickt hätte. Es muss aber der ältere und nicht dieser gewesen sein, der im Jahre 1780, wie die Akten des Schweriner Archivs ergeben, in Danzig ge¬ storben ist; denn es heißt liier, dass der zu Danzig verstorbene Lücke keine Kinder, wohl aber ein Ver¬ mögen von 8000 Reichsthalern Unterlassen habe, was beides dem oben mitgeteilten Berichte Bernoulli’s über die Familien- und Vermögensverhältnisse des C.Ä. Lücke ausdrücklich widerspricht. Es scheint demnach, dass beide Brüder während der letzten Zeit ihres Lebens in Danzig ansässig waren, wo sich auch der jüngere nach seiner Rückkehr ans Russland niedergelassen haben mag.

Offenbar hat aber der ältere seine Kunst hier nicht mehr ausgeübt, vermutlich weil er trotz, oder vielleicht gerade wegen, seiner abenteuerlichen Fahrten, viel¬ leicht auch infolge seiner, seit 1767 in Dresden von neuem eröffneten Thätigkeit, sich ein Vermögen hatte erwerben können, das ihn in den Stand setzte, die letz¬ ten Jahre seines Lebens bequem und sorgenfrei zu verbringen.

Von seinem Sohn, der zur Zeit seines Aufenthaltes in Dänemark einige male flüchtig erwähnt wird *), hören

1) Außer bei Nyrop a. a. 0. wird derselbe in den Schweriner Akten einmal .erwähnt. Es heißt darin, dass 1757 dem jungen Lück aus Flensburg, welcher Serenissimo einige Arbeiten seines Vaters gezeigt, 20 Rdl. gegeben wurden.

wir nichts weiter. Ohne mich daher auf weitere Hy¬ pothesen hinsichtlich der Person desselben einzulassen, möchte ich doch am Schlüsse dieses Aufsatzes eine Ver¬ mutung nicht unterdrücken , zu der sich mir gerade au dieser Stelle die beste Gelegenheit bietet.

Das Herzogliche Museum zu Braunschweig be¬ sitzt ein Elfenbeinmedaillon, das im „Führer“ Nr. 399 p. 240 folgendermaßen beschrieben wird: „Büste einer älteren Frau mit Schuppen panzer und aufgelösten Haaren, in erhobener Arbeit, dreiviertel nach rechts, im ovalen Schilde, der an drei Ketten hängt, die mit dem Bilde aus einem Stücke gemacht sind.“ Dieses Werk übrigens keine sonderlich hervorragende Leistung und in nichts mit ähnlichen Arbeiten Cavalier’s und Mar- chand’s zu vergleichen trägt am unteren Abschnitt der Büste eingraviert die Bezeichnung E. F. Lühe. Sollte dieser Künstler vielleicht identisch sein mit dem nicht näher bekannten Sohne von Joh. Christoph Ludwig Lücke? Die Arbeit an sich ist nicht charakteristisch genug, um sie mit Sicherheit dem 17. oder 18. Jahr¬ hundert zuzuschreiben. Es läßt sich nicht einmal genau sagen, ob die dargestellte Person wirklich eine Frau und nicht vielmehr, was ich eher glauben möchte, das Bildnis irgend eines Fürsten in idealisirter Allonge¬ perücke und Schuppenpanzer vorstellen soll, in der Tracht, wie sie die Bildhauer um 1700 und später mit Vorliebe fürstlichen Personen zu geben pflegten. Nichts spricht meines Erachtens dagegen, dieses Werk dem 18. Jahrhundert zuzuweisen, sodass wir möglicherweise in ihm eine Arbeit des jüngsten Gliedes dieser an tüch¬ tigen Meistern so reichen Künstlerfamilie erkennen dür¬ fen, über welche die Kunsthandbücher und Künstler¬ lexiken bisher so wenig sicheres boten. Durch die vor¬ stehende Arbeit dürfte wenigstens in manchen Punkten Klarheit und Licht verbreitet sein, wenn ich auch offen bekenne, dass sie noch Raum genug für allerlei Hypo¬ thesen darbietet und manches ungelöst lässt, was auf¬ zuhellen einer späteren Zeit Vorbehalten bleiben muss.

Dr. C1IR, SCHEUER.

Kopfleiste von Otto Greiner. Aus dem Werke: „Studien und Entwürfe älterer Meister“, kerausgegeben von J. Vogel.

AUS DEM LEIPZIGER MUSEUM.

MIT ABBILDUNGEN.

S wird manchen wundern, wenn er hört, dass das Kabinett der Kupferstiche und Handzeichnungen des Leipziger Museums, aus dem soeben eine schön ausgestattete Publikation ans Licht tritt,1 * * * *) erst vor etwa drei Jahren gegründet worden ist. Die alte Stadt des Buch- und Kunstdruckes, der Sitz des Kupferstichhandels und zahlreicher Liebhaber auf allen Gebieten der graphischen Künste, war so lange ohne jede nennenswerte öffentliche Sammlung dieser Art! Man müsste das unbegreiflich finden, wenn man sich nicht erinnerte, dass die Anfänge solcher Institute in der Regel von Persönlichkeiten herriihren, die eben nicht zu allen Zeiten und nicht überall sich in gleicher Weise vorfinden. Was wären die Wiener Sammlungen ohne einen Rudolf 11. und Leopold Wilhelm, ohne den Prinzen Eugen und den Herzog Albert von Sachsen -Teschen? Die meisten europäischen Museen sind Gründungen kunstfreundlicher Fürstenhöfe. Dazu kamen die Stifter aus dein Bürgertum, denen vornehmlich manche deutschen Mittelstädte ihren öffentlichen Kunstbesitz verdanken. So Frankfurt die reichen Sammlungen des Städel’schen Instituts, ebenso Leipzig den Kern seiner städtischen Gemäldegalerie, die Sammlung des Konsuls Schietter, die wir Älteren in frühen Jugendtagen noch in den kunsterfüllten Räumen der Wohnung des edlen Stifters gesehen haben.

1) Studien und Entwürfe älterer Meister im Städtischen

Museum zu Leipzig. Fünfunddreißig Blätter in farbiger Nach¬

bildung der Originale. Mit Text von Julius Vogel. Mit

zwei Zierleisten von Max Klinger und Otto Greiner. Leipzig,

K. W. Iliersemann. Fol.

Auch das jüngste Kind des Leipziger Museums das Kupferstich- und Handzeichnungen-Kabinett, ist eine solche Schöpfung bürgerlicher Stifter. Rudolf Benno v. Römer vermachte dem Museum 1871 seine wertvolle Kupferstichsammlung, in der namentlich das Werk D. Chodowiecki’s trefflich vertreten ist. Dazu kamen (1865 und 1891) die Demiani’sehen und Meyer’sehen Stiftungen, welche der Sammlung reiche Mappen mit modernen Handzeichnungen und Aquarellen zuführten. Die älteren Meister sind in erster Linie durch die Gehler’sche Samm¬ lung repräsentirt, welche zu der hier besprochenen Publi¬ kation das Material darbot.

Johann August Otto Gehler, in Leipzig 1762 ge¬ boren und 1822 dortselbst als Hofrat und Kriminalrichter verstorben, gehörte dem zu Anfang unsres Jahrhunderts in Leipzig versammelten Kreise von Kunstfreunden an, dessen Seele der bekannte Musikschriftsteller Friedrich Rochlitz war. Außer dem ..possierlich eifrigen Gehler“, wie ihn Rochlitz in einem an Goethe gerichteten Briefe nennt, waren u. a. der als Baumeister und Architektur¬ forscher wohlverdiente Chr. Ludw. Stieglitz, Hofrat Joh. G. Keil, Veit Hans Schnorr v. Carolsf'eld, der Vater des Historienmalers, endlich der als Kenner und Sammler hochgeschätzte J. Aug. Gottl. W7eigel Mitglieder dieser Gesellschaft, welche jeden Sonnabend Abend zum Aus¬ tausch ihrer Erfahrungen, zur Besprechung neuer Er¬ scheinungen und Acquisitionen und zu heiteren Mahlzeiten sich zusammenfand.

Gehler scheint bei dem Erwerb seiner Handzeich¬ nungen alter Meister speciell durch Rochlitz unterstützt und geleitet worden zu sein Eine große Anzahl von Blättern wird aus der W inkler’schen Sammlung stammen;

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AUS DEM LEIPZIGER MUSEUM.

andere mag- Gelder bei Kunsthänd¬ lern erworben haben, die zur Messe nach Leipzig kamen. Für die meisten ist die Provenienz

nicht nachzuweisen. Dass unter den 1295 Stücken, welche die Sammlung zählt, viel Mittelgut

ist und dass manche Blätter falsche Namen tragen, ist bei der Weit¬ herzigkeit der damaligen Kritik im Allgemeinen und bei der

Dilettantenhaftigkeit des Sammlers leicht erklärlich. Offenbar hatte

Gehler seinen Ehrgeiz darein ge¬ setzt, alle irgendwie hervorragen¬ den Schulen und Meister vertreten zu haben. Selbst die Chinesen und Japaner fehlen nicht. Den Namen nach sind nur die Portugiesen und Spanier ohne Repräsentation ge¬ blieben. - Dem Werte nach stehen die Blätter mit italienischen Namen am tiefsten, am höchsten die Nieder¬ länder des siebzehnten Jahrhun¬ derts, und auch von Meistern deut¬ scher Nation sind eine Reihe von guten Zeichnungen vorhanden, von der Zeit Schongauer’s angefangen bis auf die Julius Schnorr’s.

Dies Verhältnis der Schulen spiegelt sich selbstverständlich auch in dem Inhalte der Vogel’schen Publikation wieder. Dieselbe weist siebzehn Tafeln mit niederländi¬ schen, zehn mit deutschen, zwei mit französischen Handzeichnungen auf; als einziger Vertreter der italienischen Kunst figurirt Dome¬ nico Campagnola mit einer früher dem Annibale Carracci zugeschrie¬ benen Waldlandschaft. Sämt¬ liche Blätter , Zeichnungen wie Aquarelle, sind in technisch tadel¬ loser Wiedergabe genau Facsimile reproduzirt, die farbigen Nachbildungen, wie z. B. die des aquarellirten Blattes von Simon de Vlieger, mit ganz besonderer Sorgfalt. Alle Blätter liegen vertieft in Passepartouts, was wir wohl bei Originalen am Platze, für Nachbildungen dagegen übertrieben luxuriös und für das Ein¬ binden unbequem finden. Die den Blättern beigegebenen Texte bieten alles für den Betrachter der Tafeln Wissenswerte. Beschreibungen, Biogra¬ phisches und Kritisches, in dankenswerter Kürze. Das Werk entspricht überhaupt in wissenschaftlicher wie in artistischer Beziehung den strengsten Anforderungen der Gegenwart. Als nicht homogen wollen uns die beiden Zierleisten von M. Klinger und 0. Greiner erscheinen. Diese hätten besser in eine Publikation der modernen Handzeichnungen des Museums gepasst, wie

Handzeichnung von Hans Holbein d. Ä. Aus „Studien und Entwürfe älterer Meister.“

AUS DEM LEIPZIGER MUSEUM.

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wir sie von dem Verfasser wohl in nicht zn ferner Zukunft erwarten dürfen.

Schließlich noch einige Worte über die unserer Anzeige beigegebenen Proben, welche wir der Freund¬ lichkeit des Verlegers zu danken haben. Die erste dei1- selben ist ein Prachtblatt von dem älteren, die zweite

dessen Schönheitssinn und Naturbeherrschung daraus hell hervorleuchten. In üppiger Fülle prangt das zweite Blatt, die Madonna mit dem Kinde von dem jüngeren Holbein vom Jahre 1519. Alle Kraft des auf- brechenden Talentes kommt darin zu Tage. Als dritte Probe wählen wir die Ausgießung des heil. Geistes von

Handzeicknung von Ch. Lebrun. Aus dem Werke: „Studien und Entwürfe älterer Meister.“

ein nicht minder schönes von dem jüngeren Holbein. Die erste bildet das Gegenstück zu einer entsprechenden Zeichnung im Städel’schen Institut; beide sind Entwürfe für Altarflügel, vielleicht für den 1504—8 entstandenen Altar in S. Moritz zu Augsburg, wie Janitschek meinte. Die Zeichnung ist ein neuer Beweis für die künstlerische Bedeutung des älteren Holbein, dessen reiche Phantasie,

Charles Lebrun. Der Meister des Zeitalters Louis XIV. zeigt sich hier als von echter Empfindung durchdrungen, dabei höchst edel in den Formen und kundig der großen Lehre der Renaissance, dass nichts den würdigen Stil der Historienmalerei wirkungsvoller zu unterstützen ver¬ mag, als eine in ernstem Rhythmus sich bewegende Architektur. C. v. L.

KLEINE MITTEILUNGEN.

BÜCHERSCHAU.

A. Springer, Raffael und Michelangelo. Dritte Auflage.

Leipzig, 1S95. E. A. Seemann. 2 Bände. gr.-8ü.

Nach Anton Springer’s Tode ist eine neue Auflage seines Werkes „Raffael und Michelangelo“ notwendig geworden, die der Sohn pietätvoll und schonend ins Werk gesetzt hat. Der Herausgeber betont, dass er im Wesentlichen einen un¬ veränderten Abdruck des Textes der zweiten Auflage giebt. Da¬ für trägt er in den Anmerkungen sorgfältig die wichtigsten Auf¬ stellungen der neueren Forschung nach, in Rücksicht auf die ge¬ botene Raumbeschränkung allerdings mehr referirend als kri- tisirend, und die Frage nach der Echtheit der Handzeichnungen nur ausnahmsweise streifend. Die Änderungen im Texte be¬ schränken sich auf ganz vereinzelte Stellen, wie etwa die Auf¬ nahme des WickhofPschen Nachweises, dass die Wahl der Themata in der Stanza della Segnatura durch die ursprüngliche Bestimmung des Raumes zur Bibliothek bedingt ist. Eine solche maßvolle Zurückhaltung dürfte gerade bei diesem Meisterwerke des zu früh verstorbenen großen Lehrers wohl¬ begründet sein. Einmal hat die neuere Forschung doch das Antlitz jener beiden großen Künstler nicht in so wesentlich veränderten Zügen uns gezeigt, dass Springer’s Arbeit weit überholt erschiene. Dann aber behält das Buch als ab¬ gerundetes Kunstwerk, als eine jener so seltenen wissen¬ schaftlich gediegenen Arbeiten in populärer Form doch seinen bleibenden Wert. Die Verflechtung der Schicksale beider Männer, das Einweben geschichtlicher und litter arisch er Be¬ ziehungen, die doch nicht überwuchern und nirgends die historische Darstellung zum historischen Romane umprägen, die vornehme Betrachtungsweise, und die ebenso vornehme, klare und schöne Sprache lassen das Buch als ein einheit¬ liches, in sich abgeschlossenes Kunstwerk erscheinen, an dem eben nicht herumgeflickt werden darf, ohne die ursprüngliche Erscheinung zu schädigen. Die Zurückhaltung gegenüber der Aufnahme neuer Theorieen, gegenüber der Timoteo Viti- Frage, der Umwertung Michelangelesker Jugendarbeiten durch Wölfüin, Rafläelischer Handzeichnungen durch Lermo- lieff, Schmarsow etc. (die Albertina-Studie zur Ostiaschlacht wird noch als unzweifelhaft echt bezeichnet, die Feder¬ zeichnung der Albertina (p. 47) dürfte wohl richtiger nach dem Cascinaschlachtkarton und nicht als Studie zum Karton bezeichnet werden) giebt dem Buche den für Nicht-Specialisten bedeutenden Vorzug, dass weitläufige Erörterung von Streit¬ fragen wegfällt. Für das größere, kunstliebende Publikum ist der Weit der neuen Ausgabe außerordentlich erhöht durch die wesentliche Steigerung der Illustrationen. Alles Minderwertige ist durch neues Material ersetzt und die Zahl der Abbildungen bedeutend vermehrt. Ungenügende Holz¬ schnitte sind durch Zinknetzdrucke von z. T. wundervoller Schärfe und Feinheit ersetzt, man sehe z. B. die Trans¬ figuration in Band 11, p. 193, die Übersichtstafel der Decke der Sixtina gegen einen größeren, scharfen Lichtdruck aus¬ gewechselt, vor allem aber eine ganz bedeutende Reihe von bisher nicht abgebildeten Werken in guten Zinknetzdrucken gegeben '). Weggelassen ist die höchst anfechtbare Zeichnung

1) Wir behalten uns vor, unseren Lesern im nächsten Hefte einige I’roben davon vorzuführen. D. R.

des Dresdener Kabinetts (Br. 81). Vor allem dienen dem Buche aber eine Reihe neuerdings hinzugekommener Helio¬ gravüren zum Schmucke, so dass es, da auch der Einband sehr geschmackvoll ausgestattet ist, sich in völlig verjüngter und verschönter Form darstellt. Die Verweisungen auf die Stiche nach Raflael und Michelangelo sind durchgehends fortgelassen, was angesichts der Verbreitung der Photographie sich völlig rechtfertigt, wenn nicht eine Ergänzung dieser An¬ gaben zu einem Raflaelstecherverzeichnis beabsichtigt wurde. Die Korrektur ist überaus sorgfältig, so dass nur wenige Druckfehler (p. 330, Z. 10 v. u durch statt dann) sich finden, für die Anmerkungen ist eine praktischere Nummerirung eingeführt, die Anmerkungen kleiner gedruckt, kurz es ist alles gethan, um dem Buche eine handliche und seines inneren Wertes würdige äußere Form zu geben.

M. SCH.

ZU UNSERER RADIRUNG.

* Vor der Wallfahrtskirche. Radirung von F. Kroste- witz nach dem Gemälde von Wilhelm Hasemann. Seit etwa anderthalb Jahrzehnten lebt der Maler dieses im Besitze der großherzoglichen Kunsthalle in Karlsruhe befindlichen Bildes mitten unter den Landleuten , deren Schilderung er sich zur Aufgabe seines Lebens gemacht hat unter den Schwarz¬ wälder Bauern. Jeder, der einmal die Schwarz waidbahn befahren hat, hat von der Höhe des Bahndammes tief unter sich das lieblich im Wiesenthal gelegene Dorf Gutach zwischen Hausach und Homberg gesehen. Hier hat sich Hasemann in einem Hause niedergelassen, das sich äußerlich ganz und gar nicht von dem charakteristischen Typus des Schwarzwälder Bauernhauses unterscheidet, desto mehr Schätze aber in seinem Innern birgt. Hasemann ist nämlich zugleich auch ein eifriger Sammler, der von der alten Kultur des Schwarz¬ waldes, von Trachten, Schmuckstücken, Geräten und Erzeug¬ nissen des häuslichen Gewerbfleißes zu erhalten sucht, was noch zu retten Kt. Die Volkstrachten freilich sieht er noch auf den lebendigen Leibern seiner Dorfgenossen. Gerade im Gutaclithal sind sie noch nicht durch die städtische Mode unterdrückt worden, und dass sich gerade hier die kleid¬ samsten Trachten, namentlich unter den Frauen und Mäd¬ chen, erhalten haben, bereitet dem Malerauge eine tägliche Augenweide, die größte aber, wenn an Sonn- und hohen Feiertagen der Feststaat aus den Truhen hervorgeholt wird. Seitdem Hasemann zuerst auf der Münchener internationalen Kunstausstellung von 1883 durch den Studienkopf eines Mädchens aus dem Mühlenbachthal (s. Zeitschrift f. b. K. 1884 S. 160), den er später noch mehrere Male wiederholen musste, in weiteren Kreisen bekannt geworden ist, hat er sich zumeist als Illustrator oder in Einzelfiguren oder kleinen Gruppenbildern bewährt. Zu einem figurenreichen Gesamt¬ bilde hat er seine Studien zum erstenmale in der Scene „vor der Wallfahrtskirche“ zusammengefasst, und damit tritt er dicht an die Seite seiner berühmten Vorgänger auf diesem Sondergebiete des deutschen volkstümlichen Genrebildes, an die Seite von Vautier und Knaus. Mit Vautier harmonirt er ganz besonders in der Naivetät der Auffassung und in der ruhigen, lauteren Klarheit des Kolorits, die mit der wilden Experimentirsucht der „Modernen“ nichts gemein hat.

A. R.

Herausgeber: Carl von Lützow in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

F.Krostewitz rai

:mann. pinx

V.OR DER WALLFAHRTSKIRCHE

:rlag der Photographischen Uni du. München

.Druck vL Angerer Berh

PLAKAT VON CHERET.

Kunstse-werbeblatt N. F. VII.

Litbogr. und Druck von J. G Fntzschc in Leipzig.

Plakat von Forain 85 : 200 um.

DIE KUNST IM PLAKATWESEN.

VON PETER JESSEN.

EIT wenigen Jahren herrscht im Plakat¬ wesen der Franzosen und Engländer eine lebhafte Bewegung. Man hat entdeckt, dass die Anschläge auf der Straße und im geschlossenen Raume nicht Fabrik¬ ware zu sein brauchen, sondern auch der Kunst zugänglich gemacht werden können. That- kräftige Künstler haben den Beweis dafür erbracht und in kurzer Frist ein neues, fruchtbares Gebiet er¬ öffnet. Wer in den letzten Jahren durch die Straßen von Paris oder London gewandert ist, hat eine ganze Reihe von Beispielen vor Augen, Plakate von zugleich auffälliger und gefälliger Wirkung, Gestalten, Motive und Farbeneffekte, die man nicht übersieht und nicht vergisst.

Als vor zehn Jahren in Paris das erste Buch über den Gegenstand erschien (Maindron, Les affiches illu- strees), da wunderte man sich, dass es möglich sei, darüber einen so stattlichen Band zu schreiben.

Aus den früheren Jahrhunderten war in der That nichts Großes zu berichten. Wie man in Pompeji die Wände bemalte und bekritzelte, wie in der Reformation der junge Holzschnitt hie und da zu Verkaufsanzeigen oder dergl. verwendet wurde, wie man im 17. und 18. Jahrhundert zum Kupferstich griff und in Paris die Theaterprogramme, in Deutschland die Doktorthesen ver¬ zierte, das alles waren nur schwache Anläufe ohne rechtes Ziel und rechten Erfolg gewesen. Breite Wirkungen ge- Kunstgewerbeblatt. N. F. VII. H. 6.

[Nachdruck verboten.]

langen erst durch den Steindruck; das Plakatwesen ist, wie die Lithographie, eine Schöpfung des 19. Jahrhun¬ derts. Allein die Kunst kümmerte sich wenig um die scheinbar bescheidenen Aufgaben, die hier gestellt wurden. Man begnügte sich nicht nur für die Aus¬ führung, sondern auch für die Erfindung mit handwerk¬ lichen Kräften. Nur gelegentlich haben einzelne der Pariser Zeichenkünstler aus den dreißiger und vierziger Jahren, Gavarni, Raffet u. a., eine Bücheranzeige oder ein ähnliches Blatt geschaffen, das damals in der großen Menge verschwand und jetzt teuer bezahlt wird. Mit dem Farbendruck, der sich für Plakate natürlich am besten empfahl, beschäftigte sich überhaupt kaum ein selbständiger Künstler; man überließ ihn ganz und gar dem reproduzirenden Techniker.

Aber auf den farbigen Tafeln von Maindron’s Buch zeigten sich schon die Anfänge eines neuen, kräftigen Lebens, aus dem seither eine Fülle frischer Blüten er¬ wachsen sind. Im vorigen Jahre hat derselbe Verfasser in einem zweiten Bande (Les affiches illustrees 1886 1895) die französischen Plakate der letzten zehn Jahre behandelt. Wer inzwischen die Arbeit der Pariser Plakatzeichner nicht verfolgt hat, muss, wenn er das Buch durchblättert, staunen über den Fleiß und die künstlerische Energie, die auf diesem Gebiete eingesetzt worden sind. Das Plakat ist in die Mode gekommen. Es wird gesammelt, von Künstlern, Kunstfreunden und Museen. Verschiedene Händler sorgen dafür, dass die

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besseren Arbeiten älteren Datums wieder hervorgesucht werden, und dass von den heutigen Plakaten für den Bedarf der Sammler besondere Abzüge, sogar Drucke vor der Schrift, hergestellt werden. Die Kataloge der Händler, zahlreiche Aufsätze und mehrere Werke haben dazu beigetragen, die Bewegung in weitere Kreise zu tragen, wobei es natürlich nicht ohne manche Übertreibung abgeht. Von Paris aus hat die neuere Plakatkunst be-

Erflnder, einen gewandten Arrangeur. Man fühlte, dass dem Plakat endlich einmal ein Meister erstanden war. Diese Meisterschaft hatte er sich nicht von ungefähr erworben. Er hatte sein ganzes Leben der Steinzeichen¬ kunst und dem Plakat gewidmet. Schon mit zwanzig Jahren hatte der junge pariser Lithograph Anzeigen und Anschläge auf den Stein gezeichnet; bald darauf hatte er sieben Jahre in London verbracht, wo das

Plakat von Joseph Chüret. 118:84 cm.

sonders nach London und New York hinübergegriffen; jetzt rührt es sich auch an anderen Orten.

Auch diese junge Kunst ist entstanden, wie alle wahrhaft neuen Gedanken: sie ist das Werk eines Mannes. Dieser eine Mann ist Jules Cheret, derselbe Künstler, dessen Arbeiten vor zehn Jahren in Maindron’s erstem Werke zum erstenmale im Zusammenhang auf¬ traten. Man erkannte damals auf den zum Teil farbigen Tafeln des Buches einen virtuosen Zeichner, einen witzigen

Anschlagwesen schon damals weit kühner und breiter entwickelt war als auf dem Festland; von dort brachte er als Dreißigjähriger die Übung in großen Maßstäben mit. Auch in Paris blieb er dem Gebiete treu. Seine Arbeit ist schon dem Umfang nach ungeheuer; das neueste Verzeichnis seiner graphischen Werke zählt 882 Nummmern. Das Beste davon hat er in dem letzten Jahrzehnt geleistet und steht noch heute mit seinen sechzig Jahren auf der Höhe seiner Kraft. Erst

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in diesen Tagen hat er zum erstenmale einen großen malerischen Auftrag erhalten, einige dekorative Bilder für das Pariser Rathaus; ein Beweis, wie hoch man seine Thätigkeit schätzt. Nichts ist lehrreicher, als seine älteren Arbeiten mit seinen neueren Schöpfungen zu vergleichen.

Zuerst die Größe. Cheret’s ältere Blätter waren meist von geringerem Format und dienten mehr als Anschläge im Innenraume, an den Eingängen der Theater und an anderen Stellen, wo sie aus der Nähe gelesen werden konnten. Der Gebrauch, ganze Häuserwände, Baugerüste, Brücken- und ähnliche weite und hohe Flächen zu bekleben, ist erst in den siebziger und achtziger Jahren aus London nach Paris gekommen; noch heute sind die englischen und amerikanischen Plakate im Durchschnitt größer als die französischen, ln Paris ist das üblichste Format 82 : 61 cm oder doppelt so hoch, 122 : 82 cm. Der Künstler kann also, wenn er will, mit lebensgroßen Figuren arbeiten. Jeder Maler weiß, welch ein Sporn das ist, welch ein Schutz gegen kleinliche Buntheit; einer lebensgroßen Figur steht der Künstler wie einem Stück seiner Selbst gegenüber. Es drängt ja ein Plakat, das hoch über der Straße angeschlagen werden soll, von selbst auf große Maßstäbe hin, für die Figuren, für die Motive, für die Schrift.

Auf den früheren Reklamebildern, auch noch auf Cheret’s älteren Arbeiten, sollte viel zu lesen und mög¬ lichst viel zu sehen sein; bei den Nahrungs- oder Genu߬ mitteln wurden alle Vorzüge und Wirkungen, bei den Theatern die Stunden, die Preise, die Programme auf¬ gezählt. Es hat lange Arbeit und gewiss manche Kämpfe gekostet, bis nicht nur der Künstler selbst, sondern auch seine Besteller einsahen, dass nirgends so wie hier der Grundsatz gilt: die Kürze ist die Seele des Witzes. Denn was will der heutige Anschlag? Den hastenden Blick im verwirrenden Getriebe des Straßenlebens auf sich ziehen, die Neugier wecken, sich dem Gedächtnis auf¬ drängen, sich einprägen und doch jedesmal wieder aufs Neue reizen und, wenn möglich, sogar zu längerer Be¬ trachtung verlocken. Also müssen zunächst einmal Schrift und Bild des Anschlags so groß und deutlich sein, dass sie auf weite Entfernung zu sehen sind und sich neben allem behaupten, was das Auge sonst noch auf sich zieht. Dafür ist eine Zeile Schrift besser als zehn Zeilen, ein Wort besser als ein Satz; es gilt vor allem übrigen, sich auf das Unentbehrliche zu beschränken. Wir wissen, wie auf diese xArt einzelne Namen und Worte auch ohne Bild sich durchsetzen können. Wem der Name einer Firma oder ihres Fabrikates sich ein¬ geprägt hat, der wird sich über die Einzelheiten, über den Preis, die Adresse u. a., auch durch Anzeigen und andere kleinere Mittel unterrichten lassen oder bei Be¬ darf nachfragen. In der Straßenreklame sind alle solche Details nicht nur überflüssig, sondern schädlich, da sie

der Hauptsache den Platz wegnehmen. Das weiß man in London und Paris längst.

Daraus ergiebt sich auch die Art der Schrift. Dass die lateinischen Lettern klarer und daher weiter sicht¬ bar sind als die deutschen kann jedermann durch einen Versuch feststellen. Aber es liegt auch auf der Hand, dass ein Wort in Minuskeln mit großem Anfangsbuch¬ staben nicht so weithin zu sehen ist, wie ein Wort, das nur aus gleich großen Versalien besteht. Man sagt wohl dagegen, dass diese Versalien schwerer zu ent¬ ziffern seien. Für den ganz Ungeübten mag das gelten; aber wie leicht man sich diese Übung erwirbt, haben wir in den letzten Jahren an uns selber erfahren. Denn unaufhaltsam und kaum bemerkt dringt ja die lateinische Schilderschrift auch bei uns vor.

Auch Cheret’s Schrift, an der übrigens ein eigener Zeichner, der kürzlich verstorbene Madare, mitarbeitete, war früher reicher, bunter, ähnlich wie noch auf dem S. 82 abgebildeten Rad fahr er- Plakat der Firma L’eten- dard franrais. Mehr und mehr hat der Künstler gegenüber der Schrift die Figur heraus gearbeitet. Noch vor zehn Jahren waren beide meist gleichwertig gemischt. Jetzt ist die Schrift nur Begleitung, die Figur durchaus die Hauptsache; auf sie soll sich der Blick richten; das Plakat soll gesehen werden, nicht gelesen.

Wie wichtig wäre es für unsere Kunst, wenn das Volk sich gewöhnte, mehr zu sehen und weniger zu lesen. Noch suchen wir bei jedem Bilde nach dem Text oder der Unterschrift, bei jedem Symbol oder Wahr¬ zeichen nach dem Namen; noch fesselt jedes aufdring¬ liche Wort unser Auge, während wir an hundert Formen blind vorübergehen; kein Firmenschild auf unserem täg¬ lichen Wege ist uns fremd, während wir über den Schmuck der Gebäude, an denen wir täglich Vorbei¬ gehen, uns oft Jahre lang nicht Rechenschaft geben. Unser Auge scheint eigentlich nur für das Gedruckte empfänglich.

Hier kann neben dem erfreulich wachsenden Bilder¬ wesen unserer Bücher und Zeitungen auch das Plakat gute Dienste leisten. Cheret hat den Parisern in der That eine neue Welt geöffnet. Seine Gestalten gehören heute zum Bilde der Stadt so gut wie hundert andere Züge, ohne die wir uns Paris nicht denken könnten. Und diese ganze Gestaltenwelt ist seine Welt, seine eigene Schöpfung; er hat sie niemandem abgesehen.

Es ist ein lustiger und nicht einwandfreier Kreis, in dem seine Gestalten sich bewegen, die Welt des Ballets, der Singspielhallen, der großstädtischen Tanzböden, die¬ selbe Welt, für die ein großer Teil seiner Reklamebilder geschaffen worden ist. Jugendliche Dämchen im knappen Gewände, den Busen weit geöffnet, die Kleider keck ge¬ schürzt, mit schlanker Taille und zierlichen Füßchen; die Formen schwellend, weich, pikant; die Bewegungen von erkünstelter Grazie, selbstbewusst, kokett; so gaukeln, tanzen, hüpfen und schweben sie; so machen sie sich

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DIE KUNST IM PLAKATWESEN.

mit der Ware zu schaffen, die die empfehlen wollen, mit dem Puder vor dem Spiegel, mit dem Anziinden der Lampe, mit dem Theebrett für den Wein oder Likör. Die Plakate für die Weihnachtsbazare bringen auch reizende Kinderchen mit ihrem Spielzeug, voll echter Kinderlust. Alles Ernste des Lebens ist aus dieser

ein Zeichen virtuose ersten Ranges. Wie markig und bewusst er die Umrisse seiner Hauptfiguren aufbaut, wie er das Wesentliche zu packen weiß, wie auch in den flüchtigsten Andeutungen des Hintergrundes jeder Strich sitzt, das muss man an den Originalplakaten studiren. Der Stil der Zeichnung wird durch die Farben kräftigst

Plakat von Eugene Grasset. 115 : 70 cm.

tollen Welt verbannt; es ist wie ein ewiger Karneval; das Schäferspiel aus Watteau’s Zeit ins heutige Boule¬ vardtreiben übersetzt. Das hat keiner so gut getroffen wie Cheret; daher sind seine Plakate die eigentliche Kunst der Pariser Boulevards geworden.

Wie alle selbständigen Künstler, ist der eigenartige Erfinder Cheret auch ein eigenartiger Zeichner; er ist

unterstützt. Breite Flächen mit maßvoller, sicherer Hodellirung, teils glatt, teils punktirt, teils mittelst des Zerstäubers leicht getönt; nicht mehr das einfache Schwarz und Rot seiner älteren Arbeiten, sondern alle kühnsten Effekte des heutigen Kolorismus mit vielen Anklängen an die Hell- und Blau-Maler; auch das selt¬ same Farbenfeuerwerk der elektrischen Scheinwerfer,

DIE KUNST IM PLAKAT WESEN.

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Plakat von Caran.d’Ache. 129 : 80 cm.

Bei alledem ist er sparsam mit seinen Farben und mit der Zalil der lithographischen Steine. Er weiß, dass durch die Vielheit der Platten mehr verdorben als gewonnen wird. Das Ideal seines Farbendruckes ist nicht die geistlose Kopie eines Ölbildes. Sondern gerade mit möglichst wenigen Farben will er die stärksten koloristischen Wirkungen erzielen, durch ge-

von unten, wie durch Rampenlicht; das ist ein Kniff, der gerade an hoch geklebten Plakaten wirkt.

Man sieht, es ist alles übertrieben: die Erfindung, die Zeichnung, die Farbe; aber alles im Sinne und für die Zwecke des Plakats, alles für die Fernwirkung, für die eigentlichste Aufgabe der Anschläge. Es ist ein echter Plakatstil, den Ch6ret in langer Arbeit entwickelt

das Kaleidoskop der modernen Bühne, sucht er auf den Plakaten der Konzerthallen festzuhalten. Man sieht, er lebt und webt mitten in allen Anregungen und Ver¬ suchen des modernen Lebens; er ist in den Kunstsalons und in den Vorstadttheatern zu Hause; und trotz seiner sechzig Jahre weiß er allen frischen Stoff wie ein Jüng¬ ling zu verarbeiten.

schickte Kombination und geistvolle Ausnutzung jeder Farbe und durch kühne Kontraste hebt er die Gestalten ab; wenn solcheine Silhouette in rot auf blau oder gelb durch die Straßen leuchtet, ist die Wirkung auf den Pariser unfehlbar. Selbst die Umrissplatte ist nicht mehr schwarz, sondern meist ein tiefes Blau. Um die Figuren pikanter zu machen, beleuchtet er sie meist

CHAMP de- MARS

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DIE KUNST IM PLAKATWESEN.

hat. Das gelingt nicht dem ersten besten Bildmaler, der gelegentlich einmal ein Plakat erfindet.

Es wäre auch Cheret nicht gelungen, wenn er nicht zugleich die Technik des Plakats beherrscht und geübt hätte. Es ist unbedingt nötig, dass der Künstler sein eigener Lithograph sei, damit nichts durch geringe Vermittler verloren gehe oder durch die mechanische Nachbildung vergröbert werde. In Cheret sind einmal wieder Künstler und Handwerker eins; nur dadurch ist der Kunst dieses neue Gebiet erobert worden. Und zum Glück hat er es endlich auch verstanden, das Geschäftliche in die richtige Bahn zu lenken.

Aus seinem Atelier sind riesige Werkstätten er¬ wachsen, und seine Ar¬ beit hat es bewirkt, dass die großen Institute, die in Paris das Anschlag¬ wesen in Händen haben, die Kunst im Plakat mit allen Kräften fördern, statt sie, wie es wohl anderswo geschieht, hint¬ anzuhalten. Für den Be¬ sucher von Paris ist es eine besondere Über¬ raschung gewesen, dass in den wenigen Jahren wie mit einem Schlage auch die einfachen Schriftplakate an den Zeitungskiosken in Erfindung, Zeichnung und Farben zu Mustern ihrer Art geworden sind, sicher nicht zum Schaden der darin empfohlenen Firmen.

Wir haben lange bei Cheret verweilt. Aber er ist so sehr der Vater des heutigen Plakats, dass alle Grundsätze durch seine Arbeiten festgelegt worden sind. Die mancherlei Künstler, die neuerdings für das Fach arbeiten, sind in diesem Sinne sämtlich seine Schüler zu nennen. Aber nur in diesem Sinne. Ihre Aufgaben, ihr Geschmack, ihre Manieren, ihr Können sind meist grundverschieden. Es ist kaum ein eigentlicher Nachahmer darunter; denn Cheret’s Art kann nur von ihm selbst, dem starken und selbständigen Meister, würdig geübt werden; wenn der Nachahmer selber etwas zu sagen hat und nicht ein gleichzeitiger Stümper ist, so muss er auf eigene Wege geraten. Die

Künstler, die Cheret in den Motiven am nächsten stehen, die Guillaume, Meunier, de Feure u. a., haben jeder nach seiner Art einen eigenen Zug hinzugethan, sei es in der Zeichnung, sei es im Kolorit.

Ja der Plakatzeichner, dessen Arbeiten bei dem großen Publikum den meisten Beifall gefunden haben, der Schweizer Eugene Grasset, ist nach Geschmack und Gesinnung das gerade Gegenteil von Cheret’s leicht¬ lebiger Art. Er ist ein strenger Stilist im Anschluss an das Mittelalter und an die englischen Prärafaeliten,

keusch in den Motiven, Geberden und Formen; die Umrisse linear und gleichmäßig , wie die Bleifassung der Glas¬ fenster; die Farben in glatten Flächen ; auch die Schrift vorsichtig und gemessen. Es ist. in seiner Kunst vieles angelernt, manches trok- ken; aber es ist ein Mann von Geschmack und Erfindungsgabe und vor allem wieder ein Künstler von sicherem dekorativen Gefühl; er hat für alle Techniken gezeichnet; er kennt das Handwerk, und er bleibt darum den Grundsätzen von Cheret’s Plakaten getreu, so fremd er ihnen im Kern seines Wesens ist. Das ist die wesentlichste Lehre für einen jeden, der vom französischen Plakat ler¬ nen will.

Stilisten in Grasset.’s Art giebt es nicht viele. Viel wichtiger ist die dritte Gruppe: Die Mo¬ dernen. Sie schauen weder auf den Geist des Rokokos, noch auf das Mittelalter zurück ; sie greifen hinein ins volle Menschenleben; wo und wie sie es packen, da ist es interessant. Das Volk, die Gesell¬ schaft, das Leben der Straßen und der Bühne, das alles suchen sie für die großen Maßstäbe und weiten Wirkun¬ gen der Anschläge zu erobern und zu verwerten; es gehört ein gesunder Blick und eine gesunde Kraft der Stilisirung dazu, um die modernen Vorwürfe so im Großen vorzutragen. Die Meister, die sich an dieser ganz neuen Aufgabe versuchen, sind großenteils Kari-

Plakat von Dudley Hardy. 75 :49 cm.

DIE KUNST IM PLAKAT WESEN.

katurzeichner , die sich in den künstlerischen Witz¬ blättern ihre Sporen verdient haben. Dort haben sie gelernt, mit wenigen Mitteln, in festem Strich und breiten Tönen, das Wesentliche der modernen Er¬ scheinung zu erfassen. Wenn sie ihre Zeichenkunst dem Plakat widmen, so sind wiederum ihre Absichten und Leitsätze nicht anders als bei Cheret. Vieles ist Experiment, vieles excentrisch, wie die höchst wirkungs¬ vollen, viel bewunderten Kühnheiten von Toulouse- Lautrec; manches scheint manierirt, wie die Impressions¬ stücke von Ibels; auch reine Karikaturisten sind darunter, wie der witzige Jossot, der sich immerhin auf die Plakatwirkung als solche meisterlich versteht; der vornehmste und wohl größte ist Forain ; von Carau d’Ache stammt der lustige Kosak auf der russischen Triko¬ lore S. 85 ; das gefälligste Bild moderner Art hat Steinleu in einer Empfeh¬ lung für keimfreie Milch gezeichnet, ein schlichtes Kindchen mit seinen Kat¬ zen; wir könnten noch viele andere aufzählen.

Aber aus alledem spricht eine höchst ernsthafte Arbeit; es ist echt mo¬ derne Kunst, volkstüm¬ lich wie keine, jugend¬ mutig mit frischer Hoff¬ nung auf die Zukunft; und wenn die Zukunft jemandem gehört, glaube ich, werden es die Leute dieses Schlages sein.

So vielseitig ist die „Kunst der Straße“ im heutigen Paris. Die frischeste Nachfolge hat sie in England und Amerika gefunden, den Heimat¬ ländern dieser Art von Reklame. Auch dort hatten früher nur einzelne Maler gelegentlich einmal ein besseres Plakat gezeichnet, Fred Walker, Herkomer, Walter Crane u. a. ; die große Masse der Riesenbilder waren plumpe Scliauer- scenen, süßliche Damen, alberne Karikaturen u. dergl.; in Amerika, wo man manche originelle Wirkung zu er¬ zielen wusste, waren doch die Figuren im besten Falle überlebensgroße Momentphotographieen. Seit wenigen Jahren ist auch hier ein Umschwung eingetreten. Künst¬ ler von ganz verschiedener Art haben Wege eingeschlagen,

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die sich in einer nationalen Richtung vereinigen. Sie haben von den Franzosen wohl gewisse Grundsätze über¬ nommen, aber nicht die äußerlichen Formen, die den Boulevards als solchen angehören. Man strebt in England nach größter Einfachheit, nach kräftigster Wirkung bei knappsten Mitteln, d. h. nach tiefen, reinen Farben auf wenigen Platten. Keine prickelnde Modellirung und keine Halbtöne wie bei Cheret; alle Farbenflächen in einem Tone, aber in kühnen Gegensätzen voneinander gestellt; die Wirkung im düsteren londoner Straßen¬ bilde ist zum Teil un¬ geheuer. Unter den Künstlern erscheint vor¬ läufig kein so ursprüng¬ liches Talent wie Cheret. Dudley Hardy ist ein tüchtiger Zeichner, witzig und scharf; seine flotten Theatermädchen, die das Stück A Gaiety Girl empfehlen, sind nur mit einer Umrissplatte und einem roten Hintergrund gedruckt S. 86. Dann die extremen Symbolisten, voran der wunderliche Karikaturist Beardsley ; in Amerika hat diese stilisirende Richtung in Bradley einen weniger spröden Vertreter ge¬ funden. Neuerdings haben zwei junge Maler, die als die Gebrüder Beggarstaff zusammen arbeiten, noch weitere kecke Versuche gemacht ; sie verzichten für die Straßenplakate selbst auf die Zeichnung, nicht nur die inneren Linien, sondern oft auch auf den äußeren Kontur; die Riesenfigur hebt sich nur als Farbenfleck ab, der nur hie und da durch einige Druckstriche verstärkt wird; ja es giebt von ihnen ein berühmtes Plakat, dessen Figur auf braunem Packpapier mittelst der Schablone in zwei Flächen aufgestrichen worden ist.

Eine Flut kleinerer Plakate, in Buchdruck her- gestellt, mit allen möglichen Versuchen, kommt aus Amerika, namentlich von den Buchhändlern und den Monatsschriften, die jedes ihrer Hefte durch ein be¬ sonderes Blatt ankündigen und dadurch der Kunst und der Kunsterziehung einen sehr ernstlichen Dienst er¬ weisen.

Plakat von Bradley. 51 : 34 cm.

Plakat von E. Doepler d. J. 193 : 144 cm

Aus dem Wettbewerb um das Plakat der Berliner Gewerbeausstellung 1896.

DIE KUNST IM PL AKAT WESEN.

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So regt man sich an vielen Stellen. Von Paris aus ist namentlich auch das nahe Belgien gewonnen, wo eine Gruppe jüngerer Künstler tüchtig arbeitet. Wir können der Frage nicht ausweichen, wie es bei uns in Deutsch¬ land steht.

Zunächst ist ja das Anschlagwesen selber anders organisirt, wie im Ausland. Die Polizei sorgt dafür, dass nur bestimmte Stellen, enge Säulen oder kleinere Bretter beklebt werden. Geschieht das nur wegen des Kontrakts mit dem Pächter oder in der Sorge, dass große Anschläge das saubere Straßenbild stören könn¬ ten? Sicher ist die Reklame nicht überall erfreulich. Wenn man, wie in London, zwischen allen den Tinten- oder Seifen firmen die Namen der Stationen oder die Schilder der Straßenwagen nicht mehr findet, wenn die Landschaft neben der Eisenbahn und gar die keuschen Höhen unserer Berge entstellt werden, so mag man alle Plakate verwünschen und nach der Polizei rufen. Allein die Polizei kann die Riesenreklame selbst in den Städten nicht hindern.

Wo das Papier verboten ist, ist der Wandmaler gern zur Hand. Er streicht sein Schild wie für die Ewigkeit, ein buntes Feuerwerk von allerhand Schriften, einen banalen Ulk eine süßliche Alle¬ gorie, eine klobige Marke; das grinst dem an- kommenden Fremden entgegen als erste Äußerung deutschen Kunstfleißes, und es ist kein Wunder, wenn er gegen unseren Volksgeschmack von Anfang an eingenommen wird. Wenn die großen Flächen mit bedrucktem Papier beklebt werden dürften, wenn also die Reklamebilder industriell in Massen hergestellt werden könnten, so würde es leichter sein, für den Entwurf oder für die ganze litho¬ graphische Ausführung künstlerische Kräfte heran¬ zuziehen.

An Künstlern fehlt es uns nicht. Wir haben in dem kleineren Maßstabe unserer Säulen- und Innenplakate eine Reihe tüchtiger Blätter aufzu¬ weisen, teils in dem mehr ornamentalen Geschmack unserer kunstgewerblichen Bewegung, wie die Aus¬ stellungsplakate von Rudolph Seitz in München, Röchling in Berlin, Seder in Straßburg oder das in London hergestellte große Plakat von E. Doepler d. J., teils figürlicher Art wie die Arbeiten nach Gysis, Länger u. a., teils in moderner Symbolik wie der Minervakopf von Franz Stuck und das witzige Pan- Plakat von Sattler, wo der erstaunte Gott vor dem zu beackernden Felde die Blume erblühen sieht, die, aus Papier gefügt, mit ihren Staubfäden den Namen des jungen Unternehmers bildet. Diese Blätter sind von tüchtigen Firmen meist unter Aufsicht der Künstler sachgemäß reproduzirt und machen unseren Kunst¬ anstalten alle Ehre. Allein nur einzelne sind von den Künstlern selbst für den Stein gezeichnet, und an künst¬ lerischem Reiz werden sie daher meist von den besseren Kunstgewerbeblatt. N. F. VII. II. G.

Plakaten der Franzosen und Engländer übertroffen, weil sie mechanisch und nicht eigenhändig übertragen sind. Man steht nicht dem Künstler selber gegenüber, sondern seinem Vertreter; ihnen fehlt das Persönliche, das immer wieder fesselt; liier die Kunst, dort das Handwerk, aber noch nicht die Einheit, nach der wir uns sehnen. Erst wenn der Künstler sich Zeit und Geduld nehmen kann, um selber die verschiedenen Farbenplatten, sei es auf den Stein, sei es für die Ätzung zu zeichnen, wird er die wahren Ansprüche des Farbendrucks erkennen und im wahren Buntdruckstil arbeiten können. Dann wird er experimentiren, wie heute die Engländer und Franzosen;

dann wird es ihn reizen, mit ganz wenigen Farben¬ platten die größten Wirkungen zu suchen, die ganzen Flächen und die Halbtöne der Platten so neben und übereinander zu setzen, dass scheinbar ganz neue Farben entstehen; dann braucht er seinen Entwurf nicht mehr in die Hand des übersetzenden Kopisten zu geben; dann werden wir endlich eine Kunst im Farbendruck be¬ sitzen.

Denn wir dürfen uns nicht verhehlen, dass die große Masse des modernen Farbendrucks mit einigen rühm¬ lichen Ausnahmen auf nichts anderes bedacht ist, als darauf, ein Ölbild oder Aquarell möglichst täuschend wiederzugeben, d. h. eine Vorlage, die auf das Wesen

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DIE KUNST IM PLAKATWESEN.

des Farbendrucks gar nicht berechnet ist. Der Bunt¬ druck muss dabei seine eigene Technik möglichst ver¬ stecken, als schäme er sich ihrer; im besten Falle er¬ reicht er es durch unerhörten Aufwand mechanischer Arbeit, dass man die Täuschung kaum merkt; wo aber das Können oder die verfügbaren Mittel geringer sind, wird die mangelnde Treue durch süßliche Sauberkeit ersetzt. Kein Wunder, dass diese Art von Buntdruck

Techniker und dem Drucker für ihre selbstquälerischen Mühen zahlt, wende man dem Erfinder, dem Künstler zu, damit es sich ihm verlohne, sich in die Technik einzuarbeiten und mit weit geringerem technischen Aufwand Neues zu schaffen. Wenn der Fabrikant oder wie sonst der ge¬ schäftliche Vermittler sich nennen mag, für diesen Ge¬ danken einmal gewonnen wäre, so ist allerdings an dem sogenannten Publikum noch vieles zu erziehen. Die Be-

ßEWERWJTELlDNO

VOMVMAI-BIS-15-OKTOBEK-

Aus dem Wettbewerb um das Plakat der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896.

sich in künstlerischen Kreisen keine Achtung erringt; wer künstlerisch oder handwerklich gesund empfindet, muss sich sagen, dass hier sowohl die Kunst wie das Handwerk zu kurz kommen.

Können wir Deutschen denn wirklich, wie man wohl als Entschuldigung hört, einen wirklich künst¬ lerischen Farbendruck nicht bezahlen? Die Rechnung ist sehr einfach: was man heute dem lithographischen

steiler und Käufer, die noch keinen anderen Farbendruck als den herrschenden Kopistendruck kennen, werden nur langsam davon ablassen, den süßlichen, flauen Schein eines wertvolleren Bildes zu verlangen. Das Publikum hängt ja am Surrogat. Und es ist nicht leicht, die Menge eines Besseren zu belehren. Man wird nicht gleich beim Ol¬ druckbild, beim Allerweits - Zimmerschmuck, anfangen können. Aber gerade mit dem Plakat, das doch nicht

DIE KUNST IM PLAKATWESEN.

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täuschen kann noch will, das nur den einen Zweck hat, zu wirken, sollte man beginnen. Hier wenigstens sollten sich die Betriebsleiter und Vermittler, in deren Hände dieses Kunstgebiet gegeben ist, auf ihren eigenen Wert und ihre eigene Kraft, auf den Stil ihrer Ware besinnen. Wer diesen Stil ausnutzt und ausbildet, ist zunächst bei allen Verständigen und, wenn er den rechten Künstler findet, auch bei der breitesten Masse, des Erfolges sicher. Aus dem ewigen Zirkel, in dem bei uns sich die Künstler, die Techniker und das Publikum gegenseitig beschul¬ digen und sich hintereinander verstecken, müssen wir endlich heraus; wer auch anfangen mag, er wird Mit¬ arbeiter finden, und der Erfolg wird seine ersten Opfer lohnen.

Die wohlwollenden Anregungen, die jetzt an manchen Orten durch Konkurrenzen, Vorträge, Sammlungen, Aus¬ stellungen gegeben werden, wollen wir dankbar be¬ grüßen. Aber das, was wir durch die Plakatkunst hoffen und erwarten, dass_unsere besten Künstler sich

wieder einmal mit Ei’nst einer technischen Arbeit zu¬ wenden, scheint sich nur langsam zu erfüllen. Noch ergiebt es sich oft, wie bei der Konkurrenz um das Berliner Ausstellungsplakat, aus der wir einige Ent¬ würfe abbilden können, dass nur die Kunstgewerbe¬ schüler mit ihrer wesentlich ornamentalen Vorbildung überhaupt die Aufgaben des Plakats zu erfassen ver¬ mögen. Aber es wird Zeit, dass alle Besten sich der Arbeit unterziehen, damit die deutsche Plakatkunst endlich ihren Platz erobere neben der unserer Nachbarn, damit es nicht heiße, wie in einem kürzlich gedruckten Bericht über das Plakat aller Länder: Deutschland vacat. Aus der Vielheit der fremden Versuche können wir für die Technik vieles, ja fast alles lernen; aber auch das eine dürfen wir nicht vergessen, dass es nicht darauf ankommt zu zeichnen wie Cheret oder Grasset oder Bradley oder wer sonst, sondern dass jeder Künstler so zeichnen muss, wie ihm selbst ums Herz ist: nur dann werden wir eine deutsche Plakatkunst haben.

Schlüssel aus dem Kunstgewerbemuseum in Leipzig. Aufgenommen und gezeichnet von Arch. M. Bischof -Leipzig.

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-u- Berlin. Der Vorstand des Vereins für deutsches Kunstgetverbe besteht nach den Wahlen in der Generalver¬ sammlung am'' 8. Januar d. J. aus folgenden Herren: Vor¬ sitzender: Karl Hoffacker, Architekt, 1. Stellvertreter: Dr. P. Jessen, Direktor der Bibliothek des Kgl. Kunstgewerbe¬ museums, 2. Stellvertreter: Geh. Hofrat Schröer; Schatz¬ meister: Gustav Rading, Metall Warenfabrikant; Schriftführer Ernst Flemming, I. Lehrer der Städtischen Webeschule, 1. Stellvertreter: W. Ziesch, Inhaber der Berliner Gobelin¬ manufaktur, 2. Stellvertreter: Professor P. Schley, Bildhauer; Ausschussmitglieder: Professor E. Doepler d. J., Wirkt. Geh. Oberregierungsrat K. Luders, Ludwig Lüdtke, Tischlermeister, A. Müller, Möbelstofffabrikant, Ed. Puls, Kunstschlosser, Louis Schluttig, Gold Warenfabrikant.

-u- Berlin. Im Verein für Deutsches Kunstgeiverhe hielt am Mittwoch den 12. Februar Herr Dr. P. Jessen, Direktor der Bibliothek des Kgl. Kunstgewerbemuseums, einen Vor¬ trag über 25 Jahre deutschen Kunstgewerbes. Nachdem die Tage patriotischen Rückblicks auf die kriegerischen Groß- thaten vorüber seien, sei es an der Zeit, auch die Friedens¬ arbeit der letzten 25 Jahre zu übersehen. Das deutsche Kunstgewerbe sei ein Kind dieser Zeit und habe aus dem neuen Deutschen Reich seine beste Anregung gewonnen. Gegen die Hemmnisse, die auf dem Kunstgewerbe unseres Jahrhunderts lasteten, die Maschine, die Teilung der Arbeit, die Kluft zwischen Handwerker und Künstler, habe man in allen deutschen Landen kunstgewerbliche Lehranstalten ge¬ gründet. Die Praxis habe sich vor 25 Jahren unter der Führung der Münchener Künstler die Formenwelt der Re¬ naissance, handwerkliches Können und künstlerische Einsicht wiedererobert. Zu früh sei diese Formenwelt unter dem Druck der Mode abgelöst worden, wenn auch die Anlehnungen an das Barock, namentlich in Berlin, uns dauernden Gewinn gebracht haben. Wiederum habe die Mode auf neue Formen gedrängt; durch das Empire und die missverstandene Nach¬ ahmung englischen Wesens mache heute das deutsche Kunst¬ gewerbe den Eindruck der Zerfahrenheit. Um die Kräfte wieder zusammenzuschließen und den Gewinn der 25jährigen Arbeit festzuhalten, gelte es, im Anschluss an die eroberten Formenkreise die Grundsätze, die schon im Anfang dieser Bewegung gegolten hätten, zu vertiefen und nachhaltig durchzusetzen, den Gebrauchszweck stets voranzustellen, das Material ohne Heuchelei offen zu zeigen, die Technik nach ihrem wahren Wesen zu verwenden und die bisherigen Formenkreise durch vertieftes Studium der Natur, der Pflanze

und des uns umgebenden Menschenlebens zu bereichern. Hier gelte es, Künstler, Fabrikanten und namentlich die Käufer zusammenzufassen; um unserer Kunst ein empfäng¬ liches Publikum zu erziehen, müsste die künstlerische Er¬ ziehung unseres Volkes, die sich heute überwiegend der Musik zuwende, auch für die bildende Kunst geweckt und vertieft werden. Der mit lebhaftem Beifall begrüßte Vor¬ trag war durch eine Ausstellung von Anschauungsmaterial über die letzten 25 Jahre des deutschen Kunstgewerbes er¬ läutert.

Breslau. Kunstgewerbeverein. In der am 22. Januar abgehaltenen Generalversammlung wurde in den Vorstand gewählt: 1. Vors.: H. Rumsch, 2. Vors.: R. Wilborn, 1. Schriftf. : G. Schieder, 1. Bücherw. : F. Pauliny, 1. Schatz¬ meister: A. Ohrusch, als Stellvertreter und Vertrauensmänner: Prof. Direktor 11. Kühn, Fabrikbesitzer M. Kimhel, Graveur A. Kaiser, Buchhändler P. Schweitzer, Baron v. Kessel- Zeutsch, Kaufmann R. Pusch. Der 1. Vorsitzende teilte mit, dass infolge der vom Verein an die Regierung gerichteten Eingabe über die notwendige Umgestaltung der Kunst¬ gewerbeschule eine von der Regierung einberufene Be¬ sprechung stattfinden werde, zu welcher er als Vertreter des Vereins eingeladen ist. Zum Ehrenmitglied des Vereins wurde ernannt der Direktor der Kunstgewerbeschule Nürn¬ berg Prof. C. Hammer. Dem Kassenbericht ist zu entnehmen, dass im Jahre 1895 die Einnahmen 2478 M. und die Aus¬ gaben 1803 M. betrugen. Der vom Schriftführer erstattete Jahresbericht registrirt die ganze Vereinsthätigkeit im ab¬ gelaufenen Jahre und wird gedruckt versendet. Die Bibliothek hat namhafte Zuwendungen erhalten, darunter wertvolle Werke. <?. s.

Leipzig. Zeichner -Verband, Schon seit Jahren besteht im Zeichnerstande das Verlangen nach einem allgemeinen Verbände, der seinen Mitgliedern Vorteile nach den ver¬ schiedensten Richtungen hin verschaffen könnte. Eine An¬ zahl Zeichner der verschiedensten Branchen hat sich nun zusammengethan, um die Vorarbeiten zu einem allgemeinen deutschen Zeichnertag, welcher Ostern 1896 in Leipzig statt¬ finden soll, zu erledigen. Auf diesem Zeichnertage soll die Gründung eines Verbandes für alle Zeichner Deutschlands, welche für das Kunstgewerbe arbeiten, seien es nun Muster¬ zeichner, Zeichner für Innendekoration, Eisen, Buchornamentik, Druck etc. etc., gleichviel ob selbständig oder nicht, vorge¬ nommen werden. Die Vereinigung von Zeichnern, welche mit Energie die einleitenden Schritte gethan bat, ist der Ansicht, dass nur ein Verband, der alle Branchen umfasst, groß und mächtig und lebensfähig sein kann, denn je mehr Mitglieder, um so größer die Leistungen einer Vereinigung. Ein Aufruf sowie ein Programm für den geplanten Zeichner¬ tag werden in Kürze an alle bekannt werdende Adressen versandt werden. Es werden deshalb alle Kollegen, welche sich für diese Sache interessiren, und welchen Kollegen

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interessirte es nicht, wenn es gilt, eine starke Vereinigung zur Wahrung seiner Interessen und Vorteile zu gründen, ge¬ beten, ihre und andere Adressen sowie überhaupt alle Zu¬ schriften an Franz Heller, Zeichner, Leipzig - Reudnitz, Leipzigerstraße 28 part. r., zu senden. Der Zeichnerverein Leipzig giebt uns von diesem allgemeinen Zeichnertage Kenntnis mit folgendem warmen Appell an sämtliche Kollegen Deutschlands. „Also auf zur That und kein Kollege glaube, dass es auf ihn nicht ankomme, nur vereinten Kräften ist es möglich, etwas Großes, Gutes zu schaffen. Was in anderen Berufen z. B. bei den Technikern oder den Werkmeistern möglich war, sollte das in unserm weitverzweigten Stande bei einiger Regsamkeit und Begeisterung nicht auch zu er¬ reichen sein? Sende jeder Kollege Adressen und helfe da¬ durch zur Förderung des großen Werkes beitragen.“

MUSEEN.

Leipzig. Sonntag den 9. Februar konnte unser neu¬ gestaltetes Kunstgewerbemuseum zum erstenmal geöffnet werden, nachdem am vorhergegangenen Mittwoch sein neues Heim, das neuerbaute Grassimuseum, im Beisein des säch¬ sischen Königspaares, des sächsischen Kultusministers, der Präsidenten der beiden sächsischen Kammern, der städtischen Behörden sowie zahlreicher geladener Gäste feierlich ein¬ geweiht worden war. So haben denn unsere Sammlungen endlich die langersehnte würdige und bequeme Unterkunft gefunden. Über zwei Jahrzehnte sind vergangen, ehe sie dieses Ziel erreichten. Ihre Anfänge reichen bis in das Jahr 1873 zurück. Am 20. Oktober dieses Jahres gab die hiesige Gemeinnützige Gesellschaft die erste Anregung zur Errich¬ tung eines einheimischen Kunstgewerbemuseums, von dem Wunsche beseelt, etwas für die Hebung des deutschen Kunstgewerbes zu thun, das gerade damals auf der Wiener Weltausstellung einen so ungünstigen Eindruck hervorgerufen hatte. Ein zündender Vortrag Geheimrat Dr. Jordans, der damals Direktor unseres Städtischen Museums war, half der Idee zum Sieg. Am Abend wurde ein Garantie¬ fond von 10 350 M. gezeichnet. Ein Ausschuss von acht Mitgliedern wurde mit der Realisirung des Unternehmens betraut. Noch vor Ablauf des Jahres 1873 ließ sich ein Grundstock von Sammlungsgegenständen (hauptsächlich kunstgewerbliche Erzeugnisse des Orients, aber auch Pro¬ dukte englischer, französischer und anderer Herkunft) be¬ schaffen. Bereits am zweiten Weihnachtsfeiertag 1873 wurde die kleine Sammlung vorübergehend ausgestellt. Vom 25. Oktober 1874 an konnte in eigens dafür gemieteten Aus¬ stellungsräumen (im Eckhaus vom Thomaskirchhof und Klostergasse) ein selbständiges Museum dauernd zugänglich gemacht werden. Inzwischen war bereits vieles durch Stif¬ tung und Erwerbung zum Grundstock hinzugekommen: so eine von Dr. Brinckmann in Hamburg angelegte wertvolle Ornamentsammlung und vor allem die von Dr. A. v. Zahn gegründete sehr umfangreiche Vorbildersammlung. Am 22. Januar 1875 kam es zur Gründung des Vereins „Kunst¬ gewerbemuseum“, der die Pflege und weitere Ausgestaltung der Sammlung in die Hand nahm. Dank seiner rührigen Thätigkeit, sowie bedeutender alljährlicher Zuschüsse seiten der sächsischen Regierung und der Stadt Leipzig und zahl¬ reicher, teilweise sehr großer Zuwendungen Privater, nicht am wenigstens auch Dank des eifrigen Wirkens des Mannes, der es von Anfang an verwaltet hat und auch weiterhin verwalten wird, Prof. Melchior zur Straßen, hat sich das Museum rasch und stetig entwickelt. In den weiten Räumen des Grassimuseums kann es sich bequem ausbreiten, wie

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KLEINE MITTEILUNGEN.

wohl es dieselben mit unserem äußerst umfangreichen Museum für Völkerkunde und mit dem Verein für Erd¬ kunde teilen muss. Der neue Museumshau, eine Schöpfung des städtischen Baudirektors Hugo Licht, ist am Königsplatz in die Häuserreihe eingebaut. Eine prächtige Fassade, im Charakter der Spätrenaissance gehalten, von einem hohen Dach und einem originellen barocken Giebel überragt, repräsentirt die Bedeutung des Gebäudes nach außen sehr glücklich. Im Innern waltöt Schlichtheit, von dem schönen wirkungsvollen Treppenhaus abgesehen, das luxuriöser ge-

obere dagegen als Bibliotheks- , Zeichen- und Lesesaal ein¬ gerichtet ist. Die Erdgeschossräume des Flügelbaues ent¬ halten die keramischen Sammlungen und die Gläsersammlung, die reiche Eisensammlung, die Zinn- und Bronzesammlung sowie den kostbaren Stadtschatz und die bekannte hervor¬ ragende Zinnsammlung des Herrn Regierungsrat Dr. Demiani, die dem Museum vom Besitzer zu vorübergehender Aus¬ stellung überlassen worden ist. Die darüber befindlichen Räume gewähren der buchgewerblichen Sammlung, einer reichen Sammlung von Siegelabdrücken sowie allen Erzeug-

Vignette, gezeichnet von H. de Bruycker, Hamburg.

staltet und ausgestattet ist. Der Bau besteht aus vier Teilen, einem breiten Vorderhaus, zwei langen Seitenflügeln und einem zwischen beiden liegenden, halbrunden Ausbau. Das Kunstgewerbemuseum verfügt im Hauptgebäude über die rechte Hälfte des Erdgeschosses, wo es seine Verwaltungs¬ räume hat, und über das ganze erste Obergeschoss; ferner über die beiden unteren Geschosse des rechten oder west¬ lichen Seitengebäudes, endlich über die beiden großen Säle im Erdgeschoss und im Obergeschoss des halbrunden Aus¬ baues, von denen der untere eine wechselnde Ausstellung moderner kunstgewerblicher Erzeugnisse aufnehmen soll, der

nissen von Holz und Elfenbein (Möbel u. s. w.) Unterkunft. Den wirkungsvollen Abschluss der Möbelsammlung bildet unser prächtiges Renaissancezimmer aus Schloss Flims in Graubünden. Die Textilsammlung hat einen solchen Um¬ fang, dass sie das ganze Obergeschoss des Vordergebäudes füllt. Da die Möglichkeit weiterer Hofanbauten besteht, darf unser Kunstgewerbemuseum einer ungehinderten Fort¬ entwicklung entgegensehen.

Bald nach Abschluss des vorstehenden Berichtes traf uns die Nachricht von dem raschen, am 27. Februar er¬ folgten Tode des Direktors des Leipziger Kunstgewerbe-

KLEINE MITTEILUNGEN.

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museums Professors Melchior zur Straßen. Geboren am 28. Dezember 1832 zu Münster in Westfalen, kam Melchior zur Straßen 1850 in die Schule des Kölnischen Bildhauers Imhof. Von dort wandte er sich 1854 nach Berlin, arbeitete hier unter Rauch bis zu dessen Tode 1857 und ging dann nach Rom. In Berlin entstanden von ihm zwei bedeutende plastische Werke, die er im Auftrag Friedrich Wilhelms IV. ausführte, eine heilige Elisabeth für das katholische Spital und der Große Kurfürst als Knabe. Von Rom sandte er die „Römische Hirtin“ zur Berliner Ausstellung; dort schuf er auch für den Freiherrn von Oppenheim in Köln die herrliche Marmorgruppe einer „Caritas“. Nach Berlin im Jahre 1863 zurückgekehrt, bezog er das ehemalige Rauch’sche Atelier, aus dem von ihm eine neue Reihe bildnerischer Schöpfungen hervorging, so im Jahre 1870 die Gruppe König Wilhelm und Kronprinz Friedrich Wilhelm auf dem Schlachtfeld von Königgrätz, weiter achtundzwanzig große Porträtmcdaillons in Bronze für das Berliner Rathaus und anderes in Terracotta. Seinen Ruf als bewährter Bildhauer im Sinne vornehmster und edelster Auffassung wird auch die Stadt Leipzig dank¬ bar und ehrend zu erhalten wissen, denn hier sprechen zahl¬ reiche Werke der Plastik von dem berufenen Meister, so die Giebelgruppe am Frontispiz des Hauptpostamtes, die Lipsia- figur auf der Neuen Börse, die Statuen Rembrandt’s und Rubens am Städtischen Museum, die Standbilder Friedrich’s des Streitbaren und Moritz’ von Sachsen , Goethe’s und Lessing’s an der schönen Universitätsbibliothek, die den Buchhandel versinnlichende Frauenfigur am Deutschen Buch¬ händlerhause. Auch ein umfangreicher Figurenfries für das neue Museum in Linz ging in Leipzig aus seinen Händen hervor. Einen guten Teil seiner Kraft und seiner Kenntnisse widmete der Verewigte den Schätzen und den Besuchern des Leipziger Kunstgewerbemuseums.

WETTBEWERBE.

Im Anzeigenteile der heutigen Nummer veröffentlicht der geschäftsführende Ausschuss der „Sächsisch - Thüringischen Industrie- und Gewerbeaus Stellung zu Leipzig 1897 ein Preisausschreiben behufs Gewinnung eines Ausstellungs¬ plakates. An demselben können sich alle im Ausstellungs¬ gebiete wohnhaften Künstler beteiligen. Für die drei besten eingehenden Entwürfe sind Preise im Betrage von 800, 600 und 400 M. ausgesetzt. Das Preisgericht besteht aus folgen¬ den Herren: Professor M. Honegger , Max Klinger, Stadt¬ baudirektor Prof. Licht , Arthur Scheiter , Direktor P. Rdph. Schuster; Stadtrat H. Dodel, Handelskammer-Sekretär Dr. Pohle, Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses. Die Frist zur Einreichung der Entwürfe läuft am 16. April d. J. ab.

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Der Pokal , welchen unsere Illustration wiedergiebt, bildet einen Versuch, pflanzliche Formen und Wachstums¬ bilder einer traditionellen Kunstform unmittelbarer anzu¬ passen, als es bei derartigen Gebrauchsgegenständen in der Regel üblich ist. Für den Aufbau sind Erscheinungen von Schaftformen, die organische Disposition der Blattansätze wie die Stellung und Gruppirung der Blätter verschiedener Pflanzen, der Natur soweit nachgebildet, als es die Zweck-

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Pokal, ziselirt von O. Rohloff, Berlin.

mäßigkeit des Gegenstandes gestattete und sich die natür¬ liche Form mit den Bedingungen des Materials und der Technik vereinigen ließ. Um den Fuß legt sich eine Rosette von Grundblättern; der Knauf, aus welchem dieselben ent¬ springen ist als Knotenzone mit Sprossanlagen behandelt; für die eigentliche Hohlform des Bechers ist eine Blüte (Cobaea scandeas) benutzt; dieselbe ruht in dem Kelche eines Glockenblütlers (Campanula Medium) , welchem die an¬ schließenden Vorblätter derselben Pflanze untergelegt sind. Die Form hat sich beim Gebrauche von seiten verschiedener Kunstfreunde, welche den Pokal besitzen, als handlich und zweckentsprechend erwiesen. Die Arbeit war der erste Ver¬ such eines Stipendiaten des k. Kunstgewerbemuseums, die ornamentalen Naturstudien der Meurer’schen Schule zu ver¬ werten.

Ein Thiirklopfer des germanischen Museums. Das germa¬ nische Museum besitzt eine ausgezeichnete Sammlung von Thürklopfern sowie Unterlagsplatten dazu, die zum Teil ganz köstliche Stücke sind und ein leuchtendes Zeugnis ablegen von der Gediegenheit und künstlerisch - dekorativen Dar¬ stellungsfähigkeit der spätmittelalterlichen Kunstschlosserei. Zwischen diese Stücke und einen reich ausgeführten durch¬ brochenen Thürklopfer mit Unterlage, der aus Eisen gegossen und getrieben, das Meisterstück eines Kasseler Kunstschlossers vom Jahre 1729 repräsentirt , tritt nun ein neuerworbenes

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KLEINE MITTEILUNGEN.

Werk aus der Spätzeit des 16. Jahrh., das wir untenstehend publiziren. Es ist ein außerordentlich fein ausgeführter mit dem Hammer überarbeiteter Bronzeguss und stellt einen Drachen mit ausgebreiteten Flügeln dar. Der Schnabel hat eine sich aufbäumende züngelnde Schlange erfasst, welche auch von den Klauen des Drachen gehalten wird. Die Unterlagsplatte fehlt, dagegen verbindet ein Ansatz am Halse des Tieres ein Chamier mit einem vorzüglich aus¬ geführten stilisirten Faunskopf, dessen weit geöffneter Mund dasselbe aufnimmt. Der Klopfer wurde vor kurzem von einem Münchener Antiquar erworben. Er gilt als süd- tirolische Arbeit, ist aber stark italienisch beeinflusst und vielleicht sogar italienischen Ursprungs. Photographien dieses Klopfers, sowie der übrigen Objekte des Museums, besonders der Kunstschlosserei, hat Photograph Rud. Albrecht in Nürn¬ berg aufgenommen. Dt. EDMXJND BRAUN.

ZEITSCHRIFTEN.

Bayerische Gewerbe-Zeitung. 1896. Nr. 1,

Die bayerische Landesausstellung in Nürnberg 1896. Bayerisches Gewerbemuseum. Verband bayerischer Gewerbevereine. Aus dem Gewerbeleben.

Journal für Buchdrnckerkunst. 1896. Nr. 4/6.

Noch einmal die ersten Zeitungen. Weibliche Arbeiter in der Setzerei. Sigmund Schlickert. Mitteilungen aus der Innung des Hamburgischen Buchdrucker-Prinzipal-Vereins Die Photo¬ graphie des Unsichtbaren. Das umfangreichste illustrirte Druckwerk des XV. Jahrhunderts. Die Presse und die Gerichte. Setzerische Versündigungen. III. Zur Sprachreinigung. Fließpapier als Putzmittel. Mitteilungen aus der Innung des Hamburgischen Buchdrucker-Prinzipal-Vereins. Eine neue Vor¬ richtung für Irisdruck.

Zeitschrift des bayerischen Kunst-Gewerbe-Yereins in München. 1896. Heft 2.

Georg Kobenhaupt, der Meister des Prachtpokals der kgl. baye¬ rischen Schatzkammer. Der Altertümler und das moderne Kunstgewerbe. Von Prof. Dr. Berthold Riehl. (Schluss.) Gitter- thore. Die Beteiligung des deutschen Kunstgewerbes an künftigen Weltausstellungen. Chronik des bayerischen Kunst¬ gewerbevereins.

Thiirklopfer aus dem Germanischen Museum.

Herausgeber und für die Redaktion verantwortlich: Architekt Karl Hoffacker in Charlottenburg -Berlin.

Druck von August Pries in Leipzig.

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Aus dem Wettbewerb um das Plakat der Berliner Gewerbeausstellung 1896.

Fig. 2. Südseite des Salzburger Hofes (Palas).

EINE VERSCHWUNDENE BISCHOFSPFALZ.

VON PROFESSOR C. TH. POHLIG.

MIT ABBILDUNGEN.

NTER den deutschen Städten, welche bereits im frühesten Mittelalter eine hoch- entwickelte Kultur aufweisen, muss man Regensburg- in erster Reihe nennen.

Schon zur Zeit der Römer spielte Regensburg als befestigter Platz eine bedeutende Rolle, und nach den Stürmen der Völker¬ wanderung sehen wir diese Stadt sich allmählich zu einem Kulturcentrum von hervorragender Bedeutung ent¬ wickeln. Sowohl unter den bayerischen Herzogen der Agilolünger, welche in Regensburg residirten, als auch unter den Karolingern, welche die Stadt von einer herzog¬ lichen zu einer königlichen und kaiserlichen Residenz erhoben, wurde das Emporblühen Regensburgs mächtig gefördert. Dazu kommt noch, daß Regensburg als Metropole eines weitausgedehnten Bistums in jener Zeit, wo die Geistlichkeit fast ausschließlich die Trägerin der Kultur war, den geistigen Mittelpunkt für einen großen Teil des südöstlichen Deutschlands bildete. Die eigent¬ liche Blütezeit erstreckte sich auf die folgenden Jahr¬ hunderte, unter den sächsischen, fränkischen und schwä¬ bischen Kaisern; sie fällt im Wesentlichen zusammen Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H 7.

mit der Entwicklung des romanischen Stiles. Die Handelsverbindungen mit Italien, mit den Donauländern und dem südlichen Russland brachten Reichtum und Wohlhabenheit unter die Bevölkerung, was seinerseits wieder dazu beitrug, die Kunst- und Gewerbthätigkeit mächtig zu fördern. Zeugen davon sind eine Fülle von romanischen Bauwerken kirchlichen und profanen Cha¬ rakters, die damals entstanden, und die zum Teil noch auf unsere Zeit gekommen sind.

Was die kirchlichen Bauten jener Zeit betrifft, so haben sich dieselben der Natur der Sache nach allent¬ halben in weit größerer Zahl erhalten, als die weltlichen Gebäude. Auch in Regensburg sind nur wenige Über¬ reste jener alten Profanarchitektur auf uns gekommen, und doch war gerade diese Stadt reich an roma¬ nischen Bauten weltlichen Charakters. Neben der alt¬ berühmten steinernen Donaubrücke, die als Muster solider Bauart heute noch so fest steht, wie vor siebenhundert Jahren, entstand eine große Zahl ansehnlicher Gebäude als Absteigequartiere von Fürsten, Rittern und Prälaten während der Reichstage; es entstanden eigene Herbergen auswärtiger Klöster, ferner eine Reihe von Domherrn-

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EINE VERSCHWUNDENE BISCHOFSPFALZ.

höfen, sowie jene burgartigen, mit mächtigen Streit¬ türmen und krenelirten Hauern versehenen Häuser des Bürgeradels, der sogenannten „Geschlechter“, von denen noch einige als imponirende Denkmale bürgerlichen Selbstbewusstseins und Wohlstandes auf unsere Zeit ge¬ kommen sind.

Eines der hervorragendsten Profangebäude jener Periode war der Salzburger Hof, eine Bischofspfalz von bedeutsamer Anlage und reicher Ausstattung. Derselbe war das Absteigequartier der Erzbischöfe von Salzburg, wenn dieselben während der Reichstage in Regensburg Hof hielten, oder bei Synoden anwesend waren. Dieses interessante Gebäude, das allerdings im Laufe der Zeit mancherlei Umgestaltungen erlebte, wurde in den Jahren 1893 1895 abgebrochen, um Raum für ein neues Post¬ gebäude und für die Dom¬ freiheit zu gewinnen.

Der Platz, auf dem der Salzburger Hof und die an¬ grenzenden, ebenfalls abge¬ brochenen Gebäude standen, ist althistorischer Boden.

Hier stand das römische Prätorium, und mancherlei Funde aus jener Zeit wurden bei den Fundirungsarbeiten des neuen Postgebäudes zu Tage gefördert. Außer ver¬ schiedenen römischen Mün¬ zen und einigen Bronzefigiir- chen kamen in einer Tiefe von 5 V2 m vier quadratische Sockelplatten und eine gut erhaltene Säulenbasis mit einem Schaftdurchmesser von 56 cm zum Vorschein. Man war hier auf eine Säulen¬ halle des Prätoriums ge¬ stoßen. Eine 1,80 m dicke Mauer, auf welche die Westmauer des Turmes vom Salz¬ burger Hof fundirt war, ist wahrscheinlich auch römischen Ursprungs, denn bis an diese Stelle hat sich aller Wahr¬ scheinlichkeit nach das Prätorium erstreckt.

Der Salzburger Hof war ein ziemlich umfangreiches Häusergeviert mit geräumigem Hof und nach rückwärts anschließendem Garten. In dem gegen Norden, das ist gegen die Domstraße, gelegenen Vorderhause befanden sich die Herrschafts- und Amtsräume, sowie die älteste Einfahrt. An der nordöstlichen Ecke überragte ein vier¬ eckiger Turm das Gebäude. Das erste und zweite Ober¬ geschoss dieses Turmes nahm eine Kapelle ein, welche dem h. Rupert geweiht war. In dem rückwärts, gegen Süden gelegenen Flügel befand sich ein großer Fest¬ saal, der sogenannte Palas. Die schmalen Seitenflügel

Fig. 1. Der Salzburger Hof. Grundplan vom Jahre 1810.

im Osten und Westen enthielten Stallungen und Wirt¬ schaftsräume, sowie Wohnungen für die Dienstleute. In der Mitte des Hofes befand sich der bei solchen Anlagen niemals fehlende Brunnen.

Ursprünglich kaiserliches Kammergut, wurde der Hof von Kaiser Otto II. im Jahre 976 dem Erzbischof Friedrich I. von Salzburg verliehen, damit er und seine Nachfolger während der Reichstage in eigener Herberg Hof halten konnten. Die ersten Baulichkeiten werden wohl sehr primitiv gewesen sein und kommen hier nicht weiter in Betracht. Was uns hauptsächlich interessirt, ist ein im 12. Jahrhundert entstandener künstlerisch angelegter Bau, von dem zahlreiche Reste auf uns ge¬ kommen sind. Beim Abbruch des Gebäudes fänden sich

neben einigen offen zu Tage tretenden romanischen Fen¬ stern und anderen Bauglie¬ dern eine Menge von Archi¬ tekturteilen und Skulptur¬ resten vor, die teils unter dem Verputz zum Vorschein kamen, teils bei einem spä¬ teren Umbau als Mauersteine verwendet waren. Es fän¬ den sich Rundbogenfenster der verschiedensten Art und Größe, Portalteile, Bogen¬ friese, einzelne Kapitelle, Tragsteine und Skulptur¬ reste. Alle diese Funde, von denen ein Teil den Samm¬ lungen des historischen Ver¬ eins der Oberpfalz und von Regensburg einverleibt wur¬ de, lassen den Reichtum und die Pracht dieses Bauwerkes nur ahnen ; sie reichen leider nicht aus, um ein vollstän¬ dig getreues Bild des Salz¬ burger Hofes aus jener Zeit

zu geben.

Es drängt sich nun zunächst die Frage auf: Wann und von wem ist dieser Prachtbau aufgeführt worden? Die Bauzeit lässt sich annähernd bestimmen durch die stilistischen Merkmale, welche die verschiedenen Bau- und Skulpturreste zur Schau tragen. Diese weisen in überwiegender Mehrzahl auf die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts hin.

Nicht so einfach ist bei dem Mangel urkundlicher Nachrichten die Beantwortung der Frage, wer den Salz¬ burger Hof gebaut hat. Der Zeit nach kommen in Be¬ tracht die Erzbischöfe Adalbert und Konrad III. von Salzburg. Adalbert war Erzbischof von 1168—1177, in welch letzterem Jahre er das Pontifikat niederlegte. An seine Stelle trat Konrad von Wittelsbach, bisher als

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Konrad I. Erzbischof von Mainz. Er regierte als Konradlll. bis 1183, um dann wieder das Erzbistum Mainz zu über¬ nehmen, während Adalbert zum zweiten Male Erzbischof von Salzburg wurde und bis zu seinem im Jahre 1200 erfolgten Tode verblieb. Im gleichen Jahre starb auch Konrad von Wittelsbach. Die zeitlich vorhergehenden Salzburger Erzbischöfe Eberhard I. (1147 1164) und Konrad II. (1164 1168) dürften für den Bau des Salz¬ burger Hofes kaum ernstlich in Betracht kommen; es finden sich wenigstens keine Anhaltspunkte vor, welche zu der Annahme berechtigen, dass von dieser Seite über¬ haupt irgendwelche größere bauliche Unternehmungen ausgegangen wären.

Vergleicht man nun die Gesam tthätigkeit der beiden in Frage kommenden Persönlichkeiten,

Adalbert und Kon¬ rad,1) so wird man den Eindruck gewin nen, dass die größere Wahrscheinlichkeit, den Salzburger Hof erbaut zu haben, für Konrad spricht.

Konrad von Wittelsbach war der Bruder des Pfalz¬ grafen Otto, dem 1180 das Herzogtum Bayern verliehen wurde. Konrad er¬ hielt seine erste Er¬ ziehung in Salzburg, war daselbst Dom¬ herr, von 1161 bis 1177 Erzbischof von Mainz und als solcher Reichserzkanzler, von 1177 1183 Erzbischof von Salz¬ burg und von 1183 1200 wiederum Erzbischof von Mainz. Er war einer der bedeutendsten Männer seiner Zeit, dabei ein eifriger Freund und Förderer der Künste, besonders der Baukunst.

Spuren seiner Bauthätigkeit begegnen wir in Aschaffenburg, wo ein Tympanon von rotem Sandstein an der dortigen Pfarrkirche seinen Namen trägt. Das Tympanon enthält ein Relief der Mutter Gottes mit dem

1) Vergleiche Dr. Cornelius Will, Regesten zur Ge¬ schichte der Mainzer Erzbischöfe, II. Band, Innsbruck 1885; ferner desselben Verf. Konrad v. Wittelsbach, Kardinal, Erz¬ bischof von Mainz und Salzburg, deutscher Reichserzkanzler, Regensburg bei Pustet, 1880; desgleichen Dr. Andreas v. Meiller, Regesten zur Geschichte der Salzburger Erzbischöfe, Wien 1866.

Jesukinde; rechts davon befindet sich die h. Katharina, links der Evangelist Johannes. An der stark abbrevirten und verwitterten Umschrift erkennt man die Worte: Archiepiscopus Mogunt. Cunr. J) Hauptsächlich aber ist es der Dom zu Mainz, um den sich Konrad große Ver¬ dienste erworben hat. Es wurden unter ihm nicht nur beträchtliche Arbeiten an den östlichen Teilen des Domes ausgeführt, sondern er hat auch den Grund zu dem großartigen Chorbau am Westende des Domes gelegt. 2)

Als Reichserzkanzler war Konrad von Wittelsbach die rechte Hand Kaiser Friedrich’ s I. Er war daher auch viel um den Kaiser, der sich mit Vorliebe in seinem neuerbauten Palast in Gelnhausen auf hielt. Diese prächtige

Kaiserpfalz, von der wir leider nur noch die Ruinen bewun¬ dern können, gehörte zu dem Schönsten und Bedeutendsten, was die Profanarchi¬ tektur des 12. Jahr¬ hunderts hervorge¬ bracht hat. Kein Wunder, wenn der kunstbegeisterte und baulustige Kanzler daraus die Anregung schöpfte, den ur¬ sprünglich jedenfalls sehr primitiven Salz¬ burger Hof in Re¬ gensburg zu einer Bischofspfalz von künstlerischer Be¬ deutung umzugestal¬ ten. Sein Interesse für bauliche Schöp¬ fungen dürfen wir unter anderem wohl auch daraus entnehmen, dass er im Jahre 1182 den kaiserlichen Freiheitsbrief für die Stadt Regensburg in Betreff der von ihr erbauten steinernen Donaubrücke als Zeuge bestätigte.

Die Anlage des Salzburger Hofes darf wohl als typisch für eine Reihe großer Bauanlagen des frühen Mittelalters betrachtet werden. Sie war schon von An¬ fang an die oben skizzirte, nämlich in der Domstraße das Herrenhaus mit dem Eckturm und der Hauskapelle, in den Seitenflügeln die Stallungen, Wirtschaftsräume und die Wohnungen der Dienstleute, und im rückwärtigen

1) Vergleiche Kittel, Die Bauornamente Aschaffenburgs. Programm der Gewerbeschule Aschaffenburg, 1854/55.

2) Vergleiche Dr. F. Schneider, Der Dom zu Mainz. Zeitschrift für Bauwesen, 34. Jahrgang.

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EINE VERSCHWUNDENE BISCHOFSPFALZ.

Flügel der Palas Auffallend muss es erscheinen, dass Pfeifer den Salzburger Hof auf Leib zu verleihen, zu¬ schon hundert Jahre später ein teilweiser Umbau wegen gleich mit der Bedingung, dass auf den Umbau des

drohenden Einsturzes sich als notwendig erwies. Es Hofes binnen drei Jahren die Summe von 50 Pfund

Fig. 4. Fenster am Ostbau des Salzburger Hofes.

betraf dies den südlichen und westlichen Flügel, wie noch des Näheren dargethan werden soll.

Einer Nachricht aus dem Jahre 1277 zufolge sah sich der Erzbischof Friedrich II. von Salzburg veranlasst, den Kindern des Regensburger Ratsgeschlechters Fried¬ rich Daum gegen jährliche Verabreichung von 3 Pfund

Pfennigen zu verwenden sei. In dieser Zeit von 1277 1 280 fand also ein teilweiser Umbau statt.

Nach dem Aussterben des Daum'schen Geschlechtes ging der Salzburger Hof an einige andere Regensburger Ratsgeschlechter über, nämlich au die Sitauer, die Läut- win’s und Ingolstetter. Wer von da ab Mitte des

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15. Jahrhunderts mit dem Salzburger Hof beliehen wurde, das entzieht sich unserer Kenntnis. Jedenfalls aber blieben die Erzbischöfe Eigentümer des Hofes bis zur Säkularisation, und sie behielten sich auch bei den Ver¬ leihungen das Recht der Mitbenutzung vor. Dies beweist ein aus Stein gemeißeltes Wappen des Erzstiftes aus dem Ende des 15. Jahrhunderts unter Leonhard von Keutschach, das ursprünglich über dem Portal ein¬ gemauert war. Außerdem aber wissen wir, dass später zu wiederholten Malen die Erzbischöfe mit großem Ge¬ folge im Salzburger Hofe wohnten, so z. B. während der Reichstage von 1532 und 1576. ') Zu dem Reichs¬ tage von 1532 hatte der Erzbischof sogar gegen 80 Pferde mitgebracht. Während des Reichstages von 1576 fand mehrmals große Galatafel im Salzburger Hof

sprünglich nicht zum Salzburger Hof, sondern zu einem Domherrngebäude, welches nebst der Kilianskapelle an die Rückseite des Salzburger Hofes grenzte, aber be¬ reits im dreißigjährigen Krieg bei der Einnahme der Stadt durch Bernhard v. Weimar, anno 1633, zu gründe ging.

Nach der Säkularisation kam der Hof vorübergehend in den Besitz des Kaufmanns a Marca, von dem ihn der Färbermeister Gütz kaufte. Der erstere hatte den Salz¬ burger Hof nur kurze Zeit, denn schon aus dem Jahre 1810 datiren die für Götz angefertigten Pläne zu dem Umbau der Gebäude. Durch diesen Umbau ging das meiste, was noch Altertümliches an dem Hofe vorhanden war, zu gründe, und nur an den Seitenflügeln und im Rückgebäude blieben noch einige ältere Partieen übrig.

Fig. 7.

Tragsteine an der Hofeinfahrt.

Fig. 8.

Fig. 12. Wandbogen.

Fig. 9. Kapitell von einem Portal.

statt, wozu der Kaiser und hohe Fürstlichkeiten zu Gaste geladen waren. So speiste am 13., 14. und 15. August Herzog Albrecht von Bayern beim Erzbischof und am 15. August nahmen auch der Kaiser Maximilian II., die Kaiserin und der Kurfürst August von Sachsen an der Tafel teil. Die Angabe Schuegrafs,1 2) dass der Salz¬ burger Hof von der Mitte des 15. Jahrhunderts ab dem Domkapitel in Regensburg gehörte, scheint auf Irrtum zu beruhen. Sie wurde jedenfalls durch den Umstand ver¬ anlasst, dass im Garten des Salzburger Hofes einige Dom¬ herrnwappen angebracht waren. Diese gehörten jedoch ur-

1) Vergleiche Hugo Graf v. Walderdorff, Regensburg in seiner Vergangenheit und Gegenwart, Regensburg 1896 und die Widmann’sche Chronik von Öfele.

2) Regensburger Hauskapellen, Unterhaltungsblatt der Regensburger Zeitung, 1842, Nr. 44.

Fig. 13. Rundfigur einer Löwin.

Das Vorderhaus an der Domstraße wurde vollständig modernisirt und am Rückgebäude wurde der obere Teil der Palasmauer gegen den Garten zu abgebrochen, um einer Vorrichtung für Färbereizwecke Platz zu machen. Bis zum Jahre 1893 blieb der Salzburger Hof im Be¬ sitze der Familie Götz. In diesem Jahre wurde der Süd-, West- und Ostflügel abgebrochen, während der Nordbau an der Domstraße erst im Winter 1894 auf 95 niedergelegt wurde. Die Stadt hatte das ganze Grund¬ stück um die Summe von 340000 M. erworben, um es zum Teil für das neue Postgebäude abzutreten, zum anderen Teil aber zur Erweiterung der Domstraße zu verwenden.

Wie bereits erwähnt, war die Anlage des Gebäudes ein Viereck, dessen nördlicher Trakt den Hauptbau mit den herrschaftlichen Räumen umschloss, während der gegen-

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EINE VERSCHWUNDENE BISCHOFSPFALZ.

Fig. 10. Teil eines Tympanons.

überliegende Südflügel den großen Festsaal, die beiden Seitenflügel aber W irtschaf'tsr äu me , Stallungen und Wohnungen für die Dienstleute enthielten. Bei den Abbruchsarbeiten hat sich nun herausgestellt, dass der im 13. Jahrhundert ausgeführte Umbau sich auf den Süd- und Westflügel beschränkt hat. In diesen beiden Flügeln, hauptsächlich aber in dem den Palas enthalten¬ den Südflügel, fanden sich beträchtliche Überreste von älteren Bauteilen Säulenkapitelle und Basen, Portal¬ reste, ornamentale und figürliche Skulpturteile einge¬ mauert, d. h. an Stelle gewöhnlicher Mauersteine ver¬ wendet, während am Nord- und Ostbau nichts dergleichen gefunden wurde. Hier war vielmehr noch das alte Mauerwerk mit den ursprünglichen zwei- und dreiteiligen Rundbogenfenstern aus dem 12. Jahr¬ hundert vorhanden.

Aber nur eines dieser Fenster, und zwar am Ostflügel, war ganz unversehrt und offen geblieben (Fig.

4), die andern waren alle im Laufe der Zeit zugemauert worden, während daneben an¬ dere Fenster durch¬ gebrochen wurden.

Die Mehrzahl der al¬ ten Fenster wurde beim Abbruch blo߬ gelegt, so z. B. am Nordbau sechs drei¬ teilige Rundbogen¬ fenster, je drei [an der Straßen- und drei an der Hofseite. Fig.

5 und 6 geben je eine Abbildung dieser Fenster. Am Ostflügel kamen, außer dem obenerwähnten, unter Fig. 4 abgebildeten Fenster, mehrere zweiteilige Fen¬ ster zum Vorschein, von denen die Figuren 18, 19 und 20 einige Details geben. Ebendaher rührt ein Fenster mit eleganten Würfelkapitellen. Diese letzteren zeigen auf vertieftem Grunde ein Kleeblatt, auf dem erhöhten halbkreisförmigen Rande eine Diamantschnur (Fig. 23). Ferner befand sich im Nordbau die älteste Einfahrt, tonnenförmig überwölbt und gegen die Hof¬ seite in Kämpferhöhe mit Tragsteinen geschmückt, von denen der eine einen Löwen (Fig. 7), der andere eine zusammengekauerte männliche Gestalt (Fig. 8) zeigt.

Von den im Palas eingemauert gefun¬ denen Teilen des älte¬ ren, aus dem 1 2. J ahr- hundert stammenden Baues sind vor allem die Reste eines gro¬ ßen Portales bemer¬ kenswert. Es fanden sich davon Sockel und Kapitell , Teile der Bogen! aibung mit 18 cm dicken Rund¬ stäben, welche noch Spuren von farbiger Bemalung in Rot, Blau, Grün und Gelb aufwiesen; ferner die obere Hälfte eines Tympanons, dessen Durchmesser sich auf 1,70 m berechnet. Das stark beschä¬ digte, in drei Al)-

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v Sätzen für die ganze

Pig. 5, Fenster am Nordbau.

Thürlaibung gear-

EINE VERSCHWUNDENE BISCHOFSPFALZ.

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jr f-tr em.

Fig. 11. Teil eines Bogenfrieses.

beitete Kapitell (Fig. 9), wie auch der Sockel lassen erkennen, dass nur eine Mittelsäule vorgesehen war, außen und innen aber gerade, bezw. abgeschrägte Eckpfeiler, vielleicht mit ornamentalem Schmuck ver¬ sehen, vorhanden waren. Der mittlere Teil des Ka¬ pitells ist mit zwei Tiergestalten geschmückt, welche gegen die vorspringende Ecke in einen gemeinsamen Kopf zusammenlaufen. Der Kopf ist der eines Bären, während der um den Leib geschlungene Schweif und die Andeutung einer Mähne auf einen Löwen hinweisen. Der Sockel hat die gleiche Grundform wie das Kapitell und zeigt die attische Basis mit Eckknollen. Höchst eigentümlich ist das Tympanon, von dem Fig. 10 ein Bruchstück giebt. Es enthält Weinranken in grotesker Ver¬ schlingung mit et¬ lichen kleinen Trau¬ ben. Dieses Bruch¬ stück war ebenfalls im Palas eingemauert und zwar als Trep¬ penstufe vor einer Thür, mit der skulp- tirten Seite nach un¬ ten , welchem Um¬ stande die verhältnis¬ mäßig gute Erhal¬ tung zu danken war.

Im Palas wur¬ den ferner einge¬ mauert gefunden :

Teile eines reichver¬ zierten Bogenfrieses (Fig. 11), zwei Blend¬ bögen, jeder mit dem Relief eines Kopfes en face (Fig. 12), an denen die primitive

Behandlung der Haupt- und Barthaare bemerkenswert ist. Merkwürdig erscheint die vollkommen rund gearbeitete Figur einer kleinen Löwin aus feinkörnigem Sandstein, nur 26 cm lang. Dieselbe kam in zwei Stücke auseinander ge¬ brochen mit fehlenden Beinen zum Vorschein (Fig. 13). Weiter wurden gefunden: ein Gesimsstück mit kleinem Bogenfries (Fig. 14), eine aus verschlungenen Ringen be¬ stehende fortlaufende Kämpferverzierung und eine größere Anzahl von Kapitellen, von denen nur etliche näher be¬ zeichnet werden sollen. Originell ist das Würfelkapitell (Fig. 15), dessen eine Seitenfläche gegen die Mitte schräg ausgetieft erscheint, so dass ein senkrechter Rundstab Platz findet, der von dem den Säulenschaft abschließen¬ den Wulst aus bis zur Deckplatte hin¬ aufgeht. Eigentüm¬ lich erscheint auch die kleine Säule (Fig. 16) mit schwerem, unregelmäßig ge¬ formtem Kelchkapi¬ tell. Dieses ist auf zwei Seiten mit pflanzlichem Flach¬ ornament bedeckt, während an den bei¬ den anderen Seiten stark erhabene Tier¬ figuren angebracht waren, von denen je¬ doch nur mehr ein¬ zelne Bruchstücke vom Körper und von den Beinen sichtbar sind. Die Säulen¬ basis hat neben drei einfachen Eckknollen ein fein geglieder¬ tes Eckblatt. Nicht

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EINE VERSCHWUNDENE BISCHOFSPFALZ.

minder auffallend sind die Eckstiicke mit Ecksäule (Fig. 21 u. 22), die offenbar von einem Eingänge her¬ rühren, und zwar ist Fig. 21 der linke obere, Fig. 22 der rechte untere Teil. Auffallend ist hier das ver-

Elegante Kapitellformen zeigen die Figg. 24 und 25. Fig. 24 ist ein Doppelkapitell von bereits sehr kompli- zirter Grundform. Die feinproiilirte kreisrunde Deck¬ platte tritt vorne und seitlich über den oberen recht-

Fig. 14.

Fig. 15.

Fig. 18.

Fig. 19.

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Fig. 14 20. Details des alten Salzburger Hofes.

Fig. 20.

Fig. 16

schnörkelte Kapitell und dessen Fortsetzung als Kämpfer¬ ornament. Das eigentümliche Schnörkelwerk gemahnt an uralte Vorbilder und doch stammt es, wie der Eck¬ knollen an der Säulenbasis bezeugt, ebenfalls aus dem 12. Jahrhundert.

eckigen Abschluss hervor, eine Grundform, welche erst im spätromanischen Stil auftritt. In ähnlicher Weise findet sich dies an dem zierlichen Volutenkapitell (Fig. 25). Auch das reiche, mit Kristallen besetzte Kämpferornament (Fig. 27) gehört dieser Zeit an. (Schluss folgt.)

MEISTERWERKE

GRIECHISCHER PLASTIK IN NEUER BELEUCHTUNG.

MIT ABBILDUNGEN.

NGESICHTS der Vollbilder künstler¬ ischer Individualitäten, welche die Kunst¬ geschichte der neueren Zeit mit wach¬ sender Sicherheit aus der Fülle ihrer Urkunden Wiedererstehen lässt, wird immer mächtiger auch in der Forschung, die der Kunst des Altertums zugewendet ist, der Wunsch lebendig, in gleicher Weise in dem Nachlass der Antike hinter dem Bildwerke die Persönlichkeit in ihrem

Werden und Wollen aufzudecken und im breiten, deut¬

lich erkennbaren Flusse der Formen und Ideen die An¬ regungen der einzelnen bahnbrechenden Meister auf- zu spüren.

Aber freilich fehlen hier die geschlossenen Reihen äußerer Zeugnisse, und nur langsam und zögernd er¬ schließt der griechische Boden Original werke, die ihre Schöpfer mit Namen nennen. Da wird es schwer, sich in Geduld zu meistern und Funden der Zukunft die vielen Lücken unserer Kenntnis zur Ergänzung zu über¬ lassen. Immer wieder wendet sich daher der Blick auf unseren alten Museenbestand zurück mit der Frage, ob nicht hier noch manches Rätsels Lösung verborgen liege, die nur deshalb nicht gefunden wurde, weil der Suchende die Kunst des Sehens nicht verstand.

Von solchem Gedanken getrieben, hat vor kurzem ein durch reiche Denkmälerkenntnis und Kombinationsgabe ausgezeichneter Forscher die Durchmusterung unseres Antikenbesitzes in großem Maßstabe wieder aufgenommen, um darin die Kopieen der alten Meisterwerke aufzu¬ zeigen, ') und wirklich, fast alle sollen sie wieder ge¬ funden sein, die altberühmten Statuen klangvoller Her¬ kunft, und noch viele dazu, von denen bisher kein Zeug¬ nis meldete, ach wenn es doch wahr wäre!

In einem dicken Buche von siebeneinhalb Hundert Seiten, das der Verleger mit seltener Freigebigkeit aus¬ gestattet hat, hat Furtwängler die wiedergewonnenen Meisterwerke in Dutzendreihen vor uns ausgebreitet.

1) Meisterwerke der griechischen Plastik. Kunstge¬ schichtliche Untersuchungen von Adolf Furüocinglcr. Mit 140 Textbildern und 32 Lichtdrucktafeln in Mappe. Leipzig- Berlin. Verlag von Giesecke und Devrient 1S93. 4.

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. Heft 7.

Einer solchen Fülle gegenüber müssen wir uns begnügen, einiges wenige herauszuheben , um die Art der Füh¬ rung zu erproben, die uns ein neues Land der Erkenntnis zu erschließen verheißt.

Ein glanzvoller Name eröffnet den Reigen, eine Statue des Dresdener Museums (Abb. 1) wird als Kopie der Athene Lemnia des Phidias aufgezeigt. Der Torso dieser Dresdener Statue war schon von Puchstein als Nachbildung der Lemnia in Anspruch genommen worden, doch galt bisher der unbehelmte Kopf, der in früheren Jahren der Statue aufgesetzt worden war, als fremder Zusatz. Dieser Kopf, der, wie Flasch gesehen hat, den gleichen Typus wiedergiebt, wie ein berühmter Bolog¬ neser Kopf (Abb. 2), wird von Furtwängler als zugehörig betrachtet, und da man schon bisher geneigt war, sich die Lemnia als friedliche Athena ohne Helm vorzustellen, so gilt die Thatsache, dass der Kopf der Dresdener Figur keinen Helm trug, als eine weitere Stütze für die Vermutung, dass hier wirklich eine Kopie der etwa 440 v. Chr. gefertigten Lemnia vorliege.

Die Art, wie der Kopf zwar nicht an den Bruch¬ rändern, wohl aber „im Kern des Halses“ dem Torso auf¬ passe, wird mit solcher Bestimmtheit als beweiskräftig bezeichnet, dass man nur zögernd die Bedenken geltend machen darf, zu denen die ergänzte Statue und ihre Deutung Anlass geben. Auffallend erscheint zunächst die unverhältnismäßige Zartheit des Kopfes und der harte Widerstreit zwischen der Richtung des Antlitzes und der Bewegung von Körper und Armen; auch stimmt der Kopf weder im geistigen Ausdruck noch in der Haartracht zu den statuarischen Athenatypen des fünften Jahrhunderts, und ist vollends von dem Kopfe der Phidias- sclien Parthenos im ganzen Aufbau der Formen wesent¬ lich verschieden. Daher möchten wir die Entscheidung der Frage, ob die äußeren Thatsachen, welche jetzt für die Zusammenfügung der so lange als nicht zu¬ sammengehörig betrachteten Teile ins Feld geführt werden, stark genug sind, die aus inneren Gründen ge¬ schöpften Bedenken zu besiegen, gerne bis zu noch¬ maliger genauer Nachprüfung verschoben sehen.

Für Furtwängler bildet die Dresdener Athene be-

20

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MEISTERWERKE GRIECHISCHER PLASTIK IN NEUER BELEUCHTUNG.

reits einen festen Ausgangspunkt, von dem aus der ganze künstlerische Entwicklungsgang des Phidias sich erschließen lässt. Die Analyse der Lemnia und ihrer Vorstufen lehre so wird uns gesagt „dass es nicht wahrscheinlich sei, den Beginn von Phidias’ Thätig- keit mehr als etwa ein Jahrzehnt vor die Lemnia zu verlegen“. Wir wissen nicht, auf welche psychologischen oder kunstgeschichtlichen Werdegesetze eine solche Zeit- abscliätzung sich gründen dürfte, aber es kann wenig Zutrauen erwecken, wenn im Zusammenhang damit entgegen dem Zeugnis des Pau- sanias sowohl das Gold¬ elfenbeinbild von Pellene als auch die At henest atue zu Platää und das marathonische Weih¬ geschenk in Delphi dem Phi¬ dias abgesprochen werden; denn die Voraussetzung, dass diese Werke, weil sie in Beziehung zu den Perserkriegen stehen, schon um 480 entstanden seien, wird man nicht teilen mög'en.

Die zahlreichen Kunstschöp¬ fungen, zu denen die Perser¬ kriege Anlass gegeben haben, sind gewiß in ihrer Mehr¬ zahl nicht in den Jahren der heißesten Kämpfe sondern erst in den folgenden Jahrzehnten entstanden; bevor wir aber die Möglichkeit leugnen, dass Phidias um 450 mit großen Aufgaben beschäftigt war, müssen wir noch weitere Be¬ weise abwarten.

Die Athene Promachos auf der Akropolis lässt Furtwäng- ler zwar als eine Stiftung aus der Zeit um 440, aber nicht als ein Werk des Phidias gel¬ ten. Obwohl er (mit K. Lange) den Torso Medici eben seines Pliidias’schen Charakters wegen für eine Kopie der Pro¬ machos hält, glaubt er doch das Urbild nicht Phidias selbst (wie Pausanias überliefert), sondern einem zeitgenössischen Künstler Praxiteles zuschreiben zu sollen, gestützt auf einen Sclioliasten des Rhetors Aristides, der Praxiteles schlechtweg als Schöpfer des Werkes nennt. Aber das ist eine überaus unsichere Grundlage, da bei der zerfahrenen Kenntnislosigkeit dieses Gewährsmanns der Verdacht naheliegt, dass der Name des Praxiteles nur infolge einer thörichten Verwechslung, nicht aber auf Grund einer gelehrten Überlieferung, die den Vorzug vor der Nachricht des Pausanias verdiente, liier eine Stelle gefunden habe.

Furtwängler freilich gewinnt auf diesem Wege in dem Torso Medici ein Werk, aus dem sich die Eigen¬ art jenes „älteren Praxiteles“ erschließen lässt, und er weiß für dessen merkwürdig enge Verbindung mit Phidias noch ein weiteres Zeugnis beizubringen in den Dioskuren von Monte Cavallo. Es ist bekannt, dass auf die Untersätze dieser Kolossalfiguren im 4. oder 5. Jahrhundert nach Chr. die Inschriften „opus Phidiae“ und „opus Praxitelis“ gesetzt worden sind. Diesen Bezeichnungen glaubt Furtwängler einen so hohen Grad von Verlässlichkeit zuschreiben zu dürfen, dass er es wirklich unternimmt, den einen der Dios¬ kuren als ein Werk des Phidias, den anderen als ein Werk jenes stilverwandten älteren Praxiteles zu erweisen. Man kann gerne einräumen, dass die Bewegungsmotive der Fi¬ guren und manche Einzel¬ heiten ihrer Formen und Ma߬ verhältnisse auf die Zeit des Phidias zurückweisen aber Phidiasisch in diesem Sinne sind gar viele Werke der fol¬ genden Jahrhunderte, die den Einfluss der Schöpfungen Pe- rikleisclier Zeit nicht verleug¬ nen können. Wie weit aber die unmittelbaren Vorbilder der Dioskuren schon von der Zeit des Phidias abstanden, das lehrt ein Blick auf die Köpfe der Jünglinge (Abb. 3), deren Pathos die Werke des Skopas und seiner Nachfolger bereits voraussetzt und zu den Aus¬ drucksformen der pergameni- schen Epoche überleitet. Man sehe nur den unruhig geöff¬ neten Mund, die geschwellten Nasenflügel, die leidenschaftlich, fast in dämonischer Wildheit aufgerissenen Augen, die vor¬ gewölbte, reichgegliederte Stirne, das gesträubte Haar, das an der Charakteristik der inneren Erregung teilhat, den heftigen Ruck in der Bewegung des Kopfes! So laut scheint mir die Sprache dieser Formen, dass ich glaube, ihr gegenüber werden die spätrömischen Aufschriften auch in Zukunft, so wie bisher, als Erfindung einer an Kenntnissen und Kunstverständnis gleich armen Zeit zu gelten haben, die dem so sehr in die Augen fallen¬ den Paare von Kolossalfiguren in naiver Willkür die beiden berühmtesten Künstlernamen des Altertums zuteilte.

Auch die Werke anderer Zeitgenossen und Vor¬ gänger des Phidias versucht Furtwängler, von der

MEISTERWERKE GRIECHISCHER PLASTIK IN NEUER BELEUCHTUNG.

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Lemnia ausgehend, ausfindig zu machen. Als fester Punkt nach oben dient dabei die Stilstufe des Hage- ladas, dem Furtwängler bei früherer Gelegenheit Statuen eines bestimmten Standmotivs zuzuweisen versucht hat. So wird beispielsweise die bekannte Apollonstatue von Mantua dem einmal als Lehrer des Phidias genannten Hegias zugewiesen, weil sie einerseits der „Schule des Hageladas“ angehöre, andererseits dem sog. Apollon „aus den Thermen“, den Petersen dem Phidias zugeschrieben hat, nahestehe. Es ist klar, dass bei dem Mangel jedes s icheren A nhal tsp unk tes eine solche Abgrenzung- künstlerischer Individuali¬ täten nur auf rein subjek¬ tivem Ermessen sich auf¬ bauen kann; und Gleiches gilt von dem Versuche, An¬ fang und Ende der Ent¬ wicklung eines einzelnen Künstlers abzustecken, wo nur ein einziges seiner Werke bekannt ist, das ebensowohl an dem einen wie dem andern Grenz¬ punkt seiner Thätigkeit stehen könnte. Die Wahl der Zirkelöffnung, mit der von diesem einen Punkte aus ein größerer oder klei¬ nerer Kreis geschlagen wird, ist dabei dem freien Belieben anheimgegeben.

Und in der Regel sind es sehr weite Kreise, die Furt¬ wängler der künstlerischen Bethätigung seiner Meister zieht.

So wird uns Kallima- clios als ein Künstler ge¬ schildert, der sowohl die Koren vom Erechtheion und die Skulpturen des Niketempels als auch zahlreiche, nach Art und Zeit weit auseinanderliegende archaistische Reliefs gefertigt habe. Überaus reich bedacht erscheint auch lvresilas, ein Zeitgenosse des Phidias, dessen Kunstart wir aus seiner Perikies - Herme (Abb. 5) kennen. Daran reiht Furtwängler - außer einem Neapeler Torso, der mit beachtenswerten Gründen auf ein dem Kresilas zu¬ geschriebenes Bildwerk eines tödlich verwundeten Käm¬ pfers zurückgeführt wird, des weitern die Pallas von Velletri, die sog. „Kapitolinische“ Amazone, die schon Jahn dem Kresilas zugeeignet hatte, den Münchener Diomedes und noch vieles andere, wir müssen ihm die Gefolgschaft versagen, noch lange bevor sich ihm

am Ende seines verschlungenen Pfades auch die Meduse Rondanini als ein Werk desselben Kresilas offenbart, der den Perikies geschaffen!

Wie hier die unter einem Namen zusammengefassten Stücke Gleichartigkeit und Einheitlichkeit des Stils vermissen lassen, so giebt anderswo auch schon die erste Verknüpfung eines Künstlernamens mit einer Statuenreihe zu Bedenken Anlass. Von den Werken des Euphranor können wir bisher nur eine ungenügende Vorstellung aus den kleinen Nachbildungen seines „bonus

eventus“ gewinnen, die Fröhner auf römischen Me¬ daillons erkannt hat. Die Beobachtung , dass diese Figur ein ähnliches Stand¬ motiv zeigt, wie der „Dio¬ nysos von Tivoli“, nimmt Furtwängler zum Anlass, um die Dionysosstatue als Werk des Euphranor zu beanspruchen und daraus ein Urteil über dessen künstlerische Persönlich¬ keit abzuleiten. Und doch kann weder jenes Stand¬ motiv des „bonus eventus“ als charakteristisches W ahr- zeichen einer künstlerischen Individualität gelten, noch lässt sich die Formgebung der Dionysosstatue mit dem vereinen, was wir aus lit- terarisclier Überlieferung über Euphranor erfahren.

Wenn so vielfach schon die ersten Kettenfäden des glänzenden Gewebes lose zu zerflattern drohen, so mag dafür zunächst ein allzu sanguinisches Tem¬ perament verantwortlich sein, das sich dem berück¬ enden Vollklang der eigenen Kombinationen zu rasch ge¬ fangen giebt und im Nu die Möglichkeiten zu Wahr¬ scheinlichkeiten, die Wahrscheinlichkeiten zu Gewiss¬ heiten emporwachsen lässt.

Aber die größere Zahl der Schlüsse, die uns in dem neuen Buche bedenklich erscheinen, wurzelt doch tiefer in den methodischen Voraussetzungen, von denen Furtwängler bei seinem Versuche, unsern Denkmäler¬ bestand kunstgeschichtlich zu ordnen, ausgegangen ist. Schon vorher habe ich angedeutet, dass er nur allzu¬ geneigt ist, "Werke, die in ihrer Anlage Phidias, Praxiteles, Polyklet oder einem anderen großen Meister verwandt erscheinen, auf diese Künstler selbst zurückzuführen

20*

Abb: 2. Kopf, der Atliena lii'Bologiia.

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MEISTERWERKE GRIECHISCHER PLASTIK IN NEUER BELEUCHTUNG.

oder unter ihre Brüder. Schüler, Söhne aufzuteilen. Aber ein Großteil dieser Statuen stellt, glaube ich, in viel loserer und entfernterer Abhängigkeit von jenen Vorbildern. So wie einzelne Motive und Ausdrucksformen, einmal vorgebildet, Gemeingut aller folgenden Zeiten werden, so sind auch ganze Stilrichtungen und die von ihnen geschaffenen Formenideale, die in dem einen oder andern Sinn einen Höhepunkt bezeichnen, für die fol¬ genden Jahrhunderte mit vorbildlicher Gewalt lebendig geblieben, so lange das technische Können für die Nach¬ ahmung ausreichte. Nicht nur im letzten vorchrist¬ lichen Jahrhundert, für das man gemeiniglich eine „attische Renaissance“ zu¬ zugestehen pflegt, auch schon im 4. und 3. Jahr¬ hundert gab es neben den genialen Meistern, die ihren Epochen die Signatur eines neuen Geistes aufdrückten,

Scharen von Künstlern, die, ähnlich den Akademikern neuerer Zeiten, im Sinne fertig überkommener, älte¬ rer Kunstideale arbeiteten, teils in bewusster Nach¬ eiferung, teils in unbewuss¬ ter Abhängigkeit. Diese Leute sind in ihrem be¬ quemen Schaffen allzeit be¬ sonders berufen, den Tages¬ bedarf an Kunstwerken zu befriedigen, und wir wer¬ den uns daher nicht ver¬ wundern, wenn solche den Schöpfungen eines Phidias,

Praxiteles, Polyklet bloß nachgeahmte und nachem¬ pfundene Werke auch in dem uns überlieferten Erbe ungleich zahlreicher ver¬ treten sind, als wirkliche Kopieen nach Werken der Meister.

Furtwängler tritt allerdings an unsern Statuen¬ bestand mit der Erwartung heran, dass uns „hier diejenige Auswahl aus den Meisterwerken der klassischen Epoche erhalten sei, die antiker Geschmack und Kennerschaft aus den Zeiten feinster Bildung getroffen hat“. Aber auch abgesehen davon, dass die letzte Auswahl unseres Skulpturenbesitzes von dem Zufall der Fundumstände bestimmt worden ist, muß die Hoffnung, in den vor¬ handenen Kopieen einer natürlichen Auslese griechischer Plastik zu begegnen, überaus optimistisch erscheinen. Denn gewiß sind, wie heute, so auch im Altertum, nicht

allein das künstlerische Verdienst, sondern ebenso oft oder noch häufiger die dekorative Verwendbarkeit, die ansprechende Gefälligkeit des Motivs, ein gegenständ¬ liches Interesse oder sonst eine der tausend Zufällig¬ keiten, die ein Werk in Mode bringen, Anlass zu viel¬ facher Wiederholung geworden, sodass auch eine Statue, die in einer größeren Zahl von Repliken vorliegt, noch nicht das Werk eines bedeutenden Meisters zu sein braucht. Aber auch dort, wo wir in einer Kopie wirklich ein solches anerkennen dürfen, werden wir häufig noch über

die Art, wie die Kopie zu verwerten sei, mit Furt¬ wängler in Widerspruch geraten müssen. Furtwäng¬ ler pflegt der stilkritischen Beurteilung eines Meisters eine bestimmte Kopie zu- grundzulegen und Werke, die mit dieser Kopie stili¬ stisch übereinzustimmen scheinen, als Arbeiten des¬ selben Meisters anzuschlie¬ ßen; hierbei wird Einzel¬ heiten der Meißelführung in der Bildung der Haare, des Ohres, der Augenbrauen, großes Gewicht zugemes¬ sen. Aber diese auf dem Felde der neueren Kunst vielfach mit Erfolg ange¬ wendete Betrachtungsweise erscheint hier auf ein Ge¬ biet übertragen, wo sie keinen Erfolg beanspruchen kann; denn eine Methode, die den Künstler in seinen intimsten Eigenheiten zu belauschen sucht, kann nur bei originalen Arbeiten, nicht an Werken zweiter Hand fruchtbar werden, wo sie vielmehr Gefahr läuft, ge¬ täuscht von den Eigenheiten dieser zweiten Hand, Arbeiten desselben nachschaffenden Dekorateurs für Arbeiten eines Künstlers anzusehen. Von vornherein ist klar, dass die Zahl der Kopieen, die auch in solchen Einzelheiten ihr Vorbild getreu wiedergeben, nur äußerst gering sein kann; die große Mehrzahl der Besteller wie der Kopisten hat weder Interesse noch Verständnis für solche Feinheiten der formalen Durchführung. Die Verlässlichkeit einer Kopie bedarf daher immer erst eines Erweises, und dieser Erweis kann nur geführt werden durch bestän¬ diges Vergleichen mit den vorhandenen griechischen Originalen, die allein über die Art, wie in bestimmten Epochen und Einzelheiten aufgefasst, durchgebildet wurden,

Abb. 3. Bioskur von Monte Cavallo.

MEISTERWERKE GRIECHISCHER PLASTIK IN NEUER BELEUCHTUNG.

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zuverlässig aufklären können. Gerade in diesem Punkt aber lässt es Furtwängler sehr fehlen. Während der ganze Fortschritt, den wir seit Winckelmann in der Erkenntnis antiker Kunst gemacht haben , in erster Linie auf unserer wachsenden Vertrautheit mit Original¬ arbeiten beruht, wird in dem neuen Buche, das doch im Sinne modernster Kunstauffassung zu wirken wünschte, den Originalen in ganz untergeordneter Weise Rück¬ sicht geschenkt und damit die Grundlage vernachlässigt, die allein tragfähig für stilistische Untersuchungen ist.

Diese grundsätzlichen Be¬ denken, welche die Betrach¬ tungsweise der „Meisterwerke“ im allgemeinen treffen, schlie¬ ßen aber natürlich nicht aus, dass unter der reichen Fülle von Beobachtungen und Ver¬ mutungen, die uns in iiber- sprudelndem Reichtum ent¬ gegentreten, auch nicht wenige sind, die auf Beachtung und Geltung Anspruch erheben können; und auch dort, wo man der regen Kombinations¬ gabe des Verfassers mehr Widerspruch als Glauben ent¬ gegenbringt, wird ihr das Ver¬ dienst der Anregung bleiben.

Aus der großen Zahl bren¬ nender Fragen, die in dem Buche behandelt werden, mag hier nur die eine und die an¬ dere, die im Vordergründe des Interesse’s weiterer Kreise steht, gestreift werden. Dabei können wir auf die vielfache Klärung, die die Exkurse über archaische Kunst bringen, nur im Vorübergehen hinweisen; insbesondere die Wiederher¬ stellungsversuche des Kypse- loskastens und des amyklä- ischen Thrones erscheinen gegenüber den bisherigen Vor¬ schlägen als ein bedeutender Fortschritt. Auch die vielen, mit den Tempeln der athenischen Akropolis verknüpften Probleme hat Furtwängler in neuer Weise zu lösen ge¬ sucht, für den alten Tempel und das Erechtheion aller¬ dings, wie mir scheinen will, mit wenig Glück.

Bestechend, aber bei genauerer Prüfung nicht über¬ zeugend, ist die für den Westgiebel des Parthenon vor¬ getragene Deutung. Wie man in der rechten Hälfte des Giebels die Familie des Kekrops erkannt hat, so möchte Furtwängler die entsprechenden Gruppen der andern Giebelhälfte auf Erechtheus mit seinen Töchtern deuten. Indem er die Figur auf dem Schoße der sitzen¬

den Frau für männlich hält was noch nicht als ge¬ sichert gelten darf, erklärt er die Gruppe für Ion und Kreusa, eine Benennung, die schweren sagengeschichtlichen Bedenken unterliegt. Noch weniger glaubhaft scheint es mir, dass die benachbarte Frauengestalt und die neben ihr befindlichen Kinder Oreithyia und die Boreaden dar¬ stellen sollen. Dass die Erechtheustochter, die von Boreas nach Thrakien entführt wird, hier, wo sie noch im Kreise ihrer Schwestern auf der Akropolis weilt, schon „proleptisch“ mit ihren späterhin im Norden ge¬ borenen Söhnen ausgestattet worden sein soll, ist eine harte Zumutung für den Künstler, wie für die Beschauer. Zudem scheint die Zeichnung Carrey’s eine ganz andere Gruppirnng der Kinder nahezulegen , wie ja in der Tliat der Wiener Bildhauer Karl Schwerzek bei seinem mit vieler Umsicht aus¬ geführten Wiederherstellungs¬ versuch, der wohl in diesen Blättern noch eine ausführ¬ lichere Erörterung finden wird die Figuren in ganz ver¬ schiedener Weise angeordnet hat. Die Namen des Butes und Buzyges (und ihrer Frauen) endlich, die Furtwängler den beiden Eckgruppen giebt, haben, fürchte ich, den alten Athenern ebenso ferne gelegen, wie uns Modernen. Die gang¬ bare Erklärung sieht in diesen Gestalten attische Flussgötter, die natürlich nicht als wesen¬ lose Lokalpersonifikationen zu denken sind , sondern als lebendig wirken de Götter, als welche Ilissos und Kephisos in Sage und Kult uns ent¬ gegentreten. Mag man aber über die Namen streiten, so legt doch der Ostgiebel, wo Helios und Selene den festen Rahmen für die Handlung bilden, es nahe, auch in den Eckfiguren des Westgiebels göttliche Wesen zu erkennen, die am Rande des Burgbezirkes im engeren oder weiteren Sinne wohnend gedacht sind und, indem sie als Nach¬ barn bei dem Streit Athena’s anwesend erscheinen, die Grenzen des Schauplatzes verdeutlichen helfen.

Für die Frauengestalten des Ostgiebels hält Furt¬ wängler an den Namen der Horen und Moiren fest; in dem gemeiniglich Theseus oder Dionysos genannten Jüngling aber , den Brunn in poetisch empfundener Deutung Olympos benannt hat, möchte er den mythischen

Abb. 4. Aphrodite in Petworth.

15S

MEISTERWERKE GRIECHISCHER PLASTIK IN NEUER BELEUCHTUNG.

Jäger Kephalos erkennen; der Platz, der dieser Figur zwischen Helios und den Horen angewiesen ist, muss jedoch dieser Vermutung wenig günstig erscheinen.

Nachdrücklicher fördern die stilkritischen Erörte¬ rungen über die verschiedenen Athletentypen in demPolyklet gewidmeten Abschnitt; nur werden auch hier die Grenzen des Kunstgutes, das als individuelles Eigentum Polyklets zu betrachten ist, viel enger gezogen werden müssen. Oder dürften wir wirklich demselben Meister, dessen höchste Leistungen uns im Doryphoros und der Amazone erhalten sind , bloß auf Grund einzelner „Polykle- tischer Maß Verhältnisse

und Motive auch jene lie¬ benswürdigen Bilder ju¬ gendlicher Athleten zu¬ schreiben, die in ihrer aus¬ drucksvollen Be w eg tlieit

feinstes attisches Empfinden zu verraten scheinen? Soll¬ ten hier nicht vielmehr at¬ tische Künstler zum Aus¬ druck ihrer Gedanken sich einiger Wendungen der Polykletischen Formen¬ sprache bedient haben ? Sind doch eine zeitlang „attische“ und „Polykletische“ Weise ungleich weniger scharf von einander geschieden, als wir gemeiniglich anzunehmen geneigt sind; das kann ein Vergleich des Doryphoros mit dem Theseus des Par¬ thenons und dem Ares Borghese, der dem Theseus nächst verwandt ist, am besten lehren. Polyklet hat mit seinem Kanon eben nicht etwas fremdartig Neues geschaffen, sondern das im Flusse befindliche Schönheitsideal gleichsam auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung festgelegt und in schematischer Weise ausgebildet. Wie ihn dabei die Errungenschaften der attischen Schulen beeinflusst haben, so haben wiederum attische Künstler dem Formenreiz seiner ebenmäßigen Mustergestalten sich angepasst, ohne deswegen als An¬ gehörige der Polykletischen Schule gelten zu können.

Von dem Vielen, was Furtwängler auf den Namen der Praxiteles getauft hat, wird, glaube ich nur weniges auf das Kerbholz des Künstlers selbst gesetzt werden dürfen. Auch den schönen Frauenkopf in der Sammlung Petworth (Abb. 4), der uns mit begeisterten Worten als Originalwerk des Praxiteles geschildert wird, würde ich

nicht wagen, der Hand des Meisters zuzuerkennen; die Abbildung müsste sehr täuschen, wenn der Kopf mehr sein sollte als ein glücklich nachempfundenes Werk Praxitelisclier Richtung aus jüngerer Zeit.

Die bis zum Überdruss umstrittenen Probleme der Venus von Milo sind auch von Furtwängler trotz eines großen Aufwandes von Scharfsinn zu keiner überzeugen¬ den Erledigung gebracht worden. Sein neuer Ergänzungs¬ vorschlag ergiebt in der gegensätzlichen Bewegung der beiden Seiten eine wenig harmonische Komposition; träfe

er das Richtige, so hätte der Künstler kaum Ursache über die Verstümmelung zu klagen, die den günstigen Eindruck seines Werkes beträchtlich gefördert hätte. Ebensowenig vermöchten wir zu glauben, dass in dem Werk ältere Motive in so äußerlicher Manier zusam¬ mengeschweißt seien, wie Furtwängler annimmt. Auch der zeitliche Ansatz (im ersten Jalirh. v. Chr.) scheint mir zu spät für dieses griechische Original, das seinem Gewandstil nach etwa in der Mitte steht zwischen der Nike von Samothrake und den Frauen¬ gestalten von Pergamon.

Für die Fülle der ver¬ schiedenartigsten Denk¬ mäler, die Furtwängler, auf Grund einer seltenen Vertrautheit mit den euro¬ päischen Museen, in allen diesen Einzeluntersuchun¬ gen herangezogen und ver¬ arbeitet hat, haben wir Ur¬ sache ihm dankbar zu sein ; vieles, was bisher nur einem kleineren Kreise von Fachgenossen bekannt war, ist hier an die breite Heeresstraße der Forschung heraus¬ gestellt. Von den einzelnen Werken werden jedesmal lange Listen von Repliken gegeben, die den zukünftigen Ordnern unseres Statuenbestandes willkommenes Material zur Nachprüfung bieten werden. Als Fundgrube von Notizen und Nachweisen wird daher das Buch auf lange hinaus nicht entbehrt werden können. Auch in der Ge¬ schichte der archäologischen Forschung wird ihm eine Rolle gewahrt bleiben, aber wohl in einem anderen Sinne, als der Verfasser beabsichtigt hat. Wir glauben, dass gerade die Kühnheit, mit der darin die heute der Forschung gezogenen Grenzen überschritten sind, wieder

Abb. 5. Perikies im Britischen Museum.

HERMANN PRELL’S NEUESTE WANDGEMÄLDE.

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zur Selbstzucht und zur strengeren Beobachtung dieser Grenzen zurückweisen wird.

Man muss eines guten Namens durch anderweitige wissenschaftliche Leistungen sicher sein, um sich aut' Bahnen zu begeben, auf denen ein Neuling den Ruf eines gewissenhaften Forschers leichter verscherzen als erwerben könnte. Wir mögen geneigt sein, die Kraft der Phantasie zu bewundern, die mit glücklichem Selbst¬ vertrauen die widerstrebenden Trümmer der Überlieferung auf dem schwanken Boden von Möglichkeiten zu einem blendenden Bau emportürmt; aber trotz des sicheren

Tones des Vortrages wird auch der unselbständige Be¬ urteiler sich bewusst werden müssen, dass solche phantasie¬ volle Gruppirung der Thatsachen nicht pragmatische Ge¬ schichte zu ersetzen vermag. Von den Zielen, denen Furt- wängler nachstrebt, werden viele für immer unerreichbar bleiben. Aber auch von dem Erreichbaren trennt uns heute noch eine weite, weite Kluft, die nicht mit un¬ gestümer Ungeduld in kühnen Sätzen sich überspringen, wohl aber mit ernster ehrlicher Kleinarbeit allmählich sich überbrücken lassen wird.

EMIL REISCH.

HERMANN PRELL’S NEUESTE WANDGEMÄLDE.

VON ADOLF ROSENBERG.

MIT ABBILDUNGEN.

LS wir im ersten Hefte dieses Jahrganges der „Zeitschrift“ einen Überblick über die letzten Schöpfungen auf dem Ge¬ biete der Monumentalmalerei in Preußen gaben, schlossen wir mit dem Ver¬ sprechen, auf eine der geist- und gehalt¬ vollsten dieser Schöpfungen noch näher einzugehen und unseren Lesern eine Probe davon in einer Radirung vor¬ zuführen. Es handelte sich um die Wandgemälde, die Hermann Prell, jetzt Professor an der Kunstakademie in Dresden, während der Jahre 1893 und 1894 im oberen Treppenhause des Schlesischen Museums der bildenden Künste in Breslau in reiner Freskotechnik ausgeführt Hat. Bei der Wahl, die wir getroffen hatten, stellte es sich schließlich heraus, dass von einer Radirung ab¬ gesehen und eine Photogravüre vorgezogen werden musste, die bei der durch das Format unserer Zeitschrift bedingten starken Verkleinerung den koloristischen Duali¬ täten des Originals in höherem Grade gerecht wird als die Radirung. ')

Als Prell an seine Aufgabe herantrat, fand er be¬ reits, abgesehen von der architektonischen Gestaltung des auszuschmückenden Raumes, an die sich jeder Monu¬ mentalmaler halten muss, etwas Gegebenes, zum An¬ schluss Reizendes oder Zwingendes vor. Über dem sich auf quadratischem Grundriss erhebenden oberen Treppen¬ haus, das die Mitte des ganzen Gebäudes einnimmt, wölbt sich eine flache, über dem Hauptgesims in einer Scheitelhöhe von 22,50 m aufsteigende Kuppel. Sie und ihre Zwickel hatten bereits durch den Maler Johannes Sehaller und den Bildhauer Otto Lessing in Berlin eine

1) Wegen technischer Schwierigkeiten kann die Photo¬ gravüre erst dem nächsten Hefte beigegeben werden.

Die Verlagshandlung.

malerische und plastische Dekoration erhalten, deren Inhalt die Anfänge der menschlichen Kultur durch Dar¬ stellungen aus der griechischen Götter- und Heldensage veranschaulicht. Ein Zusammenhang zwischen diesen und den Fresken Prelis erschien also als wünschenswert und geboten. Für diesen waren von den vier Wänden des oberen Treppenhauses nur zwei zur Verfügung: die Ost- und die Westseite, weil die Nord- und die Südseite durch je drei Glasthüren geöffnet sind, die den Zugang zu den Sälen der Gemäldegalerie vermitteln. Alle vier Wände besaßen bereits eine architektonische Gliederung durch Halbsäulen, zwischen denen an der Nord- und Südseite die Tliüren angebracht sind. „An der Ost- und Westseite sind statt dessen 2,45 m über dem Fußboden je drei im Halbkreis geschlossene, durch jene Halbsäulen getrennte und von schmalen Pilasterstreifen nmsäumte Felder von durchschnittlich 4,85 m Höhe und 2,40 m Breite zur Aufnahme von Malereien bestimmt. Glänzend polirter Stuckmarmor von tiefer Färbung überzieht die gesamte Architektur.“ Wir entnehmen diese Angabe der unten citirten, prächtigen Publikation,') die Julius Janitsch, der Direktor des Breslauer Museums, mit einem erläuternden Texte versehen hat, der uns feinsinnig in den Gedankengang und die Absichten des Künstlers ein¬ führt. der hier zugleich ein Dichter war.

Mit zwei Voraussetzungen hatte sich dieser also abzufinden: einmal mit dem Anschluss an das in den Kuppelbildern angeschlagene Thema, andererseits mit der Dreiteilung des Raumes für seine beiden Bilder. Da

1) Hermann Prell, Fresken im Treppenhause des Schle¬ sischen Museums der bildenden Künste zu Breslau. IX Tafeln in Photogravüre. Text von Julius Janitsch. Berlin 1895, Verlag der Vereinigung der Kunstfreunde für amtliche Publikationen der kgl. Nationalgalerie. (A. Troitzsch.)

Empfang einer Danziger Gesandtschaft durch den Dogen Grimani in Venedig lßoi. Nach dem Gemälde von Hermann Prerl im Rathause zu Danzig.

HERMANN PRELL’S NEUESTE WANDGEMÄLDE.

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sich nach seiner Meinung' beides nicht vereinigen ließ, hat er den Gedanken weitergesponnen, die architek¬ tonische Gliederung aber ignoriert oder doch wenigstens durch den Zusammenhang des landschaftlichen Hinter¬ grundes aufgehoben, ganz wie es die Maler des 15. und 16. Jahrhunderts gethan hatten, wenn sie Triptycha und noch mehrteiligere Flügelaltäre malten. Dass es Prell gelungen ist, durch die Einheitlichkeit seiner Komposition in der Erfindung wie in der Darstellung über die trennende, sich massig vordrängende Macht der Archi¬ tektur zu triumphiren und doch jedes Feld auch zur vollen Wirkung als Einzelbild kommen zu lassen, ist einer der Hauptvorzüge dieses Freskencyklus. Für die Einzelnheiten, für das Gegenständliche seiner Kom¬ position war dem Künstler freie Hand gelassen worden, und er hat denn auch, dank seiner gründlichen Bildung, das in ihn gesetzte Vertrauen glänzend gerechtfertigt.

Aus den Anfängen der Kultur erwuchs als feinste Blüte das Griechentum: der Kultus der Schönheit in allen ihren Erscheinungsformen, in der Religion, der bildenden und der musischen Kunst. Als das Griechen¬ tum mit seiner Nachahmung durch die Römer ver¬ sunken war, baute sich auf den Trümmern der alten Welt die neue des Christentumes auf. Zu dem Sinnen¬ kultus des Heidentums trat der Spiritualismus der neuen Lehre in Gegensatz. Zu ihm führten auch die großen Dichter des Mittelalters, und Dante, der Dichter des Himmels und der Hölle, sieht das höchste Rleal seines Glaubens und Wissens in dem triumphirenden und doch stets tröstenden Christus. Diese Grundgedanken ver¬ binden die sechs oder vielmehr die beiden Wandmalereien. Die Ostwand des Treppenhauses ist der antiken Kultur gewidmet. In dem Mittelbilde thront Apollo auf einem Altar, der seine eigene Herme trägt. Zu dem alter¬ tümlichen Abbild seiner selbst ist der Gott in eigener Person herabgestiegen, um den Hellenen das Geschenk seiner göttlichen Kunst zu bringen. Hinter der Herme sind die drei Grazien zu einer anmutigen Gruppe vereint und im Vordergründe, vor dem Altar, haben sich Greise und Jünglinge, Frauen, Mädchen und Kinder, „die Menschen des goldenen Zeitalters“ gelagert, um dem Gesang und dem Saitenspiel des Gottes in seliger Selbst¬ vergessenheit und Sorglosigkeit zu lauschen. Dass der Kultus der Schönheit die Grundlage der griechischen Kultur und Kunst ist, wird uns in dem Seitenbilde links durch eine der ältesten griechischen Mythen veranschau¬ licht: durch das Urteil des Paris. In richtiger und strenger Durchführung seiner Absicht hat der Künstler aber nicht den Moment vor der Entscheidung, dieses unendlich oft gebrauchte und missbrauchte Motiv, sondern den Augenblick nach dem Siege der himmlisch lächelnden Aphrodite dargestellt. Noch steht sie da in ihrer bezaubernden Schöne, in der stillen Einsam¬ keit eines Gebirgsthales, über welchem nach des Künstlers freier Auffassung der- Sage der schneeige

Zeitschrift für hüllende Kunst. N. F. VII. II. 7.

Gipfel des Olympos emporragt. Ihre Nebenbuhlerinnen sind längst enlschwunden. Nur der auf einem Baumast sitzende, missgünstig herabblickende Pfau der Hera und die herumflatternde Eule der Athena erinnern noch an die Niederlage der beiden, die im Zorn das liebliche Waldthal verlassen haben. In frohem Genuss ihres Sieges gönnt Aphrodite den Anblick ihrer Reize dem troischen Hirten, der, vor Staunen „zur Statue entgeistert“, noch immer den Apfel in der ausgestreckten Rechten hält, obwohl der hinter ihm stehende Eros ihn zu ermutigen scheint. Wir haben selten in der modernen Malerei die Franzosen mit einbegriffen eine so vollendet ge¬ zeichnete und modellirte, nackte Frauengestalt gesehen wie diese Aphrodite Prell’s, und zugleich hat der Künstler in der Auffassung und der Behandlung der Landschaft, die in der Komposition durch und durch ideal und im einzelnen doch vollkommen realistisch ist, etwas hervor¬ gebracht, das in seiner intimen Durchbildung und in der harmonischen, in jeder Einzelheit befriedigenden Gesamt¬ wirkung über Preller, Kanoldt und Böcklin noch hinaus¬ geht. Bei Monumentalmalereien gewinnt am Ende doch die strenge künstlerische Zucht das Übergewicht über die Genialität.

Unter der Erziehung des Apollon und der Aphrodite zum Kultus des Gesanges und der Schönheit regt sich im Volke der Hellenen die dichterische Kraft. Auf dem rechten Seitenbilde, wo das den Hintergrund aller drei Darstellungen bildende Gebirge steil in das Meer ab¬ fällt, steht auf einem Felsenvorsprung ein schlanker Jüngling neben dem Flügelross, das er an der Mähne zurückhält. Das edle Tier spitzt die Ohren; denn oben durch die Lüfte schwebt singend und musizirend der Chor der neun Musen der Sonne entgegen. Noch einen Augenblick, und der Jüngling wird sich auf den Rücken des Musenrosses schwingen, „um mit ihm ein Bild dichterischen Strebens nach dem Unendlichen in die lichten Höhen emporzusteigen“.

Das dreiteilige Bild an der Westwand bringt die Vollendung der Ideale der antiken Kultur durch das Christentum ebenfalls in tiefer dichterischer Symbolik zur Anschauung. Aber im Gegensatz zu der lichten Heiterkeit, die das Bild der Ostseite durchdringt, herrschen hier Ernst und Strenge, der Kampf mit der Finsternis und das Ringen und Suchen bedrängter Seelen nach Christus, dem Heiland der Welt, der auf dem Mittelbilde in einer Engelsglorie über dem Brunnen des Lebens schwebt, zu dem heilige Männer und Frauen von allen Seiten her¬ beiströmen, um aus dem Brunnen zu schöpfen, der von mächtigen Cherubim umgeben wird. Einer von ihnen zieht einen am Brunnenrand niedergesunkenen müden Pilger, „das Bild der erlösungsbedürftigen Menschheit“, tröstend zu sich empor. Auf dem Bilde zur Linken ist der Kampf mit den Mächten der Finsternis durch einen fahrenden Ritter dargestellt, der unter dem Schutze eines Engels mit flammendem Schwert einem Drachen, der ihm

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Polensturm auf Weichselmünde. Wandgemälde von Professor H. Prell.

HERMANN PRELL’S NEUESTE WANDGEMÄLDE.

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in einer wilden Felsschlucht den Weg versperrt, die Lanze durch den Hals stößt. Im Gegensatz zu diesem Sinnhilde der durch Kampf und Finsternis zur Erkennt¬ nis dringenden Seele sieht man auf dem rechten Seiten¬ bilde, durch Dante veranschaulicht, „wie auch visionäres Schauen die Kluft zwischen beiden Welten zu iiber- briicken vermag“. Wie der Sänger der göttlichen Ko¬ mödie zum Himmel emporblickt, sieht er die Scharen der Verklärten und Erlösten, von Engeln geleitet, der hehren Gestalt in der Mitte, dem Heilande entgegen¬ schweben. Und er soll selbst dieses Glückes teilhaftig werden! Schon ist ihm als Botin des Himmels Beatrice, die „schönste Blüte mittelalterlicher Frauenverehrung“, eine Gestalt in langen fliessenden Schleiergewändern, wie sie Signorelli nicht hoheitsvoller, Botticelli nicht anmutiger gemalt hat, genaht. Sie legt die Linke auf die Schulter Dante’s und weist mit der rechten auf den Erlöser, auf den Urquell der ewigen Seligkeit hin.

Mit der Tiefe und Genialität der dichterischen Er¬ findung steht die künstlerische Gestaltung in Zeichnung, Modellirung und Malerei, in der Komposition der Gruppen wie in der Charakteristik aller einzelnen Figuren auf gleicher Höhe. Indem sich Prell von dem überlieferten, architektonischen Kompositionsprinzip völlig frei machte, suchte er zugleich durch rein malerische Mittel zu wirken, so dass jedes Bild, von der Wand losgelöst, ebensogut als Tafelbild zur vollsten Geltung gelangen würde. Seine innige Vertrautheit mit der Freskotechnik hat ihn in den Stand gesetzt, koloristische Effekte zu erzielen, wie sie bisher noch niemals in dieser Technik erreicht worden sind. Darum hat Janitsch nicht zuviel gesagt, wenn er in der Vollendung dieser Fresken ein „künstlerisches und kunstgeschichtliches Ereignis von weittragender Wirkung“ feiern zu dürfen glaubt.

Leider sah sich der Künstler bei einem anderen Aufträge, der ihm bald nach Beendigung dieser Arbeit zu teil ward, gezwungen, auf die Freskotechnik, die er im Breslauer Museum zu hohen Ehren gebracht hatte, verzichten zu müssen. Zwei kunstbegeisterte Bürger Danzigs, die Gebrüder Jiincke, hatten eine Stiftung er¬ richtet, aus deren Mitteln der Sitzungssaal der Stadt¬ verordneten im Rathause mit sechs Wandgemälden aus der Geschichte der alten Hansastadt geschmückt werden sollte. Mit ihrer Ausführung wurden Prell, F. Röber in Düsseldorf, C. Röchling in Berlin u. a. beauftragt. Aber die überaus ungünstigen Beleuchtungsverhältnisse des Saals verboten die Ausführung der Bilder an Ort und Stelle, und so waren die Künstler genötigt, sie in Temperafarben auf Leinwand zu malen. Prell war die für Entfaltung malerischen Glanzes sehr vorteilhafte Aufgabe zugefallen, zwei Ereignisse aus der Blütezeit Danzigs darzustellen, als seine Schiffe noch ihre Flaggen in allen befahrenen Meeren zeigten und die mächtige

Handelsstadt noch eine Schar wehrhafter Männer ins Feld schicken konnte: die Abwehr des Polensturmes auf Weichselmünde im Jahre 1577 und die Übergabe eines Bildes von Danzig an den Dogen Marino Grimani im Jahre 1601. Unsere Abbildungen überheben uns einer näheren Beschreibung der beiden Gemälde, deren spitz- bogige Form durch die Wandflächen bedingt wird, für die sie bestimmt waren.

Das erste Bild ist eine Kampfesscene, deren wildes Getümmel Prell mit einer dramatischen Kraft geschildert hat, der wir selbst in seinen Wandgemälden für das Rathaus in Hildesheim nicht begegnen. Obwohl seine Seele lieber im Lande der Phantasie als in der realen Wirklichkeit lebt, entfaltet er hier eine fast grauenhafte Naturwahrheit. Es ist auf den ersten Blick nicht leicht, die Komposition zu entwirren und ihren einzelnen Teilen nachzugehen so fest haben sich die Stürmer und die Verteidiger in einander verbissen. Nachdem der Polen¬ könig Stefan Bathory den Danzigern, die ihm die Hul¬ digung weigerten, bei Dirschau eine Niederlage bei¬ gebracht hatte, schickte er sich an, die Stadt selbst zu belagern. Zuvörderst musste aber das „Sperrfort“ Dan¬ zigs, die Veste Weichselmünde, genommen werden. Zwei¬ mal wagten die Polen den Sturm; aber das zweitemal wurden sie mit so blutigen Köpfen, mit so schweren Verlusten heimgeschickt, dass der König sich genötigt sah, die Belagerung aufzuheben und Frieden zu schließen. Eine Episode aus diesem zweiten Sturme, den Angriff eines mit polnischen Kriegern gefüllten Bootes auf ein hölzernes, mit Kanonen bewehrtes Bollwerk schildert das Prell’sche Bild. Noch ist der Kampf nicht entschieden; aber aus den kräftigen Streichen der Verteidiger lässt sich bereits klar erkennen, auf welche Seite sich das Schlachtenglück neigen wird.

Zu dem wütenden Kampfe nordischer Krieger bildet die friedliche Idylle aus der Glanzzeit Venedigs einen scharfen Gegensatz. Auf der obersten Stufe der Treppe, die zu seinem Palaste emporführt, empfängt der Doge Marino Grimani, umgeben von den Senatoren und Prokuratoren der Republik, im Hintergründe werden auch zwei Damen im Stil eines Paris Bordone und Tintoretto sichtbar die Gesandtschaft der nordischen Hansastadt, die eine von einem schlanken Ruderer ge¬ leitete Barke herbeigeführt hat. Zu der Farbenpracht Venedigs, zu dem goldbrokatenen Ornat des Dogen und den Purpurmänteln der Ratsherren gesellen sich die schwarzen , steif-feierlichen Trachten der Danziger Pa¬ trizier. Und dazu rechts der Blick auf die in heiterem Sonnenlicht prangende Lagunenstadt ! Obwohl dem Künst¬ ler hier die geliebte Freskotechnik versagt war, hat er doch auch aus den Temperafarben koloristische Reize von fast glühender Wirkung herausgelockt.

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Landschaft-Federzeichnung von S. Köninck. (Sammlung Artaria.)

DIE AUKTION ARTARIA IN WIEN.

MIT ABBILDUNGEN.

FANG Mai gelaugt in Wien die erste Hälfte der Kupferstich- und Hand- zeielmungen-Sannnlung des 1893 ver¬ storbenen Herrn A. Artaria zur öffent¬ lichen Versteigerung. Die zweite Hälfte soll 1897 folgen. Der wohlbegründete Ruhm der Sammlung sowie der klangvolle Name des Hauses Artaria werden nicht verfehlen, das Interesse der gesamten ernsten Kunstwelt auf das bevorstehende Ereignis hinzulenken. Einer besonderen Anfeuerung dazu bedarf es nicht. Wenn wir trotzdem hier schon heute uns etwas eingehender, als es bei solchen Auktionen üblich ist, mit der Sache beschäftigen, so geschieht es, um über einzelne weniger bekannte Details aus dem kostbaren Vermächtnis A. Artaria’s die Leser zu orientiren und einige persönliche Erinnerungen an den edlen Mann daran zu knüpfen, der das nun wieder in Stücke gehende Ganze einst zusammengefügt hat.

August Artaria1 *), geboren in Wien 1807 als Sohn des aus der Gegend von Como nach Österreich einge¬ wanderten Kunsthändlers Domenico Artaria, war eine Zierde der Wiener Bürgerschaft. Schlicht und recht¬ schaffen in seinem Wesen und dabei von feinen welt¬ männischen Manieren, war er ganz danach angethan, als Kaufmann in einer der vornehmsten Brauchen der Ge¬ schäftswelt sein Glück zu machen. Er galt schon vor Jahren als ein sehr bemittelter, ja reicher Mann.

Den kostbarsten Bestandteil seines Vermögens bildeten die Sammlungen: Gemälde, Zeichnungen, Kupfer-

1) S. das Geschlechterbuch der Wiener Erbbürger von

Dr. Ernst Edl. v. Hartmann-Franzenshuld, S. 40 ff.

Stiche, Musikalien, Manuskripte u. a. Von den Gemälden brachte Artaria den größeren Teil noch bei seinen Leb¬ zeiten (1886) unter den Hammer. Das Wiener Hof- museum erstand bei dieser Gelegenheit das schöne Triptychon von Gerard David, das unter Artaria’s Bil¬ dern das Hauptstück bildete. Von den Meistern der graphischen Künste hatte der Besitzer von jeher den beiden Koryphäen der nordischen Schulen, Dürer und Rembrandt, seine ganze Liebe und Sorgfalt zugewendet, und namentlich ist es das in seltener Vollständigkeit vorhandene Radirwerk Rembrandt’s, welches den Ruhm der Sammlung begründet, und um dessen Besitz daher auch bei der bevorstehenden Auktion sich gewiss der lebhafteste Wettstreit entspinnen wird.

Der Besitzer hinterließ von seinem Rembrandtwerk einen mit großer Gewissenhaftigkeit gearbeiteten, wieder¬ holt auf Grundlage der neueren Forschungen revidirten Katalog in französischer Sprache, welcher von den Erben in den Auktionskatalog aufgenommen und mit kurzen deutschen Zusätzen über Qualität, Erhaltung, Papier u. dergl. ausgestattet worden ist. Der Artaria’sclie Rembrandtkatalog wird sicher auch nach der Versteigerung einen bleibenden W7ert in der Litteratur behalten. Die Nummern folgen in der Anordnung von Bartsch; in Klammern sind die von Charles Blanc beigefügt. Auch in der Benennung der Gegenstände hat sich Artaria meistens an Bartsch angeschlossen. Die Angabe der Plattenzustände ist mit skrupulöser Genauigkeit ur¬ sprünglich auf Grund der Angaben von Bartsch, Wilson, Claussin, Weber und Cli. Blanc vorgenommen, dann aber später in manchen Punkten rektifizirt, in Berücksichtigung der Untersuchungen von Middleton, Dutuit- und Rovinski.

DIE AUKTION ART ART A IN WIEN.

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Wenn die Kunstfreunde, welche sich an der Ver¬ steigerung beteiligen wollen, den Ergebnissen dieser etwa sechzigjährigen Prüfer- und Vergleicherarbeit noch die Winke beifügen, die das treffliche „Kritische Verzeichnis der Radirungen Rembrandt’s“ von W.v.Seidlitz (Leipzig, Seemann 1895) darbietet, so werden sie für den Auktions¬ kampf gut gerüstet sein.

Das Artaria’sche Rembrandtwerk umfasst sämtliche Radirungen in ausgewählt schönen, frühen Drucken, darunter zahlreiche Seltenheiten. Von manchen Blättern sind ganze Serien von Plattenzuständen, bis zu sechs, vorhanden. Artaria hat schon in den dreißiger Jahren zu sammeln begonnen und bis in seine letzte Lebens-

So beispielsweise der seltene erste Plattenzustand des „Barmherzigen Samariters“ (B. 90) mit dem weißen Pferdeschweif. Man erinnere sich dabei der schönen Beschreibung des Blattes von Goethe und berücksichtige auch hinsichtlich der gegen einzelne Teile der Darstellung erhobenen Einwendungen das wohlerwogene Urteil von Seidlitz. In einem ganz vorzüglichen Druck „von sametartigem Ton und herrlicher Lichtwirkung“ besitzt Artaria den zweiten Plattenzustand des Hundertgulden¬ blattes (B. 74), welches im ersten Zustand überhaupt nur in neun Exemplaren bekannt ist. Den letzten davon in Auktionen vorgekommenen erwarb Baron Edm. Roth¬ schild in Paris 1893 um 35 000 M. Der schöne Ar-

JakoU und Esau. Sepiazeichnung von ReMbkandt. (Sammlung Artaria.)

zeit an der Verbesserung und Vervollständigung des Rembrandtwerkes gearbeitet. Er war ein ständiger Gast bei allen Wiener Kunstauktionen und nahm auch an den wichtigen Versteigerungen in Deutschland (z. B. Alferoff in München, Herrn. Weber in Leipzig) als Käufer teil. Viele Blätter seines Rembrandtwerkes stammen aus berühmten Sammlungen. Es genügt, die Namen Mariette, Verstolk van Soelen, Lord Buccleugh, Barnard, Esdaile, Graf Fries, Festetits, Bartsch, Gawet, Böhm. Koller, Galichon und Graf Enzenberg zu nennen. Unter den modernen Bearbeitern des Rembrandtwerkes hat in erster Linie Rovinski die Artaria’sche Sammlung eingehend berücksichtigt. Auch bei Dutuit werden einzelne Hauptblätter aus ihr besonders hervorgehoben.

taria’sche Abdruck des zweiten Zustandes (auf japanischem Papier, mit 12 14 mm breitem Rande, von tadelloser Erhaltung) dürfte wohl auch nur um einige Tausend¬ guldennoten zu erwerben sein. Das figurenreiche Kapitalblatt: „Christus, dem Volke vorgestellt“ (B. 76) liegt bei Artaria in zwei Plattenzuständen vor, deren früheren (Rov. IV.) Dutuit unter den Seltenheiten der Sammlung citirt. Einen Prachtdruck von tadelloser Schönheit besitzt dieselbe ferner von der sogen. „Petite Tombe“ (B. 67: Christus lehrend). In herrlichen Drucken finden wir die Landschaften des Meisters repräsentirt: so die Ansicht von Omval (B. 209), die in einem von Rovinski als „unique“ bezeichneten x4b- druck vorliegt, und die „Landschaft mit den drei Bäumen“

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DIE AUKTION ARTARIA IN WIEN.

(B. 212), in einem Druck von höchster Schönheit, der nacheinander den Sammlungen Camesina, Reischach und Enzenberg angehörte. Eine spezielle Hervorhebung verdienen endlich die kleinen Blätter mit Einzelfiguren von Bauern, Bettlern, Lumpen u. s. w., die größten¬ teils in ersten Plattenzuständen von seltener Qualität vorhanden sind.

Daran schließt sich das in ca. 350 Nummern ver¬ tretene vollständige Werk Diirer’s, auf dessen Einzel¬ heiten wir nicht näher eingehen können. Sowohl die Kupferstiche als auch die Holzschnitte des Meisters erscheinen darin durch gewählte Abdrücke repräsentirt ; nicht minder die Blätter von Bartscli’s Appendix, zum Teil große Seltenheiten. Einen besonders wertvollen Anhang der Abteilung bilden die Druckwerke Diirer’s, die Publikationen des Kaisers Maximilian, sowie deren moderne Wiener Ausgaben, das Jahrbuch des Kaiser¬ hauses u. a.

Den Schluss der Versteigerung werden die Hand¬

zeichnungen machen. Es sind beiläufig 120 Nummern, darunter 40 50 von Rembrandt und seiner Schule, mehrere andere holländische, dann auch italienische und einzelne deutsche Blätter. Wir nennen unter den be¬ sonders gut vertretenen Meistern außer Rembrandt in erster Linie Lievens, Köninck, Everdingen, W. van de Velde, van Doyen, Parmegianino, Bandinelli und Vasari. Die Blätter von den beiden Letztgenannten sind be¬ zeichnet. Einige Proben aus diesem Teile der Samm¬ lung finden die Leser unserem Aufsatze beigedruckt.

Wir wollen denselben nicht schließen, ohne der Hoffnung Ausdruck zu geben, dass recht viele von den Kostbarkeiten der altberühmten Sammlung Artaria, die so lange Jahre hindurch den Stolz ihres Begründers und den Anziehungspunkt für ungezählte kunstsinnige Besucher seines Hauses bildeten, von Wiener Käufern erstanden und so auch fernerhin der Stadt erhalten bleiben mögen! c. v. L.

Schlafender Mann. Sepiazeichnung von Rembrandt. (Sammlung Artaria.)

KLEINE MITTEILUNGEN.

Karl Schaefer, Das alte Freiburg. Ein geschichtlicher Führer zu den Kunstdenkmälern der Stadt. Freiburg i. Br., Lorenz & Waetzel. 1895. 8.

Die Zähringerstadt am Südabhange des Schwarzwaldes bietet bekanntlich eines der malerischsten Städtebilder Deutschlands. Eine moderne Villenstadt umschließt die Altstadt, die ihren vieltürmigen Mauernkranz, bis auf zwei Thore, zwar schon im dreißigjährigen Kriege verloren, im übrigen aber ihre historische Physiognomie aus dem sech¬ zehnten Jahrhundert noch ziemlich unversehrt bewahrt hat. Das monumentale Wahrzeichen Freiburgs, das Münster, ist freilich gerade darum von so unvergleichlicher Wirkung, weil es als der einzige unter den großen deutschen Domen noch im Mittelalter vollendet worden ist. So einheitlich sein Gesamteindruck , so langsam ist es aber zu seiner heutigen Gestalt erwachsen. Vier Jahrhunderte Freiburger Kunstgeschichte ziehen an uns vorüber, wenn wir an der Hand des vorliegenden Führers das herrliche Gotteshaus durchwandern. Die erste spätromanische Anlage, von der noch das Querschiff mit seinen Hahnentürmen herrührt, war eine dreischiffige Kreuzkirche mit Krypta und polygonalem Chorhaupt. Beim Tode des Bauherrn, Herzog Berthold’s V. (1218), kann sie kaum über den Anfang des Langhauses hinausgediehen gewesen sein; die heutigen beiden Ostjoche ge¬ hören bereits der Frühgotik an. Nach einem kurzen Stillstand setzt um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts ein energischer Baubetrieb ein; der Werkmeister des Turmes geht gleichzeitig an den Ausbau der Langschiffe und die Er¬ richtung der Westfassade, und um die Wende des Jahr¬ hunderts ist die Außenarchitektur des Hauptbaues in ihren reifen gotischen Formen zum Abschluss gelangt. Ein halbes Jahrhundert nahezu ruht nun die Arbeit in der Domhütte, bis 1354 der Grundstein zu einem neuen Chore gelegt wird, der mit Umgang und Kapellenkranz um die Mauern der alten romanischen Apsis emporsteigt. Johannes von Gmünd, aus der berühmten Architektenfamilie der Arier, liefert den Plan, dessen Ausführung aber wieder mehr als hundert Jahre später Hans Nießenberger aus Graz in Angriff nimmt; erst 1513 erfolgt die Weihe dieses glänzenden Werkes der aus¬ blühenden Gotik, mit dem zugleich der ganze Münsterbau sein Ende erreichte, ln anschaulicher genetischer Darstellung erzählt Schaefer die Baugeschichte der merkwürdigen Kathe¬ drale, deren verschiedene Teile er aus der richtigen histo¬ rischen und örtlichen Perspektive zu fassen weiß. Für die Rekonstruktion des Ostbaues, der durchaus im Boden der romanischen Architekturzone des Oberrheins wurzelt, standen ihm die Forschungsresultate einer 1894 von ihm veröffent¬ lichten Studie über die älteste Bauperiode des Münsters zur Verfügung. Dieselbe hat unter anderem zum erstenmal eine überzeugende Deutung des rätselhaften Bildfrieses am Ein¬ gang der Nikolaus-Kapelle gebracht. Schade, dass der Ver¬ fasser für die Erklärung der ungleich bedeutenderen Skulpturen der Portalvorhalle nicht P. Weber’s wichtige Untersuchung (Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst, Stuttgart 1894)

zu Rate zog, die in dem vielumfabelten Bilderkreise die „Wiedergabe eines vollständigen Passionsspieles im Rahmen eines Streitgespräches“ nachgewiesen hat. Die Baubeschreibung gipfelt in einer feinsinnigen Würdigung der Turmpyramide, der ersten mit durchbrochenem Steinhelm, welche die Ge¬ schichte der Gotik kennt. Nachdrücklich wird die von Adler behauptete Identität des Turmmeisters mit dem großen Erwin und jeder maßgebende französische Einfluss auf seine Entwicklung abgelehnt. In der Charakteristik dieses genialen Unbekannten bewährt sich unser Cicerone als historisch ge¬ schulter Kenner und Mann „vom Bau“, der, wie die ein¬ gestreuten Abbildungen beweisen, den Stift nicht weniger gewandt als die Feder handhabt. Die Schilderung der de¬ korativen Ausstattung des neuen Chores, deren Oberleitung in den Händen Baidung Griens, des Malers des Hochaltares, gelegen zu haben scheint, führt uns ins sechzehnte Jahr¬ hundert hinüber. Aus dieser Zeit stammen eine Reihe reiz¬ voller Profanbauten, wie das Kaufhaus, das Rathaus, die „alte Sapienz“ und zahlreiche Einzelmotive an Privat¬ gebäuden, die im Verein mit dem Lieblingsmaterial, dem roten Vogesensandstein, der Stadt ihr freundlich heiteres Ge¬ präge geben. Die Schlusskapitel machen uns mit zwei inter¬ essanten jüngeren Lokalkünstlern bekannt: dem Steinmetzen und Architekten Hans Böringer (f 1590), der die jetzt im Querhause aufgestellte Spätrenaissance- Arkade des Lettners geschaffen und dem Rokokomeister Christian Wenzinger (f 1797), der namentlich als Bildhauer originelle Leistungen hinterlassen hat. Die erste Auflage von Schaefer’s anziehen¬ dem Büchlein über das alte Kunstleben der Dreisamstadt hat der dortige Münsterbauverein für seine Mitglieder an¬ gekauft. Ein beherzigenswertes Beispiel! Denn mehr als Grundrisse, Leitfäden und Handbücher sind derartige ge¬ diegen-populäre Stadttopographieen geeignet, Kunstgeschichte ins Volk zu tragen. Sie knüpfen an die örtliche Pietät, an den historischen Sinn für die Denkmäler der Vorzeit an, der in kleineren Städten zumeist lebendiger ist als in den großen modernen Kunsthauptstädten. An den Kunstforschern wäre es nun, von dieser, in der Regel noch unberufenen Vielschreibern überlassenen, Litteratursparte allerorten Besitz zu ergreifen. Bekanntlich hat es auch Springer nicht verschmäht, Reise¬ bücher Baedeker’s mit orientirenden Vorbemerkungen ein¬ zubegleiten und ihre kunstgeschichtlichen Abschnitte zu be¬ arbeiten. ti. STIASSNY.

Bovi, Malerische Kinderakte. Stuttgart 1896, J. Hoffmann.

40 Lichtdrucktafeln. 4°. Acht Lieferungen, ä M. 2,50.

Der Liebreiz des unbekleideten Kinderkörpers war der antiken wie der modernen Kunst gleich unentbehrlich. Aber es giebt keine ungeduldigeren Modelle, als jene zappelnden kleinen Geschöpfe, denen der Ernst der Situation beim Modellstehen nicht klar gemacht werden kann. Deshalb herrscht gerade auf dem Gebiete der Puttenmalerei mehr als sonst die Tradition, d. h. Antike, Raffael und Boucher. Für den, der naturwahrer und in neuen Stellungsvarianten Putti

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KLEINE MITTEILUNGEN.

darstellen will, ist obige Publikation, der Originalplioto- graphieen nach italienischen Knaben und Mädchen zugrunde liegen, höchst wertvoll. Die heitere Unbefangenheit, die natürliche Grazie und Schalkhaftigkeit des italienischen Kindes macht es zum Modell besonders geeignet. Durch Ausschmückung mit Laub und Guirlanden, durch Beigabe von Attributen sind kleine Bilder geschaffen, die auch den Kunstfreund und Kinderliebhaber entzücken werden. M. SCH.

E. de Goncourt, Hokusai. Paris, Bibl.-Charpentier, 1896.

Als zweiten Band des „L’art japonais du XVIlIe siede“ giebt E. de Goncourt eine vortreffliche Biographie des Hauptkünstlers der „volkstümlichen japanischen Schule“, des geistvollen und scharfblickenden Hokusai (gespr. Hoksai), des Überwinders der Tosa- und Kano-Scliule, heraus. Der Verfasser konnte dazu zwei in Europa noch unbekannte japanische Biographieen des Hokusai benutzen, Katsushika Hokusai den von I-ijima Hanjürö und Ukiyoye Ruiko von Kioden; vor allem aber eine hervorragende Hokusai-Samm- lung des Japaners Hayashi, die fast das gesamte Werk des Meisters, darunter 90 illustrirte Bücher, umfasst. Da ihm somit ein weit reicheres Material zur Verfügung stand, bringt er zu dem betreffenden Abschnitt bei Gonse wertvolle Er¬ gänzungen. Auf Grund dieses Materials wird die Lebens¬ geschichte des ostasiatischen Adolf Menzel mit jener ge¬ wissenhaften Treue und feinfühligen, geschmackvollen Schil¬ derungsgabe uns vorgeführt, die E. de Goncourt auszeicbnen. Leider ist außer einem Holzschnittporträt des Meisters keine weitere Abbildung gegeben, so dass das Buch hauptsächlich dem Spezialisten, dem Historiker oder Sammler, zugute kommt. -V SCH.

La Cappella degli Schiavoni in Venezia, dipinta dal Carpaccio, deseritta da 1. Bush in, traduzione de] Conte G. Pasolini Zanelli. Negative di D. Anderson. Ripro- dotta in fotoincisione dallo stabilimento Danesi. Roma. Qu. -Fol.

* Diese beachtenswerte Publikation veranschaulicht auf dreißig vortrefflich ausgeführten heliographischen Tafeln den Cyklus der Wandbilder in der Cappella degli Schiavoni von Carpaccio aus den Legenden des hl. Georg und Hieronymus, und zwar sowohl die Bilder im Ganzen als auch die wich¬ tigsten Details, die Köpfe der Hauptfiguren z. B., so dass man von den Typen und von der Malweise des Künstlers eine klare Vorstellung gewinnt. Eine erwünschte Beigabe ist der geistvolle , ins italienische übersetzte Text von J. Ens/, in, der die Entstehung der Kapelle schildert und den Inhalt der Bilder eingehend erläutert. Von den letzteren wurden drei bekanntlich auch von der Arundel Society un¬ längst in Farbendruck publizirt.

Les mois. Douze compositions d 'Eugene Grasset. Gravees sur bois et imprimees en chromotypographie. Paris, G. de Malherbe, imprimeur editeur. 4°.

* Diese reizvollen, in der Art von Walter Crane ge¬ dachten und kolorirten Blätter stellen die zwölf Monate in ebenso vielen weiblichen Gestalten dar, die durch ihre Be¬ schäftigung in der freien Natur (das Beet umgrabend, die Bäume beschneidend, Blumen pflückend u. s. w.) und durch die Natur selbst den wechselnden Charakter der Jahres¬ abschnitte kennzeichnen. Es sind nicht allegorische, sondern dem Leben entnommene Gestalten von modernem Typus und in heutiger Tracht, meist ganz schlichte Land- oder Bürger¬

mädchen, einzelne vornehmer, mit poetischem und phan¬ tastischem Anhauch. Die Färbung ist nicht nach natura¬ listischen, sondern nach rein dekorativen Gesichtspunkten vorgenommen, aber in der Weise, dass der naive Sinn gewiss einen Anstoß daran nehmen wird, auch wenn einmal rote oder violette Baumstämme Vorkommen. Französischer Geschmack und französische Grazie beherrschen das Ganze.

ZU DEN RADIRUNGEN.

Er ich Kubierschky, der geschätzte Münchener Landschafts¬ maler, dessen Bild, von F. Krostewitz radirt, diesem Hefte als Vollblatt beigegeben ist, wurde 1854 in Frankenstein in Schlesien geboren. Sein Vater hatte, obwohl ein einfacher Landmann und Gastwirt, künstlerische Neigungen, zur Musik und Zeichenkunst. Er schmückte seine Behausung mit einer Anzahl von Stichen und Litliographieen, die sein Haus in der kleinen Stadt in den Ruf eines Museums brachten. Die Anregungen, die der Knabe dadurch empfing, der erste Zeichenunterricht und die anziehende landschaftliche Um¬ gebung weckten frühzeitig den künstlerischen Sinn des künf¬ tigen Malers, der eine Zeit lang schwankte, ob er sich der Musik oder der bildenden Kunst zuwenden sollte. 1865 sie¬ delte die Familie nach Breslau über, wo Kubierschky das Gymnasium besuchte; 1874 und 75 betrieb er eigene Studien im Zeichnen auf einer städtischen Gewerbeschule. Trotz seiner künstlerischen Liebhabereien wünschte der Vater seinen Sohn doch einem praktischen Berufe zuzuführen und zwar war erst die Beamtenlaufbahn für ihn ausersehen, später aber wurde die Dekorationsmalerei gewählt. Kubierschky ging Dach Berlin auf die Akademie und wurde Schüler von Gussow, dem er sehr viel verdankt; die strenge Schule der Figurenmalerei war dem Künstler vielfach von Nutzen. Nicht nur hielt sie ihn in schweren Zeiten über Wasser, sondern hat ihn auch für das spätere Studium der Landschaft ganz erheblich gefördert. Im Anfang war es dem jungen Künst¬ ler schwer, sich zur Geltung zu bringen; er gab in Berlin und Leipzig Unterricht, aber seine Landschaftsbilder wurden wenig beachtet. Ende der achtziger Jahre fanden die in München ausgestellten Gemälde hervorragendes Interesse; es fanden sich dort Liebhaber und Käufer dafür. In Leipzig bekleidete Kubierschky eine Zeit lang an der Akademie eine Lehrstelle in der Gips- und Antikenklasse, verließ die Anstalt aber nach ein paar Jahren, und nach weiteren zwei Jahren privater Thätigkeit siedelte der Künstler nach München über, wo er seinen rechten Boden fand. Aufmunterungen von München aus und die dort sich einstellenden materiellen Erfolge waren die Veranlassung zu diesem entscheidenden Schritte. Im Jahre 1890 wurde ihm im Glaspalast die 2. Me¬ daille zu teil, und ein Bild von ihm wurde für die Berliner Nationalgalerie angekauft. Die Dresdener Galerie, das Leip¬ ziger und Breslauer Museum besitzen Bilder von Kubierschky. In früheren Jahren liebte der Maler besonders Winterland¬ schaften darzustellen , jetzt, gilt seine Neigung mehr dem ersten Frühling und dem Spätherbst. Es sind meist feinge¬ stimmte, lauschige, verlassene W ald winkel mit halbbeblätterten oder entlaubten Bäumen; Staffage findet sich selten darauf.

„Im Frühling bei München“ betitelt sich die diesem Hefte beigegebene Originalradirung von Th. Meyer-Basel, dessen Kunst die Leser d. Bl. schon in verschiedenen Proben schätzen gelernt haben. Wir glauben, dass die vorliegende Platte nicht hinter der im VI. Jahrgang der neuen Folge publizirten „am Wasser“ oder der Preisradirung im V. Jahrgang zurück¬ steht; im Bezug auf anmutige, bildmäßige Wirkung wird die neue Leistung den früheren gegenüber im Vorteil sein.

Herausgeber: Carl von Lütxotv in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

■ft

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

YON JE. STEINMANN.

MIT ABBILDUNGEN.

jUS dem unerschöpflich reichen Stoff, den die Marienlegende dem bildenden Künst¬ ler bietet, hat Michelangelo sich nur zwei Momente zu eigen gemacht. Die Jugendgeschichte der Jungfrau, die Ver¬ kündigung, die Geburt des Kindes, der Tod und die Himmelfahrt der Mutter Gottes, Scenen, die in Stein und Farben so unendlich oft von den Künstlern des Mittelalters und der Renaissance verherr¬ licht wurden, haben in seiner Phantasie keinen Eingang gefunden.

Aber in die uralte Schilderung Maria’s mit dem Kinde, in die Darstellung der Schmerzensreichen, die ihren Sohn beklagt, griff er ein mit den stets verhängnis¬ vollen Händen, und den Anfang und das Ende der großen Heilstragödie hat er in neue Formen gekleidet und mit neuem Inhalt beseelt. Wer die Natur des Meisters kennt, wird nicht erst fragen, warum er diese Auswahl traf. Wo bot sich denn für einen Künstler, der in qualvollem Ringen einen vollkommenen Ausdruck für die unergründlich tiefen Gedanken seiner Seele suchte, eine gleiche Gelegenheit, das höchste Maß von Empfindung zu verkörpern? Größeres Leid und größere Liebe, wie Maria und ihr Sohn erfahren und empfunden, hat die Erde nicht gesehen : ihnen galt es in der Kunst unsterbliches Dasein zu verleihen!

Die Eigenart der Madonnenschilderung bei Michel¬ angelo wird erst im historischen Zusammenhang mit der Kunst des späteren Mittelalters und der Frührenaissance völlig gewürdigt werden können; aber wie der Meister nur als Bildhauer seinen wahren Beruf zu erfüllen glaubte und im Marmor seine geheimsten Gedanken über das Verhältnis Maria’s zu ihrem Sohne offenbarte, so wird sich auch die folgende Betrachtung auf die plastische Kunst beschränken dürfen.

Wer die Madonnendarstellungen im 14. und 15. Jahr¬ hundert verfolgt, die sich uns in ihrem inneren Gehalt ausnahmslos als Andachtsbilder zu erkennen geben, auch wenn sie über Kirchthüren und Grabdenkmälern an¬ gebracht sind, wird ein gemeinsames, unbewußtes, oft

unterdrücktes, aber immer aufs neue wieder sich bahn¬ brechendes Streben nicht verkennen können. Es scheint, dass die Erinnerung an jene freundlichen Madonnenbilder, mit denen man in den ersten Jahrhunderten christlicher Kunst die Katakomben schmückte, nur für kurze Zeit ganz verloren ging. ') Mochten die Sternen- und gold¬ strahlenden, ernsten ja mürrischen, mehr Furcht als Verehrung einflößenden Mosaikbilder Maria’s in den Kirchen Roms das Andenken an jenes alte Ideal auch trüben und verdunkeln, mit der wiedererwachenden Kunst erwachte auch sofort das Streben, sich dem ursprüng¬ lichen Madonnentypus wieder zu nähern. AVagte man auch nicht gleich, der Himmelskönigin die Abzeichen ihrer AViirde, den Thron, die Krone, den Nimbus zu rauben, so versuchte man doch, anfangs schüchtern, später kühn und erfolgreich, sie mit den weit schöneren Reizen der Mutter zu schmücken. Hat die Kunst auch das segnende, Anbetung heischende Christkind bis auf Raffael beibehalten, so erscheint doch schon daneben im frühen Mittelalter das rein menschliche Motiv des Kindes, das die Nahrung von der Mutter begehrt.

Giovanni Pisano that den ersten entscheidenden Schritt. In seinen großgedachten Madonnenstatuen in Padua, Pisa und Prato, in denen Maria mit der könig¬ lichen AViirde zuerst ein inneres Gefühlsleben verbindet, beobachten wir ein zielbewußtes Streben, zwischen Mutter und Kind ein Verhältnis herzustellen. Mit einer scharfen Seitenbewegnng des Kopfes schaut die hochgewachsene, nach Matronenart mit dem Kopftuch, aber auch mit der Krone geschmückte Maria den Knaben an, den sie auf dem Arme trägt und ein wenig von sich abhält; ihre Blicke begegnen sich, und sie scheinen unendliche Sehn¬ sucht zu empfinden, einander ihre Liebe zu gestehen. Aber noch ringen sie vergebens nach Worten, noch wagt es Maria nicht, gleichsam angesichts einer an¬ dächtigen Menge, das Knäblein an die Brust zu drücken.

1) Ygl. De Rossi, Imagines selectae deiparae virginis in coemeteriis subterraneis, Roruae 1S63. Siehe vor allem die berühmte Madonna in den Katakomben der Priscilla, Tab. I.

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Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. II. 8.

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DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

Das großartige Madonnenideal Giovanni’s liat Nino Pisano, der Sohn Aiulrea’s, der um die Mitte des 14. Jahr¬ hunderts thätig war, im Auge behalten, wie seine Ma¬ donnenstatue in Arezzo zeigt. Aber das Haupt der jugendlicheren Maria drückt nicht mehr die schwere Krone, ein leises, wenn auch etwas gezwungenes Lächeln ruht auf den Lippen der Jungfrau, und das Kind er¬ scheint liier vielleicht zum erstenmal in der Plastik mit einem Vögelchen in der Hand. Und noch selbständiger zeigt sich der Künstler in jener berühmten „Madonna del latte" in S. Maria della Spina zu Pisa, hat er auch an Innigkeit des Ausdrucks noch nicht das erreicht, was etwa gleichzeitig Ambrogio Lo- renzetti in dem nicht minder volkstümlichen Madonnenbilde in S. Francesco in Siena auszu¬ drücken verstand. Aber die Art, wie das dürstende Kind mit halb¬ geschlossenen Augen in langen Zügen an der Brust der Mutter trinkt, wie Maria mit heimlicher Freude auf den Liebling her¬ niederschaut, bezeichnet einen ge¬ waltigen Schritt vorwärts in der Vermensclilichuug der Gottes¬ mutter.

Jacopo della Quercia hat zum erstenmal das Andachtsbild durch einen Hauch persönlicher Em¬ pfindung belebt. Die Renaissance kündigt sich an! Eine sanfte Schwermut überschattet die Züge der Jungfrau, die allmählich jene scheue Zurückhaltung überwindet und es wagt, der Welt ihre Liebe zu dem Jesusknaben zu bekennen, ln der vergoldeten Holzstatue in S. Martino in Siena hat Maria leise die Hand unter das Kinn des nach Mutterliebe verlangen¬ den Kleinen geschoben, in dem Marmorrelief in S. Frediano in Lucca sucht sie sein Händchen zu fassen und in der Grabstatue in S. Giacomo Maggiore in Bologna blickt sie mit süßer, nur durch leise Trauer gedämpfter Zärtlich¬ keit auf den betenden Knaben hernieder.

Und doch, wie schüchtern scheinen solche Liebes- beweise im Vergleich mit Donatello’s fast von jeglichem Zwang befreiten Madonnen. Der Bann, der jahrhunderte¬ lang auf ihnen lastete, ist gebrochen und Mutter und Kind haben sich gefunden in langer, inniger Umarmung. In der That haben das edle empfindungsreiche Marmor¬ bild im Berliner Museum und das kleine Bronzebild auf einem der großen Reliefs am Hochaltar im Santo zu Padua in mehr als einer Hinsicht Epoche gemacht und

in Oberitalien eine völlig veränderte Darstellungsweise der Madonna herbeigeführt. Donatello hat zum ersten¬ mal mit durchschlagendem Erfolg jene kleinen Marien¬ bilder geschaffen, die nicht mehr als Andachtsbilder im großen Stil erscheinen, sondern einen persönlichen Cha¬ rakter tragen und das religiöse Bedürfnis des Einzelnen befriedigen sollten; er hat auch in jenem Relief in Padua zum erstenmal das nackte Christkind in die Kunst ein¬ geführt. Eine Legion von Schülern und Nachfolgern nahm vor allem in Oberitalien seine Gedanken auf und es entstanden eine Unzahl von Madonnenreliefs, die heute über alle Welt zerstreut sind. *)

Und doch hat ein so ge¬ waltiges Beispiel nicht überall befreiend gewirkt. Es ist eine sehr merkwürdige Erscheinung, dass man nirgends stärker als in Donatello’s Heimat an der alten Tradition festhielt, und dass die Frührenaissance in Florenz sich viel mehr bestrebt zeigt., in der äußeren Form das Höchste zu er¬ reichen als mit neuen Gedanken das Bild der Gottesmutter zu beseelen. Das gilt von Malern und Bildhauern in gleicher Weise. Filippo und Filippino Lippi, Lo- renzo di Credi, Ghirlandajo, um nur die bedeutendsten zu nennen, haben alle zwischen der thronen¬ den Madonna und dem segnenden Kinde keine tiefere innere Be¬ ziehung herzustellen gewusst, und selbst Andrea Verrocchio, der uns in der Skulptur ausdrücklich als Schüler Donatello’s bezeichnet wird, ist in seinen Marienbildern nicht weiter gelangt als bis zu einer schönen matronenhaften Frau, die dem auf einem Kissen stehenden Knaben die segnende Rechte führt und mit kaum merk¬ lichem Lächeln auf ihn herniederschaut.

Ebenso hat Luca della Robbia mit seinen zahl¬ reichen Schülern an jenem älteren Madonnentypus fest¬ gehalten, den Bernardo Rossellino, Mino da Fiesoie, vor allem aber Benedetto da Majano mit Nachdruck ver-

1) Man vergleiche vor allem die köstlichen kleinen Reliefs in den Eremitani zu Padua (abgebildet bei Bode, Lo scultore Bartolomeo Bellano da Padova, Arch. stör, dell’ Arte IV, p. 410). Das Berliner Museum ist besonders reich an charakteristischen Werken aus der Schule Donatello’s. Vgl. das treffliche Werk: Beschreibung der Bildwerke der christlichen Epoche von W. Bode und H. von Tschudi, Nr. 39, 42, 49, 51 u. a. m.

Giovanni Pisano.

TVIadonna im Campo Santo zu Pisa.

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

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traten. Alle diese Meister bestrebten sich, die Königin unter den Frauen mit allen Reizen zu schmücken, die ihre Frömmigkeit, ihre Reinheit und Demut ihr verliehen, aber das Geheimnis der unaussprechlichen Liebe Maria’s für ihren Sohn, der wortelosen Liebebedürftigkeit des Jesuskindes blieb ihnen verborgen, bis es offenbar wurde durch einen, der sie alle meisterte. Dieser gewaltige, durch den Giovanni Pisano’s und Donatello’s unerreichte Ideale zur Wirklichkeit wurden, war Michelangelo.

Es ist bezeichnend für die Denkungsart eines Mannes, über dessen rauhe Außenseite sich die Zeit¬ genossen so oft und mit Recht beklagten, dass ein so zartsinniges Thema wie die Madonna mit ihrem Sohn einen der Hauptcha¬ rakterzüge bildet in seiner Kunst. Wenn seine großen Gön¬ ner ihm einmal Ruhe ließen, wenn weni¬ ger der äußere Zwang als der in¬ nere Drang ihm den Meißel in die Hand gab , dann wandte er sich immer wie¬ der den Marienbil¬ dern zu, als trüge er in seiner Seele ein hohes Ideal ver¬ borgen, dessen Ver¬ wirklichung ihm keine Ruhe ließ. So glauben wir gerade in diesen Schöpfun¬ gen des Meisters sein tiefstes Em¬ pfinden, das Atmen seiner Seele zu ver¬ spüren. Geht doch durch alle Madonnenbilder Michelangelo’s, mag er nun die Mutter mit dem Kinde oder die Schmerzens¬ reiche mit dem toten Sohn schildern, ein einheitlicher Gedanke, ein großer geheimnisvoller Zug und die Mutter¬ gottes seiner .Tugend mit dem saugenden Kinde in der Casa Buonarroti offenbart dieselbe gehaltene Stimmung, denselben tragischen Ernst wie das Werk seines spätesten Alters, Maria, die den toten Sohn umfaßt, im Floren¬ tiner Dom.

Rühmt sich Rom der gewaltigsten Schöpfungen des Malers und des Architekten Michelangelo, so ist er in seiner Heimat Florenz als Bildhauer am vielseitigsten vertreten. Hier befinden sich auch nicht weniger als vier Madonnendarstellungen, unter ihnen drei in un¬

vollendetem Zustand: das Madonnenrelief in der Casa Buonarroti, das Rundbild im Nationalmuseum, die Ma¬ donna in der Medicäerkapelle und endlich die Gruppe der Kreuzabnahme hinter dem Hochaltar in S. Maria del Fiore. Die Pietä in St. Peter, die unvollendete und fast ganz zerstörte Pieta im Palazzo Rondanini in Rom, die Madonna von Brügge und endlich das Tondo in Burlington House in London vervollständigen die Reihe der Madonnendarstellungen des Meisters, die endlich durch eine große Anzahl von Studien und Entwürfen wirkungsvoll ergänzt werden.

Mit der Madonna an der Treppe, dem Marmorrelief

in der Casa Buo narroti, das Michel¬ angelo etwa im 17. Lebensjahre gear¬ beitet haben muss, hat die Betrachtung zu beginnen. Die J ungfrau hat sich mit dem Kinde auf einem gewaltigen quadratischen Steinblock nieder¬ gelassen, und ihre hohe, in scharfem Profil gesehene Ge¬ stalt ragt fast über den oberen Rand der Marmortafel hinaus. Ein schwer herab¬ fallendes Tuch be¬ deckt Kopf und Schultern , ziemlich eng anliegende Ge¬ wänder mit nicht immer gehörig mo- tivirten Faltenmo¬ tiven umhüllen ihre Heroengestalt. Vom Kinde sind nur die nackten Schultern, ein Teil des Köpfchens und der rechte, nach hinten umgebogene Arm sichtbar, sonst ist es ganz im Schoß der Mutter verborgen, die mit der Rechten den Mantel erhoben hat, um dem Dürstenden Zugang zur Brust zu verschaffen. Man weiß nicht, ob das Kind noch trinkt, oder ob es schon eingeschlafen ist; die Bewegung der rechten Hand der Mutter würde das erstere vermuten lassen, wenn sie nicht so mecha¬ nisch wäre. Mutter und Kind sind allein, denn die Knaben, die im Hintergründe an der Treppe spielen, haben scheinbar keinen anderen Zweck, als die leere Fläche auszufüllen, und zwischen ihnen und der Gruppe im Vordergründe fehlt jeder geistige Zusammenhang. Maria denkt offenbar an ganz andere Dinge; sie giebt

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DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

sich nicht einmal Mühe zu lächeln, wie fast alle Madonnen der Frührenaissance, sondern starrt traumverloren ins Leere. Man würde meinen, sie habe ganz vergessen, dass sie ihr Kind im Schoße hält, hätte sie nicht er¬ wärmend und schützend zugleich den linken Arm um den kleiuen Körper gelegt, hielte sie nicht noch immer den Mantel über der Brust empor, unter dem das Kind sein Köpfchen halb verbirgt. Haben wir in dieser ge¬ haltenen Stimmung noch eine Erinnerung an die alten Andachtsbilder zu erkennen, über die jene älteren Meister vielleicht schon um der Besteller willen nie hinausgegangen waren?

In der That erscheint Michelangelo in der Madonna an der Treppe mehr als in jedem an¬ deren seiner Madonnen¬ bilder im Banne der Vergangenheit und fremdem Einfluss unter¬ worfen. Weder in der Faltengebung noch in der Bildung der Hände erkennen wir die cha¬ rakteristischen Züge seiner Hand und den Nimbus um das Haupt der Madonna, den schon Donatello aufgegeben hatte, behielt er bei.

Besonders dieser letzte, für die Würdigung die¬ ses Reliefs so wich¬ tige und doch bis dahin stets unbeachtet ge¬ bliebene Umstand ver¬ dient unsere Aufmerk¬ samkeit, wenn wir be¬ obachten, dass Michel¬ angelo auch nicht ein einziges Mal wieder seine Madonnen und Heiligengestalten mit dem Nimbus schmückte.

Und doch that der Jüngling in diesem Erstlings¬ werk seiner Madonnenbilder einen so gewaltigen Schritt vorwärts in die neue Zeit, dass wir in der gehaltenen Stimmung des Reliefs kein Nachklingen alter Tra¬ ditionen, sondern vielmehr eine unabhängige Willens¬ äußerung erkennen müssen.

Besser als alle Worte lehrt uns das ein Vergleich mit einem gegenständlich und selbst in der Auffassung verwandten Madonnenrelief, das in S. Francesco in Siena bewahrt wird und dort als Arbeit des Cozzarelli gilt. Das Werk entstammt einer schon geübten Künstlerhand

Michelangelo. Madonna an der Treppe. Marmorrelief. Florenz, Casa Buonarroti

und wird nicht viel älter sein als Michelangelo’s Ma¬ donnenbild, mit dem es auch in den Faltenproblemen, in der Haltung der Hände Marias und der Profil- stellung des Kopfes eine gewisse Verwandtschaft verrät. Und doch hat der Florentiner Künstler von dem Sienesen nichts gelernt, der weit, weit hinter dem jüngeren Meister zurückgeblieben ist. Bei ihm erscheint die Himmels¬ königin noch mit der Krone auf dem Schleier, und der Stern am Oberarm erinnert an die ursprünglichen Ma¬ donnen in den Katakomben und auf den Sarkophag¬ reliefs, denen die drei Könige sich anbetend nahen. Die aufgesteck¬ ten Vorhänge an den Seiten bedeuten , dass der Beschauer sich die Jungfrau unter einem Baldachin thronend denken soll, und statt der bei Michelangelo im Hintergründe sich balgenden Knaben um¬ schweben Engelsköpf¬ chen Mutter und Kind und füllen die freie Fläche aus. Angesichts dieser beiden Reliefs können wir uns einer Thatsache nicht mehr verschließen. Mit einem Schlage hat Michelan¬ gelo die Jungfrau ent¬ thront. Aus der himm¬ lischen Umgebung hat er sie auf die Erde zu¬ rückversetzt und jedes äußere Zeichen ihrer Hoheit, Krone und Nim¬ bus, Thron und Engel¬ reigen, zeigt er sich von vornherein entschlos- .sen, ihr zu rauben. So lehrt uns dies Werk seiner Jugend vor allem, was er der Jungfrau genommen; was er ihr geschenkt, mögen wir ahnungsvoll schon hier empfinden, wenn wir uns in das träumerische, selbst¬ vergessene Dasein von Mutter und Kind versenken, es wird sich uns aber erst ganz offenbaren, folgen wir dem Jüngling weiter auf dem neuen Wege, den er kühn betreten hat und erfolgreich wandeln wird.

Es scheint, dass mehr als ein Jahrzehnt verfloss, ehe Michelangelo wieder Hand an die Darstellung einer Madonna mit dem Kinde legte. Er hatte sich in¬ zwischen durch die Pieta in St. Peter und durch den gigantischen David einen Namen gemacht und arbeitete

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

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die neue Bestellung in Marmor im Aufträge vlämischer Kaufleute für die Kathedrale in Brügge. Hier bewunderte Albrecht Dürer das Werk des Florentiner Meisters, das Condivi, der es selber kaum gesehen hat, als Bronze beschreibt, dessen Echtheit jedoch von nur wenigen neueren Forschern mehr in Frage gestellt wird.

Weit origineller als in der Madonna an der Treppe ist das Motiv dieser Statue gewählt, und zum erstenmal ist das Buch, ohne welches wir uns die frühen Madonnen Raffael’s nicht vorzustellen vermögen, hier in die Plastik eingeführt. Eine äußerlich nebensächliche Erscheinung und doch so bedeutungsvoll, weil sie uns lehrt, dass Michelangelo auch dann nicht am einfachen Andachtsbild festzuhalten gewillt ist, wenn ihn sein Auftrag gleichsam dazu zwang. Wird doch durch dies Buch die Gottes¬ mutter sofort aus unerreichbaren Sphären in eine menschliche Um¬ gebung versetzt, dem Anbetenden unendlich nahe gerückt.

Maria sitzt wiederum auf einem Steinblock nicht mehr wie die Madonna aus Donatello’s Schule im Santo zu Padua, oder Benedetto da Majano’s Madonna dell’ ulivo im Dom zu Prato auf reichverziertem Thronsessel ; sie hat gelesen und dabei das Kind auf dem Schoße gehabt.

Aber der Knabe ist des Still- sitzens müde geworden und bat die Mutter, ihn herabzulassen.

Natürlich gewährte Maria die Bitte ihres Lieblings, schon hat sie das Buch geschlossen und mit der Linken des Kindes Arm und Hände erfasst, das sie langsam zwischen ihren Knieen hernieder¬ gleiten ließ. Der kleine Jesus aber hat auf dem Steinblock, der der Mutter als Schemel diente, schon einen Stützpunkt für das linke Füßchen gefunden und das rechte lässt er behutsam am Saume von Maria’s Mantel herniedergleiten. Welch’ ein Reich¬ tum von neuen Gedanken, welch’ eine Tiefe künst¬ lerischer Weisheit, die den einmal erkannten Idealen treu bleibt und doch auch berechtigten Wünschen der Auftraggeber sich willig zu fügen scheint! Die frommen Vlamänder mochten in der That glauben, das Kind komme herab sie zu segnen, wenn sie sich so mancher ihrer älteren Madonnenbilder erinnerten, wo die Mutter den segnenden Knaben gleichfalls zwischen den Knieen vor sich hinhält, um ihn der anbetenden Menge zu zeigen.

Aber wie weit war Michelangelo von solcher Auf¬ fassung entfernt, wie zielbewusst hat er vielmehr auch hier das Ideal nach einer menschlich schönen Mutter,

nach einem natürlich liebenswürdigen Kinde verfolgt! Wann hätten denn Luca della Robbia, Verrocchio und Benedetto da Majano jemals daran gedacht, dass das Christkind des Sitzens auf dem Schoß der Mutter einmal müde werden könne, dass es die segnenden Gebärden, die unkindlich Ehrfurcht gebietende Haltung einmal auf¬ geben würde, um Bedürfnisse und Neigungen zu äußern wie andere Kinder? Wer hätte jemals vor Michelangelo ein so wohlgebildetes, Herz und Auge durch seinen bloßen Anblick erfreuendes Kind geschaffen, wer eine bestimmte Willensäußerung, eine lebendige Seele in den Körper des kleinen Jesus gezaubert? [) Das schwere Kopftuch der Maria, Gewand und Mantel verraten in der Faltengebung weit größere Selbständigkeit und höher entwickeltes Formengefühl, als wir es bei der Madonna an der Treppe beobach¬ teten. In der Empfindung aber scheinen beide Marmorbilder innig verwandt. Auch hier ist der Aus¬ druck sehr gedämpft, jede heftige Bewegung scheint absichtlich zu¬ rückgedrängt. Leise verrät das Fassen der Hände die innigen Beziehungen zwischen Mutter und Kind, deren Seelen völlig auf den¬ selben Ton gestimmt sind. Aber der Gedankenernst der Mutter, die mit halbgesenkten Augen¬ lidern traumverloren vor sich hin¬ blickt, gestaltet sich beim Kinde zu einer süßen, die Teilnahme des Beschauers im höchsten Grade erweckenden Melancholie.1 2)

Das Rundrelief der Madonna mit dem Buche im Bargello steht der Marienstatue von Brügge zeit¬ lich und inhaltlich am nächsten; es führt die in den früheren Ma¬ donnen angedeuteten Gedanken einfach fort, aber ob¬ wohl es unvollendet ist, zeigt es sich ihnen äußerlich weit

1) Auffallend entwickelt erscheint das Christkind in der spätgotischen Kunst Venedigs, woher sich auch Donatello die Anregung geholt zu haben scheint, das Kind nackt dar- zustellen. Man vergleiche die Reliefs aus der Schule der Massegne im Vorhof von S. Zaccaria und über einem Seiten¬ portal (links) der Frari, wo der Knabe ebenfalls Neigung verrät, vom Schoß der Mutter herabzuklettern.

2) Über einige Skizzen in Oxford und im British Museum, die sich direkt auf die Madonna von Brügge zu beziehen scheinen, siehe J. D. Robinson, A critical account of the drawings by Michelangelo and Raffäello, Oxford 1870, p. 322.

Im Louvre wird eine Rötel Zeichnung Michelangelo’s be¬ wahrt, die dasselbe Motiv, wie die Madonna von Brügge be¬ handelt: das Kind vom Schoß der Mutter herniedergleitend. Vgl. H. de Chenevieres, Les dessins du Louvre, Paris 1883, Bd. III,

Cozzarelli. Madonnenreiief in S. Francesco in Siena.

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DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

überlegen. Die Färbung des goldigen Marmors wirkt bezaubernd und zieht den Beschauer von weitem an. Wie fesselnd aber erweisen sich erst die inneren Qua¬ litäten dieses Madonnenbildes! Die Jungfrau hat sich wieder auf einem Steinblock niedergelassen, der hier weit geringeren Umfang zeigt als der gewaltige Stein, auf dem die Madonna an der Treppe sitzt. Aber auch hier merkt man dem Künstler noch die Mühe an, die es ihm machte, die hehre Frau in den engen Rahmen des Tondo hi n- einzukompouiren; Ma¬ ria ragt mit dem Kopf über den Rand des Re¬ liefs hinaus, Mutter und Kind haben mit¬ einander gelesen und erst eben innegehal¬ ten, um über das Ge¬ lesene nachzudenken.

Das Kind scheint er¬ müdet, es hat das Köpfchen auf das auf¬ geschlagene Buch ge¬ stützt und blickt träu¬ merisch vor sich hin.

Vielleicht ist dem Künstler bei diesem eigenartigen Motiv eine antike Reminis- cenz zu Hilfe gekom¬ men, und wir erinnern uns, was Vasari1) von dem „hartnäckigen und tief veranlagten For¬ mengedächtnis Micliel- angelo’s“ zu erzählen weiß. Die Phädra an dem berühmten Sar¬ kophagrelief der Gräfin Beatrice im Campo Santo zu Pisa2) gab ja bekanntlich dem Ni¬ cola Pisano den Typus für seine königlichen Marien , der kleine Eros, der den Arm auf die Kniee der sitzenden Phädra stützt, scheint dem Michelangelo die Vorlage für den

1) Ed. Milanesi VII, p. 277: E stato Michelangelo di una tenace e profonda memoria, che nel vedere le cose altrui una sol volta l’ha ritenute si fattamente, e servitosene in una maniera, che nessuno se n’e xnai quasi accorto.

2) Die genaue Beschreibung dieses Sarkophages siehe bei Dütschke, Die antiken Bildwerke des Campo Santo zu Pisa, p. 17.

Christusknaben abgegeben zu haben. Die Stellung ist ganz die gleiche: das rechte Beinchen über das linke geschlagen stehen Eros und Christkind da und den Oberkörper an das Knie der Phädra und der Maria an¬ lehnend haben sie den Arm auf ihren Schoß gestützt. Nur erscheint der Eros ein wenig mehr im Profil, der Sohn Maria’s mehr en face, der erstere schaut nach oben, der letztere hat den Blick gesenkt.

Endlich wird in ganz flachem Relief im Rücken der Ma¬ donna der kleine Jo¬ hannes in der Ferne sichtbar; er scheint hier ebenso vorüber¬ zuhuschen wie auf dem Bilde der heil. Familie in der Tribuua, dem einzigen unbestritte¬ nen und vollendeten Tafelgemälde Michel¬ angelo ’s, das uns er¬ halten ist.

Maria hält wie gewöhnlich mit dem linken Arm ihr Kind umschlungen, die Fin¬ ger der rechten Hand ruhen noch unter dem aufgeschlagenen Buch. Das Gewand ist un¬ geheuer einfach in der Faltengebung,aber der Kopfschmuck scheint reicher als gewöhn¬ lich. Eine breite Binde ist unter das Kopftuch gelegt, aus dem ein Engelsköpfchen mit zwei Flügeln hervor¬ lugt. Donatello schmückte zuerst mit einer Seraphimkrone die Stirn der in Zeich¬ nung und Komposition jedenfalls auf ihn zu¬ rückgehenden Madonna im Santo zu Padua und ließ ein Engelsköpfchen auch den Mantel Maria’s Zusammen¬ halten. Verrocchio, Kossellino, Benedetto da Majano u. A. nahmen diesen letzten Gedanken auf und Michelangelo verwandte das Engelein in eigenartiger Weise als Kopf¬ schmuck. Er liebte es, wie seine zahlreichen Zeichnungen die Nacht und die Morgendämmerung der Medicäergräber lehren, die Haare der Frauen mit reichem phantastischem Zierat zu schmücken.

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

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Wieder scheint die Mutter das Dasein des Kindes halb vergessen zu haben. Steht sie noch ganz unter dem Eindruck des eben Gelesenen, das wie ein Bann auf ihr lastet, den sie nicht abzuschütteln vermag? Wen ergriffe nicht die stille Trauer, die sich der beiden bemächtigt hat? Sie reden kein Wort mit einander, aber ihre Seelen finden sich in einem langen, lieiligen Schweigen. Mit weit geöffneten Augen schaut Maria aus dem Bilde heraus, als wollte sie die Zukunft er¬

innerung wach: es wird ein Schwert durch deine Seele dringen?

Aus dieser Traumwelt des sich Erinnerns und Vorwärtsschauens führt uns der Künstler auf einmal in die frische Wirklichkeit. Ist das Bundrelief in Florenz eins der gedankenvollsten Madonnenbilder, die Michel¬ angelo geschaffen hat, so ist das Tondo in London, „die Madonna mit dem Vogel“, schon durch das Motiv das interessanteste, obwohl es unvollendet ist.

Michelangelo. Maclonnenrelief im Bargello.

forschen. Es liegt etwas Seherhaftes in diesen Augen wie im Blick der Delphischen Sibylle. Sieht sie im Geist schon das Kreuz erhöht auf Golgatha, das Marter¬ kreuz für das Kind, das jetzt ihr Arm umschlingt? Ist es ein Kapitel aus dem Jesaias, das dort in dem auf- geschlagenen Buch vor ihnen liegt und haben sie eben die Weissagung des Propheten mit einander gelesen von dem Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird? Werden auf einmal die Worte des alten Simeon in Maria’s Er-

Mutter und Kind sind nicht mehr allein; eine fremde Hand hat störend in ihr Dasein eingegriffen. Der Gio¬ vannino, das kleine Fell über der Schulter, die Trink¬ schale um den Leib gehängt, kam mit einem Vögelchen herbeigeeilt, das er soeben auf dem Felde erwischt. Das arme Tierchen wehrt sich gegen die Gefangenschaft und flattert so wild mit beiden Flügeln, dass selbst dem kleinen Vogelfänger nicht wohl dabei ist und er den geängstigten Vogel soweit wie möglich von sich fern-

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DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

hält. Aber noch vielmehr fürchtet sich das Jesuskind, das eben noch friedlich im Schoß der Mutter saß, jetzt aber flüchtend aufgesprungen ist, sich zu verbergen und doch voll kindlicher Neugierde es nicht lassen kann, das Köpfchen nach dem fremden Wesen umzuwenden, das sich so ungebärdig stellt.

Maria sitzt wie gewöhnlich auf einem Felsblock, der diesmal kaum aus dem Marmor herausgearbeitet ist. Sie hat den ernsten Blick auf den flatternden Vogel gesenkt und die Rechte abwehrend gegen das fremde Kind erhoben. Sie findet kein Lächeln für das süße Kinderbild vor ihren Augen, sie möchte auch nicht böse scheinen gegen den kleinen Johannes, der ihr Kind er¬ freuen wollte, aber man sieht es ihr an, sie wäre lieber ungestört geblieben. Vergegenwärtigen wir uns doch einmal, wie Raffael in der welt¬ berühmten Madonna del Cardel- lino dasselbe Motiv verarbeitet hat! Maria hat die Lectüre unter¬ brochen, als der Giovannino mit dem Stieglitz herbeigeeilt kam.

Das Vögelchen ist längst ge¬ zähmt, es zeigt nicht einmal Lust, davonzufliegen, obwohl es Johan¬ nes gar nicht festhält. Natürlich erweckt das Geschenk nur Freude bei der Mutter und dem Kinde, das das Händchen erhoben hat, um das Tierchen zu streicheln, fast möchte man sagen, um es zu segnen. Und die Madonna schaut den Kindern lächelnd zu und hat freundlich die Hand auf den Rücken des Giovannino gelegt. Eine heitere Landschaft, eine frohe Farbenstimmung er¬ höhen den festlichen Eindruck, den dies Bild hervorrufen muss; mit tausend Fragen aber treten wir wieder an Michelangelo’s Relief heran, das in seinem unvollendeten Zustande nur noch rätselhafter erscheint. Gewiss, an Naturwahrheit zeigt sich hier der Florentiner dem Urbinaten weit überlegen, das Motiv der Kinderscene konnte nicht natürlicher empfunden und sinniger durchgeführt werden, aber warum will es dem Künstler nie gelingen, ein Lächeln auf die Lippen der Jungfrau zu zaubern, die Raffael und Lionardo mit allen Reizen einer glücklichen Mutter zu schmücken verstanden?

Immer dringender wird diese Frage, immer selt¬ samer scheint das Madonnenideal Michelangelo’s, je kon¬ sequenter er sich zeigt in seiner Durchführung. Eine köstliche Zeichnung in Windsor Castle (Br. 101) schließt sich unmittelbar an das Tondo in London an , ja die hier mit der Kohle meisterhaft dargestellte Scene er¬

scheint einfach als Folge des im Marmorrelief geschil¬ derten Vorganges.

Die Geschlossenheit der Komposition, die geringe Anzahl der Figuren, die weise Beschränkung in der Zeichnung auf das, was plastisch durchführbar war, lassen in dieser Skizze mit hoher Wahrscheinlichkeit den Entwurf für ein Marmorwerk erkennen, das niemals zur Ausführung gelangte, aber auch in der Zeichung als wichtiges Glied in die Kette der Madonnendarstellungen Michelangelo’s eingereiht werden muss.

Maria’s hohe Frauengestalt erinnert wieder an die Sibyllen der Sistina, aber ihre Augen sind gesenkt und in tiefes Nachdenken versunken blickt sie vor sich hin. Das Kind steht auf ihrem Schoße und hat beide Ärmchen um den Hals der Mutter geschlungen und das süße Köpfchen mit einem leisen Aus¬ druck kindlichen Kummers an die Wange Maria’s gelegt, die nicht wagt, seine Liebkosungen zu er¬ widern, ja dieselben nicht einmal zu bemerken scheint. Der Gio¬ vannino hat jetzt begriffen, dass er das Beisammensein von Mutter und Kind nicht stören darf, es genügt ihm, ganz bescheiden und in aller Stille daran teil zu neh¬ men. Das kleine Fell über dem Rücken, das Kreuzchen zwischen den verschränkten Armen haltend, hat er sich leise hinten an den Stein gelehnt, auf dem Maria sitzt, von dem weiten Mantel der Jung¬ frau ein wenig verdeckt. Mutter und Kind haben von der Anwesen¬ heit des Knaben keine Ahnung, sie können und wollen ihn nicht sehen und scheinen wie immer völlig mit ihren unergründlich tiefen und traurigen Gedanken beschäftigt.

Bewundern wir in dem Marmorbilde in London die formenschönste Madonnendarstellung, die Michelangelo jemals im Relief ausführte, so würden wir in der Madonna in der Kapelle der Medicäergräber die herrlichste Frei¬ statue der Mutter Gottes besitzen, die je aus Künstler¬ hand hervorging, wenn sie vollendet wäre.

Der Meister stand auf der Höhe des Lebens, als er im Auftrag Clemens’ VII. die Skulpturen für die Grab- mäler des Giuliano und des Lorenzo de Medici begann, Denkmäler heute mehr seines eigenen Ruhms als der rühm¬ losen Sprösslinge aus dem Geschlecht des regierenden Papstes. Für diese Grabkapelle war auch die Madonnen¬ statue bestimmt, die dort noch heute neben der Nacht und der Aurora ihren Platz behauptet. Eine Zeichnung im Louvre, das Thonmodell in der Casa Buonarroti, erwecken den Glauben, dass der Meister den ursprüng-

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

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liehen Gedanken fast ohne jede Veränderung' in Marmor ausführte , will man nicht, was sehr wohl möglich, in seiner unvollendeten Kohlenzeichnung, gleichfalls in der Casa Buonarroti, eine ältere Vorstudie erkennen. Michel¬ angelo greift auf das Motiv seiner Jugend zurück und schildert das Kind saugend an der Brust der Mutter. Auf einem hohen Steinblock, den der Künstler im Modell nach Art antiker Altäre mit einer breiten Fruchtguirlande zierte ein Gedanke, den er im Marmor aufgegeben zu haben scheint hat sich Maria mit dem Kinde nieder¬ gelassen. Ihre Stellung ist wenig bequem, ja unsicher, denn sie ist gezwungen sich mit der Beeilten am Bande des Felsblocks festzuhalten, während sie mit der Linken den Arm des saugenden Knaben unterstützt. Der kleine Jesus sitzt rittlings auf dem übergeschlagenen Knie der Mutter, der Ober¬ körper ist vom Beschauer ab und ihrer Brust zuge- wandt, die Linke klammert sich an Maria’s Schulter fest und mit der Beeilten hat er eben nach der Brust gesucht.

Während beim Thonmodell und auch bei der Zeichnung im Louvre die kleine Hand noch auf dem Busen der Mutter ruht, ist sie in der Statue ein wenig darüber erhoben. Man muss das Ori¬ ginal aus der Nähe betrach¬ ten, um die zarte Empfin¬ dung des Künstlers bei dieser Veränderung zu verstehen, die uns zugleich anzeigt, dass das Kind das Gesuchte gefunden und begierig trin¬ kend trotz der unbequemen Lage in seiner Stellung ver¬ harren wird. Sein Gesicht- chen ist halb verborgen an der Brust Maria’s, wir sehen eigentlich nur die überreichen, kurz geschnittenen Locken, aber wir bewundern die Schönheit des prächtig gediehenen Kleinen, dessen nackten, fein modellirten Körper nichts als ein breites über Bücken und Knie herabfallendes Band verhüllt. Die schwächlichen, un¬ entwickelten, saugenden Kinder des Nino Pisano, des Cozzarelli, des Matteo Civitali mag man zum Vergleich heranziehen , um das wunderbar ungestüme Leben , die schlichte Natürlichkeit dieses Kindes ganz zu würdigen. Aber gerade Civitali’s liebenswürdige, so behaglich auf vergoldetem Sessel thronende Madonna in S. Trinitä in Lucca lässt uns aufs neue die entsagungsvolle Größe der Madonnenbilder Michelangelo’s würdigen, der jeden

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 8.

äußeren Beiz der Schönheit der Seele zum Opfer brachte.

Hatte Maria denn nicht Grund genug, sich eines so prächtigen Knaben zu freuen, wie ihn ihr Michelangelo zum erstenmal in den Schoß gelegt?1) Musste ihr Herz nicht überströmen in mütterlicher Liebe gegen den süßen Kleinen, der alle einsamen Stunden mit ihr teilte? Warum so herbe Zurückhaltung in ihren Minen und Gebärden bei einem Künstler, der die Steine reden hieß, der ihnen jegliche Empfindung von Lust und Schmerz, die jemals Menschenbrust durchzuckt, einzuhauchen ver¬ stand? Wir erwarten in der That ein Lächeln auf den Lippen der Madonna, deren gewaltige Körperformen wir

mit Ehrfurcht betrachten, aber wir finden gesteigerte Traurigkeit. Wir bemerken eine schärfere Betonung des Affekts in ihren seelenvollen Zügen, aber ein zielbewuss¬ tes Fortschreiten in derBich- tung, die Michelangelo uner¬ bittlich in der Schilderung der Mutter Gottes verfolgt: Maria hat das Haupt, das ein in schlichte Falten ge¬ legtes Kopftuch ziert, leise vorgebeugt, sie blickt in stummem Jammer über ihr Kind hinweg. Es ist die Schmerzensreiche, die im Geist den am Kreuz verblu¬ teten Sohn tot zu ihren Füßen sieht!

Eine so trübe Auffas¬ sung der Madonna, die ältere Meister so sehnsuchtsvoll mit menschlichen Beizen zu schmücken sich bemühten, die Lionardo endlich und Baffael der Welt zum er¬ stenmal als schöne Mutter zeigten, eine so trübe selbstgewählte Auffassung der Madonna muss eine Geschichte haben. Ein hochstreben¬ der Künstler kann nicht aus sich selbst heraus und ohne zwingenden Grund ein Ideal aufgehen, dass man Jahr¬ hunderte lang mehr oder minder erfolgreich angestrebt, und das er mit dem Größten seiner Zeit zu verwirk¬ lichen berufen schien. Ein fremder Einfluss, der hemmend und fördernd zugleich sich geltend machte, lässt sich nicht verkeimen, und wir fragen erwartungsvoll, wer ist der Gewaltige gewesen, der den gewaltigsten unter den

1) Vgl. was Benedetto Varchi von diesem Christuskinde Michelangelo’s und von Dante’s Einfluss auf die Gestaltung desselben sagt. Opere di Benedetto Varchi. Trieste 1859. II, p. 647.

Michelangelo. Pieta. Piom, Peterskirche.

23

178

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

Künstlern, die je gelebt, ganz in seine Gedankenkreise zu bannen vermochte?

Wenn es wahr ist, was Savonarola in einer seiner Fastenpredigten behauptet, ’) dass jeder Künstler sich selber malt und dass er in jede seiner Schöpfungen ein Stück des eigenen Lebens, das beste und charakter¬ vollste der eigenen Persönlichkeit hineinlegt, dann kann es uns nicht schwer fallen, aus der Pieta in St. Peter und aus der Kreuzabnahme im Florentiner Dom die äußeren Lebensumstände herauszulesen, unter denen sie geschaffen wurden. Ein Jugend werk, reich an zarten Gedanken und warmen Empfindungen ist die Pieta, ein Werk des spätesten Alters voll herben Charakters und tragischen Ernstes ist die Kreuzabnahme in Florenz. Durch ihre jugendliche Schönheit rühren uns Maria und ihr Sohn in Michelangelo’s erstem Meisterwerk, gealtert sind sie beide und mit den Spuren bitteren Leidens gezeichnet in jener großen Schöpfung seines Alters, die der Meister noch als Greis begann und nicht vollendete.

Michelangelo’s Schilderung der Pieta, die den Ge¬ kreuzigten auf dem Schoß der Mutter zeigt, ist schon gegenständlich sehr beachtenswert. Die Reliefdarstellung Christi, der am Rande des geöffneten Grabes sitzt und mit ausgebreiteten Armen seine Wunden zeigt, das ist der Typus der Pieta, der durch das Mittelalter und die Frührenaissance geht. Klagende und anbetende Engel haben sich um ihn geschart und in einiger Entfernung, hi älterer Zeit häufig durch Rahmen werk getrennt, er¬ scheinen Maria und Johannes gleichfalls in anbetender oder schmerzbewegter Haltung. Erst allmählich nähern sie sich dem Grabe, die Andacht muss dem Ausdruck ihres Jammers weichen, und sie schlingen von beiden Seiten die Arme um den Gekreuzigten, der sein sinken¬ des Haupt zu der schluchzenden Mutter hernieder neigt. Vor allem an den Sarkophagen, aber auch an Kanzeln, Ciborien und Altären lässt sich dieser Typus und seine Entwicklung unzählige Male verfolgen. Er entwickelt sich nicht anders in der Malerei, wo er durch Giovanni Bellini's Meisterhand seine höchste Verklärung findet.

Dagegen kann von einer historischen Entwicklung jener zweiten Auffassung der Pieta, die den Gekreuzigten im Schoß der Mutter schildert, weder in der Malerei noch in der Plastik die Rede sein, und man darf be¬ haupten, dass sich Michelangelo überhaupt an keine Tradition anlehnen konnte, als er 23 Jahre alt in Rom seine Pieta für den französischen Kardinal Groslaye de Villiers begann.1 2)

1) G. Gruyer, Les illustrations des ecrits de Jerome Savo- narole, Paris 1879, p. 195.

2) Im Archäologischen Museum zu Mailand kann man

Wer die Madonnenbilder Michelangelo’s bis hierher verfolgt hat, der macht sofort eine überraschende Ent¬ deckung, tritt er vor jene einsame „Gruppe des Schmerzes“ in der Seitenkapelle von St. Peter: Maria hat das Haupt gesenkt und blickt in stilles Weh versunken auf den toten Sohn, den sie auf ihrem Schoße trägt. Ihre Augen schweiften in die Ferne, ihr Blick war abgewandt und ihre Gedanken abwesend, wenn das Kind auf ihren Knieen saß, wenn es still zufrieden war, oder zu trinken begehrte. Sie schien keinen Blick der Liebe zu haben für das kleine Wesen, keine Gedanken für die Gegen¬ wart, in Vergangenheit und Zukunft hatte sie all’ ihr Empfinden versenkt. Jetzt endlich ist sie ganz bei der Sache; das Gegenwärtige ist so grausam, nimmt so völlig ihre Seele ein, dass es Vergangenheit und Zukunft nicht mehr giebt. Was sie im Geist geschaut, was Jesaias gesungen und Simeon geweissagt hatte, nun ist es erfüllt. So musste es kommen! Diese erhabene Ruhe des Schmerzes, diese stumme Ergebung, mit der Maria das Furchtbare hinnimmt, erscheint natürlich im Zusammenhang mit den oben beschriebenen Madonnenbildern des Meisters, die er zwar fast alle erst in späteren Jahren schuf, deren geistigen Gehalt er aber längst in seiner Seele bewegte. War nicht die zitternd- schweigende Erwartung, das qualvolle Erharren dessen, was unabwendbar geschehen musste, fürchterlicher als das Ereignis selbst ? Die Thränen, die das Los des geliebten Kindes beklagten, mochten längst vergossen sein, und ihre Quelle war versiegt. Nun hat sich die Ruhe des Todes vom Sohn auf die Mutter mitgeteilt, und nur die ausgestreckte leise ge¬ öffnete Linke, die man der kaum erschlossenen Blüte verglichen hat, !) verrät, das ihr Herz noch schlägt. Es liegt in dieser Handbewegung eine stumme ergreifende Bitte, wir rinden darin aber auch den ganzen Jammer der Vergangenheit, die ganze Hoffnungslosigkeit der Gegenwart angedeutet: so starb er, den ich liebte.

(Schluss folgt.)

die Entwicklung des gangbaren Typus der Pieta in allen Phasen verfolgen. Altere Freistatuen der Pieta, wie Michel¬ angelo sie schildert, erinnere ich mich in Italien nur eine gesehen zu haben, eine grobe spätgotische Arbeit in der Taufkapelle in San Marco in Venedig. Häufiger dagegen begegnen uns schlechte malerische Darstellungen desselben Gegenstandes schon aus dem 13. Jahrhundert; ein wirklich bedeutendes Werk, das dem Squarcione nahe steht, befindet sich schwer sichtbar und auch fast unbekannt in der Chiesa del Torresino zu Padua und wurde kürzlich verdienstlicher¬ weise von Prof. Borlinetto photographirt.

1) Wölflin, Die Jugendwerke Michelangelo’s; an diese ausgezeichnete Studie habe ich mich auch in der Chronologie der Bildwerke angelehnt.

Fig. 29. Der Salzburger Hof iu Regensburg im 12. u. 13. Jahrhundert (Rekonstruktion).

EINE VERSCHWUNDENE BISCHOFSPFALZ.

VON PROFESSOR C. TU. POHLIG.

MIT ABBILDUNGEN.

ÄHREND alle die genannten Baureste in dem von 1277 1280 entstandenen Palas eingemauert gefunden wurden, muss es auffällig erscheinen, dass in dem zu gleicher Zeit umgebauten Westflügel nur ein einziges Stück gefunden worden ist, nämlich der Tragstein mit dem springenden Hasen (Fig. 26). Erklärlich wird dies durch den Umstand, dass gerade in diesem Flügel späterhin mehrfache Ver¬ änderungen, besonders Auswechslungen von Mauerwerk, vorgenommen worden sind, bei welcher Gelegenheit wohl das eine oder andere von älteren Resten zum Vorschein gekommen, jedoch nicht weiter beachtet worden sein mag.

Der Südflügel enthielt, wie schon bemerkt, den großen Festsaal, der die ganze Länge des Gebäudes ein¬ nahm und bei einer lichten Länge von 38 m eine Breite von 11 m hatte. Der Saal befand sich im ersten Obergeschoss, unten waren Wirtschaftsräume. Wie aus unserer Abbildung (Fig. 2) an den höher hinaufgeführten Seitenmauern ersichtlich ist, war der Bau ursprünglich noch um ein Stockwerk höher, jedoch nur nach außen, da die Dächer pultförmig gegen den Hof abfielen. Die Südfront hatte neun Fenster, von denen das erste die Kreisform,

(Schluss.)

das letzte den Vierpass aufweist, die übrigen sieben haben die einfache Rundbogenform. Der Vierpass ist sehr reich profilirt (Fig. 28 a u. b), und die 10 cm breiten Nasen desselben sind in ganz origineller Weise mit Figürchen geschmückt (Fig. 28 c). Die ursprüng¬ lichen Fenster des Erdgeschosses waren längst ver¬ schwunden und durch andere von verschiedener Form und Größe ersetzt worden.

Im Westbau fand sich außer dem in Fig. 3 ab¬ gebildeten Fenster und einigen kleinen Rundbogenfenstern nichts weiter von Bedeutung. Das bezeichnete Fenster, in der Gliederung noch romanisch, weist bereits den Spitzbogen auf, gehört also, wie auch der Vierpass am Palas, dem Übergangsstil oder der beginnenden Früh¬ gotik an, was auch mit der Bauzeit des Süd- und West¬ baues (1277 bis 1280) übereinstimmt. Der Umbau, respektive spätere Anbau des Palas war auch am Äußeren daran bemerkbar, dass er mit dem Ostflügel nicht im Steinverband lag, sondern stumpf angefügt war.

Überblickt man das gewonnene Gesamtmaterial, so ist es wohl nicht zu viel gesagt, wenn man den Salzburger Hof als eines der reichsten und bedeutendsten Pro¬ fanbauwerke des 12. Jahrhunderts bezeichnet. Fig. 29

23*

ISO

EINE VERSCHWUNDENE BISCHOFSPFALZ.

Fig. 21. Eckstück mit Säule.

giebt eine Rekonstruktionsskizze des alten Salzburger Hofes, wie derselbe, aller Wahrscheinlichkeit nach im 12. und 13. Jahrhundert ausgesehen hat. An den Haupt¬ linien des Grundplanes hat sich seit dem 13. Jahrhundert nichts mehr geändert, nur die Zwischenmauern haben mancherlei Wandlungen erfahren. Unser Grundplan Fig. 1 enthält zum Teil schon neuere Einbauten und stammt aus dem Jahre 1810. Aufbau und Fenster¬ einteilung boten an den noch vorhandenen alten Gebäude¬ teilen, sowie an den zu Tage getretenen vermauerten romanischen Fenstern hinreichende Anhaltspunkte zur Rekonstruktion. Ost- und W7estfUigel hatten bis auf unsere Zeit noch die ursprüngliche Mauerhöhe, am Palas waren die Seitenmauern noch in ihrer alten Höhe vor¬ handen, nur im Nordbau war das obere Stockwerk voll¬ kommen modernisirt worden; dasselbe dürfte jedoch dem ersten Obergeschoss entsprochen haben. Dieses letztere enthielt einen großen Saal von ungefähr 20 m Länge und der ganzen Tiefe (10 m) des Gebäudes. Ihm ge¬ hörten jene sechs dreiteiligen Fenster an (Fig. 5 u. 6), welche oben bereits erwähnt worden sind. Drei davon

Fig. 22. Eckstück mit Säule.

nach der Straßenseite haben Würfelkapitelle mit darauf sitzenden Tragsteinen, welche ihrerseits die Rund¬ bögen aufnehmen; die anderen drei, nach der Hofseite gelegenen, haben kein eigentliches Kapitell, dafür ist aber der Säulenhals reich gegliedert und der Tragstein zugleich als Kapitell behandelt. Eigentümlich an diesen Fenstern sind die halbkugeligen Zierraten an den Seiten- wandungen und auch auf den Schlusssteinen der Fenster, die entweder ganz glatt oder eingekerbt oder facettirt erscheinen. Ähnliche Kugelformen kommen am Portale der Schottenkirche (1172 -1184) vor, was also ganz mit der Bauzeit des Salzburger Hofes (1177 1183) übereinstimmt.

Fanden sich somit für die Rekonstruktion des Ge¬ bäudes mancherlei sichere Anhaltspunkte, so lässt sich dies hinsichtlich der oberen Turmpartieen leider nicht

sagen. Der Turm wurde bereits 1811 von dem damali¬ gen Besitzer, Färber Gütz, bis zur Dachhöhe des Hauses abgetragen, und es hat sicli bis jetzt auffallender Weise weder in alten Stadtplänen noch sonst irgendwo eine Abbildung dieses Turmes gefunden. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde derselbe nach den Angaben des damaligen städtischen Bauamtsdirektors Gölgel nebst der darin befindlichen Kapelle einer Restauration unter¬ zogen und außen mit dem Bildnis des h. Rupert ge¬ schmückt. Nachdem sich aber auf den alten Stadtplänen seit dem 15. Jahrhundert ein solcher Turm nicht mehr fest¬ stellen lässt, so ist wohl anzunehmen, dass derselbe schon vorher in seinen obersten Partieen abgetragen worden ist, also auch zu GülgePs Zeiten nicht mehr vollständig er¬ halten war. Dass aber ursprünglich ein solcher Turm vorhanden war, ist ganz zweifellos; dafür sprechen die massiven von 1,30 m bis zu 1,80 m dicken Grundmauern, die sich an der nordöstlichen Ecke des Gebäudes be¬ fanden, wie auch der Umstand, dass im 12. und 13. Jahr¬ hundert eine derartige Bauanlage überhaupt ohne Turm nicht gedacht werden kann.

Mit Bezugnahme auf den Grundplan (Fig. 1) ist

EINE VERSCHWUNDENE BISCHOFSPFALZ.

181

Fig. 24. Kapitell vom Salzburger Hof. . Fig. 25. Kapitell vom Salzburger Hof.

Fig. 26. Tragstein vom Westbau.

hier noch erläuternd zu bemerken, dass die über das erste und zweite Obergeschoss des Turmes sich erstreckende Kapelle erst im 15. Jahrhundert die in dem Plane (Fig. 1 rechts) angegebene Richtung und Ausdehnung erhalten hat. Ursprünglich entsprach die Lage der Kapelle jeden¬ falls der oblongen Form des Turmgrundrisses in der Richtung von Süd nach Nord, und erst im 15. Jahr¬ hundert orientirte man die Kapelle von Ost nach West, durchbrach zu diesem Zweck einen Teil der westlichen Turmmauer und verlängerte die Kapelle in das Wohn¬ gebäude hinein. Der untere Teil der westlichen Turmmauer weist im Vergleich zu den drei anderen Rechteckseiten eine ganz unverhältnismäßige Dicke auf, nämlich 1,80 m gegen 1,30 m der übrigen Seiten, was vermuten lässt, dass diese Mauer von einem noch älteren Bau, vielleicht vom römischen Prätorium herstammt. Nachdem sich also, wie bereits gesagt, von den oberen Turmpartieen nirgends Zeichnungen oder Beschreibungen vorfinden, so sind dieselben auf unserer Abbildung (Fig. 29) nach Analogie anderer Regensburger Turmbauten aus dem 12. und 13. Jahrhundert ergänzt worden. Die obersten Geschosse unter den pultförmigen Dächern der vier Ge¬ bäudeflügel dienten als Speicher.

Um ein Bild von der Hofansicht zu gewinnen, hat man sich von drei Seiten, nämlich von Ost, Süd und

West Bogengänge, sogenannte Lauben, zu denken. Die¬ selben sind später zugemauert worden und erst beim Abbruch wieder zum Vorschein gekommen. Dabei wurde die Wahrnehmung gemacht, dass sich das Terrain im Laufe von sechs Jahrhunderten um soviel erhöht hatte, dass die Arkadenpfeiler anderthalb Meter tief im Boden steckten. Im übrigen waren gegen den Hof zu ähnliche Fenster, wie nach außen. Im Nordbau fanden sich fast ganz die gleichen, wie nach der Straßenseite, der Ostflügel wies gegen die Hofseite zweiteilige Rundbogenfenster mit je einem Zwischen säulchen auf; am Süd- und West¬ bau waren gegen die Hofseite so viele Veränderungen vorgenommen worden, dass von der ursprünglichen Fenster¬ einteilung nichts mehr wahrgenommen werden konnte. Am Südflügel oder Palas waren jedenfalls gegen den Hof ganz ähnliche Rundbogenfenster, wie sie unsere Abbildung 2 an der Außenseite zeigt.

Dass an einem so umfangreichen Bauwerke, wie es der Salzburger Hof war, in allen Jahrhunderten bauliche Ver¬ änderungen vorgenommen worden sind, wird wohl kaum Wunder nehmen. Von Belang sind indes nur einige Zu- thaten aus der gotischen Stilperiode. So fanden sich zwei schmale Spitzbogenfenster in der Kapelle des Turmes und einige Fenster mit Spitzbögen, wie auch mit ge¬ radem Sturz im Ostflügel unter dem Verputz vor. Am

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EINE VERSCHWUNDENE BISCHOFSPFALZ.

beachtenswertesten war jedoch ein kleiner Anbau an der östlichen Ecke des Palas, gegen den Garten am Frauen¬ bergei. Zwischen der Südmauer des Palas und einem ovalen Gartenhäuschen eingezwängt,, hatte derselbe nur eine lichte Weite von 1,40 m bei einer Länge von 3,70 m. Dieser schmale Raum (Fig. 30) war mit einem Stern¬ gewölbe überspannt, auf des¬ sen Rippenkrenzungen spät¬ gotische Schildchen ange¬ bracht waren. Über dem mit geradem Sturz versehenen Eingang befand sich eiu größeres Schildchen mit einem Wappen: auf quer- geteiltem Schild unten eine Mauer mit zwei Zinnen. Es ist dies ein mehrfach vor¬ kommendes Wappen, das so¬ wohl dem alten bayerischen Adelsgeschleckte der Prey- sing, als auch dem der Holn¬ stein ') angehört. Im vor¬ liegenden Falle handelt es sich jedoch um das Preysing- sche Stammwappen. Dieses alte Adelsgeschlecht kommt in Regensburg schon seit dem 13. Jahrhundert vor, zuerst als Ministeriale (Beamte), als Stifter von Beneflzien, dann aber vom 15. bis tief in das 18. Jahrhundert hinein als Domherren. ’) Georg von Preysing, Subsenior und Kus¬ tos im Regensburger Dom¬ kapitel (1452—1497) ließ das schöne Sakramentshäus¬ chen im Dom durch Konrad Roritzer erbauen. Er war es auch, der das spätgoti¬ sche Miniaturkapellchen (Fig.

30) wenn es nicht die Sakristei zu einer anstoßen¬ den Kapelle war erbaut hat, über dessen Thüre das Preysing’scke Stammwappen

1) Die Holnstein kommen erst im 18. Jahrhundert als Domherren in Regensburg vor. Dass die Wirsberger hier in Frage kommen könnten, deren Wappen übrigens drei Zinnen hat, beruht auf Irrtum. Als Angehörige dieses Adelsge¬ schlechtes findet sich zwar vom 15. 16. Jahrhundert eine große Anzahl von Domherren in Regensburg vor, allein die¬ selben wohnten nicht in dem hier in Frage kommenden, hinter dem Salzburger Hof befindlichen Kanonikalhof.

1) Siehe hierüber Janner’s Geschichte der Bischöfe von

angebracht war. Dass dieses Kapellchen ursprünglich zu einem Domherrnhof gehört hat, welcher hinter dem Salzburger Hof lag, wurde weiter oben bereits erwähnt.

Noch ist eines spätgotischen Wappens Erwähnung zu thun, welches ursprünglich über dem Portal des Haupt¬ gebäudes, später im Hof, eingemauert war. Es ist das

Wappen des Erzbistums Salz¬ burg, welches unter dem Pontifikat Leonhards v. Keut¬ schach (1495 1519) ent¬ standen ist. Zwei schwebende Engel halten den Bischofs¬ hut und darunter zwei Wap¬ pen. Das vordere ist das Wappen des Erzbistums, auf senkrecht geteiltem Schild in der vorderen Hälfte ein Löwe, in der hinteren Hälfte eiu Querbalken durch die Mitte. Das zweite Schild enthält das Wappen Leon¬ hards v. Keutschach, eine Rübe in der gedrungenen Form eines Rettigs. Zwei gekreuzte Bischofsstäbe flan- kiren die Mitra. Die mani- rirten Engelsgestalten tragen das die spätgotische Epoche charakterisirende Feder¬ kleid.

Das auf dem Grund¬ plan (Fig. 1) und auf der Palasansicht (Fig. 2) sicht¬ bare ovale Gartenhaus muss wohl in irgend einer Form schon in gotischer Zeit be¬ standen haben; es wäre sonst nicht denkbar, wie der oben besprochene, zwi¬ schen Palas und Garten¬ haus eingezwängte schmale gotische Raum (Fig. 30) ent¬ standen sein könnte. Wahr¬ scheinlich stand hier an Stelle des barocken Garten¬ häuschens die Kilianskapelle, und zwischen diese und den Palas hat man jenen kleinen Raum vermutlich als Sa¬ kristei eingebaut.

Regensburg, Regensburg 1883; ferner Paricius, Regensburg samt allen Merkwürdigkeiten etc. Regensburg 1753; Leon¬ hard Widmann’s Chronik von Regensburg, lierausgegeben von Öfele 1878; desgleichen das bayrische Stammbuch von Wiguläus Hund.

Fig. 30. Gewölbe im Salzburger Hof.

DIE NEUESTEN

ERWERBUNGEN DER MAILÄNDER GALERIEN.

MIT ABBILDUNGEN.

Die Galerie der Brera.

EN bedeutendsten Zuwachs, welcher den Mailänder Galerien in der letzten Zeit zugute gekommen ist, bilden ohne Zweifel die beiden Altarflügel des Francesco Cossai welche den Apostel Petrus und Johannes den Täufer in reichen Landschaften stehend darstellen. Die beiden Bilder stammen aus der Sammlung Barbö-Cinti zu Ferrara, wo sie als Werke des Marco Zoppo oder des Andrea Mantegna augesehen wurden. Auch die mit diesen zwei Bildern sehr verwandte Altartafel in der Nationalgalerie zu London wurde ihrer Zeit dem Marco Zoppo zugeschrieben; ebenso wurden der Name des Mantegna, wie Adolfo Venturi uns mitteilt, sowie später die Namen Cosimo Tura, Lorenzo Costa und Ercole Robert! mit dem Altarbikle in Verbindung gebracht.1)

Aus einer Reihe von Werken, die früher mehr oder weniger verwandten Meistern zugeschrieben wurden, ist es ja erst in neuester Zeit nach und nach gelungen, die markige Künstlerpersönlichkeit des Francesco Cossa klar herauszugestalten. Ich bemerke hier, dass schon Bode im Jahrbuch der K. preuß. Kunstsammlungen VIII, S. 122, zwei einzelne Heilige in reicher Landschaft in Casa Barbö-Cinti zu Ferrara erwähnt und als treffliche Arbeiten des Cossa bezeichnet hat. Gustavo Frizzoni hat in seinem Aufsatz: „Zur Wiederherstellung eines altferraresischen Altarwerkes“2) die Zusammengehörigkeit der beiden Tafeln mit dem bekannten Altarbilde in London, den hl. Hyacinth darstellend, und mit der Predella in der Galleria Vaticana (daselbst noch dem B. Gozzoli zuge¬ schrieben) nachgewiesen. Die bis in die Einzelheiten gehende Identität des Stilcharakters der vier Bilder beweist auch unwiderleglich, dass dieselben ein zusammen¬ hängendes Altarwerk gebildet haben, ln anderen Be¬ ziehungen hat sich der geistreiche Kunstforscher freilich geirrt, namentlich darin, dass das Altarwerk mit dem Triptychon, welches den Altar der Griffoni-Kapelle in

1) Le Gallerie Nazionali Italiane, Roma 1894.

2) Zeitschrift für bildende Kunst, XXIII.

San Petronio geschmückt hat, identisch sei. Als Stütze nachfolgender kritischer Beschreibung dieser für die frühere Ferrareser Malerei ungemein wichtigen Dar¬ stellungen weise ich auf die Reproduktionen hin.

Die beiden Heiligen stehen auf mächtigen Stein¬ quadern einer Felsenlandschaft, je an einen Pfeiler gelehnt. Der Täufer hält in der Rechten ein flatterndes Spruchband, worauf losgerissene Buchstaben, sowie . . . ES. IN DESERTO sichtbar sind. Der dünne Rohr¬ stab in seiner Linken hat oben einen schmalen Cylinder, worin ein Lamm angebracht ist, und ist mit einem Kreuz gekrönt.1) Rote, lustig flatternde Bändchen sind an denselben angebunden. Das mit der haarigen Seite nach innen gewandte und mit einem Weidenband um die Lenden festgehaltene Fell ist an der Außenseite zart violett. Darüber trägt er einen kräftig roten, grüngefütterten Mantel. Der Apostel Petrus hält in der erhobenen Linken die goldenen Schlüssel, die mit roten, flatternden Bändchen zusammengebunden sind, und stemmt mit der Rechten ein offenes, grüngebundenes Buch, in dem er liest, gegen seine Hüfte. Er trägt einen blauen Rock und einen golden-gelblichen Mantel mit scharlach¬ rotem Futter. Die bauschigen, scharfbrüchigen Falten der steifen Gewänder erinnern an Mantegna und Cosimo Tura. Zu den Füßen des Johannes schleicht eine Ei¬ dechse, während auf dem Petrusbild etwas weiter zurück ein pelikanähnlicher Vogel melancholisch am Ufer steht. Die mächtigen Züge des zugleich fesselnden und ab¬ stoßenden, aber stets eigenartigen Künstlers kennzeichnen jeden Zoll der Tafelflächen. Die Kopftypen sind nicht blos ohne Idealität, sie sind bäuerisch und geradezu hässlich zu nennen, was jedoch durch ihre urwüchsige Individualität, sowie durch die scharfe, sehr eingehende, wie in Metall eingravirte Zeichnung reichlich aufgewogen wird. In dem bleichen Gesicht des Johannes bemerkt

1) Ähnlich dem Stabe des Täufers des Ercole Robert! in der Berliner Galerie. Nur dass dieser ein Kruzifix im Cylinder und kein Kreuz oben hat.

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DIE NEUESTEN ERWERBUNGEN DER MAILÄNDER GALERIEN.

man um dis Lippen einen verächtlichen Zug , was uns in derselben Weise hei den Gestalten des Piero della Francesca öfters begegnet. (Sieliez. B. seine thronende Maria, von Heiligen umgeben, in derselben Galerie.) Des Petrus rotes, zusammengepresstes Gesicht erscheint dagegen wie geladen mit Tliatkraft und Willen. Die Kopfform bei

Francesco clel Gossa. S. Pietro.

beiden geht ins Breite und hat, was nach F. Harck dem Cossa eigentümlich ist, starke Backenknochen und ein kurzes, verjüngtes Kinn.1) Im Gesichte des Petrus gewahrt man unzählige zarte Runzeln. Die nackten Glieder des Täufers sind mit einem Netz von Adern

1) Vergl. F. Harck, Die Fresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara. Jahrbuch der k. preuß. Kunstsammlungen V, 116.

übersponnen. Die Hände und Füße beider Heiligen sind klein, fest und kräftig. In Haar und Bart, namentlich in dem kurzen und weißen des Petrus, ist jedes Här¬ chen einzeln angegeben. Die dekorative Ausschmückung der beiden Bilder befremdet durch ihren ausgeprägten bäuerischen Geschmack. Quer über den Kapitalen , die dicht über den Köpfen der Heiligen ansetzen, sind lange Stangen angebracht; auf diesen hängen breite hölzerne Ringe (unseren Serviettenbändern ganz ähnlich) , die untereinander von schweren Perlenschnüren aus mäch¬ tigen Glasperlen und weniger großen Korallenperlen verbunden sind. Ähnliche Schnüre, die in goldenen Quasten endigen, hängen an den Seiten senkrecht herab.1) Diese Stangen, hölzernen Ringe, Glasperlen, flatternden roten Bändchen könnten für den Bauerngeschmack des Künstlers nicht bezeichnender sein. Von den höchst eigenartigen, feingefühlten Landschaften wird man wieder angezogen. Aus phantastisch durchbrochenen Felsen¬ formen bestehend, von reicher Architektur gekrönt und mit allerlei Figiirchen belebt. 2) sind diese besonders charakteristisch für den Meister. Die Landschaft auf dem Johannesbilde ist die reichere. Hier zeigt sich im Vordergründe das wunderliche Gemisch barocker Fels¬ bildungen und gigantischer Überreste von Architektur. In dieser Landschaft, die auch mehr als die andere mit allerlei Figiirchen, Reitern, Fußgängern und kleinen Tieren belebt ist, vertieft sich der Blick in mächtigen dunklen Unterwölbungen oder dringt durch riesige Tunnels, die in den Felsen gebrochen sind. Gegen diese gehalten, erscheint die Landschaft auf dem Petrus¬ bilde ruhiger, einsamer und dabei auch stimmungsvoller. In dem Vordergründe ähnliche Bildungen aufweisend, zeigt sie in der Ferne, namentlich in einem Durchblick links, ein höchst reizendes, von Wasser durcliströmtes Naturbild, dessen Kolorit in gesättigten und doch feinen zartgrauen und weißlichen Tönen gemalt, an Piero della Francesca erinnert.

Wir stoßen hier zum zweitenmal auf diesen Namen. Und in der Tliat : der doppelte Einfluss der Schule des Squarcione und der des Piero della Francesca, welchen schon Bode als gemeinsam für alle Ferraresische.n Künstler der zweiten Hälfte des Quattrocento nachdrücklich betont hat, zeigt sich aufs deutlichste in unseren Bildern.3)

Ich lenke noch die Aufmerksamkeit auf die merk¬ würdige Weise hin, in welcher der Künstler die ver¬ schiedenen Temperamente der Heiligen zur Anschauung gebracht hat, indem er dem cholerischen, thatkräftigen Petrus eine brennendrote Garnation (schon an Mazzolino und Dosso erinnernd), dem der Askese hingegebenen Johannes dagegen eine kränklichgelbe Hautfarbe (auch in den Händen und Füßen durchgeführt) gegeben hat.

1) Ähnliches in dem Londoner Mittelbilde.

2) Eine ähnliche Landschaft auf dem Bilde in London.

3) Jahrbuch der k. preuß. Kunstsammlungen VIII, 125.

DIE NEUESTEN ERWERBUNGEN DER MAILANDER GALERIEN.

185

Und wenn er dann dem bleichen Täufer einen scharlach¬ roten Mantel umgeworfen hat, während der glühende Petrus mit einem gelblichen Gewand bekleidet erscheint, dann geschah es sicherlich, um das koloristische Gleichge¬ wicht in den als Pendants gedachten Bildern wieder herzu¬ stellen. In derselben Absicht hat er auch die Landschaft auf dem Johannesbilde in rosafarbigen und die auf dem Petrusbilde in zarten, grauen, weißlichen Tönen gemalt.

Was die Entstehungszeit der Bilder betrifft, so ge¬ hören sie gewiss zu den frühesten von den uns bekannten Werken Cossa’s. Mit der Santa Conversazione in der Pinakothek zu Bologna können sie sich in großartiger Behandlung der Typen nicht messen, auch stehen sie hinter der Verkündigung der Dresdener Galerie und den Fresken im Palazzo Schifanoia zu Ferrara in entwickeltem Kunstgeschmack zurück. Die Entstehungszeit muss demnach jedenfalls früher als 1469 fallen.1) Das Bild mit dem Johannes ist das besterhaltene, in dem Petrus¬ bilde ist namentlich das blaue Unterkleid sehr beschädigt.

Die Galerie Poldi-Pezxoli.

Seit wenigen Monaten sind in der zweiten Stanza a quadri der Galerie Poldi ohne Nummern oder sonstige Angaben zwei Bildnisse von L. Cranach, Martin Luther und seine Frau Katharina von Bora, aufgestellt. Auf hellblauem Grunde sind die bekannten Züge mit flüs¬ sigen Farben schnell hingeschrieben. Die Carnation röt¬ lich, die zarten Schatten violett, das Haar, obwohl jedes einzelne sichtbar ist, nicht gepinselt, sondern frisch und flüssig hingesetzt. Das eine mit dem Brustbilde Luther’s trägt oben die Inschrift:

ML

IN SILENCIO ET SPE ERIT FORTITUDO VESTRA

Und in halber Höhe links die Jahreszahl 1529 sowie das Monogramm: Drache mit aufrechtstehenden Flügeln. Auf dem anderen mit dem Brustbild Katharina’s steht nur oben die Inschrift:

K. VON BORA SALVABITUR PER FILI ORUM GENERACIONEM

Die Technik ist trotz ihrer elfenbeinernen Glätte von größter Freiheit und Breite, die Bildnisse sind so leicht, flüssig, ohne alle Anstrengung gemalt, dass es wohl berechtigt erscheint, sie als eigenhändige Werke des Meisters zu betrachten. Übrigens kann von dem im Jahre 1515 geborenen L. Cranach dem jüngeren kaum die Rede sein. Scheibler kennt kein Bild von dem Sohn aus einer früheren Zeit als 1537. 2)

Zu derselben Zeit ist in die Galerie ein sehr gutes

1) Vergl. F. Harck a. a. 0., S. 11G und A. Venturi a. a. 0., S. 5.

2) Repertorium X, 300.

Zeitschrift für biideude Kunst. N. F. VII. II 8.

ovales Brustbild einer jungen Frau gekommen. (Ohne Nummer oder sonstige Angaben in demselben Saal auf¬ gestellt.) Das lebensvolle Porträt ist auf graugelbem Grund gemalt. In der Carnation ein bläulicher Ton. Lein¬ wand. Das Bild steht meines Erachtens der seiner Zeit sehr berühmten Malerin Sophonisba Anguissolaam nächsten

Francesco del Gossa. S. Giovanni Eattista.

und stellt, wenn ich mich nicht täusche, ihr eigenes Bildnis dar. Andere Selbstporträts sind in der kaiserlichen Galerie zu Wien (als ganz junges Mädchen), in der Akademie zu Siena, in den Uffizien und noch in manchen Galerien diesseits und jenseits der Alpen. Schon längere Zeit in der Galerie, jedoch meines Wissens noch nicht irgendwo beschrieben, sind noch zwei Bilder, wovon das

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1S6

DIE NEUESTEN ERWERBUNGEN DER MAILANDER GALERIEN.

eine in der zweiten, das andere in der dritten Stanza a quadri aufgestellt ist. Beide noch ohne Nummern oder mit sonstigen Angaben versehen.

Gauden :,io Ferrari. Maria mit dem säugenden Kinde zwischen zwei Engeln. Das dralle nackte Kind fasst der Mutter Brust mit seinen beiden Händchen, und indem es saugen will, blickt es den Beschauer mit kohlschwarzen Augen ernst an. Auch die Mutter sieht gerade aus dem Bilde mit dunklen, ausdrucksvollen Augen heraus; ihr kleiner, runder, lächelnder Kopf ist charakteristisch für Gaudenzio. Die beiden jugendlichen Engel in Profilstellung an den Seiten sind feine Gestalten. Die satten, kräftigen Lokalfarben: Scharlachrot, Grün und Blau, leuchten aus dem tief dunklen Grunde hervor. Ein rötlicher Ton, welcher all dem Nackten einen Kosen¬ schimmer verleiht, im Kleid Maria’s aber glühend wird, beherrscht das Bild. Die Schatten der Carnation sind leicht rußig. Die Ausführung mit Ausnahme der Köpfe ist breit und flüchtig.

Schule des Gaudenzio Ferrari. Die thronende Maria, von Heiligen umgeben. Die auf einem niedrigen Thron sitzende Maria trägt das nackte Christkind auf ihrem linken Knie. Rechts die heilige Katharina von Siena, dem Christkind ihr Herz anbietend, die reich gekleidete hl. Martha mit Aspergillum, Weihwasser- behälter und dem Drachen zu ihren Füßen, links der hl. Petrus Martyr und ein anderer hl. Dominikanermönch. Die Gestalten sind kurzstämmig, plump und im Ganzen vulgär ; die Kopftypen kurz und breit. Trotz der schwärzlichen Halbtöne und Schatten hat das Kolorit Glut und Kraft und ist auch harmonisch zu nennen. Die wenig idealen Gesichtstypen haben schmutzige Schatten in der Carnation, so dass sie einigermaßen an den Veronesen Giolfino erinnern könnten, doch scheint das Bild den Typen und der ganzen Behandlung nach der Frühzeit des Gaudenzio Ferrari so nahe zu stehen, dass das Bild entweder ihm selbst oder einem Nachahmer zuzuschreiben ist. Man vergleiche nur das Bild mit der Vermählung Maria’s im Dom zu Como oder auch sein Temperabild der Kreuzigung in der Galerie zu

Turin (Nr. 371). Wenn ich das Bild mit Bestimmtheit dem Meister selbst nicht zuzuschreiben wage, geschieht es, weil die Typen nicht beseelt genug und besonders, weil die Gestalten zu kurz und gedrückt für ihn erscheinen. In der Galerie Borromeo befindet sich ein kleines Bild, Nr. 142, dem Bramantino zugeschrieben, das vielleicht von demselben Künstler sein dürfte.1)

1) Ich erwähne hier noch ein Miniaturporträt, das jüngst in der zweiten Sala a quadri ausgestellt ist. Es stellt die Halb¬ figur eines Edelmannes dar. Das breite, kräftige Gesicht ist von einem dichten, auf die Brust niederwallenden Bart ein¬ gerahmt. Er trägt ein schwarzes Barett und eine geschlitzte schwarze Jacke, worunter das glühende, weinrote Unter¬ kleid sichtbar wird. Eine feine Halskrause schließt die Jacke oben ab. Die Linke fasst ein zusammengelegtes Dokument. Das Incarnat dieser fein gebildeten Hand leuchtet wie Email. Sie ist mit prächtigen Ringen geschmückt. Rechts oben das Monogramm HE. Links oben JETATIS 30 1559. Man hat dem Bildchen gegenüber an einen Nach¬ folger Holbeins gedacht. Vielleicht könnte es auch fran¬ zösisch sein und von einem Ausläufer der Clouet-Schule her¬ rühren. Ich nenne ferner hier einige Bilder, die, wenn sie auch nicht zu den neuesten Erwerbungen gerechnet werden können, doch erst in den letzten Jahren in die Galerie ge¬ kommen und noch ohne Angaben aufgestellt sind. In der Sala dorata: Kleines Tondo. Maria mit dem Kinde und dem kleinen Johannes. Die Landschaft ein breites, grünes Thal. Umbrisch. In der Art des Pinturicchio. Nach G. B. Villadini, Archivio Storico dell’ Arte 1895, von dem von umbrischen Ein¬ flüssen beherrschten Rafaello da Capponi (?). Maria mit dem nackten Kinde auf dem rechten Knie sitzend. Das Haar Maria’s rötlich. Sie trägt einen roten Rock und blauen Mantel. Blaue Ferne mit niedrigen Bergen. Die Brust tritt aus einem zirkelrunden Ausschnitt im Rock kugelrund her¬ vor. Die Maria sehr lieblich, das Kind aber eher hässlich. Mailändische Kunstkenner haben an die Jugendzeit Boltraffio’s gedacht. Die Typen und Formen von denjenigen Boltraffio’s jedoch ziemlich abweichend. Auch im Ganzen zu schwach. In der Sala nera: ein schönes frühes Bild des Bernardino Luini: die Kreuzesaufrichtung. In der zweiten Sala a quadri (über dem Tobiasbilde des Luini): Die Halbfiguren Maria’s mit dem Kinde in ihren Armen. Grüner Grund. Schönes Frühbild Giampetrino’s.

EMIL JACOBS EN.

JUGENDZEICHNUNGEN VON GOETHE.

MIT ABBILDUNGEN.

In Nr. 16 hat die Kunstchronik ihren Leserkreis auf die jüngste Veröffentlichung der Goethe-Gesell¬ schaft aufmerksam gemacht, welche die Kenntnis der Handzeichnungs- Sammlungen des Dichters, vor allem der von seiner eigenen Hand ent¬ worfenen Blätter, in weiteren Krei¬ sen verbreiten will. Die Frage nach Goethe’s Kunstübung, nach dem Grade der von ihm erreichten Ausbildung, ist neuerdings an verschiedenen Orten besprochen worden.

Volbehr’s treffliches Buch ') hat hierfür eine feste Grundlage bereitet, namentlich durch die Schil¬ derung des heimatlichen Bodens, von den Kunstanschauungen und Künstlern, denen der junge Goethe im Vaterhause begegnete und seine ersten Eindrücke auf dem Gebiete der Kunst verdankte. Einige Blät¬ ter aus jener Frühzeit hat das Album der Goethe-Gesellschaft mit¬ geteilt, meist landschaftliche Ver¬ suche : aus einem Gebiete, das Goethe über vierzig Jahre lang mit Vor¬ liebe pflegte, und dem auch alle die Blätter angehören, die er in seinem langen Leben an Freunde verschenkte. Dass er in jüngeren Jahren Freunde und Freundinnen zu porträtiren liebte, wusste man aus Tagebüchern und Briefen, aber bekannt war fast nichts. Als Figurenzeichner kennen wir ihn eigentlich erst, seitdem sich das

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1) Goethe und die bildende Kunst von Dr. Th. Volbehr. Verlag von E. A. Seemann in Leipzig. 1895.*

Kopf einer jungen Frau. Stiftzeichnung von Goethe.

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Junge Dame am Sinnett. Federzeichnung von Goethe.

JUGENDZEICHNUNGEN VON GOETHE.

189

Weimarer Goethehaus geöffnet hat und die Mappen eigener Zeichnungen einer Durchsicht unterzogen wurden, die neben Hunderten von landschaftlichen Skizzen eine kleine An¬ zahl von Studien nach dem Leben, Entwürfe von Genre¬ kompositionen u. dergl. enthielten. Ein Convolut, solcher hatte Goethe in späteren Jahren in einem Umschläge mit der eigenhändigen Aufschrift „Iuvenilia“ vereinigt, und wir werden nicht fehlgehen, wenn wir sie in die Zeit vor der Übersiedelung nach Weimar, etwa in die Jahre 1765 1775 verweisen.

Volbehr meint, die Frankfurter Kunst jener Zeit habe sich mit Darstellungen der anspruchslosen Welt begnügt, die man als die eigenste Domäne der nieder¬ ländischen Kunst zu betrachten gewohnt ist, aber ganz war französischer Einfluss darum nicht ausgeschlossen. Seekatz, Juncker, Nothnagel malten ihre Bilder nicht als blinde Nachahmer der Holländer, sondern traten mit offenen Augen der Natur selbst gegenüber. Die besten Belege haben wir in ihren ab und zu erhaltenen Studien und Skizzen, die oft durch gesunde Beobachtung und treue Wiedergabe überraschen, während das mühevoll vollendete Bild diesen frischen Beiz verlor und uns darum kalt lässt. „Die himmlischen Staatsaktionen des fran- zösirten Olymps“ zogen sie freilich nicht an, aber die jenseits des Bheines versuchte Bückkehr zur Natur, wenn auch zu einer Natur im Gewände des Schäferidylls, sagte ihnen schon eher zu. Watteau, Chardin, Boucher waren von den Frankfurtern mit Nutzen studirt worden; Seekatz hatte nicht allein aus dem Familienbilde des Herrn Eath Goethe eine richtige bergerie mit Schäfer¬ stab und Lämmern gemacht, sondern die flüchtigen Ent¬ würfe des Bildes glichen so sehr Watteau’schen Zeich¬ nungen, dass Schuchardt sie im Katalog von Goethe’s Sammlungen kurzer Hand dem Franzosen zuwies Ebenso sind die Naturstudien des Goethe befreundeten Georg Melchior Kraus den Zeichnungen seines Lehrers Boucher mehr als einmal zum Verwechseln ähnlich.

In dieser Umgebung sind die im Goethe-National¬ museum bewahrten Jugendzeichnungen des Dichters ent¬ standen, von denen wir hier drei Proben in getreuen Nachbildungen darbieten. Was ihnen trotz der ver¬ schiedenen Ausführung gemeinsam, ist das enge, durch klare Beobachtung erreichte Anschmiegen an die Natur. So wie diese junge Dame am Spinett hat Cornelia Goethe oft vor dem Bruder gesessen; wenn wir uns den Kinderfreund in dem Buffschen Hause zu Wetzlar denken, so wml er mehr als einmal am Anblick von heiteren Gruppen sich erfreut haben, wie sie die Both- steinskizze uns zeigt. Wie das Erlebte sich zum Lied,

zur Novelle, zum Drama gestaltet, so will der Dichter auch das Gesehene, wenn auch nur mit wenigen Strichen, auf dem Papiere festhalten. !) Wäre uns, namentlich aus den frischen, unbefangenen Jugendjahren, mehr er¬ halten geblieben, so hätten solche Skizzen zu einem bildlichen Tagebuch sich gestaltet; Blätter, wie die vor¬ liegenden, lassen das viele Verlorene nur um so lebhafter vermissen. Schuld daran war zum großen Teil die von Goethe so hübsch geschilderte Neigung, seine Zeich¬ nungen auf irgend einem, oft schon beschriebenen Stücke Papier, auf dem Bande eines Korrekturbogens, zu ent¬ werfen; was so entstand, schien kaum des Aufbewalirens wert, um so weniger, als er in späteren Jahren, nament¬ lich von der italienischen Beise ab, kaum mehr etwas anderes als Landschaften zeichnete. Die kleine Anzahl der aus frühester Jugendzeit erhaltenen Blätter die Ansichten Frankfurter Gebäude, die Treppe im Vater¬ hause, ein Stillleben, auf dem sogar die Maus nicht fehlt,1 2) verdanken wir wohl der Ordnungsliebe des Vaters; andere hatten sich unter Skripturen verirrt und blieben so erhalten.

Über die hier nachgebildeten Blätter mehr zu sagen, ist kaum nötig. Die Klavierspielerin erinnert in der zeichnerischen Behandlung mit ihren flüchtigen, aber doch sicheren Schraffirungen an die bekannte Ansicht von Goethe’s Arbeitszimmer; die Kindergruppe in der Fenster¬ nische ähnelt manchem Blatte vom französischen Tisch¬ bein oder Kraus. Für den zart entworfenen Kopf der jungen Frau in der Haube finden wir verwandte Gegen¬ stände unter den Zeichnungen und Badirungen, die Cho- dowiecki um dieselbe Zeit nach Damen seines häus¬ lichen Kreises entwarf. Wahrlich ein nicht zu unter¬ schätzendes Lob für die künstlerischen Versuche des jungen Frankfurter Dichters.

Vielleicht kann bei Gelegenheit auf die Entwicklung hingewiesen werden, die Goethe’s Begabung für figür¬ liche Darstellungen in der Folgezeit genommen : wie er in Leipzig sich an Scenen aus dem Malade imaginaire oder dem Eoman comique versucht, wie dann unter Fiissli’s Einfluss phantastische Hexenscenen entstehen, bis er noch später mehrmals die Erscheinung des Erd¬ geistes im Faust entwirft. Alles nur kleine Mosaik¬ stifte zu dem reichen Lebensbilde des Dichters, aber als solche doch immerhin nicht ohne Wert.

1) Nur einmal verbindet sich beides: in der lieblichen Zeichnung Christianens und dem Gedichte „der Besuch“. (S. Goethe-Jahrbuch, XV. Band.)

2) Vgl. Wahrheit und Dichtung, IV. Buch.

G. RU LAND.

< Ein fef h QBuvg tff unfer <Bo tt.

^ in f'ejle 2>urg ifl unfcr ©oft, igin gute Wehr unö Waffen, t£r t>tlfc uns frei aus aller not, iDie uns itjt bat betroffen.

3Dcr alt’ bofe 5cinb XTiit CE rnfl er’s itjt meint,

©roß iTiacbt unö viel £ijf Sein graufam Äufhmg tfr.

2luf f£rö’ ifl nicht fein’s ©lcid)cn.

XTJit unfcr Wacht ift nichts getban, XT>ir finö gar balö verloren,

♦gs ffreit’t für uns Öcr rechte Wann, iDen ©ott bat felbs erforen.

^ragft Öu, wer Öcr ifH igr beißt >fus Cbrift IDer <ocrr 3ebaotb Unö ift fein anöcr ©ott,

«Das ^clö muß er bebaken.

Unö wenn Öic XX^clt voll Xcufcl rv&i Unö tvollt’ uns gar vcrfcblmgcn,

So furchten rvir uns mebt fo febr, <ge foll uns Öocb gelingen: iDcr ^urft öiefer Welt,

XPie fau’r er ficb ficllt, ilbut er uns Öocb nichts,

5Dae macht, er ift gencbt’t,

<gm Wortlein fann ibn fallen.

iDas Wort fic follcn laffen ftabn,

XI fein iDanf öaju haben.

r ift bei uns tcobl auf Öem Plan XTiit feinem ©eift unö ©aben. Hcbmcn fie Öen £cib,

©tit, CE bd, 2Mnö unt> Weib:

£aß fahren Öabm,

Sie baben’s fein ©ctvmn,

2)as JXeicb muß uns öocb bleiben.

tfovf & Mittel in 2.eivji3.

Stuflblätter tTr. i 5ei*nunö nen Cjofevl) Sattler

KLEINE MITTEILUNGEN.

Neue Flugblätter. Die moderne Kunst, d. b. die, welche sich in Gegensatz zu der alten stellt, kann sich heute nicht mehr beklagen, dass es ihr an Hilfsmitteln fehle, in die breiten Schichten des Volkes einzudringen. Erst wurde ihr ein Tempel erbaut im „Pan“, einer Kunstzeitschrift, welche gewissermaßen die künstlerischen Leckerbissen der ganzen Welt zu serviren sich vornahm. Freilich war das Menu oft nicht nach dem Geschmack des Publikums, ja nicht einmal der Genossenschaft selbst, welche das Allerfeinste, la creme de l’art, erwartete und zu dem sauersüßen Gemisch, das ihr vorgesetzt wurde, ein entsprechendes Gesicht machte. Die Hoffnung, welche durch die in internationaler Sprache ge¬ schriebene Speisekarte erweckt worden war, hat sich leider nicht erfüllt; die, denen die Zubereitung widerstand, riefen nach weniger gemischter Speise, und die beiden Obermund¬ köche wurden rasch ihrers weißen Weltpriestergewandes ent¬ kleidet. Es kamen neue, welche weniger scharf mit Valloton oder Lautrec würzten und man machte bald die Entdeckung, dass die heimischen Apfel doch schließlich den Mixed pickles und den süßen Bananen des Auslandes vorzuziehen seien. Neuerdings hat man den Preis des trockenen Gedeckes von 75 M. doch ein wenig hoch gefunden; er wuide nunmehr auf GO M. ermäßigt, in der Hoffnung, dass sich jetzt die doppelte Anzahl Hungriger zu Tische setzen würden. Hoffen auch wir, dass hier, dem Sprichwort entgegen, der Wirt die Rechnung nicht ohne die Gäste gemacht hat. Aber der „Pan“ bietet, obwohl er vor den halb verachteten heimischen Penaten nun reuevoll niederkniet, kein Volksnahrungsmittel; hier wurde ja von vornherein Kunstkaviar versprochen. Der modernen Bewegung sind aber eine Anzahl Volksspeise¬ häuser errichtet worden, in denen das kunsthungrige Publi¬ kum für menschliche Preise auch der neuen kulinarischen Offenbarungen teilhaft werden kann. In München erschien die „Jugend“, eine wöchentliche humoristische Zeitschrift, in der sich auf einmal eine ganze Reihe tüchtiger moderner Zeichner bethätigen konnten; ferner der „Simplicissmus“, der noch entschiedenere Jünger moderner Kunst und noch extremere Neoschriftsteller beschäftigt. Dort werden, wie der bis zum Überdruss citirte, aber kaum gelesene Nietzsche sagte, die Werte umgewertet, denn es heißt nun auf einmal: Schön ist hässlich, hässlich schön. Das Volk soll verbrennen, was es ehedem angebetet hat und anbeten, was es sonst ver¬ brannte. Bisher sah man die Kunstveieinsmitglieder oft ratlos zweifelnd, oft entrüstet einzeln oder zu Gruppen vor den Bildern der „neuen Richtung“ stehen; und da sie sich vielfach abwenden, verabreicht man jetzt dem ganzen Volke in Zehnpfennigportionen neue Richtung und neue Dichtung, die ihnen oft nicht besser zu munden scheint als heilsame Medizin. Wohin man blickt, Widerspruch, Kampf und Zwie¬ spalt. Eine eklatante Demonstration gab beispielsweise kürz¬

lich der Hamburger Kunstverein, der sich nach einigem Wetterleuchten in der Presse plötzlich gewitterschwer zu¬ sammenballte und ein Scherbengericht abhielt, um sich gegen die neuen Rezepte zu wehren, die in Kunstangelegenheiten ■jetzt verordnet sind. Zwar gänzlich verdammen wollte die Majorität den neuen Verjüngungstrank nicht, aber ihn doch nach des alten Hahnemann Rezept lieber in der dritten Verdünnung und in homöopatischen Dosen genießen. Die Vor¬ gänge in München, Berlin, Düsseldorf, Dresden, Hamburg erinnerten oft an die Bayreuther Musikschlachten, wo die heftigsten Reden geführt wurden und die Tinte in Strömen floss. Und wie ehedem Gotik und Renaissance miteinander stritten und die erstere noch lange im Volke fortlebte, als der neuen Kunst schon der breiteste Raum erkämpft war: so kämpfen heute alte und neue Richtung, altes und neues Gefühl, alte und neue Technik. Wenn nun der „Pan“ den Angriff mehr mit den Kanonenkugeln der Gelehrsamkeit führt, um die neue Ara durchzusetzen, sind die neuen Zeit¬ schriften viel beweglichere Truppen. Sie münzen die künst¬ lerischen Begabungen in viel kleinere, aber rascher um¬ laufende Stücke aus. Ein ähnliches Unternehmen, das der neuen Kunst dient, aber sie mit alter Dichtung verschmilzt, hat die Firma Breitkopf & Härtel unternommen. Sie giebt eine Anzahl Flugblätter heraus, die ihr Vorbild in den alten Holzschnitten haben, wie sie Hans Sachs oder Dürer ihren Zeitgenossen darboten. Es ist bekannt, wie begierig in früheren Jahrhunderten das Volk danach griff, wie sorgfältig dergleichen bewahrt und betrachtet wurde. Die alte Ge¬ wohnheit der Deutschen, bei Zusammenkünften gemeinsame Volkslieder zu singen, bot den Anlass zur Herausgabe dieser Blätter. Sie sind bestimmt, bei besonderen Gelegenheiten verteilt und abgesungen zu werden. Den Anfang macht das alte Kraftlied Luther’s „Ein feste Burg ist unser Gott“, wo¬ zu Joseph Sattler eine effektvolle Einrahmung geschaffen hat. Die kernige Ausdrucksweise des Reformators und die an alten Mustern gebildete Zeichenkunst Sattler’s gehen gut zu¬ sammen. Nicht minder gut passt Willi. Steinhausen' s empfindungsreicher Griffel zu dem Weihnachtsliede: „Vom Himmel hoch da komm’ ich her“. Andere Blätter haben Alex. Frenz (Lorelei, Das Herz am Rhein), F. Boehle (0 Haupt voll Blut und Wunden), Rocholl (In einem kühlen Grunde), Hans Volkmann (Jägers Abschied, von Eichendorff), Kurv. Meyer (0 Tannenbaum) gezeichnet. Von Josef Sattler rühren noch die Umrahmungen zur Wacht am Rhein und zu dem alten Neujahrslied (Des Jahres letzte Stunde) her, sowie ein lapidarer Bismarckkopf zu Warncke’s Bismarcklied. Gerade in den letzten Blättern Sattlers offenbart sich wieder ein großes Können und eine künstlerische Energie, die um so eher anspricht, je mehr sie die alten Vorbilder zu vergessen sucht. Jedes dieser eigenartigen Blätter ist für zehn Pfennige

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KLEINE MITTEILUNGEN.

käuflich, und in großen Partieen geben die Verleger die illustrirten Liedertexte noch wohlfeiler ab. Es ist ein echt deutsches Unternehmen und ein echt volkstümlicher Ge¬ danke, der da verkörpert wird. Wenn die Flugblätter ihrer Bestimmung gemäß Eingang ins Volk finden und dadurch hinreichend Boden gewinnen, um zu wurzeln, so können sie viel wirken. Sn.

von Prof. Krauskopf in Karlsruhe und pflegt Radirung und Steinzeichnung. Das Motiv des Blattes stammt aus der Heimat des Künstlers, Wollishofen bei Zürich.

Zu der Heliogravüre. Mit der diesem Hefte beige¬ fügten Heliogravüre nach Herrn. Prell’ s Urteil des Paris lösen wir das im letzten Hefte gegebene Versprechen ein. Das Blatt ist auf S. 159 besprochen.

Breitkopf & Härtel’s Flugblätter Nr. 6 : Nun danket alle Gott. Zeichnung von Wilhelm Steinhauses.

Hermann Gattiker , der Urheber der beiliegenden Original¬ radirung „Der Sommer“ wurde am 12. März 1869 geboren, besuchte erst die Kunstgewerbeschule in Zürich und kam später nach Dresden, um an der dortigen Akademie zu studiren. Er studirte aber die Landschaft lieberauf eigne Faust, und da er für die koloristischen Experimente der neuesten Kunst keine Neigung empfand, verfiel er, durch einen Vor¬ trag über Radirkunst, den er zu halten hatte, veranlasst, auf die graphischen Techniken. Gegenwärtig ist er Schüler

Berichtigung. Herr E. Kubierschky ersucht uns um die berichtigende Ergänzung der biographischen Notiz auf Seite 168, dahin gehend, dass nicht sein Vater, sondern sein Großvater Landmann und Gastwirt gewesen ist. Der Vater des Malers war dagegen Feldmesser und um 1848 eine Zeit lang Offizier. Er pflegte die schönen Künste und übertrug die Neigung zur Musik und bildenden Kunst auf den Sohn.

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Herausgeber: Carl ran Lütxoiv in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

Hermann Prell pinx

Heliogr. von J. Blechinger.

PARIS URTEIL

Verlag vE.A. Seemann, Leipzig.

Druck v Jul Wolf, Leipzig.

Druck v Jul. Wolf, Leipzig.

WAoSFIR

Bildnis Camille Corot’s.

ZU COROT’S HUNDERTSTEM GEBURTSTAGE.

VON FRANZ HANCKE- ELBERFELD.

MIT ABBILDUNGEN.

IE großen Auktionen der letzten Jahre brachten wiederholt hervorragende Kunst¬ werke an das Tageslicht, von denen vorher niemand wusste oder wenigstens niemand sprach. Eine der interessantesten Versteigerungen aus unserer Zeit war die „Vente Secretan“ zu Paris im Jahre 1889; ihr hat der wunderbare Verkauf des „Angelus“ von Millet die Sig¬ natur aufgedrückt. Aber die ehemalige Sammlung Secretan barg noch manches andere Meisterwerk moderner Malerei: die 24 Meissonier’s, 6 Rousseau’s, 7 Troyon’s, 4 Corot’s, die Daubigny, Diaz, Dupre kann man nicht vergessen. Unter den Bildern von Corot befand sich sein berühmtes, letztes Bild „Biblis“1), das unter dem Hammer in den Besitz des Herrn Otlet überging. Der Käufer stellte es im „Palais des beaux-arts“ der Weltausstellung aus, wo man es mit den anderen Gemälden Corot’s ver¬ gleichen konnte. Man wollte nicht glauben, dass „Biblis“ die Leistung eines Greises von 78 Jahren war, so jugend- frisch sah das Bild aus, so ganz dieselbe Handschrift hatte es, wie seine früheren. Mit Recht schrieb damals die „Gazette des beaux-arts“: „Heute kann man sehen, wie lange die Jugend Corot’s dauerte. Er hatte das Vorrecht, nicht zu altern; sein Leben war eine ständige

1) Kurz vor seinem Tode vollendet und erst nach dem¬ selben, im Salon von 1875, ausgestellt.

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 9.

Erneuerung. Die Kunstgeschichte bietet wenig Beispiele eines so langen Frühlings“.

Sollte jemand bis dahin an Corot’s Größe gezweifelt haben, so wurde er durch die 1889er Ausstellung eines Besseren belehrt. Seine 44 Gemälde bedeuteten einen glänzenden Triumph.

Und doch war jene Ausstellung, so ehrenvoll sie für den Künstler gewesen, nur ein Vorspiel für das große Fest, das man im Begriff ist, ihm zu weihen. Am 28. Juli 1896 wird der hundertste Geburtstag Corot’s in Paris gefeiert. Auch bei uns in Deutschland pflegt man neuerdings Malern zu Ehren Festlichkeiten zu begehen; aber es ist eine traurige Erscheinung, dass für so manchen großen deutschen Künstler sein Stern gar bald nach seinem Tode erblasst ist. Nur allzu oft nehmen sie ihren Ruhm ins Jenseits mit.

Zwanzig Jahre schon sind vergangen, seit Corot zum letztenmale den Pinsel führte; aber noch heute lebt er im Gedächtnis der Wenigen, die ihn persönlich kannten, der Tausenden, welche ohne ihn je gesehen zu haben ob seiner unsterblichen Kunst sich zu ihm hingezogen fühlen. Je mehr man sich mit seinen Werken beschäftigt, um so mehr muss man ihn bewundern; je tiefer man in sein Leben eindringt, desto inniger kann man ihn lieben.

Eine stattliche Zahl von Festteilnehmern hat sich gemeldet. Es beteiligt sich die Stadt Paris, in der er

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ZU COROT’S HUNDERTSTEM GEBURTSTAGE.

geboren war und der er, bis auf kurze Unterbrechungen, sein ganzes Leben hindurch angehörte. Hand in Hand gehen einers sine Freunde und Schüler, andererseits iwmi, welche auf ihren Corot stolz sind, und die Amateurs, die mit dem »Stolz auch die Freude an dem Besitz verbinden. Paris stiftet ihm ein Denkmal, der Magistrat hat für eine Kollektivausstellung seiner Werke den Saal des ..Musee Galliera“ zur Verfügung gestellt, die Besitzer seiner Bilder geben ihre kostbare Habe be¬ reitwillig hin, damit keine seiner Schöpfungen bei dem glänzenden Akte der Verherrlichung fehle.

Eröffnet ist, das Fest durch eine Schrift1), welche soeben unter dem Titel „Album classique des chefs d’oeuvres de Corot“ bei Braun in Paris erschienen ist.

schaft vortrefflich wieder. Wer seine Bilder kennt, wird durch die Reproduktionen an die schönen Stunden er¬ innert, die er durch sie erlebte; und wer nie das Glück hatte, ein Gemälde Corot’s zu sehen, bekommt durch die Abbildungen eine Ahnung von der Poesie seiner Land¬ schaften. Die Auswahl der Bilder verrät einen feinen Geschmack. Zwar fehlt die „Biblis“; aber dafür wird man durch „Matinee“ im Louvre, „Bain de Diane“ in Bordeaux, „Danse des Nymphes“, „Orpheus und Eurydice“, reichlich entschädigt. Das erste Blatt zeigt das Por¬ trät Corot’s, dann folgen in bunter Reihe 8 Figurenbilder und 31 Landschaften.

Die Biographie des Künstlers stammt aus der Feder des bekannten Pariser Kunstschriftstellers L. Royer-

Das Schloss von Wagnouville, von C. Corot.

Die Festschrift besteht aus zwei Teilen, einer Zusammen¬ stellung von vierzig Wiedergaben der besten Bilder Corot’s in Lichtdruck und einer kurzen, interessant geschriebenen Lebensgeschichte des Meisters. Die Ab¬ bildungen sind technisch sehr gut, für Buchillustrationen mustergültig ; sie geben den Reiz der Corot’schen Land-

1) Dies ist der erste Band eines Cyklus von kleineren, reich illustrirten Monographieen zum Durchschnittspreise von 4 M. Der zweite Band der „Petite bibliotheque de vulgari- sation artistique“ wird demnächst unter dem Titel „Le musee de Versailles“ erscheinen und, außer 112 Reproduktionen der hervorragendsten Gemälde zu Versailles, einen Text von Perthe und Nelhac Konservator des Museums enthalten. Als fernere Fortsetzung sind Arbeiten über Botticelli und Millet in Aussicht genommen.

Miles1). Dieser Schrift entnehmen wir, falls nicht eiue andere Quelle angegeben ist , den Inhalt der folgenden Zeilen.

Camille Corot wurde am 28. Juli 1796 zu Paris geboren. Er ist also ein Kind des 18. Jahrhunderts, aber aufgewachsen unter dem Einflüsse eines gemachten Altertums: das Direktorium wollte Athen, das Kaiser¬ reich Rom nachalnnen. Corot’s Eltern waren einfache

1) L. Royer-Miles, geboren zu Paris im November 1859, seit langer Zeit Professor an der Universität zu Paris. Von seinen Arbeiten über Kunst sind Michelangelo, Millet, Charles Jacque, Meissonier, die Einführung in die Kunstgeschichte (5 Bde.) bekannt. Demnächst erscheint von ihm „Die Schule von 1830“ (in 4 Bdn.). Außerdem hat er eine große Zahl kleinerer philosophischer und ästhetischer Schriften verfasst.

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ordentliche Bürgersleute. Sein Vater war städtischer Be¬ amter, seine Mutter besaß ein Putzgeschäft. Er besuchte in Paris eine Vorbereitungsschule und dann von 1807 bis 1812 das Gymnasium zu Rouen. Hier hatte er, als Sohn eines Beamten, Freischule. Corot stand auf dem Gymnasium nicht besonders gut. Das geregelte Pensions¬ leben beeinträchtigte seinen empfänglichen Geist. Er war wenig begierig, sich vor seinen Mitschülern auszuzeichnen und hat nie eine Prämie davongetragen. Dagegen ar¬ beitete er für sich die alten Klassiker durch und prägte sich die poetischen Gestalten der antiken Mythologie ein. Er wollte Maler werden; aber der Vater, der ein Vor¬ urteil gegen diesen Beruf hatte, ließ den Gedanken daran lange Zeit nicht aufkommen. So wurde Corot zunächst

ihm gestattet, „Künstler“ wie die Eltern verächtlich sagten zu werden, wozu ihm der alte Herr monat¬ lich 100 M. geben wollte, mit der ausdrücklichen Ver¬ sicherung, die Summe nie zu erhöhen. In der Nähe des Geschäftes seiner Mutter, am Ufer der Seine, richtete er sich ein Atelier ein und begann seine ersten Studien. Die Ladenmädchen der Mutter sahen ihm spöttisch zu; nur eines derselben, Fräulein Rosa, fand an seinen Ar¬ beiten Gefallen. Sie kam öfters an seine Staffelei und hat ihm ihre Anhänglichkeit lange bewahrt. Nach 35 Jahren erzählte Corot, dass sie noch manchmal in seinem Atelier gewesen. „Meine Kunst hat nicht gealtert; sie bleibt ewig jung. Aber Fräulein Rosa und ich, wir haben uns verändert.“ Übrigens war dieses Mädchen

Eine Matinee, von C. Corot.

Kaufmann und trat als Lehrling in das Tuchgeschäft von Delalain in der rue Saint-Honore ein. Hier hatte er wenig Glück Konnte er schon nie lernen, ein Packet zu verpacken oder ein Stück Ware in das Regal fort¬ zuräumen, so hatte er später, als er, mit dem Muster¬ kasten unter dem Arm, die Kundschaft besuchen sollte, erst recht keinen Erfolg. Corot als Stadtreisender! Sein Prinzipal hat es ihm nicht so sehr verargt, dass er wenig verkaufte, als dass er zu Beginn jeder Saison statt der alten Ladenhüter stets die neuesten Moden Be¬ gab „drap olive, au moment meine, les draps de cette conleur faisaient fureur“.

Nachdem Corot fast 10 Jahre bei Delalain aus¬ geharrt, wurde er endlich befreit. Ein Familienrat er¬ klärte Camille für „unfähig zu arbeiten“. Es wurde

das einzige lebende Wesen aus dem elterlichen Hause, das sich mit Corot’s Berufswechsel ausgesölint hat. Seine Eltern selbst, die „Seiten verwandten“, wie er sie nannte, betrachteten seine Kunst noch immer misstrauischen Blickes, als er schon auf seinem Zenith angelangt war. Als der 70jährige Greis 1866 einige Freunde und Schüler zum Frühstück bei sich sah und man ihm die Schüssel mit dem jungen Huhn zuerst reichte, meinte er (jedoch ohne Bitterkeit und Ironie): „Bedienet euch nur; seit ich nicht mehr „drap olive“ verkaufe, wird mir in meiner Familie stets zuletzt servirt“.

Doch lassen wir die Urteile seiner Eltern und auch die des Fräulein Rosa auf sich beruhen und kehren wir zu seiner Staffelei zurück. So groß das Talent ja das Genie Corot’s gewesen, so hat auch er sich nicht

Landschaft, von C. COROT. Louvre, Paris,

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aus sich selbst entwickelt. Zuerst zwar malte er, un¬ bekümmert um irgend welche Richtung, was er gerade sah, Himmel, Wasser, Erde, die Seine etc..; aber bald befand auch er sich unter dem Einflüsse anderer Maler nnd zwar lange Jahre unter sehr ungünstigem Einflüsse. Es herrschte damals in Frankreich die historische Land¬ schaft. Valenciennes und Perthes predigten die Nach¬ ahmung Poussin’s und Claude le Lorrain’s; in wissen¬ schaftlichen1) Arbeiten wurde die Landschaftsmalerei in „paysage liistorique“ und „paysage cliampetre“ eingeteilt, man schied einen „style cliampetre“ vom „style liistorique“. Valenciennes hat das zweifelhafte Verdienst, den prix de Rome für die stilisirte Landschaft eingeführt zu haben.

Perthes sagt am Ende seiner Schrift: „Die Grundbedingungen für den Landschafter sind die Zeichnung und die Linienperspektive. Für die figürliche Staffage ist die Kenntnis der Antike erforderlich“.

Eine historische Landschaft hatte Corot’s Jugendfreunde Michal- lon den prix de Rome eingebracht, und Michal- lon kehrte kurz nach Corot’s Austritt aus dem Geschäft (1822) sieges¬ bewusst aus Italien zu¬ rück. Sein Einfluss auf den jungen Maler ist unverkennbar. W enn Michallon auch bald nach seiner Rückkehr starb2), so hat er ihm jedenfalls den Weg zu dem Hauptvertreter des Klassicismus, zu Victor Bertin, gewiesen. Corot geht zur stilisirten Landschaft über. Kurze Zeit bleibt er noch in Paris, dann sucht auch er den klassischen Boden auf und begleitet (1825) Bertin nach Italien. Hier traf er mit vielen französischen Künstlern, Eduard Bertin (Vietor’s Bruder), Dupre, Cabat, Bodinier, Aligny zusammen. Ängstlich und. zurückhaltend, wie er immer war, verkehrte er nicht viel mit ihnen, sondern blieb

1) Valenciennes: „Traite elementaire de perspective pra- tique“. Perthes: „Theorie du paysage“.

2) Nach ltoyer-Miles starb Michallon im Jahre 1824, nach Paul Mantz schon 1822; doch nennt auch Mantz ihn Corot’s ersten Lehrer.

mehr allein. Aber ihre Lehren befolgte er gehorsam. So suchte er seinen Stil zunächst in der Zeichnung, in großen, bestimmten Linien. Wenn der Morgen graute, ging er hinaus, nistete sich zwischen den Ruinen ein und zeichnete die alten Gemäuer und die Trümmer der Säulen immer und immer wieder, schließlich mit der Sicherheit des Architekten. Aus den Skizzen setzte er dann Bilder zusammen und konnte nun, wie seine Lehrer, stilisirte Landschaften nach Hause bringen. Das erste Bild, das er im Salon ausstellte, „Narni“ (1827) war ein Resultat dieser Instruktion. Aber Corot gehörte nur in den Sujets, in der Wahl des Vorwurfs, in der Art zu komponiren,

der klassicistisclien Richtung an. Das Hand¬ werkliche der Kunst hatte er von jenen Mei¬ stern gelernt, die Kunst selbst verdankte er sich. Schon damals, als er von den Genannten be¬ einflusst war, unter¬ schied er sich gewaltig von ihnen. „Aligny’s Bilder sagt Charles Blanc waren hart, mühevoll, schwerfällig, feierlich, hochtrabend in den Linien. Corot’s Landschaften sind we¬ niger abgebrochen, all¬ mählicher entwickelt, mehr durchdrungen von Lebenswärme. Es ist noch nicht das Leben, welches später in jeder Pflanze, in jedem Blatte Corot’s sich regt; es ist ein all umfassendes Le¬ ben, das unter den Far¬ bentönen der Natur at¬ met, wenn das Licht sie belebt. Corot hatte vor Aligny und Victor Ber¬ tin etwas voraus: die Liebe. In seiner erregten Seele spiegelte sich alles harmonisch wieder.“

Dieses Lob ist aber kein absolutes. Nur im Hin¬ blick auf die anderen Klassicisten kann man den Erst¬ lingswerken Corot’s Geschmack abgewinnen. Im Vergleich mit seinen späteren Arbeiten haben jene stilisirten Land¬ schaften keinen Wert. Das sollte er selbst bald er¬ fahren. 1835 war er wieder in Italien und sandte zwei Bilder nach dem Salon, „Morgen“ und „Abend“, welche wohl im Allgemeinen gefielen, die aber eine sehr scharfe Kritik erfuhren. Lenormant schrieb damals: „Corot redet in seinen Landschaften die Sprache des Stammlers. Seine

Nymphentanz, von C. Corot.

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Darstellungsweise ist schwer und matt. Die Bewegung der Bäume, die Feuchtigkeit in der Luft, der Reiz der einfachen Natur sind ihm noch fremd“. Wie war es möglich, dass in Paris, wo der Klassicismus florirte, ein derartiges Urteil gefällt wurde?

Im Jahre 1828 war Bonington gestorben; er teilt mit seinem Landsmann Constable das Verdienst, die eng¬ lische Landschaftsmalern nach Frankreich gebracht und den Klassicismus untergraben zu haben. „Im Jahre 1824 so schreibt die „Gazette des beaux-arts“ 1889 ging das große Licht auf. Die Engländer hatten den Weg nach Frankreich gelernt; sie zogen im Louvre ein: Constable hat drei Bilder, ihnen schlossen sich die Ge¬ mälde und Aquarelle von Bonington, Copley Fielding, Härtling, Samuel Prout an. Was konnten Bidault und Watelet gegen ein solches Bataillon von Koloristen tliun? Nach dem Erfolge der neuen Ankömmlinge führten die älteren französischen Landschafter ein trauriges Dasein. Gänzlich unbekannt mit den großen Holländern, hatten die Unglücklichen nicht bemerkt, dass für jede Land¬ schaft ein bestimmter Himmel erforderlich ist. Constable lehrte sie, dass eine Landschaft erst ausdrucksvoll wird, wenn sie vom Himmel einer bestimmten Stunde und einer bestimmten Jahreszeit beleuchtet ist.“

Der Eindruck Bonington’s und Constable’s auf die jungen französischen Landschafter war außerordentlich. Sie begannen, die Holländer des 17. Jahrhunderts, Ruysdael, Cuyp, van de Velde, Hobbema zu studiren; indem sie sahen, dass diese großen Meister aus¬ schließlich ihr eigenes Land, ihren Boden, ihren Herd gemalt hatten, erkannten sie die ganze Hohlheit des Klassicismus. Cabat, Dupre, Rousseau führten eine kleine Schar von Abtrünnigen zum Kampf gegen Poussin und Genossen. Bald schlossen sich ihnen Daubigny, Cliin- treuil, Frangais an. Die gewaltigen, pittoresken Motive Italiens verschwanden. Man erwärmte sich für das Murmeln des Baches, für das Säuseln der Winde, für das Echo des Waldes. Unter ihrem Pinsel sollten die Bäume lebendig werden, die rauhe zerrissene Rinde sollte Em¬ pfindung erhalten, die Blätter von Trauer und Freude reden, der Himmel lächeln oder wehklagen, je nachdem die Sonne ihm seine Strahlen zuwandte oder sich hinter schweren Wolken verbarg. Das Konventionelle fiel; die Individualität trat an seine Stelle.

x41s Corot von seiner zweiten italienischen R.eise zurückkehrte, fand er Paris in zwei Heerlager geteilt: hie Klassicismus, hie „paysage intime“. Rousseau wurde gerade vom Salon zurückgewiesen, die öffentliche Meinung stand noch auf Seiten der Alten. Corot schwankte lange hin und her. Wohl empfand er die Wahrheit der neuen Schule; aber er hatte nicht den Mut, sogleich auf den Zauber seines geliebten Italiens zu verzichten. Zu sehr war er vom Reize desselben gefangen; die Weisungen seiner ersten Lehrer klangen in ihm noch nach. Zehn Jahre brauchte Corot, um den ganzen Kram der Schul¬

weisheit zu vergessen. Noch vielfach holt er die Motive aus Italien, nur allmählich fasst er auf heimatlichem Boden Fuß. Seine Bilder aus dieser Zeit sind nicht zu vergleichen mit denen vor der zweiten italienischen Reise. Wenn jene noch als Anfänger-Arbeiten zu bezeichnen waren, so verraten diese bereits den ausgereiften Künstler, und wir würden ihnen noch heute sympathisch gegenüber¬ stehen, wenn sie nicht durch seine Ai’beiten aus den späteren Jahren verdunkelt würden. Die Verschiedenheit der Stoffe, die er wählt, verrät seine Unsicherheit. Es war vielleicht die Folge seiner Unzufriedenheit mit sich selbst, dass er gerade damals mehr als je religiöse Motive wählte. „Hagar in der Wüste“, „die Flucht nach Ägypten“, „der heilige Hieronymus“ gehören dieser Übergangsperiode an. Besondere Aufmerksamkeit hat er der großen „Taufe Christi“ (1841 43) gewidmet, die er der Kirche Saint Nicolas du Chardonnet zu Paris ge¬ stiftet hat, in der sie noch heute hängt. Obgleich das Bild in einzelnen Teilen noch seiner alten Manier1) an¬ gehört, so muss man doch über die einfache Schönheit der Komposition und die Vornehmheit des Stiles staunen.

Das letzte Gemälde aus jener Zeit, das gleichsam den Übergang zu seiner Hauptperiode bildet, ist „Christus am Ölberg“. Das Bild gleicht einem Heldengedichte. Tiefe, finstere Nacht; nur ein Stern leuchtet am Himmel. Im Vordergrund kniet Christus, erschöpft von Trauer und Herzeleid. Seine Stunde ist gekommen, die Stunde des Verrates, Oie. Stunde des Todes. In diesem Werke hat sich Corot gefunden. So erhaben der Vorwurf des Bildes ist, so interessirt dieser den Künstler doch weniger als die Behandlung des Himmels, der Luft, der Be¬ leuchtung und der Bäume. Das dunkle Laub der öl¬ bäume hebt sich von dem ruhigen, ernsten Hintergründe kräftig ab, ein Zeuge des Dramas, das sich vor ihm abspielen soll. In der Landschaft liegt der Hauptwert dieses Bildes.

Noch einmal ging Corot nach Italien, um ihm dann für immer den Rücken zu kehren. Nach seiner dritten Reise beginnt seine große Ära; er schließt sich den Meistern von Barbizon an, vertieft sich in die einfache Landschaft Frankreichs und beginnt sie wie jene um ihrer selbst willen zu malen. Wenn man von der Schule von Fontainebleau spricht, nennt man Rousseau, Dupre, Corot, Daubigny stets zusammen, und doch ist Corot von den anderen sehr verschieden. Die Genauig¬ keit, die Schärfe, die bestimmten Formen jener sind ihm fremd; ihre Bilder sind die Wiedergaben des Waldes, des Flusses, der Brücke, ihre Landschaften sind Ausschnitte aus der Natur. Corot malte nicht, was er gesehen: er empfand, er ahnte, er träumte die Landschaft. Seine Bäume lassen sich nicht in eine Klasse Linne’s einreihen, seine Landschaften entsprechen nicht einer bestimmten

1) Das Bild hatte s. Z. in Paris kein Glück. Der Ent¬ wurf wurde vom Salon 1842 zurückgewiesen.

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Gegend. Seine Bäume sind Corot’sche Bäume; Himmel, Luft, Staffage ist seine Erfindung. Selbst die Tages¬ zeit ist seine Tageszeit. Corot’s Bilder sind Poesien. Mitten in dem Kreise von Realisten lebte der größte Idealist. Die Baumkronen neigen sich zu einander, sie flüstern sich süße Worte ins Ohr, sie umarmen und küssen sich. Da ist nichts mehr von harter Zeichnung, von scharfen Umrissen. Die Linien werden weich, gehen ineinander über und zerfließen in dem All. Ein Schleier liegt iiljer dem Ganzen und verhüllt es vor den Augen des Naturforschers. Corot’s Bilder machen dadurch den Eindruck des Unvollendeten, Skizzenhaften. Aber welcher Zauber liegt in dieser Unfertigkeit! Er pflegte nicht scharf zu denken, sondern nur zu empfinden, und dieses prägt sich in seinen Bildern aus. Er malte

Was, von Menschen nicht gewusst

Oder nicht bedacht,

Durch das Labyrinth der Brust

Wandelt in der Nacht.

Corot durfte es sich erlauben, die Schranken des Alltäglichen zu überschreiten; denn er vereinigteinseiner Person zugleich mit dem Idealisten auch den schärfsten Beobachter. Früh ganz zeitig, in der Morgendämmerung, oder Abends spät, wann dichter Nebel die Landschaft einhüllt, machte er seine Studien. Wie oft ist er in Ville d’Avrey, wenn alles schlief, die halbe Nacht in seinem Zimmer wach geblieben; da lag er im Fenster, erfüllt von der Betrachtung des Himmels, des Wassers, der Bäume. Kein Laut konnte den einsamen Träumer stören. „Er sammelte eine Masse von Einzelformen, verdaute sie im Geiste und fand dann bei der Ar¬ beit, statt bestimmter Elemente, Verallgemeinerungen. Darin liegt seine Zugehörigkeit zum „paysage intime“, dass er in unablässigem Studiren die Innigkeit der Natur durchdrungen hat; aber dadurch erhebt er sich zugleich über seine großen Zeitgenossen, dass er sich von der knechtischen Wiedergabe des Gesehenen befreit hat. „Corot hat der modernen Kunst die empfindsame, die poetische Landschaft geschenkt.“ *) Und was wir oben „skizzenhaft“ genannt haben, das ist nichts anderes, als das Verschwimmen der Konturen im Äther, als das Zittern der Luft, als die Liebkosung des Lichtes mit den Gegenständen. Denn die Klarheit, die Durchsichtigkeit, die Beweglichkeit des Lichtes das Problem des heutigen Pleinairs hat bereits Corot beschäftigt. Er war zugleich einer der größten Farbenkünstler aller Zeiten.

Aber der Reiz seiner Bilder liegt nicht allein im Landschaftlichen. Hatten die Klassicisten die Landschaft für die Figuren komponirt, so meinte die moderne Schule: die Landschaft sagt alles, die Figuren sind nur un¬ nötiger Zusatz. Die Bilder von Rousseau, Dupre, Dau- bigny sind ohne figürliche Staffage. Corot ging weiter.

1) Gazette des beaux-arts.

Auch er malte die Landschaft als solche, aber er hat sie durch Figuren belebt; und zwar sind seine Figuren mit der Poesie der Landschaft so innig verquickt, dass man sich das Eine ohne das Andere nicht vorstellen kann. Charles Blanc spricht hierbei mit Recht von „harmonie“ und „accord“. Zweierlei Figuren hat Corot mit be¬ sonderer Vorliebe gemalt, einerseits die Fischer und Fähr¬ leute, andererseits die Hirten und Nymphen.1) AVie oft kehrt der gute Fährmann auf seinen Bildern wieder! In schwarzer Kleidung und weißem Hemd führt er mit nerviger Faust die Barke, die den Wasserspiegel durch¬ schneidet. Diese Figur steht nicht zufällig in der Land¬ schaft; sie gehört hinein, wie der Vogel in den Wald. Unendliche Ruhe, tiefer, süßer Friede lagert über dem Wasser; der Schiffer im kleinen Kahn ist überaus glück¬ lich. Ganz anders schauen die Fährleute bei Corot’s Zeitgenossen aus. Victor Hugo, Byron, die Göttliche Komödie waren die Lektüre der eleganten Welt. Man beschäftigte sich viel mit dem Gedanken an den Tod, und die Künstler malten häufig den Charon, der die Seelen der Gestorbenen über den Styx fährt. Corot’s Fährmann ist nicht der Totengräber, sein Wasser nicht der Acheron; er hat in seinem ganzen Leben derartige trübe Gedanken nicht gehabt. Corot wollte nie den Lebensüberdruss, sondern stets nur die Freude am Dasein verkünden. Und während viele Bilder seiner Kollegen längst vergessen sind, sehen die seinigen, auch die, welche schon vor 50 Jahren gemalt sind, so aus, als ob sie gestern entstanden wären. Die Scenen seiner Zeitgenossen sind aus einer künstlich geschaffenen Stim¬ mung hervorgegangen. Seine eigenen sind der Ausdruck einer Seelenstimmung, die er wirklich hatte; sie kommen vom Herzen und darum sprechen sie zum Herzen.

Auch seine mythologischen Figuren, die Nymphen und Schäfer, Orpheus und Eurydice, Dante und Vergil, passen harmonisch in die Landschaft, sie ergänzen, sie erklären dieselbe erst. Die tanzenden Gestalten auf der „Matinee“ gehören in das Ensemble, wie die Bauern des „Angelus“, wie die Meergötter auf dem „Spiel der Wellen“. Ein Feind der Mythologie hätte vielleicht Kühe und Rinder als Staffage für Corot’s Bilder lieber gesehen. Aber wenn er selbst, im Anschlüsse an Vergil, flöte¬ blasende Hirten dargestellt hätte, so hätte er doch nichts Poetischeres schaffen können, als die graziösen weiblichen Gestalten in ihrer Einfachheit, Natürlichkeit, Ungebunden¬ heit und Zugehörigkeit zum Walde. Eine große Anzahl solcher poetischer Bilder hat er gemalt, von denen „das Bad der Diana“, „das Konzert“, „die Bacchantin“, „der Schlaf der Diana“ genannt seien. Die häufige Verwendung

1) Royer-Miles unterscheidet in seiner oben erwähnten Festschrift noch eine dritte Klasse, die Figuren aus der Ge¬ schichte und der Bibel. Indessen gehören die religiösen Ge¬ stalten Corot’s früherer Periode an, und die geschichtlichen, wie Orpheus, Eurydice, Dante, Vergil können mit zu den Hirten und Nymphen gerechnet werden.

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derselben Gestalten zog dem Künstler den Vorwurf der Eintönigkeit zu; dieser ist jedoch nicht berechtigt. Denn mit feinem künstlerischem Gefühle hat er die Figuren nicht stärker betont, als es für die Staffage gestattet war, während das Hauptaugenmerk stets auf die Land¬ schaft gerichtet blieb. Die Natur selbst aber hat Corot so mannigfach wiedergegeben , wie sie verschieden ist, ohne Manier, ohne Formel; er verstand es, ihr stets neue Reize abzugewinnen.

Corot war nicht nur Landschafter, sondern auch Figurenmaler und Porträtist. Aber vor einem Modell war er ein anderer als in der Landschaft. Während er hier nie einen bestimmten Baum darstellte, malte er die Figuren mit peinlicher Genauigkeit. Wie er sich in die Natur vertiefte, das Leben im Walde, den Gesang der Vögel, das Geflüster der Bäume, das Säuseln der

Lebensführung. Er war einfach und bescheiden und stellte nicht die. geringsten Ansprüche an Luxus und Woldleben. Er dachte nicht an Geldverdienen und wusste fast 50 Jahre lang nichts von dem Vorhandensein der Ama¬ teurs. Als er im späten Alter zu verkaufen anfing, that er dies auch nur, weil man ihn um Bilder bat. Dann aber wurden sie gut bezahlt, so dass er große Summen verdiente. Indessen konnte das Geld ihn von seiner Einfachheit nicht abbringen. Er gab es wohl aus, aber nicht für sich, sondern stets für andere. Corot hatte in seinem Leben nur eine Leidenschaft, Gutes zu thun. Mit offener Hand gab er, ohne zu zählen, ohne zu fragen, für wen oder zu welchem Zwecke. Hierüber berichten ungezählte Anekdoten, von denen einzelne aufgeführt seien.

Eines Tages hörte er, dass der Karikaturenmaler

Das Bad der Diana, von C. Corot.

Winde belauschte, so ist er auch zugleich einer der größten Seelenleser seiner Zeit gewesen. Der „bewaffnete Ritter“, die „junge Griechin“, die „verwundete Eurydice“, das „junge Mädchen mit der Mandoline“, die „Schnitter¬ familie“ geben einen Beweis von seiner scharfen Be¬ obachtungsgabe. Seine Figurenbilder sind hervorragende Meisterwerke; aber das Geschick hat es gewollt, dass der Landschafter Corot den Porträtisten schlug. Unter einem „Corot“ versteht man heute ausschließlich eine der hochpoetischen Landschaften aus seinen letzten dreißig Jahren.

So steht der Künstler Corot vor uns. Neben dem Maler verdient auch der Mensch Camille Corot ge¬ würdigt zu werden. Er war ein Genie und hat dies in seinen unsterblichen Schöpfungen bewiesen. Aber mit dem großen Talente verband er auch eine makellose

Daumier blind geworden und, da er die, Miete nicht zahlen konnte, aus seinem Hause zu Valmondois hinausgeworfen sei. Sofort reiste Corot nach Valmondois, kaufte das Häuschen und schrieb an seinen Freund die wenigen Worte: „Nun glaube ich nicht, dass Dein Wirt Dich vor die Thür setzen wird“.

Ein andermal zeigte ihm ein Amateur ein Bild, welches seine Signatur trug, und bat ihn, dasselbe zu verifiziren.

„Das ist nicht meine Arbeit.“

„Dann werde ich den Verkäufer anzeigen“, sagte der Besitzer.

„Anzeigen?“ fragte Corot.

„Gewiss; denn dann ist er ein Betrüger.“

„Ihn anzeigen? Bedenken Sie, er hat Frau und Kinder. Das Unglück träfe sie mit.“

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

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„Was thut’s? Er ist ein Fälscher und das Ge¬ richt

„Ach, das Gericht! Es bedarf nur weniger Pinsel¬ striche; dann haben sie einen echten Corot.“

Damit nahm er dem Besitzer das Bild aus der Hand und überarbeitete es vor seinen Augen, so dass der Eigen¬ tümer nun für die Echtheit garantiren konnte. -

Als nach der Belagerung von Paris der Friede ge¬ schlossen wurde, hatte man für einen Augenblick die Absicht, die den Franzosen auferlegte Kriegsentschädigung durch eine allgemeine, öffentliche Sammlung aufzubringen. Sofort trug Corot, ohne ein Wort darüber zu sprechen und ohne das Geld zu zählen, seinen Geldkasten mit dem ganzen Besitztum zum Bürgermeister. Erst als man ihn schrift¬ lich aufforderte, sich seine 10 000 Franken abzuholen, erfuhr er, dass er im Besitze dieser Summe gewesen. So gut und edel, wie Corot war, so gleichmäßig und ruhig sein Leben dahinfloss, ebenso ist er ohne Erregung und Unwillen gestorben. Am 11. Februar 1875 würfle er ernstlich krank. „Ich bin gelassen und ergeben, sagte

er zu seinem Freunde und Schüler Frangais, ich brauche mich über meinen Tod nicht zu beklagen. Achtund- siebzig Jahre war ich gesund, ich liebte die Natur, die Malerei und die Arbeit. Ich hatte gute Freunde und ich glaube, niemals jemandem ein Leid gethan zu haben.“ Am 24. Februar wurde er erregter. Als er fieberhaft im Bette lag, fasste er krampfhaft den Pinsel und sprach : „Siehst Du, wie schön es ist; ich habe nie eine so wunderbare Landschaft gesehen.“ Aber als man ihm etwas zum Frühstücken brachte, wies er es mit den Worten zurück: „Heute frühstückt Papa Corot dort oben.“ Wenige Stunden später starb er.

Jetzt, an der Schwelle seines hundertsten Geburts¬ tages, steht er in seiner ganzen Größe und Erhabenheit vor uns, die wir alle neidlos anerkennen. Sein Name ist in der Geschichte mit goldenen Buchstaben ge¬ schrieben; er erscheint uns heiter und glücklich. „Er vereinigte das Ideal, welches die Herzen der Menschen zum Himmel emporführt, und die Liebe, die den Himmel zu den Herzen hinabsteigen lässt.“

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

VON E. STEINMANN.

MIT ABBILDUNGEN.

AT die Pieta in St. Peter, deren ein¬ gehende Beschreibung unterlassen werden darf, da sie unendlich oft beschrieben und erklärt worden ist. keine Vorfahren und auch keine lebensfähige Nachkommenschaft gehabt, so scheint die Kreuzabnahme in Florenz, das einzige in großen Zügen wenigstens voll¬ endete Werk so vieler Entwürfe, nur als der Höhe¬ punkt einer langen folgerichtigen Entwicklung, die wir vom 12. Jahrhundert aufwärts verfolgen können.

Aber es konnte Michelangelo nicht genügen, die. Gedanken seiner Vorläufer fortzusetzen, ihre Ideale zu verwirklichen, ein gewaltiger innerer Drang trieb ihn, überall bahnbrechend zu wirken, schöpferisch zu ge¬ stalten. So hat er auch neue Typen fiir die Kreuz¬ abnahme geschaffen, von denen wir heute wenigstens noch zwei in Zeichnungen, Entwürfen und Nachahmungen verfolgen können. Die Betrachtung der Passion des Herrn war ja dem Meister in seinen alten Tagen eine unerschöpfliche Quelle des Trostes und die Gedanken, nicht nur des Künstlers, sondern auch des Dichters, wandten sich immer wieder auf das Leiden Christi zu¬ rück. Niemand anders als Vittoria Colonna war ihm auf diesem Wege der Leitstern gewesen und für jene Zeitschrift fiir bildende Kunst. N. F. VII. II. 9.

(Schluss.)

edle Frau, die den greisen Künstler vielleicht zum ersten Mal in seinem langen, mühevollen Leben das schmerz¬ voll süße Glück der Frauenliebe empfinden ließ1), schuf er eine herrliche Kreuzabnahme, die Condivi folgender¬ maßen beschreibt: „Auf die Bitte dieser Dame arbeitete er einen nackten Christus, wie er vom Kreuz herab¬ genommen wird. Der willenlose tote Körper würde zu den Füßen seiner heiligsten Mutter niederfallen, wenn nicht zwei Engel ihn unter den Armen stützten. Maria aber hat sich am Fuße des Kreuzes niedergelassen und den thränenr eichen, schmerzerfüllten Blick aufwärts gerichtet, hebt sie die geöffneten Arme zum Himmel

1) Die neuerdings vielfach ausgesprochene Ansicht, dass weder Vittoria Colonna noch Michelangelo eine tiefere Liebes- regung für einander empfunden, vermag ich, wenigstens was den letzteren betrifft, nicht zu teilen. Wie hoch die große Dichterin den greisen Künstler schätzte, beweisen ihre Worte, dass der nur den geringsten Teil der Größe Michelangelo’s -kenne, dem nur seine Werke bekannt wären. Die Sonette, die der Meister vor und nach ihrem Tode an die Freundin richtete, jene rührende Erzählung Condivi’s, dass er sich be¬ klagte, ihr auf dem Sterbebette nicht auch Gesicht und Stirn geküsst zu haben, wie die Hände, sein maßloser Schmerz, als er sie verlor, sprechen deutlich für die tiefe Neigung, die Michelangelo für Vittoria Colonna empfand.

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DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

empor, als müsste sie in die Worte ausbrechen, die am Kreuzesstamm geschrieben sind:

Non vi si pensa quanto sangue costa. ’)

Aus dem Vergleich, den Condivi mit einem Prozes¬ sion skreuz anstellt, geht mit Wahrscheinlichkeit hervor, dass auch diese Kreuzabnahme in Stein oder Erz aus¬ geführt worden ist. Sie ist uns heute nur in zahlreichen Nachbildungen, einem Stich der Bonasone, einem Gemälde des Marcello Venusti in der Borghesegalerie in Born und einer Plaquette im Berliner Museum erhalten, die uns wenigstens die großartig geschlossene Komposition noch voll erkennen und bewundern lassen.1 2) Die thränen- reiche Fassung der Schmerzensreichen, die mit den aus¬ gebreiteten Armen die furchtbare Schickung ergebungs¬ voll aus höherer Hand entgegennimmt, scheint einer der Hauptzüge auch in dieser gedankenvollen Schöpfung. Man wird ihn erst völlig zu würdigen vermögen, ver¬ gleicht man diese sclimerzzerissene und doch gefasste Gottesmutter einmal mit jenen schreienden Frauen mit den ausgebreiteten Armen in Donatello’s Grablegung im Santo, oder in der neuerdings dem Verrocchio zuge¬ schriebenen Beweinung Christi in S. Maria del Carmine in Venedig.

Der zweite gleichfalls erst von Michelangelo wahr¬ scheinlich gleichzeitig erfundene Typus einer Kreuz¬ abnahme wird noch durch ein Originalwerk des Meisters vertreten, jene traurige verwitterte Ruine, die wir heute im Hof des Palazzo Rondanini in Rom aufsuchen müssen. Aber dies unvollendete und schwer beschädigte Werk hat einen besonderen historischen Wert. Es ist wahr¬ scheinlich, dass der große Künstler an diesem Marmor seine letzten Hammerschläge tliat, und sie scheinen wie halberloschene Schriftzüge einer zitternden arbeitsmüden Hand.

Einen ersten Entwurf zu diesem Werk glaubte Robinson 3) in einer Kohlezeichnung in Oxford zu ent¬ decken und eine sorgfältiger ausgeführte Rötelzeichnung in der Albertina ergänzt das vor allem in den oberen Partieen nur in Umrissen ausgehauene Original. Maria steht auf hohem Steinblock hinter dem fast noch auf¬ rechtstehenden, langsam an ihrem Körper hernieder¬ sinkenden Sohn, über dessen Schulter sie sich mit dem Oberkörper leicht herabbeugt. Im Marmor vermögen wir den Ausdruck im Gesicht der Jungfrau kaum zu enträtseln, aber in der Zeichnung ergreift uns der wort¬ lose Gram der gealterten Frau, die mit fast geschlossenen Augen ganz in den Abgrund ihres Jammers versunken scheint.

Mag auch diese Kreuzabnahme anderen Form- problemen nachgehen wie jene oben beschriebene Arbeit

1) Vasari und Condivi ed. Karl Frey, p. 202.

2) Vgl. A. Venturi, il Museo e la Galleria Borghese, Roma 1893, p. 200; W. Bode und H. von Tschudi a. a. 0. Nr. 993. Tav. XLVIII.

3) a. a. O. p. 80.

für Vittoria Colonna, in der gehaltenen Stimmung, der leidenschaftslosen Äußerung eines über alles Maß des Ausdrucks gehenden Schmerzes finden sie sich zusammen. Und darin sind sie auch beide der gewaltigen Kreuz¬ abnahme in Florenz verwandt, in der Michelangelo in einfach großen Zügen klargelegt, was alle seine Vor¬ gänger nur zu stammeln gewusst.

Einer großen Aufgabe so scheint es ist sich die Kunst von vornherein auch bei der Schilderung der Kreuzabnahme bewusst gewesen und an ihrer Erfüllung arbeitete sie in unablässigem Bemühen. Schon Benedetlo Antelami, der im Jahre 1178 in figurenreicher Relief- darstellung das große Drama behandelte, erkannte als den Brennpunkt menschlichen Interesses in demselben die Schilderung des Verhältnisses zwischen Mutter und Sohn. Der Heiland hängt von Joseph von Arimathia unterstützt noch halb am Kreuz und eben erst steigt Nicodemus die Leiter hinan, den Nagel aus der bluten¬ den Linken zu ziehen. Die Rechte aber ist bereits herabgesunken und hat, von Engelhand geführt, leise und liebkosend die Wange Marias berührt, die in schmerz - bewegter und doch andächtiger Haltung unter dem Kreuze steht und kaum die geliebte Hand zu fassen wagt. Rührender, schüchterner Ausdruck zartesten Nach¬ empfindens der großen Liebe zwischen Mutter und Sohn! Wie ein Funke erscheint er, der ein nie mehr verlöschen¬ des Feuer entzündet, wie ein Samenkorn, das langsam zur Ähre reift.

Mit weit größerer dramatischer Kraft behandelte um die Mitte des 13. Jahrhunderts Niccola Pisano den¬ selben Gegenstand im Tympanonrelief des nördlichen Seitenportals in S. Martino zu Lucca. Joseph von Arimathia hat wieder den Körper des sinkenden Heilandes umfasst, dem Nicodemus eben die durchbohrten Füße vom Kreuze löst. Weinend hält Johannes den linken Arm des Gekreuzigten, den rechten aber hat Maria mit beiden Händen umfasst und ist im Begriff, ihn zu küssen. Leise berührt das herabsinkende Haupt des Sohnes das Kopftuch der Mutter, der die Andacht nicht mehr ver¬ bietet. ihren großen Schmerz zu äußern.

Wir müssen die Schwesterkunst zu Hilfe nehmen, um die Richtung zu verfolgen, in der sich die Kreuz- abnalime weiter entwickelt. Nicht in der Skulptur, so möchten wir glauben, sondern in der Malerei, nicht im 15. sondern ganz im Beginn des 14. Jahrhunderts, findet sicli jenes Ideal vorgebildet, auf das Michelangelo zurück¬ griff. Duccio di Buoninsegna schildert zum ersten Mal in einer der kleinen Darstellungen aus dem Leben Christi, die die Rückwand seines berühmten Dombildes schmückten, in rücksichtsloser Weise den ganzen Schmerz und die ganze Liebe der Maria. Joseph von Arimathia und Nico¬ demus verrichten wieder ihre alten Dienste. Der erstere, auf der Leiter stellend, unterstützt den von Johannes gehaltenen Leichnam, der letztere zieht die Nägel aus den Füßen. Christus ist vornüber herabgesunken und

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

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hat die ausgebreiteten , im Tode erstarrten Arme über die Schultern der Mutter gelegt, die mit jenem grimmigen Ausdruck des Schmerzes, der den alten Sienesen eigen, das auf ihre Wange herabgesunkene Haupt des Sohnes umfasst hat, das sie mit dem warmen Hauch der Liebe beleben möchte.

Michelangelo konnte im Ausdruck Edleres, in den Formen Vollendeteres schaffen, er mochte die übermäßig gesteigerte Empfindung auf ein schöneres Maß zurück¬ führen, das einmal gegebene Motiv der letzten stummen Umarmung von Mutter und Sohn war nicht zu über¬ treffen. Es hat auch scheinbar zunächst keine Nachfolge gefunden; der fromme Fra Giovanni betonte in seiner farbenfreudigen Kreuzabnahme in der Akademie zu Florenz ausschließlich das andächtige Element; der Naturalist Donatello suchte in der Grablegung und Beweinung Christi den höchsten dramatischen Ausdruck zu erreichen, den die bildende Kunst überhaupt hervorzubringen ver¬ mag, und erst Fra Bartolomeo schildert uns wieder in seinem letzten Werk mit all dem menschlichen Keiz formaler Schönheit, die sich die Kenaissancekunst inzwischen zu eigen gemacht, die Mutter, die den vom Kreuz auf die Erde gebetteten Sohn liebevoll um¬ armt. Aber in der stillen gefassten Art, wie Maria das Haupt ihres Sohnes emporhebt, es zu küssen, wie sie thränenlos und ruhig den letzten Abschied nimmt, entdecken wir jene bis dahin unbekannte Ausdrucks¬ weise, die Michelangelo plastisch zum ersten Mal in der Pietä in St. Peter verkörperte, die er in den unter dem Einfluss von Vittoria Colonna entstandenen Kompositionen fortsetzte, und an der er endlich auch in seinem letzten großen Werk, der Kreuzabnahme in S. Maria del Flore festgehalten hat.

Ein Meer von wehmütigen Erinnerungen überflutet die Seele, treten wir vor diese Marmorgruppe, die unter der Kuppel Brunellescos in der stillen Dämmerung des Domes von Florenz im 18. Jahrhundert einen würdigen, aber der ursprünglichen Bestimmung des Künstlers nicht entsprechenden Platz gefunden hat. Bekanntlich hatte Michelangelo diese Kreuzabnahme zum Schmuck des eigenen Grabes bestimmt. Schon war das Auge trübe geworden und der Meißel gehorchte nicht mehr wie früher der zitternden Hand, als er immer noch an dieser Gruppe arbeitete, die ihn sein Freund und Diener Urbino zu vollenden drängte. Da misslangen ihm die Hammer¬ schläge an Arm und Gewand der Madonna, und mit jener plötzlich erwachenden Leidenschaftlichkeit, die ihn auch im Alter nicht verlassen hatte, zerschlug er un¬ barmherzig sein großes Werk, um es dann niemals wieder anzurühren. Später schenkte er einem Freunde den ver¬ stümmelten Marmor, der ihn dann so zusammensetzen ließ, wie wir ihn heute vor uns sehen.

Die Gruppe besteht aus vier Figuren. Maria, Maria Magdalena und Nicodemus sind bemüht, den langsam herniedersinkenden Leichnam des Herrn aufzufangen und

zu stützen. Der mächtige Körper des Erlösers, um den die Frauen und der Greis in Schmerz und Liebe beschäftigt sind, ist noch um Brust und Lenden mit dem schmalen Linnentuch bedeckt, mit dem man ihn soeben vom Kreuz herabgelassen hat. Schon ist er bis auf den Schoß Maria’s herabgesunken und lehnt gegen die Stirn der Mutter das müde Haupt, aus dem der Tod die Spuren des Leidens nicht ganz verwischen konnte. Der Christus ist ver¬ stümmelt, es fehlt das linke Bein, aber der über den Oberschenkel herabfallende linke Arm bedeckt die Bruch¬ stelle und erweckt die Illussion, dass sich das Bein zwischen den Knieen der Mutter in ihrer weiten Ge¬ wandung verberge.

Über der edlen Gestalt des Erlösers, dessen nackter herabsinkender Leib durch den Wohllaut der Linien das Auge entzückt und so wunderbar weich gebettet erscheint zwischen den faltenreichen Kleidern seiner Freunde, er¬ hebt sich der ehrwürdige Nicodemus in der Tracht eines Kapuziners. Mit der Bechten hat er von unten den Arm des Gekreuzigten umfasst, der sich hoch über die Schulter der Maria Magdalena legt, mit der Linken berührt er leise als Zeichen stummen Mitgefühls die Schulter der Madonna und das weißbärtige Haupt, das die Kapuze bis auf das Gesicht verhüllt, ist in stiller Trauer über Mutter und Sohn herabgebeugt. Michel¬ angelo hat nicht die letzte Hand an Gesicht und Mantel des Nicodemus gelegt, aber man darf behaupten, dass gerade der unpolirte rauhe Marmor vortrefflich zu dem ernsten Charakter des greisen Kapuziners passt. Voll¬ endet wurde überhaupt nur Maria Magdalena in dieser Gruppe, die mit der Linken am Gewände des Nicodemus sich fest haltend, mit der Rechten den Leichnam unter dem Oberschenkel stützend, das schöne jugendliche Ant¬ litz dem Beschauer zuwendet, ganz wie die liebreizende Magdalena in Raffael’s heiliger Caecilia.

Während Maria völlig mit dem Toten beschäftigt ist, während der Greis seine Teilnahme zwischen der Mutter und ihrem Sohne teilt, wendet sich Maria Mag¬ dalena an den Beschauer, als wollte sie fragen: „Ward jemals solches Leid gesehn“? Der Künstler hat in Haltung und Bewegung dieser Gestalt, die in den Ver¬ hältnissen kleiner erscheint wie ihre Gefährten, eine unbeschreibliche Anmut entwickelt und der Schmerz hat die Schönheit dieser Frau nicht zerstören können.

Wie anders Maria! Sie ist ganz in lang herab¬ fallende Trauergewänder gehüllt, auf jeden äußeren Reiz der Erscheinung durch den uns die Madonna in St. Peter zu fesseln weiß, hat der Künstler verzichtet. Mit beiden Armen hält die Matrone den Sohn umfasst, dessen herabfallendes Lockenhaar die Hälfte ihres Ge¬ sichts bedeckt. Ihre Augen sind geschlossen wie die ihres Sohnes, sie fühlt nur die leise Berührung seines Hauptes, aber kaum entdecken wir eine Gefühlsregung in dem im Marmor nur angedeuteten Gesicht. Und doch ergreift uns derselbe stumme Schmerz, der stets die Züge

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DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

der Madonnen Hichelangelo’s verschleiert, aber er ist liier bis ins unermessliche gesteigert.

Wie in den letzten Accorden einer Symphonie der Künstler noch einmal wieder alte Melodieen anklingen lässt, so sind auch Michelangelo in diesem gewaltigen Werk, mit dem er sein Grab zu schmücken gedachte, Erinnerungen aus der Jugend aufgetaucht. In dem süßen Cherubsköpfchen, das das Stirnband der Maria Magdalena ziert, finden wir den Kopfschmuck wieder, den wir an der Madonna im Bargello bewunderten, das Motiv des umgebogenen Arms beobachteten wir bei dem Kinde in der Madonna an der Treppe und bei der Statue des Lorenzo in der Grabkapelle der Medici.

In dem greisen Kapu¬ ziner aber hat Michelangelo, wie uns ein Brief Vasaris belehrt '), sein eigen Bild geschaffen, idealisirt wie jenes, das er vielleicht im Jeremias in der Sistina festhielt, aber doch unver¬ kennbar in den Grundzügen.

Und so hat er der tiefen Frömmigkeit, die ihn durchs Leben begleitete, die ihm ein Halt war in seinen sturmbewegten Mannesjah¬ ren und eine Hoffnung in seinem langen Greisenalter selbst ein sinnvolles, un¬ vergängliches Denkmal ge¬ setzt. '-)

Diese tiefe Empfäng¬ lichkeit Michelangelo’s für religiöse Eindrücke fällt schwer ins Gewicht, treten wir endlich an die große Frage nach der geistigen Heimat seiner eigenartig herben und stets von der¬ selben Empfindung beseel¬ ten Madonnenbilder und Pietädarstellungen heran, durch die er sich so schroff von dem Ideal der Renaissance losgesagt hat. In dem großen gedankenvollen Bilde Maria’s, das seine Seele erfüllt, scheint

1) Vasari an Lionardo Buonarotti. Carte inedite Micbel- angiolescbe. Milano ed. Daelli 1865, p. 55.

2) Eine Vorstudie für diese Pieta befindet sich in der Albertina. Das Niedersinken Christi zwischen den Knieen der hier ohnmächtigen Mutter, das Überbeugen eines Greises über den Leichnam kehrt hier wieder, wenn auch die An¬ zahl der Figuren bei der Ausführung in Marmor beschränkt wurde.

jeder Affekt auf das äußerste beschränkt, und wie der Künstler einerseits von Mutterfreuden nichts zu erzählen weiß, so hat er auch jede gewaltsame Äußerung des Jammers der Schmerzenreichen unterdrückt und Anfang und Ende der Heilstragödie einander unendlich nahe gebracht. Ein stolzes Selbstgenügen, eine prophetische Gelassenheit, eine Ruhe, die sich der großen Meeresstille vergleichen lässt, ist seiner Madonna eigen, die er am liebsten mit ihrem Sohne allein gelassen hat. Aber wir empfinden ahnungsvoll, dass ihrer äußeren Erscheinung ein tiefes hoffnungsloses Weh zu Grunde liegt, das sie im Innern

unaufhörlich bewegt und dessen Zuckungen wir in der heroischen Frau in der Medicäerkapelle, in der Matrone im Florentiner Dom vielleicht am deut¬ lichsten erkennen.

Steht Michelangelo ganz allein mit solchen Gedanken, oder wagte es noch dieser oder jener unter den großen Meistern der Renaissance, sich so weit von der Haupt¬ strömung zu entfernen ? Auf die nahe Verwandtschaft der Maria in Fra Bartolo- meo’s Grablegung im Pa¬ lazzo Pitti mit der Madonna Michelangelo’s im Floren¬ tiner Dom wurde schon oben hingewiesen, damit ist aber der innere Zusammenhang zwischen beiden Kunstwer¬ ken noch keineswegs er¬ schöpft. Scheint doch Mi¬ chelangelo alle Gedanken Fra Bartolomeo’s in seiner Seele bewegt zu haben, als er sein letztes großes Mar¬ morwerk schuf, so nahe berührt er sich mit dem Mönch von San Marco, in der einfach geschlossenen Komposition, in der weisen Beschränkung der Figuren, in der maßvoll gehaltenen Stimmung, die Pinsel und Meißel beide so ergreifend zum Ausdruck zu bringen wussten. Scheint nicht Michelangelo’s Maria Magdalena eine direkte Reminiscenz an den Johannes Fra Barto¬ lomeo’s, der den Oberkörper Christi unterstützt und sich mit derselben stummen Klage an den Beschauer wendet, wie die Jüngerin?

In der Auffassung Maria’s mit dem Kinde dagegen hat sich Michelangelo am meisten dem Sandro Botticelli genähert. Gewiss entdecken wir zwischen der heroischen

Kohlezeichnung von Michelangelo. Windsor Castle (Br. lOi). Vgl. S. 176.

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

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Frauengestalt des einen und dem zarten, fast schwäch¬ lichen Weihe des anderen äußerlich wenig -verwandte Beziehungen , aber eine tiefere Beseelung von Mutter und Kind, die wie ein ahnungsvolles Vorgefühl schmerzens¬ reicher Zukunft sich kund giebt, charakterisirt auch die Madonnen Botticelli’s. Nur überlässt es Michelangelo dem Beschauer, das Rätsel, das bei ihm die Züge der Maria verschleiert, zu lösen, während Botticelli gelegent¬ lich durch jene rührend schönen Engel, die dem Kinde die Marterwerkzeuge zeigen, durch Dornenkranz und Nägel, die er diesem selber in die Hand gegeben seine trübe Auffassung rechtfertigen zu müssen glaubt. ') Jedenfalls lässt sich ein tiefer innerer Zusammenhang der Kunst Michelangelo’s und jener der beiden älteren Florentiner Meister nicht verkennen, aber ebenso sicher kann natürlich von einer Abhängig¬ keit des ersteren von den letzteren nicht die Kede sein. Muss nicht vielmehr nach einer gemein¬ samen Quelle ge¬ sucht werden, aus der sie alle mit¬ einander den geis¬ tigen Inhalt für ihre W erke schöp f- ten? Wer aber war der große Geist, der Malern und Bildhauern neue Gedanken ein flößte, die nach Befreiung ringen¬ de Kunst innezu¬ halten zwang und sie in neue un¬ bekannte Bahnen lenkte?

Der Einfluss des Savonarola auf die Kunst des Quattrocento ist eine bekannte Thatsache. AVie er hemmend und fördernd zugleich die begabtesten Künst¬ ler durch seine flammende Beredsamkeit zwang, die köst¬ lichen Erzeugnisse ihrer Kunst dem Scheiterhaufen zu überliefern und ihnen doch wieder fruchtbringende An¬ regung zu neuem Schaffen bot, ist vielfach erörtert worden und alle Äußerungen, die der gewaltige Bu߬ prediger über Nutzen und Gefahr der Skulptur und Malerei gethan, wurden sorgfältig gesammelt und nach

1) Vgl. das Madonnenbild im Museo Poldi-Pezzoli in Mailand, das Gemälde der thronenden Madonna in der Aka¬ demie zu Florenz und das Werkstattbild Botticelli’s im Palazzo Corsini ebenda.

mehr als einer Richtung hin mit Erfolg verwertet.1) Schon Vasari weiß von dem tiefen Eindruck zu er¬ zählen, den Lehre und Persönlichkeit des Dominikaner¬ mönches bei den hervorragendsten Künstlern von Florenz hervorrief, er berichtet, dass sich Sandro Botticelli zu seinen fanatischen Anhängern den „Piagnoni“ gesellte, und dass Fra Bartolomeo, dessen Porträt des gewaltigen Bußpredigers noch heute erhalten ist, durch das tragische Ende desselben so erschüttert wurde, dass er das Mönchs¬ gewand nahm und zeitenweise ganz der Malerei ent¬ sagte. 2 )

Aber auch Michelangelo, der eben seine Laufbahn als Künstler begonnen hatte, als Savonarola zum ersten Mal seine Donnerstimme in S. Maria del Fiore er¬ schallen ließ, konnte sich dem Einfluss dieses Mannes

nicht entziehen. Wissen doch Va¬ sari und Condivi beide außer der Bibel von keiner anderen geist¬ lichen Lektüre ihrer Helden zu berichten, als von den Predigten Sa- vonarola’s, „fin¬ den er stets die größte Bewunder¬ ung und Liebe ge¬ hegt hatte und dessen lebendige Stimme, die er von der Kanzel herab gehört, ei¬ sern Lebenlang im Gedächtnis be¬ wahrte. 3)

Endlich be¬ zeugt aber auch ein Brief, den Michelangelo aus unbekanntem Grunde unter falschem Namen im Jahre 1497 aus Rom an seinen Bruder Buona- rotto schrieb, das tiefe Interesse, das er an dem „Pro¬ pheten“ nahm, dem er nach Rom zu kommen wünschte, um dort selber die Verleumdungen seiner Feinde zu widerlegen.4)

1) G. Gruyer, Les illustrations des ecrits de Jerome Savo- narole. Paris 1879.

2) Vasari ed. Milanesi. III, p. 317; IV, p. 179 u. 180.

3) Frey a. a. 0. p. 204 u. p. 249.

4) Le lettere di Michelangelo Buonarotti ed. Milanesi, p. 59. Endlich hat man auch die Rückseite der Medaille mit der Inschrift „docebo iniquos vias tuas et impii ad te convertentur“, die Leone Leoni (1561) von Michelangelo drei Jahre vor dessen Tode prägte, mit Savonarola in Verbindung gebracht. Bayonne, Etüde sur Jerome Savonarole, p. 250.

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DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

Die vielfachen direkten Äußerungen und Mahnungen, mit denen sich Savonarola an die Künstler von Florenz wandte, mögen seine eigene Stellungnahme zu jener ge¬ waltigen Geistesstörung, die sich die Kunst der Re¬ naissance nennt, hinreichend charakterisiren ; sie mögen auch den "Weg zeigen, den Maler und Bildhauer unter seinem Einfluss einschlugen, indem sie sich von der Antike ah und vorzugsweise der Schilderung biblischer Vorgänge zuwandten. Um aber den tiefergehenden und weit be¬ deutsameren Einfluss zu verfolgen, den die Lehren des Priors von San Marco auf die Gestaltung dieser der Bibel entlehnten Darstellungen ausübten, um den neuen Inhalt zu begreifen, den er den künstlerischen Schöpf¬ ungen seiner Zeit gegeben, wird man tiefer in den Geist der Schriften, vor allem aber der Predigten selber ein- dringen müssen.

Wie gewaltig der Eindruck war, den die Stimme des Bußpredigers bei seinen zahllosen Zuhörern hervor¬ rief, dafür haben wir mehr als einen berufenen Zeugen. Pico della Mirandola, der junge berühmte Gelehrte aus dem glänzenden Kreise des Lorenzo de Medici und zu¬ gleich ein begeisterter Anhänger des Savonarola erzählt, dass ihm die Haare sich sträubten, dass ihm erschauernd alle Glieder bebten, als eine der erschütternden Predigten des Dominikaners über ihn erging.

Und Lorenzo Violi, der die Predigten Savonarola’s in der Kirche nach schrieb , unterbricht sich am Tage der Verkündigung mit den Worten: „hier konnte ich nicht mehr schreiben , so überwand mich die Süßigkeit der Worte in dieser Predigt“ und gegen das Ende einer Charfreitagspredigt desselben Jahres 1494 bekennt er, dass er nicht imstande war , das Nachschreiben fort¬ zusetzen: „so groß war der Schmerz und das Schluchzen, das mich überkam.“1)

Unter der Kanzel dieses gottgesandten Mannes hat auch Michelangelo gestanden; wie begierig mag die dürstende Seele des Jünglings an diesem Quell gött¬ licher Beredsamkeit getrunken haben! Mochte bei seinen Kunstgenossen der Eindruck des Augenblicks sich stür¬ mischer äußern, tiefer und nachhaltiger hat niemand die Lehren Savonarola’s erfasst und bewahrt als Michel¬ angelo und wenn es auch nicht überliefert ist. dass er sich zu den Piagnoni gesellte2) und seine Werke auf den Scheiterhaufen trug, so begleiteten ihn doch die Schriften und das Gedächtnis des großen Märtyrers durchs Leben. Und dürfen wir nicht gerade dort am ersten Gedanken Savonarola’s suchen , wo sich der Künstler befreit fühlte von äußerem Zwang und den eigenen Gedanken und Empfindungen ungehindert nach¬ gehen konnte? Diese Frage aber führt uns sofort auf die Madonnenbilder Michelangelo’s zurück und eine andere

1) Prediche sopra Job, fatte in Firenze 1494. Venezia 1545, p. 197, p. 383—84.

2) Guasti, Le Rime di Michelangelo Buonarotti, p. XIII nimmt es allerdings mit Bestimmtheit an.

drängt sich uns auf die Lippen: was mochte ein so schroffer und leidenschaftlicher, ein so rücksichtsloser und unbarmherziger Bußprediger, wie Savonarola es war, von den zarten Beziehungen der Madonna zu ihrem Kinde, von der stillen Klage Maria’s am Kreuz des Sohnes zu erzählen wissen?

Wunderbar! Eben so tief, wie der ihm wähl ver¬ wandte Künstler hat sich der Dominikanermönch in die Leiden und Freuden Maria’s versenkt und mit der ganzen Kraft seiner reichen Phantasie, mit der ganzen Glut seiner flammenden Beredsamkeit schildert er die Jung¬ frau als glückliche Mutter an der Krippe des Kindes, als gedankenvolle Prophetin und als gefasste Dulderin unter dem Kreuz.

Ja, man darf behaupten, dass durch Savonarola die Erscheinung Maria’s in völlig neues Licht gestellt wurde, dass er zum ersten Mal versuchte, der Menschheit ein Bild der Gottesmutter, wie sie auf Erden wandelte, zu entwerfen. Niemals war die Jungfrau, die Himmels¬ königin mit dem segnenden Kinde, in Kunst und Rede so geschildert worden, niemals war ihre äußere Schön¬ heit, ihre innere Reinheit so menschlich nachempfunden, so überzeugend dargelegt worden, wie Savonarola es ge- tlian. Kann es uns Wunder nehmen, wenn solche Schil¬ derungen wie Samenkörner in die Seelen der Künstler fielen, die ihm begeistert anhingen, wenn sieh ein jeder unter ihnen aus den hundertfachen Situationen, in denen der Prediger die Jungfrau schildert, die herausgriff, die seinem Naturell und seinen Gaben am besten ent¬ sprach ?

Die Predigten Savonarola’s nehmen erst gegen das Ende seiner Laufbahn jene düstere Färbung au, deren Wiederschein wir gerade in den Werken der bedeutendsten seiner Anhänger unter den Künstlern wahrnehmen. In wie heiteren Tönen schildert er noch in der Weihnachts¬ zeit 1492 die Freuden der Mutter Gottes, denen er nicht weniger als drei Predigten gewidmet hat. Er wird nicht müde, ihr junges Mutterglück zu beschreiben, er erzählt seinen Zuhörern, wie keine menschliche Freude dem reinen Glück Maria’s zu vergleichen sei, wie schon der Name „Jesus“ das Mutterherz mit Entzücken er¬ füllte. Lorenzo di Credi, den Vasari ausdrücklich unter den Piagnoni erwähnt, fand sein Madonnenideal in diesen Predigten. Savonarola führt eine Reihe von Gründen an, warum Maria den Neugeborenen nicht im Schoße hielt, warum sie ihn in der kalten Winternacht auf die Erde, auf ein armseliges Häuflein Heu bettete; er lässt die anbetende Mutter zu den Füßen des Kindes knieen, damit sich ihre Augen begegnen können, er heißt den Vater an der anderen Seite Platz nehmen, wo Ochs und Esel stehen und ringsherum sieht er lobsingende Engel. Kurz er beschreibt genau das Bild, welches Lorenzo di Credi in fast ermüdender Einförmigkeit immer aufs neue wiederholte.

„0 süßeste Jungfrau“, ruft er aus nach solcher

DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

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Schilderung, „was fühlte dein Herz? welche Wonne läßt sich der deinen vergleichen?“ Dennnoch, sagt er aus¬ drücklich, war kein Raum für die Traurigkeit. Aber schon jetzt denkt sich Savonarola Mutter und Kind am liebsten allein, schon jetzt schildert er Maria als die Nachdenkliche, Gedankenvolle und vergleicht ihr Herz der Mühle und alle Betrachtungen und Gedanken dem Wasser, das sie bewegt. ')

Preist der Dominikaner die göttliche Schönheit der Jungfrau, die alle Welt in Erstaunen setzte, so tadelt er derb die Künstler, die sie in köstlichen Gewändern schildern. „Glaubt Ihr, dass Maria Kleider trug, wie Uir sie malt? Ich sage Euch, dass sie einfach gekleidet war, wie eine arme Frau und dass sie kaum ihr Gesicht sehen ließ.“ 2) Denn in tiefer Demut, in stiller Bescheiden¬ heit erkannte der Prediger einen der Hauptcharakter- ziige Maria’s, die er sich endlich äußerlich und innerlich in Mienen und Gebärden und in der Sündlosigkeit ihres Daseins als dem Sohne vollkommen ähnlich vorsfellte.

Wie ernst und trauervoll hat sich das Bild Maria’s in der Phantasie ihres demütigen Verehrers gestaltet, als er wenige Jahre später, am 15. August 1496, ein Jahr vor seinem tragischen, Ende auf die Schilderung der Madonna zurückgreift. Er beschreibt das Verhältnis der Jungfrau zu ihrer Umgebung und erzählt uns, wie sie von allen verachtet und geschmäht einsam und still ihren Weg ging, ohne sich jemals im Geist zu betrüben. Glaube wohl, heißt es in dieser Predigt am Tage der Assunta, dass man übles von der Jungfrau redete als sie schwanger war, wenn auch das Evangelium es nicht berichtet. Wie hat sie es so heimlich gemacht, und sie schien eine Heilige zu sein. Wollte nicht auch Joseph sie verlassen? Und als Christus gekreuzigt war, da sagten sie alle zur Jungfrau: du bist die Mutter dieses Betrügers.3)

Gaben der Geburtstag Maria’s, der Tag der Ver¬ kündigung, das Weihnachtsfest und endlich das Fest ihrer Himmelfahrt dem Prediger von San Marco Gelegenheit, die Jugend der Jungfrau, ihre Reinheit und Schönheit, ihre geheiligte Freude, ihr tiefes Versunkensein in die göttlichen Geheimnisse und endlich ihre ersten bitteren Schmerzen zu schildern, so findet er doch erst in seinen Passionspredigten jene erschütternden Worte, die für die Gestaltung des Madonnenideals in der Kunst so be¬ deutsam wurden.

1) Eine britische Gesamtausgabe der zahllosen Predigten Savonarola’s lässt die italienische Litteratur schmerzlich ver¬ missen. Vgl. für alles eben Ausgeführte: Sermoni e prediche di Fra G. Savonarola, Prato 1846, p. 120, 122, 124, 127, 133, 135, 139, 149.

2) Gruyer a. a. 0. p. 206.

3) Prediche di Fra G. Savonarola ed G. Baccini, Firenze 1889, p. 413 u. 516. Hier sind nur die Predigten von Mai bis November 1496 abgedruckt. Im Dezember desselben Jahres begann Savonarola die berühmten Predigten über Ezechiel, gedruckt in Bologna i. J. 1515.

In den Charfreitagspredigten vom Jahre 1494 und 1495 erreichte die Beredsamkeit Savonarola’s ihren Höhepunkt. Seine Worte waren wie Funken der inneren Glut, die ihn verzehrte, und sie entzündeten unter seinen Zuhörern, die sich in atemloser Andacht um seine Kanzel geschart hatten, ein wahres Feuer religiöser Begeisterung, das sie mit ihren Klagen und Thränen nicht zu löschen vermochten. Der Prediger stellte sich mit seinen Zu¬ hörern und unter ihnen haben wir uns auch Michel¬ angelo zu denken, der erst im Juni 1496 zum ersten Mal nach Rom ging unter das Kreuz, er schildert Maria und ihren Sohn, wie sie miteinander die via dolorosa gehen1), wie ihnen keine irdische Schmach und keine menschliche Qual erspart bleibt. Aber während er sich einerseits bemüht, den Schmerz der beiden als den höchsten darzustellen, der jemals Menschenherzen betroffen, wählt er andererseits die zartesten Töne, die gehaltensten Ausdrücke, um die Äußerung solchen Schmerzes als die edelste und maßvollste zu schildern.

„Was soll ich von der Mutterliebe Maria’s zu ihrem Sohne, was soll ich von ihr selber sagen? In der Schrift findet sich nur wenig über sie, und der heilige Geist, der sie gemacht hat, hat vieles der Betrachtung dessen überlassen, der sich mit Hingebung in sie ver¬ senkt.“ So beginnt Savonarola seine Ausführungen, in denen er auf die Jugend Christi zurückgreift und zu¬ nächst Maria in banger Erwartung der kommenden Dinge schildert: „Es ist zu glauben und sehr wahr¬ scheinlich, dass Maria wusste, dass ihr Sohn als Sohn Gottes vom Himmel herabgekommen war, um die Passion zu leiden. Denn sie war wohl bewandert in der Schrift und kannte die Weißagungen; ja, sie war selbst mit dem Licht der Prophetin erleuchtet, mehr als die an¬ deren Propheten, und so wusste sie, dass ihr Sohn als Mensch diese Passion leiden musste. Aber weil die Propheten Tag und Stunde nicht bestimmt hatten, wann Christus leiden sollte, vielleicht damit sie sich nicht allzusehr bekümmerte, so ging sie gedankenvoll einher und war voll banger Erwartung. . . . Denn vielleicht wagte sie es nicht, ihn selber zu fragen, um ihn und sicli nicht zu betrüben. Und so werden sie oft einander angeschaut und sich im Geist gefunden haben, und end¬ lich wird Christus ihr geoffenbart haben, dass sich der Tag herannahe.2)

Bei solchem stillen Beisammensein von Mutter und

1) Vgl. hierzu den erschütternden Abschied Jesu von seiner Mutter, von dem man meinen möchte, dass er Dürer beeinflusst habe. Es fand sich aber und das ist höchst beachtenswert auch unter dem Nachlass Michelangelo’s eine Darstellung des Abschieds Christi von seiner Mutter von besonderer Schönheit. Vgl. Springer, Raffael und Michel¬ angelo II, p. 394. Prediche sopro Job fatte in Firenze 1494, Venedig 1545, p. 375 u. 76.

2) Prediche sopra Job, Venezia 1545, p. 374 u. 375. Vgl. p. 189.

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DAS MADONNENIDEAL DES MICHELANGELO.

Solm verweilt Savonarola mit besonderer Freude. Er kommt in der Charfreitagspredigt des folgenden Jahres darauf zurück und beschreibt in tief ergreifender Rede das innere Verbundensein von Mutter und Kind, auf deren in inniger Gemeinschaft verbrachte Stunden die Passion ihre Schatten vorauswarf. Und wenn sie bei¬ sammen waren, sagte der Sohn: „liebe Mutter, was wirst du thnn in deiner Not?“ und sie antwortete: „ich bin zufrieden, aber noch bin ich traurig“.

Wir können hier nicht alle Äusserungen Savona¬ rola’s wiedergeben, in denen er seinen Zuhörern von dem Madonnenideal erzählte, das in seiner Seele lebte, das er in seinen Träumen und Visionen verwirklicht sah. *)

Niemals wurden die gött¬ liche und menschliche Seite der Jungfrau einander so nahe gebracht, niemals wie¬ der wurden ihre gedanken¬ volle Schönheit, ihre stille Demut und die schmerz¬ verklärte Hoheit ihres We¬ sens so ergreifend geschil¬ dert, wie dieser Domini¬ kanermönch es gethan. Er¬ zählt er einerseits, dass kein Märtyrer so gelitten wie sie, weil ihre frucht¬ bare Fantasie die Passion des Sohnes sie tausendfach vorher empfinden ließ, so betont er doch andererseits, dass Maria ihre Seele, ihren Willen und ihre Vernunft in Gott versenkt hatte. Er macht sie zur Trägerin der heiligen Geheimnisse Gottes und Gegenwärtiges und Zu¬ künftiges, so schließt er, war ihr offenbar. „Denn Christus selbst hatte ihr vom Paradies erzählt und von dem Heilszweck seines Leidens und von den Dingen, die da kommen werden, bis der Antichrist erscheint.1 2)

Diesen Predigten hatte Michelangelo gelauscht, sie waren sein Lebenlang neben Dante und der Bibel seine

1) Siehe die Erzählung einer Vision der thronenden Maria in den Predigten über Hiob a. a. 0., p. 246.

2) Alle diese Gedanken finden sich in der Charfreitags¬ predigt von 1495. Benutzt in der Ausgabe, die in erster Auf¬ lage i. J. 1544 in Venedig erschien, p. 450 ff.

geistige Nahrung gewesen, und was er in seiner Jugend gehört und sich im ferneren Leben im Gedächtnis frisch erhielt, musste sich das nicht auch in seinen Werken wieder spiegeln? Wer fände nicht in seinen tiefsinnigen Madonnenbildern Gedanken Savonarola’s dem schweig¬ samen Marmor anvertraut? Jenes gedankenvolle und doch innerlich erleuchtete, das im Fleisch betrübte und im Geist gefasste, die zagende Seele der Schmerzens¬ reichen und das strahlende Auge der Prophetin, kurz den ganzen gewaltigen Ge¬ dankenreichtum , mit dem der Mönch von San Marco die Gottesmutter überschüt¬ tet hatte, suchte der Künst¬ ler in den engen Kähmen eines menschlichen Körpers zu bannen.

Aber wie bei Savo¬ narola Mutter und Kind eins sind in ihrem Denken und Empfinden, so konnte Michelangelo Maria nicht umgestalten, ohne auch dem kleinen Jesus eine neue Seele und einen neuen Körper zu schenken. In seinem Erstlingswerk der Madonna an der Treppe steht er auch in dieser Hin¬ sicht noch im Banne seiner Vorgänger; das Christkind ist zwar schon jetzt das an¬ mutigste aller Kinder, die die Kunst bis dahin ge¬ schaffen, aber ein unselb¬ ständiger Säugling, wie ihn Nino Pisauo und Matteo Civitali schildern. In allen späteren Madonnenbildern aber ist das Kind nicht mehr jenes hilflose Wesen, wie es Giovanni Pisano, Jacopo della Quercia und selbst noch Benedetto da Majano uns vor die Augen stellen, sondern ein rührend schöner, frühgereifter Knabe, der wohlbefähigt scheint, an den tiefen Gedanken seiner Mutter teilzunehmen. Man vergegenwärtige sich doch noch einmal das Rundbild im Bargello, aus dem die Gedanken Savonarola’s uns am deutlichsten entgegen¬ strahlen. Geben nicht die Charfreitagspredigten des großen Dominikaners den Schlüssel für jedes Geheim¬ nis, und erläutern sie nicht besser als Worte dies wunderbare Marmorbild, in dem die gedankenvolle Jung-

Kreuzabnahme, von Duccio. Siena. (Mittelgruppe.)

DAS MADON N ENIDE AL DES MICHELANGELO.

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frau mit dem prophetischen Ange und der sinnende Knabe in jener schmerzlich - süßen Gemeinschaft ge¬ schildert sind, die Savonarola mit so hinreißender Be¬ redsamkeit beschrieben?1)

Will man behaupten, dass Michelangelo’s einsamer Geist die holden Freuden stillen Mutterglückes über¬ haupt nicht nachzuempfinden vermochte, dass seine Ma¬ donnen so ernst und heroisch sind, weil er keinen anderen Ausdruck für sie fand? Ein Blick auf die Vorfahren Christi in den Lünetten der Cappella Sixtina muss uns eines besseren belehren. Gewiss auch dort herrscht eine ernste ge¬ haltene Stimmung vor, aber sie wird unterbrochen durch die anmutigsten Schilder¬ ungen süßen Mutter glück es.

Hier ist eine Mutter mit ihrem Kinde eingeschlafen, das sie fest und warm in ihren Armen hält; dort schaukelt eine andere den einen ihrer Kleinen in der Wiege und hält den an¬ deren im Schoß; eine dritte endlich muss den Lieb¬ kosungen und Bedürfnissen dreier Lieblinge gerecht werden, und mit welcher Freude unterzieht sie sich so süßen Pflichten!

Gerade Angesichts so fröhlicher Familienscenen, wie sich deren unter den Vorfahren Christi noch mehrere finden, tritt die große Absichtlichkeit in der herben Madonnenschil¬ derung Michelangelo’s noch deutlicher ins Licht.

Wie mit dem Künstler selbst Maria wohl älter wird und reift, aber nie¬ mals den Grundton ihrer Stimmung ändert, wie sich in Pieta und Grablegung, die in den Madonnenbildern verkörperten Ideen einfach fort¬ setzen, so weiß auch der Prior von S. Marco von keinem

1) Dass der Giovannino ein solches Beisammensein nicht stören konnte, wer möchte sich dessen verwundern?

Oder man stelle sich noch einmal unter die Madonna in der Medicikapelle! Ist es nicht wieder die Seherin, die mehr erleuchtet ist als alle Propheten, die sich mit schmerz¬ licher Resignation bewusst geworden, dass alle ihre Liebe das Kind, das sie säugt, nicht vor einem schmachvollen Tode bewahren kann?

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 9.

Grundunterschied der Stimmung zwischen der Jungfrau, die ihr Kind im Schoße hält und der Mutter, die den toten Sohn beklagt. Er schildert in der Charfreitagspredigt v. J. 1495, die sich auf den Text gründete: venite ad me omnes qui laborati et onerati estis et ego reficiam vos ‘) und an deren Schluss ein gewaltig erschütternder Ruf Misericordia! im Tempel der Gottesmutter wieder¬ hallte, die Heilstragödie in allen ihren Phasen mit dem Abschied von Mutter und Sohn beginnend und mit der Beschreibung schließend, wie von unbarmherzigen Händen geführt ein Nagel nach dem anderen die heiligen Hände

und Füße Christi durch¬ bohrt. Nur bei diesem letz¬ ten furchtbaren Akt da scheint es einen Augenblick, als wolle der Mutter das Herz brechen, aber sie er¬ ringt ihre Fassung wieder. „Und denke nicht, so heißt es vorher, dass Maria schreiend durch die Straßen ging und sich das Haar raufte und sich unsinnig gebärdete; sie folgte ihrem Sohne in Sanftmut und mit großer Demut. Sie vergoss auch wohl einige Thränen. Aber äußerlich schien sie nicht traurig allein, son¬ dern traurig und fröhlich zugleich, so dass die Men¬ schen sich wunderten, dass sie sich nicht wie andere Frauen gebärdete. So stand sie auch unter dem Kreuz traurig und fröhlich und ganz versunken in das Ge¬ heimnis der großen Güte Gottes, und ob ihr Fleisch auch klagte, so war ihr Geist doch froh und tröstete die anderen.“ 2)

Zwei Auffassungen der Klage um den Leichnam Christi waren bis dahin in der Kunst nebeneinander hergegangen. Betonen die einen vor allem das andächtige Element und lassen Maria und die Heiligen sich in anbetender Haltung um den Ge¬

ll Ev. Math. 11, V. 28.

2) Vgl. die Charfreitagspredigt v. J. 1495 a. a. 0. p. 451. Nicht minder ergreifend schildert Savonarola die Passion, in der er wiederum auf das Verhältnis von Mutter und Sohn den schärfsten Nachdruck legt, in dem Trattato dell’ Arnore di Jesu Christo, herausgegeben mit den Molti devotissimi Trattati in Venedig 1547, p. 79 93.

Kreuzabnahme von Michelangelo. Florenz. Dom.

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PETER PAUL RUBENS.

kreuzigten scharen, so suchen die anderen den gewal¬ tigen Schmerz der Trauernden in möglichst drastischer Weise zum Ausdruck zu bringen. Fra Giovanni Angelico ist der Hauptvertreter der ersten Richtung, die wir bis Luini ') hinab verfolgen können, die Namen Donatello, Mantegna und Verrocchio repräsentiren die andere.

Wir sahen, dass Savonarolas menschlich fühlende Madonna von einer Anbetung des Erlösers nichts mehr weiß, er sagt aber auch andererseits ausdrücklich, dass sie sich jeder ungestümen Schmerzensäußerung enthielt. Die Liebe zwischen Mutter und Sohn, der geheiligte Schmerz, den eins um den anderen empfand, bildet das Hauptthema aller seiner Passionsbetrachtungen, aber sie waren zu groß und tief, um in Mienen und Gebärden völligen Ausdruck finden zu können. Michelangelo eignete sich diese Auffassung an, von der wir auch in Fra Bartolomeo’s Grablegung ein mächtiges Echo zu ver¬ spüren glaubten. Ja, wir dürfen behaupten, er fand in den Worten des Bußpredigers die befreiende Kraft, für alle seine Darstellungen der Schmerzensreichen, wie sie ihm die Richtschnur waren in seiner Schilderung Maria’s mit dem Kinde. Er zeigt uns keine andächtige Madonna,

1) In der Grablegung in Mailand in S. Maria della Passione.

keine händeringende Frau am Leichnam Christi, sondern die in die göttlichen Geheimnisse versunkene, im Fleisch betrübte und im Geist gefasste Mutter, die in qual¬ voller Erwartung den Jammer der Gegenwart voraus¬ genommen hatte.

Ein Einfluss Savonarola’s auf die Pieta in St. Peter wurde vielfach angenommen, wenn auch nicht genügend begründet; aber auch die Schmerzensreiche, die Michel¬ angelo in späteren und spätesten Jahren schuf, ist in gleicher Weise vom Geist des Dominikaners beseelt, den man endlich auch in den zahlreichen Skizzen für Kreuzigungsdarstellungen und Kruzifixe verfolgen kann.

Dürfen wir aber behaupten, dass nur auf einem ganz beschränkten Gebiet der größte Kanzelredner Italiens seine Spuren in den Werken seines größten Künstlers zurück ließ? Mußten sie sich nicht vielmehr hier und da auch noch in anderen seiner Schöpfungen offenbaren?

Die verhängnisvolle Einwirkung Savonarola’s auf die Gestaltung des Madonnenideals bei Michelangelo wird erst dann in ihrem ganzen Umfange gewürdigt werden können, wenn es gelungen ist, die Bedeutung seiner Lehren auch für die Decke der Sixtinischen Kapelle völlig klarzulegen.

PETER PAUL RUBENS.

VON ADOLF ROS EISBERG.

MIT ABBILDUNGEN.

VI. Die Anfänge des persönlichen Stils: ca. 1612 161-1.

AN hat sich daran gewöhnt, und es ist im Grunde genommen gegen dieses Herkommen nichts Triftiges einzuwen¬ den Rubens’ künstlerisches Schaffen in drei große Perioden einzuteilen : in die Lehr- und Wanderjahre und die darauf folgende Zeit der Verarbeitung der empfangenen Eindrücke, ein Abschnitt, der etwa bis 1612 reicht, dann in eine mittlere Periode, die die Zeit von 1612 bis 1625 umfasst, und in einen dritten Zeitraum, der bis zum Tode des Meisters reicht. Man kann dabei nicht von Anfängerschaft und auch nicht von Verfall reden. Denn unfruchtbare und tote Jahre hat es in dem Leben dieses Mannes überhaupt nicht gegeben. Als Anfänger zwingt er uns ebenso große Hochachtung ab wie als Werdender und Meister, und trotz der schweren Gichtleiden seiner letzten Jahre ist von den körperlichen Schmerzen nicht ein Schatten auf die letzten Erzeugnisse seiner Kunst gefallen. Im Gegenteil: je mehr sein Körper dem Dunkel des Todes entgegenschritt,

desto heller wurde sein Geist, desto mehr strebte seine Kunst dem warmen, goldigen Licht entgegen, das denn auch fast das gesamte Schaffen seiner letzten zehn Lebensjahre erfüllt, durchströmt und überflutet hat. Es ist selbstverständlich, dass diese Einteilung in Perioden nur einen rein äußerlichen Wert hat, dass sie nur ein Aushilfsmittel ist, damit die Historiker Rubens’ ge¬ waltiges Lebenswerk einigermaßen chronologisch grup- piren können. So ist es denn auch als ein Akt der Vorsicht aufzufassen, wenn Rooses in der Einleitung zu seinem großen Rubenswerk die zweite Periode von Rubens’ Entwicklung als Maler nur mit allgemeinen Sätzen kennzeichnet. Sie unterscheide sich von der ersten zunächst „durch weniger übertriebene, mehr an¬ mutigere Formen; der Gesamtton wird heller, das Licht blonder, die Farbe wird in großen verschmolzenen Massen aufgesetzt, die Tonnüancen sind in das Impasto hineingemalt und die Konturen bestimmt Umrissen“.

Im Einzelnen wird man diese allgemeine Formel vor jedem Bilde noch erweitern können. In dem Zeit-

PETER PAUL RUBENS.

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raum, der uns jetzt beschäftigt, liebte Rubens eine blasse Tonart in den nackten Körpern, die er durch bläuliche Mitteltöne zu verstärken suchte. Die Körper sehen aus, als wären sie in einem Zuge gemalt worden, nur ganz dünn über den Kreidegrund hingestricken, dann fest zugedeckt und zuletzt mit einem zarten Pinsel voll dünnflüssiger Farbe fast bis zu emailartiger Glätte vertrieben worden. Diese dünnflüssige Behandlung macht sich auch in allen übrigen Teilen der diesem Zeiträume ungehörigen Bilder bemerk¬ bar. Welche aber sind dies?

Der Ruhm des jungen Meisters, der die beiden großen Bilder der Kreuzes¬ aufrichtung und der Kreuz¬ abnahme geschaffen , hatte sich so schnell verbreitet, dass ihm von allen Seiten Schüler zuliefen. Schon im Jahre 1611, als erst die Kreuzesaufrichtung und die Anbetung der Könige voll¬ endet waren, musste er sich gegen den Andrang wehren.

In einein Briefe, den er am 11. Mai 1611 an den Kupfer¬ stecher Jakob de Bye schrieb, lehnte er dem Schreiber, dem er sonst verpflichtet war, die Annahme eines Lehrlings ab.

Er hatte schon eine Anzahl von Lehrlingen bei anderen Meistern untergebracht, die dort eine Wartezeit voll¬ bringen mussten, bis sie zu ihm ins Atelier kommen konnten. Es ist dabei frei¬ lich in Betracht zu ziehen, dass ein Malerlehrling von damals nichts mit einem Atelierschüler von heute zu schaffen hat. Die Lehrlinge wohnten und aßen im Hause des Meisters, und dafür hatten sie auch zu arbeiten. Aus den Lehrlingen wurden Gehilfen, und diese arbeiteten, so lange es ihnen beliebte, für einen gewissen Lohn unter Rubens’ Leitung. Anfangs kopirten sie seine Bilder, dann machten sie nach seinen Zeich¬ nungen und Skizzen die Untermalungen, und zuletzt, als der Großbetrieb zu starke Anforderungen stellte, malten sie ganze Bilder, denen der Meister nur den letzten Schliff, die mehr oder minder flüchtige Re- touche gab.

Man wird also bei der Sichtung der eigenhändigen

Arbeiten des Meisters von dem minderwertigen Schüler¬ werk sehr vorsichtig sein müssen und darum gut tliun, sich nur an das mit mehreren Zeugnissen Beglaubigte zu halten. Für den Zeitraum von 1612 1614 besitzen wir gerade solche Zeugnisse in beträchtlicher Zahl, vor¬ nehmlich in einer Reihe von Bildern, die den im Rubens¬ werke ungemein seltenen Vorzug besitzen, dass sie durch Datirung oder Signatur oder durch beides als eigen¬

händige Werke des Meisters ausgezeichnet worden sind. Es sind Bilder religiösen und mythologischen Inhalts, Vertreter also der beiden Stoffgebiete, die Rubens sein ganzes Leben hindurch mit gleicher Liebe behandelte, ohne dass seine künstlerische Unbefangenheit, die sich jedem einmal ergriffenen Gegenstände gleichmäßig hingab, unter einer so heterogenen Beschäftigung irgend welche Einbuße erlitt. Diese Unbefangenheit bewahrte er sich bis zuletzt; das, was wir unter „Reflexion“ verstehen, wird man in keinem seiner Werke finden.

Der ungläubige Thomas. Gemälde von P. P. Rubens im Museum zu Antwerpen.

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PETER PAUL RUBENS.

Das umfangreichste jener mit Jahreszahlen be- zeichneten Bilder ist das berühmte Triptychon, das nach dem Mittelbilde „der ungläubige Thomas“ genannt wird. Es war von dem Bürgermeister Nikolaus Rockox bestellt und von ihm dazu bestimmt worden, über seiner Grab¬ stätte in der Marienkapelle der Rekollektenkirche in Antwerpen aufgestellt zu werden. Dort hat es sich auch bis 1794 befunden, wo es die Franzosen nach Paris ent¬ führten. 1815 kam es wieder zurück, und später fand es eine würdige Stätte im Museum der Stadt. In jenem oben erwähnten Briefe an den Kupferstecher de Bye nennt Rubens Ifockox seinen „vriendt ende patroon“, und er hatte auch alle Ursache dazu, da es so gut wie sicher ist, dass Rubens den Auftrag zur Kreuzabnahme in erster Linie Rockox verdankt, der 1611, wo der Künstler den Auftrag von der Bogenschützengilde erhielt, ihr Vorsteher (hooftman) war. Rubens wird also eine Ehre darein gesetzt haben, seinen Beschützer durch eigenhändige Ausführung jenes Triptychons mit dem ungläubigen Thomas zufrieden zu stellen. In der That ergiebt die Prüfung der drei Teile des Bildes, dass keine fremde Hand daran beteiligt war. Nur die beiden Wappen des Ehepaares auf den Rückseiten der Flügel scheinen geringe dekorative Arbeiten zu sein. Vielleicht mit Rück¬ sicht auf die Bestimmung des Altarwerkes hat Rubens dem Mittelbilde eine ernste, feierliche Haltung gegeben (s. die Abb. S. 211). Selbst bei dem Mantel Christi ist die rote Farbe gedämpft, und der entblößte Oberkörper des Auferstandenen bringt keine leuchtende Note in die Stimmung hinein, da die Modellirung durch jene bläulichen Mitteltöne erfolgt ist, die für diese Zeit des Meisters freilich charakteristisch sind und die er auch bei mythologischen Figuren anwendete. Dunkelgrau ist das Gewand des jugendlichen Johannes, grauviolett das des heiligen Thomas, der sich über die Hand mit den Wundenmalen beugt, und bläulichgrau das des heiligen Petrus, der sich bereits halb in dem fast völlig schwarzen Hintergründe verliert. Wenn Rooses diesem Bilde, viel¬ leicht mit Recht, einen Mangel an Begeisterung vor¬ wirft, so sind dafür die beiden Bildnisse der Stifter auf den Flügeln, der Bürgermeister und seine Gattin Adriana Perez, desto geistvoller und lebendiger, trotz der durch den Charakter des Bildes vorgeschriebenen feierlichen, fast steifen Haltung (s. die Abb. S. 212 u. S. 213). Welch einen gewaltigen Fortschritt hat Rubens in der scharfen Erfassung des Individuums seit jener Zeit gemacht, wo er in Italien die sogenannten „vier Philosophen“ und die Mitglieder der Mantuanischen Herzogsfamilie in An¬ betung der heiligen Dreifaltigkeit malte! Es ist Mode geworden, seit den mehr durch scharfe Dialektik als durch überzeugende Beweiskraft glänzenden Ausführungen des französischen Malers Fromentin (in dem 1876 er¬ schienen Buche „Les maitres d’autrefois“) Rubens die Fähigkeiten eines großen Portraitmalers abzusprechen, vielleicht nur, weil er bei der Universalität seiner Kunst

Nicolaus Rockox.

Gemälde von P. P. Rubens im Museum zu Antwerpen.

PETER PAUL RUBENS.

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keine Specialität pflegte und seine Bildnisse aus dem Rahmen seines Gesamtwertes nicht vor einer anderen Gruppe hervortreten. Wer jedoch seine Bildnisse ge¬ sondert betrachtet und aus ihrer Menge die unzweifel¬ haft eigenhändigen heraushebt, wird genug Meisterwerke schlechthin finden, die an Intimität der Auffassung, an erschöpfender Charakteristik hinter keinem van Dyck, mit dem ein Vergleich zunächst in Betracht käme, Zurückbleiben. Das Bildnis des Rockox ist ein solches Meisterwerk. Aus jedem Zuge des scharfgeschnittenen Angesichts, aus dem Leuchten der energisch blickenden Augen, aus den fest zusammen gezogenen Lippen, um die dennoch ein Hauch verbindlichen Wesens schwebt, sprechen die Entschlossenheit und Gewandheit eines Staatsmannes, dem die Stadt Antwerpen neunmal das verantwortungsvolle Amt eines Bürgermeisters anver¬ traute. Zugleich prägt sich aber auch das Wesen eines feinsinnigen Humanisten aus, der nicht geringe Kennt¬ nisse auf dem Gebiete der Altertumskunde, besonders der Numismatik besaß.

Tn dem oberen Teile der den Hintergrund bildenden Architektur liest man, wenn die Beleuchtung gerade günstig ist, die Jahreszahl 1613. Über die 3 ist jedoch später eine 5 gemalt worden, so dass der Schluss nahe liegt, dass Rubens das Bildnis des Rockox 1613 gemalt hat, dass der ganze Altar aber erst 1615 fertig ge¬ worden ist. Adriana Perez war die Tochter eines Mannes, der aus Spanien stammte, und diese Abstammung verleugnet sich in ihrem Gesichtstypus nicht. Aus diesen verschlossenen Zügen ist schlechterdings nichts zu lesen, und das hat auch wenige Jahrzehnte später selbst Velazquez nicht vermocht, wenn er die Damen des spanischen Königshauses und des Hofs malen musste. Rubens hat sich, gerade wie Velazquez, der nach den neuesten Forschungen von dem Einflüsse des Antwerpener Meisters durchaus unberührt geblieben sein soll, durch eine reichere Anordnung des Hintergrundes geholfen: über dem steifnackigen Haupte der in sich gekehrten Frau, die ihren Rosenkranz gewohnheitsmäßig durch die Finger gleiten lässt, ist ein purpurroter Vorhang zu malerischen Falten zusammengerafft. Die um den Hals geschlungene und dann bis zum Taillenschluss herabreichende Perlen¬ kette, die feinen Spitzenmanschetten und der aus Korallen¬ perlen und goldenen Gliedern zusammengesetzte Rosen¬ kranz sind Meisterwerke der Fein- und Kleinmalerei. Über seinen großen monumentalen und dekorativen Malereien vergaß Rubens nicht die alte Liebe der Nieder¬ länder zur Wiedergabe des toten Stoffes. Er malte wilde und zahme Tiere nicht bloß in der höchsten Be¬ wegung des Lebens, sondern auch im Tode besser als Snyders und Fyt, und wenn er einmal ein Stillleben allein malte, machte selbst Gevatter Brueghel seine tiefste Reverenz vor dem Manne, der alles konnte.

Wie eng zwei Seelen in der Brust dieses Mannes zusammen lebten, der ein treuer Sohn seiner Kirche war

Adriana Perez.

Gemälde von P. P. Bubens im Museum zu Antwerpen.

Die Flucht nach Ägypten. Gemälde von P. P. Rdbens in der Galerie zu Kassel.

PETER PAUL RUBENS.

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und der doch zugleich mit den Göttern und Göttinnen des heidnischen Olymps intimen Verkehr pflog, beweist kein anderes Bild besser, als „Jupiter und Kallisto“ in der Kasseler Galerie (s. diese Abb.). Es ist, soweit wir bis jetzt wissen, das erste Gemälde, das die volle Bezeichnung mit dem Namen trägt: P. P. RVBENS. F. 1613. Es hat also zugleich mit dem Thomasaltar in Rubens’ Werkstatt gestanden, und daraus erklärt es sich, dass beide Bilder, trotz des völlig entgegengesetzten Inhaltes, in derselben koloristischen Manier, mit gleicher Sorgfalt in der Modellirung der nackten Körper, aber auch nach demselben System, durch bläuliche Mitteltöne

Jupiter in Gestalt der Diana, die Kallisto liebkosend. Gemälde von P. P. Rubens in der Galerie zu Kassel.

keine besonders hohe Meinung hatte, wie Rubens, sind solche Bezeichnungen von höchstem Wert.

Die Kasseler Galerie besitzt noch ein zweites datirtes Bild aus der Zeit, die uns hier beschäftigt : die „Flucht nach Ägypten“, die ebenfalls in großen Buchstaben die gleiche Bezeichnung wie das Kallistobild , nur mit der Jahreszahl 1614 trägt (s. die Abb. S. 214). Es ist ein Nachtstück mit doppelter Lichtwirkung, die einer¬ seits von dem nur wenig sichtbaren Monde, der sich in dem Bache spiegelt, andererseits von dem in den Armen der Maria schlummernden Kinde ausgeht. Mit den anderen datirten Bildern aus den Jahren 1613 und 1614

das starke Impasto gleichsam flüssiger zu machen, be¬ handelt worden sind. Nach Rooses’ Meinung sollen der Adler, der Köcher der Nymphe, die sich nur langsam der Überredungskunst des unter der Maske der Diana erschienenen Göttervaters fügt, die rote Decke, auf der sie ruht, und die Landschaft von Wildens aus¬ geführt worden sein. Wildens war aber damals ein Mann von 34 Jahren, und es ist darum nicht anzu¬ nehmen, dass Rubens ein Bild, an dem ein fast gleich¬ altriger Genosse einen sehr wesentlichen Anteil gehabt haben würde, zum ersten Male ganz gegen seine Gewohnheit mit seinem vollen Namen bezeichnet hätte. Bei einem Manne, der so eifersüchtig über seinem Ruhme wachte und von seinen Schülern und Gehilfen

teilt es die Eigenschaft einer überaus sorgfältigen kolo¬ ristischen Durchführung, die sich gleichmäßig auf alle Teile des Bildes erstreckt. Seine Geschichte lässt sich weit zurück verfolgen, wie es scheint, noch bis ins 17. Jahr¬ hundert. Rooses hat nämlich in den auf Rubens bezüg¬ lichen Manuskripten des Mols , die in der Brüsseler Bibliothek aufbewahrt werden, eine Notiz gefunden, nach der ein gewisser van der Hoeven folgende Aufzeichnung hinterlassen hat: „Ich habe bei Grimberge ein kleines Stückchen von Rubens gesehen, welches wunderschön die Flucht nach Ägypten darstellte, worauf Rubens seinen Namen mit vergoldeten Buchstaben gesetzt hat.“ Das ist ein Beweis für die Wertschätzung, die Rubens selbst diesem Bildchen beilegte, das aber, wie es scheint, unter

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PETER PAUL RUBENS.

fremdem Einfluss entstanden ist.1) Es ist eine Erinnerung an den Frankfurter Meister Adam Elsheimer, den Rubens, wie er selbst in einem vom 19. Juni 1622 datirten Briefe bezeugt, in Rom kennen gelernt und von dem er sich auch in der Kunst des Radirens hatte unter¬ richten lassen. Rubens besaß, wie aus dem Verzeichnis seines Nachlasses hervorgeht, vier Bilder von Elsheimer, die er vermutlich von dem Meister selbst in Rom ge¬ kauft hatte. Darunter befand sich ein Nachtstück mit der Ceres, und vielleicht hat sich Rubens dadurch zu seiner Flucht nach Ägypten anregen lassen. Vielleicht hat er auch, wie Rooses vermutet, ein ähnliches Gemälde von Elsheimer direkt kopirt. Wenigstens finden wir in seinem Nachlass außer den vier Originalen Elslieimers auch eine Kopie nach diesem genannt, die als „ein Opfer“ bezeichnet ist. Bode glaubt,2) dass es entweder eine Kopie nach dem „Opfer zu Lystra“ im städtischen Museum zu Frankfurt a. M. oder nach dem „Opfer der Menschen um Erfüllung ihrer Wünsche“ in der Münchener Pinakothek gewesen sei. Er schlägt überhaupt den Ein¬ fluss Elslieimer s auf Rubens ziemlich hoch an, wie er andrerseits der Meinung ist, dass dieser auch auf den älteren Meister eingewirkt habe. „Elsheimer’s Anschauung wurde durch Rubens eine breitere, größere, seine Be- liandlungsweise freier und flotter. Rubens hingegen lernte an dem Schmelz und der Tiefe von Elsheimer’s Färbung . . . . und ebenso an seiner geschlossenen Beleuchtung und seiner stilvollen Auffassung der Landschaft.“ Nach Bode’s Ansicht sind außer der „Flucht nach Ägypten“ von bekannten Bildern unseres Meisters noch die „Alte, die das Kohlenbecken anbläst“ in der Dresdener Galerie, „Venus in der Schmiede des Vulkan“ im Brüsseler Mu¬ seum und eine Landschaft mit römischen Ruinen in der Sammlung Lacaze im Louvre „direkt im Anschluss an

1) Das ähnliche Exemplar im Louvre, das im Katalog als ein Werk von Rubens aufgeführt wird, ist das Pasticcio von Dietrich, nicht das Kasseler Bild, welches letztere nicht allein durch die Inschrift, sondern auch durch die ganze Fak¬ tur als das Original von Rubens beglaubigt wird.

2) Im Jahrbuch der kgl. preußischen Kunstsammlungen Bd. I, S. 72.

Elsheimer“ entstanden. Was zunächst die Ruinenland¬ schaft betrifft, so ist es dieselbe, die wir im 5. Bande der N. F. dieser Zeitschrift S. 233 nach dem Stiche von Boiswert reproduzirt haben. Die dort erwähnte Zeich¬ nung in der Albertina, die der Stecher als Vorlage be¬ nutzt hat, ist sicher in Italien entstanden. Das Gemälde in der Sammlung Lacaze ist mir aber schon 1878, als ich es zuerst sah, zweifelhaft erschienen, und den¬ selben Vermerk trug ich mir 1881 in den Katalog mit dem Zusatze ein, dass höchstens die Figuren von Rubens’ Hand sein könnten. Rooses, der sich eines bestimmten Urteils enthält, weil das Bild zu hoch hängt, bezeichnet die Arbeit ebenfalls als „schwach und zweifelhaft“. Es ist also besser, bei der Abschätzung des Einflusses Elslieimers auf Rubens diese Landschaft außer Acht zu lassen. Es bleiben also nur die „Alte mit dem Kohlen¬ becken“ in der Dresdener Galerie und die „Schmiede des Vulkan“ in Brüssel übrig, die aber, wie die neueste Forschung erwiesen hat, zusammengehören.1) Das voll¬ ständige Bild, das später aus unbekannten Gründen ver¬ stümmelt worden ist, ist etwa um 1622 gemalt worden, zu einer Zeit also, wo Rubens’ Thätigkeit durch die Arbeiten für die Galerie Medicis aufs äußerste in An¬ spruch genommen war. Sollte er noch in dieser stür¬ mischen Zeit an den verkommenen römischen Maler deutscher Nation gedacht haben, zumal bei einem Bild, das keineswegs hervorragende Eigenschaften zeigt? Mit demselben Recht könnte man die erst um 1635 gemalte Judith im Museum von Braunschweig auf den Einfluss Elslieimers zurückführen. Man wird demnach wohl daran thun, nur die „Flucht nach Ägypten“ als einziges Beispiel zu citiren, wo wirklich eine Nachahmung Els- lieimers nachzuweisen ist. Es war vielleicht nur ein gelegentlicher Einfall von Rubens, der ihm später nur noch selten gekommen ist. Immerhin ist es ein Ver¬ dienst Bode’s, zuerst erkannt zu haben, dass die Brüsseler „Schmiede des Vulkan“ und die „Alte mit dem Kohlen¬ becken“ verwandte Züge tragen. (Fortsetzung folgt.)

1) Dank dem Zusammenwirken von K. Woermann (Kunstchronik 1889, S. 353 355) und M. Rooses (L'oeuvre de P. P. Rubens 111, S. 183—186). .

ZU DER RADIRUNG.

Blick auf Überlingen , Originalradirung von Professor P. Halm. Die diesem Hefte heigefügte trefflich radirte Studie von der Hand des geschätzten Künstlers verdankt ihre Entstehung einer vorjährigen Reise und darf den früher in dieser Zeitschrift veröffentlichten Blättern des fein¬

sinnigen Künstlers getrost an die Seite gestellt werden. Die Freunde echter Radirtechnik werden das Blatt manchem ängstlich ausgearbeiteten radirten „Bilde“ ohne weiteres vorziehen, weil der persönliche Hauch reifer Meisterschaft darin lebt.

Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

Heliogravüre von HGBrinckmänn, Leipzig

Abb. 1. Das Monolit.li-Thor von Ak-kapana (Ostseite).

VON ALTPERUANISCHER BAUKUNST.

MIT ABBILDUNGEN.

LS die gebildete Welt vor vier Jahren das vierhundertjährige Jubiläum der Ent¬ deckung Amerika’s feierte, wurde viel¬ fach darauf hingewiesen, dass auch hier wie bei der Geschichte Altgriechenlands der von falschem Idealismus geblendete Blick vielfach Licht sehe, wo nur Schatten ist, dort ideale Beweggründe und divinatorischen Endeckerscharfblick voraussetzte, wo nur Vorurteile, grobe Unkenntnis, und neben religiösem Fanatismus schnöde Habsucht vor¬ waltete. Insbesondere ist Südamerika von Pizarro’s Eroberung an eine Domäne schnöder Abenteuersucht ge¬ wesen und hat bis in unsere Zeiten diesen Stempel an sich tragen müssen. Kein Wunder, dass die Wissen¬ schaft unter solchen Umständen schwere Einbuße erlitten hat, dass z. B. schriftliche Überlieferungen über die Vor¬ zeit eines so wichtigen Staates wie Peru gänzlich fehlen. So wenig zu hoffen ist, dass diese Lücke sich jemals ausfülle, um so erfreulicher ist es, dass das Hochland der Anden doch noch Zeugen jener Vorzeit beherbergt, die auch heute noch dem Forscher erzählen von dem Können und Thun längst verschollener Geschlechter: wir meinen Gräberfunde und Trümmer von Bauwerken.

Die bei weitem wichtigste und merkwürdigste Fund¬ stätte ist Tiahuanaco am Titicaca-See. Oft schon ist sie beschrieben worden. Die älteste Beschreibung lieferte Pedro de Cieza im 16. Jahrhundert. Leider kranken die Berichte aller folgenden Forscher bis in die Neuzeit an einer oft beispiellosen Oberflächlichkeit, so dass man bis vor kurzem nur höchst mangelhaft über jene merkwürdigen Ruinen unterrichtet war. Erst der Gegenwart blieb es Vorbehalten, hierin eine Änderung anzubahnen und den Weg zu betreten, der für das Studium der klassischen Ruinenstätten in Europa schon längst vorgezeichnet ist.

Vor uns liegt ein Werk, welches in dieser Hinsicht als mustergültig anzusehen ist. Es trägt den Titel: „Die Ruinenstätte von Tiahuanaco im Hochlande des alten Peru“ ; eine kulturgeschichtliche Studie auf Grund selbständiger Aufnahmen von A. Stübel und M. Uhle. (Mit Karten und 42 Platten in Lichtdruck, Breslau, C. T. Wiskott.)

Ein Blick auf die planmäßige Gliederung seines Inhaltes belehrt uns zunächst darüber, dass wir es darin nicht allein mit äußerst gewissenhaft durchgeführten Aufnahmen an Ort und Stelle zu tliun haben, welche viele Irrtümer früherer Beobachter berichtigen und dem

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. II. 10.

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VON ALTPERUANISCHER BAUKUNST.

Bekannten manches Neue hinzufügen, sondern dass dieses Werk auch vermöge seiner erschöpfenden Zusammenstellung und kritischen Beleuchtung alles dessen, was über die Ruinenstätte bisher veröffentlicht worden ist, als epoche¬ machend und grundlegend für jede weitere Forschung angesehen werden muss und diese Bedeutung für alle Zeit bewahren wird.

Der starke Folioband gliedert sich in einen Atlas von 42 Tafeln und den Text. Eine Übersichtskarte giebt ein anschauliches Bild der topographischen Ver¬ hältnisse des Hochlandes des alten Peru und beruht zum Teil auch auf neuen Beobachtungen astronomischer und barometrischer Art.

Tiahuanaco liegt in der Nähe des Titicaca-See’s auf einer Hochebene 3824 m über dem Meeresspiegel. Die Hochebene erstreckt sich zwischen den beiden Cordilleren, deren eine nach dem öden Küstenstreifen längs des Stillen Oceans steil abfällt, während die andere in das Stromgebiet des Amazonenstromes terrassenförmig übergeht.

Unter den Resten alter Kultur in Tiahuanaco sind die wichtigsten die Trümmer großer monolithischer Tliore. Es sind deren fünf von nahezu gleicher Größe, aus andesitischer Lava gemeißelt, vorhanden gewesen. Das am besten erhaltene und am reichsten verzierte Thor, von dem wir oben eine Abbildung geben, bietet uns eine erwünschte Gelegenheit, über die Architektur der vor¬ geschichtlichen Bewohner einige Bemerkungen vom künstlerischen und technischen Gesichtspunkte aus zu machen.

Das Thor hat eine Gesamthöhe von 3,02 m, eine größte Breite von 3,82 m und eine Stärke von 0,42 bis 0,48 m. Es besteht aus hellgrauer andesitischer Lava, einem Gestein von großer Härte, dessen Bearbeitung- große Mühe verursacht haben muss. Der betreffende Steinblock mag vor der Ausarbeitung der Thor- und Nischenöffnungen über 12 000 kg, nach ihr noch etwa 9500 kg gewogen haben.

Am Äußeren des Thores fällt zunächst dreierlei auf: es ist gebrochen, tief im Erdboden begraben, und seine beiden Bruchteile sind schräg übereinander ver¬ schoben, so dass die Thoröffnung die Form eines Trape- zoids angenommen hat. Das Thor ist offenbar umge¬ stürzt, gebrochen und dann in dieser kümmerlichen Weise wieder aufgerichtet worden. Durch Menschenhand und durch natürliche Einwirkungen ist die Architektur der Schauseite in fast allen ihren Teilen beschädigt. Die Rückseite macht den Eindruck eines zweigeschossigen Hauses: sie zeigt im Untergeschoss neben der Thor- öffnung zwei blinde Fenster, darüber eine Art Gurt¬ gesims, im Obergeschoss vier blinde Fenster, darüber eine Art Kranzgesims in Form eines horizontal laufen¬ den Bandes. Das Ganze ist trotz der Einfachheit der Anlage und trotz der geringen Durchbildung der Formen nicht ohne künstlerisches Gefühl. Die Gliederung der

Thorfläche durch ein Band und die Gliederung des Bandes wieder in zwei übereinander vorkragende Glieder sind unzweifelhaft Schritte auf dem Wege geistiger Be¬ lebung tektonischer Formen, welche das Wesen jeder, auch der höchst entwickelten, architektonischen Kunst¬ übung ausmacht. Das ausladende Band aber, das den oberen Thorrand entlang läuft, giebt der gliederung- reichen Thorseite seine Bekrönung. Ihm fehlt die ge¬ simsartige Gliederung; indem aber der Architekt diesem Bande eine besondere Breite und die größte Ausladung (4 cm) gab, erzielte er einen noch immerhin kräftigen Abschluss. Auch die wohldurchdachten Umrahmungen der Fenster, die wohlabgemessenen Verhältnisse der Breiten und Höhen, das Suchen nach Symmetrie und der harmonische Eindruck des Ganzen zeigen, dass die Schöpfer des Werkes voll bewusst nach künstlerischen Grund¬ sätzen geschaffen haben.

Die verhältnismäßig wohl erhaltene Vorderseite veranschaulicht die Hauptfront eines Tempels oder besser noch die Hauptschauseite eines Triumphthors, und während die architektonischen Formen bis auf einen Thorrahmen und einen architravartigen Vorsprung ganz zurücktreten, herrscht der plastische Schmuck vor. Die ganze Fläche oberhalb des Thores ist von Reliefs eingenommen. Man unterscheidet eine mittlere Hauptfigur, links und rechts je drei Reihen kleinerer Figuren. Die Mittelfigur ist be¬ deutend größer als die übrigen, in stärkerer Erhebung ausgeführt und von vorn dargestellt. Die kleineren Figuren sind in Seitenstellung der Hauptfigur zuge¬ wandt. Auf ein Knie niedergelassen und das Scepter, welches eine jede führt, vor den Füßen aufgesetzt, ver¬ ehren sie anbetend die Hauptfigur, die auf einem ab¬ gestuften Sockel gleichsam thront. Die Nebenfiguren sind überdies sämtlich geflügelt und in der Mittelreihe mit Vogelköpfen ausgestattet, so dass ihre mythologische Bedeutung außer Zweifel steht. Ein Fries mit band¬ artig fortlaufendem Muster schließt die Darstellung unten ab. An zahlreichen Stellen kehren in den Figuren die gleichen Ornamente und Ornamentgruppen wieder, welche Stiibel und Uhle in überzeugender Weise herauszuheben und zu deuten wissen. Es sind dies der männliche und der weibliche Kondorkopf, der Katzenkopf, der Fisch¬ kopf, ein Flügel, ein dreigliedriges Ornament mit einem Mittelstück und zwei Flügeln, ein dreigliedriger Stutz, endlich vier geometrische Ornamente, darunter ein quadratisches mit Mäanderandeutung.

Die Hauptgestalt (s. Abb. 1) ist reich verziert, in den Formen konventionell steif und vorwiegend recht¬ winkelig begrenzt. Der Kopf nimmt etwa die Hälfte der Darstellung ein: die Augen sind rund, die früher vorstehende dreieckige Nase ist abgebrochen, der Mund strichartig vertieft, Ohren fehlen. Den Kopf umrahmen zwei mit Haken verzierte Streifen und lose, gleichsam wie in den Rahmen eingesetzte Strahlen. Dieser rings herum gehende G cm breite Strahlenkranz trägt in uu-

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gesuchter Weise dazu bei, die hohe Würde der Gestalt zu kennzeichnen. Die Menschenköpfe, die als Armge- hänge dienen, sind wohl als Trophäen, Köpfe erlegter Feinde zu deuten: darauf deuten die schlaff herab¬ hängenden Kondorhälse, die mit den endigenden Köpfen Haare darstellen. Ähnliche abgeschnittene Totenköpfe kommen auch auf bemalten peruanischen Thongefäßen und in Geweben aus dem Gräberfelde von Ankon vor. Die Kleidung der Hauptgestalt besteht aus einem poncho¬ artigen Gewand mit Ärmeln und Schulterstreifen, sowie einem Gürtel mit Fransen.

Der Strahlenkranz der Hauptfigur hat seinen Ur¬

sprung unzweifelhaft in der Federkrone, wie sie bei den Bildsäulen von Tiahuanaco noch deutlich erscheint. Metallene antiquarische Reste beweisen, dass im alten Peru dreiteilige metallene Nachbildungen federartiger Ornamente im Kopfputz über der Stirne getragen wurden. Scepter aus Peru sind in den ethnographischen Museen zahlreich vorhanden, um die Deutung dieser Gegenstände hinlänglich sicher zu stellen.

Die anbetenden Gestalten veranschaulicht Abb. 2. Zu bemerken ist, dass die Gestalten in jeder der drei Reihen vollständig gleich sind, dass also nur drei Typen zu diesem figürlichen Reliefschmucke verwendet sind. Man sieht von der Gestalt beide Beine, einen Flügel

und einen Arm; die Hand umspannt ein großes Scepter, das auf dem Boden steht und der Stellung den Halt verleiht. Den Kopf bedeckt eine fünfzackige Krone mit edelstem verziertem Rande. Die Nase ist spitz und breit- fliigelig, der Mund breitlippig, das Ohr klein. Um dieses schmiegt sich das Haupthaar als ein Doppelsträhn, welcher in einem Kondorkopfe endigt. Das Scepter geht unten in einen, oben in zwei Fischköpfe aus.

Die Figuren einer jeden Reihe passen so genau aufeinander, die Linien fallen so treffend zusammen, dass man glauben muss, die Figuren seien zunächst mit Stempeln oder Schablonen auf den Stein übertragen und

dann ausgearbeitet worden. Diese Schablonen könnten aus Tierhaut gefertigt gewesen sein. Sehr auffällig ist nun aber, dass je neun Figuren der äußersten rechten und der äußersten linken Seite einmal nicht vollständig ausgeführt sind und dann auch nur in den gröbsten Umrissen aufeinander passen, wobei sich starke Ab¬ weichungen heraussteilen. Stiibel und Ulile schließen hieraus mit Recht, dass die Umrisse der fertigen Figuren und die der unvollendet gebliebenen nicht von gleich befähigten Steinmetzen, wie sie das Werk im übrigen voraussetzt, ausgeführt worden sind. Es steht somit außer Frage, dass dieser Teil der Arbeit einer späteren Zeit zugeschrieben werden muss.

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Abb. 3 und 4. Figuren aus dem Friese des Honolith-Tkores von Ak-kapana.

Unter den 48 anbetenden Figuren zieht sich in der ganzen Breite des Thores ein ebenfalls plastisch ver¬ zierter Fries dahin. Das Grundmotiv dieses Schmuckes bildet ein mäanderartiges Band, welches stufenartig gebrochen ist. Elf größere rechteckige Bäume, die innerhalb des Mäanders ausgespart sind, füllen eben¬ so viele nahezu quadratische Gesichter aus, die von breitem Strahlenkränze umgeben sind. Ihre Gestalt und Aus¬ schmückung ist vollständig gleichartig. Nur ihre Größe wechselt. Dazu unterscheiden sie sich durch äußerlich - oben, unten oder seitlich hinzugefügte Attribute, welche rebusartig verschiedenartige Ideen ausdrücken. Diese Gesichter stellen die Sonne dar, und die wechseln¬ den Attribute zeigen, dass eine zusammenhängende Ge¬ schichte hier dargestellt ist. Indess ist es noch nicht gelungen, diesen Sonnenmythus aufzufinden.

Von besonderer Wichtigkeit sind zwei überaus fein ausgeführte nur 8 cm hohe Figuren, die an den beiden Enden des Frieses angebracht sind (Abb. 3 u. 4). Sie gestatten nämlich, wie die Verfasser entdeckt haben, durch Vergleich mit anderen peruanischen Kunstwerken, einen Schluss auf ihren Ursprung. Bei den Ausgra¬ bungen auf dem Totenfelde von Ancon fanden nämlich u. a. die Herren Stübel und Reiß einen Mumienballen, der statt der gewöhnlich vorhandenen ganzen Mumie ein Knochenbündel enthielt, von einem eigenartigen Poncho umschlossen. Dieser Poncho (Abb. 5) zeichnet sich durch ungewöhnliche Feinheit der Technik und durch den besonderen Stil der Musterzeichnung aus. Verziert ist dies gobelinartig gewebte Kleidungsstück

mit Figuren in bunter und wechselnder Farbengebung, die sonst ganz gleich wiederkehren. Diese Figuren des Ponchomusters aber stehen in engster Übereinstimmung mit den figürlichen Darstellungen des Thores. Die wichtigsten Ornamente, wie der Kondorkopf, der Puma¬ kopf, das menschliche Gesicht, der Flügel, der Stutz, das scheibenartige Ornament, kehren hier wie dort wieder. Ferner finden wir beiderseits die Vorliebe für rechteckige Begrenzung, die scepterartigen Stäbe, die zackige Krone, den tierischen Kopf der einen Gestalt, die Ausstattung mit Flügeln, die gleiche Gewan¬ dung vor.

Aus der Gleichartigkeit so vieler Stücke des Ponchos und der Figuren des Thores ziehen die Ver¬ fasser den zwingenden Schluss, dass beide Erzeugnisse Werke einer und derselben Kultur, wahrscheinlich auch eines und desselben Volkes sind und vielleicht einer und derselben Zeitperiode angehören. Die vorhandenen geringen Abweichungen mögen sich zum Teil aus der Eigentümlichkeit ihres verschiedenen Materials erklären, zum Teil auf die individuellen Freiheiten der ver¬ schiedenen Verfertiger zurückzuführen sein. Es ist ein sehr glücklicher Zufall, dass Stübel und Reiß den Poncho selbst aufgefunden und nicht etwa gekauft haben, so dass seine Echtheit verbürgt ist. Dabei ist zu bedenken, dass Tiahuanaco von Ankon gegen 150 deutsche Meilen ent¬ fernt ist. Um so bemerkenswerter erscheint die Über¬ einstimmung.

Jedenfalls muss das beschriebene Thor als einer der merkwürdigsten Reste, die auf der viel gepliinder-

VON ALTPERUANISCHER BAUKUNST

221

teil Ruineiistätte noch vorhanden sind, bezeichnet werden. Seine Bedeutung’ überragt alles, was bis jetzt in Peru aufgefunden worden ist. Es zählt zu den wichtigsten und interessantesten Resten des vorcolumbischen Amerika.

Sehr sonderbar ist es, dass die Ruinenstätte von Tiahuanaco so viele Reste von Thoren aufweist, während Reste von eigentlichen Gebäuden auffällig mangeln. Wie man sich die Verwendung der zahlreichen Tliore zu denken hat, dafür fehlt es an jedem Anhalt. Eigen¬ artig ist auch die aus den Resten ersichtliche Vorliebe

und mit kranzartigen Ornamenten. Welchem Zwecke die Bausteine dienen sollten, lässt sich wiederum nur vermuten. Stübel und Ulile sind geneigt, auch den Bauten von Pumapungu religiösen Charakter zuzu¬ schreiben. Vielleicht sollten es Altäre werden, welche in verkleinertem Maßstabe die Form gewöhnlicher Ge¬ bäude nachahmten.

So ratlos wir von vornherein diesen Werkstücken gegenüberstehen, so erweist die Bearbeitung an sich doch einen ungewöhnlichen Scharfsinn, und eine sehr

Abb. 5. Figürliche Darstellung in einem Poncho (Gobelingewebe) von Ancon.

der Erbauer, Tliore aus einem einzigen Blocke herzu¬ stellen.

Während das Thor von Ak-kapana offenbar voll¬ endet gewesen ist, finden sich nun auf der Trümmer¬ stätte von Pumapungu, 1 ’/2 Kilometer südlich von der nördlichen Ruinengruppe Ak-kapana, zahlreiche architek¬ tonisch bearbeitete Steinblöcke, die nach Größe, Form und Bearbeitung verschieden sind, gruppenweise bei ein¬ ander; Teile von Thoren, Platten, regelmäßig bearbeitete kleinere Steine, solche mit muldenartigen Vertiefungen

sichere Beherrschung genauer Maßverhältnisse muss mit der Feststellung des Planes so mannigfaltig ineinander greifender und von einander abhängiger Arbeiten ver¬ bunden gewesen sein. Die winkelförmigen, regelmäßigen, nur in ihrer Anordnung unregelmäßig erscheinenden Ausarbeitungen der Blöcke sind nicht, wie die Blöcke der kyklopischen Mauern, aus der Beschaffenheit des Baumaterials und der dadurch bedingten Technik des Steinmetzen hervorgegangen, sondern allein aus der künstlerischen Absicht des Architekten.

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VON ALTPERUANISCHER BAUKUNST.

Den Herren Stiibel und Ulile, welche von den Blöcken verkleinerte Holzraodelle haben anfertigen lassen, ist es durch lange Beschäftigung damit gelungen, den Zweck einzelner zu ei’raten. Aus drei Blöcken, die sie in angemessenen Abständen von einander aufgestellt haben, und übergelegten Steinen (eigener Zutliat!), welche die Ornamente von jenen vervollständigen, haben sich Fronten ergeben, an denen thorartige Öffnungen mit Gruppen von zwei über einander gesetzten Nischen ab¬ wechseln und letztere zuweilen durch Kranzornamente ersetzt sind. Die falzartigen Ausarbeitungen erscheinen hier nicht als wirkliche Falze, sondern als Seitenrahmen von Thoren en miniature, die vertikalen Leisten der Rückseiten der Steine, anstatt als störende Unter¬ brechungen ihrer Rückflächen, als Unterscheidungen einer Anzahl von zimmerartigen Fächern. Diese Zu¬ sammensetzung ist unzweifelhaft richtig, denn sie findet sich genau so auf einem El Escritorio (Schreibtisch) genannten Steine eingezeichnet, den J. v. Tschudi, Cli. Wiener und R. Inwards abgebildet haben.

Dieser gelungene Versuch lehrt zunächst, dass die Vorgefundenen Blöcke in der Tliat zu harmonisch wirken¬ den Fassaden zusammengestellt werden konnten, also nach wohldurchdachtem Plane so bearbeitet worden sind; dann aber erhalten wir das sichere Bild eines der geplanten Bauwerke. Noch wichtiger aber ist, dass man daraus auch die konstruktiven Grundsätze der Architektur von Tiahuanaco erkennt. Die Blöcke sind von bedeutender Größe und haben regelmäßige Grund¬ formen. Während in anderen Architekturen die einzel¬ nen Teile der Schauseiten, wie Fenster, Tlniren, Kon¬ solen, Gesimse wiederum in einzelne Werkstücke zerlegt zu werden pflegen und erst durch deren Aufbau in die Erscheinung treten, sind hier die Fassaden nur in einige größere Teile willkürlich zerlegt. Nischen, Fen¬ ster, Konsolen, große vertiefte Wandflächenornamente, zum Teil auch ganze Tliore, erscheinen am einzelnen Steine vollständig. Der einzelne Stein stellt häufig einen ganzen Pfeiler dar mit zahlreichen zur Schauseite ge¬ hörigen Einzelstücken oder gleich eine ganze Wand. Dem entsprechend sind auch die Säulen aus einem Stein gefertigt. Viele Blöcke erinnern durch die Art ihrer Gliederung an die Baustücke mancher Baukästen, in denen auch die Herstellung des Bauwerks erleichtert ist durch die Ausführung größerer Gebäudeteile auf dem einzelnen Steine.

Aus allem bisher Gesagten ergiebt sich, dass man die Ruinen von Tiahuanaco nicht mit Markham zu den Resten kyklopischer Bauweise rechnen darf. Denn über die Stilart entscheidet nicht die Größe der Blöcke, sondern die Art ihrer Ausführung; auch kennt der kyklopische Stil nicht die konstruktiven und ornamen¬ talen Durchbildungen durch Schauseiten, welche für die Architektur von Tiahuanaco bezeichnend sind. Viel¬ mehr ist der Baustil der Ruinenstätte als ein schon hoch

künstlerischer zu bezeichnen. Ungewöhnlich ist nur, dass die ganzen Werke nur in so wenige und darum so große Teile gegliedert sind. Wie es scheint, steht die Bauweise von Tiahuanaco auf der Erde ganz ver¬ einzelt da. In der Kunstgeschichte der Völker hat eine derartige Architektur als Glied in der Entwicklung der Baukunst bis jetzt noch keine Stätte gehabt. Selbst der Name muss für sie erst noch gefunden werden. Stübel und Ulile schlagen vor, sie megalithische Archi¬ tektur oder megalithische Baukunst zu nennen (megas = groß, lithos = Stein). Dadurch würden beide charakte¬ ristischen Seiten der Ruinen von Tiahuanaco getroffen sein, einmal ihr künstlerisches Gepräge, das andere Mal die Größe der verwendeten Blöcke. Ferner würde das Wort megalithisch die Ähnlichkeit mit den sogenannten megalithischen Denkmalen, den ersten und einfachsten Versuchen menschlicher Bauthätigkeit (wie Stonehenge, Dolmen u. s. w.) ausdriieken, während der Ausdruck Ar¬ chitektur oder Baukunst das künstlerische Gepräge der Werke von Tiahuanaco gegenüber den ersten mega- lithischen Zusammenfügungen von Steinen bezeichnen würde. Der vorgeschlagene Name erscheint somit durchaus annehmbar.

Die Frage, wie dieser Baustil entstanden sei, beant¬ worten die Verfasser mit großer Wahrscheinlichkeit dahin, dass ein bereits entwickelter Holzbaustil auf den Steinbau übertragen worden ist. Dafür sprechen die konstruk¬ tiven Einzelheiten in der Gliederung der Schauseiten, besonders die Simse und die krönenden Streifen, deren Formen im Holzbau ausgebildet sein müssen. Da nun Holz auf der bolivianischen Hochebene fehlt, so muss wie die Verfasser weiter schließen der im Steinbau von Tiahuanaco durchscheinende Holzbaustil in einer anderen Gegend ausgebildet worden sein. Dieses wichtige Er¬ gebnis beweist, dass die ganze alte Kultur von Tia¬ huanaco nicht dort erwachsen, sondern sich auf den Schultern einer anderen, in wärmerem Klima ausge¬ bildeten Kulturform ein Stück weiter erhoben hat. Hit dieser Erkenntnis dringt ein vereinzelter Lichtstrahl über das Dunkel, welches die Ruinenstätte selbst umgiebt, hinaus in die dunklere, noch schwerer, wenn überhaupt je, aufzuhellende Vorgeschichte des Thaies von Tia¬ huanaco.

Die Frage, aus welcher Zeit die Ruinenreste von Tiahuanaco stammen, ist nicht mit Gewissheit zu be¬ antworten. Als feststehend darf man annehmen, dass die Funde von Ak-kapana und Pumapungu alle aus annähernd gleicher Zeit stammen. Aber am Tliore von Ak-kapana haben zwei Geschlechter gearbeitet, deren zweites längst nicht mehr die künstlerische Reife und Fertigkeit des älteren besaß. Vielleicht haben wir es mit Werken der spät-aimarischen Kultur des Reiches von Hatuncollo bei Puno, zum Teil vielleicht auch mit der Kultur der Inka zu tliun. Besonders auffällig ist es, dass ein großer Teil der ältesten Werke überhaupt nie fertig

VON ALTPERUANISCHER, BAUKUNST.

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geworden ist. Vereinzelte Reste der gleichen Kultur wie in Tiahuanaco finden sich auch anderwärts in Peru, doch fehlt noch die genauere Untersuchung. Frühere Forscher, besonders Angrand, haben nun angenommen, die Tolteken seien die Urheber der Bauten in Tiahuanaco gewesen. Demnach würden die Erbauer aus Mexiko ge¬ kommen sein und sich im peruanischen Hochlande niedergelassen haben. Das Unhaltbare dieser Annahme weisen die Herren Stübel und Uhle mit guten Gründen nach. Man hat wohl überhaupt die Tolteken als ein mythisches Volk anzusehen. Ebenso weisen die beiden Verfasser nach, dass man nicht mit Markhain die Inka als die Architekten von Tiahuanaco ansehen kann. Viel¬ mehr treten sie, wie schon Cieza in seiner Chronika, mit überzeugenden Gründen für den vorinkaischen Ursprung der Ruinen von Tiahuanaco ein. Demgemäß würden die Vorfahren der noch heute dort wohnenden Aimara, deren Bereich sich einst viel weiter ausdehnte, die Erbauer von Tiahuanaco sein. Sie hätten allerdings auf einer viel höheren Kulturstufe gestanden , als ihre jetzigen Nachkommen.

In der Mythologie dieser einstigen Aimara ist die Hauptperson der Schöpfer, der bald Viracocha, bald Con Ticsi Viracocha, bald Pachayachachic heißt. Nach dem Mythus war anfangs die Erde wüst und dunkel. So¬ dann trat der Schöpfer in der Gegend von Tiahuanaco auf; er erschuf zunächst Sonne, Mond und Sterne, später auch die Menschen und alle übrigen lebenden Wesen. Von diesem Mittelpunkte aus wurde die Erde durch den Schöpfer bevölkert. Nach Garcilaso’s Be¬ richt soll später eine Sintflut gekommen und darnach die Welt durch einen Menschen an vier Herrscher ver¬ teilt worden sein. Bei seiner weiteren Thätigkeit be¬ diente sich der Schöpfer einiger Gehilfen oder Send¬ boten, welche auch Viracochas genannt wurden. Nach Betanzos sollten sie den neu geschaffenen Völkern ihre Wohnsitze an weisen. Nach Molina haben sie Bäume, Blüten, Früchte, Kräuter und Flüsse zu benennen, also unter den Naturwesen Ordnung zu schaffen. Viracocha schlug bei Tiahuanaco seinen Sitz auf und daher stam¬ men nach Molina’s Erzählung die bewunderungswürdigen Bauwerke. Nach Cieza erscheint der Schöpfer Ticsivi- racocha zur Zeit des ersten Auftretens der Sonne von Süden her in dieser Gegend und wurden ihm zu Ehren die Gebäude der jetzigen Ruinenstätte errichtet.

Dieser Kultus des Gottes Viracocha überragte nach Uhle bei weitem den Sonnenkultus des Inkareiches an Bedeutung. In ihm sieht er den Mittelpunkt des reli¬ giösen Gedankenkreises, von dem die Bauten von Tia¬ huanaco Zeugnis ablegen, und aus ihm erklärt er auch das Relief des Thores von Ak-kapana mit großer Wahr¬ scheinlichkeit. -

Überblicken wir, was sich über die Kunst von Tiahuanaco aus den Funden der Ruinenstätte ergeben hat, so müssen wir unserer hohen Bewunderung für die

unbekannten Meister Ausdruck geben. Lebhaft zu bedauern ist, dass diese vielversprechenden Anfänge liegen ge¬ blieben sind, ohne dass sich die altperuanische Kunst zu der vollen Höhe entwickeln konnte, die sie ohne die vorauszusetzende gewaltsame Unterbrechung erreicht haben würde.

Zunächst müssen wir staunen, in wie vollendeter Weise die alten Künstler auch den härtesten Stein zu bearbeiten und ihren künstlerischen Zwecken dienstbar zu machen wussten. Dann aber offenbarten die Reste, insbesondere das Thor von Ak-kapana, ein so hohes künstlerisches Feingefühl, wie wir es keineswegs bei den Indianern Siidamerika’s vorausgesetzt haben würden.

Betrachten wir das rein Architektonische, so fällt uns bei dem großen Tliore zunächst auf, eine wie treffliche Wirkung mit wenigen Mitteln erreicht ist. Sie beruht vor allem auf dem wohlgefälligen Verhält¬ nis zwischen der Wandfläche und den Öffnungen (Thor, blinden Fenstern und Nischen) und auf der zwar ein¬ fachen, aber klaren und harmonischen Gliederung des ganzen Bauwerks in die beiden Stockwerke, die als schwereres Erdgeschoss und leichteres Obergeschoss wohl gekennzeichnet sind, in das Gurtgesims und den krönenden Sims. Weiter macht sich das Bestreben be¬ merkbar, den Hauptteil künstlerisch auszuzeichnen und hervorzuheben: die Thoröffnung hat infolgedessen eine wohl abgemessene Umrahmung, die sich ähnlichen Her¬ vorbringungen der altägyptischen wie der altgriechischen Kunst recht wohl zur Seite stellen lässt. Einfache Um¬ rahmungen zeigen auch die blinden Fenster. Das

Ganze wirkt harmonisch und durchaus nicht roh und

barbarisch.

Ähnliches gilt von der dekorativen Kunst der Alt¬ peruaner. Die Beobachtung und die Wiedergabe des menschlichen Körpers durch die Plastik steht zwar noch auf niedriger Stufe: die Verhältnisse sind durchweg falsch, die Formen plump. Immerhin aber sind die

Bewegungen charakteristisch und bringen klar zum Ausdruck , was der Künstler gewollt hat. Dagegen

haben die Künstler von Tiahuanaco das Wesen des Flächenschmuckes trefflich begriffen: sie wissen die ge¬ gebenen Flächen ohne Zwang trefflich auszufüllen, sie lassen dasselbe Motiv regelmäßig wiederkehren, wo¬ durch seine Bedeutung als Schmuck ohne weiteres er¬ sichtlich wird, sie wissen auch die einzelnen Natur¬ formen wie den Kondorkopf geschickt zu stilisiren, in¬ dem sie die hauptsächlichen und wesentlichen Teile auf ihre einfachsten linearen Grundformen zurückführen. Dass hier ein enger Zusammenhang zwischen plastischer Dekorationskunst und der Mutter aller Dekorationskunst, der Weberei, vorliegt, bedarf kaum eines Hinweises. Auf die Ähnlichkeit der einen Figur mit der Figur auf einem Poncho vom Totenfeld von Ankon wurde schon hinge¬ wiesen. Aber auch der Mäander, der in dem unteren Fries vorkommt, ist in den Geweben von Ancon ein

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WIE MAN SKULPTUREN AUFNEHMEN SOLL.

gewöhnliches Motiv. Wenn er hier in geschickter Ver¬ bindung mit Köpfen vorkommt, so ist das ein weiterer Beweis für den Kunstsinn der alten Peruaner, die es wohl vermeiden wollten, hier in das religiös-symbolische Kunstwerk ein rein geometrisches Motiv aufzunehmen. Auch der Eeliefstil weist auf die Weberei hin. Denn die Figuren sind überall von gleicher Erhebung, so dass wie bei einem Bildteppich eine ebene Fläche herge¬ stellt ist. Nur die Hauptfigur ist ebenso wie durch ihre Größe auch durch die höhere Erhebung ausge¬ zeichnet.

Durch den erwähnten Versuch ist nachgewiesen, dass ursprünglich außer der Hauptfigur nur 30 anbetende Nebengestalten geplant und ausgeführt waren. Denken wir uns die Komposition auf diese Felderzahl zurück¬ geführt, so ergiebt sich wiederum ein so wohlgefälliges Verhältnis der glatten und der geschmückten Fläche, dass wir von neuem das künstlerische Feingefühl der Altperuaner für die Gesetze des Flächenschmucks be¬ wundern müssen.

Dass der Holzbaustil unbesehen auf den Steinstil übertragen worden ist, dürfen wir den Künstlern nicht zu schwer anrechnen. Im Steinbau unbewandert, haben sie bei der plötzlichen Wanderung aus einem holz¬ reichen in ein holzarmes Land, wie wir voraussetzen müssen, aus der Not eine Tugend gemacht. Zur Ent¬ wicklung eines charakteristischen Steinstils hat es an Zeit gemangelt.

Schließlich müssen wir noch auf die mannigfachen Analogien zwischen der altperuanischen Kunst und der antiken Kunst des alten Kontinents hinweisen. Die

ornamentale Kunst ist bei den Assyrern, Ägyptern und Griechen wie bei den Peruanern aus der religiösen Symbolik hervorgegangen; aber auch die geometrischen Motive finden sich hier wie dort; der Mäander sogar in ganz gleichen Formen. Die Gesetze des Flächen¬ schmuckes sind hier wie dort die gleichen. Gleich- flächige, wenig erhabene Reliefs, bei denen der Grund gleichmäßig herausgehoben ist, kommen bei den alten Ägyptern zahlreich vor. Eigentümlich ist den Peruanern die Zusammenstellung der Figuren aus stilisirten Einzel¬ formen. Auf eine sehr merkwürdige Thatsache müssen wir noch hinweisen: bekanntlich hat die Medusa auf dein Relief von Selinunt , welches die Entstehung des Pegasus aus dem Blute der Medusa darstellt, stark ausgebildete, wie beim Eber her vor tretende Eckzähne. Sie finden sich in gleicher Weise auf zahlreichen Ge¬ sichtsvasen aus verschiedenen Teilen Peru’s, z. B. im Berliner ethnographischen Museum und auch bei stei¬ nernen Bildsäulen, die als Denkmäler oder Götzen¬ bilder zu gelten haben und zu St. Agustin in Columbia im oberen Magdalenathal gefunden worden sind. Eine einwandfreie Erklärung fehlt vorläufig.

So gewährt die Ruinenstätte von Tiahuanaco mannigfaltigen Ausblick nach verschiedenen Seiten. Die Herren Stiibel und Ulile haben das Verdienst, den bis¬ her ungehobenen künstlerischen und kulturgeschichtlichen Schatz der Stätte gehoben und vor aller Augen hinge¬ stellt zu haben. Sie haben unsere Kenntnis der altperu¬ anischen Kunst und Kultur in ungeahnter Weise be¬ reichert.

Dresden. PAUL SCHUMANN.

WIE MAN SKULPTUREN AUFNEHMEN SOLL.

VON HEINRICH WÖLFFLIN.

MIT ABBILDUNGEN.

I.

der Geschichte der Plastik zu hat, ist in der größten Verlegen¬ em gute Abbildungen. Nicht dass Publikationen fehlten in allen m und Manieren werden die Dinge , allein es scheint die Ansicht verbreitet zu sein, dass plastische Kunstwerke von jeder beliebigen Seite her aufgenommen werden könnten, und es bleibt völlig dem Ermessen des Photo¬ graphen überlassen, unter welchem Winkel zur Figur er seine Maschine aufstellen will. Dieser glaubt nun sein künstlerisches Naturell dadurch am überzeugendsten zu offenbaren, dass er den Standpunkt von vorn in jedem Fall vermeidet und eine „malerische“ Seitenansicht sucht: malerisch und künstlerisch scheinen Begriffe, die sich

decken. Das Publikum kauft diese Aufnahmen im guten Glauben, dass bei einer mechanisch angefertigten Ab¬ bildung vom Original ja nichts verloren gehen könne; es weiß nicht, dass eine alte Figur eine bestimmte Haupt¬ ansicht hat, dass man ihre Wirkung vernichtet, wenn man ihr die Hauptsillmette nimmt; ohne Zucken lässt sich das verwilderte Auge der Menschen von heute die widrigsten Überschneidungen und Unklarheiten gefallen. Allgemein gewöhnt man sich an ganz falsche Eindrücke, denn nun geht der Verderb weiter: die Pliotographieen dienen als Vorlage für die Illustrationen der populären kunsthistorischen Litteratur, ja selbst in monumental angelegten Publikationen finden derartige falsche Bilder Platz und Duldung.

Es wäre also wohl nicht überflüssig, sich einmal

WIE MAN SKULPTUREN AUFNEHMEN SOLL.

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über die Art, wie plastische Aufnahmen zu machen seien, in weiteren Kreisen zu verständigen und die Beschauer wieder anzuleiten, die Ansicht zu suchen, die der Conception des Künstlers entspricht. Es ist nicht richtig, dass ein plastisches Monument von allen Seiten gesehen werden kann. Heutzutage giebt es freilich manche Skulpturen, die es schlechterdings unentschieden lassen, von wo sie gesehen werden wollen, indem sie überhaupt von keiner Seite sich erschöpfend darstellen, sondern den Beschauer erst durch die Folge aller einzelnen Ansichten zur völligen Klarheit gelangen lassen.

Die gute Tradition aber giebt eine Hauptansicht und das gebildete Auge empfindet es als eine Wohlthat, dass die Figur sich hier auf einmal erklärt und vollkommen deutlich giebt, dass man nicht um sie her¬ umgetrieben wird, wenn man ihres Inhalts habhaft werden will, son¬ dern dass sie dem Betrachter von vornherein seinen Standpunkt an¬ weist. Wer über diese Dinge sich unterrichten will, lese den betret¬ enden Abschnitt in Adolf Hilde- brand’s Problem der Form. Ich habe hier nur beizufügen, dass dieser Normalstandpunkt zunächst natür¬ lich kein anderer ist, als die direkte Vorderansicht, und dass erst die ganz entwickelte Kunst noch weitere Ansichten dazu giebt.

Hunderte von Beispielen bieten sich an, diese Sätze zu illustriren.

Es giebt für den Kunsthistoriker, der auch Kunstliebhaber ist es ist nötig, dies besonders zu bemer¬ ken keine reizvollere Beschäf¬ tigung, als in einem Museum von Abgüssen sich die Dinge so zurecht¬ zustellen, wie sie wirken sollen, und der leidigen Handwerkerphotogra¬ phie das reine Bild des Kunst¬ werkes entgegen zu halten. Ich be¬ schränke mich hier auf ein paar Fälle bekanntester Art, auf drei Freifiguren, die zugleich ein gutes Stück Ent¬ wicklungsgeschichte repräsentiren: ich meine den David des Donatello und den des Verrocchio im Bargello und den Giovannino im Berliner Museum.

Bei dem prächtigen David Donatello’s ist es fast unmöglich, die Ansicht zu verfehlen. Zu laut drängen sich der rechte und der linke Arm als gleichwertig auf: die Ansicht von der Mitte aus, die beiden Körperhälften gleichmäßig gerecht wird, ist auch für das Laienauge die gegebene. Die Linienrechnung nun lautet dahin, Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. II. 10.

dass die verschieden geführte Konturlinie des Körpers die sanft abfließende linke und die in scharfem Winkel an der Hüfte ausspringende rechte von den gegen¬ sätzlich geführten Armlinien begleitet sein soll. Dabei überzeuge man sich ja, wie knapp der Spielraum ist, wie es wirklich nur eine Blickrichtung giebt, für die sich alles klar und wohllautend dispönirt. Die Probe ist an den untern Partieen anzustellen: man soll den Fuß sehen, dessen Zehen sich um den Goliathkopf herumlegen, man soll den Helmflügel sehen, der sich an das Bein anlehnt, das niederge¬ setzte Schwert muss in klarem Winkel die Beinlinie überschneiden, all das geschieht nur von der genauen Mitte aus. Wie eine ge¬ ringe Verschiebung nach der Seite zu die Klarheit der Erscheinung und das schöne Zusammengehen der Linien sofort zerstört, erhellt z. B. aus der Abbildung in Bode-Bruck- mann’s Toskana-Skulptur. Ich gebe hier die Aufnahme Brogi’s, die besser ist. (Abb. 1.)

Der David des Verrocchio ist ein lehrreiches Gegenstück. Es steckt nicht nur eine andere Individualität dahinter, sondern eine andere Ge¬ neration. Die Figur ist reich ge¬ macht durch Kontraste. Die Höhen¬ differenzen zwischen rechter und linker Schulter, zwischen rechter und linker Hüfte sind beträchtlicher, trotzdem das Motiv des hochgesetz¬ ten Fußes aufgegeben ist. Eine Photographie muss diese Steigerung des Gegensatzes in aller Schärfe er¬ sichtlich machen. Hier lassen die landläufigen Aufnahmen uns völlig im Stich; es ist durchweg eine x4n- sieht gewählt, die den Gegensatz verflaut, fast auf hebt. Ein weiteres kommt hinzu: Donatello’s Figur breitet sich sozusagen nur in einer Ebene aus, bei Verrocchio giebt es den Gegensatz des Vor und Zurück. Die zwei Arme halten sich nicht in derselben Kaumschicht: der rechte ist zurückge¬ nommen und der spitze Ellenbogen des linken drängt vor. Die Photographieen von Brogi und Alinari (Abb. 2) zeigen das so wenig wie die Raumdifferenz zwischen den Füßen. Nicht genug, es geht die eigent¬ liche Bewegung der Beine völlig verloren. Von einer Normalaufnahme muss daher auch das verlangt werden, dass das zurückgestellte Bein in seiner Erstreckung sich völlig offenbare und es stellt sich heraus, dass es wieder

29

Abb. l. David von Donatello.

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WIE MAN SKULPTUREN AUFNEHMEN SOLL.

die direkte Vorderansicht ist, welche sowohl die Höhen¬ differenzen bei den Schultern und bei den Hüften am entschiedensten zeigt, als auch das Vor und Zurück und das Bewegungsmotiv im Ganzen am deutlichsten erscheinen lässt (Abb. 3). ') Der Kopf Goliath’s, der nach der originalen Anordnung zwischen den Füßen David’s zu liegen hat nicht nebenan stört dabei nicht, in¬ dem der wundervolle Anlauf der Linie des linken Beines für die Hauptansicht unversehrt bleibt.

Das Stramme, Schneidige, die Ele¬ ganz von Verrochio's jugendlichem Sieger wird jetzt mit einem Male dem Auge ver¬ nehmlich. Was der Kontur für ein Leben

1) Nach einer Amateur- Aufnahme. Es ist eine alte Be¬ obachtung, dass im Gips die Formen des Bronzeoriginals einen dünnern Eindruck machen.

Abb. 2. David von Verrocchio. (Unrichtige Aufnahme.)

gewinnt! Der gestraffte Arm mit der Waffe, der knaben¬ haft- eckige Ellenbogen und die feine Zeichnung der un¬ entwickelten Muskulatur! Und jetzt erst bekommen die Kniee ihre Kraft. Die in die Hüfte gesetzte Hand wird sicht¬ bar mit allen Fingern, während sonst der Daumen fortfiel und eine Sache von nicht geringerer Wichtigkeit die Klinge der Waffe erscheint in mess¬ barer Länge, während die stark ver¬ kürzte Ansicht über die Form keinen genügenden Aufschluss giebt und daher den Beschauer beunruhigt. Alles, was Verrocchio an Ziermotiven aufgewendet hat, mischt sich jetzt dem Gesamtan- blick bei, also nicht nur die feinen Ac¬ cente der Achselklappen, sondern auch die seitliche Schließung des Panzers, Dinge, die so ganz auf der gleichen Spur liegen, wie die äußerst

Abb. 3. David von Verrocchio. (Richtige Aufnahme.)

Abb. 4. Kopf des David, mit Senkung.

29*

Abb. 5, 6, 7. Giovannino im Berliner Museum.

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WIE MAN SKULPTUREN AUFNEHMEN SOLL.

delikate lind doch energisch präcise Art der Körper- modellirnng. J)

Vom Kopf habe ich noch nicht gesprochen, es ist der merkwürdigste Punkt. Würde man nicht schwören, es könne der Knabe mit dem gesenkten Kopf (Abb. 2) nicht dieselbe Figur sein, wie der mit dem hochgehaltenen (Abb. 3)? Einige Proben werden den Laien rasch über solche Wunder der Perspektive aufklären; für uns fragt sich jetzt nur, hat unsere Photographie Recht mit dem Motiv des Hochhaltens? Nein. Hier enthält sie ent¬ schieden einen anormalen Accent, sie giebt das Original in einer Erscheinungsweise, die dem Thatbestand nicht völlig entspricht, indem der Kopf wirklich ein wenig nach vorn geneigt ist. Der Fehler liegt in der Höhe der Aufnahme. Er verschwindet sofort, wenn man den Kopf weniger von unten her ansieht, mit andern Worten, weiter von der Figur zurücktritt. Ich gebe noch eine Detailabbildung (Abb. 4), die diese Korrektur enthält. Man sieht, wie der Kopf sofort andere Proportionen annimmt und jetzt erst die ganz „Lionardeske“ Schönheit entfaltet, die man ihm nachrühmt. Der Standpunkt im übrigen ist der gleiche und es ist das Pünktchen aufs i, dass in der direkt von vorn gesehenen Figur das krönende Haupt in der reinen Faceansicht sich darstellt.

Neuerungen kommen durch Michelangelo. Er stellt dem Forscher eine Menge von Fragen. Wie wollte sein David gesehen sein? Es giebt Aufnahmen, wo die Figur eine wunderbare Schnellkraft besitzt und andere, die ganz lahm sind. Die Entscheidung ist hier nicht so einfach und ich lege den in jedem Sinne exceptionellen Fall zu späterer Besprechung bei Seite. Vom Bacchus könnte man eher reden, er hat eine normale Entstehungs¬ weise. Das Neue hier: dass die Figur etwas von der Seite her gesehen werden muss, von ihrer linken Seite. Sie ist meistens so photograpliirt worden, sie müsste auch so aufgestellt werden. Der Künstler hat in der Bildung der Bodenplatte deutlich angegeben, wo die Hauptansicht gesucht werden muss. Der sog. Cupido, den ich nicht für ein Jugendwerk halte, ist vom Rücken zu sehen. Andere sichere Frühwerke, wie die Pieta und dieBrügger Madonna, rechnen genau mit der alten Frontansicht. Es ist ganz überraschend, was alles verloren geht bei ge¬ ringen Abweichungen.

1) Dass die Querstange am rechten Handgelenk in der Hauptansicht nicht figuriren dürfe, sollte man für selbstver¬ ständlich halten, wenn nicht auch hier Fehler gang und gäbe wären.

Wenn ich endlich in diesem Zusammenhang auch den Berliner Giovannino vorbringe, so time ich es nicht, weil ich ihn als eine Arbeit Michelangelo’s besprechen möchte, vielmehr soll er eine Stilperiode vertreten, die weit über Michelangelo’s Jugendwerke hinausgreift, die Periode der mehrseitigen, malerischen Komposition. *)

Der Giovannino ist eine Figur, der man Unrecht timt, wenn man sie vor eine Wand bringt, ohne dafür zu sorgen, dass sie gedreht werden kann und wenn man sie publiziren will, so muss man mehrere Aufnahmen machen, um ihr gerecht zu werden. Sie will von ver¬ schiedenen Seiten gesehen sein. Mit einer erstaunlichen Kunst ist sie so komponirt, dass die verschiedenen An¬ sichten klare und wohllautende Bilder ergeben. Mit sanftem Zwang wird der Beschauer herumgeführt, er lässt sichs gern gefallen, denn der Weg ist bezeichnet durch lauter Stationen der Schönheit. Ich gebe drei Ansichten, ohne zu behaupten, dass man nicht noch viel mehr herausholen könnte.

Die erste von rechts (Abb. 5) hat vor allem die vollkommene Erscheinung des zurückstehenden Beines für sich. Es wird eben vorgezogen. Der Schwung der Linie geht hier durch den ganzen Körper.

Stellt man sich der Figur von vorn gegenüber (Abb. G), so erblickt man das System der Richtungs¬ kontraste im Körper am deutlichsten, er bekommt fast etwas unangenehm Gebrochenes. Unmissverständlich wird dem Beschauer die Weisung gegeben, er möge auch die Seitenansichten aufsuchen.

Die Ansicht von links (Abb. 7) ist die einfachste und ruhigste. Die Vertikale des Blockes wird fühlbar und im Gegensatz zu dieser tektonischen Befangenheit ge¬ winnt die Loslösung des rechten Armes eine ganz be¬ sondere Wirkung. Dieses freie Hinführen der Extremität vor dem Torso ist stilistisch eine so wesentliche Eigen¬ schaft der Figur, dass auch diese Ansicht das Recht hat, als eine Normalansicht zu gelten.

Auf den malerischen Inhalt der Statue und die Möglichkeit, durch die Beleuchtungsart ihr eine Fülle von (erlaubten) Effekten abzugewinnen, soll hier nicht mehr eingegangen werden.

1) Die Autorfrage, die ich seiner Zeit ungelöst lassen musste (Die Jugendwerke des Michelangelo 1891), glaube ich jetzt beantworten zu können. Ich suche den Künstler im Kreise der cinquecentistischen Neapolitaner und werde das Weitere alsbald zur Mitteilung bringen.

DER MARQUIS DEL GUASTO UND SEIN PAGE

VON TIZIAN.

MIT ABBILDUNGEN.

0 lautet seit den Tagen Karl Stuart’s die Bezeichnung des lebensgroßen , einst schönen Bildnisses, das jetzt in einer Ecke der Audience Chamber des Schlosses Hamptoncourt schlecht genug zu sehen ist. Nach einer alten Katalognotiz war es aus Deutschland gekommen und von dem Lord Marschall (Graf von Arundel) dem Könige verehrt worden. [) Bei dem Verkauf seiner Kunstschätze erwarb es Edward Baker für acht £, am 1. Februar 1651.

Die Authentie dieses Tizian’s ist auch von nam¬ haften neueren Kritikern zugegeben worden. Waagen in den Treasures (II, 414) nennt ihn „trefflich gedacht und ausgeführt in seinem tiefen Goldton, leider etwas beschädigt“. Crowe & Cavalcaselle (Life of Titian II, 428) fanden zwar diese Beschädigung derart, dass Tizian’s Hand (in Zeichnung, Modellirung und Farbe) kaum noch kenntlich sei; immerhin seien Bruchstücke, wie das Profil des Pagen, des Meisters würdig, der wahrscheinlich der Maler dieser Leinwand sei. Auch Richard Ford Heath führt sie noch in seiner lüste auf (1879). Neuerdings aber wird in der Tizianlitteratur in bedenklicher Weise über diesen Marquis geschwiegen.

Das Gemälde hat außer durch Scheuerung auch durch Trübung und Firniss gelitten ; so arg aber ist der Schaden nicht, dass man die Mal weise nicht noch be¬ urteilen könnte. Und da kann nun freilich kein Gedanke an Tizian, ja nur an die venezianische Schule aufkommen. Die Behandlung der vornehmen Figur ist bei aller Freiheit und Geschmeidigkeit der Zeichnung viel zu trocken und ausführlich, zu kühl und zart. Aber Charakter und Physiognomie sind lebendig und scharf aufgefasst und das gewählte Motiv der augenblicklichen Situation leicht und natürlich veranschaulicht, alles verrät einen geübten, namhaften Porträtisten, der gewiss kein Nieder¬ länder, aber auch nicht Francois Clouet, sondern ein Italiener gewesen ist. Die Attitüde besonders erinnert an Florentiner und Parmesaner.

1) Brought. from Genuany, by rny lord marshall, from Col. Leslie, to the King.

Die Benennung der ritterlichen Gestalt als Alonso de Avalos, Marques del Vasto, war nicht weniger aus der Luft gegriffen, als der Name des Malers von Cadore. Von seinem einzigen bekannten Bildnis, in der Allo- kution zu Madrid, weicht der Kopf ebenso gründlich ab wie von dem des Herzogs von Alba, an den Cavalcaselle dachte. Auch für den, der das Porträt Tizian’s im Palast Alba nicht gesehen hat, genügt ein Blick auf die Litho¬ graphie in Carderera’s Ikonographie.

Niemand würde wohl je wieder von diesem doppelt rätselhaften Pseudo-Avalos gesprochen haben, wenn nicht der gütige Zufall soeben einen Aufschluss, wenigstens über die dargestellte Person, gebracht hätte. In Fr. Kenner’s neuestem Artikel über die Porträtsammlung des Erz¬ herzogs Ferdinand von Tirol (im XVII. Bande des Jahr¬ buches der Kunstsammlungen des Allerhöchsten Kaiser¬ hauses) ist auf Tafel XII, Nr. 61, die Reproduktion eines Brustbildes mitgeteilt, das mit dem Kopf unseres Ritters so übereinstimmt, dass sogar die Zurückführung auf dieselbe Aufnahme nicht zu kühn scheint. Auch der Plattenharnisch ist derselbe, nur fehlt in dem Gemälde das rechte Achselstück, da die militärische Toilette noch nicht be¬ endigt ist.

Es ist ein Gonzaga, ein Prinz von Mantua, Luigi, der dritte Sohn Federigo’s II., geboren den 18. Sep¬ tember 1539. Schon als Knabe, im Jahre 1549, zog er nach Frankreich, wo er von seiner Großmutter Anne d’Alengon fünf Seigneurien zu erwarten hatte. Im folgenden Jahre ist er von Heinrich II. naturalisirt worden, der ihn mit dem Dauphin erziehen ließ. Als achtzehnjähriger Jüng¬ ling üel er bei St. Quentin in die Gefangenschaft seines Oheims Ferrante, des Generals Karl V.; er widerstand allen Versuchungen, ihn Karl IX. abwendig zu machen, „er trage das weiße Kreuz auf dem Herzen“, sagte er und zahlte das hohe Lösegeld. In der Wiener Samm¬ lung ist ihm das Bildnis der Henriette von Cleve, Tochter des Herzogs Franz von Nevers, zur Seite ge¬ geben. Um sie hatte er sich, als sie ein armes Edel¬ fräulein war und nicht einmal schön, beworben; als ihr durch den Tod der beiden Brüder die Herzogtümer Nevers und Retliel zufielen, zog sie ihn allen andern vor.

Luigi Gonzaga, Herzog von Nevers. Gemälde in Hamptoneourt

DER MARQUIS DEL GUASTO UND SEIN PAGE VON TIZIAN.

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Er war nun einer der reichsten Edelleute Frankreichs. Sein Name begegnet uns durch vierzig Jahre in den Schlachten und Belagerungen der spanischen und Huge¬ nottenkriege. Er war ein eifriger Parteigänger der Ligue und Gönner der Jesuiten; aus einer hugenottischen Pistole erhielt er die Blessur am Knie, infolge deren der früher schöne, hochgewachsene Mann lahm und kränkelnd blieb. Brantöme nennt ihn von sehr kaltem und ge¬ lassenem Wesen,1) obwohl er, wo eine kühne Partie aufs Tapet gebracht wurde, stets bei der Hand war. Er sprach sehr gut und gründlich , und seine Manieren waren äußerst verbindlich und gefällig. Zwei Jahre war er in Polen mit Heinrich III., der ihn als den Ersten in den von ihm ge¬ stifteten Heiligengeistorden aufnahm (1578). Nach des¬ sen Ermordung schloss er sich dem König von Navarra an, der aber stets eine An¬ tipathie gegen ihn behielt, obwohl er dem schon sehr leidenden Herzog die wichtige Sendung an Clemens VIII. mit der Erklärung seines Über¬ trittes anvertraute. Kurz dar¬ auf starb er zu Nesle, am 23.

Oktober 1595. 2) In der Ka¬ thedrale St. Cyr zu Nevers setzte ihm die Witwe ein Denkmal. Bei einem so stür¬ mischen Leben überrascht die Bemerkung, dass er für einen der unterrichtetsten Männer seiner Zeit galt und ein auf¬ merksamer Förderer der Ge¬ lehrten war.3)

Mich dünkt, der Kopf des Gemäldes in Hamptoncourt passe nicht übel zu dem Bilde, das man sich nach dem Ge¬ sagten von dem Manne entwirft. Eine ritterlich vor¬ nehme Gestalt von großer Statur; in den Zügen jedoch würde man kaum den Italiener erraten. Ein lang¬ gezogenes Gesicht, nahe aneinander gerückte, etwas starre, divergirende Augen mit steilansteigenden Lidern über flach zurücksinkenden Wangen. Diese Züge und

1) Brantöme, Les Vies des grands eapitaines. I, 2, cliap. 32: II estoit de son naturel fort froid et modere, et n’estoit

nullement esvante . tres grand et profond discoureur et

parloit bien; fort doux, aftäble et gracieux.

2) Bei dieser Gelegenheit nennt ihn das Tagebuch des de l’Etoile „prince regrettable pour sa valeur, sagesse et hon conseil“.

3) Histoire genealogique et chronologique de la niaison royale et des Pairs de France. Paris 1728, III, 712.

der Ernst des Ausdrucks machen ihn älter, als er nach dem schwachen Bart ist. Der Verfasser der Abhandlung im Jahrbuch meint, der Herzog habe für das Original der Miniatur zugleich mit der Frau bei der Vermählung im Jahre 1565 gesessen. Die Hände sind sehr groß und wohlgebildet und deshalb in ihrer unverkürzten Länge vorgewiesen.

Er steht ganz nach vorn, wie in Gedanken ver¬ loren in die Ferne blickend. Die Hechte liegt an der Ecke des Marmortisches, auf dem der Helm steht. Die Linke mit dem Brief ruht auf dem Oberarm des ältlichen Waffenträgers, der im Begriff ist, die Anknüpfung des linken spallaccio zu beendigen.

Also : die empfangene Depesche hat ihn bestimmt, in schleunige Aktion zu treten; er ist mit der Gefechtsord¬ nung beschäftigt oder in Bil¬ der der stürmischen Vorgänge verloren, die der folgende Augenblick bringen wird. Einen Conde wird zwar nie¬ mand in ihm vermuten. Aber Heinrich IV. sagte:1) „Wir müssen den Herrn von Nevers fürchten mit seinen Schritten von Blei und seinem Zirkel in der Hand.“

In dem von Lord E, Gower herausgegebenen Clouet - Al¬ bum, jetzt in Chantilly, kom¬ men nicht weniger als vier Skizzen eines Herzogs von Nevers vor, in sehr aus¬ einanderliegenden Lebensjah¬ ren. In zwei jugendlichen Köpfen (142, 148), besonders in dem ersten, wo der lang¬ haarige Jüngling ein mädchen¬ haftes Aussehen hat, sind die Züge noch wenig ausgeprägt; der zweite ist bezeichnet als Monsieur de neuers le pere quand il estoit jeune. Nur auf den beiden in reiferen und in vorgerückten Jahren gezeichneten Skizzen (50, 124) steht auch der Vorname Lois, Luys vor dem Titel.

Diese Köpfe, die trotz erheblicher Veränderungen durch die Jahre doch die Grundzüge derselben Person erkennen lassen, sind von unserem Bildnis abweichend bis zur Unvereinbarkeit.

Statt jenes hageren Langgesichtes mit den einge¬ sunkenen, starren, aufsteigenden Augen und dem träume¬ rischen Blick, ein gedrungener energischer Breitkopf mit

1) II nous faufc craindre Mr. de Nevers avecques ses pas de plornb et son compas en la rnain. Brantöme a. a. 0.

2. Bildnis im Wiener Hofmnseum.

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UNGEDRUCKTE BRIEFE VON MORIZ V. SCHWIND.

schmaler Lidspalte und festem Blick; statt der dünnen, langen Nase mit rundlicher Spitze, eine kurze, breit vor¬ tretende, die in den späteren Skizzen eine starke Convex- kriimmung bekommen hat.

Wäre also der Kopf jener Clouetskizzen unser Her¬ zog Luigi, so könnte das Bildchen der ehemaligen Ambraser Sammlung nur durch eine Verwechslung zu diesem Namen gekommen sein. Will man sich zu einer so unwahrscheinlichen Auskunft nicht verstehen, so muss wenigstens der Vorname Lois bei Clouet auf einem Versehen beruhen. Die Beischriften der Album¬ blätter von Chantilly sind nicht gleichzeitig, jedoch wahrscheinlich vom Maler selbst, vielleicht bei Gelegen¬ heit der Zusammenstellung für einen vornehmen Lieb¬ haber hinzugefügt worden. ')

Und endlich, was entscheidend ist, die Skizzen des Albums reichen nicht hinaus über die Zeit Karls IX. und das Jahr 1570. Damals zählte unser Herzog erst einund¬ dreißig Jahre. Aber in Nr. 124 möchte man ihn für einen Fünfziger halten, das würde 1590 ergeben. Die Jahreszahl 1534 bei Nr. 50 würde nur zu dem Schwieger¬ vater passen; es ist freilich schwer, sich dieses ausgeprägte

1) Henri Bouchot, Les Clouet. Paris. S. 28.

Gesicht als das eines achtzehnjährigen vorzustellen. Die Bezeichnung Monsieur de Nevers le pere bei dem Jüngling Nr. 148 setzt voraus, dass der Schreiber einen Nevers le fils kannte; der einzige Sohn Luigi’s aber, der am Leben blieb, Carlo, wurde erst 1580 geboren.

Es bleibt nur die Annahme, dass dem Maler bei den Aufschriften der Nummern 50 und 124 eine Verwechs¬ lung des Vornamens begegnet ist. Sie werden den Schwiegervater Luigi’s, den ersten Herzog von Nevers darstellen. Um das Jahr 1570 war der Name Louis de Nevers eben in aller Munde. Die Lebensjahre des alten Frangois de Nevers, 1516—1562, umschließen die Zeit, aus der die Skizzen Frangois C'louet’s stammen, einschließlich der aus dem Nachlass seines Vaters Jean Clouet hinzugefügten.

Kaum braucht ein Wort darüber verloren zu werden, dass die Lebensjahre des Herzogs Louis die Urheber¬ schaft Tizians, wenn hier noch ein Zweifel bestünde, vollends ausschließen. Wie das Dresdener Bildnis des Mannes mit der Palme zeigt, war im Jahre 1561 seine Altersmanier im Porträt vollkommen ausgebildet; so phlegmatisch aber wie hier hat Tizian auch in seinen Anfängen den Pinsel nie geführt. CARL JUS TL

UNGEDRUCKTE BRIEFE VON MORIZ V. SCHWIND.

AUS DEM WIENER HANDSCHRIFTEN -ARCHIV ALEXANDER POSONYI’S.

MITGETEILT VON MORITZ KECKER.

NGLEICH so vielen anderen hervorragen¬ den Meistern der bildenden Kunst, un¬ gleich auch dem Meister Hähnel, an den die Mehrzahl der Briefe gerichtet ist, die wir hier veröffentlichen, hat Moriz von Schwind niemals etwas für eine Ver¬ öffentlichung durch den Druck niedergeschrieben: weder Tagebücher wie Pietscliel, noch kunstphilosophische Be¬ trachtungen wie Feuerbach, noch Aphorismen wie Hähnel, noch eine fortlaufend erzählende Selbstbiographie wie sein geliebter Freund Ludwig Richter. Schwind wollte überhaupt vom Schriftstellern nichts wissen, obwohl er ungemein anziehend und geistreich sprechen konnte und von Freunden öfter zum Schreiben ermuntert wurde. Wilhelm II. Riehl , der eines der schönsten Charakter¬ bilder Schwind’s in seinen „Kulturhistorischen Charakter¬ köpfen“ entworfen hat, erzählt dafür eine sehr bezeichnende Anekdote. „Als Schwind einmal einen kleinen Künstler¬ kreis durch eben solche Aussprüche (epigrammatische Sentenzen über Aufgaben, Wege und Ziele der Kunst) entzückt hatte, sagte einer der Freunde, es sei doch jammerschade, dass diese und tausend ähnliche goldene

Worte aus seinem Mund verloren gingen, er möge sie doch aufschreiben und zu einem Büchlein sammeln. Schwind entgegnete, er könne nicht schreiben. Der Freund bestritt dies zwar, und mit Recht, meinte aber, wenn Schwind nicht schreiben möge, dann solle er seine Gedanken einem Manne der Feder vortragen, dass dieser sie aufzeichne, ordne und drucken lasse. Schwind er¬ widerte: „Ein besonderer Anlass hat derlei Gedanken geweckt, der Augenblick hat sie geboren und im gleichen Augenblick mochten sie vielleicht frischweg wirken und gefallen. Wenn aber der Mann der Feder sie erst niederschreibt, der Drucker sie druckt und der Leser sie endlich liest - was sind jene Gedanken dann zuletzt? Ein aufgewärmtes Gefrorenes!““

Aber geschrieben hat Schwind dennoch, wenn auch nichts für die Öffentlichkeit, so doch Briefe an seine vielen Freunde, und da er sich bei diesen Briefen ganz unbefangen gehen ließ, an alles eher denn daran dachte, dass man sie jemals mit Liebhaberpreisen bezahlen und in schönen Büchern drucken würde, so ist wenigstens ein Teil von jenem erfrischenden „Gefrorenen“ erhalten, das seine sprudelnden Gedanken und Epigramme den

UN GEDRÜCKTE BRIEFE VON MORIZ V. SCHWIND.

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Zuhörern zu bieten pflegten. Es wird wohl wenig Maler gegeben haben, die wie Schwind durch ihre Per¬ sönlichkeit nicht weniger als durch ihre Werke inter- essiren konnten. Alle, die ihn gekannt und mit ihm verkehrt haben, wissen zwar viel von seiner Sprödigkeit und Herbheit, von seinen grobianischen Neigungen im Ausdruck zu erzählen, aber doch auch ebensoviel von der Fülle des Gemütes und des Geistes, von dem über¬ sprudelnden Temperament, von der Güte und Frische dieses Mannes zu berichten. Er war stark im Hasse, aber doch noch viel stärker in der Liebe; er forderte viel von seinen Freunden und Schülern, aber er konnte auch viel geben und war selbst ein guter Freund. Ein Erlebnis mit Schwind, das der Kupferstecher Julius Thaeter , von dem wir später noch zu sprechen haben, in seinen gedruckten Tagebüchern mitteilt, und das wenig bekannt ist, giebt einen lebhaften Beweis für die gute Natur des vielfach als Mensch angefeindeten Malers. Thaeter schreibt :

„Am Reformationsfest (Oktober 1847 in München) früh wurde mir auf einmal so wunderlich zu Mute, ich konnte mich nicht auf den Beinen erhalten, Schwind schaffte mich schnell zu Bette, denn der Fieberfrost schüttelte mich tüchtig. Der Arzt wurde geholt, und dieser erklärte, dass ich im Begriffe gestanden, gerades- wegs dem Schleimfieber in die Arme zu laufen. Nun erfuhr ich die Liebe und Freundschaft Schwind’s in vollem Maße, denn er verließ mich nicht und schlief auch des Nachts neben mir auf dein Fußboden. Er sorgte für alles, was nur einigermaßen mich erquicken und ergötzen konnte, und woran er nicht dachte, das ergänzte seine Frau.“

Später kam Schwind mit diesem seinem geliebten Kupferstecher auseinander, weil Thaeter ihm das „Aschen¬ brödel“ nicht ganz nach seinem Sinn gestochen hatte. Es war nicht der einzige Freund, für den Schwind lange Jahre hingebungsvoll geschwärmt hatte, und mit dem er sich in der Folge doch nicht vertragen konnte. Er war eben durchaus keine doctrinäre Natur, sondern durch und durch Affektmensch, Künstler. Sein Genius war stärker als er selber, er konnte sich ja auch künstlerisch nicht kommandiren. Es gelang ihm nur, was im Wesen seiner Begabung lag, nicht das, was er sich abringen musste. Aber Schwind hatte doch den Mut der Ehrlichkeit, er heuchelte nicht, am allerwenigsten im persönlichen Ver¬ kehre. Und diese Wahrhaftigkeit, dieses naive Sich- gehenlassen einer großen Künstlerseele, die wesentlich doch nicht bloß auf das Schöne, sondern auch auf das Edle gerichtet war, leuchtet aus allen seinen Briefen heraus. Er steht in ihnen so leibhaftig da, wie er bei Lebzeiten wirklich war, sie decken sich vollkommen mit seinem Wesen, und das verleiht ihnen den hohen Wert und den besonderen litterarischen Reiz, ganz abgesehen von ihrem kunstgeschichtlichen Inhalt. Ja, je geringer dieser ihr, man möchte sagen, geschäftlicher Inhalt ist, Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 10.

wie in den Briefen an Bauernfeld, welche Hyacinth Holland im sechsten Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft veröffentlichte, um so größer ist ihr rein persönlicher Reiz. Denn hier zeigt sich uns Meister Schwind von seiner rein menschlichen Seite am vollkommensten: als Freund mit all seinen Interessen für die anderen Freunde, für die geliebte Heimat Wien, nach der ihn stets große Sehnsucht erfüllte. Schwind konnte auch auf dem Papier allerliebst plaudern und epigrammatisch scharfe Be¬ merkungen nach allen Seiten hin machen. Er hatte mehr litterarische Begabung, als er es, nach jener Mitteilung Riehl’s zu schließen, selber Wort haben wollte. Reich und mannigfaltig gebildet, wie er war, beherrschte er den schriftlichen Ausdruck mit Leichtigkeit, und die An¬ mut, die seine Gemälde erfüllt, verließ ihn auch nicht am Schreibtisch. Da er die meisten Freundschaftsbriefe doch nur dann schrieb, wenn er in guter Stimmung zum Schreiben war, so erfüllt ihrer viele ein sonniges, freu¬ diges Behagen, woran man sich nicht leicht satt lesen kann. Die ganze Kraft eines genialen, schöpferischen Menschen leuchtet aus ihnen heraus, denn Schwind fand auch immer den rechten Ausdruck für die zartesten und komplizirtesten Gefühle seiner Seele. Seine Sprache spiegelt stilistisch jedesmal auch seine Stimmungen in der Wahl der Worte und Phrasirung der Sätze wieder; man hört aus ihr den geborenen Wiener immer heraus, wie Schwind auch selber sein Wienerisch nie verleugnen konnte; sie ist der unmittelbare und unverkünstelte Ausdruck seiner Seele in so vollkommenem Maße, wie es nur bei litterarisch hochbegabten Menschen der Fall zu sein pflegt.

Darum ist die Schätzung seiner Briefe, je mehr man ihrer kennen lernte, um so höher gestiegen, und in mehr als einem Kenner ist der Wunsch aufgetaucht, sämtliche Briefe Schwind’s, die bisher zerstreut gedruckt wurden, in einem Bande zu vereinigen. Sie würden ganz gewiß den Vergleich mit einem Buche wie Bill- roth’s Briefe aushalten, die sich jetzt eines so großen Beifalls erfreuen. Aber bis dahin hat es noch seine guten Wege, und inzwischen mögen die folgenden Briefe Schwind’s an seinen Freund Ernst Julius Hähnel als Beitrag zu jener künftigen Sammlung eine freundliche Aufnahme finden.

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Über die Beziehungen Schwind’s zu Hähnel ist bis¬ her wenig bekannt geworden; die Biographen beider Meister, Friedrich Pecht („Deutsche Künstler des XIX. Jahrhunderts“), Julius Grosse (Einleitung zu Hähnel’s „Litterarischen Reliquien“) und Hyacinth Holland (in der Allg. Deutschen Biographie) wissen nicht viel davon zu erzählen. Pecht berichtet, dass Hähnel 1835 aus Dresden wieder nach München zurückgekehrt wäre, „wo er gleich im Anfang Schwind und später auch den von Leipzig dahin übergesiedelten Genei li persönlich kennen

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UNGEDRUCKTE BRIEFE VON MORIZ V. SCHWIND.

lernte“. Das kann nur im Spätherbst oder Winter 1835 geschehen sein, denn bis dahin war Schwind in Italien, und seine Heimkehr zog sich durch Aufenthalt in ver¬ schiedenen österreichischen Städten sehr in die Länge. So verwandt auch der romantische Maler mit dem lielle- nisirenden Plastiker war, so schloß sich Hähnel doch, wie es scheint, an Genelli viel inniger als an Schwind an; Genelli befruchtete ja auch Hähnel’s Phantasie in folgenreicher Weise. Jedenfalls aber waren Hähnel’s Beziehungen zu Schwind von wahrhaft freundschaftlicher Innigkeit, denn wie der folgende Brief zeigt, war Hähnel bemüht, Schwind zu einer Professur in Dresden zu ver¬ helfen. In Frankfurt hatte sich Schwind trotz des Be¬ hagens im eigenen neugebauten Hause nicht heimisch fühlen können; er betrachtete die Stellung am Städel- sclien Institut als „Vorposten für München“. Zum besseren Verständnis des Briefes fügen wir noch hinzu, dass Schwind seit seiner Ankunft in Frankfurt am „Sängerkrieg auf der Wartburg“ arbeitete, der ihm mit seinen vielen Figuren viel zu „bürsten“ gab, und an den Illustrationen zu Duller’s „Geschichte des Erzherzogs Karl“, die er vermutlich mit der „Compositionen-Reihe“ in den Anfangszeilen des folgenden Briefes meint. Schwind war erst zu Ostern 1845 aus Karlsruhe nach Frankfurt gekommen.

Frankfurt, 25. Juny 845.

Lieber Freund! Ich fand bei meiner Ankunft so schmäh¬ lich viel zu thun, da ich neben meinem Bilde mich leider noch mit einer Compositionen-Reihe eingelassen habe, dass ich die Dresdener Ausstellung als etwas fernliegendes be¬ trachtete, und ganz vergaß, eine Kiste zu bestellen. Nun zeigt sich, dass die Geschichte zu der Zeit, die Du wünschest, nicht in Dresden ankommen kann, was mir in so weit ganz recht ist, als ich bezüglich jener Stelle der Ansicht bin: dass ich nur unter ganz guten Bedingungen meine Unab¬ hängigkeit mit einer Anstellung vertauschen möchte. Unter diesem ganz versteht sich obenan, dass ich meinen guten Credit bei der Majorität nicht erst nötig habe, durch ein paar alte Cartons herzustellen und dass ich ohne Be¬ werbung meiner Seits will aufgefordert werden. Das sollte mir auch noch passiren, dass es hieße ich hätte mich be¬ worben, und man hätte mich nicht brauchen können. Zur Zeit als Bendemann angestellt wurde, war ich von München aus schon vorgeschlagen. Also lassen wirs gehen wie’s kann. Rietschln sage: dass mit einer Erklärung wohl das beste der fraglichen Zeichnung verloren geht der Reiz, sich selbst den ziemlich losen Zusammenhang zu ergänzen. Ich dachte nicht, eine Geschichte darzustellen, sondern den be¬ haglichen Zustand zweier von der Welt zurückgezogener Brüder, die durch ihr gänzliches Einswerden sich alle Rück¬ erinnerungen vom Leibe halten. Das wird aber noch mehr Erklärung brauchen als die Zeichnung selber. Ein etwaiger Käufer wäre aufmerksam zu machen, dass die Wiege der Anfang des Lebens ist (wenn er’s nicht selber merkt), dass zwei Kinder von einer Wiege ausmarschirend Zwillinge sind, welcher Umstand die folgende Verwechslung aus Aehnlichkeit motivirt. Auf einer Seite erzält sich die heitere Liebesgeschichte des Geigers auf der andern die senti¬ mentale des Arztes, die beide mit Körben endigen, worauf der eine vom Krankenbett weg, der andere aus einem tollen

Leben, von den Engeln wieder zusammengeführt Ein¬ siedler werden. Mehr weiß ich nicht.

Erinnere ich mich recht, so ist euere Ausstellung im halben July, da werden die Cartons wohl angewackelt kommen. Der Verkauf des Wüstlings ist richtig, also fin¬ den ersten Anlauf gesorgt und ein Anfang im Kunstbandel gemacht. Das Haus ist schon recht hübsch sichtbar und macht mir viel Freude. Das Bild kostet Schweiß und wird noch dessen genug kosten.

Rietschl und allen Freunden danke in meinem Namen auf das beste für alle erwiesene Freundschaft. Der Fackel - zug hat hier so großen Eindruck gemacht, dass es Leute giebt, die gar kein Wort davon reden. Ich fühle mich von dem Dresdener Aufenthalt1) sehr erfrischt, und gäbe es da für mich eine annehmbare Stellung, ich glaube, ich würde mich unter so vielen alten Freunden sehr wohl und arbeits¬ lustig fühlen. Leb recht wohl, empfiehl mich Deiner Frau, und komme recht bald.

Dein alter Schwind.

Dass der Maler des „Sängerkriegs auf der Wart¬ burg“ und der Komponist desselben Sängerkriegs doch einmal in Beziehung zu einander traten, ist eine That- sacke, die wir aus dem folgenden Briefe Sckwind’s ent¬ nehmen, und die uns bisher unbekannt war. Es ist kaum anzunehmen, dass Schwind schon zu dieser Zeit Richard Wagner’s Oper und musikalische Richtung ge¬ kannt habe und aus Abneigung gegen die Musik Wag¬ ner’s die Übersendung der Durchzeichnung seines Ge¬ mäldes unterlassen hätte, wie sie Richard Wagner offenbar gewünscht hatte, sondern man darf Schwind wörtlich glauben, was er sagt.

Frankfurt, 25. Oct. 1845.

Lieber Freund Hänel!

Wenn Du nicht ganz besondere Gründe hast, meine Cartons noch länger ausstehen zu lassen, so thue mir den Gefallen, und packe sie wieder ein.

Es sieht so hungrig aus, wenn etwas so ewig lang da hängt. Findet sich kein Käufer für die Cartons? Ich könnte etwas Geld brauchen. Sei so gut und sage Capellmeister Wagner, ich hätte damals die Zeichnung des Sängerkrieges für ihn durchzeichnen lassen, aber die Überzeugung, dass er nichts davon brauchen kann, und eine gerechte Scheu, die Composition so lang vor dem Bild public zu machen hätten mich abgehalten sie ihm zu schicken. Es war also keineswegs Ungefälligkeit, dass er sie nicht bekommen hat. Wie gebt’s sonst? Mein Bild fangt jetzt an ein Gesicht zu bekommen. Von der Frau schöne Grüße an Dich und die deinige. Leb recht wohl und thue mir den Gefallen bald abzuräumen.

Adio

Dein alter Freund Schwind.

Die unerquickliche Gemütsstimmung, in die Schwind durch die lange Dauer und Unfruchtbarkeit der Verhand¬ lungen um die Dresdener Professur geriet, spiegelt auch der dritte Brief an Hähnel wieder, den wir folgen lassen, und der durch die Stelle aus einem Briefe an Genelli vom 2. November 1845, die Holland (S. 108) mitteilt,

1) Es ist vielleicht derselbe Besuch Schwind’s in Dresden gemeint, dessen Pecht (I, 217) gedenkt.

UNGEDRUCKTE BRIEFE VON MOR1Z V. SCHWIND.

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illustrirt werden mag. Diese Stelle lautet: „In Dresden sind 3 sage drei Stellen leer! Ich wollte, wir be¬ kämen jeder eine, und man sollte denken, sie müssten nach Jemand ordentlichen greifen, ma! Quandt, der all¬ mächtige, war fünf Tage hier und kam nicht in mein Atelier, um ja zu zeigen, dass es nicht der Mühe wert sei, sich um so ein armes Thier umzusehen. Hähuel wendet sich noch um den Kopf aber Düsseldorf hoch ! Scrophelkunst hoch! Mein Häuslein ist unter Dach und macht mir viel Freude, ich wollte, Sie wohnten im oberen Stock! Mit Steinle und Hälmel schwärmten wir von einer großen Auswanderung nach Florenz, es wäre eigent¬ lich das gescheidteste!“

Frankfurt, 5. Aug. 1846.

Liebster Freund HaenI !

Denselben Tag mit Deinem Brief kam auch meine Frau von einem 3 monatlichen Landaufenthalt zurück. Du kannst denken, dass ich da nicht zum Schreiben kommen konnte, so wie auch gestern, wo die Spuren meiner Allein¬ herrschaft mit großer Geschäftigkeit verwischt wurden.

Sag einmal, kennst Du denn die beiden Cartons, die Du so eifrig verlangst? Der Sängerkrieg ist zerschnitten , un¬ vollendet, und das Bild ist nach der Zeichnung gemacht, die Du hast. Am Rhein ist ein gutes Stück verwischt, das zu repariren ich durchaus keine Zeit habe. Du wirst mir auch Recht geben, man muss, wenn man ein Bild malen will, mit dem Carton nicht zu freigebig sein, weil sonst für das Bild kein Interesse mehr übrig bleibt. 3s hat der Carton noch eine Eigenschaft, die gar leicht höchsten Orts zum Übeln könnte ausgebeutet werden , dass nämlich die Wappen von Oestreich, Preußen, Bayern, Baden, Hessen, Nassau, Würtern- berg und Frankfurt darauf sind, während das Sächsische natürlicher Weise nicht da ist. Es bleibt jetzt nichts übrig, als alles gehen zu lassen, wie es will und kann. Mit dem Bilde, also auch mit der Antwort an die jungen Leute habe ich bis vor 5 Tagen gewartet, ob nicht von der Aka¬ demie ein gutmachender Schritt geschehe. Da aber nichts erfolgte, hab ich das Bild dem Institut übergeben, dessen Statuten verbieten, irgend ein angekauftes Bild wieder aus dem Haus zu geben. Ich schicke euch also, was ich etwa noch an Pausen und Zeichnungen habe. Wenn man mich nach Leipzig haben will, möge man sich ja tummeln, sonst könnte leicht was anderes fertig geworden sein, was der Dresdner Akademie leicht einige Schüler kosten könnte. Ich schaffe also an einem Bild, das ich für die Leipziger Sept.-Ausstellung bestimmt habe, aus allen Leibeskräften, werde aber doch nicht fertig da sollten sie sich doch über die Malerei hinter den Ohren kratzen sie haben aber für alles, was nicht lahm ist, ihre curanten Ausdrücke alt¬ deutsch hart oder so was sie mögen mich . Viel¬

leicht interessieren den König die Pausen (Durchzeichnungen) von den Hohenschwangauer Compositionen, so ein 60 Stück . Es ist jetzt an allem nichts mehr zu ändern, lassen wirs also laufen. Fr. R. halte ich durchaus nicht für fähig, eine solche Pertidie auszuhecken, aber er könnte die Augen offener halten, wenn er eingefädelt wird, eine Rolle darin mitzuspielen. Die Erlaubnis Deine, zu leidenschaftliche Verwendung, als einen Grund meiner Umgehung anzugeben, während doch das Be- dürfniss der Akademie allein zu entscheiden hat, zeigt recht, wie das alles in einander gebacken ist. Man lasst es gelten, weil man nächstens auch wieder aus persönlichen nicht aus amtlichen Gründen zu befördern und zurückzusetzen sich

fähig weiß. Sind wir froh , dass wir keiner Clique ange¬ hören, das Zeug ist alles schmutzig.

Steinle freut sich immer sehr über Deine Grüße und giebt sie freundlichst zurück. Er sitzt in Soden und soll sich er¬ frischen. Nikolai ist sehr fleißig und wird demnächst einen Abstecher nach Paris machen. Bei mir ist alles wohl, in 14 Tagen ziehe ich ins neue Haus wenn nichts dazwischen kommt ich werde Dich jedenfalls bald davon benach¬ richtigen können. Genelli hat die Hexe glücklich verkauft, und hier seinen Process gegen den Kunsthändler gewonnen, der mit den dissoluto punito auf einmal nicht fortfahren wollte. An eine Anstellung in München ist nicht zu denken. Hätte er nur in Leipzig sich besser dazu gehalten ! Indessen scheint die Zeit der Noth vorüber zu sein, womit mir ein großer Stein vom Herzen fällt.

Empfiehl mich bestens Deiner Frau und behalte in gutem Andenken Deinen alten Freund Schwind.

Die Hitze ist so arg, dass ich ganz bucklig schreibe.

*

*

Bald war auch für Schwind die Zeit der Not vor¬ über, denn schon wenige Monate später, im Dezember 1846, ward ihm die Münchener Professur angetragen, und zu Ostern 1847 kehrte er nach München zurück, nachdem er sein Frankfurter Haus sehr vorteilhaft ver¬ kauft hatte. Künstlerisch hatte Schwind indes noch lange um die Anerkennung der Nation zu kämpfen, er musste noch einige Jahre sein „eigener Mäcen“ sein, wie er zu sagen liebte, bis der Großherzog von Weimar ihn auf Anregung seines Jugendfreundes Schober mit der malerischen Ausschmückung der Wartburg bei Eisenach betraute. Hier entstanden einige der schönsten und be¬ rühmtesten Bilder Sclnvind’s, zumal seine herrliche heilige Elisabeth. Der Sommer 1855, aus dem die zwei folgen¬ den Briefe stammen, war der zweite, den er in Eisenach verbrachte; es wurden da gerade die „sieben Werke der Barmherzigkeit“ und die sechs Scenen aus dem Leben der hl. Elisabeth fertig gemalt.

Wartburg, 13. Aug. 1855.

Liebster Freund!

Die Frau Herzogin lässt mir schreiben, dass sie sich in einer großen inquietude befinde über das Schicksal der Zeichnung und lässt mich auffordern, die Sache etwas zu betreiben. Der Rahmenmacher wird nicht Wort gehalten haben. Das kann ich mir denken aber schreib mir um¬ gehend ein paar Zeilen, damit ich gleich wieder ant¬ worten kann.

Die 7 Werke der Barmherzigkeit sind jetzt in den Händen der Fr. Fürstin Wittgenstein, ich bin froh, dass dieser Handel endlich in Ordnung ist. Mein Ohr wird besser, aber es scheint, ich höre nichts rechtes damit. Die Arbeit geht vorwärts, und ich hoffe Ende des Monats beisammen zu sein. Schau doch, dass du kommen kannst.

Lass mich mit einer tröstlichen Antwort nicht stecken.

Empfiehl mich überall und leb recht wohl.

Dein alter Schwind.

Wartburg, 26. Aug. 1855.

Liebster Freund Haenel!

Ich warte von einem Tag auf den anderen auf einen Brief, der Nachricht von Dir oder Deiner Ankunft bringt und

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UNGEDRUCKTE BRIEFE VON MOR1Z V. SCHWIND.

•warte immer vergebens. Daher will ich nicht versäumen, da ich Dich gar zu gern hier hätte, anzuzeigen, dass diese Woche wohl die letzte sein wird, die ich hier zubringe.

Im Ganzen hin ich gar nicht zufrieden mit meiner Ar¬ beit und schlüge lieber alles wieder herunter. Man sollte alles selber machen können, und nicht geärgert werden, dann gienge es . Das ist aber nicht zu finden, wenn man mit großen Herren zu thun hat. Von nun an, mögen sie sich alle von mir aus recht gut unterhalten und mit den edlen Kunstkennerinnen rangiren.

Sei so gut und schreib zwei Zeilen.

Der Frau Gemahlin und Frl. Tochter alles Schöne.

Dein alter Freund Schwind.

Der folgende Brief vom 1. Juni 1859 stammt aus einer Zeit, wo Schwind die Höhe seines Ruhmes schon erreicht hatte. Nachdem er im Dezember 1854 mit seinem Cyklus „Aschenbrödel“ alle Welt entzückt hatte, erregte sein im Sommer 1858 ausgestellter Cyklus der „Sieben Raben“ die Begeisterung der ganzen Nation. Schwind wurde damals erst eigentlich populär. Inter¬ essant ist es nun zu erfahren, wie sich inzwischen sein Verhältnis zum Kupferstecher Julius Thaeter geändert hatte, mit dem er doch seit vielen Jahren in innigster Freundschaft gelebt, der seinen „Ritter Kurt“, sein „Aschenbrödel“, um nur die bekanntesten Bilder zu nennen, nach dem Urteile der Kenner meisterlich repro- duzirt hatte. Inden 1887 erschienenen Tagebuchblättern Thaeter’s werden manche Klagen über Schwind’s Launen¬ haftigkeit und Rücksichtslosigkeit laut, die unmöglich überhört werden können; umsoweniger als Thaeter in seiner weichen, hingebungsvollen Natur ein aufrichtiger Bewunderer der Schwind’schen Kunst und Persönlichkeit war. So z. B. verzeichnet Thaeter noch im Jahre 1850: „Mit Schwind verkehre ich sehr fleißig, ich habe ihn lieb, trotz seiner vielen Mucken. Er ist und bleibt einer der genialsten Künstler unserer Zeit, und es ist bitter zu beklagen, dass er so unbenützt liegen gelassen wird,“ etc. Thaeter verzeichnet auch treu dankbar, dass ihm Schwind immer sein Interesse bewahrte. Als Thaeter 18 55 den Auftrag bekam (von Piloty und Löhle), das „Aschenbrödel“ zu stechen, da fühlte er sich plötzlich wie verjüngt und freudigst ging er an die Arbeit. Allein schon im Juni 1855 schreibt er: „Die „Barmherzig¬ keiten“ sind ganz vollendet und nach dem Urteile kunst¬ verständiger Leute sehr gelungen. Doch habe ich un¬ glaubliche Grobheiten, die mir Schwind von der Wartburg aus zufließen ließ, dafür geerntet. Es hat mich tief betrübt, um so mehr, als mir jetzt eine neue Arbeit von so großer Bedeutung vorliegt, die wahrlich ungewöhn¬ lichen Mut erfordert. Ich habe nun zwar geantwortet, wie sich’s gebührt, doch die Freude an dieser Arbeit ist wie weggehaucht. Ich sehe jetzt nur die Anstrengung diesem eitlen Freund gegenüber, bin aber fest ent¬ schlossen, mich nicht in den Sack schieben zu lassen. Aber wie soll das werden? Ich muss mich auf harte Kämpfe gefasst machen; Gott helfe mir gnädig durch!“

Im August 1855 verzeichnet Thaeter: „So arbeite ich fröhlich und ohne Sorgen an meinem „Aschenbrödel“ und werde mich durch Niemand irre machen lassen, selbst nicht durch Schwind; denn soviel weiß ich, außer mir möchte schwerlich Einer zu finden sein, welcher Schwind besser lesen kann, so gut wie Schwind selber übertroffen wird in manchen äußerlichen Vollkommenheiten; aber ebenso, wie er die rechten Mittel gefunden hat, seine künstlerischen Gedanken klar und verständlich auszu¬ sprechen, so auch ich.“ Die charaktervolle Zuversicht Thaeter’s in sein Können sollte nicht enttäuscht werden, Schwind war mit der Reproduktion des „Aschenbrödel“ zufrieden und der Kupferstecher konnte noch im selben Jahre in sein Tagebuch einschreiben: „Die Aussöhnung mit Schwind, die durch meines guten Rietschel Ver¬ mittlung rascher zu stände kam, als ich hatte hoffen dürfen, und seine Zufriedenheit mit meiner Arbeit ver¬ doppelt meine Freude daran, so dass sie unter Gottes Beistand fröhlich wächst und gedeiht, trotz des vielen Zeitaufwandes.“

Diese Versöhnung kann aber doch nur eine äußer¬ liche gewesen sein; denn im Jahre 1859 verzeichnet Thaeter in seinem Tagebuch: „Schwind hat sich in sehr unerquicklicher Weise über mein „Aschenbrödel“ ausge¬ sprochen, es geradezu eine verdorbene Arbeit genannt. Und wie mühselig habe ich das Ganze Zusammentragen müssen nach missverstandenen Zeichnungen, nach Copien in Del und Wasserfarben, Skizzen, Studien, rohen Kohlen¬ cartons! Ich habe mit aller Treue das Möglichste ge- than; ich habe das deutlichste Gefühl, dass ein Anderer unter den gegebenen Bedingungen schwerlich etwas Besseres hervorgebracht hätte.“ Und aus dieser Unzu¬ friedenheit Schwind’s mit Thaeter lässt es sich erklären, dass der schon im Oktober 1858 gefasste Plan Thaeter’s, die „Sieben Raben“ für den Münchener Kunstverein zu stechen, trotz des Zugeständnisses der nicht geringen Ansprüche Schwind’s fürs Reproduktionsrecht (6000 fl.) dennoch nicht zur Ausführung kam. Man war schon einig: „Aber mein Schwind mochte sich überlegt haben, dass er auf diese Weise erst im vierten Jahre zu seinem Honorare gelange, und klagte mir darum allerlei vor, versichernd, dass er nur mir zu Liebe seine Abneigung gegen alle Kunstvereine überwinde und sich mit einer so geringen Summe begnüge, und was dergleichen gro߬ mütige Äußerungen mehr waren. Kurz, ich hatte es satt, die Genehmigung Schwind’s bei einem Honorar von sechstausend Gulden auch noch als besondere Gnade an- sehen zu sollen, und sagte ihm, er solle thun, was er wolle, ich wolle ihn an größere Ausbeute nicht hindern ; ich träte jedenfalls zurück. Diese Wendung teilte ich sofort dem Kunstvereins-Vorstand mit und bat, die Sache ganz fallen zu lassen, was dieser sehr bedauerte. Schwind aber ist mir seitdem nicht mehr zu nahe ge¬ kommen.“ Dieser bedauerliche Bruch mit Thaeter bei dem gewiss die Geldansprüche Schwind’s nicht die

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einzig entscheidende Rolle spielten, sondern es dürfte seine (noch nicht erklärte) Unzufriedenheit mit Thaeter’s Reproduktionsart mitgespielt haben dieser Bruch ist jedoch zu charakteristisch für Schwind, als dass man ihn übergehen könnte. Wir werden später noch auf einen ähnlichen Fall zurückkommen. Schließlich sei noch mitgeteilt, dass die „Sieben Rahen“ von Hanfstaengl doch photographirt wurden, dass aber Schwind, nach Thaeter’s Tagebuchnotiz vom Jahre 1861, sehr miss¬ vergnügt war, da sie ihm missfielen. Das war seine Strafe für die Beleidigung’ des liebenswürdigen Kupfer¬ stechers. Und nun sein Brief.

München, 1. Juni 1859 Lieber alter Freund!

Es thut mir leid, Dir keine erwünschte Antwort auf deine freundliche Einladung geben zu können. Es ist nichts fertig, was des Schickens werth wäre, obgleich ich seit Voll¬ endung der sieben Raben ziemlich fleißig war. Sieben Cartons für Glasmalereien, worunter, komisch genug, auch die trauernden Juden Vorkommen, kosten schon eine hübsche Zeit. Seit Ostern arbeite ich ausschließlich an den Bildern, für einen großen gothischen Flügelaltar, in die Frauenkirche. Die heiligen drei Könige, 10 Fuß breit, 12 hoch. Mariä Ge¬ burt und Tod 5 Fuß breit und hoch 4. Passionsbilder ebenso groß und noch 4 kleinere Bilder aus dem Leben Mariä. Das alles muss bis Oktober übers Jahr fertig sein. Ich habe mich dieser Arbeit lange gewehrt, weil aber die frommen Kirchenmaler, beiläufig gesagt, das nichtsnutzigste Pack in der ganzen Künstlerschaft, die vom Kirchenmalen steinreich geworden sind, Forderungen machten, die die Kirche nicht bezahlen kann, habe ich mich dazu verstanden. Nebenbei ist es mir lieber, es bleibt eine Arbeit von mir in der Kirche als in dem lumpigen Magazin von Pinakothek, wo man doch nur für die Lohnbedienten arbeitet. Daneben habe ich fortgearbeitet an einer Sammlung kleiner lyrischer Bilder, von denen ich nichts ausstelle und nichts verkaufe, bis ihrer 40 etwa beisammen sind, die ich mir zusammen¬ gestellt habe.1) Ich habe zu oft die Erfahrung gemacht, dass ein einzelnes solches Bild unter hundert andern gar nie zur rechten Geltung kommt, also versucht man’s einmal so. Einige 20 sind theils fertig, theils angefangen, und wenn ich an der Kirchen -Arbeit müde werde, mache ich wieder ein Paar.

In den fliegenden Blättern ist jetzt eine Arbeit von mir, die du anschauen solltest. Nimm dir die Mühe und pause die 15 Punkte durch und leg sie auf jede der 16 Gruppen, so wirst du dich überzeugen, dass sie alle nach denselben 15 Punkten gemacht sind. Das ist der Humor davon.

Mit der Photographie der 7 Raben ist es nichts ge¬ worden. Hanfstängel hat mir einen ganz guten Contract angebothen, ich hätte aber, bevor ich ihn unterschrieb, gerne gesehen, wie es ausfällt, und Hanfstängel wollte die Kosten nicht an eine größere Maschine wenden, bevor unterschrieben war, und so schob sich’s hinaus, bis der Großherzog die Bilder nach Weimar commandirte. Wäre der dumme Krieg nicht, so hätte ich sie in Paris ausgestellt und gewiß nicht lang auf einen Photographen warten müssen. Ich habe auch Anträge die Sache stechen zu lassen aber von wem?

1) Es sind damit jene schönen kleinen Bilder gemeint, von denen Graf Schack für seine Galerie denn schließlich doch noch einen großen Teil erwarb.

Wegen der Vignette auf dem Genkblatt muss ich sehr um Entschuldigung bitten. Ich sehe die kleinen Sachen nicht mehr recht, ließ es von einem andern auf Holz zeichnen, das fiel ganz abscheulich aus, dokterte dann daran herum, und so wurde eben nichts rechtes. Ich hätte gerne eine ausgeführte Zeichnung gemacht und sie photographiren lassen, das hätte aber ein schmähliches Geld gekostet. Es wird das beste sein, wenn wieder so was auskommt, es macht es ein anderer.

Unsere alte Freundin die Fürstin Witgenstein war mehrere Wochen hier. Kaulbach hat die junge in ganzer Figur und vollem Schmuck gemalt. Es ist eine gescheidte und gute Frau, aber das ewige Propaganda machen für Liszt ist doch am Ende unerträglich. Mir ist sie in einem fort angelegen, ihre Tochter als die Heldin eines Mährchens zu benützen und solches Zeug! Ich habe übrigens ein Engagement mit einer Fee, die sich gewaschen hat,1) aber das Ding wird immer größer und jetzt habe ich keine Zeit. Ich könnte schon noch 5 6 gesunde Jahre brauchen, um auszuführen was bereit liegt.

Bendemann geht also wahrscheinlichstwiedernachDüssel- dorf! Es ist nicht anders! Je weiter einer herunterkommt, desto willkommener ist er den großen Herrn. Seine Stelle in Dresden wird leider nicht wieder besetzt, sonst hätte ich meinen Freunden zugemutet, sich für mich an den Laden zu legen, mir wäre nichts lieber, als hier fortzukommen. Aus¬ gestellt wird wenigstens nie wieder etwas, steht also zu er¬ warten, ob nicht nach Umständen die kleine Sammlung, wenn sie fertig ist, zuerst in Dresden auftritt. Leb recht wohl, empfiehl mich bestens Deiner Frau und schreib wieder einmal Deinem Freund Schwind.

Der letzte Brief an Ernst Julius Hähnel, den wir noch mitzuteilen in der Lage sind, zeigt uns Meister Schwind wieder von seiner liebenswürdigen Seite; und da der junge Künstler, den er hier an den älteren Meister empfiehlt, inzwischen auch schon als Meister sich bewährt hat, so entbehrt der Brief nicht seiner besonderen Bedeutung. Die Hoffnung, welche Schwind ferner im Briefe ausspricht, dass seine und Hühners Werke im Wiener Opernhaus nebeneinander stehen werden, hat sich in der Tliat erfüllt: in den Öffnungen der Loggia stehen Hähnel’s in Bronze ge¬ gossene Figuren vor den herrlichen Fresken Schwiud’s zur „Zauberflöte“.

Lieber Freund!

Es freut mich eine Veranlassung zu haben, an Dich zu schreiben. Es wird sich Dir mit diesem Brief ein junger Mann vorstellen, der nach Dresden reist, um in Deiuem Atelier nicht Akademie anzukommen, und was rechtes zu lernen. Es ist der Sohn des Erzgießers Miller, der die hiesige Erzgießerei seiner Zeit leiten wird, und während seines Vaters langer Krankheit schon mit Ehren geführt hat. Es ist zu loben, dass er einen Drang nach Bildhauerei hat, auch der Sache schon mit gutem Erfolg an der Akademie sich gewidmet hat. Dass er jetzt an die rechte Schmiede geht, ist größtenteils mein Gedanke und ist daher nicht mehr als billig, dass ich Dir den jungen Mann und sein Anliegen mit

1) Schwind meint damit vermutlich die schöne Melusine, und da erhält sein wienerischer Ausdruck : ,,die sich ge¬ waschen hat“ einen köstlichen Doppelsinn.

23S

UNGEDRUCKTE BRIEFE VON MORIZ V. SCHWIND.

allem Gewicht, das meine wärmste Empfehlung bei dir haben kann, ans Herz lege. Es ist ein aufgeweckter und braver Bursche, der Dir in keinem Falle Schande macht, dafür kann ich einstehen.

Soll ich einen Bericht über unsere Kunstwirthschaft machen? Da sieht’s gut aus. Ich bin aber schon lange so «■escheidt und kümmere mich nicht darum, und so glücklich, dass ich mit gar keinem Faden in das schöne Ganze ver¬ flochten bin. Meine Bestrebungen gelten jetzt dem Wiener Opernhaus, wo ich hoffe, dass Werke von Dir und mir neben einander stehen werden.

Wenn das Wetter gut ist und die Zeit langt, so stehen meine Gedanken sehr darnach, von Wien, wo ich in nächster Zeit zu thun habe, über Dresden nach Haus zu reisen. Ich würde Dir ein Rendezvous in der Galerie geben. Die Com- positionen für Wien hätte ich bei mir.

Cornelius hast Du wohl gesehen? Für 81 Jahre ist er noch bewunderungswürdig frisch. Möge er noch lange leben.

Lass Dir also meinen jungen Freund bestens empfohlen sein, und kann ich kommen, so hoffe ich, treffe bei Dir die¬ selbe alte Freundschaft, mit der ich bin Dein alter

Schwind

München, 2. Nov. 1864.

Aus derselben Sammlung des Wiener Handschrift en- Areliivs, der wir die Briefe an Hälmel entnehmen, stammen auch die zwei folgenden Briefe Schwind’s an die Reimer’sche Buchhandlung in Leipzig, die keines ferneren Kommentars bedürfen, aber für unseren Schwind zu charakteristisch sind, als dass wir sie seinen Bio¬ graphen vorenthalten möchten. Es zeigt sich auch hier wiederum, dass Schwind es vorzog, sein „eigener Häcen“ zu sein, als für Honorare zu arbeiten, die ihm zu gering schienen. Die Folge davon war, dass mancher gute Plan, wie der von Reimer und, wie wir früher sahen, der von Tliaeter nicht zur Ausführung kam. Bei der großen Liebe, die Schwind zeitlebens für Wien und die Wiener und vollends für die Freunde seiner Jugendjahre hegte, zu denen Anastasius Grün (Graf Anton Auersperg), der Dichter des „letzten Ritters“, von dem hier die Rede ist, auch gehörte, muss man sich wundern, dass der Künstler dem unternehmungslustigen Verleger nicht etwas mehr entgegenkam.

1.

Euer Hochwohlgeboren

auszeichnender Antrag, den „letzten Ritter“ mit Zeichnungen zu begleiten, habe ich gestern erhalten. Dass mir Gr. Auers¬ perg das Zutrauen schenkt, freut mich recht sehr,* und werde mit Vergnügen zur Ausstattung eines so schönen Werkes beitragen. Wollen Sie mich gefälligst unterrichten von dem Format der neuen Ausgabe; einer beiläufigen Summe, die Sie auf die Zeichnungen verwenden können; ob die Aus¬ führung in Holz oder Kupfer beabsichtigt ist; und in welcher Zeit ich mit meinem Theil fertig sein müsste, um die Heraus¬ gabe nicht aufzuhalten dann werde ich im Stande sein, Ihnen alsogleich Vorschläge machen zu können.

Das Buch selbst besitze ich nicht, und weiß es mir hier

nicht gleich zu verschaffen wollen Sie mir ein Exemplar zukommen lassen, werden Sie mich sehr verbinden.

Euer Hochwohlgeboren

ergebenster M. v. Schwind.

Frankfurt, 8. Juny 844

im Städlischen Institut.

2.

Frankfurt, 1. July 844.

Euer Hochwohlgeboren

verehrliche Zuschrift und letzten Ritter, wofür ich bestens danke, habe ich richtig erhalten.

Ich hätte vor allem über das Format der Ausgabe Aus¬ kunft gewünscht es wird wohl etwas größer werden als bei der Weidmann’schen Ausgabe. Ich würde jedenfalls für Holzschnitte stimmen als dem Charakter des Werkes ent¬ sprechender und bei weitem prakticabler als Radirungen, die natürlich nicht mit der Schrift zugleich gedruckt werden können. Es ist ein geschickter Xylograph hier.

a) Das ganze Werk enthält 50 Romanzen. Zu jeder ein reicher Initial durchschnittlich zu 2 Louisdor = 100 Ld.

b) Die 50 Romanzen gruppiren sich in 16 Abtheilungen oder Capitel, zu jedem solchen ein größeres Titelblatt zu 4 Ld. = 64 Ld.

c) Zu jedem Capitl eine größere Composition, zu jeder Romanze ein kleineres Initial oder Emblem, zum Schluss nach Umständen 70 80 Ld. Das wäre was ich beiläufig Vorschlägen kann. Das Schneiden in Holz ist ziemlich billig. Im ganzen würde ich suchen für jedes Capitl eine neue Art der Anordnung zu finden. Ich werde das Werk unterdessen durchstudiren, um nach Ihrer gefälligst baldigen Antwort eine bestimmte Austheilung vorzunehmen. Bis zum neuen Jahre könnte alles fertig sein.

Euer Hochwohlgeboren ergebenster

M. v. Schwind.

Am unteren Rande des Briefes steht folgender lakonischer Geschäfts vermerk Reimer’s:

„16/4 beantvv., so würde die Ausführung zu theuer werden. Es ließe sich vielleicht einmal mündlich darüber reden.“ Offenbar ließ Reimer das ganze Projekt fallen. Das ist gewiss zu bedauern, denn mit Schwind’s Bildern wäre das Gedicht Anastasius Grün’s wohl populärer ge¬ worden, als es ist.

Der letzte Brief, den wir bringen, ist an den an¬ gesehenen Verlagsbuchhändler Georg Wigand in Leipzig gerichtet und stammt aus der reichen Autographen¬ sammlung des Wiener Schriftstellers Max Kalbeck , der ihn uns zum Abdruck übergab. Die Bekanntschaft Wigands dürfte Schwind noch während seines Leipziger Aufenthalts gemacht haben. Wigand war’ es auch, der 1854 die Schwind’sc.hen Kartons zum Leben der hl. Elisabeth für die Wartburg von Julius Thaeter stechen ließ, wie dieser in seinen Tagebüchern erzählt. Im übrigen ist der Brief Schwind’s durch ein für ihn sehr charakteristisches und echt künstlerisches Bekenntnis von Wert.

München, 2. Nov. 1851.

Sehr verehrter Herr!

Geantwortet muss werden, ob ich jetzt weiß was oder nicht, ich komme sonst über allen anständigen Termin hinaus,

UNGEDRUCKTE BRIEFE VON MORIZ V. SCHWIND.

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obwohl Ihr verehrtes Schreiben erst bei meiner Rückkehr von Aussee, wo ich bis 7. October auf Ferien war, also be¬ deutend später, als es hätte sein sollen, in meine Hände kam. Seitdem quäle ich mich ab, was ich da sagen soll. Jeden¬ falls möchte ich Ihnen gerne dienen, andererseits aber frage ich: Wer kann hundert Parthien Billard spielen, ohne zu ermüden? wer kann hundert Cigarren rauchen, ohne es genug zu kriegen? Ebenso kommt mir vor, als wäre es nicht mög¬ lich 100 Balladen zu zeichnen, ohne sich aufzureiben oder in einen mir verhassten Schlendrian zu verfallen.

Auf Holz zu zeichnen vollkommen unmöglich. Zeichnungen zu liefern ein tüchtiges Quantum bin ich erbötig.

Wollen Sie, vereinter Herr, ansehen unter der letzten Lieferung der Münchener Bilderbogen, den vom „buckligen Mandl?“ Der junge Verfasser dieser 9 Bilder, zugleich des Kaiser Joseph, ist zu haben, und stehe ich so mit ihm als meinem ehemaligen Schüler, dass an ein Zusammenwirken zu denken ist.

Habe ich unbillig lang geschwiegen, so war es, weil ich einem Manne, den ich schätze, wie Sie verehrter Herr, ge¬ radehin „nein“ zu sagen mich nicht entschließen konnte. Bitte also mehr ein Zeichen wirklicher Neigung Ihnen zu dienen in diesem Umstand zu sehen.

Ich habe einmal schon 40 Bilder hintereinander gemacht in demselben Format und Sinn, es war geradezu zum Um¬ kommen.

Allen Bekannten bitte mich bestens zu empfehlen, und habe die Ehre mit aufrichtiger Hochachtung zu verbleiben Sehr verehrter Herr

Ihr ergebenster M. v. Schwind.

S. Wohlgeb. Herr Georg Wigand, Buchhändler in Leipzig.

Alexander Posonyi’s Handschriften-Archiv.

Ich kann diese Mitteilungen zur Lebensgeschichte Schwind’s nicht schließen, ohne mit wärmstem Danke des Mannes zu gedenken, der mir in hochherziger Weise diese Briefe zum Abdruck überließ, und der als privater Liebhaber in seinem stillen Heim in Wien eine Samm¬ lung von Handschriften geschaffen hat, die ihresgleichen wohl in der ganzen weiten Welt nicht hat. Dass die Nationalbibliothek in Paris, das Britische Museum, der Vatikan oder die Wiener Hofbibliothek einen großen Schatz von Handschriften besitzen, das ist nicht zu ver¬ wundern; denn alle diese Bibliotheken sind staatliche oder Hof- Anstalten, werden von ganzen Nationen oder reichen Fürsten erhalten und haben ein Alter, das zum Teil nach Jahrhunderten zählt. Dass aber ein Privat¬ mann in seiner Liebhaberei für Handschriften so viele Mittel, so viele Energie und Leidenschaft, so viel Fleiß und Hingabe angewrendet hätte, wie Alexander Posonyi, dessen Handschriftensammlung, von universellen Gesichts¬ punkten aus angelegt, es schließlich bis zu der Be¬ deutung brachte: das dürfte ohne Beispiel in der Ge¬ schichte der Sammler dastehen. Posonyi sammelte alles, was er an Urkunden, Briefen, Kompositionen von Kaisern und Königen, von Päpsten .und Heiligen, von Staats¬ männern und Feldherren, von Denkern und Dichtern, von Malern und Musikern aller Zeiten und aller Länder

nur irgendwie für oft sehr teures Geld erreichen konnte. Er besitzt z. B. Briefe von Luther und Calvin und von Ignaz von Loyola und Franz von Sales; er zeigt uns Armeebefehle mit der eigenhändigen Unterschrift Gustav Adolfs oder Wallenstein’s und die höchst unortho¬ graphischen Feldherrnakte Andreas Hofer's. Er besitzt eine Urkunde, auf der die eigenhändigen Unterschriften des Grafen Egmont, des Prinzen Wilhelm von Oranien, de Ligne und H. de Borderode alle schön vereinigt (Brüssel 1566) beisammen stehen. Er besitzt Briefe der Könige Ludwig XIII. bis Ludwig XVI. von Frankreich; Briefe von Paul I. von Russland ; eine ganze lange Serie von Briefen der Kaiserin Maria Theresia, des Kaisers Joseph II., fast aller Habsburger bis auf die Gegenwart. Einzelne seiner Urkunden reichen bis ins frühe Mittel- alter zurück, so z. B. die vom ältesten Juristen Öster¬ reichs Otto von Haslau aus dem Jahre 1277, oder den Schuldbrief des (bei Sempach gefallenen) Herzogs Leopold vom Jahre 1376, der mit seinem Bruder Albert die Ein¬ künfte von Stadt und Amt Gmunden, Steyr und Linz verpfändet. Auch ein Stück der Handschrift des be¬ rühmten Begründers der Volkserziehung Comenius ist in Posonyi’s Besitze .... Diese seine Sammlung hat er in der sorgfältigsten Weise geordnet in Schränken und Fächern in mehreren Zimmern aufgestellt, und für den Kenner der Geschichte und Liebhaber von Handschriften und wer ist dieses nicht , wenn er das Erstere ist - wirkt eine Wanderung durch Posonyi’s Archiv geradezu berauschend. Man kann keinen Namen von Klang aus der politischen, Kultur- oder Kunstgeschichte nennen, ohne dass nicht Posonyi sofort mit einem Blatte, öfter aber auch viel mehr Handschriften des berühmten Mannes oder auch der berühmten Frau aufwarten würde. Du nennst Goethe und Schiller. Sofort öffnet Posonyi Mappen mit zum größeren Teil noch gar nicht einmal gedruckten Handschriften, Versen oder Briefen der beiden Heroen. Du nennst Mozart. Posonyi führt Dich in ein eigenes Mozartzimmer, wo Partituren, erste Drucke, Briefe, Kompositionsfragmente von Mozart aufgestellt sind. Gluck, Haydn, Beethoven, Weber, Mendelssohn, Berlioz, Rossini, Meyerbeer, Donizetti, Verdi, Spontini, Paganini, Wagner, Lanner, Strauß fehlen durchaus nicht! Posonyi besitzt Handschriften von Michelangelo und von Canova, von Tasso und von Ariost; Briefe von Marie Antoinette, von der Madame de Maintenon, von Diane und Gabrielle d’Estrees, von Charlotte Beaune (Hein- rich’s IV. Freundin), von der Lavaliiere, der Pompadour und der Du Barry, ja sogar von der Madame de Sevigne, von Ninon de Lenclos, von der Madame de Stael und George Sand .

Kurz: einen Katalog dieses wundersamen Archivs zu schreiben, kann meine Aufgabe nicht sein; es um¬ fasst nach Posonyi’s Schätzung etwa 25 30000 Stücke und ist das Werk nicht bloß eines passionirten, sondern auch eines in seiner Art genialen Sammlers. Posonyi

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KLEINE MITTEILUNGEN.

sammelt universell, aber doch auch nicht so ins Blaue, wie es den Anschein haben könnte. Er hat ein Spür¬ talent für wichtige Handschriften, wie es berühmte Brunnenmacher für ergiebige Wasserquellen haben sollen. Er sammelt mit Methode und viele, viele Stücke in der Sammlung ergänzen sich gegenseitig in irgend einer Beziehung. Er hat seine ganze Existenz dem Archive gewidmet, wozu er schon 1859 die Grundlagen zu legen begann: er lebt und webt darin. Bisher ist die Be¬ deutung seines Archivs noch sehr wenig anerkannt worden. Es ist im Ausland, in Englands und Frank¬ reichs Gelehrtenkreisen viel bekannter als in Wien selbst. Dieses Archiv ist berufen, ein Mittelpunkt historischer Forschung universeller Art zu werden. Posoiryi’s Lebens¬

ideal ist es, dass seine Wiener Landsleute zur Erkenntnis der Bedeutung seines Archivs gelangen und sich dessen zu dauerndem Besitze in der großen Stadt versichern. Allein dass sich dieses Lebensideal erfülle, das wagt der für seine Handschriften begeisterte Mann nicht zu hoffen. Die Wiener, klagt er nicht mit Unrecht, gehen an ihm vorüber, und wer weiß, was aus seinen Schätzen noch werden wird, wenn ihm selbst Kraft und Lust einmal erlahmen sollten, sie zu hüten und was noch täglich geschieht sie zu vermehren ! Das Schmerz¬ lichste wäre wohl, wenn sie nach England und Frank¬ reich wandern sollten, wie Posonyi ahnt, wo mehr Idealismus existirt als in Deutschland, dem Lande der Denker und Gelehrten! ....

KLEINE MITTEILUNGEN.

-e- Klingers Tischkarte für den Dresdener Kongress. Klingel1 bat für das Festmahl, das am 24. Sept. v. J. im Dres¬ dener Gewerbebause zu Ehren des Kongresses der Association artistique et litteraire internationale stattfand, eine Tisch¬ karte radirt, die infolge ihrer geistreichen Erfindung und ihrer feinen Durchführung sich würdig den besten seiner Schöpfungen anreiht. Wie sie dazu gedient hat, dem Fest gleich von vorn herein den Charakter vornehmer Weihe auf¬ zuprägen, so wird sie in der Folgezeit erst recht ihre Wirkung dadurch ausüben, dass sie stets wieder zu erneutem Be¬ trachten auffordert und jedesmal neuen Genuss schafft. Eine edle Frauengestalt, die Gerechtigkeit, kenntlich an der Wage, die sie in ihren Gürtel gesteckt hat, hält mit beiden Händen die Tafel empor, worauf die Inschrift in jenen eigentümlichen Ruchstaben von Klinger’scher Erfindung angebracht ist, die am ehesten an die altgriechische Monumentalschrift er¬ innert; oben aber ragt über der Tafel ein herrlich gestochener Blumenstrauß hervor. Im untern Teil spielt sich hinter dem Rücken der Themis eine eigentümliche Scene ab, die von solchen, denen die Sprache der Bewegungen nicht ohne weiteres geläufig ist, leicht missdeutet werden kann: ein Mann in elegant sitzendem Frack, jedoch mit den Zügen eines gemeinen Falschspielers, langt vorsichtig in die Rocktasche eines rechts sitzenden Zeichners, während eine links hinter ihm stehende Gestalt, die sich absichtlich von diesem Vor¬ gang wegwendet, ihm heimlich Geld zusteckt. Das ist eine Illustration des betrübenden Erfahrungssatzes, dass auch auf dem Gebiete des Geistes, dessen Eigentumsrechte zu wahren eben dieser Kongress anstrebte, der Spruch Proudhons: la propriete c’est le vol, nur zu häufig gilt. Auf die wunderbare Charakterisirung der Gestalten braucht nicht weiter einge¬ gangen zu werden. Stimmen sie auch in den Verhältnisssen nicht gerade mit einander überein, so stört das nicht weiter bei der Betrachtung des Blattes, das in richtiger Würdigung seines Zweckes, anzuregen und zu unterhalten, von jeglicher Einheitlichkeit in der Durchführung des Raumes absieht Diesem freien Charakter des Blattes ist auch die Leichtig¬ keit der Technik, die nur einige Hauptpunkte, wie die sprechend lebendigen Köpfe und die eine so große Rolle

spielenden Hände, dann aber auch in höchster Vollkommen¬ heit durchführt, angepasst; Aquatinte, Radirung, Stich, kurz alle Mittel der Graphik, sind herangezogen, um eine er¬ staunlich reiche und farbige Wirkung zu erzielen. Das Komitee, dem die Vorbereitung des Dresdener Kongresses oblag, hat sich ein großes Verdienst dadurch erworben, dass es den Mut hatte, einen solchen Auftrag gerade Klinger zu erteilen. Die zahlreichen fremden Gäste wussten es wohl zu würdigen, dass ihnen hier etwas durchaus nicht Banales geboten worden war, und die Kunde von unserm großen Meister, der bei aller Kernhaftigkeit seines deutschen Wesens wenn nötig eine überall verständliche internationale Sprache zu handhaben weiß, wird durch dieses Blatt gewiss in so manche Länder getragen werden, die von ihm bisher noch kaum gewusst haben.

Landschaft von K. D. Friedrich. Die diesem Hefte bei¬ gegebene, in mehreren Farben gedruckte Heliogravüre ist eine Nachbildung eines Landschaftsbildes von K. D. Friedrich, der in Nr. 18 der Kunstchronik vom 5. März d. J. eine ein¬ gehende Würdigung gefunden hat. Herr Andreas Aabert, dem wir jenen Beitrag verdanken, erwähnt das Gemälde auf Sp. 292 mit folgenden Worten: „Besonders hervorragend war eine kleine Sommerlandschaft (bei Herrn Heinrich Friedrich, einem Neffen des Malers), 36 cm hoch, 50 cm breit, ohne Zweifel aus Böhmen, mit einer bleichen, blaugrauen Gebirgs¬ kette über hellgrünen Matten, ein Bild von merkwürdig reinem Ton, frisch und treffend wahr wie eine Naturstudie, eine der ernstesten, echtesten Landschaften, die ich von deutscher Kunst gesehen habe. Das Bild dürfte in den zwanziger Jahren gemalt sein.“ Der Wunsch, die durch Herrn Aubert so sehr gepriesene Landschaftskunst des Malers Friedrich unsern Lesern in effigie vorstellen zu können, ver¬ leitete uns dazu, den Besitzer um Überlassung des Bildes zum Zweck einer Nachbildung zu ersuchen. Der Bitte ward mit freundlichster Bereitwilligkeit Folge geleistet. Aber ohne Farbe war hier kaum eine irgendwie anziehende Dar¬ stellung zu erreichen: denn in schwarz und weiß wäre ein Skelett, kein lebendiges Abbild erschienen.

Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

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TISCHKARTE

Zeitschrift, für "bildende Kunst

KP. VII.

Druck y. Jul. Wolf,

Wandmalerei im Reichstagsgebäude,

ausgeführt von Mas Seliger, Lehrer an der Unterrichtsanstalt des Kgl. Kunstgewerbe - Museums zu Berlin.

Fries um den Aussiohtsturm des Hauptrestaurants der Berliner Gewerbe- Ausstellung. Entworfen und gemalt von Gathemann und Kellner, Berlin.

DIE BERLINER GEWERBEAUSSTELLUNG 1896.

VON ALBERT HOFMANN- BERLIN.

S ist ein Schauspiel, welches in vielfacher Hinsicht an Vorgänge erinnert, die wir in der Natur zu beobachten Gelegenheit haben, wenn wir wahrnehmen, wie seit der großen Londoner Ausstellung der fünfziger Jahre gewerbliche Ausstellungen aller Art in geometrischer Progression aus dem Boden schießen. Und nicht ohne begründete Berechtigung konnte man von ihnen in den letzten drei Lustren sagen: Plus Qa change, plus c’est la meme chose. Auch wer versucht, dieses Wort auf die Berliner Gewerbeausstellung 1896 anzuwenden, wird dabei auf seine Bechnnng kommen. Und doch hat dieselbe in ihrem Gesamtbilde etwas, was sie von anderen Ausstellungen mit ähnlichem oder gleichem Grundgedanken wesentlich und vorteilhaft unterscheidet. Das ist zunächst der große Gedanke der Gesamtanlage und die mit ihm im gleichen Verhältnisse stehende An¬ lage der Hauptgebäude, ein glücklicher, großer Wurf für eine in ihrem Grundgedanken immerhin beschränkte Kunstgewerbeblatt. N. F. VII. H. 10.

Ausstellung. Die besonderen Umstände der Entstehung von Ausstellungsbauten bringen es mit sich, dass in ihnen keine ausgereiften neuen Offenbarungen, wie man sie vielleicht von einer Weltausstellung erwarten könnte und mit einiger Berechtigung auch erwarten darf, zum Ausdruck kommen. Zeit, Material, Hilfskräfte und die Einsprüche der sogenannten überwachenden Kommissionen, die den Künstlern wie Bleigewichte an den Füßen hängen und sie in ihrer frischen Arbeit lähmen, sorgen dafür, dass nicht allzu geniale Gedanken, selbst wenn sie bestehen, ihre Verkörperung linden. Und trotz der Einwirkung aller dieser Umstände, die selbstverständ¬ lich auch der Berliner Ausstellung nicht erspart blieben, hat dieselbe doch etwas Frisches, Eigenartiges erhalten, und wer es versucht, sich darüber Rechenschaft abzu¬ legen, woher dieser Vorzug komme, wird unter Umstän¬ den gleich dem Verfasser zu dem Ergebnis gelangen, dass hier, wie vielleicht bei keiner der vorangegangenen Aus¬ stellungen, die einzige des Jahres 1889 in Paris aus-

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DIE BERLINER GEWERBE-AUSSTELLUNG 1896.

Gemalter Fries zwischen den Dachsparren der Nahrungsmittelhalle der Berliner Gewerbe-Ausstellung.

genommen, der Schmuckbau seltene Triumphe feiert. Es unterliegt keinem Zweifel, dass in der Ausbildung der Hauptgruppe der Ausstellungsgebäude das im höchsten Sinne des Wortes genommene dekorative Können des 'Architekten Bruno Schmitz den richtigen Ort für eine richtige, der besonderen Veranlagung des Künstlers ent¬ sprechende Thätigkeit gefunden hat. Und diese in so hohem Grade ausgeprägte künstlerische Eigenart dieser Bauten, sowie eine Reihe anderer mit gleich glücklichem künstlerischem Geiste ausgeführter anderer Bauten möge es rechtfertigen, wenn das Kunstgewerbeblatt nicht ganz an den Bauten selbst vorübergeht, sondern versucht, den bedeutungsvollsten Umstand in ihrer Erscheinung festzuhalten.

Zu einer Gruppe von unvergleichlicher Großartig¬ keit haben die Architekten der Ausstellung Haupt¬ gebäude, See und Hauptrestaurant als Mittelpunkt der ganzen Anlage zusammengefasst. Wie der Markusplatz in Venedig der ideale Empfangsplatz für die venetianische Republik in ihrer Glanzzeit war , so ist diese Anlage der Empfangsplatz der Gewerbeausstellung für die hier zusammenströmenden Besucherschaaren. Zwei viertel¬ kreisgeschwungene Hallenanlagen, deren Kopfenden mit Kuppelbauten geschmückt sind, umfassen den Platz gegen das Hauptgebäude und schließen sich in der Mitte zu einem kleinen Kuppelraume zusammen, der in seiner schlichten, orientalisirenden Linie unter Abwesenheit aller Farben einen sammelnden Vorraum für den großen Kuppelraum für die Besucher bietet, welche vor dem Eintritt in das Hauptgebäude nicht die Hallen benutzt haben, sondern unter der Einwirkung der vom glänzen¬ den Sonnenlichte überfluteten weißen Architektur, der roten Dächer, der silberglänzenden Aluminiumbedachungen, des frischen Grünes der landschaftlichen Umgebung und des strotzenden Goldes des dreibogigen Einganges durch diesen den Eintritt gewählt haben: dem durch die Ab¬ messungen und die bescheidene Zurückhaltung der kleinen Kuppelhalle entsprechend vorbereiteten Besucher wird die große Kuppelhalle wie ein glücklich zusammenge¬ stimmter, dithyrambischer Accord aus Baukunst, Bildner¬ kunst und Malerei erscheinen, der, im Zusammenhang mit der rechtsseitig gelegenen Ausstellung der könig¬

lichen Porzellanmanufaktur und der in gleicherweise linksseitig gelegenen Ausstellung der kaiserlichen Beiträge mit ungemein festlicher Stimmung den Eintretenden um¬ fängt. Auch die schwungvollste Schilderung würde hinter dem Eindrücke, den die Wirklichkeit bietet, Zurück¬ bleiben müssen. Der Versuch zu einer solchen unter¬ bleibe daher. Vielleicht ist es möglich, ihn durch eine Abbildung nach der Wirklichkeit zu ersetzen. Die Künstler der Kuppelhalle sind neben dem Architekten Schmitz der Bildhauer Vogel und der Maler Klein- Chevalier. An die Kuppelhalle schließt sich, um eine Anzahl Stufen vertieft, die 25 m breite Hauptgalerie an, auf welche die fischgrätenartig angeordneten Seitengalerieen, welche die einzelnen Gruppen enthalten, stoßen. Der Schmuck dieser Hauptgalerie beschränkt sich auf die künstlerische Ausbildung der beiden Langseiten, welche Anklänge an die französische Renaissance und mit Recht einen so kleinen Maßstab zeigen, dass das Ausstellungs¬ gut durchaus nicht beeinträchtigt wird. Der Charakter des Schmuckes ist ein im wesentlichen plastischer. Leider kommt die Halle als solche und als Fortsetzung der Kuppelhalle in keiner Weise zur Geltung, da man sie mit den anspruchsvollen Pavillons einiger Berliner Gro߬ firmen so vollgesetzt hat, dass jede Raumwirkung ver¬ loren geht.

Von gleich glücklicher Erscheinung ist das am ent¬ gegengesetzten Ufer des langgestreckten Sees gelegene, gleichfalls nach den Entwürfen von Bruno Schmitz errichtete Hauptrestaurant, welches durch eine Verbin¬ dung von Obelisken, Balustraden und Leuchtmasten, welche den Rand des Sees umfassen, mit dem Haupt¬ gebäude eine geschlossene Einheit bildet. Der spaniscli- orientalisirende Charakter, der das Äußere des Haupt¬ gebäudes beherrscht, giebt auch dem Restaurationsbau die erfrischende sommerlich südliche Stimmung. Auch hier umschließen viertelkreisförmige Bogenhallen, welche sich in der Mitte zu einem Kuppelraum vereinigen, den ein gewaltiger Wasser- und Aussichtsturm überragt, den halbkreisförmigen Seeabschluss. Die zweigeschossige Hallenanlage ist in ihrem untern Geschosse eine aus¬ gesprochene Bogenhalle, nimmt in ihrem obern Geschoss dagegen mehr den Charakter einer Pergola all. Den

DIE BERLINER GEWERBE- AUSSTELLUNG 1896.

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plastischen Schmuck der Anlage bildet eine in großem Maßstabe gehaltene Mittelgruppe der Berolina, welche über einer Kaskadenanlage thront.

Hat die im Vorstehenden genannte Gebäudegruppe in erster Linie repräsentativen Charakter, der für die künstlerische Formgebung maßgebend war und dieser die erste Bedeutung gab, so tritt bei den nun folgenden Gebäuden mit einzelnen Ausnahmen die künstlerische Aus¬ bildung erst in die zweite Linie, sie sind in erster Linie Nutzbauten. An die Spitze dieser Gruppe von Bauten gehört das sogenannte Chemiegebäude, welches außer der chemischen Industrie die physikalische, optische, chirur¬ gische Industrie und so weiter beherbergt. Es ist nach den Entwürfen des Architekten Hans Grisebach erstellt und zeigt eine basilikaartige, dreischiffige, langgestreckte Halle mit Querschitf, dem ein halbrundes, amphitheatra¬ lisches Auditorium vorgelagert ist. Die künstlerische Form¬ gebung des Gebäudes bewegt sich in einer Art deutschen Renaissance, welche in freier und feinfühliger Weise einer¬ seits den großen Lichtbedürfnissen des Hauses, anderer¬ seits dem Material, aus dem es erstellt ist Draht¬ putz auf Eisengerüst angepasst ist.

Für eine Gruppe von drei eigenartigen Gebäuden lieferte der Architekt Karl Hoffacker die Entwürfe, welche die deutsche Formensprache, versetzt mit nor¬ dischen Einflüssen, zu wirkungsvoller Darstellung bringen. Es sind das Verwaltungsgebäude, zugleich Haupteingang für die Ausstellung, als Drahtputzbau mit reicher Malerei von M. Seliger in malerisch be¬ wegter Silhouette erstellt, das Gebäude für die Sclnil- ausstellung und die Ausstellung von Wohlfahrtseinrich¬ tungen, ein stattlicher Holzbau mit architektonisch durch¬ gebildeter Hauptfassade, und vor allem das Gebäude für Fischerei und Sport, am Rande der Spree, eine reich gruppirte Anlage mit starken Einflüssen des nordischen Holzbaues, die hier unter der Mitwirkung des geschickten Holzschnitzers G. Riegelmann eine charakteristische, dem Zwecke glücklich entsprechende Ausbildung er¬ fahren hat. Diese drei Gebäude, die durch ihre Größen¬ verhältnisse der Gruppe der Hauptgebäude zuzuzählen sind, schaffen in ihrem künstlerischen Ausdruck zu

den Sclimitz’schen Hauptgebäuden einen bewussten und angenehmen Gegensatz. Die geringen Mittel, die zu ihrer Errichtung zur Verfügung standen, sind so haus¬ hälterisch verwendet, dass die künstlerische Gestaltung nicht unterdrückt wurde, und wenn nach Vorbildern ge¬ sucht wird, Nutzbauten mit den schlichtesten und doch zugleich ungemein wirkungsvollen Mitteln künstlerisch zu gestalten, so können sie in den Bauten des Archi¬ tekten Hoffacker gefunden werden Ein gutes Teil der Wirkung kommt auf die Gruppirung der Baugruppen des einzelnen Gebäudes, auf die größere Hervorhebung oder Zuriickdrängung einzelner Teile. Und hierin ins¬ besondere zeigt sich das architektonische Können.

In ihrer künstlerischen Gestaltung ungemein reiz¬ volle Bauwerke kleineren Umfanges sind das Alpen¬ panorama von dem Architekten Hochgürtel in Gemein¬ schaft mit dem Maler Rummelspacher, das Gebäude der Tabakfirma Löser & Wolff, sowie das Automaten¬ restaurant, beide von TL A. Krause , die Gebäude des Pil¬ sener bürgerlichen Bräuhauses, des Münchener Bürger - bräu, das Volksbrausebad von Solf & Wichards, eine Anzahl kleiner Pavillons des Architekten Bruno Möhring, das Gebäude der Brauerei von Oswald Berliner von Cremer & Wolff enstein, das Tucherbräu von Hoffacker, die zahlreichen, über den Park verstreuten antikisiren- den Trinkhallen von Bruno Schmitz, sowie eine Legion weiterer Pavillons etc., in welchen talentvolle Künstler die ganze Fülle ihrer Phantasie und ihres Witzes zum Ausdruck gebracht haben. In der künstlerischen Ge¬ staltung dieser Bauten lassen sich drei ausgesprochene Richtungen verfolgen, von welchen jede geistvolle Ar¬ beiten zeigt. Die eine Richtung benutzt die auf Lehr- und Grundsätzen aufgebaute überlieferte Kunst und sucht ihr bei möglichstem Freiheitsdrang so viele künstle¬ rische Reize abzugewinnen, als der Bann der Überliefe¬ rung es nur irgendwie zulässt. Die zweite Richtung schließt an die Volkskunst an, greift sie aber an ihrer natürlichsten Seite, dem Bauernhaus und dem von ihm abgeleiteten Hause der abgelegenen Gegenden und Ge- birgsthäler an und sucht diese mit möglichster Treue nachzuahmen. Die dritte Richtung schließt gleichfalls

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DIE BERLINER GEWERBE-AUSSTELLUNG 1896.

an die Volkskunst an, versucht aber ihre Gebilde, wenn gegenüber den großen Schönheiten der natürlichen Volks¬ kunst der etwas anspruchsvolle' Ausdruck erlaubt ist, zu läutern, zu stilisiren und gelangt trotz dem vielfach berechtigten Misstrauen, welches man in solche Versuche gesetzt bat, zu ungemein ansprechenden Ergebnissen. Vielleicht ist es späterhin möglich, charakteristische Beispiele für diese drei Richtungen im Bilde vorzuführen. Alles in allem genommen, spiegelt die große Gruppe dieser kleinen Bauwerke infolge der Schnelligkeit und Ursprünglichkeit ihrer Ent¬ stehung mit ziemlicher Treue die Bewegungen im Kleinen wieder, welche die architek¬ tonischen Bestrebungen der Gegenwart im Großen durch¬ ziehen und auch im Kunst¬ gewerbe ihren Wiederschein finden.

Zweier Veranstaltungen muss zum Schlüsse dieser all¬ gemeinen Schilderung noch ge¬ dacht werden, die zwar nicht im engeren Zusammenhang mit der offiziellen Ausstellung stehen, da sie Privatunter¬ nehmungen sind, die aber nichts destoweniger mit dazu beitragen, dem gesamten Aus¬ stellungsbild Farbe und eine gewisse Ergänzung zu geben.

Es sind das die Unterneh¬ mungen Alt-Berlin und Kairo, ersteres ein nach den Ent¬ würfen Hoffacker’s mit einer köstlichen Fülle intimer Reize ausgeführtes Bild des alten Berlin aus der Zeit des Großen Kurfürsten, letzteres ein nicht ganz mit gleicher Einheitlich¬ keit durchgeführtes, jedoch gleichfalls nicht der Anzie¬ hungskraft entbehrendes, nach den Entwürfen des Architek¬ ten Wohlgemuth dargestelltes lebendiges Stück orientalischen Lebens. Auf einem Flächen¬ raum, der nach meinem Ge¬ fühle für die geschlossene und echte Wirkung des Ganzen und für die größere Treue seines orientalischen Charak¬ ters um etwa ein Drittel hätte kleiner sein können, erhebt sich das sogenannte Kairo

mit einer Anzahl von ägyptischen Tempel- und Haus¬ typen, welche zum Teil treue Nachahmungen bestehen¬ der Bauwerke sind, aber gegenüber früheren Veranstal¬ tungen ähnlicher Art, wie der in Wien 1873 und der in Paris 1889, den Eintags -Charakter und die Eigen¬ schaft leichter Volksbelustigung doch allzusehr an der Stirne tragen, um nach größerem künstlerischem Ma߬ stabe gemessen zu werden. Angenehm wirkt es, zu sehen, wie das Innere der kleinen Bauwerke zu Läden, Bazaren , Schankstätten etc. eingerichtet ist, in

welchen der orientalische Cha¬ rakter noch am echtesten zum Ausdruck kommt. Freilich dürfte der weitaus größte Teil der Waren, die hier dem be¬ gehrlichen Käufer mit orienta¬ lischer Beredsamkeit und Leb¬ haftigkeit als echte Waren an- und aufgepriesen werden, in Berlin selbst entstanden sein.

Anspruch auf strengere und zugleich künstlerische Be¬ urteilung erhebt Alt-Berlin. Es ist mit Bewusstsein und Folge¬ richtigkeit einheitlich und mit liebevoller Hingabe an die be¬ scheidene und naive Baukunst jener Tage, die uns noch so sehr mangelt, entworfen und ausgeführt. Das alte Rathaus mit der Gerichtslaube, das Georgenthor mit dem schönen Turmbau, die Heiligegeist¬ kirche, die zahlreichen kleinen Häuser in den gewundenen Straßen sind mit ungemeiner Treue und Liebe wiederge¬ geben. Der Fachwerksbau mit seinen unendlichen Abwechse¬ lungen und Gestaltungen, der Backsteingiebel mit seinen ein¬ fachen und doch so wirkungs¬ vollen Formen, der geputzte Giebel mit seiner lebhaft be¬ wegten Silhouette, hier eine Laube, dort eine Halle, ein Erker bald mitten in der Fassade , bald rücksichtslos dem Bedürfnis entsprechend auf die Seite gerückt, bald wieder keck an einer Ecke klebend, hier ein kleines Türm¬ chen, dort ein zierlicher Dach¬ reiter, alles das vereinigt sich

Kreuz für den Altar der Johanniskirche in" Giessen, nach Zeichnung von Architekt H. Gmsebach ausgeführt von Hofkunstschlosser Paul Warcus, Berlin.

WERKE DER MITTELALTERLICHEN GIESSKUNST.

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mit den kostümirten Besitzern der Läden und Schänken und ihren Gehilfen zu einem an¬ mutigen, lebhaften und male¬ risch bewegten, dabei so ech¬ ten, wie es der vorübergehende Charakter der ganzen Veran¬ staltung nur irgendwie zu¬ lässt, Städtebild der vergange¬ nen Zeit, in welcher Berlin noch mehr jenes still beschau¬ liche Dasein führte, in welches nur die freilich oft herein¬ gebrochenen Kriegszeiten eine Abwechselung brachten. Das Kunstgewerbe im engeren Sinne des Worts kommt in Alt -Berlin nur zu einer gelegentlichen Geltung; die Hauptbestimmung dieses be¬ zaubernden Städtebildes liegt in der künstlichen und künst¬

lerischen Zurück Versetzung des Besuchers in Zeiten, in wel¬ chen im Vergleich zu heute das Leben des Einzelnen da¬ hin floss wie ein ruhiger Strom, dessen Bauschen dem Nachbar kaum bemerkbar war und der selten die Ufer durch¬ brach. Das ist heute anders, und in diesem bei dem Besuche Alt-Berlins zum Bewusstsein kommenden Gegensätze liegt der Hauptreiz dieser Veran¬ staltung.

Mit dieser kurzen Schilde¬ rung derselben sei die Dar¬ stellung des äußeren Bildes der Ausstellung abgeschlossen und mit dem folgenden Auf¬ sätze der Bericht über das Aus¬ stellungsgut selbst begonnen.

(Fortsetzung folgt.)

Leuchter für die Johanniskirche in Giessen, nach Zeichnungen von Architekt H. Grisebach ausgeführt von Hof'kunstschlosser Paul Marcus, Berlin.

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Gemalter Fries zwischen den Dachsparren des Fischereigebäudes der Berliner Gewerbe-Ausstellung.

WERKE DER MITTELALTERLICHEN GIESSKUNST IN DEN BEZIEHUNGEN ZWISCHEN NIEDERRHEIN UND OBERRHEIN.

man erwägt, wie die technische Her- ng von Gusswerken zu mehrfacher Wieder - ig ein und desselben Modells herausfordert, so muss es selbst für das Mittelalter überraschend er¬ scheinen, wie selten man an verschiedenen Orten ganz gleichen Gusswerken begegnet. Wohl sind allgemeine

Verwandtschaften durch Tradition der Werkstätten, wie bei den Löwenköpfen an Bronzethüren, Überein¬ stimmungen durch bekannte symbolische Beziehungen, wie bei den Adlern an den romanischen Leuchtern, Einflüsse eines großen Künstlers, wie in den Gravi- rungen nach dem Meister E S vielfach nachgewiesen.

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WERKE DER MITTELALTERLICHEN GIESSKUNST.

Auch direkte Wiederholungen ge¬ stanzter Ornamente, wie an dem romanischen Reliquiar in Sitten sind beobachtet worden. Wo aber zwei in jeder Beziehung gleiche Arbeiten vorliegen, handelt es sich entweder um direkte Gegenstücke, wie an den Reliquiarien im Museum Cluny (Didron, Annales 1859, S. 19) und vielleicht auch an der Augsburger Bronzethür, oder man ist genötigt, neuere Imitationen zu erkennen, wie bei dem Liller Bauchfasse mit den drei Jüng¬ lingen im feurigen Ofen. Der Fall jedoch, dass eine Werkstätte Stücke in mehreren Exemplaren gegossen und verbreitet hätte so sicher er auch vorgekommen sein muss hat sich noch nicht unzweifelhaft nachweisen lassen. Vielleicht aber werden wir jetzt vor einen solchen geführt.

Die Straßburger Ausstellung von 1895 machte mich mit dem romanischen Reliquiar von Mols¬ heim bekannt, welches in die Litteratur längst eingeführt ist. Es war dem Publikum zu Liebe, welches auf allen Ausstellungen und neuerdings auch in den Museen durch Stimmungsbilder amüsirt zu sein verlangt, auf den Altar einer in andächtiges Dunkel gehüllten Kapelle aufgestellt. Die unab¬ wendbaren Anforderungen der Sicherung verlangten, dass es mit Drähten auf dem Altartisch be¬ festigt werde. So konnte es aus der Finsternis auch nicht ans Licht gebracht werden, und ich verdanke es dem Scheine einer Laterne, mit welcher mir der unermüdliche und verdienstvolle Veranstalter dieser Ausstellung, Herr Prof. Schricker, leuchtete, dass ich den Gegen¬ stand wenigstens einigermaßen kennen lernen konnte. Wegen dieser Schwierigkeiten ist kein Vorwurf zu eiheben; wenn man etwas für die Öffentlichkeit thut, muss man sich auch ihren An¬ forderungen fügen, und ich be¬ dauere nur, dass sie heutzutage so große Ansprüche erhebt, und schlie߬

lich doch nicht genügend die Aus¬ stellung besucht, um die ihr zu Liebe aufgewendeten Mittel wieder einzubringen.

Was ich in Straßburg unter diesen erschwerten Umständen er¬ kannte, war folgendes: Einerseits ein Reliquiar mit einem neuen Fuße und mit einer neuen Pomella auf dem Deckel, strahlend in nagelneuer Vergoldung, anderer¬ seits ein Stück in romanischen Formen, welches, soweit die Er¬ innerung reichte, einem Xantener Reliquiar sehr ähnlich sah.

Verschiedene Möglichkeiten zur Aufklärung dieser auffallen¬ den Umstände, wie sie bei einer Fälschung sich nicht stärker hätten häufen können, wurden besprochen, ohne dass sich sogleich die rich¬ tige Erklärung ergeben hätte. In¬ zwischen haben die Veranstalter der Ausstellung nach Schluss der¬ selben das Reliquiar zur näheren Untersuchung in Straßburg zuriick- belmlten, und wir dürfen hoffen, ein abschließendes Urteil über die hier aufgetauchten Fragen in der demnächst erscheinenden Ausstel¬ lungspublikation zu finden.

Da mir das Xantener Reli¬ quiar nur aus Abbildungen bekannt ist, und ich das Molsheimer keines¬ wegs genau gesehen habe, so ver¬ mag ich selbst für diesen inter¬ essanten Fall kaum etwas beizu¬ steuern. Aber ich möchte doch darlegen, wie sich die Frage für mich gestaltet, nachdem ich wenig¬ stens die Litteratur über das Mols¬ heimer Reliquiar eingesehen habe; vielleicht wird damit doch ein för¬ dernder Anstoß geboten.

Es ergiebt sich unter Zuhilfe¬ nahme mündlicher Mitteilungen vor allem, dass der Fuß, die Pomella und die Vergoldung einer Restau¬ ration des defekten Stückes zu¬ zuschreiben sind. Die etwaigen Verdachtsmomente, die von dieser Seite aus begründet werden könn¬ ten', fallen somit fort. Es bleibt nur noch die Übereinstimmung mit dem Xantener Stück zu erklären.

Entwurf zu einem Fischmesser von August Gläser, München.

WERKE DER MITTELALTERLICHEN GIESSKUNST.

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Haben wir es mit einer Elsässer Arbeit zu thun, von welcher eine Kopie nach dem Rheine verbracht w’orden ist, oder stehen wir vor einem rheinischen Werke, welches in einer Replik nach Molsheim gelangt ist? Auf diese neue •Frage hat schon Woltmann vor 20 Jahren eine Antwort gegeben, welche um so schwerer wiegt, als sie in un¬ befangener Weise gegen den Schein und gegen den Lokalbefund ausgesprochen ist. Ohne zu wissen, dass ein ähnliches Stück in Xanten verwahrt wird, nimmt er für das Molsheimer, obgleich er es im Eisass antrifft, rheinischen Ursprung an. Hier seine Worte ans der Geschichte der deutschen Kunst im Eisass:

„dadurch, dass sich diese Arbeit jetzt im Eisass befindet, ist freilich ihr elsässischer Ursprung nicht festgestellt, jedenfalls aber trägt sie die Charakterzüge der rheinischen Schule“.

Ich glaube , dass hier das Richtige ge¬ troffen ist, und dass wir es in der That mit einem rheinischen Werke zu thun haben, welches sich nur in einer Replik jetzt im Eisass befindet. Wenn die Übereinstimmung der bei¬ den Stücke eine so voll¬ kommene wäre, dass sie aus einer Gussform stam¬ men müssten, dann würde diesem Satz eine prinzi¬ pielle Bedeutung zukom¬ men, und man würde von demselben aus der locken¬ den Fährte folgen können, welche sich hier zu eröff¬ nen scheint, nämlich der einer Handelsverbindung der Werkstätten am Nieder¬ rhein mit den oberrheini¬ schen Städten.

Die Reliquiare stim¬ men aber nicht vollkommen überein, und wir wissen von dem Molsheimer nicht einmal bestimmt, ob es schon in alter Zeit, oder erst in neuerer nach Mols¬ heim gelangt ist. Jeden¬ falls ist es älter, als die Kirche, in welcher es sich jetzt befindet, und es lässt sich nicht nachweisen, dass es aus einer älteren Kirche des Ortes oder des Landes an seinen jetzigen Auf¬ bewahrungsort verbracht worden sei. Es ist eben¬

Tkürbeschläge, aufgeno H. Kratz,

sogut möglich, dass die Jesuiten, welchen die jetzige Pfarrkirche von Mölsheim sowohl ihr Entstehen wie auch den Besitz des Reliquiars verdankt, dasselbe bei ihrer ersten Ansiedelung in Molsheim vom Nieder¬ rheine her mitgebracht haben. Wäre damit der Schluss auf alte Handelsbeziehungen zwischen Nord und Süd untergraben, so bliebe immer noch die Frage von Interesse wegen der Verwandtschaft der beiden Stücke und ihrer eventuellen Provenienz aus einer Werkstätte.

Durch Vergleichung der uns vorliegenden Be¬ schreibungen oder Abbildungen, die weder treu sind, noch die Stücke von allen Seiten zeigen, er¬ geben sich folgende Differenzen.

Die Füße am Molsheimer Stücke schei¬ nen etwas schlanker als an dem anderen. Das ist eine geringfügige Differenz, welche eventuell der modernen Restauration zuzu¬ schreiben ist. Das Xantener aber ist durch¬ brochen gearbeitet, das Molsheimer dagegen nicht. Das ist schon ein schwerwiegender Unterschied, welcher indessen durch ver¬ schiedene nachträgliche Be¬ arbeitung von Stücken aus derselben Gussform ent¬ stehen kann. Ebenso ver¬ hält es sich mit dem Unter¬ schiede, dass das Xantener Reliquiar Inschriften trägt, das Molsheimer, soweit ich mich erinnern kann, da¬ gegen nicht, und dass der Kamm am Dachfirst oder die Kreuzigungsgruppe, welche verschiedene Forscher in Xanten vermissen, im Mols¬ heimer durch eine Pomelia ersetzt ist.

Von größerer Trag¬ weite sind indessen einige andere Verschiedenheiten, welche sich aus der Littera- tur zu ergeben scheinen, wenn sie thatsächlicli be¬ stehen, was ich ohne Au¬ topsie nicht sicher behaup¬ ten kann. Erstens zeigt die Abbildung bei Straub den Deckel etwas anders in Xanten, und zweitens beschreibt Didron (Annales 1859, S. 18), Kraus (Eisass I, S. 154), der Ausstel¬ lungskatalog (Nr. 56) und der letzte Berichterstatter Braun in Zeitschr. f.Chr.K.

minen von Architekt Leipzig.

WERKE DER MITTELALTERLICHEN GIESSKUNST.

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1895, S. 224 f.) den Deckel als mit 12 Aposteln in 12 Arkaden geziert. Das widerspricht der Anordnung an dem Xautener Stücke, welches nach Genien (Kreis Moers, S. 130) nur 6 Apostel am Deckel zeigt, während die anderen sechs an den Schmalseiten des Kastens augeordnet sind. Nur Straub (Bulletin 1858, S. 135) und Lotz („Kunsttopographie Deutschlands“ II, S. 288, wo aber keine auf Autopsie gegründete Be¬ schreibung vorliegt) verteilten die Apostel bei dem

Molsheimer Reliquiar auf den Kasten und das Dach, wie es auf dem Xantener der Fall ist. Da ich nicht annehmen kann, Didron, Kraus, der Ausstellungskatalog und Braun hätten geirrt, so muss ich annehmen, dass das Molsheimer Reliquiar von dem Xantener erheblich ab weiche, und ich muss gestehen, dass die Frage der ungefähren Übereinstimmung schwerer zu entscheiden sein wird, als die der vollkommenen Gleichheit.

MARC ROSENBERG.

Tbeekanne, entworfen von Professor Rud. Mayer in Karlsruhe.

DIE KONIGL. INDUSTRIESCHULE IN PLAUEN I. V.

IE Bestrebungen der Musterzeichner, sicli die ihnen gebührende sociale Stellung zu erringen, haben ihre volle Berech¬ tigung; denn ihre Tlnltigkeit erfordert künstlerische Beanlagung, und von der Schönheit, Originalität und Mannigfaltig¬ keit ihrer Muster hängt das Gedeihen einer Industrie ganz wesentlich ab. Welche Fähigkeit und geistige Arbeit erforderlich ist, immer und immer wieder neue Gedanken im Muster zum Ausdruck zu bringen, wird leider in Deutschland noch sehr verkannt und selbst von den Industriellen wird dem Musterzeichner meist nicht die Stellung eingeräumt, die ihm als deren wesent¬ lichstem geistigen Mitarbeiter zukommt.

In Frankreich achtet man tüchtige Musterzeichner höher als in Deutschland, weil die Industriellen wissen und auch anerkennen, was sie ihnen zu danken haben. Freilich kann eine höhere gesellschaftliche Stellung nur allein errungen werden, indem die Musterzeichner nach höchster künstlerischer Leistungsfähigkeit streben und sich eine ihrem Berufe angemessene allgemeine Bildung zu erringen trachten.

Von einem tüchtigen Musterzeichner darf heutzu¬ tage gefordert werden, dass er mit künstlerischem Ver¬ ständnisse die verschiedenen Arten des historischen Orna¬ mentes und die Pflanze sowohl in naturalistischer als auch stilistischer Auffassung zu verwenden versteht. Zur Aneignung solcher Kenntnisse gehören Jahre ernsten Studiums, wie es nur die Schule mit ihrem umfäng¬ lichen Lehrapparate ermöglichen kann. Selbst bei dem besten Willen und ernstesten Streben wird es im prak¬ tischen Leben schwer möglich sein, Zeit und Ruhe genug zu finden, um sich derartigen Studien fortgesetzt hinzugeben.

Zu dieser allgemeinen zeichnerischen Ausbildung eines Musterzeichners kommt dann noch die hauptsäch¬ lich auf der natürlichen Begabung beruhende Fähigkeit des Entwerfens von Mustern und die Bekanntschaft mit den mannigfachen Arten der Technik. Auch auf diesen Gebieten ist nur die Schule im stände, eine möglichst vielseitige Vorbildung zu geben, da die Fähigkeit des Entwerfens von Mustern für die hauptsächlichsten

1) Unter „Musterzeichnen“ versteht man in Deutsch¬ land im allgemeinen noch das Aufzeichnen und Vordrucke von Buchstaben und Monogrammen auf Wäsche u. a. m.

Kunstgewerbeblatt. N. F. VII. II. 10.

Zweige der Textilindustrie auf der Grundlage des Ornament- und Pflanzenstudiums methodisch entwickelt wird. Natürlich sollte jeder Zeichner möglichst ein¬ gehende technische Kenntnisse besitzen, also sich mit dem praktischen Weben und Maschinensticken etc. ver¬ traut machen. Freilich muss auch hier, wie in jedem andern Berufe, die Thätigkeit im praktischen Leben diese Kenntnisse erweitern und befestigen.

Ein ganz wesentlicher Vorteil für die mit einer solchen ausgiebigen künstlerischen und technischen Vor¬ bildung ausgerüsteten Musterzeichner besteht darin, dass dieselben im stände sind, sich in jeden Zweig der Textil¬ industrie einzüarbeiten.

Wenn die zunächst erwähnte Branche einem auf einer Schule ausgebildeten jungen Zeichner nicht zu¬ sagt oder bei Wechsel der Stellung eine gleichartige sich ihm nicht bietet, so wird er sich jederzeit leicht auf einem andern Gebiete der Industrie bethätigen können.

Leider wendet sich dem Berufe des Musterzeichners eine große Anzahl junger Leute zu, bei welchen das Talent zum Zeichnen und Entwerfen in nicht genügen¬ dem Maße vorhanden ist oder ganz fehlt. Vor einer solchen falschen Berufswahl kann nicht genug gewarnt werden; denn die Möglichkeit, sich eine Existenz als Musterzeichner zu gründen, hängt ausschließlich von der natürlichen Beanlagung zu dieser Kunst ab. Die Direktion einer Schule für Musterzeichner thut daher besser, un¬ begabten Schülern von dem ferneren Besuche der Schule abzuraten, als wenn darnach gestrebt wird, durch eine hohe Schülerzahl zu glänzen; sie schützt sich durch die Entfernung talentloser Schüler vor dem Tadel, dass auch in der Schule gebildete Musterzeichner nicht immer den Anforderungen des praktischen Lebens ent¬ sprechen.

Diese Prinzipien sind es, nach denen die im Jahre 1877 gegründete und 1890 in Staatsverwaltung über¬ gegangene Industrieschule in Plauen i. V. geleitet wird; wir haben die obigen Sätze fast wörtlich dem Bericht der Schule für die Jahre 1894 und 1895 übernommen. Das Institut ist die Schöpfung des verdienstlichen Direktors Prof. Richard Hofmann , der es verstanden

1) Nähere Angaben über die Geschichte der Kunstge¬ werblichen Fachzeichenschule enthält der Jahresbericht der Industrieschule 1S92/93.

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DIE KÖNIGL. INDUSTRIESCHULE IN PLAUEN I. V.

hat, sie, vielen Hindernissen nnd widrigen Umständen zum Trotz, anf eine hohe Stufe hinauf zu führen.

Der Wirkungskreis der Königl. Industrieschule erstreckt sich auf die Textilindustrie des Vogtlandes und der anschließenden Landesteile, ihre Aufgabe bestellt in der Ausbildung tüchtiger Musterzeichner und weib¬ licher Arbeitskräfte für die Industrie. Sie hat ferner den Zeichenunterricht für andere Ge werbtreibende zu pflegen und die Ausbildung von Zeichenlehrern für gewerbliche und andere Lehranstalten zu übernehmen, sowie jungen Fabrikanten eine ihrem Berufe ent¬ sprechende Ausbildung im Zeichnen, Weben und Sticken zu vermitteln.

Demzufolge ist die Anstalt eingeteilt in eine Musterzeichnerschule mit Web- und Maschinenstickab¬ teilung, eine Frauenarbeitsschule und eine Fabrikanten¬ schule. Außerdem sind mit der Königl. Industrieschule umfängliche Sammlungen verbunden und zwar: Die Bibliothek mit Vorbildersammlung und öffentlichem Zeichensaal, ein Museum für Textilindustrie, eine Samm¬ lung von Gipsmodellen und eine solche von Naturalien.

Die Musterzeichnerschule vollendete zu Michaelis 1895 zum ersten Male nach der Neuorganisation den vorge- scliriebenen vier und einhalbjährigen Kursus. Aus der vom 28. September bis 7. Oktober 1895 abgehaltenen Ausstellung dieser Abteilung konnte daher der Erfolg des Unterrichtes auf Grund des Lehrplanes genau geprüft werden. Das Ergebnis war befriedigend, so dass der Lehrplan der Anstalt mit Ausnahme einiger unwesent¬ lichen Abänderungen und Ergänzungen zukünftig bei¬ behalten werden kann.

Die Ausstellung hat aber auch außerdem gezeigt, dass die Heranbildung von künstlerisch leistungsfähigen Musterzeichnern im Sinne der Neuzeit nur in Schulen vermittels eines vielseitigen, nach jeder Richtung orga¬ nisch entwickelten Lehrplanes und unter der Leitung tüchtiger, strebsamer Lehrer geschehen kann.

Bei der Heranbildung von Zeichnern ist in der Königlichen Industrieschule' von jeher das Zeichnen und Malen von Pflanzen und Tieren nach der Natur ganz besonders berücksichtigt worden, wie auch die aus der Natur gewonnenen Motive bei dem Entwerfen von Mustern jederzeit Verwendung fanden.

Schon vor langen Jahren, als diese Erziehungsweise nur von wenigen verstanden und geachtet wurde, sind die Schüler der Anstalt auf die Verwendung von Natur¬ motiven ohne Berücksichtigung irgend welcher geschicht¬ lichen Stilart hingewiesen worden. Da die Richtig¬ keit dieses Pflanzenstudiums, als dessen hauptsächlichster Förderer und Pfleger an den sächsischen Lehranstalten der frühere Lehrer an der Königlichen Kunstgewerbe¬ schule zu Dresden Professor Karl Krumbholz zu be¬ zeichnen ist, gegenwärtig von denkenden Künstlern wohl kaum mehr bezweifelt wird, die neuzeitliche Kunst

sich vielmehr ganz entschieden in dieser Bahn bewegt, so hat es die Direktion für angezeigt erachtet, den Unterricht in der Verwendung von Pflanzen für orna¬ mentale Zwecke wesentlich zu erweitern und auf die stilistische Anwendung von Naturformen bei dem Ent¬ werfen von Mustern für Textilindustrie noch mehr Ge¬ wicht zu legen, als es früher geschehen ist.

Zahlreiche Beispiele dieser Studien und Entwürfe enthält die neueste Veröffentlichung von Schülerarbeiten der Musterzeichner- Abteilung, welche mit Genehmigung des Königlichen Ministeriums des Innern unter dem Titel „Musterentwürfe für Textilindustrie“ im Buchhandel ') erschienen ist.

Die Unterrichtsfächer der Musterzeichnerschule zielen auf eine allgemeine Vorbildung und auf Fachunterricht. Die erstere umfasst: Zeichnen und Malen von Ornamenten, von Pflanzen und Tieren nach der Natur, Entwerfen von Pflanzeuornamenten mit Benutzung der Natur, Linearzeichnen , Projektionslehre, Schattenkonstruktion, Perspektive, Deutsche Sprache, Rechnen und Buchführung.

Die Fachbildung besteht aus folgenden Disciplinen: Praktisches Weben, Patroniren, praktisches Maschinen¬ sticken, technisches Zeichnen von Mustern für Maschinen¬ stickerei, Kopiren von Geweben, Spitzen, Stickereien u. a. m., Entwerfen von Mustern für Handstickerei, Maschinenstickerei und Spitzen, Entwerfen von Mustern für Gardinen- und Stoffweberei.

Der Unterricht im Zeichnen und Malen von Orna¬ menten u. s. w. wird nur im Winter, und der Unter¬ richt im Zeichnen und Malen von Pflanzen und Tieren nach der Natur nur im Sommer erteilt.

Die Frauenarbeitsschuh hat in der Hauptsache die Aufgabe, Frauen und Mädchen für die Weißwaren¬ konfektion auszubilden, außerdem aber auch den Zweck, in anderen Fächern der Frauenarbeit soweit zu unter¬ richten, dass die entlassenen Schülerinnen zur Ausübung gewerblicher Thätigkeit befähigt werden.

Dass auch diese Abteilung der Königl. Industrie¬ schule bemüht ist, der ihr gestellten Aufgabe gerecht zu werden, erhellt daraus, dass die meisten der nach beendetem Kursus entlassenen Schülerinnen passende Stellen als selbständige Directricen oder als Gehilfinnen solcher erhalten.

Selbstverständlich gehört auch auf diesem Gebiete längere Übung und Erfahrung dazu, um die Ansprüche, welche an Leiterinnen der Konfektionsabteilungen in Fabriken bezüglich des Geschmackes und der Gewandt¬ heit in der Herstellung neuer Muster gestellt werden, in vollem Maße befriedigen zu können.

Durch die in der Schule vermittelte gründliche Vor¬ bildung wird aber eine schnelle Erfassung der in der Praxis gestellten Aufgaben ermöglicht. Der Wechsel der Mode darf deshalb von der Schule nicht außer Acht

1) Plauen, Cbr. Stoll.

DIE KÖNIGL. INDUSTRIESCHULE IN PLAUEN I. V.

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gelassen werden, so dass z. B. in den letzten zwei Jahren unter anderem auf die Übung in der Herstellung der verschiedensten Hohlsaumarbeiten großes Gewicht gelegt werden musste.

Von ganz besonderem Werte für die Thätigkeit einer Directrice ist der Unterricht im Kunststicken, Putzmachen und Zeichnen. Ersterer vermittelt die Kenntnisse der verschiedensten Arten der Technik, die bei der Neumusterung in den Geschäften nutzbringende Verwendung finden, während beim Putzmachen notwen¬ dige manuelle Fertigkeiten geübt und der Geschmack in der Behandlung von Bandschmuck, Schleifen u. a. m. gefördert wird. Auffällig ist bei manchen Schülerinnen eine gewisse Abneigung gegen das Zeichnen, obgleich diese Fähigkeit für den Beruf einer Directrice oder Arbeiterin von grundlegender Bedeutung ist. Wenn auch bei der Arbeit nicht immer Gelegenheit zur An¬ wendung der zeichnerischen Fertigkeit gegeben ist, so übt dieser Unterricht wie kein anderer das Auge, den Geschmack und den Formensinn; er erzieht zur Strenge mit sich selbst und zur Gewissenhaftigkeit bei der Arbeit und fördert Reinlichkeit und Ordnungsliebe; denn nie wird der Zeichenunterricht erfolgreich sein, wenn auf diese Eigenschaften nicht großes Gewicht gelegt wird.

Die Frauenarbeitsschule, welche einen allgemeinen Kursus in der Dauer von 1 lj2 Jahr hat, dem sich für die besonderen Zwecke der Weißwarenkonfektion ein weiterer Kursus von ]/2 Jahr anschließt, besteht aus einer Unterklasse, einer Mittelklasse und einer Oberklasse, sowie einer besonderen Abteilung für Kunststickerei.

Die Fabrikantenschule bezweckt die Belehrung von jungen Kaufleuten in praktischen Fabrikations¬ kenntnissen der Weberei, Hand- und Maschinenstickerei und im Freihandzeichnen.

Die Beteiligung junger Fabrikanten an dieser Ab¬ teilung der Königl. Industrieschule ist natürlich am leb¬ haftesten beim Unterricht in der Maschinenstickerei, der Hauptindustrie Plauens.

Die Erreichung eines zweckentsprechenden Zieles im Maschinensticken erfordert nach den bisherigen Er¬ fahrungen bei regelmäßigem vierstündigen Unterrichte in der Woche 1 Jahr. Die vorhandenen Stickmaschinen waren während der vergangenen 2 Jahre dauernd in Benutzung; geübt wurden Cambric-Stickereien, Tüll- und Ätzspitzen.

Die Sammlungen der Königlichen Industrieschule dienen ausschließlich praktischen Zwecken; sie enthalten deshalb nur solche Gegenstände, die für den Unterricht der Schule und für die heimische Texilindustrie vorbildlichen Wert haben.

Der Standpunkt des Kunstgelehrten musste daher notwendigerweise verlassen und bei Erwerbung von Vor¬ bildern den Bedürfnissen der Neuzeit Rechnung getragen werden.

Die Textil-Sammlung enthält vorzugsweise muster¬

gültige Erzeugnisse der Neuzeit, während solche früherer Kunstepochen durch gute Abbildungen in der reichhaltigen Bibliothek der Anstalt vertreten sind. Da bei den alten Originalen die Farben verblichen sind und die Technik meist veraltet ist, genügen die durch die moderne Ver¬ vielfältigungskunst wiedergegebenen Abbildungen voll¬ ständig für Unterrichtszwecke.

Die starke Benutzung der hiesigen Sammlungen durch die Zeichner und Fabrikanten des Industriebezirkes beweist die Richtigkeit der Grundsätze, welche bei Er¬ werbung von Vorbildern bestimmend sind, deutlicher aber noch spricht dafür der an die Direktionen der Kunstgewerbemuseen in der letzten Zeit immer dringen¬ der gerichtete Mahnruf aus Fachkreisen, die gelehrten Sonderzwecke bei Seite zu lassen und durch Ankauf moderner Erzeugnisse den Bedürfnissen der Kunst¬ gewerbetreibenden mehr Rechnung zu tragen.

Die von den Anhängern der älteren Richtung auf¬ gestellte Behauptung, dass die Erzeugnisse der Neuzeit meist Nachahmungen alter Vorbilder und daher minder¬ wertig seien, fällt schon allein durch die Thatsache, dass die Textilindustrie alljährlich eine so große Anzahl neuer und interessanter Erscheinungen in Muster, Farbe und Technik bringt, dass die vorhandenen Mittel nicht ausreichen, auch nur das Beste davon zu erwerben. Außer¬ dem darf wohl auch zur Ehre der Kunstgewerbeschulen angenommen werden, dass sich die Kunst der in ihnen ausgebildeten Musterzeichner nicht nur in der Nach¬ ahmung und Umänderung alter Muster bethätigt. Selbst¬ verständlich baut sich auch diese, wie jede Kunst, auf den Werken früherer Epochen auf, sie wird aber, weil sie von den Anschauungen und Bedürfnissen ihrer Zeit beeinflusst und von der Individualität des Künstlers um¬ gestaltet wird, sich über die bloße Nachahmung erheben und zur selbständigen Kunst werden. Die großen Künstler der Renaissancezeit nahmen sich auch die An¬ tike zum Vorbild, sie schufen aber, indem sie nur zu kopiren glaubten, beseelt vom Geiste ihrer Zeit, Neues und noch nie Erreichtes.1) Auch die Wogen unserer Zeit gehen hoch, und wie die bildenden Künste mit heißem Bemühen neue Bahnen suchen, indem sie sich von der hergebrachten Kunstweise zu befreien trachten und die Natur in allen ihren Erscheinungen zum Vor¬ bilde nehmen, so muss notwendigerweise auch das Kunst¬ gewerbe folgen und ist auch schon bis zu einem ge¬ wissen Grade gefolgt. Namentlich auf dem Gebiete der Textilindustrie, dem weitesten Felde für die Verzierungs¬ kunst, begegnet man, wie schon bemerkt, seit Jahren außerordentlich mannigfaltigen Ornamentirungen , die durchaus nicht Nachahmungen alter Muster sind.

Die Sorge, dass die modernen Farben schneller ver¬ bleichen, als die alten, ist unberechtigt; denn die Färber¬ kunst steht gegenwärtig auf einer hohen Stufe. In

1) Vgl. Semper, „Der Stil“.

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DIE KONIGL. INDUSTRIESCHULE IN PLAUEN I. V.

Planen verstickt man jetzt sogar echt gefärbte Baum¬ wollgarne aller Farbentöne; bei guter Seide und Wolle stellt die Haltbarkeit der Farben überhaupt außer Zweifel. Dazu kommt noch, dass die für die Sammlungen an¬ gekauften moderneu Musterstücke nicht einer solchen Abnutzung ausgesetzt sind, wie es die alten Stoffe waren, von denen oft nur noch Fragmente übrig sind.

Dass die Vertreter der älteren Richtungen nicht nur auf diesem Gebiete, sondern überall, wo neue Strömungen sich Bahn brechen wollen, mit allen Mitteln zu dämmen suchen und nur allmählich mit dem Strome steuern, ist eine oft gemachte Beobachtung.

Von den Vorzügen einer Sammlung von Vorbildern der neuesten Zeit sei nur noch der angeführt, dass die¬ selben wegen des Musterschutzgesetzes nicht kopirt werden dürfen, während dieses bei älteren Vorbildern unbeanstandet geschehen darf. Es kann daher ange¬ nommen werden, dass die Sammlungen älterer Vorbilder mit zu dem vielgerügten „eklektischen Schematismus“ beigetragen haben, der das Kunstgewerbe, jede neuere Richtung hemmend, beherrschte, jetzt aber mehr und mehr einer selbständigeren Kunst weichen muss.

Die Natur ist wieder in ihre Rechte getreten, und das ist wertvoller, als das Bestreben, immer „stilrein“ im Sinne der geschichtlichen Stilarten zu sein. Die Kunstgeschichte lehrt, dass die Rückkehr zur Natur jederzeit ein Zeichen der Gesundung und des Wieder¬ aufblühens der Kunst aus schematischer Versumpfung war, und so dürfen auch wir hoffen, dass uns die un¬ befangene Verwendung von Naturformen weit eher zu dem langersehnten Stile unserer Zeit verhelfen wird, als das fortwährende Kopiren alter Vorbilder.

Um die Sammlungen der Königlichen Industrieschule der Bevölkerung der Industriestädte des Vogtlandes und Erzgebirges zugänglich zu machen, sind durch Ver¬ mittelung des Vogtl.-Erzgeb. Industrievereines zu Plauen alljährlich Wanderausstellungen veranstaltet worden. Auch in den verflossenen zwei Jahren wurden 12 solcher Ausstellungen abgehalten. Außerdem fand in Chemnitz vom 20. Mai bis mit 16. Juni 1894 auf Veranlassung des dortigen Musterzeichnervereins eine Ausstellung der Stoffsammlung statt.

Seit dem Jahre 1888 sind nunmehr 40 solcher Wanderausstellungen veranstaltet worden, wozu 1075 Werke und 15984 Textilgegenstände verwendet wurden.

Der mit diesen Ausstellungen erzielte Erfolg lässt sich leider nicht statistisch nachweisen, vielleicht erhellt er aber daraus, dass 326 Fabrikanten und Muster¬ zeichner durch ihren Beitritt zum Industrievereine zu erkennen gegeben haben, welche Wichtigkeit für die Industrie sie der Nutzbarmachung der hiesigen Samm¬ lungen beimessen.

Freilich hat sich gezeigt, dass Wanderausstellungen dem Zwecke nur vorübergehend genügen; es ist als not¬ wendig hingestellt worden, derartige Vorbilder dauernd zur Verfügung zu haben. Diesem Bedürfnisse ist durch Errichtung von ständigen Vorbildersammlungen zunächst in Eibenstock und Annaberg vor 2 und 3 Jahren ent¬ sprochen worden, während im verflossenen Jahre sich die Städte Falkenstein, Frankenherg, Glauchau, Meerane und Auerbach darum beworben haben.

Mit der Verwirklichung dieser Unternehmungen dürfte die regelmäßige Abhaltung von Wanderaus¬ stellungen abgeschlossen sein und an ihre Stelle eine jährlich vier- bis sechsmalige Auswechslung von Gegen¬ ständen aus den Sammlungen der Königlichen Industrie¬ schule treten. Die Bibliothek einer jeden ständigen Vorbildersammlung ist Eigentum der betreffenden Stadt. Zur Beschaffung von kunstgewerblichen Werken für diese Sammlungen hat das Königliche Ministerium des Innern bisher Unterstützungen gewährt und zwar für Eibenstock und Annaberg je 1000 M. jährlich. Die Leitung dieser Vorbildersammlungen besorgt der Direktor der Industrieschule als Geschäftsführer des Vogtl.-Erzgeb. Industrievereines.

Eine schwierige Aufgabe für die Leiter von kunst¬ gewerblichen Fachschulen liegt darin, die Thätigkeit der¬ selben in intime Beziehungen zu den Gewerben und der Industrie zu bringen.

Namentlich wird diese Schwierigkeit für Kunst¬ gewerbeschulen in solchen Städten recht unangenehm fühlbar, wo bestimmte Kunstindustriezweige nicht sess¬ haft sind. Die Königliche Industrieschule zu Plauen ist in der glücklichen Lage, dass ihr durch die hochent¬ wickelte Textilindustrie des westlichen Sachsens der Weg genau vorgeschrieben ist, den sie zu verfolgen hat. Bildet die Anstalt einerseits eine Centralstelle, welche die vorwärtsstrebende Industrie durch Heranbildung tüchtiger Hilfskräfte und reiche Vorbildersammlungen unterstützt, so werden der Schule andererseits durch die fortschreitende Industrie immer wieder neue Aufgaben gestellt. Zudem ermöglicht die weitverzweigte und mannigfach gegliederte Textilindustrie des Vogtlaudes und Erzgebirges, den Wirkungskreis der Anstalt auch auf andere Städte auszudehnen. Durch das Zusammen¬ wirken glücklicher Umstände ist es daher der König¬ lichen Industrieschule vergönnt gewesen, sich wie kaum eine andere Anstalt in den unmittelbaren Dienst der In¬ dustrie zu stellen und kräftig an der Entfaltung derselben mitzuwirken, gemäß der ihr von der Regierung ge¬ stellten Aufgabe.

-u- Berlin. Im Verein für Deutsches Kunstgewerbe sprach am 13. Mai d. J. Herr Professor E. Docpler d, J. über Ziele und Zwecke der Glasmalerei für moderne Profanhauten. Redner berührte zunächst die alten Beispiele profaner Glas¬ malerei, deren Einfachheit in der Anwendung und ihre Lichtdurchlässigkeit und sprach dann über die verschiedenen Formen, unter denen heute Glasmalereien im Profanbau Verwendung finden, als Oberlichte über Thüren und an Decken über Treppen, als Dielen- und Flurfenster, sowie als Fenster nach der Straße in Wohnräumen. Dass jede dieser Arten je nach den Vorbedingungen des Raumes individuell ausgearbeitet sein müsste, suchte Redner zu begründen, in¬ dem er auf die einzelnen Zwecke der Anbringung der Fenster einging. Sie haben gemeinhin den Zweck, Licht einzulassen, mitunter auch die Aufgabe, Licht abzusperren. Bei schräg einfallendem Licht sind die Bedingungen wesentlich andere als bei horizontalem Licht. Schließlich folgten noch einige Bemerkungen über englische und amerikanische Verglasungen und über die oft zu weit gehende Anwendung von Ver¬ glasung an Möbeln und Hausgerät. Vorher verkündigte Herr Architekt Bodo Eblmrdt das Ergebnis des Preisgerichts für den Wettbewerb um farbige Entwürfe zu einem Glas¬ fenster, welcher zum 1. Mai d. J. für Herrn Schröder - Poggelow ausgeschrieben war und besprach die ausgestellten Wettarbeiten. Es haben erhalten: den 1. Preis (400 M.) Regierungs -Bauinspektor K. Grunert, den 2. Preis (200 M.) Professor Max Koch. In der Sitzung des Vereins am 27. Mai d. J. verkündigte Herr Professor Woldemar Friedrich das Ergebnis des Preisgerichts für den Wettbewerb um Entwürfe zu einem Diplom für die Berliner Gewerbe-Aus¬ stellung 1896 und besprach die ausgestellten Wettarbeiten. Ferner gab Herr Hofgraveur Otto das Resultat des Wett¬ bewerbs um Modelle zu einer Medaille für die Berliner Gewerbe-Ausstellung bekannt (s. Heft 9 des lfd. Jahrgangs, Seite 147).

Breslau , Kunstgewerbeverein. In den Sitzungen vom 29. April und 4. Juni sprach Herr Baron von Kessel-Zeutsch , ein liebenswürdiger Gönner und Förderer des Vereins, über seine Reise nach Ägypten und Corfu. Zahlreiche gute Abbil¬ dungen waren zur Ansicht ausgelegt, welche das vom Vor¬ tragenden gegebene Bild wirkungsvoll unterstützten. Herr Baron von Kessel-Zeutsch und Herr Buchhändler Schweitzer machten derBibliothek desVereins einige hübscheZuwendungen . Herr Martin Kirnbel wurde von der Versammlung einhellig

zum Vertreter des Vereins beim allgemeinen deutschen Kunstgewerbetag in Berlin gewählt. Der erste Vorsitzende Herr Hans Rumsch machte die wichtige Mitteilung, dass vom Oberpräsidium ein Schreiben eingelaufen sei, welches besagt, dass infolge der Anregung zur Umgestaltung der hiesigen Kunst- und Kunstgewerbeschule auf Anordnung des Kultusministers genannte Schule durch die Herren Geh. Oberregierungsrat Müller, Geh. Regierungsrat v. Moltke und Direktor Prof. Ewald einer eingehenden Revision unterzogen wird. Im Anschluss daran hat am 17. Juni d. J. eine Kon¬ ferenz stattgefunden, in welcher die Grundlagen der zukünf¬ tigen Gestaltung der Schule im allgemeinen besprochen worden sind. Über das Resultat werden wir im nächsten Hefte berichten. G- s-

Berlin. Allgemeiner deutscher Kunstgewerbetag , 5. S. Juni 1S9G. Nachdem es auf dem VII. Delegirtentage des Verbandes deutscher Kunstgewerbe vereine zu Dresden als wünschenswert bezeichnet worden war, einen Kunstgewerbe¬ tag einzuberufen, um das Interesse am Kunstgewerbe über¬ haupt zu fördern und zu heben, hatte der Vorstand des Vereins für deutsches Kunstgewerbe in Berlin als derzeitiger Vorort des Verbandes, im Einverständnis mit den Einzel¬ vereinen alle Mitglieder der Verbands vereine, Kunsthand¬ werker, Künstler, Industrielle, Fachlehrer, sowie alle Freunde deutschen Kunstgewerbes zu einem „Allgemeinen deutschen Kunstgewerbetage“, dem dritten seit Gründung des Verbandes, für die Tage vom 5. 8. Juni in die Reichshauptstadt ein¬ geladen. Dieser Kunstgewerbetag sollte dazu dienen, die vielen im deutschen Kunstgewerbe thätigen Kräfte im per¬ sönlichen Verkehr einander näher zu bringen, wichtige Fragen zu erörtern und ihrer Lösung entgegen zu führen, sowie vor allem das Verständnis für die Aufgaben und Ziele des Knnstgewerbes in weitere Kreise zu tragen. Am Freitag den 5. Juni abends fand in den festlich geschmückten Räumen des Vereins Berliner Künstler, die in liebenswürdiger Weise zur Verfügung gestellt waren, die Begrüßung der zahlreichen Gäste statt. Die Verhandlungen wurden am Sonnabend vor¬ mittags 10 Uhr im großen Festsaale des Architektenhauses durch den Vorsitzenden des Vorstandes des Vorortes, Herrn Architekt Karl Hoffacker eröffnet. Vom Kultusministerium waren als Vertreter des Ministers anwesend der General¬ direktor der Kgl. Museen Geh. Rat Schöne und Geh. Rat Müller, vom Ministerium für Handel und Gewerbe Geh. Ober- Reg.-Rat Lüders, vom Arbeitsministerium Geh. Rat Hinkel- deyn , von der Ministerialbaukommission Reg.- und Baurat Küster; die beiden letztgenannten Herren zugleich als Ver¬ treter des Architektenvereins. Officielle Vertretungen hatten abgeordnet außer dem Architektenverein die Allgemeine deutsche Kunstgenossenschaft, die Vereinigung Berliner Architekten und der Verein „Herold“. Von den 23 dem Verband angehörenden Kunstgewerbevereinen hatte Mün-

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KLEINE MITTEILUNGEN.

chen 4, Breslau 1, Halle 1, Altenburg 2, Quedlinburg 3, Dresden 2, Frankfurt a/M. 1, Hamburg 2, Hannover (Ge¬ werbe- und Kunstgewerbeverein) 5, Pforzheim 2, Olden¬ burg 3, Stuttgart 1, Leipzig 3, Hanau 2, Magdeburg 2, Karlsruhe 1, Braunschweig 1, Schwab. -Gmünd. 1 officielle Vertreter entsendet. Nachdem der Vorsitzende die Ver¬ treter der Staatsbehörden, der Vereine und die Gäste be¬ grüßt hatte, betonte er die Notwendigkeit der Befestigung der kunstgewerblichen Bestrebungen im nationalen Sinne und sprach die Hoffnung aus, dass auch diese Tagung neue An¬ regungen in diesem Sinne geben möge. Er erklärte hierauf den Kunstgewerbetag für eröffnet und teilte noch mit, dass zur selben Stunde in Stuttgart das neue Gewerbemuseum eröffnet werde, worauf die Versammlung ihre Zustimmung zur Entsendung eines Begrüßungstelegrammes an den Stutt¬ garter Kunstgewerbeverein erteilte. Bei der Bildung des Bureaus wurden durch Zuruf gewählt: Architekt Hoff'acker- Berlin zum ersten, Direktor v. Länge-München zum zweiten Vorsitzenden; Hofrat Prof. Graff-Dresden zum ersten, Direktor Waag-Pforzheim zum zweiten Schriftführer. Zur Verhandlung waren folgende Punkte angemeldet: I. Vom Verein für deut¬ sches Kunstgewerbe in Berlin. 1. Die Stellung von Kunst und Kunstgewerbe im öffentlichen Leben. 2. Wie ist das Naturstudium für das deutsche Kunstgewerbe zu fördern? II. Vom Kunstgewerbeverein Pforzheim: 1. Rückgang der guten kunstgewerblichen Handarbeit in der Schätzung des Publikums Ursache, Wirkung und Abhilfe. 2. Künst¬ lerische Erziehung des Volkes und der Jugend auf den Uni¬ versitäten. 3. Pflichten der Gesetzgebung und des Staates zur Förderung des Kunstgewerbes. III. Vom Kunstgewerbe¬ verein Quedlinburg: 1. Wie können die Arbeiten des Ver¬ bandes bezw. der Einzelvereine im allgemeinen nutzbringen¬ der gemacht werden? 2. Wie kann das Leben in den Kunst¬ gewerbevereinen im allgemeinen lebendiger gestaltet werden, und wie kann das Verständnis und das Interesse an den kunstgewerblichen Bestrebungen und den Aufgaben der Kunstgewerbevereine bei allen Ständen unseres Volkes mehr geweckt, gehoben und gefordert werden, um weitere Kreise des Volkes zur Mitarbeit heranzuziehen. Zu Punkt I. 1. hatte der Direktor der Sammlungen des Königl. Kunstgewerbe¬ museums zu Berlin Herr Geh. Rat Prof. Dr. Julius Lessing einen Vortrag zugesagt; zu Punkt 2 desgleichen der Direktor der Bibliothek des Kgl. Kunstgewerbemuseums zu Berlin Herr Dr. P. Jessen. Da diese beiden Vorträge voraussicht¬ lich im Kunstgewerbeblatt vollständig zum Abdruck gelangen, kann hier auf ein näheres Eingehen verzichtet werden. In der Diskussion sprachen Kimbel-Breslau und Geh. Rat Lüders vom Ministerium für' Handel und Gewerbe, deren Äußerungen sich auf die Frage des Schutzes der Musterzeichnungen be¬ zogen. Geh. Rat Lüders betonte, dass in Deutschland längst ein Musterschutzgesetz bestehe und dass die von Herrn Kimbel, der von einem solchen keine Kenntnis zu haben scheine , deshalb ganz allgemein ausgesprochenen Ansichten über Musterdiebstahl namentlich in der Textilbranche nicht richtig seien. Im selben Sinne äußerten sich Hofrat Graff- Dresden und Geh. Rat Lessing-Berlin, welcher auf Grund von Thatsachen feststellte, dass es sich in gewissen von Herrn Kimbel angeführten Fällen nicht um Diebstahl, sondern um wohlerworbene Rechte handele. Als Praktiker beklagte Maler Schulz-Leipzig die Unterdrückung der individuellen Regungen der Kunsthandwerker durch die Architekten. Der Vorsitzende hob als Extrakt der Verhandlungen hervor, dass noch mehr als bisher darauf hingewirkt werden müsse, dass Architekten und Kunsthandwerker sich in gleichem Empfinden zusammenfinden. Bezüglich der vomPforzheimerKunstgewerbe-

verein eingebrachten Anträge beschloss die Versammlung unter Zustimmung der Pforzheimer Delegirten, welche besonderer Verhältnisse halber von einem Referat absehen mussten, auf eine Diskussion der Fragen nicht näher einzugehen, sondern dieselben in Referaten und Korreferaten für den nächsten Delegirtentag vorbereiten zu lassen. Das Referat über diese Fragen übernimmt der Kunstgewerbeverein Pforzheim, das Korreferat der Verein für Deutsches Kunstgewerbe in Berlin und der Kunstgewerbeverein in Hanau. Da Herr Stadtbau¬ rat Gaul, der als Delegirter des Kunstgewerbevereins in Quedlinburg das Referat über die von jenem Verein ge¬ stellten Themata übernommen hatte, in letzter Stunde am Erscheinen verhindert wurde, beschließt die Versammlung diese Fragen ebenso wie die Pforzheimer zu behandeln und wird der Vorstand des Verbandes ermächtigt, einen Kor¬ referenten zu bestimmen, unter der Annahme, dass der Quedlinburger Kunstgewerbeverein das Referat selbst über¬ nimmt. Nachdem noch ein Begrüßungstelegramm von Bau¬ inspektor Necker-Hamburg zur Verlesung gelangt war, wurde die Sitzung geschlossen. Am Nachmittag besuchten die Teilnehmer die Gewerbeausstellung und vereinigten sich in zwanglosem Beisammensein am Abend in den Räumen des Alpenpanoramas. Am Sonntag den 7. Juni vormittags wurde von den auswärtigen Gästen das Reichstagsgebäude be¬ sichtigt. Um 12 Uhr fand im Hörsaale des Chemiegebäudes in Treptow die Schlusssitzung statt, in welcher Architekt Karl Hoffacker Mitteilung über Anlage und Bauten der Ge¬ werbeausstellung machte. Er beleuchtete unter anderm die Gründe, warum die geplante Sammelausstellung des deut¬ schen Kunstgewerbes nicht zustande gekommen ist und auch innerhalb des lokalen Rahmens der Berliner Gewerbe¬ ausstellung von der Einrichtung einer besonderen kunst¬ gewerblichen Abteilung Abstand genommen wurde. Ein¬ gehend hob der Redner die Bestrebungen auf eine klare, nach Fachgruppen getrennte Ausgestaltung der Ausstellung und die Bemühungen hervor, für alles den künstlerischen Rahmen zu schaffen, welchem Gedanken die Ausstellungs¬ leitung dankbare Förderung gewährte. Der Redner schloss mit dem warmen Appell an die Kunstgewerbevereine, dafür Sorge zu tragen, dass diese Gedanken, welche schon in der auf dem letzten Delegirtentag beschlossenen Denkschrift niedergelegt sind, bei der nächsten Beteiligung des deutschen Kunstgewerbes an einer deutschnationalen oder internatio¬ nalen Weltausstellung zur Geltung kommen möchten zu Nutz und Frommen des heimischen Gewerbes, und dass nicht, wie 1893 in Chicago, ein gemeinschaftliches, geschlossenes Vor¬ gehen noch in letzter Stunde wieder scheitere. Nachdem Obersteuerrat Dietrich-Altenburg dem Vortragenden den Dank der Versammlung ausgesprochen, nahm noch Direktor von Länge-München Veranlassung, seiner Freude über das, was die auswärtigen Gäste in diesen Tagen in Berlin gesehen, Ausdruck zu geben und hob besonders hervor, dass die Berliner Gewerbeausstellung als eine sehr wertvolle Vorarbeit für eine event. später stattfindende nationale oder inter¬ nationale kunstgewerbliche Ausstellung anzuseben sei. Nach Verlesung einiger Begrüßungsdrahtsendungen schloss der officielle Teil des Kunstgewerbetages. Am Abend vereinigten sich die Teilnehmer des Kongresses und eine große Anzahl von Mitgliedern des Berliner Vereins zu einem Festbankett im Hauptrestaurant der Gewerbeausstellung, bei welchem nach einer mit brausendem Hoch auf Se. Majestät den deut¬ schen Kaiser endenden Rede des Vorsitzenden, unter anderem von Geheimrat Lüders, Direktor Dr. Jessen, Regierungsbau¬ rat Küster und Hofgoldscbmied Schaper bedeutsame Trink¬ sprüche ausgebracht und die Reichshauptstadt, die Gewerbe-

KLEINE MITTEILUNGEN.

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ausstellung und ihre Erbauer, der Verband deutscher Kunst¬ gewerbevereine, sowie der Berliner Verein in warmen Worten gefeiert wurden. Am Vormittag des 8. Juni fand eine Besichtigung der Internationalen Kunstausstellung statt, welcher sich am Nachmittag, begünstigt vom herrlichsten Wetter, ein Ausflug nach Potsdam mit Besichtigung der dortigen Schlösser und Gärten, verbunden mit einer Dampfer¬ fahrt nach Wannsee, anschloss. Der 9. Juni endlich war der Besichtigung der Museen und sonstigen Sehenswürdig¬ keiten der Stadt gewidmet. Der ganze Verlauf des Kunst¬ gewerbetages, der rege Austausch der Meinungen, der aus allen Teilen Deutschlands erschienenen Vertreter des Kunst¬ handwerks hat aufs neue bewiesen, dass der Wert solcher allgemeiner Zusammenkünfte wesentlich zu suchen ist in den persönlichen Beziehungen, die angeknüpft werden, in den Anregungen, welche durch die gemeinsame Besprechung der da und dort gemachten Erfahrungen auf den verschieden¬ sten Gebieten gegeben werden, und in der Hebung des Ge¬ fühls der Zusammengehörigkeit in den Bestrebungen, welche auf die Förderung des deutschen Kunsthandwerks abzielen, ln diesem Sinne wird auch der Kunstgewerbetag in Berlin reichlich Früchte tragen.

-u- Flauen i. V. Dem Jahresbericht des Vorstandes des Vogtländisch-Krxgebir gischen Industrievereins für das Vereinsjahr 1895/96 entnehmen wir folgendes: Seit der Gründung des Vereins i. J. 1888 sind aus Vereinsmitteln bereits 20471 M. zur Erwerbung von Vorbildern ausgegeben worden. Die Abhaltung von 39 Wanderausstellungen in den Industrieorten des Vereinsbezirks verursachte eine Ausgabe von 5280 M., während die Unterhaltung der zwei ständigen Vorbildersammlungen in Eibenstock und Annaberg 2333 M. in Anspruch nahmen. Die weitere Einrichtung von Vor¬ bildersammlungen ist in Aussicht genommen in den Städten Falkenstein, Glauchau, Frankenberg, Meerane und Auerbach. Das stete Anwachsen des Vereins beweist am besten, dass seine Bestrebungen sich mehr und mehr Bahn brechen, mit 76 Mitgliedern wurde er begründet, und jetzt zählt er 336 Mitglieder. Wanderausstellungen wurden beschlossen für Auerbach, Falkenstein, Frankenberg, Reichenbach und Chemnitz, und in Aussicht genommen in Glauchau und Meerane. Die Wanderausstellung in Falkenstein fand statt vom 12. 16. Juni, diejenige in Frankenberg, welche auf Ansuchen des dortigen Webwarenfabrikantenvereins vom 21.— 27. Juni abgebalten wurde, war von außerordentlichem Erfolge begleitet. Die Abhaltung einer Ausstellung in Chemnitz musste verschoben werden, da ein geeigneter Aus¬ stellungssaal nicht beschafft werden konnte. Die Ausstellung in Reichenbach i. V. vom 15. 20. September hatte nicht den erhofften Erfolg. Dagegen erregten diejenigen in Glauchau und Meerane vom 26. November 1. Dezember und vom 5. 11. Dezember das Interesse der Bevölkerung in hohem Maße, wie auch die Wanderausstellung in Auerbach vom 17. 22. Dezember gut besucht wurde. Seit Anfang d. J. ist durch die Direktion der Kgl. Industrieschule die Ein¬ richtung getroffen worden, von allen Neuerwerbungen Photo- graphieen aufzunehmen, welche als geschlossene Werke als¬ dann den Sammlungen lieferungsweise zugestellt werden. Recht bezeichnend für die immer mehr sich bahnbrechende Geschmacksrichtung ist die Thatsache, dass im letzten Jahre für gewisse Industriezweige vorwiegend Musterungen im sogenannten englischen Stil entliehen wurden. Bei dem Ankauf von Vorbildern muss deshalb besonderes Gewicht auf die Erzeugnisse der englischen Tapeten- und Textilindustrie gelegt werden. Es ist notwendig, diese Stilrichtung aufzu¬ nehmen, sie aber deutsch zu gestalten und zu vervoll¬

kommnen, wie dies einst die in Frankreich entstandene und in Deutschland zur höchsten Vollendung gebrachte Gotik erfahren hat.

A.-C. Leipzig. Mit der Sächsisch- Thüringischen In¬ dustrie- und Gewerbe- Ausstellung zu Leipzig 1897 ist auch eine Kunstausstellung und eine Vorführung alter kunst¬ gewerblicher Erzeugnisse verbunden. Der geschäftsführende Ausschuss erlässt nun einen Aufruf an alle Künstler, die in dem Ausstellungsgebiete wohnen oder in demselben geboren sind, zunächst unverbindliche Anmeldungen, betr. Beschickung mit Werken, baldmöglichst an Herrn Prof. Dr. Schreiber, Direktor des städtischen Museums der bildenden Künste in Leipzig, gelangen zu lassen. Das Ausstellungsgebiet umfasst das Königreich Sachsen, die Provinz Sachsen, die thüringischen Staaten, das Herzogtum Anhalt, die preußischen Reg. -Bezirke Potsdam, Frankfurt a. 0., Liegnitz und die drei fränkischen Kreise Bayerns. Ferner wünscht der Ausschuss Anmeldungen für die kunstgewerbliche Abteilung aus städtischen und Privatbesitz, speciell von Sammlern derartiger Erzeugnisse. Mit der Ausstellung ist eine Lotterie verbunden, deren sämtliche Gewinne im Gesamtwerte von M. 500000 nur aus den ausgestellten Gegenständen, insbesondere auch aus den Kunstwerken, angekauft werden.

MUSEEN.

Berlin. Das Königliche Kunstgewerbe-Museum hat zur Leihausstellung eine Sammlung von ganz außergewöhn¬ licher Bedeutung erhalten. Es ist die Sammlung des Herrn Martin Heckscker, die in Wien angelegt und hauptsächlich auf den großen Kunstauktionen in London und Paris ge¬ bildet ist. Dieselbe enthält Werke der Kleinkunst des Mittelalters, der Renaissance und der Folgezeiten, durchweg erlesene Stücke, sehr vieles darunter von höchster Seltenheit und Kostbarkeit. Die Sammlung ist als ein geschlossenes Ganze in dem Schlütersaale (hinter dem Silbersaale) auf¬ gestellt und füllt diesen Raum in allen seinen Teilen , ob¬ gleich die Gegenstände zumeist kleineren Umfanges sind. Die Gruppe des Elfenbeins geht bis in die byzantinische Zeit zurück, hieran schließen sich die frühmittelalterlichen Kirchengeräte in Bronze und Email, sodann die gotischen Kirchengeräte in Edelmetall, Bronzen weltlichen Charakters aus italienischer Renaissance, silbernes Prunkgerät zumeist deutscher Arbeit des XVI. Jahrhunderts, eine große Samm¬ lung der Emails von Limoges in ungewöhnlich prachtvollen Stücken, sodann in besonderem Glanze Kleinodien, Uhren, Dosen und Kleingerät vom XV. bis XVIII. Jahrhundert. Unter den Miniaturen steht obenan ein Gebetbuch mit zahl¬ reichen Malereien der flandrischen Schule, dem hochbe¬ rühmten Codex Grimani der S. Markusbibliothek nahe ver¬ wandt, aber auch die Miniaturbilder des XVII. und XVIII. Jahrhunderts sind ersten Ranges. Von den Möbeln und dekorativen Bronzen des XVIII. Jahrhunderts ist aus der Sammlung nur so viel aufgenommen, als wünschenswert war, um die Wände zu beleben. Dasselbe gilt von den Wandteppichen, unter denen einige höchst wertvolle bis in das XV. Jahrhundert zurückgehen. Die Sammlung wird längere Zeit im Museum ausgestellt bleiben, wo sie den im Staatsbesitz vorhandenen Stamm nach vielen Seiten hin auf das dankenswerteste ergänzt.

WETTBEWERBE.

Wettbewerb um ein Plakat. Tn der Plakatkunst gehen wir jetzt auch in Deutschland neuen Zeiten entgegen. Das lässt sich aus dem außerordentlichen Interesse entnehmen,

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KLEINE MITTEILUNGEN.

das Künstler wie Publikum den in letzter Zeit in Berlin, Dresden, Leipzig veranstalteten Ausstellungen von Plakat¬ entwürfen entgegengebracht, und ergiebt sich aus den Resul¬ taten, die diese Veranstaltungen in künstlerischer Beziehung hervorgebracht haben. Wie das in Frankreich und England, der wahren Heimat der Plakate, schon lange Sitte ist, so bricht sich jetzt auch bei uns mehr und mehr die Auffassung Bahn, dass das Plakat eine auch des größten Künstlers würdige Aufgabe ist, geeignet wie keine andere, um auf Hunderttausende neue künstlerische Gedanken zu verpflanzen und eigenes Können in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen. Eine Veranstaltung, die in den nächsten Monaten allgemeines Interesse erregen wird und auf die wir hiermit auch alle Künstler besonders hinweisen, ist das dieser Tage von dem Typographischen Institut Giesecke & Devrient in Leipzig und Berlin erlassene Preisausschreiben für Plakat- Entwürfe der Nähmaschinen- und Fahrrad-Industrie. Es handelt sich um zwei getrennte Konkurrenzen, bei denen als Preisrichter die Herren Max Klinger, Leipzig, die Pro¬ fessoren von Bartels, München, Döpler d. J., Berlin, Honegger, Leipzig, sowie Hofrat Prof. Dr. Schreiber, Leipzig, fungiren, welchen dann sich als Vertreter der veranstaltenden Firma die Herren Kommerzienrat Giesecke und Alphonse Devrient anschließen. Die drei besten Entwürfe beider Konkurrenzen werden mit Preisen von je Mark 1000. , Mark 500. , Mark 300. bedacht und gehen dafür in den Besitz genannter Firma über. Termin der Einlieferung der Entwürfe ist der 15. Oktober c. Die Sitzungen des Preisrichter - Kollegiums finden in der Zeit vom 20.— 31. Oktober statt. Aller Voraus¬

sicht nach werden die sämtlichen Entwürfe nach der Preis¬ verteilung öffentlich ausgestellt werden. Wir behalten uns vor, auf die Ergebnisse s. Z. zurückzukommen.

ZEITSCHRIFTEN.

Bayerische Gewerbe-Zeitung. 1896. Nr. 8/10.

Der Erzguss. Vortrag von Dr. P. Joh. R6e. (Schluss.) Baye¬ rische Landesausstellung in Nürnberg 1896. Aus dem Gewerbe¬ leben. Der Befähigungsnachweis für das Kleingewerbe. Von Landgerichtsrat E. Rohmer.

Journal für Buchdruckerkunst. 1896. Nr. 17/23.

Die Festschrift der Hamburgischen Innung. Über den modernen Illustrationsdruck. Ein Streifzug durch die Anzeigen unserer Fachpresse. Von Fried. Wörndel. Aus der Geschichte eines Buches. Die Elektrizität im Buchdruckereibetriebe. Ein sonderbares Buch für unser Gewerbe. Die Gesundheits¬ verhältnisse in den Buchdruckereien. Zur Säkular-Feier der Erfindung der Lithographie. Ein „neues“ chromographisches Verfahren. Von Otto Schlotke. König & Bauer’s Rotations¬ maschinen. Internationaler Graphischer Musteraustausch des deutschen Buchdrucker-Vereins.

Mitteilungen des k. k. österr. Museums für Kunst und Industrie. 1896. Heft 5/6.

Von der Wiener Congress- Ausstellung. II. Arbeiten aus Edelmetall. Von Prof. Hans Macht. III. Porzellan und Glas. Von Jos. Folnesics. IV. Das Möbel. Von Prof. Oskar Beyer. Ausstellung in Paris 1900.

Zeitschrift des bayerischen Kunst-Gewerbe-Yereins in München. 1896. Heft 5.

Zur Gestaltungsgeschichte des Möbels. (Schluss.) Von Nie. Thal¬ hofer. Zur Inventarisation der Kunstdenkmäler in Deutsch¬ land. Kunstschätze aus Tirol. Zur Symmetrie in Meurer’s „Naturformenstudien“. Von Prof. Dr. P. F. Krell. Bremer Rathaushalle. Englische Möbel. Kunstgewerbliche Be¬ strebungen in Pai'is.

Zeitschrift für Innendekoration. 1896. Juniheft.

Der englische Geschmack im Verhältnis zum deutschen Kunst¬ gefühl. Von Robert Mielke. L’art nouveau. Die Beleuchtung, eine entstehende Kunst. Von Franz Jafffe.

Kopfleiste, gezeichnet von Professor E. Doepler d. J.

Herausgeber und für die Redaktion verantwortlich: Architekt Karl lloffaeker in Charlottenburg -Berlin.

Druck von August Pries in Leipzig.

Majolikateller, entworfen von Julius Diez.

Herbstmorgen. Motiv aus Holstein von L. Dettmann.

LUDWIG DETTMANN.

VON ALFRED GOTTHOLD MEYER.

MIT ABBILDUNGEN.

1SCHLEBIG, wie unsere ganze Zeit, ist auch unsere Kunst. Ihre Ideale wech¬ seln in einem halben Jahrzehnt, ihre Moden bereits fast alljährlich, ihre Rolle vor der Öffentlichkeit wird keinen Tag unterbrochen. Wenn die Entwickelung der Kunst sich nach dem Tempo des Kunsttreibens be¬ messen ließe, lebten die Künstler heute in einem golde¬ nen Zeitalter. Die Gelegenheiten, bekannt zu werden, sind zahllos. Wer durchdringen und voran bleiben will, wird allein schon durch die großen Jahresausstellungen und ihre kleineren Trabanten zu fieberhafter Arbeit an¬ getrieben. Das bietet die schwersten Gefahren, allein es teilt mit allen heutigen Daseinsformen auch eine machtvoll fördernde Kraft, die sich im rastlosen Wett¬ kampfe stählt. Schneller, als früher, führen die Wellen den tüchtigen Schwimmer heute seinen Zielen entgegen; rascher, als früher, werden die Blicke auf sein Ringen gelenkt; kürzer, als früher wohl üblich, sind im Leben Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 11.

des modernen Künstlers die Intervalle, welche die Kritik zu seiner Würdigung verpflichten.

So mag es sich rechtfertigen, wenn hier bereits ein in sich abgeschlossenes Gesamtbild von der Art eines Malers zu entrollen versucht wird, dessen Namen selbst das in Ausstellungskatalogen enthaltene Material künf¬ tiger Kunstforschung erst seit einigen Jahren nennt.

Ludwig Dettmann ist weiteren Kreisen erst seit etwa fünf Jahren bekannt. In Muther’s „Geschichte der Malerei im neunzehnten Jahrhundert“, die bei sol¬ chen Fragen ein zuverlässiges Kompendium bietet, wird er noch 1894 lediglich als Aquarellist unter den Ber¬ liner Malern genannt, welche sich meist, als Mitglieder des „Vereins der XI“, kunstgeschichtlich um Franz Skar- biua gruppiren. Seine landschaftlichen Aquarelle zogen in der That zuerst die Aufmerksamkeit auf sich und haben seinen Namen seitdem auf den meisten Ausstel¬ lungen vertreten. Sie hätten denselben jedoch kaum über den Kreis der Kenner hinaus verbreitet. Dazu

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Dett.mann. Italienischer Arbeiter. Studie von L. Dettmann.

LUDWIG DETTMANN.

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sind es in der That, und vortrefflich studirt, aber - man wird noch an das Studium als solches erinnert, und diese Reminiscenz klingt zu grell mahnend in den Märchenton des Übrigen hinein. Nicht minder selb¬ ständig als die Auflassung dieses Bildes, ist seine Malweise. Die Auflösung aller Formen und Konturen nach dem Prinzip des Pleinärismus wird hier in sel¬ tener Folgerichtigkeit durchgeführt, weiter selbst, als dies Ulule zu thun pflegt. In schimmerndes, flimmerndes Lichtspiel ist das ganze Mittelbild getaucht: vielleicht schon nicht mehr ganz naturwahr, aber in der male¬ rischen Technik an sich eine erstaunliche Leistung! Als einen feinen Koloristen, besonders als vortrefflichen Landschafter, machte den Künstler 1893 eine Berliner Sonderausstellung rasch noch bekannter ; den guten Erzähler offenbarte wieder das Triptychon: „Arbeit“. Menschen¬ arbeit, Menschenglück, Menschenleben, ganz real, ohne mystische Verklärung, ohne Christus! Es sind drei genre¬ hafte Bilder aus dem Alltagsdasein, aus dem der Ar¬ men, aber nicht der Enterbten: keine jener socialistisch trüb gefärbten Tendenzmalereien. Im Mittelbild vier Radschmiede hei der Arbeit, muskulöse Männer in leb¬ haftester Bewegung, vor der Werkstatt an der Dorf¬ straße, im hellsten Sonnenlicht. Die Wiedergabe dieses Lichtes war das koloristische Hauptproblem, das wieder vortrefflich gelöst ist. In wirksamem Kon¬ trast zu dieser hellstrahlenden Mitteltafel sind die Flügel dunkel gehalten. Ihre Scenen spielen in ge¬ schlossenen Räumen. Auch sie bieten Genrebilder. Der eine einen alltäglichen Moment, die Mahlzeit einer Ar¬ beiterfamilie; der andere eine pointirte Situation, den Abschied eines jungen Gesellen von seinem greisen Großvater. Der innere Zusammenhang aller drei Dar¬ stellungen ist ohne weiteres klar. Jeder romantische Zug, jede Sentimentalität ist möglichst vermieden. Allein auch die Lösung der Aufgabe bleibt nur äußer¬ lich. Auch hier glaubt man nur Illustrationen zu sehen, etwa zu einer Dickens’schen Erzählung, und diese Illu¬ strationen bleiben innerhalb der Grenzen photogra¬ phischer Momentaufnahmen. Einen weiteren Gehalt, der über das wirklich Dargestellte hinausginge, ein Selbstbekenntnis des Meisters, das aus einer ringenden Menschenseele emporgestiegen ist, spürt man an den Bildern selbst nicht. Seelische oder geistige Verinner¬ lichung des Stoffes geht ihnen ab, und auch die unten beigefügten Sprüche vermögen sie ihnen nicht zu ver¬ leihen. Ähnlich wirkt auch das dritte Triptychon: „Das deutsche Volkslied“. Vor einigen Jahrzehnten wäre die Behandlung dieses Thenm’s ohne eine Ideal¬ figur aus dem Geschlecht der Lorelei noch kaum denk¬ bar gewesen. Dass ein Secessionist, ein begeisterter Anhänger der neuen Schule, sie vermeiden würde, war dagegen selbstverständlich, - wenigstens bis vor kurzem. In der That hat Dettmann auch hier den realen Ton gewahrt. Wieder giebt er drei Genrebilder.

Wanderlust, Liebe, Reitertod so könnten ihre Unter¬ schriften lauten, die auch diesmal übrigens wirklich vorhanden sind, und zwar in gut gewählten Versen be¬ kannter Volkslieder. Die Reaktion gegen die süßliche Ausartung der früheren Romantiker hat heute ja schon dazu geführt, solche Stoffe an sich mit bedenklichen Augen anzusehen. Man wittert da etwas von un¬ künstlerischem Haschen nach Popularität, man glaubt unwillkürlich, einen Rückfall in den Thumann-Stil zu entdecken. Das wäre für einen tüchtigen modernen Künstler der sein Können zu wahren wüsste, so gar schlimm noch nicht. Das deutsche Volkslied wird auch in der deutschen Malerei hoffentlich unsterblich bleiben. Aber zu seiner Wiedererweckung in derselben bedarf es einer von jeder Nebenabsicht freien Hingabe. Dett¬ mann war auch hier zu sehr Maler und Illustrator, zu wenig Dichter. Am meisten ist er es noch in dem Mittelbilde, wo Jüngling und Mädchen eng aneinander geschmiegt, durch einen einsamen, blütenduftenden Feld¬ rain wandern. Im Hintergründe ist ein Streifen des Meeres sichtbar, und am klaren Himmel steht die schmale Mondsichel. Die landschaftliche Stimmung ist hier die Hauptsache, die beiden Menschenkinder sind nur ein Teil ihres Accordes. Äußerlicher sind die Dar¬ stellungen in den Seitenflügeln gefaßt; links die gar zu wörtliche Illustration der Verse: „Es zieht ein Bursch in die Weite, Sie geben ihm das Geleite“, rechts „Auf griiuer Haid’, im freien Feld“, ein Reitersmann rücklings zu Boden gestürzt, todeswund, aber noch den Säbel in der Faust. Das ist mehr Scenerie als Dich¬ tung, die Scenerie des Landschaftlichen freilich ist wieder vortrefflich wiedergegeben.

Der romantischen Neigung gegenüber, welche be¬ sonders aus dem zuletzt erwähnten Werke spricht, be¬ reitete uns das Hauptbild, mit dem Dettmann auf der vor¬ letzten Berliner Kunst- Ausstellung vertreten war, eine besondere Überraschung, und manchen anderen Äuße¬ rungen der Kritik entgegen, möchten wir es als ein äußerst bedeutsames Werk erklären, weniger vielleicht innerhalb der persönlichen Entwickelung seines Meisters, als in der deutschen Historien - Malerei überhaupt. Es ist eine seltsame und wohl noch zu wenig beachtete That- sache, dass die weltbewegenden, die Volksseele und das Empfinden jedes Einzelnen so tief erschütternden Er¬ eignisse, die dem deutschen Reiche so unerwartet schnell den dritten deutschen Kaiser gaben, in der deutschen Malerei verhältnismäßig so wenig Widerhall gefunden haben. Die Geschichtsbilder der Wirklichkeit, die sich in den Jahren 1888 und 1889 vor den Augen des deutschen Volkes entrollten, Scene auf Scene in drama¬ tischer W7ucht, hätten die Historien-Malerei zu rast¬ losem Schaffen anspornen müssen. Aber dieses Er¬ gebnis blieb aus. Am fernsten hielt sich diesen neuen hohen Aufgaben die moderne Schule der jüngeren Meister, wohl in richtiger Schätzung ihrer Kraft, die

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LUDWIG DETTMANN.

noch ringeiul mit den Ausdrucksmitteln ihrer Kunst selbst, sich hierfür nicht gewachsen fühlte. Sie ließ der Monumental- und Ceremonial-Halerei überlieferter Stilweisen das Feld. Aber die Wirklichkeitsforderungen der Gegenwart konnten hier noch Werke anderer Art erwarten. Mit allen Fibern strebten die Jünger moderner Malerei danach, das unmittelbar vor Augen stehende Momentbild zu verewigen, gleichviel ob dessen inhaltliche geistige Bedeutung dessen wert erscheint oder nicht. Jene beiden Jahre aber boten zahlreiche Momentbilder, die der Weltgeschichte angehören. Hätte man da nicht erwarten sollen, dass die moderne Malerei hierdurch zu einer ihrem ureignen Wesen entsprechenden Historien -Malerei geführt werden würde? Dettmann gehört zu den Wenigen, welche diese geheime Stimme der Zeit vernahmen. Vielleicht geschah es unbewusst oder durch rein äußerliche Umstände beeinflusst; au der Thatsaclie selbst ändert sich dadurch nichts. Sein Kollossalgemälde: „Überführung der Leiche Kaiser Wilhelm’s I. vom Palais zum Dom in der Nacht des 12. März 1888“ wird unseres Erachtens später als eines der ersten Beispiele der Historien-Malerei der modernen Schule gelten, und diese ist grundverschieden von der der Vergangenheit. Man denke sich einmal, ein Meister der fünfziger Jahre aus der Düsseldorfer Schule hätte sich dieses Thema gestellt. Er hätte es behandelt wie ein gut geschulter Regisseur die Hauptscene eines Schauspiels. Den Sarg mit der Kaiserleiche hätte er in den Mittelpunkt der Komposition gestellt und rings¬ um mit wohlabgewogener Gruppirung die Schar der Nebenfiguren. Er hätte wohl auch über das Ganze den romantischen Schimmer einer Mondnacht gebreitet und sein Können hauptsächlich darauf gerichtet, in Ge¬ sichtern und Gebärden der leidtragenden Gefolgschaft den Ausdruck der Trauer wechselvoll zu spiegeln. Von alledem ist auf dem Bilde Dettmann’s auch nicht eine Spur. Er giebt die Scene thatsächlicli so wieder, wie sie etwa ein Moment - Photograph unmittelbar hätte fixiren können. Das Auge des Beschauers fällt nicht zuerst auf den Sarg und seine Träger vergleichs¬ weise sei auf das Gemälde von Gustav Hellquist: „Die Überführung der Leiche Gustav Adolfs nach Stock¬ holm“ hingewiesen , sondern auf die enggeschlossene Reihe der Soldaten der spalierbildenden Regimenter. Unmittelbar sind sie in den Vordergrund gerückt, aber man sieht sie im Rücken! Man sieht nur die Uni¬ formen, zwischen denen die rotglühenden Flammen und der Rauch der Fackeln aufsteigen, und nur durch den Rauch hindurch, leicht verhüllt, in unsicheren Konturen, schaut man den Hauptteil des Ganzen, den Kaisersarg auf den Schultern der Träger, und die Schar, die ihm folgt, langsam vorwärts schreitend über den verschneiten Platz dem Dome entgegen. Alle Regeln der Historien- Malerei seit den Tagen Raffael’s sind hier in den Wind geschlagen, und auch die koloristische Kompo¬

sition, wie sie vor allem Rembrandt wählte, fehlt gänz¬ lich. Es ist ein scheinbar beliebig von einem zufälligen Standort aus aufgenommenes Bild, eine gemalte Moment¬ photographie, und dennoch wird nicht nur derjenige, der jene Scene mit erlebte, von diesem Bilde tief er¬ griffen, dennoch wird auch die Folgezeit vor ihm die Bedeutung des dargestellten Augenblicks spüren. Als der größte deutsche Historienmaler unseres Jahr¬ hunderts, Adolph Menzel, jene weltgeschichtliche Scene zu verewigen unternahm, wie König Wilhelm an der Seite seiner Gemahlin am Nachmittage des 31. Juli 1870 die Reise zur Armee antrat, gab er ebenfalls nur ein solches Momentbild, bis ins Kleinste mit photo¬ graphischer Treue von einem scheinbar absichtslos ge¬ wählten Standort aus: den Anblick des realen Bildes, welches die Linden mit ihrer bewegten Menschenmenge bei jener Fahrt damals boten. Auch dort ist die Haupt¬ figur in den Mittelgrund zurück gerückt, auch dort füllt die unübersehbare Zahl der Zuschauer die Hauptfläche, auch dort sieht man sie zuweilen im Rücken. In der That wurzelt dieses Menzel’sche Gemälde in einer ähn¬ lichen Auffassung, wie dasjenige Dettmann’s; allein auch der Unterschied bleibt in einem anderen Sinne doch eingreifend genug. Altmeister Menzel hat dem Em¬ pfinden, dem Ausdruck der Zuschauer, dieser aufgeregten Menge, einen Hauptanteil an der Gesamtwirkung des Bildes zugewiesen. Er schildert das Ereignis in seinem psychologischen Spiegelbilde. Dettmann, der Künstler der modernsten Zeit, giebt nur die äußere Staffage, die Scenerie in ihrer nackten Thatsäclilichkeit. Menzel’s Ge¬ mälde ist ein Kabinettstück, ein Meisterwerk der Fein¬ malerei, bis ins Einzelne sorgsam durchgeführt, Dett- mann’s Schöpfung ein Kollossalbild, mehr dekorativ be¬ handelt, im Stil der modernen Panoramen -Malerei. Thatsächlicli ist es ursprünglich als Diorama ge¬ dacht gewesen, und teilweise sind damit wohl seine Vorzüge wie seine Schwächen ausgesprochen. Es ist sowohl koloristisch als auch in der Durchführung des Einzelnen ein wenig roh geblieben. Allein es ist in der Reihe von Dettmann’s Arbeiten gerade durch diese robuste Kraft besonders wertvoll und lehrt erkennen, dass dieser feine Kolorist auch eine schätzenswerte Be¬ deutung für die dekorative Malerei großen Stils besitzt.

Bisher aber bleibt es unter seinen Werken eine Aus¬ nahme. Von den drei Gemälden, welche die diesjährige Berliner Gemäldeausstellung von ihm besitzt, sind zwei vor allem wieder als vortreffliche koloristische Studien bedeutsam. Das große Bild „Heimfahrt vom Kirchdorfe“ - eine heitere Redaktion des am Schlüsse abgebildeten Gemäldes ist in seinen Figuren, den beiden alten Fischern im schwerfälligen Kahn mit dem weiß gekleideten Mädchen, und im Landschaftlichen, der violett schimmern¬ den Wasserfläche, dem Himmel, den Strohhütten am Ufer und den Enten im Schilf, von größter Wahrheit. Der feuchte Dunst über der Wasserlandschaft giebt dem

LUDWIG DETTMANN.

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Ganzen eine höchst feine, einheitliche malerische Stimmung1. Farbenreicher, aber auch unruhiger, ist das zweite Ge¬ mälde: ,.Die Prinzessin und der verschlafene Schweine¬ hirt“. Das Spiel des Sonnenlichtes im dichten Buchen¬ wald, ein jetzt wieder so beliebter Stoff, ist vortrefflich beobachtet und virtuos in Farben festgehalten. Daß dieses glühende rote Licht dabei nicht nur auf den Blättern und Stämmen und dem Weiher spielt, sondern

ist dagegen vielleicht das anziehendste, was der Künstler bisher geschaffen hat. Sein Stoff ist nicht neu, aber seine Durchführung ist von besonderem Reiz. Einen ver¬ körperten Sonnenstrahl könnte man es nennen. Der Schauplatz ist der denkbar schlichteste: eine grüne Frühlingswiese mit ein paar blühenden Obstbäumen, darunter Baumstämme und Bretter zu einem Haufen geschichtet; im Hintergründe die roten Dächer eines

Unterm Fliederbusck. Gemälde von L. Dettmann.

auch auf den Körpern zahlreicher Schweine, die sich am Boden wälzen, ist eine im modernsten Sinne be¬ sonders „pikante“ Zutlxat. Ob sie auch eine geschmack¬ volle ist, darüber lässt sich streiten. Seit Hubert von Heyden sonnenbestrahlte Schweineeuter zum Gegenstand eines technisch meisterhaften Bildes gemacht hat, kann man sich über solche Stoffe kaum noch wundern. Gar zu wunderlich aber wirken in Dettmann’s Bild die beiden fast modisch gekleideten „Feen“ am Weiher. Das dritte Gemälde „Lebensfriihling“ (1894; Wien, Medaille 1895)

Dorfes, in der sich der die Wiese durchquerende Pfad verliert. Auf dem Rasen, zwischen seinen Butterblumen und Margeriten, fummelt sich eine Kinderschar, pudel- drollige Kleine beim Blumenpflücken, im allerhellsten Licht. Buntschillernde Flügel machen sie zu Engeln, und der volle Sonnenstrahl, der sie trifft, nimmt ihrer Erscheinung fast die Körperlichkeit. Licht und Früh¬ ling das ist die Stimmung des Ganzen; dieses Ge¬ mälde, so gut gemalt, wie die besten unter den vor- hergenannnten, ist eine wirkliche Dichtung, keine

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LUDWIG DETTMANN.

illustrirende Scenerie nach einem Gedicht. Möglich, ja sogar fast sicher, dass auch ihm nur eine Momentauf¬ nahme nach zufälliger Wirklichkeit zu Grunde liegt, dass der poetische märchenhafte Schimmer, die Erhebung der Kinder zu Engeln durch die angesetzten Flügel, erst eine nachträgliche Zuthat ist, von anderen, als rein künstlerischen Gesichtspunkten eingegeben Dem Be¬ schauer kommt das nicht zum Bewusstsein, er sieht nur das liebenswürdige Märchenbild selbst, und als solches ist es unter den Werken seines Meisters be¬ sonders willkommen.

Ungewöhnlich rasch und glücklich ist Dettmann über den Dornenpfad modernen Künstlerlebens hinweg¬ gekommen, nicht mit dem wuchtigen Schritt derer, die zur Führerschaft in neue Bahnen berufen sind, aber mit der ihres Erfolges sicheren Arbeit, welche die Forderung der Gegenwart versteht und zu ihrer Er¬ füllung ein vortreffliches Können einzusetzen vermag. Dettmann zählt zu den wenigen tüchtigen jüngeren Malern, welche die Kluft zwischen der „modernen Eichtling“ und dem Publikum zu überbrücken im stände sind. Eine glückliche Aufgabe, aber auch eine gefähr¬ liche! Ihre Lösung führt oft hart an der Grenze vor¬ bei, welche Kunst und Mache von einander scheiden, wo der Künstler mit seinem Gewissen uneins wird, wo er das wirklich Gute seiner Schöpfung schädigt, indem

er es künstlich über seinen wahren Gehalt hinaus zu steigern sucht. Dieser Gehalt ist inDettmann’s Werken die eminente Sicherheit des malerischen Könnens, das mit gleich glänzendem Erfolg die Öl- wie die Aquarell¬ farbe in seinen Dienst stellt. So besitzt sein Schaffen einen kerngesunden Boden, der diejenigen Früchte, die man von ihm seiner Natur nach verlangen kann, nie¬ mals versagen wird. Und diese Früchte sind schon an sich vorerst schmackhaft genug; künstliche Zusätze können ihnen nur die rechte Frische nehmen. Zola sagt in seinem jüngsten Essay über die moderne Malerei: „Wenn ein Maler einen Gedanken in einen Kopf hin¬ eindichten will: vortrefflich, aber der Kopf muss da sein, anständig gemalt und fest gefügt, dass er Jahr¬ hunderten trotzen kann.“ Solch ein Wirklichkeitsbild weiß Dettmann’s Kunst zu schaffen. So vortrefflich malt er den Kopf, dass er es nicht nötig hat, den Gedanken, den er künstlerisch vorerst noch nicht in ihn hinein¬ dichten kann, in Lettern darunter zu schreiben. Ob er auch das Gebiet der Ideenmalerei noch zu erobern ver¬ mag, muss erst die Zukunft lehren. Seinen bisherigen Erfolg dankt er seinem Können als Maler, nicht als Dichter. Aber auch dieser Erfolg bliebe groß genug, um ihm unter den Zeitgenossen dauernd eine geachtet Stätte zu sichern.

Begräbnis eines Kindes in einem Fischerdorf an der Ostsee. Gemälde von L. Dettmann.

Studie von L. Dettmann.

PETER PAUL RUBENS.

VON ADOLF ROSENBERG.

MIT ABBILDUNGEN.

VI. Die Anfänge des 'persönlichen Stils: ca. 1612 1614. (Schluss.)

~ k AS Brüsseler Bild in seinem ursprüng¬ lichen Zustande glaubt Rooses als eine Versinnlichung des lateinischen Sprich¬ worts: Sine Cerere et Baccho fräget Venus, d. h. in das realistische Deutsch unserer

- Zeit übersetzt: Ohne Essen und Trinken

friert die Liebe, erklären zu können. Mir scheint dagegen, dass es sich um eine Allegorie der vier Jahreszeiten han¬ dele, wobei Venus den Frühling, Ceres den Sommer, Pomona den Herbst und die „Alte mit dem Kohlenbecken“, vielleicht auch eine mythologische Person, den Winter personifi- ziren. Mit größerem Rechte können wir das Sprich¬ wort auf ein Gemälde des Museums in Antwerpen an¬ wenden, das uns hier besonders interessirt, weil es neben der Jahreszahl 1614 die volle Bezeichnung (P. P. RVBENS. F.) trägt und dadurch als eigenhändiges Werk des Meisters beglaubigt wird (s. Abb. S. 251) Leider ist es nicht das ganze Gemälde, wie es unsere Abbildung zeigt, das Rubens selbst gemalt hat, sondern streng genommen sind es nur die drei Figuren und ihre aller¬ nächste Umgebung. Wie die genaue Untersuchung des Bildes, das erst 1881 für die respektable Summe von 100 000 Erks, in das Antwerpener Museum gekommen ist, nämlich ergeben hat,1) war es ursprünglich 121 cm hoch und 95 cm breit. Anscheinend erst im 18. Jahr¬ hundert hat man das Bild, um ein Kaminstück daraus zu machen, auf der rechten Seite, um 22, auf der linken um 68 und nach oben hin ebenfalls um 22 cm ver¬ größert, so dass die Landschaft beträchtlich erweitert worden ist, leider von einer untergeordneten Hand, wodurch die Wirkung des Ganzen wesentlich beein¬ trächtigt wird. Die koloristische Behandlung des Körpers der zusammengekauerten Göttin stimmt genau mit der Kallisto in Kassel überein: auch hier ist die Modellirung des mit festem Impasto gedeckten Körpers durch bläu¬ liche Schattirungen erfolgt. Die Haltung der Venus,

1) Rooses, L’oeuvre de P. P. Rubens III, S. 180. Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 11.

die sich gleichsam schmollend von Pan ab wendet, der ihr grinsend die Früchte des Bacchus und der Ceres von weitem zeigt, in der Absicht, sie zu dem Geständnis zu zwingen, dass selbst Venus irdischer Speise bedarf, entspricht durchaus dem Sinne des lateinischen Sprich¬ worts. Solche Allegorieen waren den humanistischen Kunstfreunden Antwerpens verständlich und geläufig.

Rooses hat darauf aufmerksam gemacht, dass die hockende Venus „eine große Analogie“ zu der „Susanna im Bade“ in der Münchener Pinakothek darböte, und in der That stimmt die Haltung beider Figuren, bis auf die abweichende Bewegung des rechten Armes der Susanna, fast genau überein. In koloristischer Beziehung besteht aber kein Zusammenhang zwischen beiden Werken, da das Münchener Bild erst in Rubens’ letzten Lebens¬ jahren, in der Zeit seines blumigen, von Licht über¬ fluteten Stils, entstanden ist. Wohl aber besteht eine Verwandtschaft zwischen dem Antwerpener Bild und einer anderen Darstellung der von den Greisen über¬ raschten Susanna, die sich im Museum zu Stockholm befindet; dass sie zu der uns hier beschäftigenden Gruppe gehört, beweist schon allein die Jahreszahl 1614 und die Bezeichnung mit dem vollen Namen, wie wir sie auf der Kasseler „Flucht nach Egypten“ und dem Ant¬ werpener Venusbilde finden. Damit stimmt auch die Be¬ handlung des Körpers der Susanna, der nach Rooses ein frisches Inkarnat mit braunen und blauen Schatten, eine freie, markige Mache zeigt. Im übrigen ist das Bild nicht gleichmäßig durchgeführt, aber doch so sorg¬ sam, dass man es nicht als Skizze bezeichnen könnte.

Noch auf einem vierten Bilde finden wir die Jahres¬ zahl 1614 nebst dem vollen Namen des Meisters, auf einer Beweinung des Leichnams Christi durch die heiligen Frauen und Johannes in der kaiserlichen Galerie zu Wien, die sich eines erlauchten Stammbaumes rühmen kann. Denn sie stammt aus der berühmten Sammlung, die Erzherzog Leopold Wilhelm während seiner Statt¬ halterschaft in Brüssel zusammenbrachte, und sie wird

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PETER PAUL RUBENS.

bereits im Inventar vom Jahre 1659 als „original Rubens“ erwähnt (s. die Abb. S. 252). Teniers der jüngere, der zu Rubens in nahen persönlichen Beziehungen ge¬ standen hatte, war der Ratgeber des Erzherzogs bei seinen Cilderankäufen gewesen und hatte dessen Samm¬ lung beaufsichtigt, so lange der Erzherzog als Statt¬ halter in Brüssel residirte. Teniers, der Rubens’ Hand geiuu munte, wird sicher darauf gehalten haben, dass in Gönner nur echte und hervorragende Stücke des gii'LVn Meisters erwarb, und diesem günstigen Umstande es zu danken, dass diese Perle Rubens’scher Malerei,

graue der rechts im Vordergründe knieenden Frau überein, die ihr Tuch gegen das Gesicht drückt. Also fast dieselbe Farbenskala, die zwischen grauviolett und ganz grau nur wenige leuchtende Zwischenfarben, aber auch diese in starker Abdämpfung, liebt. Nur der Körper des toten Heilands, dem Maria mit schmerzlicher Gebärde noch einmal das eine Augenlid emporhebt, ist mit vollem Licht übergossen; seine Modellirung ist aber genau dieselbe wie beim Christus des Thomasaltars, der Kallisto und der frierenden Venus. Die Jahre 1613 und 1614 sind also Marksteine in Rubens’ Entwickelungsgang,

Die frierende Venus. Gemälde von P. P. Kobens im Museum zu Antwerpen.

die einschließlich des Beiwerks, des Messingbeckens im Vordergründe links, der noch mit Blut befleckten Nägel, der Dornenkrone etc., ganz eigenhändig ausgeführt wor¬ den ist, allen Fährnissen des wechselnden Besitzes ent¬ zogen und in ihrer ganzen, leuchtenden Integrität er¬ halten wurde. Es braucht nicht mehr betont zu werden, dass die Art der koloristischen Behandlung sich eng an den Thomasaltar in Antwerpen, noch mehr aber an die Kallisto in Kassel anschließt. Mit jenem stimmt die gebrochene Färbung der Gewänder, das grauviolette der Magdalena, das trübblaue der Schmerzensmutter, das rote, aber auch gedämpfte des Johannes und das

und er hatte gewiss gute Gründe, die in diesen Jahren entstandenen Bilder, die er ganz allein ausgeführt hatte, zu datiren und mit seinem Namen zu bezeichnen. Der robuste italienische Stil mit den schweren braunen Schatten, die von Michelangelo und den Caracci, von Caravaggio und Tintoretto gelernte Formenbehandlung waren überwunden und einer mehr spiritualistischen Auffassung gewichen. Der Sohn des Nordens war bald innegeworden, dass die erschütternden Momente der Tragödie Christi mit tieferer Empfindung und tieferem Ausdruck behandelt werden müssten, als es die Italiener zu tlmn gewohnt waren, die auch in einer blutigen

PETER PAUL RUBENS.

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Tragödie nur das die Sinne reizende Schauspiel sahen und noch heute sehen.

Die Wiener ,, Beweinung des Leichnams Christi“ ist kein Unikum. Rubens hat die ganze Komposition noch einmal wiederholt, in einem Bilde des Antwerpener Museums, dessen Stammbaum sich jedoch nur bis zum Anfang unseres Jahrhunderts verfolgen lässt. Die Fi¬ guren sind genau dieselben, und es unterliegt auch keinem Zweifel, dass sie Rubens selbst gemalt hat. Im übrigen ist das Antwerpener Exemplar aber größer als das Wiener. Die Felsengrotte ist über dem Kopfe des Jo-

ist, noch die Landschaft stammt von Rubens. In letzterer hat man die Hand von Jan Brueghel erkennen wollen, der bei jeder Gelegenheit genannt wird. Aber seine Art ist für diese groß gedachte und von tiefem, fast tragischem Mitgefühl durchwehte Landschaft zu klein¬ lich, und so wird wohl Rooses Recht haben, der für Wildens eintritt, der ein sehr wertvoller Mitarbeiter des Meisters, vielleicht sogar sein genialster gewesen ist.

Aus dem sehr vertrauenswürdigen Besitz des Erz¬ herzogs Leopold Wilhelm stammt auch ein nicht datirtes Bild aus dieser Zeit, das alle Kriterien der Eigenhändig-

Die Beweinung des Leichnams Christi. Gemälde von P. P. Rubens in der kaiserlichen Galerie zu Wien.

hannes noch erhöht worden, so dass sie eine Art Wand bildet, und hinter der Magdalena öffnet sich ein Blick in eine weite Abendlandschaft, in der man am Horizont die Stadt Jerusalem mit dem Tempel sieht. Der Vorder¬ grund dieser Landschaft ist mit allerlei Gerät ausgefüllt, dessen die Leidtragenden bei der Ausübung ihrer traurigen Pflicht bedurften: ein Salbgefäß, ein Eimer mit Wasser und einem blutigem Tuche darin, die schon auf dem Wiener Bilde vorhandene Messingschüssel, dann noch ein Besen und eine Laterne. Weder dieses Beiwerk, das mit dem ganzen Eifer eines Kleinmalers ausgeführt

keit an sich trägt: die Wildschweinsjagd in der Dres¬ dener Galerie, die, wie alle eigenhändigen Bilder von Rubens aus diesen Jahren des Überganges zu einem neuen, völlig eigenen Stil, auf Holz gemalt ist (s. die Abb. S. 253). Sie befand sich unter den Bildern, die Rubens im Jahre 1627 an den Herzog von Buckingham verkaufte, und als 1648 die Kunstsammlung des Herzogs in Antwerpen versteigert wurde, ließ der jagdfrohe Erzherzog Leopold Wilhelm das Bild für sich ankaufen. Es kam später nach Prag, und als der dort gebliebene Teil der erz¬ herzoglichen Galerie verkauft wurde, 1749 nach Dresden.

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PETER PAUL RUBENS.

Es ist ein Bild von staunenswerter dramatischer Kraft, von einer Energie und Mannigfaltigkeit der Bewegungen von Menschen und Tieren, wie wir sie bisher nur erst in der Amazonenschlacht gefunden hatten. Das ist um so bewunderungswürdiger, als sie die erste1) in der langen Beihe von Jagden ist, die Rubens in den Jahren -1620, besonders um 1617 und 1618, nach M-:uen Skizzen meist von Schülern hat malen lassen. Ls sind zum größeren Teile Jagden auf wilde exotische Tiere, aber auch solche auf Raubtiere und jagdbares

keit so hoch geschätzt, dass Abraham Bloteling später eine ganze Reihe davon, anscheinend zum Gebrauch für Künstler, in Kupfer stach. Alle jene Jagden sind große Dekorationsstücke, die von Fürsten und anderen hohen Herren gern gekauft wurden. Rubens selbst fertigte, wie schon erwähnt, nur die Zeichnungen oder Ölskizzen dazu an, und die Ausführung der großen Stücke übertrug er dann seinen Schülern. Höchstens dass er dann einzelne Stellen, die nicht seinen Wünschen entsprachen, von neuem malte oder die ganze Malerei mit raschen Pinsel-

Wildschweinsjagd. Gemälde von P. P. Rubens in der Dresdener Galerie.

Wild der heimischen Wälder. Erstere nach dem Leben zu studiren, hatte er in Antwerpen häufig Gelegenheit, und es fehlt auch nicht an Zeichnungen und Studien in Öl, auf denen Löwen und Tiger in verschiedenen Stellungen und Gangarten, offenbar nach dem lebenden Modell, dar¬ gestellt sind. Diese Studien waren wegen ihrer Lebendig¬

1) Rooses (L’oeuvre IV, p. 339 Nr. 1155) citirt zwar eine Jagd auf Löwen und Tiger im Palazzo Corsini (jetzt delle scienze) in Rom, von der er glaubt, dass sie Rubens in Italien gemalt habe. Das Bild scheint jedoch nur eine etwas erweiterte Wiederholung der Dresdener Löwenjagd zu sein.

strichen unter Hinzufügung einiger Drucker überging. Auch die berühmte Münchener Löwenjagd, das glänzendste Stück aus dieser Reihe von Jagden, zeigt nur stellen¬ weise, namentlich an den nackten Fleischteilen der kämpfenden Reiter, Rubens’ Hand. Die Landschaft und die Tiere sind nach Rooses’ Urteil von dem schon ge¬ nannten tüchtigen Mitarbeiter des Meisters, von Jan Wildens gemalt, und bei den menschlichen Figuren glaubt Rooses die Mitwirkung von van Dyck zu erkennen. Um so wertvoller ist unter diesen Umständen die Dres¬ dener Wildschweinsjagd, die übrigens bei der Ausführung

PETER PAUL RUBENS.

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mehrerer großer Bilder ähnlichen Inhalts durch die Schüler als Modell gedient hat, so z. B. für die große Schweins¬ jagd, die Mr. Adrien Hope in London besitzt.

Die auf Holz gemalten kleinen Bilder, die wir oben besprochen haben, bilden eine vereinzelte Gruppe im Werke des Meisters. Er gab auch bald diese Klein- uud Feinmalerei, die er zur Zeit, als er sie betrieb, sehr hoch geschätzt zu haben scheint, wieder auf, und schon nach wenigen Jahren war seine Meinung von den kleinen Bildern so gering geworden, dass er am 13. Sep¬ tember 1621 an den politischen Agenten des Königs Jakob I. von England, William Trumbull in Brüssel, schreiben konnte: „Ich bekenne, dass ich in Folge einer natürlichen Begabung mehr geeignet bin, sehr große Bilder zu malen als kleine Kuriositäten.“ Freilich handelte es sich bei dieser Anpreisung darum, einen großen monumentalen Auftrag für den Schmuck eines Saales in dem neu erbauten Whitehall-Palaste zu er¬ haschen. Jedenfalls dachte Rubens im letzten Jahrzehnt seines Lebens wieder anders über die „kleinen Kurio¬ sitäten“, die er in den Jahren 1613 und 1614 gemalt hatte. Er kam wieder auf die Klein- und Feinmalerei auf Holz zurück, und dieser Wiederkehr zu einer alten Neigung verdanken wir eine Reihe der köstlichsten koloristischen Perlen, die fast sämtlich der Zeit von 1635- 1640 angehören.

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Es ist trotz des Briefes an Trumbull wahrschein¬ lich, dass Rubens weniger durch seine persönliche Neigung als durch die Fülle der Aufträge, die sich über ihn ergoß, zur Großmalerei und damit auch, wie nicht zu verkennen ist, zu einem gewissen handwerksmäßigen Betrieb seiner Kunst gedrängt wurde. Dieser tritt frei¬ lich in den ersten Jahren nach 1614 noch nicht so stark hervor, wie etwa seit 1618, wo van Dyck in Rubens’ Werkstatt als Gehilfe eintrat und, wie aus mehreren Zeugnissen hervorgeht, eine staunenswerte Arbeitskraft entfaltete. Dass Rubens aus der Mit¬ arbeiterschaft seiner Gehilfen und Schüler kein Hehl machte, ist übrigens durch den schon mehrfach er¬ wähnten Brief bekannt, den er am 18. April 1618 an den englischen Gesandten im Haag, Sir Dudley Carleton, gerichtet und worin er eine Art von Inventur seiner damals verfügbaren Werkstattbilder aufgestellt hat. Der zukünftige Diplomat drückt sich darin freilich so unbestimmt aus, dass man ihm nicht recht traut. Galt es doch einem Handel mit einem zähen Engländer, der seine in Venedig gesammelten Antiken, die Rubens ins Auge gestochen hatten, so teuer wie möglich gegen Bilder des Meisters eintauschen und noch eine Differenz¬ zahlung in Gestalt von Brüsseler Wandteppichen haben wollte. Rubens unterscheidet in der Liste, die er dem Engländer sandte, zwar sehr scharf zwischen „Originalen ganz von seiner Hand“ und Kopien seiner Schüler, die er mehr oder weniger retouchirt hat. Einmal ver¬

rät er sich in seinem Geschäftseifer aber doch, indem er eine Schülerkopie nach einem jüngsten Gericht, das er für den Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm von Zwei- brücken-Neuburg gemalt hatte, besonders verlockend durch das Versprechen gestaltet, dass er diese Kopie so gründlich retouchiren würde, dass sie als Original gelten könne.

Nun ist aber das Urbild, das sogenannte große „Jüngste Gericht“, das aus der Jesuitenkirche in Neu¬ burg auf dem Umweg durch die Düsseldorfer Galerie in die Münchener Pinakothek gekommen ist, nicht eine eigen¬ händige Arbeit des Meisters. Er hat freilich dazu nicht eine, sondern mehrere Skizzen entworfen, weil ihn sein Ehrgeiz trieb, wenigstens nach einer Richtung hin den großen Michelangelo zu überbieten, und das ist ihm nicht bloß einmal, sondern auch öfter gelungen. Nur nicht in monumentalem Maßstabe. Gerade das größeste seiner „Jüngsten Gerichte“ ist, trotz seiner wohl- abgewogenen, geschlossenen Komposition, das unwirk¬ samste. Doch darf bei seiner Beurteilung nicht außer Acht gelassen werden, dass es durch schwere Misshand¬ lungen und unverständige Restaurationen seine ursprüng¬ liche Leuchtkraft verloren hat, während die kleinen Darstellungen dieses Gegenstandes noch ihren ursprüng¬ lichen Farbenreiz besitzen. Immerhin bleibt aber die Thatsache bestehen, dass das große jüngste Gericht in München in allen wesentlichen Teilen eine Schülerarbeit ist.

Nach dieser Interpretation eines Rubens’schen Briefes wird man gut tliun, selbst den eigenen Angaben des Meisters nicht zu blind zu vertrauen, sondern immer nur auf sicherem Grunde weiter zu bauen, wenn man seine in dieser mittleren Periode übrigens nur wenig scharf hervortretenden Stilwandelungen Schritt für Schritt weiter verfolgen will. Für die Jahre 1615 und 1616, die uns liier zunächst beschäftigen sollen, sind wir mit sicheren Fundamenten bei weitem nicht so gut gerüstet, wie für die Jahre 1613 und 1614. Wir können uns nur auf ein einziges mit einer Jahreszahl bezeiclnietes Bild stützen, auf das Porträt eines jungen, etwa bis zu den Knieen dargestellten Mannes in der fürstlich Liechtenstein’schen Galerie in Wien , das neben dem Wappen und der Altersangabe des Porträ- tirten die Jahreszahl 1616 trägt (s. die Abb. S. 255). Aus dem Wappen in Verbindung mit der Altersangabe hat Rooses festgestellt, dass wir einen gewissen Jan van der Moelen (Vermoelen) vor uns haben, der später in spanische Dienste trat und zuletzt Generalkommissar für die spanische Flotte in den Niederlanden wurde. In der Malweise unterscheidet sich das Bild ganz und gar nicht von den übrigen Bildern des Meisters aus dieser Zeit, deren eigenhändige Ausführung wir bisher festgestellt haben. Zur speciellen Charakteristik fügen wir nur noch die Worte Bode’s in seiner Publikation der Galerie Liechtenstein hinzu, der zur Beurteilung von Rubens’ Entwickelungsgang viel wertvolles Material

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PETER PAUL RUBENS.

beibringt. „In diesem Bilde, sagt er,1) ist jeder Zoll ein Rubens. In den fett bingestrichenen Fleischfarben treten die roten Reflexe, die blauen und blaugrauen Halbschatten, die klaren bräunlichen Schatten, die rosa¬ farbenen Lichter und die roten Töne in den Augen, welche für Rubens’ Gemälde um 1612 1618 so charakteristisch sind, ganz besonders stark hervor. Das klare Schwarz in den Gewändern und im Hute ist prima mit flüssiger Farbe aufgetragen; der Lederstuhl

einträchtigt habe. „Rubens hat mit der Antike darin etwas Gemeinsames, dass er den Menschen mehr in seiner Allgemeinheit und in seiner Gesamterscheinung auffasst und daher gewisse Eigentümlichkeiten zu stark betont und selbst übertreibt, während er die kleineren Zufälligkeiten, namentlich im Gesicht, deren Summe die Individualität ausmachen, unwillkürlich mehr oder we¬ niger vernachlässigt.“ Nur als Maler von Bildnissen junger Mädchen, Frauen und Kinder lässt er ihn gelten,

Jan van der Moelen. Gemälde von P. P. Rubens in der fürstlich Liechtenstein’sehen Galerie in Wien. Nach der Radirung von W. Hecht in den „Graphischen Künsten“.

zur Seite des Dargestellten ist dagegen dünn in den hellbraunen Grund hineingezeichnet.“

Bode steht übrigens in der Beurteilung von Rubens als Bildnismaler etwa auf demselben Standpunkte wie Fromentin. Er meint, dass Rubens’ ganze Richtung „die Naivetät und Einfachheit der Anschauung, welche die erste Bedingung für einen Bildnismaler sind“, be-

1) In der Zeitschrift „Die graphischen Künste“ , XI, S. 28-29.

namentlich als Bildnismaler von Kindern, „da ja im Kinde die Individualität noch mehr oder weniger ver¬ steckt ist und hinter unbestimmten Formen und der allgemeinen Erscheinung zurücktritt.“ Ich habe meine abweichende Meinung in diesen Studien bereits mehrfach, zuletzt bei der Betrachtung des Bildnisses des Bürger¬ meisters Rockox (s. o. S. 212 ff.) zu begründen ver¬ sucht. Mit demselben Rechte kann und muss man, wenn wir uns unter den Malern unserer Zeit Umsehen, den Franzosen Bonnat und Carolus -Duran oder dem

PETER PAUL RUBENS.

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Deutschen Lenbach das Recht auf den Namen großer Bildnismaler absprechen, ganz besonders dem letzteren, dem man nichts weniger als „Naivetät und Einfachheit der Anschauung“ nachrühmen kann. Lenbach ist sogar mit Rubens darin ganz eng verwandt, dass er gelegent¬ lich selbst die schlichtesten Menschen sozusagen „liinauf- idealisirt“ oder gar heroisirt und dass er selbst geborene Heroen wie Bismarck unter den Bann seiner gewaltigen Subjektivität zwingt.

Das Bildnis des JanVermoelen gab Rubens übrigens keine Gelegenheit, mit der Kunst seiner Charakteristik

samkeit an der Universität Löwen Dr. van Thulden in der Münchener Pinakothek, das Rooses mit Recht das beste Bildnis von Rubens nennt? Es ist um 1615 ganz von Rubens’ Hand gemalt, gehört also der Periode an, die uns hier beschäftigt.

Aus derselben Zeit, vielleicht sogar aus demselben Jahre, besitzt die Münchener Pinakothek noch ein zweites, ganz eigenhändiges Bild des Meisters: Christus, dem die bußfertigen Sünder nahen. Zuvörderst die reuige Magdalena, die sich demütig vor dem Heiland neigt, hinter ihr der gläubige Schächer, der zur

Perseus und Andromeda. Gemälde von P. P. Rubens in der Eremitage in St. Petersburg.

in die Tiefe zu dringen, da der siebenundzwanzig- jährige Mann, der eben am Beginn seiner Lauf¬ bahn stand, dazu noch keinen Anlass bot. Rubens begnügte sich damit, eine volle, runde Persönlichkeit hinzustellen, aus der nur erst der Mut und der Thaten- drang einer gesunden Jugend sprechen. Wo findet man aber in der ganzen niederländischen Malerei im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts ein Bildnis von einer Einfachheit und doch zugleich auch Größe der Auf¬ fassung, von einer Ruhe und Objektivität der Dar¬ stellung und von einer Feinheit durchdringender Charakteristik, wie das des Professors der Rechtsgelehr-

Rechten Christi den Kreuzestod erlitt, hinter diesem König David, von dem wenig mehr als das Haupt mit der Zackenkrone sichtbar ist, und dem Heiland zunächst der Apostel Petrus, der, von Mitleid über den Anblick des göttlichen Dulders ergriffen, die Hände zusammen¬ gefaltet hat. Die Gestalt des Heilands, namentlich der nackte Oberkörper, ist eine nur wenig veränderte Kopie derselben Figur auf dem Mittelbilde des Thomasaltars, mit dem auch die ganze Komposition verwandt ist. Nur ist die des Münchener Bildes noch fester ge¬ schlossen und durch die Einführung einer weiblichen Figur in ihrer Wirkung noch reizvoller geworden.

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PETER PAUL RUBENS.

Wir denken dabei an Reiz in rein künstlerischer Be¬ deutung des Wortes, nicht etwa an den sinnlichen Reiz, der durch die Entblößung eines schönen weiblichen Körpers hervorgerufen wird. Auch Rubens selbst hat sich nicht auf die Erregung der Sinne hingearbeitet. Er folgte nur den unbewussten, naiven Trieben seines kiinstleri.-' -hen Schaffensdranges, dem Schönheit der Kör¬ natürlich im Sinne des Rubens’schen Ideals

üb r alles ging. Einem heroisch gestalteten, hoch- j-. wach; nen und breitschulterigen Christus stellt er eine Magdalena von gleicher Körperkraft und Körperfülle als etwas durchaus Selbstverständliches gegenüber. Eine durah ihre Bußübungen bis zum Skelett abgemagerte Magdalena, wie sie gewisse italienische Quattrocentisten dargestellt hatten, wäre seinem gesunden Sinne ebenso unerträglich gewesen, wie eine durch den Kreuzestod ihrer Herrlichkeit völlig entäußerte und verkümmerte Christusgestalt. Selbst in der naturalistisch grauen¬ vollsten Darstellung des Leichnams Christi, die Rubens gemalt hat, auf dem Bilde der Beweinung des Leich¬ nams, der sich dem Beschauer, von den ausgestreckten Füßen gesehen, in einer schaudererregenden Verkürzung darbietet (im Museum zu Antwerpen), hat der Meister nicht versäumt, in der ganzen Körpergestaltung zu zeigen, daß wir einen Helden vor uns sehen, den Sieger über Hölle und Tod. Auch dieses Bild, das wie das Münchener Bild der bußfertigen Sünder auf Holz gemalt ist, ist, soweit wenigstens die Figuren in Frage kommen, eine eigenhändige Arbeit von Rubens aus den Jahren 1614 oder 1615.

In einigen Punkten überragt das Münchener Bild den Antwerpen er Thomasaltar bei weitem. So hat zu¬ nächst das Antlitz Christi einen Ausdruck größerer Tiefe, Wärme und Anteilnahme als auf dem Thomasaltar. Viel¬ leicht in wohlerwogener Absicht. Auf dem Thomasaltar wollte Rubens nach unserer Auffassung den Auferstandenen zeigen, der die Zweifler durch die Hoheit und Kälte seines Wesens straft, während auf dem Münchener Bilde der Heiland als Spender von Verzeihung und Gnade den reu¬ mütigen, sich in inbrünstiger Hingebung verzehrenden Sündern entgegentritt. Es scheint fast, als ob Rubens diese Absicht auch durch das Kolorit zum Ausdruck bringen wollte. Es ist glänzender, das Licht ist wärmer, und die Lokalfarben fließen dadurch zu einer engeren Ver¬ bindung zusammen, die dieses Bild zu einer koloristi¬ schen Perle macht. Wenn nicht der dünne, fast durch¬ sichtige Farbenauftrag wäre, würde man geneigt sein,

das Bild in die dreißiger Jahre, in die Zeit des blu¬ migen Kolorits, zu versetzen.

Wenn wir weitere Umschau unter den Bildern hal¬ ten, die Rubens in der Zeit von 1615 1618 ohne fremde Beihilfe gemalt hat, sind für seine Malweise während dieses Zeitraums zwei Darstellungen der Be¬ freiung der Andromeda durch Perseus besonders typisch. Die eine, die etwa um 1615 gemalt worden ist, befindet sich im Berliner Museum, die andere, etwas später ent¬ standene, in der Eremitage zu St. Petersburg (s. die Abb. S. 256). In der Komposition herrscht, trotz des schroffen Gegensatzes im Inhalt, dasselbe Prinzip wie auf dem Münchener Bilde der bußfertigen Sünder: die Gegen¬ überstellung von männlicher und weiblicher Kraftfülle im Äußeren, von der Überlegenheit des Siegers über eine seelisch oder körperlich Gerettete. Für die büßende Magdalena hat Rubens sogar dasselbe Modell benutzt wie für die befreite Andromeda. Die Malweise ist die von uns schon mehrfach charakterisirte : ein dünner Far¬ benauftrag, den bläuliche Schatten noch durchsichtiger machen, bei einem klaren Gesamtton.

Auf eine genauere, technische Analyse der Gemälde von Rubens aus seiner mittleren Periode wollen wir nicht eingehen, weil sie immer wieder auf den Kern¬ punkt unserer Untersuchung, auf die Frage, ob dieses oder jenes Gemälde von Rubens allein oder mit fremder Beihilfe gemalt worden ist, zurückführen würde. An Vorarbeiten dazu fehlt es nicht. Wenn wir von der älteren Litteratur absehen, kommt besonders der Maler H. Ludwig in Betracht, der in seinem Buche „über die Grundsätze der Ölmalerei und das Verfahren der klas¬ sischen Meister“ (2. Auf!., Leipzig 1893, W. Engelmann) Rubens’ Malweise zu analysiren versucht hat. Er stützt sich dabei leider auf ein völlig unzulängliches Material und macht auch keinen Unterschied zwischen den auf Holz und auf Leinwand gemalten Bildern, deren Technik viel¬ fach verschieden ist. Etwas Besseres, wenn auch nicht in der Form von Rezepten, bietet Th. v. Frimmel in seinem „Handbuch der Gemäldekunde“ (Leipzig 1894). Er unterscheidet bereits scharf zwischen den einzelnen Perioden und weist mit Nachdruck darauf hin, dass der durchsichtige Glanz, den die auf Holz gemalten Bilder von Rubens zeigen, in erster Linie der weißen Grundirung der Tafel verdankt wird, die dann mit einem von dünn¬ flüssiger, bräunlicher Farbe gesättigten Pinsel in schnellen Strichen übergangen wurde, um dem soliden Malgrunde das blendende, ein Künstlerauge störende Weiß zu nehmen.

Vw *

Centralbalinkof in Budapest.

BUDAPEST UND DIE MILLENNIUMS- AUSSTELLUNG.

MIT ABBILDUNGEN.

EM Wiener, der Budapest besucht, um die Millenniums-Ausstellung' zu besich¬ tigen, fällt es vor allem angenehm auf, in wie zielbewusster Weise in den letz¬ ten Decennien der Ausbau der Stadt am linken Donauufer durchgeführt wurde. Es ist nicht das planlose Herumtappen, das wir leider bei uns in Wien immer von neuem zu beklagen haben, durch welches die Regulirung der Stadt auf unbestimmte Zeit verzögert wird, und welches es verhindert, dass sich die Bevölkerung für die Arbeiten des Stadtbauamtes interessirt.

Fragen wir jedoch, wie man es in Budapest zu stände gebracht hat, so Außerordentliches zu leisten, so ergiebt sich, dass das Geheimnis des Erfolges in der Organisation liegt. Auch dort wäre es gewiss nicht möglich gewesen, die städtischen Organe aufzurütteln und sie zu bewegen, davon abzulassen, den alten Schimmel zu reiten, wenn nicht die Regierung die Initiative er¬ griffen und mit dem ihr eigenen Organisationstalente der Stadtregulirung die richtigen Bahnen gewiesen hätte. Von der Anschauung ausgehend, dass ein städtisches Bauamt zwar die ausführende und kontrollirende Behörde ist, nicht aber ein Organ, welches die Führung zu über¬ nehmen hat, schuf die Regierung eine eigene Kommission, in welche Männer delegirt wurden, welche durch ihre Vertrautheit mit den Verkehrsbedürfnissen der Stadt,

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. II. 11.

durch ihre Kenntnisse, durch Stellung oder Einfluss und vor allem durch ihren Sinn für die großstädtische Ent¬ wicklung der Hauptstadt Gewähr dafür leisteten, dass sie in der Lage sind, ihrer Aufgabe zu entsprechen. Diese Kommission wurde zur Hälfte von der Regierung, zur Hälfte von der Gemeinde ernannt und mit weitgehenden Vollmachten ausgerüstet.

Die Kommission ging von dem Gedanken aus, dass es notwendig sei, den Verkehr aus dem Herzen der Stadt, dem am linken Donauufer gelegenen alten Pest, das durch den Ring abgeschlossen war, durch eine An¬ zahl mächtiger Radialstraßen an die Peripherie hinaus¬ zuführen. Um aber die Bezirke untereinander durch eine Transversallinie zu verbinden, schuf man den äußeren Ring, der bei der Margarethenbrücke beginnt und unter¬ halb des Elevators den Strom wieder erreicht, wo seiner¬ zeit eine Brücke den Verkehr nach dem rechten Donau¬ ufer leiten soll, wenn der dort unterhalb des Blocks¬ berges projektirte Stadtteil ins Leben gerufen wird,

Durch die Schaffung eines Centralbahnhofes im Osten von Budapest ist dem Bedürfnisse einer Großstadt Rechnung getragen worden. Die zu demselben hin¬ führende Radiallinie, die breite Kerepeser-Straße, schneidet die neueren Bezirke in zwei Hälften und weist schon heute einen ungeheueren Verkehr auf. Um denselben nicht am Museumsringe abzuschneiden, ist man gerade dabei, diese Straße durch die Altstadt bis zum Schwur-

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25S

BUDAPEST UND DIE MILLENNIUMS -AUSSTELLUNG.

Parlamentsgebäude in Budapest.

platz an der Donau fortzusetzen, wo ein Propeller die Verbindung mit Ofen herstellt.

Sehr günstig ist auch die Anlage des Tramwaynetzes, welches den Bedürfnissen der Bevölkerung mit Verständnis angepasst ist, und dessen sämtliche Linien jetzt für den elektrischen Betrieb eingerichtet werden. Nicht minder an¬ genehm überrascht wird der Wiener durch die elektrische Untergrundbahn, die am Giselaplatze beginnt und unter der Andrassy-Straße in einer Viertelstunde zum Stadt¬ wäldchen führt, in welchem die Millenniums-Ausstellung installirt ist. Diese Bahn wurde anlässlich der Aus¬ stellung geballt, um den Verkehrsbedürfnissen während derselben zu genü¬ gen, obgleich man sich bewusst war, dass sie sich später nicht ren- tiren werde. Man ver¬ stand es aber, die Ge¬ sellschaft zu zwingen, neben den vielen gu¬ ten auch eine schlech¬ te Linie herzustellen.

So führt jetzt, außer den bereits früher be¬ standenen drei ober- irdischenLinien, noch diese Tiefbalm zum Ausstellungsplatze.

Rechnet man dazu ferner die vielen Om¬ nibusse und sonstigen Fuhrwerke, so muss man zugeben , dass den Verkehrsbedürf¬ nissen in reichlichem Maße entsprochen wurde. Wie beschä¬ mend für uns Wiener,

wenn wir daran denken, dass zu unseren Ausstellungen in der Rotunde bisher nur eine Tramwaylinie den Ver¬ kehr vermittelte, die noch dazu nie mit der genügenden Anzahl Waggons ausgerüstet war.

Eine hervorragende Arbeit ist auch die Errichtung der Quaimauern, durch welche einerseits die Über¬ schwemmungsgefahr gemildert wurde, während anderer¬ seits die schönen breiten Quaistraßen, im oberen Teile des Stromes auch noch namhafte Regulirungsgründe ge¬ wonnen wurden.

Wenn man die neuen Stadtteile von Pest mit ihren breiten Straßen durchwandert, kann man beobachten,

dass verhältnis¬ mäßig viel Sinn für stilgerechte Bauten vorhanden ist. Sehr stark ist der Ziegel¬ rohbau vertreten und zwar zumeist bei Ge¬ bäuden, welche er¬ kennen lassen, dass sie einen tüchtigen Architekten zum Schöpfer hatten. Wohltliuend wirkt auch die Einfluss¬ nahme, welche die Kommission auf die Art der Verbauung nahm, und welche namentlich in der An- drassy - Straße zum Ausdrucke gelangte. Anfangs sind es hohe Häuser mit wuchti¬ ger architektonischer Entwicklung, [wie sie für die 'schönste

!

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Basilika in Budapest,

BUDAPEST UND DIE MILLENNIUMS -AUSSTELLUNG.

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Industriehalle in der Millenniums-Ausstellung in Budapest.

Straße einer Hauptstadt passen. Nach dem Octogon-Platz, beginnen Herrschafts - oder Privathäuser mit wenigen Stockwerken, und nach dem Rondeau finden wir villen¬ artige, meist freistehende Häuser mit Gartenanlagen, die uns harmonisch zum Stadt Wäldchen, bei dem die Straße endet, hinleiten.

In neuerer Zeit regt sich auch der Sinn für Kirchen¬ bauten, der insbesondere in der mächtigen, am Waitzener Ring gelegenen Basilika zum Ausdrucke gelangte. Von außen ist dieser Dom fertig und wirkt durch seine ruhige Silhouette wohlthuend auf den Beschauer, nament¬ lich wenn man vom St. Georgsplatz auf dem Ofener Festungsberge herabblickt. Auf die Vollendung des pompös ausgestatteten Innenbaues wird man jedoch wohl noch viele Jahre warten müssen.

Unter den alten Kirchen ist wohl die bedeutendste

und interessanteste die Mathiaskirche auf dem Festungs¬ berge in Ofen. Die ältesten romanischen Teile derselben stammen aus dem dreizehnten Jahrhundert, während die Vollendung in die spätgotische Periode fällt. Diese Kirche, welche von den Türken in eine Moschee verwandelt und später durch Anbauten von Häusern ganz verdeckt wurde, dankt der Millenniumsfeier ihre Restaurirung, welche vom Architekten, Professor F. Schulek, einem Schmidt-Schüler, der vormals auch bei der Restaurirung des Regensburger Domes beschäftigt war, in gelungenster Weise durchgeführt wurde. Durch die Beseitigung der Anbauten und den Ausbau der Kirche kommt dieselbe jetzt prächtig zur Geltung. Im Innern stört nur die etwas schwere Polychromirung, welche jener der Weiß- gärberkirche in Wien ähnelt. Dagegen sind die Fresken, welche Scenen aus der ungarischen Krönungsgeschichte

Burg Vajfla Hunyad in Budapest..

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BUDAPEST UND DIE MILLENNIUMS -AUSSTELLUNG.

darstellen, soweit das Helldunkel eine Beurteilung zu¬ lässt, sehr gut.

Unter den neuen öffentlichen Bauten Budapests ist wohl am hervorragendsten der des Parlaments, für welchen eine Bausumme von fünfzehn Millionen Gulden in Aus¬ sicht genommen und dem Architekten Steindl Jmre , gleich¬ falls einem Schmidt-Schüler, übertragen wurde, der sich stark an seinen Meister anlehnte. Er wählte als Stil die italienische Gotik, wie sie in unserem Wiener Rat¬ hause zum Ausdrucke kam, und überwölbte den Central¬ dom mit einer Kuppel, gleich jener der Fünfbauser- Kirche in Wien. Obgleich der umfangreiche Bau, der eine starke Gliederung aufweist, viele schöne Details hat, wirkt seine Silhouette doch bei weitem nicht so günstig, wie jene des Wiener Rathauses. Die wohlthuende Ruhe, die in diesem größten Profanbaue unseres Meisters

noch erhöht, dass die beiderseitigen Häuserfronten am Quai weit zurückstehen, und das Palamentsgebäude daher die Quaistraße unterbricht.

Von den Innenräumen dieses gewaltigen Palastes sind bisher nur jene Räume fertiggestellt worden, welche für die Millenniumsfeier benötigt wurden. Es ist das eine pompöse Treppenanlage, die vom Vestibüle des Haupteinganges zum Centraldome mit seiner hohen Kuppel führt. Hier entfaltet sich eine farbenreiche Pracht, die durch den verschiedenartigen polirten Marmor, durch reiche Vergoldung und Polychromirung hervorgerufen wird. Peinlich berührte nur die Mitteilung- des uns führenden Bauleiters, dass die bemalten Figuren, welche auf den Kapitalen der Pilaster stehen, die zwischen den Bogen angebracht sind, welche die Kuppel tragen, aus Zinkguss hergestellt wurden. Bei solchem Monumental-

Dorfst.raße in der Millenniums-Ausstellung in Budapest.

Schmidt liegt, die harmonische Gliederung aller Teile, die im Beschauer die Empfindung hervorruft, ein vollen¬ detes Kunstwerk vor sich zu haben, das Auge und Ge¬ müt gleich fesselt und keinerlei kritische Regung auf- kommen lässt, dieses Gefühl der Andacht, das gerade die Meisterwerke der Gotik vor allen anderen zu er¬ zeugen vermögen ist dem Architekten des ungarischen Parlamentes, trotz seiner großen Begabung, hervorzurufen nicht gelungen. Ihm schwebte jedenfalls der von der Themse bespülte Westminster -Palast in London vor Augen, und deshalb stellte auch er seinen Bau knapp an die Donau, dieselbe prächtige Wirkung erhoffend. Da er aber die rückwärtige Front dem Strome zukehrte, während die Hauptfront auf einen großen Platz sieht, so hat der Beschauer immer das Gefühl, als ob das ge¬ waltige Gebäude durch ein Versehen zu weit an den Strom geschoben worden wäre. Dieser Eindruck wird dadurch

bau sollte doch so hervorragender Schmuck aus echtem Materiale hergestellt werden.

* *

Wenden wir uns jedoch jetzt der Millenniums- Ausstellung zu, die im Stadtwäldchen untergebracht ist. Obgleich diesem Unternehmen, von der Begei¬ sterung der ganzen Nation getragen, die reichlichste finanzielle Unterstützung des Staates zu Teil wurde, so wich man doch von der herkömmlichen Schablone ab, die in der Herstellung eines Riesenpalastes das Mittel erblickt, auf den Besucher fascinirend zu wirken. Dieses Vorgehen kann nur gebilligt werden; denn wenn auch in Ungarn in den letzten Jahrzehnten, dank der wohl¬ wollenden Förderung seitens der Regierung, viele neue Industrieen geschaffen wurden und die alten zu unge¬ ahnter Blüte gediehen sind, so hätte doch Ungarn nicht

BUDAPEST UND DIE MILLENNIUMS -AUSSTELLUNG.

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erfolgreich mit den westlichen Kulturstaaten in die Schranken treten können. Man behielt daher den ver¬ hältnismäßig kleinen Industriepalast vom Jahre 1885 bei, installirte darin eine Anzahl Gruppen und errichtete außerdem im Parke mehr als hundert Pavillons, die Specialzwecken dienten. Diese Anordnung ist für den Besucher sehr anregend; er wird nicht erdrückt von endlosen Reihen verschiedenartigster Objekte und kann sich mehr dem ruhigen Genüsse hingeben. Er sucht sich jene Pavillons aus, die für ihn Interessantes bieten und geht au den anderen vorüber oder wirft höchstens einen flüchtigen Blick hinein.

In ihrem Gesamtbilde macht die Ausstellung jedoch einen sehr angenehmen, harmonischen Eindruck. Man fühlt, dass die Direktion mit dem klaren Bewusstsein

wir nicht wüssten, dass wir es mit einer Nachahmung zu thun haben, wir würden glauben, den alten ver¬ witterten Bau mit all seinen Reizen vor uns zu sehen. Und da stehen auch als Wächter die wettergebräunten Krieger in rotem Wams mit gelber Verschnürung, die Adlerfeder auf dem Kopfe und die blanke Hellebarde in der Hand. Wir blicken hinauf zu den verwaschenen Bemalungen an der Galerie und wieder herab zu dem Brunnen mit seinem defekten Heiligen, der wohl schon seit einem halben Jahrtausend auf das Getriebe zu seinen Füßen herniederschaut, und gelangen dann zu einem Platze, auf dem zwei echte türkische Zelte aufgeschlagen sind. Dahinter allerhand Kriegsmaterial, mit welchem der Zinnenwall armirt ist. Nach der andern Seite hin ist der Platz abgeschlossen durch einen romanischen Kirchen-

Bosniscli-Herzegowinisclier Pavillon.

dessen, was man erreichen wollte, ihre Aufgabe durch¬ geführt hat; dabei wurde sie jedoch durch die schönen An¬ lagen des Stadtwäldchens wesentlich unterstützt, welche zwischen den mannigfachen Stilarten der Pavillons ver¬ mittelnd eintreten.

Den Glanzpunkt der Ausstellung bildet die historische Abteilung, welche auf einer Insel des großen Teiches untergebracht wurde. Betritt man vom Haupteingange bei der Andrassy Straße den Ausstellungsraum und überschreitet die lange Brücke, dann erblickt man halb versteckt hinter Bäumen einen hochinteressanten gotischen Bau. Es ist dies die Nachahmung der Burg Vajda Hunyad, des Stammschlosses von Mathias Corvinus in Siebenbürgen. Wir treten über die Zugbrücke und ge¬ langen in den Schlosshof, der uns ein Stück reizendsten Mittelalters vor die überraschten Blicke führt. Wenn

bau mit schönem Kreuzgange, an dem der Zahn der Zeit seine tiefen Spuren zuriickgelasseu. Es ist das schönste romanische Bauwerk, das Ungarn aufzuweisen hat.

Weiter schreitend, durch eine Baumgruppe von dem früheren Teile getrennt, kommen wir zu einem Palast¬ bau aus der Barockzeit und glauben, dass hier Fischer von Erlach auferstanden ist, so sehr erinnert er an unseren Burgtrakt auf dem Michaelerplatze.

Betreten wir aber das Innere dieser Gebäudegruppe, als Repräsentanten der drei großen Stilrichtungen, so finden wir hier alle Schätze zusammengetragen, welche die Kirche und der Adel Ungarns aufzuweisen haben, streng chronologisch geordnet. Man bedauert, dass man der Besichtigung dieser Objekte, welche nicht nur historischen, sondern meist auch hohen Kunstwert be¬ sitzen, nicht so viel Tage widmen kann, wie man Stunden

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BUDAPEST UND DIE MILLENNIUMS- AUSSTELLUNG.

bei ihnen verweilt. Aber noch ein anderes historisches Ge¬ bäude ist weiter nördlich zu finden, das irgend ein Rathaus nachahiat und die ungarische Hausindustrie birgt. Wir sehen darinnen Figuren bei allerlei Beschäftigungen. So den Töpfer, der auf der Drehscheibe arbeitet, den Schnitzer hölzerner Spiel waren, den Strohflechter etc. Nebstbei die Erzeugnisse der Hausindustrie, darunter die bekannten ungarischen und slavischen Buntstickereien. Sehr beeinträchtigt hat man aber diese der Arbeit des Volkes gewidmete Ausstellung dadurch, dass man auch Arbeiten adeliger Dilettanten aufnahm, die weder originell sind, noch Kunstwert besitzen.

Daneben liegt das ungarische Dorf, das geeignet ist, dem Fremden einen willkommenen Einblick in das Volksleben zu gewähren. Wir können der Direktion nur

in den Küchen der Fall, die sowohl die primitivsten als auch sehr vorgeschrittene Einrichtungen aufweisen. Wir können hier auch keramische Studien machen und manche Besucherin wird die Bäuerin um den Schatz an schönem Geschirr beneiden, der hier zur Schau gestellt ist. Als Hüter jedes Hauses ist ein Mann aus der be¬ treffenden Gegend in Nationaltracht bestellt worden, der bereitwillig Auskunft erteilt auf die Fragen, die man au ihn richtet. Man kann nur bedauern, dass diese Kolonie nicht für ein ethnographisches Museum erhalten bleiben kann. Bei der nivellirenden Macht der Kultur, die auch in Ungarn unablässig in weitere Kreise dringt, wird Jahr für Jahr mehr abgebröckelt von dem Charakter des Volkes, von seinen Gewohnheiten, seinen Behausungen und Trachten. Heute ließe sich noch vieles

Pavillon der Papier- und Vervielfältigungs -Industrie.

in hohem Maße dankbar dafür sein, dass sie diese Aus¬ stellung anregte, an deren gelungener Durchführung sich alle Komitate beteiligten, indem sie durch Einheimische diese Häuser mit ihren Stallungen etc. ganz naturgetreu erbauen ließen. Wir sehen da das Haus der ungarischen Tiefebene sowohl als auch das der Karpathen; das un¬ garische, slovakische, rumänische, serbische und deutsche Haus, jenes der Sachsen in Siebenbürgen etc. Betreten wir das Innere dieser Häuser, dann finden wir sie ausge¬ rüstet mit allem charakteristischen Hausrate. Figuren zeigen uns die Trachten der betreffenden Gebiete, wie sie mannigfacher wohl in keinem anderen Lande Vor¬ kommen.

Bietet der Anblick der Wohnstuben ein charakte¬ ristisches Bild des Kulturzustandes, dessen sich die Be¬ wohner dieser Häuser erfreuen, so ist dies nicht minder

retten, was in einigen Jahrzehnten unwiederbringlich ver¬ loren sein wird. Was wir in unseren Alpenländern erlebt haben, davor wird auch Ungarn nicht behütet werden, darum wäre es höchste Zeit für die Regierung, an die Schaffung eines Völkermuseums zu gehen, wie dies Berlin gethan und wie auch die bosnische Regierung in ihrem Museum in Sarajevo den Anfang gemacht hat. Einen wertvollen Stock hierzu gäbe die ethnographische Sammlung des Naturhistorischen Hofmuseums in Wien, dem sich dann vor allem die Typen unserer Länder anreihen müssten. Wieviel da zu finden wäre, das haben die Ausstellungen in Lemberg und Prag in den letzten Jahren gezeigt.

Doch bleiben wir bei unserem Thema. Zum un¬ garischen Dorfe gehört auch die Kirche, deren Inneres jedoch vom Grafen Eugen Zichy in Beschlag genommen

BUDAPEST UND DIE MILLENNIUMS -AUSSTELLUNG.

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Pavillon des Kriegsministeriums.

wurde, der bekanntlich eine Forschungsreise in die Länder östlich vom Kaukasus unternommen hatte, um die Urheimat der Magyaren aufzusuchen. Was er bei dieser beschwerlichen Fahrt gefunden, das bringt er hier zur Ausstellung. Es sind Waffen, Geräte, Kleider, Schmuck etc. aus allen Zeitepochen; darunter viele Ausgrabungen aus vorgeschichtlicher Zeit. Durch die typische Ähnlichkeit gewisser Formen glaubt dieser Forscher seine Ansichten belegen zu können. - Um die äußere Kirchenmauer herum befinden sich Buden, in welchen die verschieden¬ sten Arbeiten der Hausindustrie zum Verkaufe ausgestellt sind, darunter auch eine keramische Abteilung, die unser besonderes Interesse erregte. Es sind Gefäße aus schwarzem, glasirtem Thon, die meist klassische. Formen aufweisen. Leider geht die große Menge achtlos an diesen schönen Erzeugnissen vorüber.

Nicht weit davon steht auch der Pavillon der bosnisch - lierzegowinischen Regierung. Er bietet ein anschauliches Bild der Landeserzeugnisse und der hohen Stufe, welche gewisse Industriezweige dort erreicht haben, ln höchstem Grade anziehend ist die Abteilung, in welcher die Arbeiten der Staatsindustrieen und Fach¬ schulen ausgestellt sind. Wir kennen ja die schönen Teppichwebereien, Arbeiten in getriebenem und ciselirtem Metall, die Gold- und Silber-Tauchirarbeiten etc. durch die Weihnachtsausstellungen in Wien. Vor diesem Pavillon, in kleinen Buden, ähnlich den orientalischen Bazars, sitzen Türken, welche Erzeugnisse der Klein¬ industrie in Metall und Holz sowie Textilwaren zum Ver¬ kaufe feilbieten.

Hinter diesem Pavillon befindet sich das bosnische Haus, ein einstöckiges Gebäude, das uns im ersten Stocke fünf türkische Zimmer vorführt, die bei allen Besuchern hohes Interesse hervorrufen, da sie einen Einblick in

das intime orientalische Leben gestatten. Wir finden hier die bekannten Holzplafonds mit aufgelegter Arbeit und teilweiser Bemalung, die durchbrochenen Wand¬ verkleidungen, die umlaufenden Divans etc. Diese Ge¬ mächer sind mit Figuren in reichen Trachten ausge¬ stattet, umgeben von Waffen und Hausrat.

Im Erdgeschosse sind mehrere Webstühle aufgestellt, an welchen bosnische christliche Mädchen in der originellen türkischen Tracht arbeiten. Es sind dies Schülerinnen der Textil-Fachschulen in Sarajevo, welche uns alle Arten von Teppichweberei in ihrem Entstehen zeigen.

Sehr anziehend ist auch der Pavillon der Seiden¬ industrie, da uns in demselben die ungarische Seiden¬ raupenzucht in allen ihren Stadien vorgeführt wird, bis zum Gespinst und der Weberei. In einer besonderen Abteilung finden wir als Gegenüberstellung die chinesische Seidenerzeugung.

Ebenso lehrreich ist der staatliche Pavillon der Tabakfabrikation, in welchem außer den Rohprodukten auch die Herstellung der Cigarren und Cigaretten mittelst sinnreicher Maschinen gezeigt wird.

Solche Specialausstellungen, die alle das Gepräge eines abgeschlossenen Ganzen bilden und mit Geschick und Geschmack arrangirt sind, giebt es eine große Zahl. Wir verweisen nur auf die Landwirtschaft, das Forst¬ wesen, den Weinbau, den Gartenbau, die Milchwirtschaft, die Traubenkultur, die Brauerei, das Fischereiwesen, die Zuckerindustrie, die Mühlenindustrie, den reizenden Jagd¬ pavillon etc. Dass einzelne Großgrundbesitzer ihre eigenen Pavillons errichteten und in denselben ein um¬ fassendes Bild ihrer Kulturen und Industrien entrollten, sei nebenher erwähnt.

Die Maschinen-Industrie hat sehr umfassend aus¬ gestellt; es ist das begreiflich, wenn man daran denkt,

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BUDAPEST UND DIE MILLENNIUMS-AUSSTELLUNG.

dass Ungarn Weltfirmen, wie Ganz & Co., besitzt, die ihre eigenen Ausstellungsgebände errichteten. Ein wahres Museum ist auch die Ausstellung der ungarischen Staats¬ bahnen. Wenn auch in der Maschinenhalle, dem zweit¬ größten Gebäude am Ausstellungsplatze, die kleineren Maschinenfabrikanten vereint wurden, so war man doch durch das Prinzip der elektrischen Kraftübertragung, das in bedeutendem Maße zur Anwendung gelangte, mit der Aufstellung von Maschinen, die im Betriebe zu sehen waren, nicht an den Ort gebunden, wodurch das Pavillon- System gefordert wurde.

Von den übrigen Special-Ausstellungen wollen wir vor allem die Papier- und Druckindustrie erwähnen, die in hervorragender Weise vertreten ist, da in der großen Halle Buch- und Steindruckmaschinen aller Systeme fortwährend in Betrieb sind und auch eine Aus¬ stellungs-Zeitung daselbst gesetzt und auf einer Rotations- maschine gedruckt wird. Die im gleichen Pavillon untergebrachte photographische Ausstellung überrascht durch die Fülle künstlerischer Leistungen, die auch mit¬ unter durch ihre Dimensionen sich auszeichnen. Den Vertretern der Presse ist ein komfortables Heim gewidmet.

Nicht minder anziehend sind die Pavillons für Post¬ um! Telegraphen wesen, für Flussschiffahrt und -Regulirung, für Minenwesen, für Meteorologie, für Feuerwehr, für Turnwesen, für Unterricht, für Kinder- Erziehung, für Gesundheitspflege etc. Im Pavillon für Justiz, wird durch Wandgemälde das Justiz wesen in der guten alten Zeit veranschaulicht, wo noch die Folter in mancherlei Ge¬ stalt zur Anwendung kam, und dem das moderne Prinzip der Justiz und des Gefängniswesens, sowie die Be¬ schäftigung der Sträflinge gegenübergestellt.

Ein weiter Raum ist auch dem Heereswesen durch Pavillons für Heeresausrüstung und ungarische Land¬ wehr gewidmet. An der Spitze steht jedoch der große Bau, der vom Reichs-Kriegsministerium errichtet wurde. Mit ungeheurem Fleiße ist in der anschaulichsten Weise der gegenwärtige Stand der Ausrüstung der gemeinsamen Armee und der Kriegsmarine zur Darstellung gebracht, wogegen in anderen Sälen die frühere Entwicklung des Heeres gezeigt und manche kostbare Reliquie zur Schau gestellt wird. Diese Musterausstellung wirkt um so an¬ genehmer auf den Beschauer, als hier alle Aufschriften auch in deutscher Sprache angebracht wurden, während sonst im ganzen Ausstellungsraum nur ungarische Tafeln zu sehen sind. Dieser Ausfluss von Chauvinismus ist um so weniger am Platze, als ja Ungarn die ganze Welt zu Gast geladen hat und daher wenigstens die deutsche Sprache, als die nächstliegende Weltsprache, hätte be¬ rücksichtigt werden können. Übrigens sei hierbei be¬ merkt, dass man im Ausstellungsgebiete überall auf eine deutsche Frage eine deutsche Antwort erhält.

Dass die Hauptstadt Budapest sich bemüht hat, in eigenem Pavillon lehrreich auszustellen, ist begreiflich.

Alle Zweige der städtischen Verwaltung sind daher gut vertreten, namentlich aber der baulichen Entwicklung der Residenzstadt ein breiter Raum gewidmet. Hier ist auch das viel besprochene Bild von Beuczur, die Befreiung Ofens von der türkischen Invasion, aufgestellt.

Kroatien hielt es für nötig, seine Selbständigkeit zu wahren und seine Ausstellung in einem eigenen großen Gebäude unterzubringen, das man nicht ungern durchwandert, da es manches Sehenswerte birgt.

Die gegenüberliegende Kunsthalle ist interessant, soweit sie Objekte früherer Kunstepochen zur An¬ schauung bringt Die modernen Arbeiten lassen weder durch Quantität noch durch Qualität ahnen, welch hohe Stufe Ungarn auf dem Gebiete der Malerei einnimmt.

So wären wir denn auf unserem Rundgange bei der großen Industriehalle, dem Vermächtnisse der Landes¬ ausstellung im Jahre 1885, angelangt. Beim Betreten derselben fällt uns vor allem der Pavillon des mährischen Wollfabrikanten Carl Löw auf, der auch auf ungarischem Boden Fabriken besitzt. Dieses Objekt, das sich in drei Räume teilt, ist mit seltenem Gesclimacke und großem Kostenaufwande ausgestattet und wohl das ge¬ lungenste Interieur der Ausstellung.

Durchwandern wir die Industriehalle, so finden wir umfangreiche Abteilungen der Bekleidungs- und Leder¬ industrie, schöne keramische und Glaswaren und alle jene Objekte, welche sich in den SpeciaLPavillons nicht unterbringen ließen. Hier ist auch die Möbel-Industrie, verbunden mit der Dekoration von Wohnräumen, zu finden. Es wurde eine große Zahl von Interieurs er¬ richtet, die manches Gute auf weisen, aber doch das Ge¬ fühl zurücklassen, dass auf diesem Gebiete in Wien viel Besseres geschaffen wird.

Schließlich sei noch erwähnt, dass eine eigene Fest¬ halle erbaut wurde, die sehr stark in Anspruch genommen wird, da ja in Bethätigung der bekannten ungarischen Gastfreundschaft in unablässiger Folge daselbst Em¬ pfänge und Bankette abgehalten werden, für welche, wie man uns mitteilte, eine sehr hohe Summe in das Budget eingestellt wurde.

Wir sind überzeugt, dass jeder unbefangene Be¬ sucher der Millenniums-Ausstellung dieselbe sehr be¬ friedigt verlassen wird, da sie ihm viele interessante Anregungen bietet. Er wird das Gefühl mitnehmen, dass er es hier mit dem Werke eines selbst- und ziel¬ bewussten Volkes zu thun hat, das mit allen Mitteln darauf lossteuert, die westlichen Industriestaaten bald einzuholen. Bei der Unterstützung, welche dieses Be¬ streben bei der ungarischen Regierung in unbegrenztem Maße findet, steht wohl zu erwarten, dass das Ziel in absehbarer Zeit erreicht werden wird. Dies sollte aber auch für unsere Regierung eine Mahnung sein, der heimischen Industrie mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, als das leider geschieht. FRIEDRICH JASPER.

Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

DIE ARBEIT

Mttelstück eines Triptychons.

Verlag v E. A-Seemann, Leipzig. Druck y Jnl .Wolf, Leipzig.

JAN MOSTAERT.

VON GUSTAV GLÜCK.

MIT ABBILDUNGEN.

ER Ruhm Jan Mostaert’s, des Meisters, der uns nach allem, was wir von ihm hören, als der Hauptvertreter der Haer- lemer Malerschule in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erscheint, hat ein seltsames Schicksal gehabt. Zu seiner Zeit hochgeschätzt hei Vornehm und Gering, hat Mostaert noch zu Anfang des 17. Jahrhunderts einen liebevollen Biographen in seinem Landsmann Van Mander gefunden ; im weiteren Verlaufe des 17. Jahrhunderts kommt sein Name nur mehr bei einigen Gemäldeauktionen vor, um bald gänzlich zu verschwinden. In unserem Jahrhundert hat man den Namen wieder aus der Vergessenheit hervor¬ gezogen, um mit ihm einige Bilder zu taufen, von denen man nicht weiß, warum sie gerade so und nicht anders benannt werden sollen.

Wenn wir die Hoffnung nicht aufgeben wollen, einmal gegenwärtig unbenannte oder fälschlich be¬ nannte Gemälde als Werke seiner Hand nachweisen zu können, so gilt es, sich sein Leben und seine Kunstweise nach den verlässlichsten Quellen zu vergegenwärtigen. Eine solche bietet uns nebst einigen wenigen Urkunden die Lebensbeschreibung des Carel Van Mander,1) der über Mostaert besonders gut unterrichtet gewesen sein muss, da er sowohl einen betagten Schüler des Meisters Albert Simonsz (Ausg. von 1618, fol. 128 b), als auch einen Enkel Mostaert’s, den Herrn Niclaes Suycker, Schulzen von Haeriem, kannte und gewiss der Mann war, sich für sein Werk die persönliche Bekannt¬ schaft mit diesen Leuten zu nutze zu machen. Ohne zwingende Gründe wird man daher seine Angaben bezüg¬ lich unseres Meisters im wesentlichen kaum bezweifeln dürfen.

Mostaert entstammt einem altadeligen, in Haer- lem ansässigen Geschleckte. Seine erste künstlerische Ausbildung erhielt er bei dem Haeriemer Maler Jakob

1) Auf die nützliche Ausgabe von H. Hymans (Le livre des peintres, Paris 1884) sei hier ein für allemal verwiesen. Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. II. 12.

Janszen, ') den Van Mander als „eenen redelyck goet Schilder“ bezeichnet. Mostaert’s Lehrzeit fällt in das letzte Jahrzehnt des 15- Jahrhunderts; er hat weder Albert Van Ouwater noch Geertgen tot St. Jans mehr gekannt (Van Mander 1618, fol. 128 b). Im Jahre 1500 war er schon selbständig thätig: für die Groote Kerck wird in diesem Jahre bei ihm ein größeres Altarwerk mit Darstellungen aus der Legende des h. Bavo bestellt (Van der Willigen, p. 54).

Bald nach dieser Arbeit scheint er Haeriem auf längere Zeit verlassen zu haben. Er trat in den Dienst der kunstsinnigen Margarethe von Österreich, der Tochter Maximilian’s I. Ob er volle 18 Jahre an ihrem Hofe zugebracht hat und ihr nach allen ihren Residenzen gefolgt ist, wie Van Mander weiter angiebt, lässt sich mit Sicherheit nicht ausmachen, da urkundliche Nach¬ richten fehlen. Den Titel eines Hofmalers Margarethen ’s führten in dieser Zeit Jacopo de’ Barbari und nach ihm Barend van Orley; gleichwohl mag unser Maler das Amt eines valet de chambre oder dergl. bekleidet haben, wozu ihn seine adelige Geburt und seine vornehmen Sitten besonders befähigen mochten. Dass er in irgend welchen Beziehungen zu Margarethen gestanden hat, müssen wir dem Van Mander glauben, da er berichtet, er habe im Besitze der Nachkommen Mostaert’s eine Urkunde gesehen , worin die Regentin ihn zu ihrem Edelmann ernannt habe. Jene Annahme bestätigt über¬ dies die urkundliche Nachricht von einem Porträt von Margarethen’s zweitem Gemahl Philibert von Savoyen, das Mostaert nach dem Leben, also noch vor dem 1504 erfolgten Tode des Herzogs gemalt hat. Im Jahre 1520 schenkte der Maler dies Bildnis seiner Gönnerin, wofür er anfangs 1521 die ansehnliche Gratifikation von 20

1) Ober ein heute verschollenes Werk dieses Jakob Jans¬ zen, ehemals in der Groote Kerck zu Haeriem, vgl. Van Mander, ed. De Jongh 1768 I, 162 Anm. In den Urkunden finden wir ihn 1503 beim Verkauf eines Hauses erwähnt; 1509 vermacht er 40 rhein. Gulden der Kirche (Van der Willigen, Les Artistes de Haeriem 1870, 45 und 55).

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JAN MOSTAERT.

Philipps-Gulden erhielt- vielleicht war es ein Abschieds¬ geschenk; denn in den erhaltenen Ausgaberechnungen der Fürstin kommt sein Name nicht weiter vor. ') Für Mostaert’s 18 Jahre währenden Aufenthalt am Hofe Mar¬ garethens bliebe aber immerhin der Zeitraum von 1500 bis 1520 offen. Auch die Erzählung, Mostaert habe einen Antrag Mabuse’s zur Mithilfe an einem Altarwerk für die Praemonstratenserabtei in Middelburg abgelehnt, mit der Motivirung, dass er im Dienste einer so hohen Herrin wie Margarethe stünde, stimmt dazu; denn tliat- sächlich muss das genannte Altarwerk in den Jahren vor 1521 entstanden sein, weil Dürer auf seiner nieder¬ ländischen Reise (Tagebuch ed. Leitscliuh, 70) es als vollendet erwähnt.

Mostaert ist dann wieder in seine Vaterstadt zurück¬ gekehrt, wo er hochgeehrt lebte und oft Besuche von „hohen Herren“ erhielt eine seltene Auszeichnung für einen Maler in damaliger Zeit. In hohem Alter hat er sich noch zur Übernahme eines bedeutenden Auftrags ent¬ schlossen; zur Ausführung eines Altarwerks für die Pfarrkirche von Hoorn scheint er 1550 mit seinem Sohne dahin übersiedelt zu sein (Van der Willigen, 229).

Das lange Leben Mostaert’s fällt in eine für die Geschichte der niederländischen Malerei höchst inhalts¬ volle Zeit, ln seiner Jugend mag er noch unter dem Eindruck der letzten Nachfolger des Albert van Ouwater und des Geertgen tot St. Jans gestanden haben. In seinem reiferen Mannesalter bricht sich eine neue Richtung Bahn, die hauptsächlich durch einen neuerlichen Impuls zum Naturalismus bezeichnet ist, der in der Wahl des Charakteristischen bis zum Karikaturenhaften seinen Ausdruck findet. Schließlich dürfte er in seinem späteren Mannesalter von der Geschmacksrichtung der Romanisten schwerlich ganz unbeeinflusst geblieben sein.

In den spärlichen Beschreibungen und Erwähnungen von Gemälden Mostaert’s, die sich in Van Mander’s Bio¬ graphie finden, können wir diese Wandlungen nur ahnend verfolgen. Es ist eine bunte und zufällige Aus¬ wahl aus den, wie es scheint, einen sehr reichen Stoff¬ kreis umfassenden Werken des Malers. Natürlich nehmen die Gemälde religiösen Gegenstandes in dieser Aufzählung den größten Raum ein. Da werden ohne nähere Be¬ schreibung genannt: eine vielgerühmte „Iverstnacht“ (Geburt Christi), ein h. Christoph und ein h. Hubertus, beide in reicher landschaftlicher Umgebung, eine h. Sippe

1) Vgl. die von Pinchart (Compte rendu des seances de la Commission royale d’histoire, IV. Serie, 11. Bd., 218) in den Ausgaberechnungen Margaretben’s gefundene Notiz vom Ja¬ nuar 1521: „A ung painctre qui a presente ä Madame une paincture de feu Notre Seigneur de Savoye, faict au vif, nomme Jeban Masturd (sic!) XX philippus“. Das Werk scheint sich im Inventar der Kunstsammlungen Margarethen’s wiederzufinden (vgl. Jahrb. der kunsthistor. Samml. des ah. Kaiserhauses III: entweder Nr. 19 oder Nr. 113).

(„S. Anna gheslacht“). ') Mehr hören wir von einem Ecce Homo in lebensgroßen Halbfiguren (also etwa ähn¬ lich den bekannten Kompositionen von Hieronymus Bosch und Quinten Metsys). Einige Köpfe hatten darauf ausgesprochen porträtmäßigen Charakter; die Tradition nannte dem Van Mander noch den Namen eines der Modelle, die dem Künstler zu den Häschern Christi saßen, eines gewissen Pieter Muys, von grotesken Zügen und mit pflasterbedecktem Kopfe. In gleichzeitigen Werken der Haeriemer Malerei finden wir analoge Figuren wieder, wie die Gestalten der aussätzigen, pflasterbedeckten Häscher auf der Dornenkrönung des Calcarer Altarwerks von Jan Joest und auf der Kreuzschleppung des Retablo der Kathedrale von Palencia von Juan de Olanda.1 2) Sie können uns die grell naturalistische Wirkung einer solchen Gestalt veranschaulichen. Ebenfalls eine Kom¬ position in lebensgroßen Halbfiguren war eine „Ver¬ treibung der Hagar“, bei welchem Bilde Van Mander die phantastischen Kostüme besonders rühmend hervor¬ hebt In diese Reihe gehört noch ein von Van Mander nicht erwähntes Bild, das 1662 im Haag versteigert wurde;3) es enthielt die Darstellung des guten Hirten, eines in dieser Zeit höchst seltenen Motivs, das mir nur noch in einem ebenfalls altholländischen, etwa dem An¬ fänge des 16. Jahrhunderts angehörenden Gemälde von nicht großem Kunstwert im Kunstkabinet zu Bonn begegnet ist.

Diese Werke kann man sich noch im alten, vom Romanismus unberührten Stil ausgeführt denken. Anders steht es mit einem Gemälde, das uns in den mythologischen Stoffkreis führt. Es ist dies ein Göttergelage („een Goden bancket“), bei welchem die Discordia mit dem Apfel erscheint und Verwirrung unter die versammelten Götter bringt. Ein solcher Stoff ist vor dem Eindringen italienisirender Kunstweise in den Niederlanden nicht denkbar. Ebenfalls in diese letzte Zeit seines Wirkens gehört offenbar ein von ihm unvollendet Unterlassenes Gemälde, dessen Gegenstand unklar erscheint: eine „westindische“ Landschaft mit fremdartigen Gebäuden, Häusern und Hütten, Felsen und vielen nackten Figuren.

Wir wissen nicht, wie weit Mostaert in dieser neuen „antikischen“ Manier gegangen ist; ob er es wohl so weit darin gebracht hat, wie sein begabter Lands¬ mann Jan Scorel, der ja auch in den guten alten Tra¬ ditionen aufgewachsen war, wie er? Wir wollen es für ihn nicht hoffen. Vielleicht hat er nur zögernd dem

1) 1662 im Haag versteigert, vgl. Obreen’s Archief V, 296: 50. „Het geslacbt van St. Anna geschildert by den Ouden Mostert“ (so zum Unterschied von den spätem Frans und Gillis Mostaert).

2) Auf das letztgenannte Werk war Herr Geheimrat Justi so gütig mich aufmerksam zu machen. Es ist von Laurent (Nr. 1805) photographirt.

3) „Een Christus met een lam op syn rugge, geschildert by den Ouden Mostert“ (Obreen’s Archief a. a. 0.).

JAN MOSTAERT.

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Zeitgeschmack nachgegeben. Verdächtig ist freilich das Lob Heemskerck’s, der von ihm sagte, er ginge ihm weit über alle Alten, die er gekannt habe.

Am meisten rühmt van Mander den Meister im Bildnis- und im Landschaftsfach, in jenen beiden Fächern, in denen die Holländer selbst noch in der ärgsten Ver¬ fallzeit Großes und Rühmliches geleistet haben. Als Bildnismaler war Mostaert besonders in Hofkreisen sehr beliebt. Sein Porträt Philiberts II. von Savoyen haben wir schon erwähnt. Offenbar nach älteren Originalen malte er Jacobaea von Bayern und ihren letzten Ge¬ mahl Frank von Borsselen; diese Bildnisse sind heute verschollen. Ein sehr interessantes Selbstporträt werden wir noch später zu besprechen haben. Ein einziges Bildnis des Meisters, das Philipps des Schönen, des Bruders Margarethens, ist uns in Stichen von Cornelis Visscher und Pieter de Jode erhalten; leider geben diese uns keinen Fingerzeig für die Kunstweise des Meisters; denn die Stecher haben das alte Original so frei im Stil des 17- Jahrhunderts verarbeitet, dass von der Eigenart des alten Malers so gut wie nichts mehr zu erkennen ist.

Zu dem Bilde, das wir uns nach diesen Nachrichten von Mostaert’s Kunstweise machen können, wollen nun die Gemälde, die seit Waagen in Galeriekatalogen und Handbüchern seinen Namen führen, ganz und gar nicht passen. ') Nichts spricht bei dem trefflichen Künstler, dessen Hauptwerke die Schmerzensmutter in Brügge, die „Deipara Virgo“ in Antwerpen und die Anbetung der Könige in der Lübecker Marienkirche sind, für Haeriemer Ursprung; überhaupt ist er seiner Kunst nach kein Holländer, sondern er gehört in den großen Kreis von Schülern, den Gerard David in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts in Brügge um sich versammelte. Er schließt sich eng an den späteren Stil dieses Meisters an, der längliche Typus seiner Frauenköpfe, seine reizenden Landschaften erinnern sehr an seinen Lehrer, dem er in einigen Werken zum Verwechseln ähnlich ist und von dem er sich haupt¬ sächlich durch den warmen, bräunlichen Ton und die ungemein weiche Modellirung unterscheidet. Sein Stoff¬ kreis ist ein gänzlich anderer als der Mostaert’s, wie wir ihn eben kennen gelernt haben. Auch als Bildnis¬ maler begegnet man ihm höchst selten.1 2) Vielleicht bringt uns einmal die belgische Lokalforschung aus den noch zu wenig durchsuchten Brügger Archiven den

1) Zweifel haben schon Seheibler, Woermann (Gesch. d. Malerei II, 530) und mit eingehenderer Begründung, auf die ich hier verweise, Stiassny (Repertorium für Kunstw. XI, 379 Anm.) geäußert.

2) Mir ist nur ein Porträt bekannt, das ich mit Scheib- ler nach der Übereinstimmung mit dem Stifterbildnisse auf dem Lübecker Triptychon für seine Arbeit halten möchte, ein männliches Porträt des Museums zu Antwerpen (460, dem Van Orley zugeschrieben). Das männliche Bildnis der Wiener Galerie ist trotz des übereinstimmenden Urteils von Waagen und Seheibler nicht von seiner Hand.

Namen des begabten Anonymus, bis dahin mag er immer¬ hin den Namen des „Waagen’schen Mostaert“ führen, dem Manne zu Ehren, dessen Verdienst man hauptsächlich die erste Kenntnis seiner Werke zu danken hat.

Es ist seltsam, dass von einem Meister, dessen Tliätigkeit mehr denn ein halbes Jahrhundert umfasst, gar keine Werke sich mehr erhalten haben sollten. Oder sollten wir den lobenden Urteilen der Heemskerck und Van Mander keinen Glauben schenken und den viel¬ gepriesenen Meister als eine ephemere Erscheinung an- sehen, deren Andenken die Nachwelt nicht mehr zu bewahren braucht? Ich glaube kaum. Eine große An¬ zahl von bedeutenden anonymen Werken der altnieder¬ ländischen Malerei giebt ja noch immer dem Forscher schwer zu lösende Rätsel auf. Unter diesen wird man Umschau halten müssen.

Ich wage es hier, auf eine Möglichkeit hinzuweisen, die sich mir immer und immer wieder aufgedrängt hat, ohne dass ich sie zur Gewissheit zu erheben vermocht hätte.

Die Vermutung geht von jenem von Van Mander beschriebenen Selbstporträt aus. Es war eine von seinen allerletzten Arbeiten: er hatte sich dargestellt fast ganz en face, die Hände in einandergelegt, vor ihm lag ein Rosenkranz, hinter ihm erblickte man eine „natürliche“ Landschaft. In der Luft thronte Christus als Richter und urteilte über den nackt (also als ipvx?]) vor knieenden Meister. Auf der einen Seite stand der Teufel, auf der andern kniete ein Engel, der bei dem göttlichen Richter für den Meister Fürbitte einlegte.

Es ist nicht leicht, sich von diesem Bilde eine klare Vorstellung zu machen. Wohl ist bei Porträts seit Memling landschaftlicher Hintergrund mit einzelnen genrehaften Figuren nichts seltenes; allein eine aus¬ führliche Darstellung im Hintergründe eines Bildnisses anzubringen, ist etwas meines Wissens in der nieder¬ ländischen Malerei der Zeit ganz vereinzeltes, weshalb wir wohl ein Recht haben, Mostaert selbst diese glück¬ liche Erfindung zuzuschreiben.

Dieselbe merkwürdige Kompositionsweise ist mir allein in einem herrlichen Brustbilde des Brüsseler Museums (108 a, 88:55 cm) begegnet, das uns nicht nur eine deutliche Vorstellung von der Anordnung des be¬ schriebenen Selbstporträts, sondern auch, wie ich glaube, einen sicheren Hinweis darauf geben kann, in welchen Werken wir den Geist und die Hand unseres Mostaert zu suchen haben (vergl. die Abbildung).

Dargestellt ist ein ältlicher bartloser Mann in sehr vornehmer Tracht; die mit weißen Handschuhen be¬ kleideten Hände halten den Rosenkranz und ruhen auf einem reichgestickten Kissen. Hinter dem Dargestellten erblickt man rechts Teile eines Schlossgebäudes, links eine reizende Landschaft. In der Scene, die in kleinen Figuren in dieser dargestellt ist, erkennt man auf den ersten Blick die Verkündigung der Sibylle an Kaiser

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JAN MOSTAERT.

Augustus. Auch hier also wieder eine himmlische Scene: in den Lüften thront auf Wolken Maria mit dem Kinde, das das Kreuz hält, umschwirrt von vielen reizenden nackten Engelchen. Ein größerer bekleideter Engel fliegt vom Thron der Mutter Gottes weg zur Erde herab und trägt in der Hand eine offene mächtige Pergament¬ rolle mit drei großen Sie-

in dem warmen Lichte südlicher Sonne, sondern in dem kühlen, bläulichen eines nordischen Himmels, der mit einer feinen, weißen, flaumigen Wolkenschicht bedeckt, ist. Die Farbengebung neigt daher zu helleren und kühleren Tönen, ist aber gleichwohl sehr harmonisch.

Die Frage nach dem Urheber, die bei dem hohen Kunstwert des Gemäldes

geln. Unten auf dem Sand¬ boden des Schlossplatzes kniet Kaiser Augustus, neben ihm steht die wahr¬ sagende Sibylle und das Gefolge. Auch im Schloss wird man auf die wunder¬ bare Erscheinung aufmerk¬ sam und blickt aus den Fenstern und vom Balkon erstaunt aufwärts. Auf dem Gesimse eines von gotischen Ranken umspon¬ nenen Pfeilers erblickt man das Wappenschild des Dar¬ gestellten (einen goldenen, blaubewehrten Löwen auf rotem Grund enthaltend,1) das von zwei Putten ge¬ tragen wird, während drei andere Helm und Lanze, die Insignien des Ritterstandes, herbeischleppen.

Eine eigentümliche Mischung von Realismus und Phantastik beherrscht dieses seltene Werk und macht seinen ihm eigenen poetischen Zauber aus. Der Ausdruck des etwas bigot¬ ten, wenig geistvollen Kop¬ fes ist wahr und ungesucht, die Modellirung des Flei¬ sches und der Gewandung sehr eingehend und weich, ohne eckige oder brüchige Linien. Einen phantasti¬ schen Eindruck macht die Architektur, voll Poesie ist die Wiedergabe der himm¬ lischen Erscheinung, reiz¬ voll die zarte, duftige, wie aus leichtem Dünensand aufgebaute Landschaft, voll Leben und natürlicher Be¬ wegung sind die kleinen Figuren des Hintergrundes. Das Bild ist bei vollem Tageslichte gemalt, aber nicht

Jan Mostaert: Altarflügel und dem Stifter im k.

mit dem Heiligen Petrus Museum zu Brüssel.

1) Die Deutung des Wappens ist mir trotz Einholung sachverständigen Urteils nicht gelungen.

wohl manchen Forscher be¬ schäftigt haben mag, ist noch unbeantwortet. Ein¬ mal ist von einem bedeuten¬ den Kenner der Name des Herri Bles genannt worden, aus dem sich die neuere Forschung bemüht, eine ganz chamäleonartige Künstlererscheinung zu ge¬ stalten. Niemand hat aber diesen Einfall ernst ge¬ nommen.

Ob nun der anonyme Maler dieses Bildnisses nicht mit unserm Jan Mos¬ taert identisch sein könnte, ist eine Frage, die ich hier ernstlich aufwerfen möchte. Außer der erwähnten auf¬ fallenden Ähnlichkeit der Komposition sweise stimmt noch zu dem Bilde von Mostaert’s Kunst, das wir aus Van Mander’s Biogra¬ phie gewonnen haben, die Trefflichkeit des Porträts und der Landschaft, die Zeit der Entstehung, die wir nach den Trachten und der noch von Renaissance un¬ berührten Spätgotik der Architektur in die beiden ersten Jahrzehnte des IG.

Jahrhunderts versetzen können, und der für einen Hofmaler passende Um¬ stand, dass hier offenbar eine hochgestellte Persön¬ lichkeit dargestellt ist. Endlich scheint mir, was auch schon von anderer Seite bemerkt worden ist, in dem Brüsseler Porträt das Werk eines Holländers vor¬ zuliegen. Freilich Malweise, Kolorit und 1 lurchbildung von Porträt und Landschaft sind so eigenartig, dass man mit Bestimmtheit nicht auf die Entstehung in einer lokalen Schule schließen kann. Allein der Holländer verrät sich hier mit ziemlicher Sicherheit an den weiblichen Kopf-

JAN MOSTAERT.

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typen : wer die Bilder eines Geertgen oder Jakob Cornelisz daraufhin angesehen hat, wird in den weiblichen Köpfen unseres Bildes Verwandte erkennen; auch hier die zarten Köpfchen mit der hohen Stirn, den kleinen, runden, her¬ vorquellenden Augäpfeln, dem Stumpfnäschen und dem besonders bezeichnenden zurückweichenden, fast ver¬ kümmerten Kinn.

Dieselben Eigenschaf¬ ten finden wir wieder in zwei aus der Sammlung d’Arenberg stammenden Flügelbildern derselben Ga¬ lerie (107 und 108, jedes 79:37 cm), die schon Fetis als Werke derselben Hand erkannt hat, was ein Ver¬ gleich mit dem daneben hängenden, eben besproche¬ nen Bildnisse bestätigt (s. die Abbild.). Die beiden Tafeln offenbar Keste eines größeren Altarwerks, dessen Mittelbild verloren ist enthalten die Por¬ träts des Stifters und der Stifterin mit den Schutz¬ heiligen Petrus und Paulus ; im Hintergrund der einen sieht man wieder in kleinen Figuren die Verkündigung der tiburtinischen Sibylle, in dem der andern die Be¬ kehrung Pauli. Merkwür¬ digerweise fehlt hier bei der Darstellung der Ver¬ kündigung der Sibylle die himmlische Erscheinung der Madonna, was Fetis viel¬ leicht richtig- durch eine Be¬ schneidung des oberen Bild¬ rands der Tafeln erklärt.

Auf drei andere Por¬ träts des Meisters macht uns der Katalog der Ber¬ liner Galerie von 1891 auf¬ merksam. Das Bildnis eines Mannes in mittleren Jahren im Museum zu Berlin (59,

42:29 cm) ist etwas breiter behandelt und weist mehr Helldunkel auf, da es ohne landschaftlichen Hintergrund, also im Zimmer gemalt ist; in den übrigen Details zeigt es aber sicher die Hand des Brüsseler Anonymus. Näher steht den Brüsseler Bildern das Porträt eines jungen Mannes in der Sammlung der Frau Hainauer in Berlin, das auf der Rückseite von späterer Hand als

,,heer Joost van Bronkhorst, Heer van Bleyswyck" be¬ zeichnet ist. Da die Bronckhorst eine vornehme hollän¬ dische Familie waren, kann auch diese Aufschrift für die holländische Herkunft unseres Meisters sprechen. Der landschaftliche Hintergrund ist hier nur durch einige genrehafte Figuren belebt.

Das dritte und wich¬ tigste der vom Berliner Ka¬ talog angeführten Werke, das männliche Bildnis der Royal Institution zu Liver¬ pool, !) habe ich leider noch nicht sehen können. Einer ausführlichen Beschreibung, die ich der Güte des Herrn Geheimrat Justi verdanke, entnehme ich, dass es die¬ selbe Person darstellt, wie das Brüsseler Porträt; nur ist der Dargestellte hier jünger, Züge, Tracht und Stellung sind dieselben ; die Umgebung ist hingegen ganz anders. In der Land¬ schaft des Hintergrundes sieht man rechts ein auf hohem Berge gelegenes Schloss, unten im Thale Jagdscenen und eine Ge¬ sellschaft, die im Grünen lagernd ein Jagdfrühstück einnimmt. Weiter vorn kniet der h. Hubertus vor dem weißen Hirschen, der auf der Stirn ein Kruzifix trägt, auf das aus einer Lichtöffnung mit gelbröt¬ lichem Schein ein Strahl fällt. Die Anordnung ist also eine ähnliche, wie auf dem Brüsseler Bilde, wenn auch die Vision hier durch den Lichtstrahl ersetzt ist. Man erinnert sich, dass auch Mostaert in einem von Van Mander erwähnten Werke den h. Hubertus in einer Landschaft dargestellt hat. Von dem Aufenthalt des Malers am Hofe zeugt die genaue Kenntnis höfischen Jagdlebens, das mit großer Ausführlichkeit geschildert ist.

1) Beschrieben von Waagen, Treasures of Art IV, 236. Es galt damals als Selbstporträt des Lucas van Leyden. Burger sah es auf der Manchester-Ausstellung (Tresors d’Art, 241 Anm.).

Jan Mostaert: Altarflügel mit dem Heiligen Paulus und der Stifterin im ls. Museum zu Brüssel.

Jan Mostaert : Männliches Brustbild im k. Museum zu Brüssel,

JAN MOSTAERT.

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Im Depot des Berliner Museums befindet sich noch ein weibliches Porträt des Meisters '), das in dem land¬ schaftlichen Hintergründe wieder eine Verkündigung der Sibylle darstellt, deren Komposition ganz mit der des Brüsseler Porträts übereinstimmt.

Endlich glaube ich in einem männlichen Bildnis

zu erkennen. Am nächsten ist es dem Bildnis der Samm¬ lung Hainauer verwandt. ')

Diese Porträts machen uns neugierig auf Historien¬ bilder des Meisters. Leider kann ich bisher nur eines nach- weisen (s. die Abb.). Es ist dies die kleine Anbetung der Könige im Rijksmuseum zu Amsterdam (533, 47:22,5 cm),

Jan Mostaert: Anbetung der Könige im Rijksmuseum zu Amsterdam.

mit landschaftlichem Hintergrund, das 1892 mit der Sammlung Hoech in München unter dem Namen llolbein’s d. A. versteigert worden ist, ein Werk des Anonymus

1) Den Hinweis auf dieses Gemälde, sowie eine Photo¬ graphie desselben verdanke ich meinem Freunde Dr. Fritz Wagner in Berlin.

ein Werk, das noch ganz der andächtige Zauber des 15. Jahrhunderts durchweht, wenn gleich seine Entstehung nicht vor Anfang des 16. Jahrhunderts zu setzen ist.

1) Eine Abbildung giebt der Auktionskatalog (Nr. 94). Auch Herr Geheimrat Justi erkennt, wie er mir mitteilt, in diesem Bilde die Hand des Meisters.

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JAN MOSTAERT.

Die Komposition ist eine höchst einfache: Zu beiden Seiten der sitzenden Madonna knieen zwei heilige Könige. Links hinter dem einen kommt der nicht unedle Kopf des Mohrenkönigs zum Vorschein. Hinter diesem erblickt man zwei Männer im Gespräche. Der eine, in dem wil¬ den h. Joseph erkennen können, wendet sich ehrerbietig, den Hut in der Hand, zu dem andern, in die vornehme, modische Tracht der Zeit gekleideten, wie etwa der Bürgermeister eines kleinen Dorfes, der seinem Landes¬ herrn den Cicerone macht. Die Züge des so ausgezeich¬ neten Kavaliers haben eine unverkennbare Ähnlichkeit mit denen Maximilian’s I. Hätte Mostaert dies Bild für Margarethe gemalt, so würde es sich erklären, dass er das Bildnis ihres Vaters hier anbrachte.1) Wie auf jenem Brüsseler Porträt erhebt sich auch hier ein gotischer Pfeiler in der Mitte des Bildes. Pfeiler und Architrav sind mit Reliefs verziert, die die Wurzel Jesse, die Ver¬ kündigung der Sibylle und, wie ich vermute, die drei Helden David’s, die ihm das Wasser bringen (2. Sam. 23, 16), darstellen. Im Hintergründe sieht man das Ge¬ folge in einer Landschaft, welche der des Brüsseler Por¬ träts sehr ähnlich ist. In diesem kleinen Format ist der Meister besonders glücklich, in der unsäglichen Feinheit und Vollendung jedes Details übertrifft er fast noch die Van Eyck.

Dies sind die wenigen mir bisher bekannt gewordenen Werke des Meisters, der, wie ich glaube, einmal einen höchst ehrenvollen Platz in der Geschichte der alt¬ niederländischen Malerei einnehmen wird.

1) Ein Porträt Maximilian’s L, das vielleicht eine Kopie nach einem Werke des Brüsseler Meisters sein könnte, findet sich im Braunschweiger Museum (Nr. 12; 44,5:34,2 cm, mit der Aufschrift: „Maximilianus D. Austriae Imperator mary de la princesse Marrya“). Besonders das Kostüm erinnert sehr an das der Brüsseler Bildnisse.

Persönlich überzeugt von der innerlichen Wahr¬ scheinlichkeit meiner Vermutung, habe ich vergeblich nach urkundlichen Beweisen gesucht. Malersignaturen sind in dieser Zeit in den Niederlanden verhältnismäßig selten. Freilich finden sich auch auf einigen Arbeiten unseres Meisters Inschriften: so auf dem Brüsseler Por¬ trät A und C in den Ecken des Polsters neben dem gestickten Wappen des Dargestellten, auf dem männ¬ lichen Stifterbildnis derselben Sammlung A an gleicher Stelle neben demselben Wappen, auf dem Berliner Por¬ trät A, auf dem bei Frau Hainauer befindlichen Bildnis U, bei beiden letztgenannten auf den Knöpfen der Schraube mehrfach wiederholt. Der Ort, wo diese Buch¬ staben angebracht sind, spricht nicht für eine Meister¬ signatur; wie sollte der Maler seine Initialen neben das Wappen des Dargestellten zu setzen gewagt haben? Trotzdem das A mehrmals wiederkehrt, wird man in den Buchstaben noch eher die Anfangszüge der Namen der Dargestellten, als die des Malers erkennen müssen.

Schwerwiegender könnte der Einwand scheinen, dass die von Van Mander erwähnten großen Historienbilder Mos- taert’s (jenes Göttergelage und die westindische Landschaft) ganz und gar nicht zu den Bildern des Brüsseler Ano¬ nymus passen. Wer aber den Unterschied zwischen Mabuse’s oder Scorel’s früheren und späteren Werken kennt, den wird es nicht Wunder nehmen, wenn solche späte Werke in dieser ersten Zusammenstellung noch fehlen ; denn wer hätte auch ohne sichere äußere Beweise den Zusammenhang zwischen den späteren und früheren Werken jener Meister erkannt?

Möge die Hoffnung des Verfassers, seine Hypothese durch gesicherte Thatsachen bewiesen zu sehen, nicht getäuscht werden! Er möchte nicht gerne einen zweiten Pseudo-Mostaert ins Leben gerufen haben.

ZUR ENTWICKLUNG DES ITALIENISCHEN REITERDENKMALS.

VON FRIEDRICH ACIC.

MIT ABBILDUNGEN.

UF dem prächtig eingegitterten Hofe neben der Kirche S. Maria Antica in Verona lagern zwischen den berühmten hoch in die Luft ragen¬ den Denkmälern der Scaligeri einige bescheidene, gleich¬ falls den Manen der Scaliger geweihte Sarkophage, an denen man zumeist achtlos vorüberzu¬ gehen pflegt , und doch verdient der eine derselben, derjenige Alberto’s I., im höch¬ sten Grade unsere Aufmerksamkeit.

Auf der einen Lang¬ seite dieses Sarko- phages ist nämlich ein Relief ausge¬ hauen , welches den Verstorbenen hoch zu Ross und mit gezück¬ tem Schwert zwi¬ schen der hl. Chri- stina und S. Jakobus darstellt. Das Relief, von dem leider keine photographische Nachbildung existirt, zeichnet sich zwar nicht durch hohe künstlerische Voll¬ endung aus ist doch z. B. das Pferd und der Unterkörper des Reiters im Profil, sein Oberkörper da¬ gegen en face ge¬ geben , aber es ist

insofern höchst interessant, als es gewissermaßen die älteste und niedrigste Stufe des italienischen Reiter- Denkmals darstellt. Alberto ist 1301, nach anderer An¬ gabe 1311 gestorben, der Sarkophag also jedenfalls am Anfang des 14, Jahrhunderts entstanden. Der Reiter

spielt hier nur eine ganz untergeordnete Rolle in der Gesamt- Komposition des Grabmals, bildet aber doch schon den hervorragendsten Teil des Sarkophag- schmuckes.

Im Jahre 1 329, ‘) mithin nur ein Vier¬ teljahrhundert spä¬ ter, ward die älteste jener drei berühmten „Freiarchitekturen“, das Denkmal des Can Grande della Scala, errichtet. Hier zeigt sich bereits ein be¬ deutender Fort¬ schritt: Sarkophag und Reiterbild er¬ scheinen von einan¬ der getrennt, dieses ward mit jenem gleichwertig behan¬ delt. Der Schöpfer des Grabmals brach

Reiter auf dem Denkmal des Can grande della Scala in Verona.

1) Burckhardt’s Cicerone. 5. Auflage.

II, 1. S. 82.

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 12.

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ZUR ENTWICKLUNG DES ITALIENISCHEN REITERDENKMALS.

nämlich in der Kirchen¬ mauer über der Pforte von S. Maria Antica eine Nische aus und oi’dnete in ihr den Sarkophag an, auf dem der Verstorbene liegend dargestellt ward. Darüber errichtete er auf Säulchen einen mäch¬ tigen Baldachin, den er mit der Freifigur des mit¬ samt seinem Pferde iu Lebensgröße dargestell¬ ten Herrschers krönte. Es ist das älteste frei¬ stehende Reiterdenkmal in Italien. Das deutsche Gegenstück dazu ist die Pfeilerstatue Konrad’s III. im Dom zu Bamberg, welche allerdings leicht an die Mauer angeleimt ist. Trotz der Altertüm¬ lichkeit der Kunstweise wird doch jedem Be¬ schauer das Bild des ju¬ gendlichen Kaisers, wel¬ cher so fest im Sattel sitzt und so stolz von seinem hölzernen Gaul herabsieht , einen blei¬ benden Eindruck machen. Das Beste an dem ganzen Werke ist aber der kühne Gedanke, es überhaupt auszuführen: es entstand schon in der Mitte des 13. Jahrhunderts, das Denkmal des Can Grande dagegen erst 1329, mit¬ hin :,/4 Jahrhunderte spä¬ ter. Es ist dies sehr be¬ zeichnend für den Unter¬ schied zwischen deutscher und italienischer Kunst: diese zeichnet sich durch Schönheit in der Aus¬ führung, jene durch Kühn¬ heit in der Erfindung aus. Doch kehren wir zu dem Denkmal des Can Grande zurück : Boss und Reiter wenden den Kopf zur Seite, wodurch etwas Momentanes in die ganze

Denkmal des Can grande della Scala in Verona.

Gnippe kommt. Dieses Plötzliche und Augen¬ blickliche wird noch durch den Kunstgriffgesteigert, die prächtige Decke, wo¬ rin das Pferd eingehüllt ist, wie vom Winde zu- riickgeweht erscheinen zu lassen. Der vom Kopf bis zu den Füßen gepan¬ zerte Ritter, dem der Turnierhelm im Nacken hängt, sitzt fest und sicher auf dem hohen gotischen Sattel, hält den Zügel iu der Linken und mit der Rechten das ge¬ zückte Schwert. Sein Ge¬ sicht bekommt durch das archaische Lächeln einen unbeabsichtigt humori¬ stischen Ausdruck. Trotz aller Ungeschicklichkeit der Ausführung erfreut das Denkmal dennoch durch die Frische und Originalität der Auffas¬ sung, welche wir bei den zwei jüngeren Scaliger- gräbern leider vergeb¬ lich suchen. Dieselben schließen sich iu der Komposition sklavisch an jenes Denkmal an, nur ragen sie ohne Anlehnung an ein bereits vorhan¬ denes Bauwerk völlig frei und selbständig hoch in die Luft. Den Reiter¬ figuren fehlt aber das Augenblickliche, welches die Gruppe des Can Grande so vorteilhaft auszeichnet. Ross und Reiter blicken bei den beiden jüngeren Kompo¬ sitionen starr und lang¬ weilig geradeaus. Über¬ haupt bedeuten diese letz¬ teren keinen organischen Fortschritt in der Ent¬ wicklung des Reiter- Denkmals, wohl aber spiegeln sie die wachsende Lust und Freude an künst-

ZUR ENTWICKLUNG DES ITALIENISCHEN REITERDENKMALS.

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lieber Architektur und dekorativem Beiwerk wieder. Das Denkmal des 1351 verstorbenen Mastino II., welches von Perino da Milano entworfen auf quadratischer Basis erbaut ist, bekundet noch ein gewisses Maßhalten in archi¬ tektonischen und plastischen Einzelheiten, aber das jüngste vonBonino da Campiglione vor 1375 errichtete Monument des Can Signorio weist achteckige Grundform auf und ist dementsprechend mit allerlei architektonischem und plastischem Zierat, wie prächtigem Gitterwerk, Krabben und Fialen, gewundenen Säulen, sitzenden Figuren in

mauer von S. Anastasia in Verona angebracht be¬ deutet überhaupt einen guten Schritt vorwärts in der Entwicklung: hier ist der Reiter zum ersten Male wahrhaft als Hauptsache der gesamten Komposition aufgefasst, mögen auch Pagen einen riesigen Vorhang für ihn Zurückschlagen, mag auch die ganze Gruppe von überreichem spätgotischem Astwerk umgeben sein. Das Pferd steht hier nicht mit allen vier Füßen fest und ruhig auf dem Boden, sondern es greift wuchtig aus, dafür ist aber auch die Kompositon keine Freigruppe, sondern eben an die Mauer angelehnt.

Konrail III. Statue an einem Pfeiler im Dom zu Bamberg.

Nischen, stehenden Figuren unter Baldachinen u. s. w. der¬ artig überladen, dass die Hauptbestandteile des Grabmals, Sarkophag und Reiterbild , gebenüber all diesem drum und dran gar nicht recht zur Geltung kommen.

Steht überhaupt hei allen drei Scaligergräbern der Reiter so hoch droben, dass man ihn von keinem Stand¬ punkt aus ordentlich zu Gesicht bekommen kann, so ist dieser Fehler bei dem Denkmal des Cortessia Sarego glücklich vermieden. Dieses 1432, mithin ein gutes halbes Jahrhundert später als das letzte Scaliger-Monu- ment, entstanden und an der nördlichen inneren Chor-

Auf der nächst höheren Entwicklungsstufe steht das Denkmal des Feldherrn Gattamelata, welches sich vor der Kirche S. Antonio in Padua befindet und in den Jahren 1444 53 von Donatello geschaffen worden ist. Hier tritt zum ersten Mal Erz an die Stelle von Stein. Ferner wird hier wieder, wie bei den Scaliger¬ gräbern, der Reiter im Freien und zwar auf hohem Postamente aufgestellt. Jedoch ist die Höhe dieses Sockels sowie die Größe von Ross und Reiter so fein abgewogen, dass der Beschauer sich in aller Bequem¬ lichkeit des prächtigen Anblicks erfreuen kann. Man

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Mausoleum Sarego in Yerona.

ZUR ENTWICKLUNG DES ITALIENISCHEN REITERDENKMALS.

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braucht nur den Gattamelata mit dein Sarego zu ver- Einzelheiten der Natur, hier ein abgeklärter reiner

gleichen, um zu erkennen, mit welchen Riesenschritten Schönheitskult. Beim Sarego viel überflüssiges Detail,

die italienische Kunst im Quattrocento vorwärts eilte, beim Gattamelata eine strenge Beschränkung auf

Dort noch Befangenheit im gotischen Stile, hier freie das rein Notwendige, dieses aber bis zur Voll-

Das eherne Standbild Coiieoni’s in Venedig. Von Verrocchio.

Renaissance-Kunst; dort eine überaus lahme Bewegung, hier alles Kraft, Schwung und Elasticität; dort ein grobknochiger Karrengaul, hier ein herrlich edles Reiterross; dort eine kleinliche Nachahmung der

endung durchgeführt. Die Dekoration beschränkt sich hier fast ausschließlich auf den Sockel , an dem ein Paar liebliche marmorne Putten mit Armaturstücken spielen. Auch macht sich die Freude am Schmuck noch

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ZUR ENTWICKLUNG DES ITALIENISCHEN REITERDENKMALS.

ganz im Geheimen in den entzückenden Figürchen am Sattel geltend. Man möchte es gar nicht glauben, dass zwischen der Entstehungszeit des Sarego und dem Be¬ ginn der Arbeit an dem Gattamelata-Standbild nur die kurze Spanne von 12 Jahren liegt! Doch nicht der Zeit¬ unterschied allein spielt dabei eine Rolle, sondern der Sarego ist eben doch nur eine mehr oder minder hand¬ werksmäßige Arbeit, der Gattamelata dagegen die

möchte man meinen, dass ein vollkommeneres Reiterbild undenkbar wäre! Und doch, man braucht nur das von Donatello’s großem Schüler Verrocchio geschaffene, in Venedig befindliche Standbild des Colleoni damit zu vergleichen, um einzusehen, dass auch über den Gatta¬ melata hinaus noch ein gewaltiger Fortschritt möglich war. In der Einfachheit ist hier der letzte Schritt ge- than, indem auch der Sattel gänzlich schmucklos gebildet

Das eherne Standbild des Gattamelata in Padua. Von Donatello.

Schöpfung eines gottbegnadeten Künstlers. Außerdem spürt man an dem jüngeren Denkmal den gewaltigen Einfluss der für die Renaissance-Kunst vorbildlichen Antike, besonders bei dem Pferde. Die vier antiken Rosse von S. Marco in Venedig muss Donatello eitrigst studirt haben. Das ungeheuer Straffe der Muskeln, das Schneidige und Kraftvolle der Bewegung hat er mit ähnlicher Virtuosität wie der antike Künstler gegeben. Wenn man den Gattamelata allein für sich betrachtet,

ist. Das Pferd des Gattamelata bedarf noch einer unter den Fuß gelegten Kugel, um vorwärts schreiten zu können, beim Colleoni ist dies nicht mehr der Fall. Doch dies ist rein äußerlich. Aber auch die Model- lirung des Pferdes ist viel feiner durchgeführt, man beachte z. B. daraufhin die Hinterfüße. Ferner stört den Beschauer beim Gattamelata das Missverhältnis zwischen dem gar zu großen Ross und dem kleinen Reiter. Auch das Pferd selbst ist vielleicht nicht ganz einwandfrei proportionirt,

ZUR ENTWICKLUNG DES ITALIENISCHEN REITERDENKMALS.

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das Colleoni - Monu¬ ment zeigt dagegen tadellos abgewogene Verhältnisse. Gatta- melata schaut ge¬ radeaus, hebt beide Arme nach vorn in die Höhe und sitzt auch sehr weit nach vorn, hart am Halse des Pferdes, so dass der Schwerpunkt der ganzen Komposition in unnatürlicher Weise nach der einen Seite verschoben erscheint. Das Standbild des Colleoni zeichnet sich dagegen durch vollendeten Rhythmus der Linienführung aus. Der Reiter streckt seinen rechten durch die Zügelhaltung nicht in Anspruch genommenen Arm nach hinten herab und wendet sich sogar mit der rechten Schulter etwas zurück. Gerade durch diese Wendung kommt ein herrliches Leben in die ganze Gruppe. Verrocchio hat also hier mit vollendeter Mei¬ sterschaft auf das Mittel zurückgegriffen, dessen sich schon in mittelalterlich befangener Weise der Urheber des ältesten Scaliger-Grabmals bedient hatte. Endlich sitzt der Gattamelata bequem und gemächlich im Sattel, während der Colleoni sicli energisch in den Steigbügeln

erhebt. Wenn man in schwar¬ zer Gondel durch Vene¬ digs Wasser¬ straßen fährt und plötzlich nach der Bie¬ gung um eine Ecke den Col¬ leoni einher¬ reiten sieht, so machen wahr¬ lich Ross und Reiter einen

schier überwältigenden Eindruck ebenso urwüchsiger wie disciplinirter Tier- und Manneskraft.

Dieses Kunstwerk bildet in der That den Höhe¬ punkt in der Entwicklung des italienischen Reiter-Denk¬ mals. Lionardo schuf auch ein solches, dasjenige des Francesco Sforza. Leider ist es zu Grunde gegangen, aber ein so feinsinniger Mann, wie Burckhardt, ') urteilt nach den „zu malerisch gehaltenen“ Skizzen, dass es den Vergleich mit demjenigen Verrocchio’s wahrschein¬ lich nicht ausgehalten hätte.

1) a. a. 0. II, 2. S. 384.

Sockelstiick vom Denkmal des Gattamelata in Padua.

Sattel mit Figuren vom Denkmal des Gatta¬ melata in Padua.

Reiter vom Denkmal Mastino’s II. in Verona.

EIN PALAST ANDREA SANSOVINO'S IN PORTUGAL.

M Leben Andrea Sansovino’s, des Meisters der italienischen Renaissance, zeigt sich als empfindliche Lücke für die Kunst¬ geschichte sein fast zehnjähriger Auf¬ enthalt in Portugal. Sie ist um so be¬ dauerlicher, als sich mit Bestimmtheit annehmen lässt, dass diese Periode im Leben des Meisters, die Zeit von seinem 31. bis 40. Jahre, an namhaften Betätigungen seines Talentes im Dienste kunstliebender Fürsten eine fruchtbare gewesen sein wird. Trotzdem liegen bis jetzt nur recht spärliche Nachrichten über diese seine Thätigkeit in der Fremde vor.

Vasari nennt nur einen bisher noch nicht ermittelten Palast mit vier Türmen, von dem auch ein Teil des Innern nach Kartons des Künstlers ausgemalt worden sei. Wörtlich übersetzt berichtet der Aretiner folgendes: Andrea von Lorenzo Magnifico an Joaö II. gesandt schuf für diesen König viele Werke der Bild¬ hauerei und Architektur und besonders einen sehr schönen Palast mit vier Türmen und viele andere Gebäude. Und ein Teil des Palastes war gemalt nach den Zeichnungen und Kartons von der Hand Andrea’s, welcher sehr gut zeichnete, wie man in unserem Buche in einigen Blättern von seiner Hand sehen kann, vollendet mit der Spitze einer Kohle, nebst einigen anderen Blättern von vorzüg¬ lich verstandener Architektur. Er machte noch einen Altar für diesen König, in Holz geschnitzt, darin einige Propheten. Und ähnlich in Thon, um sie in Marmor auszuführen, eine sehr schöne Schlacht, darstellend den Kampf, den derselbe König mit den Mauren hatte, welche von ihm besiegt wurden; ein Werk, wilder und schreck¬ licher als eines von der Hand des Andrea, durch die Bewegung und verschiedene Stellung der Pferde, durch das Durcheinander der Toten und die rasende Wut der Soldaten, ausgesprochen in der Bewegung ihrer Hände. Er machte noch eine Figur von einem St. Marcus, welche ein außerordentliches Werk war. Andrea befliss sich noch, während er bei diesem Könige war, einiger fremdartiger und schwieriger Architekturwerke nach dem Gebrauche des Landes, um dem König gefällig zu sein, über welche Dinge ich noch ein Buch auf dem Monte

Sansovino sah bei seinen Erben, welche sagen, dass es heute in den Händen Meister Girolamo Lombardo’s sei, welchen er zu seinem Schüler machte, und welchem, wie man sagt, einige angefangene Werke Andrea’s zur Vollendung blieben. Nachdem jener neun Jahre in Portugal gewesen war, da ihm dieser Dienst lästig wurde und er in Toskana die Verwandten und Freunde wieder zu sehen wünschte, nachdem er sich eine gute Summe Geldes zurück erworben hatte, kehrte er mit gutem Dank des Königs nach Hause.

In dem geschichtlichen Überblick des ersten Bandes seiner Geschichte der Renaissance in Portugal meint Haupt, der Palast mit vier Türmen, den Sansovino für den König Dom Manuel erbaut habe, könne in Lissabon am Hafen in der Mitte der Stadt, auf dem Terreno do pago, gelegen haben, wo ihn die gewaltige Flut des Tajo bei dem Erdbeben im Jahre 1755 mit weggespült haben müsste. Auf der dem Haupt’schen Werke beigefügten Abbildung von Lissabon vor dem Erdbeben von 1755 mit dem Terreno do pago, dem heutigen Prago do com- mercio, der als Mittelpunkt der Stadt am Hafen in der Zeit vor dem Erdbeben einen glänzenden Anblick ge¬ boten haben muss, sieht man wohl eine Reihe von an¬ einander gebauten Palastfronten verschiedener Art, die mit dem prächtigen Torreaö do pago da Ribeira, einem der glänzendsten Bauten Terzi’s für Philipp II., ab¬ schließen. Ein Palast aber mit vier Türmen in der von Sansovino angewandten Renaissance, der, einer solchen Anlage nach zu schließen, frei stehen müsste, lässt sich nicht erkennen. Später sagt Haupt im zweiten Bande seiner Baugeschichte Portugals, bei Gelegenheit der Besprechung der Baudenkmäler Alemtejos, von dem Kastell von Alvito, zwischen Evora und Beja: „Erst lange, nachdem ich das Land verlassen, ist mir klar ge¬ worden, dass wir in diesem Schlosse das von Andrea Contuzzi Sansovino erbaute, von Vasari erwähnte zu sehen haben. Was dieser erzählt, passt genau hierher, und der quadratische Arkadenhof ist etwas in Portugal ganz Unerhörtes, in Italien von jeher die Regel. Das Schloss ist stark umgebaut, insbesondere unter Johann III. Hoffentlich ergiebt die nähere Untersuchung des Schlosses

EIN PALAST ANDREA SANSOVINO’S IN PORTUGAL.

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später noch eines oder das andere von hinreichender Bedeutung für die Erkenntnis der Thätigkeit Andrea’s liier im Lande. Insbesondere wäre nach der durch ihn bewirkten Ausmalung des Schlosses (s. oben bei Vasari) zu forschen.“

Wie sich aus den damaligen Verhältnissen Portu¬ gals ergiebt, gruppiren sich die wichtigsten Schöpfungen seiner Baukunst zunächst um die Hauptstadt Lissabon, und es ist kaum anzunehmen, D. Manuel habe in dem entlegenen Alemtejo, dessen Bewohner den Portugiesen von jeher als eine Art Hinterwäldler galten, eineu der¬ artig prächtigen Palast durch den berühmten italienischen Architekten aufführen lassen.

Vielmehr sehe ich den fraglichen Palast Andrea Sansovino’s in dem Palagio da Bacaihoa des Städtchens Azeitaö in Ribatejo, auf den ich die Aufmerksamkeit lenken möchte und der in mäßiger Entfernung, gleich¬ sam im Angesicht von Lissabon, inmitten herrlicher Gärten an sanftansteigendem Höhenzug gelegen ist.

Dieses interessante Bauwerk, halb Stadtpalast, hall* Villa, trägt mit seinen Loggien und Arkaden die un¬ verfälschten edlen Formen italienischer Renaissance, wie ich sie in gleicher Weise an keinem andern in Portugal wahrgenommen. Ein Stück in dies Land ver¬ pflanzter florentinisclier Kunst tritt uns hier durchaus unvermittelt entgegen, das nichts von dem malerisch phantastischen Charakter jener eigenartigen portugie¬ sischen Frührenaissance, demEmmanuelinisclien Stil an sich hat. Lediglich die vier mit Kuppeln gedeckten Eck¬ türme, die zum Teil Treppenanlagen enthalten, sind als Zugeständnisse des Meisters an den „Gebrauch des Lan¬ des“ zu betrachten und bilden einen Übergang dazu. Auch die Wirkuug der im Lande allgemein üblichen Bekleidung der Wände mit farbigen Fayenceplatten, Azulejos, die in ihrer Dauerhaftigkeit zu farbiger monumentaler Dekoration sich vorzüglich eignen, sehen wir den Meister sich zu Nutze machen, z. B. in der farbigen Umrahmung der rechtwinklig geschlossenen, mit krönender Gesimsplatte abgedeckten Fenster der Nordseite. Die übereinander gestellten Loggien dieser Seite sind durch Arkaden ge¬ öffnet, von denen die unteren auf vier Pfeilern, die oberen auf sieben dorischen Säulen mit gemeinsamem Stylobat ruhen; zwischen den Bögen Medaillons mit vorzüglich gearbeiteten Köpfen in Hochrelief. Die ursprünglichen zum Wandschmuck des Innern verwendeten Fayence¬ platten tragen in Form- und Farbengebung den aus¬ gesprochenen Charakter des Ornamentes der italienischen Frührenaissance. ') Die Malereien im Innern an den Decken erschienen mir erneuert. Augenscheinlich später in die Wände eingelassen sind die figürlichen Darstel-

1) Einige dieser Platten mit ihrem Fries finden sich im Kunstgewerbeblatt, fünfter Band, erstes Heft, Oktober 1893 in meinem Artikel über portugiesische Fayenceplatten ab¬ gebildet.

Zeitschrift für bildende Kunst. N. F. VII. H. 12.

hingen der vier Flüsse Mondego, Wilo, Tanubio und Douro mit ihrer Cartouchenumralnnung in der nach Westen und dem Garten zu hinausgehenden Loggia.

Mit Sicherheit ist anzunehmen, dass der Bau, wie er heute in seinen hauptsächlichsten Teilen mit Aus¬ nahme der Ostfassade vor uns steht, durch D. Brites aufgeführt wurde, die Tochter des Infanten D. Joaö und Gemahlin des Infanten D. Fernando. Die quinta (den Land¬ sitz), auf welcher sich der Palast erhebt, besaß sie viele Jahre hindurch und zwar während die Blüte der ita¬ lienischen Kunst ihren Höhepunkt erreichte, und diese wurde damals mit solcher Aufmerksamkeit verfolgt, dass selbst König D. Joaö II. von Portugal sich um Leute nach Italien zur Wiederherstellung der Kunst in seinem Lande wandte. Zudem war D. Brites eine feingebildete, für Kunst begeisterte Dame, die über große Reichtümer verfügte und an dem prachtliebenden Hofe lebte, an dem der künstlerischen Bewegung Italiens so hohe Beachtung geschenkt wurde.

Die östliche Fassade wurde zu ihrer jetzigen Ge¬ stalt durch Affonso de Albuquerque filho umgeschaffen, wie die über dem dortigen Portal befindliche Inschrift be¬ sagt. „Affonso de Albuquerque, filho do grande ven- cedor dos indios; edificon ein 1554, reinando Joaö III.“ Wäre dies das Datum für die Errichtung des gesamten Baues, würde auch der übrige Teil unbedingt den Cha¬ rakter der Hochrenaissance tragen, die um die Mitte des Jahrhunderts bereits im ganzen Lande zur Herrschaft gelangt war. Auch kann Albuquerque ihn nicht gut im Jahre 1526, als er den Grundbesitz erwarb, errichtet haben, da sich dann jedenfalls einzelne, wenn auch nur leise Mauuelinische Anklänge finden müssten. Hier einiges über die Besitzer der quinta. Sie gehörte 15 Jahre dem Infanten D. Joaö, mestre de Sant’ Jago, von 1427 bis zu seinem Tode 1442. Von ihm ging sie auf seine Tochter D. Brites über, Gemahlin des Infanten D. Fernando, Bruder des Königs D. Affonso V., welche sie 64 Jahre hindurch besaß, vom Lebensende ihres Vaters an bis 1506, dem Jahre ihres Todes.

König D. Joaö II. bestätigte ihr diesen Besitz von Cintra aus am 7. Dezember 1485 und König D. Manuel von Alcochete aus am 24. Juli 1496, so dass D. Brites, Schwiegermutter des ersten und Mutter des zweiten, sich als die Eigentümerin der quinta betrachten konnte!

Am 20. Juni 1495 hatte ihr König D. Manuel, in dem benachbarten Setubal, einen Privilegienbrief für ihre quinta und Güter in Azeitaö gegeben, dessen Privilegien sich auf alle ihre Pächter, Feldarbeiter, Mieter der Gärten, Wein- und Olkelterer, Haushofmeister und Schreiber, die sich in der quinta befanden, ausdelmten.

Im Jahre 1500 bestimmte D. Brites im Heirats¬ kontrakt ihres Enkels, des Condestavel D. Affonso, Sohnes des Herzogs von Vizen mit D. Joanna de Noronha, Schwester des zweiten Marquis von Villa Real, die Güter, welche durch ihren Tod auf den Enkel übergehen würden.

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DIE BRONZETHÜREN DER DREIEINIGKEITSKIRCHE ZU NEW YORK.

Dieser starb jedoch 1504, noch zu Lebzeiten der Infantin, seiner Großmutter, und die Besitzungen, zu welchen die quinta von Azeitaö mit allem Zubehör gehörte, lielen D. Brites de Lara zu, der Tochter des Condestavel, ge¬ boren 1502. Diese dürfte es schwerlich gewesen sein, die den Palast erbaute, denn sie legte so wenig Wert auf ihr Majoratserbe in Azeitaö, dass sie es 1528 an Affonso de Albuquerque , den Sohn, für 4000 Cruzados in Gold verkaufte.

Bezüglich des Namens der quinta ist bemerkens¬ wert dass die Infantin D. Brites ihren Besitz in Azeitaö, den wir des leichteren Verständnisses halber mit dem noch heute gebräuchlichen da Bacalhöa bezeichnet haben,

den Namen Villa Fresca gab. Sie mochte hierzu wohl durch das reichlich vorhandene Wasser veranlasst sein, sowie durch die Lage am Abhang der Berge nach Norden zu, welche die quinta den erfrischenden Nordbriseu nach des Tages verschmachtender Sonnenglut aussetzt. ')

Erst später ward sie quinta do Bacalhäo genannt nach ihrem nachmaligen Besitzer D. Jeronymo Manuel genannt o Bacalhäo und darauf quinta da Bacalhöa.

1) Azeitaö bildete in der Glanzepocbe des Landes die Sommerfrische der portugiesischen Großen und war einst für Lissabon, was heute Cintra ist.

THEODOR RÜG GE.

DIE BRONZETHÜREN

DER DREIEINIGKEITSKIRCHE ZU NEW YORK.

VON CLARA REGE.

MIT ABBILDUNGEN.

N New York herrscht über die neuen Bronzethtiren der Dreieinigkeitskirche, die Leistung des jungen österreichischen Bild¬ hauers Karl Bitter, der so rasch zu Ruhm und Ehren gelangt ist, nur eine Stimme des Lobes. DieThiirender Trinity church“ sind eine Stiftung der Astors und werden „the Astor memorial doors“ genannt. Der Architekt IC M- Hunt , gewiss der bedeutendste der New Yorker Architekten, und die drei Bildhauer Massey Rhind , Charles II. Niehaus und Karl Bitter haben gemeinsam das großartige Kunst¬ werk hergestellt. Die beiden schmalen Seitentliüren sind von den beiden erstgenannten Bildhauern ausgeschmückt worden, die eine mit Scenen aus der amerikanischen Geschichte, die andere mit solchen aus der Bibel. Schon längere Zeit zieren sie die Seiteneingänge der Trinity clmrch am Broadway. Noch immer aber harrte das Haupt¬ portal des Künstlers, der berufen sein sollte, dies Meister¬ stück zu vollenden. Der Entwurf des jungen Bitter, dessen Talent hier so viel Sympathieen besitzt, trug schließlich unter den Konkurrenzarbeiten den Sieg davon. Glück¬ licherweise hatte auch Architekt Hunt in ihm eine ihm kongeniale Kraft erkannt, und so haben die beiden, der alte imd der junge Meister, sich vereinigt zu diesem, wie auch zu manchem anderen Werke. Bei den „Astor doors“ entfällt natürlich auf die Bildhauerarbeit der Hauptanteil, aber darüber darf die schöne und stilvolle Umrahmung und Einteilung nicht vergessen werden.

Karl Bitter’s Werk stellt die Eröffnung der Himmels- thore durch Christus dar, ein sehr schönes Motiv für

ein Kirchenportal. Das vier Fuß hohe Tympanon ober¬ halb des Portals zeigt Christus, welcher mit erhobenen Armen den Eingang zum himmlischen Königtum weist. Zu seiner rechten und linken Seite befinden sich Engel und gerade über ihm in Nischen die zwölf Apostel. Die Thiiren selbst sind in sechs Felder eingeteilt, welche in Reliefs die verschiedenen Zeitalter darstellen. Das erste Feld zeigt die Vertreibung Adam’s und Eva’s, das zweite Jakobs Traum, dann folgen die Verkündigung, die Auferstehung, eine Scene aus der Apokalypse des heiligen Johannes die 24 Ältesten den Herrn preisend und auf dem sechsten ist in lebendigster Weise das Ende der Welt dargestellt. Oberhalb und unterhalb dieser Felder befinden sich allegorische Figuren, bezugnehmend auf die heilige Geschichte: Tod und Sünde, Zeit und Ewigkeit, die göttliche Gerechtigkeit. An den Seiten der sechs Felder sind sechzehn Nischen, welche mit Figuren von Heiligen ausgefüllt werden. Dazwischen sehen die Köpfe hervorragender New Yorker heraus, und man er¬ kennt darunter den würdigen Kopf des Architekten Hunt, sowie Karl Bitter’s energisch-jugendliches Angesicht von echt Wienerischem Typus.

Nunmehr ist dies großartige Bildwerk von der Henry Bonnard’schen Bronzegießerei gegossen worden, schmückt seinen Bestimmungsort, die „Trinity clmrch“ und rückt unsere Stadt wieder ein Stück den Kultur¬ stätten der alten Welt näher. In diesem Sinne ist das große Talent und die große Beliebtheit Bitter’s hier doppelt zu begrüßen. Sein praktischer Sinn, mit dem er seine gigantische monumentale Kunst den Forderungen

DIE BRONZETHUREN DER DREIEINIGKEITSKIRCHE ZU NEW YORK.

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der Zeit anzupassen weiß, denn er hat nicht nur Kirchen, sondern auch Bahnhöfe und Wohnpaläste aus¬ geschmückt, scheint die Brücke bauen zu helfen vom Nützlichen zum Schönen, deren man hier so sehr bedarf. Ein Künstler, der wie Bitter mit dem idealen Schwünge einer Michelangelesken Phantasie die richtige Empfindung für das modern pulsirende Leben und ein gemütliches Wiener Temperament verbindet, das ihm die Herzen der Yankees im Sturme eroberte, erscheint hiezu be¬ sonders berufen.

vorzüglichste Landschaftsmaler New Yorks, der Einladung zu folgen, weil sich in Vanderbilt’s Galerie nicht ein Bild eines hiesigen Malers befindet. Renouf, der be¬ rühmte Franzose, verkaufte von Paris aus so viel Bilder hierher, dass er endlich beschloss, lieber gleich nach New York zu übersiedeln, aber da war es mit seiner Beliebtheit vorbei. Er wurde ein Einheimischer und ward nicht mehr beachtet; er zog baldigst wieder heim nach Paris.

Einige Kunsthändler haben das Monopol zu „im-

Füllung von der Bronzetliiir der Dreieinigkeitskirche in New York.

Indem nun auch ein Astor und ein Vanderbilt Herrn Karl Bitter zu ihrem „Hofkünstler“ wählten, ist auch die Möglichkeit vorhanden, dass die Spenden jener Mäcene sowie die Ansschmückung ihrer eigenen Paläste wirk¬ lich der Sadt zur Zierde, gereichen, was bisher nur in sehr beschränktem Maße behauptet werden konnte. Zu sehr hat bis jetzt die Unsitte hier regiert, dass jede künstlerische Ausschmückung, sei es nun durch Bild oder Skulptur, von drüben kommen musste, d. h. nicht hier ansässige Künstler wurden bevorzugt.

Als Cornelius Vanderbilt die Eröffnungssoiree in seinem neuen Palast gab, weigerte sich G. Iness, der

portiren“ und ihre hohen Gönner zu beeinflussen, wobei nicht immer nur der künstlerische Standpunkt der ma߬ gebende ist. Auch wir besitzen tüchtige Künstler, Maler und Bildhauer, hier im Lande, obwohl die hiesigen Schulen noch manches zu wünschen übrig lassen. Es sind Anglo- Amerikaner und Deutsch-Amerikaner, die sich mit euro¬ päischen Künstlern messen können. Diese sollten be¬ rücksichtigt werden. Das kann aber in einem Lande, wo es keinen Hof giebt und die Geldaristokraten ma߬ gebend sind, nur durch diese bewirkt werden. Sie sollten die Kunst fördern, ihr weiter helfen und sie direkt aus den Studios heraus in die Öffentlichkeit holen. Unsere

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DIE BRONZETHÜREN DER DREIEINIGKEITSKIRCHE ZU NEW YORK.

hiesigen Künstler haben noch vieles zu lernen, aber es sind bei ihnen nicht nur gute Keime, sondern auch wahr¬ haft tüchtige Kräfte und bedeutende Talente vorhanden, die immer Größeres leisten werden, wenn die Anerkennung und Förderung sie befruchten. Wohl nie würde seihst Karl Bitter , trotz trefflicher Schule und genialem Schwung, heute das vollbringen, was er vollbringt, hätte nicht die Anerkennung den Jüngling, der als ab- solvirter Schüler vor fünf Jahren diese neue Welt be¬ trat, gehoben, begeistert und angespornt. Möge er nun der Pfadfinder sein für Andere, die trotz hoher Begabung

sonders die Architekten und Bildhauer bis zur Antike zurückgegriffen. Nachdem wir einen höchst unerquick¬ lichen Stil, den sogenannten „Kolonialstil“ bekommen, der den griechischen Tempel mit dem amerikanischen „Farmer- house“ zu verbinden sich bestrebte und grässliche Miss¬ geburten erzeugte, sind wir in letzter Zeit zu einigen Baiiten von wirklich klassischer Schönheit gelangt, die sich allerdings wie vom Himmel gefallene Sterne unter den anderen Kasten- oder Turmbauten ausnehmen. Eines der vollkommensten, wenn nicht das vollendetste Ge¬ bäude der hiesigen griechischen Aera verspricht das

Füllung von der Bronzethür der Dreieinigkeitsldrche in New York.

nicht jenes glückliche sonnige Temperament und nicht jene eigentümliche Veranlagung besitzen, welche es ihm möglich machten, dass seine Arbeiten sofort gefielen und einschlugen. Das was der Kunst hier so nötig ist, löste er spielend und unbewusst, vielleicht hat er den ..Kernpunkt“ getroffen. Ich will dies etwas näher erklären.

Uns fehlt hier der Einblick in die Vergangenheit und in deren große Kunstepochen. Mit amerikanischer „Frechheit“, möchte ich sagen, ist man nun bereit, diese zu negiren, weil man sie nicht kennt.

Einzelne hervorragende Künstler haben sich teil¬ weise auch mit Erfolg bestrebt, den Klassicismus mit unserni modernen Leben zu verbinden. Es haben be-

Brooklyner Kunstmuseum zu werden. Auch Bildhauer- arbeiten mit dem Stempel wahrer Klassicität besitzen wir, so vor allem diejenigen von Heinrich Bauer, der zugleich tiefes Gemüt in seine Werke legt. Seine neueste Schöpfung ist der „Beethoven“, der den ersten Preis bei dem großartigen nordöstlichen Sängerfest in New York erhielt.

Im Großen und Ganzen ist aber der klassische Zug unserem Volke zu fremd, um befruchtend, die Natur beeinflussend zu wirken. Es blieb daher diese Kunst eine Treibhauspflanze. Ihr gegenüber stellt die andere Richtung, die nur das moderne Leben in Farben aus- driiekt. Vor allem von den Franzosen und speziell den

Bronzetküren der Dreieinigkeitskirehe in New York.

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DIE BRONZETHÜREN DER DREIEINIGKEITSKIRCHE ZU NEW YORK.

Impressionisten beeinflusst, geben unsere modernsten Maler in vielen der krassen Effekte selbst weiter als jene.

Das Bedürfnis nach Leben, „action“, wurzelt jedoch tief in unserer Nation und hat daher auch Berechtigung, in der Kunst seinen Ausdruck zu finden, falls diese der Ausdruck des hohem Lebens ihrer Zeit sein soll. Das Schreien nach „life and action“ ist aber häufig noch un- artikulirt. Hier musste eine Befruchtung durch die große Kunst der Vergangenheit stattfinden, damit man sich be¬ sinnen lernte, welche Momente des Lebens der Kunst würdig sind, und diese müssen wir wiedergeben, um edel und tief und nicht nur oberflächlich und krass zu wirken !

Mir scheint nun, dass Karl Bitter gerade zur rechten Zeit hervorgetreten ist. Seine Kunst fußt auf der Ver¬ gangenheit, aber er knüpft nicht an das griechische Ideal ruhiger Selbstzufriedenheit an, sondern an eine andere, uns näher verwandte Welt, an die bewegte Zeit des Werdens und Kämpfens nach neuen Idealen auf alter Grundlage, an die Zeit der Renaissance. Michelangelo ist sein Ideal. Bitter’s Figuren atmen Leben, und jedes seiner Bildwerke durchflutet Bewegung. Aber die Kon¬ struktion jeder Figur ist streng und korrekt, wenn auch die Stellung noch so lebendig und komplizirt.

Anfangs war man in Künstlerkreisen geneigt, trotz aller Vorzüge, seine Begabung als mehr in der dekora¬ tiven Richtung liegend anzusehen, aber sein neuestes Werk hat gezeigt, dass er vollenden und durchbilden kann, wenn es sich darum handelt, etwas zu schaffen, was der Beschauer in der Nähe und andächtig betrachten soll. Seine vorhergehenden Arbeiten waren hauptsäch¬ lich dazu bestimmt, Bahnhöfen und ähnlichen Gebäuden als Friese zu dienen und mussten, eben diesen Zwecken gemäß, dekorativ gehalten sein, weil der Künstler aus¬ schließlich in der Totalwirkung aus der Ferne das Feld seines Schaffens suchen musste.

Das Portal zur Dreieinigkeits- Kirche, bei dem jedes Feld, jede Figur und jeder Kopf eine lebensvolle, voll¬ endete Kunstschöpfung für sich darstellen, ist ent¬ schieden Karl Bitter’s Hauptwerk bis jetzt denn wie vieles kann der so jugendliche Künstler noch leisten! Die Komposition der Scenen aus der biblischen Geschichte ist höchst gediegen und schwungvoll; das Ganze ist im Genre der Ghiberti’schen Thore des Baptisteriums in Florenz gedacht.

Karl Bitter ist ein richtiges Wiener Kind; er wurde am 6. Dezember 1867 im Bezirke Rudolfsheim geboren. Seine Bildung hat er in Wien genossen. Er besuchte daselbst das Gymnasium, dann drei Jahre die Kunst¬ gewerbeschule des österreichischen Museums und beschloss seine Schulbildung mit dem vierjährigen Besuche der Akademie der bildenden Künste. Seine Lehrer waren Kühne, König und Hellmer. Mit Vorliebe bethätigte der junge Mann sich stets praktisch in seiner Kunst; er verwendete auch ein Jahr auf Steinbildhauerei und

besuchte dann die Ateliers der Bildhauer Düll und Schmidgruber. Professor Weyr schwebte ihm von den Modernen stets als Ideal vor. Er wusste ihm nach¬ zustreben, und dies zeigte sich darin, dass man in Berlin und Braunschweig, wohin er sich nun wendete, sofort eine Ähnlichkeit seiner Arbeiten mit denen jenes bekannten Wiener Bildhauers fand, die für ihn ein¬ nahm. Er arbeitete in Berlin bei Kaffsack und in Braunschweig bei Professor Echtermeyer. Vor sieben Jahren kam er nach New York. Eine größere Firma für dekorative Architektur beschäftigte ihn zuerst. Der Sieg bei der Konkurrenz für die Astor-Memorial- Gates der Trinity cluirch gestaltete sich zum Grundstein für Bitter’s Selbständigkeit. Architekt Hunt, mit dem er, wie schon erwähnt, nun gemeinsam zu arbeiten hatte, fand Gefallen an dem jungen Künstler, mit dem ihm eine gemeinschaftliche Neigung für das Monumentale ver¬ bindet. Bitter’s Wienerisch frisches und fröhliches, jeder Kopfhängerei abholdes Wesen war ihm sympathisch. Es entsprach dem amerikanischen lebhaften Thätigkeits- triebe, war aber frei von der den Amerikanern eigenen nervösen Hast und vielmehr belebt durch jugendfrische und originelle Thatkraft. R. M. Hunt förderte den jungen Künstler, so weit er es vermochte, und ihm ist viel möglich. Für Hunt nun, den berühmten Archi¬ tekten der Millionäre, übernahm Karl Bitter die Aus¬ schmückung ihrer Paläste und verlieh den kostbaren City-houses oder Sommer-Cottages der Geo. Vanderbilt, C. Vanderbilt, Astor und anderen ihre bildnerische Aus¬ schmückung. Dadurch gelangte Bitter’s Name zu raschem Ansehen. Andere Architekten, wie Geo. Post, R. Upholm und Frank Furness, gaben ihm ebenfalls bedeutende Auf¬ träge, und bald wurde seine Thätigkeit eine so umfang¬ reiche, dass er sich gezwungen sah, ein großartiges Atelier zu eröffnen, welches ein ganzes großes Gebäude umfaßt. Zugleich ward ihm Gelegenheit, seinen Freunden und Studiengenossen ebenfalls zu lohnender Arbeit in der neuen Welt zu verhelfen. Er ließ nacheinander 0. Schimkowitz, J. Conti , Jos. Lichtenberg und Max Manch aus Wien kommen, um ihn bei seinen Arbeiten zu unter¬ stützen. Die Weltausstellungsgebäude in Chicago, deren Architekt gleichfalls Hunt war, gaben Bitter Gelegenheit, auch in anderen Teilen der Vereinigten Staaten vorteil¬ haft bekannt zu werden. Bedeutende Arbeiten für Phila¬ delphia folgten, so unter anderem ein 50 Fuß langer Giebel für einen der dortigen Bahnhöfe, die Überwältigung der Pferdekraft durch die Dampfkraft darstellend. Dann schuf Karl Bitter eine Porträtstatue Dr. Pepper’s, eines der berühmtesten Ärzte in Philadelphia. Die Astor- Thüren sind das Bedeutendste und Großartigste, was Karl Bitter bis jetzt geleistet hat, dasjenige, worin er seine Eigenart am vollsten zur Geltung bringen konnte. Er hat dreieinhalb Jahre daran gearbeitet, und sie bilden den Grundstein eines dauernden Ruhmes in der hiesigen Stadt.

KLEINE MITTEILUNGEN.

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Die Thüren sind circa 18 Fuß hoch und 9 Fuß breit. Die Kosten für das Hauptportal und die beiden von den anderen Bildhauern vollendeten Seitenthiiren belaufen sich auf beiläufig 100 000 Dollars.

Karl Bitter gehört den verschiedenen hiesigen Kunst¬ vereinen an und wurde zum Mitglied der National Sculp- ture Society ernannt. Es ist merkwürdig, wie seine Wiener Eigenart sich rasch die Herzen der sonst kühlen Yankees erobert hat. Während die Künstler hier sonst

viel zu wenig in Kontakt mit der hiesigen Gesellschaft kommen, wurde er überall aufs Entgegenkommendste aufgenommen, selbst als er noch kaum einige Worte Englisch sprechen konnte.

Möchte sein Erscheinen auf dem hiesigen Kunst¬ himmel sich wirklich als bahnbrechend erweisen und eine neue Zeit herbeiführen helfen, in der Kunst und Leben in nähere Verbindung treten!

KLEINE MITTEILUNGEN.

Die Kunst- und Geschichts-Denkmäler des Gross¬ herzogtums Mecklenburg- Schwerin. Bd. I. Be¬ arbeitet von Professor Dr. Friedrich Schlie. Schwerin, Bärensprung. 1896. gr. 4°.

Die im Jahre 1887 gegründete Kommission zur Erhaltung der mecklenburgischen Denkmäler übergiebt mit dem vor¬ liegenden Bande der Öffentlichkeit die erste Frucht ihrer Arbeit, und es ist anzuerkennen, dass sie sofort einen vollen Erfolg erzielt hat. Der von ihr erwählte Bearbeiter des ge¬ sammelten Stoffes, der Direktor des Museums in Schwerin, schon lange weit über die Grenzen Deutschlands hinaus als bedeutender Kunstschriftsteller bekannt, verwendet in diesem Bande sein Wissen, das sich von den großen Werken der Architektur bis zu den kleinsten Gebilden des Kunstgewerbes erstreckt, um die in einem Teile seines engern Vaterlandes bisher noch verborgenen Schätze ans Licht zu bringen. Das Buch, ein vorzüglich ausgestatteter Großquartband, behan¬ delt die Denkmäler aus 43 Ortschaften des nordöstlichen Mecklenburg, eingescblossen Rostock, auf 612 Seiten mit 425 Abbildungen; letztere, teils in Lichtdruck, teils in Holz¬ schnitt hergestellt, veranschaulichen meistens den behandelten Gegenstand ausgezeichnet. Es braucht nicht erst hervor¬ gehoben zu werden, dass der Verfasser in seiner gewissen¬ haften Weise keinen Gegenstand bespricht, den er nicht selbst gesehen hat, keinen Ort erwähnt, wo er nicht selbst längere oder kürzere Zeit verweilte. Aber das soll gesagt werden, dass fast immer zur Aufnahme eines Baudenkmals mehrere Reisen nötig gewesen sind, um durch Vergleichen und erneute Prüfung zu erreichen, dass schließlich kein Ornament übersehen wurde, vielmehr sogar die Schlüssel, Siegel, auch die Stadt- und Meisterzeichen einzelner Kelche festgestellt werden konnten. Auch vorhandene Archive wurden durchforscht; denn der Verfasser begnügte sich nicht etwa nur mit Darlegung und Beschreibung der Kunstdenk¬ mäler, sondern gab für jeden behandelten Ort eine Übersicht der Geschichte desselben. Trotz dieses Aufwandes von großem Wissen und peinlichster Beobachtung ist der Band nicht etwa nur für Fachmänner geschrieben, sondern für jeden Kunstlaien verständlich. Das gerade ist ein wesent¬ licher Vorzug des Buches, dass der Verfasser seine Gabe klarer, edler Darstellung ihm zugute kommen ließ. Die Ordnung des Stoffes folgt der Reihe der behandelten Ort¬ schaften. Jede Stadt, jedes Dörflein wird für sich betrachtet, seine Bau- und Kunstwerke werden gesondert vorgeführt und beurteilt, die Kirchen gehen voran, Profanbauten folgen,

Kleinkunstwerke im Privatbesitz und vorgeschichtliche Stellen (Gräber, Wälle u. s. w.) machen den Beschluss. Die Grup- pirung der Orte erfolgt nach Amtsgerichtsbezirken. Was dieses Unternehmen von manchen ähnlichen unterscheidet, ist der Umstand, dass man die Werke der Gegenwart nicht unbedingt von der Aufnahme ausgeschlossen hat, also nicht festgestellt, dass mindestens erst ein Jahrhundert müsse über einen Bau fortgezogen sein, um ihn der ernsten Betrachtung eines Altertümlers würdig zu machen. Durch die Befolgung dieses Grundsatzes ist es allein möglich geworden, Sinn und Verständnis für die ganze Vergangenheit des einzelnen Ortes und schließlich des ganzen Mecklenburg zu erschließen. Dem Nicht-Mecklenburger wird es bei Durchsicht des Bandes sein, als würde ihm ein neues Gebiet, wo Kunst heimisch ist, eröffnet. Nach Fertigstellung des ganzen Werkes wird sich ergeben, dass dasselbe für viele Einzelheiten der Kunst eine Fundgrube sein wird, gleichfalls aber auch der Ge¬ schichte. Kommen doch allein 63 Grabsteine und 24 Kelche zur Abbildung, dazu viele Epitaphien, Altäre, Fünten u. s. w. Zum Schluss mag noch erwähnt werden, dass um die Fertig¬ stellung des Buches die mecklenburgisehe Regierung und der Landtag durch Bewilligung hinreichender Mittel sich große Verdienste erworben haben. So ist es möglich geworden, dass der Preis außerordentlich billig (5 M.) gesetzt werden konnte, während sonst das Vierfache kaum genügen würde. Mecklenburg macht also mit Darreichung dieser Gabe allen Freunden von Kunst und Geschichte geradezu ein Geschenk.

C. B.

Über Nikolaus Knüpfer und einige seiner Ge¬ mälde. Zugleich ein Beitrag zur Elsheimer-Frage. Von Friedrich Schlie. Mit 14 Lichtdruckbildern. Schwerin, Bärensprung. 1896. II u. 32. S. 4°.

In dieser vortrefflich geschriebenen und reich illustrirten Abhandlung unseres gelehrten Landsmannes feiert ein lange Mißachteter, ja fast Vergessener seine wissenschaftliche Auferstehung. Es ist der (1603?) in Leipzig geborene, dann 1630 nach Utrecht gekommene und dort namentlich unter Abraham Bloemaart ausgebildete Meister Nikolaus Knüpfer (f 1660?). Das 17. und 18. Jahrhundert brachte seinen anmutigen und gediegen durchgeführten kleinen Historienbildern eine hohe Schätzung entgegen. In der kunstgeschichtlichen Litteratur des 19. Jahrhunderts da¬ gegen ist er nahezu verschwunden, zum Teil unter den ins hellste Licht getretenen Werken Adam Elsheimer’s, dessen

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KLEINE MITTEILUNGEN.

gefeierter Name heute noch mit Unrecht an einem der besten Bilder Knüpfer’s hängt. Wir meinen die „Jagd nach dem Glück“ (das sogenannte „Contento“, d. i. Verlangen) in der älteren Pinakothek zu München. Schlie weist in diesem Werke Knüpfer’s eine Vorstudie zu der größeren Darstel¬ lung desselben Gegenstandes in der Schweriner Galerie nach, welche letztere Komposition u. a. durch das darauf ange- gebrachte Selbstbildnis des Künstlers beglaubigt ist. In dem 1651 entstandenen Schweriner Bilde steht der Meister auf der Höhe seiner Kunst. Mit der geistvollen Auffassung des Grundgedankens verbindet er nach Schlie’s Urteil eine künst¬ lerische Beherrschung der Massen, eine Tüchtigkeit des Zeichnens und Modellirens in Licht und Luft, eine Feinheit der Farben - Accorde , sowie ein Gefühl für Ton und Schön¬ heit, „dass der Vergleich mit den besten Meistern der Ver¬ gangenheit und Gegenwart gerechtfertigt ist“. Den Ge¬ danken zu den beiden Glücksjagden scheint Knüpfer einem Bilde des Baseler Museums entnommen zu haben, welches nach Schlie’s überzeugender Auseinandersetzung dem Ad. Els- heirner zuzuschreiben ist. Das Baseler „Contento“ stimmt in Gesichtstypen, Eigentümlichkeiten des Kostüms und son¬ stigen Details, namentlich aber in der ganzen Technik der Malerei genau mit dem „Opfer zu Lystra“ von Elskeimer im Städel'schen Institut zu Frankfurt überein. An diese Darlegungen knüpft Schlie die Revision der übrigen, dem Knüpfer zugeschriebenen Bilder und Zeichnungen. Wir verdanken ihm die Aufklärung manches schwer wiegenden Irrtums, welcher bisher die richtige Würdigung Knüpfer’s und seines Verhältnisses zu Elsheimer gestört hatte. Das Gesamturteil über den Ersteren lautet folgendermaßen: „Knüpfer verdankt seine künstlerische Ausbildung und Be¬ deutung den Holländern, dem Bloemaart und dessen Cara- vaggistenschule, sowie dem mächtigen Einfluss der Rem- brandt’schen Werke.“ Aber Knüpfer steht neben den Hol¬ ländern „als ein fremdartiger, nicht immer, aber oft über¬ raschend ansprechenderMeister da, der überall das eingehendste Naturstudium zeigt, die Einzelfigur mit größter Gründlich¬ keit und Gewissenhaftigkeit behandelt und in der Anord¬ nung und Verteilung der Massen sehr viel Geschick und Geschmack verrät“. Wir können mit der Bemerkung schlie¬ ßen, dass dieselben Eigenschaften, welche der Kritiker hier dem Künstler nachrühmt, auch ihn selbst in seiner Arbeit auszeichnen. Die Abhandlung macht in jeder Zeile den Eindruck höchster Gediegenheit und Sicherheit. Sorgfältige Kritik der Quellen, eingehendes vergleichendes Studium der Kunstwerke, analytische und zugleich exegetische Betrach¬ tung: das sind Dinge, welche immer noch viel zu wünschen übrig lassen in der heutigen Kunstwissenschaft. Hier linden wir sie aufs Glücklichste vereinigt und zu den erfreulichsten Resultaten geführt. c. v. L.

K. Kumm, Entwurf einer empirischen Ästhetik. Berlin, 1895. Selbstverlag. 8.

Dass unsere Ästhetik, soll sie überhaupt in der modernen Wissenschaft Beachtung finden, eine empirische werden muss, ist offenbar. Es fehlt nicht an Versuchen, denen sich auch der obige anreiht. Er nennt sich „Entwurf einer empirischen Ästhetik“, würde aber wohl richtiger als „Bei¬ trag“ zu einer solchen zu bezeichnen sein. Kumm geht davon aus, dass gewisse Töne, Formen und Farben Erreger von ästhetischen Lust- und Unlustgefühlen sind. Schon beim Kinde sind neben der Befriedigung des Bedürfnisses nach

Nahrung und Schlaf anders geartete Bedürfnisse vorhanden. Es wird durch Schaukelbewegungen beruhigt und erheitert, also Wirkung der rhythmischen Bewegung, des Rhythmus. Ebenso durch glänzende oder sich bewegende oder auffallend geformte Gegenstände. Also Wirkung von Licht, Farbe, Bewegung, Form. Dabei unterscheidet und bevorzugt es zu¬ nächst keine besonderen Farben oder Farbenfolgen, nur zieht es glänzende den matten Farben vor. Erst später erfolgen solche Bevorzugungen. Dass dieselben aber nicht auf immanenten Tonfolgegesetzen oder farbenharmonischen Gesetzen beruhen, beweisen uns die verschiedenen neben¬ einander bestehenden Tonfolgen. Die griechische Tonleiter erscheint uns heute wenig ansprechend, ebenso die chine¬ sische u. a. Kumm versucht dann eine eingehende Dar¬ legung, wodurch ästhetische Lustgefühle erregt werden. Hierbei erscheint der Rhythmus als wesentliches Element. Um die höchsten Lustgefühle zu erregen, muss aber nach Kumm noch das „ethische Moment“ hinzutreten. Ein voll¬ kommenes Kunstwerk muss zugleich das Wahre und Gute mit dem Formschönen oder Rhythmischen verbunden zeigen. Leider gerät damit Kumm in eine ganz ausgetretene Bahn zurück. Statt seine Untersuchungen über die formalen ästhetischen Lustgefühlerreger fortzuführen, untersucht er die „ethischen Momente“ in den Kunstwerken und wieder¬ holt damit längst Gesagtes. Den „Kreis“ stellt er ohne weiteres als die Linie höchster Lustgefühlerregung hin. Als Ursache nimmt er die bei Betrachtung des Kreises auf¬ tauchenden angenehmen Erinnerungen an Sonne, Mond, Pupille u. a. m. an. Recht gewagt. Nach allem scheint es, als stehe Kumm der ausübenden Kunst zu fern, um über die Natur der rein künstlerisch- formalen Reize, der aus Farbe und Form direkt (ohne associierte Reflexionen) resultirenden Lustgefühle uns Rechenschaft geben zu können. Er hört dort auf zu arbeiten, wo die eigentlich experimentelle Forschung beginnen sollte. Allzusehr tritt dann in den von ihm gewählten Beispielen hervor, dass seine Bekanntschaft mit der lebenden wie mit der historischen Kunst keine sehr intime ist. Für das, was er über die primitive Linear¬ ornamentik vorbringt, würde er wohl mit Nutzen Riegl’s Stilfragen und Grosse’s Anfänge der Kunst zu Rate ziehen können. Baudry’s und Cabanel’s Venusbilder verurteilt er als „unsittlich“, während er Tizian ’s Venusbilder als naiv und neutral ansieht. Neben ganz guten und brauchbaren Be¬ merkungen bringt das Buch viel Abgethanes und Überflüssiges. Es repräsentirt mehr eine Sammlung von Notizen, Anschau¬ ungen und persönlichen Meinungen, als einen abgerundeten „Entwurf einer empirischen Ästhetik“. M. SCH.

ZU DEN KUNSTBLÄTTERN.

Die diesem Hefte beigefügte Heliogravüre giebt die Seitenbilder des Dettmann’schen Triptychons von der „Ar¬ beit“ wieder, und ist als eine Ergänzung der Illustration des Aufsatzes von Dr. Alfred Gotth. Meyer im letzten Hefte an¬ zusehen. Die Flügel des zweiten Triptychons vom Sündenfall werden wir in einem der nächsten Hefte in Radirung veröffent¬ lichen. Die Originalradirung „Große Wäsche“, welche diesem Hefte noch beiliegt, rührt von einem Schüler W. Unger’s her, namens M. CI. Crncic, von dem noch weitere Proben eines tüchtigen Talentes in Aussicht stehen. Im nächsten Hefte werden wir einige biographische Daten über den bisherigen Werdegang des jungen Künstlers zugleich mit einer zweiten Platte von seiner Hand veröffentlichen.

Herausgeber: Carl von Lütxow in Wien. Für die Redaktion verantwortlich: Artur Seemann in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

DIE ARBEIT.

Flügelbilder eines Triptychons.

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