Google

This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct

to make the world's books discoverablc online.

It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject

to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books

are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.

Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the

publisher to a library and finally to you.

Usage guidelines

Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to prcvcnt abuse by commcrcial parties, including placing technical restrictions on automatcd qucrying. We also ask that you:

+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for personal, non-commercial purposes.

+ Refrain from automated querying Do not send aulomated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the use of public domain materials for these purposes and may be able to help.

+ Maintain attributionTht GoogX'S "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct andhclping them lind additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.

+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.

Äbout Google Book Search

Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs discover the world's books while hclping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll icxi of ihis book on the web

at|http : //books . google . com/|

Google

IJber dieses Buch

Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin- nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.

Nu tzungsrichtlinien

Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:

+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.

+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen unter Umständen helfen.

+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.

+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA öffentlich zugänglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.

Über Google Buchsuche

Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen. Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books . google .corül durchsuchen.

O. J-.'. -- •'"; V, V^Wj: v^^^ .' . - 'wt j

I V { t r iir v { f t

ffir

|lfl|l|0l0gtt

|l|lil|uil0lltt Ml %mmx^u.

In Gemeinscliaft mit

H. Anbert(t), S. Exner, H. v. Helmholtz, E. Hering, J. v. Kries, Th. Lipps, G. E. Müller.

W. Preyer, C. Stumpf

herausgegeben von

Bens. Ebbinghans und Arthnr König.

Dritter Band.

Hamburg und Leipzig, Verlag von Leopold Voss.

1892.

- I%1 II -

1

Druck der VerUgianisUlt and Dmckerei Actien-Gesellsehaft (Tormmlt J. F. Richter) in Hamburg.

Inhaltsverzeichnis.

Abhandlnngeii.

Seite H. V. Helmholtz. Versuch, das psychophysische Gesetz auf die

Farbenunterschiede trichromatischer Augen anzuwenden 1

R. Gbeeff. Untersuchungen über binokulares Sehen mit Anwendung

des HERiNoschen Fall Versuchs 21

A. Pick. Bemerkungen zu dem Aufsatze von Dr. Sommer „Zur

Psychologie der Sprache" 48

£. Bbodhun. Über die Empfindlichkeit des grünblinden und des

normalen Auges gegen Farbenänderung im Spektrum 97

H. T. Helmholtz. Kürzeste Linien im Farbensystem 108

Th. Lifps. Die Eaumanschauung und die Augenbewegungen 123

Th. Webtbeim. Eine Beobachtung über das indirekte Sehen 172

G. Sebgi. Über einige Eigentümlichkeiten des Tastsinns 175

K. L. Schäfer. Beiträge zur vergleichenden Psychologie 185

J. Rehmke. Gegenantwort auf die Erwiderung von 0. Flügel 193

J. V. Kbees. Über das absolute Gehör 257

li. Matthiessen. Die zweiten PuBKiNJSschen Bilder im schematischen

und im wirklichen Auge 280

F. Bbektano. Über ein optisches Paradoxon 349

A. Szili. „Flatternde Herzen" 359

F. Hitschmann. Über Begründung einer Blindenpsychologie von

einem Blinden 388

O. Schwarz. Bemerkungen über die von Lipfs und Cobnelius be- sprochene Nachbilderscheinung 398

M. TscHEBNiNG. Beiträge zur Dioptrik des Auges , 429

Th. LiFPS. Optische Streitfragen 493

H. v. Helmholtz. Berichtigung 517

IV Inhaltsverzeichnis.

Litteratarbericht and Besprechangen.

I. Allgemeines.

Seite

W. James. The principles of Psychology 297

F. Ch. Poetter. Psychologie 198

C. Stumpf. Psychologie und Erkenntnistheorie 197

G. Sergi. Psicologia per le scuole con 62 figure 198

Münsterberg. Zur Individualpsychologie 56

Th. Floürnoy. M^taphysique et Psychologie 334

H. Siebeck. Beiträge zur Entstehungs-Geschichte der neueren Psycho- logie 202

J. Jastrow. The psychological Study of Children 200

A. L. Ktm. Über die menschliche Seele, ihre Selbstrealität und

Fortdauer 338

A. Bain. On physiological expression in psychology 55

W. Platt Ball. Are the effects of use and disuse inherited? 58

W. T. Harris Fruitful Lines of Investigation in Psychology 201

G. HiRTH. Aufgaben der Kunstphysiologie 345

A. Hegler. Die Psychologie in Kants Ethik 405

n. Anatomie der nervösen Zentralorgane.

L. Edinger. Bericht über die Leistungen auf dem Gebiete der

Anatomie des Zentralnervensystems im Laufe des Jahres 1890 406

P. Kronthal. Schnitte durch das zentrale Nervensystem des

Menschen 203

J. Gaule. Die Ringbänder der Nervenfaser 204

m. Physiologie der nervösen Zentralorgane.

B. Leyy. Die Regulierung der Blutbewegung im Gehirn 64

H. MüNK. Über die Funktionen der Grofshimrinde 61

G. Fasola. Sülle variazioni termiche cefaliche durante il linguagio

parlato 505

Th. Metnert. Das Zusammenwirken der Gehimteile 59

LuciANi. II cervelletto 341

A. Boboheriki e G. Gallebaki. Süll' attivitä funzionale del Cervel- letto 343

A. SzANA. Beitrag zur Lehre von der Unermüdlichkeit der Nerven 339

H. H. DoNALDSoN. Cerebral Lokalisation 340

V. Uc HERMANN. Drei Fälle von Stummheit (Aphasie) u. s. w 69

Ch. A. Oliver. Ein Fall von intrakranieller Neubildung, lokalisiert

durch okulare Symptome 207

J. Ferguson. The auditory centre 64

Inhaltsverzeichnis, V

Seite A. T. KoRAKTi und J. LöB. Über Störungen der kompensatorischen

und spontanen Bewegungen nach Verletzung des Grofshims. 340 A. GoLDscHSiDER. Über eine Beziehung zwischen Muskelkontraktion

und Leitungsfähigkeit der Nerven 236

Li. £dinqer. Giebt es central entstehende Schmerzen? 218

A. Kraus. Physiologische Mitbewegungen des paretischen obern

Lides 237

IV. Sinnesempflndungen, Allgemeines.

£. JouRDAK. Die Sinne und Sinnesorgane der niederen Tiere 415

N018ZEWSK1. Der Elektrophthalm, ein Apparat zur Wahrnehmung der Lichterscheinungen mittelst des Temperatur- und Lokali- sationsgef ühls 67

V. Physiologisclie nnd psychologische Optik.

6. Kirchhoff. Vorlesungen über mathematische Physik. Zweiter

Band. Mathematische Optik 207

G. Krüss und H. Kbüss. Kolorimetrie und quantitative Spektral- analyse 416

O. Gkbloff. Über die Photographie des Augenhintergrundes 209

M. TscHSRNiNG. Recherches sur la quatriöme image de Purkinje . . . 506 M. TscHERNiNo. Theorie des Images de Purkinje et d^scription

d'une nouvelle image 506

M. TscHEBNiNO. Sur une image k la fois catoptrique et dioptrique de l'oeil humain et une nouvelle m^thode pour determiner la

direction de Taxe optique de Toeil 506

M. TscHBBNiNO. Note sur un changement jusqu'& present inconnu,

que subit le cristallin pendant l'accommodation 506

F. Becker. Über absolute und relative Sehschärfe bei verschiedenen

Formen der Amblyopie 210

K. HooB. Gemeinfafsliche Darstellung der Befraktions- Anomalien. 417 V. FuKALA. Über die Ursache der Verbesserung der Sehschärfe bei

höchstgradig myopisch gewesenen Aphaken 210

£. Javal. M6moires d'ophtalmom^trie annot^s et pr6c6d6s d'une

introduction 416

H. Greeff. Zur Vergleichung der Accommodationsleistung beider

Augen 66

A. Carl. Ein Apparat zur Prüfung der Sehschärfe 209

Schneller. Sehproben zur Bestimmung der Befraktion, Sehschärfe

und Accommodation 417

A. v. WouvERMANs. Farbenlehre 208

£. Hering. Zur Diagnostik der Farbenblindheit 506

C. Hess. Über den Farbensinn bei indirektem Sehen 211

E. Hering. Über die Hypothesen zur Erklärung der peripheren

Farbenblindheit 211

VI Inhaltsverzeichnis.

Seite E. ELering. Berichtigung zur Abhandlung über periphere Farben- blindheit 211

A. FiCK. Zur Theorie des Farbensinnes bei indirektem Sehen 211

E. Hering. Prüfung der sogenannten Farbendreiecke mit Hülfe

des Farbensinnes excentrischer Netzhautstellen 21 1

E. E. Liesegang. Theorien der Farbenempfindung 211

M, V. ViNTscHOAU. Physiologische Analyse eines ungewöhn- lichen Falles partieller Farbenblindheit (Trichromasie des

Spektrums) 214

E. Hering. Die Untersuchung einseitiger Störungen des Farben- sinnes mittelst binokularer Farbengleichungen 507

C. Hess. Untersuchung eines Falles von halbseitiger Farbensinn- störung am linken Auge 509

E. Landolt. Un nouveau cas d^achromatopsie totale 215

F. QuERENGHi. Due casi di acromatopsia totale 215

0. Schirmer. Übep die Giltigkeit des WEBERSchen Gesetzes für den

Lichtsinn 215

A. E. FiCK und A. Gürber. Über Erholung der Netzhaut' 509

E. Hering. Über Ermüdung und Erholung des Sehorgans 509

C. Hess. Über die Tonänderimgen der Spektralfarben durch Er- müdung der Netzhaut mit homogenem Lichte 510

E. LiNDEHANN. Über eine von Prof. Ceraski angedeutete persönliche

Gleichung bei Helligkeitsvergleichungen der Sterne 214

E. Fischer. Gesichtsfeld-Einengung bei traumatischer Neurose 211

G. C. Savaoe. Insufficienz der schrägen Augenmuskeln 216

H. Wilbrand. Die hemianopischen Gesichtsfeld-Formen und das

optische Wahrnehmungszentrum 511

M. Knies. Über die centralen Störungen der willkürlichen Augen- muskeln 204

V. FüKALA. Heilung höchstgradiger Kurzsichtigkeit durch Beseiti- gung der Linse 210

Th. V. Schröder. Die operative Behandlung der hochgradigen

Myopie mittelst Entfernung der Linse 210

C. Dahlkeld. Bilder für stereoskopische Übungen zum Gebrauch

für Schielende 418

VI. Physiologische und psychologische Akustik.

CoRRADi. Über die funktionelle Wichtigkeit der Schnecke 69

Kiesselbach. Stimmgabel und Stimmgabelvcrsuche 68

H. Zwaardkmaker. Der Verlust an hohen Tönen mit zunehmendem

Alter 69

L. Trkitel. Über Diplacusis binauralis 217

Vn. Die übrigen spezifischen Sinnesempfindtingen.

Chr. Leecaard. Über eine Methode zur Bestimmung des Temperatur- sinus am Krankenbett ... 217

Itihaltsverzeichnis. VII

Seite A. Charpextier. Analyse experimentale de quelques elements de la

Sensation de poids 70

P. MicHELSON. Über das Vorhandensein von Geschmacksempfindung

im Kehlkopf 71

Vm. WahmelmLiiiig von Raum, Zeit und Bewegung.

R. Fischer. Gröfsenschätzungen im Gesichtsfeld 418

R. Fischer. Weitere Gröfsenschätzungen im Gesichtsfeld 418

Th. Liipps. Ästhetische Faktoren der Eaumanschauung 219

H. NicHOLs. The psychology of time 72

£. Alix. Le pretendu sens de direction chez les animaux 218

P. Stroobant. Eecherches experimenta,les sur Pequation personelle

dans les obseryations de passage 201

GoxNEsiAT. Sur Pequation personnelle dans los observations de

passages 201

IX. BewuTstsein und UnbewuTstes, Aufmerksamkeit, Schlaf.

H. HöPFDiNG. Die Gesetzmäfsigkeit der psychischen Aktivität 200

H. HöFFDiNG, Psychische und physische Aktivität 512

G. F. Stout. Apperception and the movement of attention 73

Breisacher. Zur Physiologie des Schlafs 207

Y. Delage. Essai sur la th^orie du r^vo 22i)

X. Übung und Association.

BorRDON. Les resultats des theories contemporaines sur Tassociation

des idees 420

NoiszEwsKi. Hypothese über die Entstehung der Gedächtnisspuren

von Seheindrücken und der reflektierten Bewegungen 213

E. W. ScRiPTURE. Über den assoziativen Verlauf der Vorstellungen 222

G. Dumas. L'association des id6es dans les passions 221

XI. Vorstellungen und Yorstellungskompleze.

E. W. ScRiPTüRE. Zur Definition einer Vorstellung 221

PoTosiE, H. Über die Entstehung der Denkformen 73

J. Payot. Comment la Sensation devient ideo 422

Th. Ribot. Enquöte sur les idees generales 225

G. F. Stout. Thought and Language 73

J. DowovAN. The festal origin of human speecli 227

M. Müller. On thought and language 513

G. J. Romanes. Thought and language 513

P. Carus. The continuity of evolution 513

E. W. ScRiPTURE. Vorstellung und Gefühl 222

Vni InhcUtsverzeichnis,

Seite De Lacaze-Duthiers, H. Nouvelles observations sur le langage

des bötes 75

H. K. WoLPB. On the Color-Vocabulary of Children 514

E. W. ScRiPTüRP. Arithmetical prodigies 200

R. Wallaschek. On the origin of Music 233

J. McK. Cattell. On the origin of Music 233

H. Spencer. On the origin of Music 233

J. Mark Baldwik. The coefEcient of extemal reality 228

G. F. Stoüt. Belief 228

Xn. Gefühle.

H. Jl. Marshall. The physical basis of pleasure and pain 344

G. Sorel. Contributions psychophysiques k Tötude 6sth6thique . . . 514

E. Grosse. Ethnologie und Ästhetik 234

Ch. Henry. Harmonies de Formes et de Couleurs 346

Xm. Bewegungen und Handlungen.

A. Bain. Notes on Volition 78

L. Manoutrier- Les aptitudes et les actes 201

B. Perez. Le caractöre et les mouvements 238

G. Hallpry. Salutations par gestes 552

J. DuBoc. Grundrifs einer einheitlichen Trieblehre vom Standpunkt

des Determinismus 239

S. H. HoDOsoN. Free-Will : an Analysis 239

Tanzi. Diffusione sistematica dei reflessi nelP uomo 246

GoLDSCHEiDER. Über Sprachstörungen 77

H. GüTZMANN. Über Mitbewegungen 76

0. Damscu. über Mitbewegungen in symmetrischen Muskeln an

nicht gelähmten Gliedern 236

Ch. E. Beevor. On some points in the action of muscles 235

XIV. Neuro- nnd Psychopathologie.

W. Prkyer. Der Hypnotismus 515

M. Debsoir. Experimentelle Pathopsychologie 57

F. De-Sarlo. L'attivit& psichica incosciente in Patologia mentale . 423

A. Bertraxd. Un precurseur de Thypnotisme 515

VAN Deyenter. Die Rolle der Suggestion in wachem Zustande, vom

forensischen Standpunkte aus beleuchtet 232

LoMBRoso. Inchiesta suUa trasmissione del pensiero 75

V. ScHRENCK-NoTziNO. Die Bedeutung narkotischer Mittel für den Hypnotismus mit besonderer Berücksichtigung des indischen

Hanfs 85

J. Mark Baldwin. Suggestion in infancy 232

Holst. Die Behandlung der Hysterie, der Neurasthenie und ähn- licher allgemeiner funktioneller Neurosen 245

Levillain. Hygiene des gens nerveux 245

Inhaltsverzeichnis. IX

Seite V. Maonav. Psychiatrisclie Vorlesungen. (I. Heft). Über das „delire chronique k Evolution syst^matique (Paranoia chro- nica mit systematischer Entwickelung oder Paranoia com-

pleta) 243

Koch. Die psychopathischen Minderwertigkeiten 78

P. SoLLiER. Psychologie de Tldiot et de Tlmbecile 240

P. SoLLiBR. Der Idiot und der Imbecille. Eine psychologische

Studie 240

J. MlcPHSBsoK. Mania and Melancholia 249

Chr. Ufer. Geistesstörungen in der Schule 244

IL Manaci^ne. Le surmenage mental dans la civilisation moderne.

Effets, causes, rem^des 347

A. liEPPMANV. Die Sachverständigenthätigkeit bei Seelenstörungen 86

£. Mendel. Zurechnungsfähigkeit 87

U. Stefani. Contributo allo studio delP ansia neurastenica 247

Mebcklin. Über die Beziehungen der Zwangsvorstellungen zur

Paranoia 247

O. Klinke. Über Zwangsreden 249

TOK Frankl-Hochwart. Über den Verlust des musikalischen Aus- drucksvermögens 230

J. Boedecker. Ein forensischer Fall von induciertem Irresein 252

P. B. Observations d^hallucinations individuelles et coUectives 233

li. Stern. Über das Verhältnis des Körpergewichts zu einer Anzahl

von Psychosen 84

Janbt. Etüde sur un cas d'aboulie et d'id^es fixes 82

ZV. Socialpsychologie. Sittlichkeit und Verbrechen.

LiOMBRoso. Tatto e tipo degenerativo in donne normali, criminali

ed alienate 71

Sighsle. La foUa delinquente 253

O. Snell. Hexenprozesse und Geistesstörung 425

Delbrück. Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen

Schwindler 81

A. Mac Donald. Ethics as applied to criminology 253

Hamenregister 518

(Durch ein Venehen sind bei der Paginlernnff die Seiten 89—96 ausgelauen worden.)

Versuch, das psychophysische Gesetz auf die Farbenuntersehiede triehromatischer Augen

anzuwenden.

Von

H. V. Helmholtz.

(Mit 2 Figuren.)

Ich habe im zweiten Bande dieser Zeitschrift* versucht, eine erweiterte Form des psychophysischen Gesetzes anzugeben, in der es auf Mannigfaltigkeiten von mehr als einer Dimension anwendbar erscheint. Eine solche liegt im Farbensystem vor, indem die messende Bestimmung der Art einer Farbenempfin- dung bei dichromatischen Augen durch zwei unabhängige Variable, bei den häufiger vorkommenden trichromatischen Augen sogar erst durch drei Variable zu gewinnen ist. In dem bezeichneten Aufsatze sind die Folgerungen, welche aus der Hypothese fliefsen, mit den Beobachtungsthatsachen zunächst nur so weit verglichen worden, als sie sich auf die Bestim- mungen der kleinsten wahrnehmbaren Helligkeitsunterschiede bei verschiedenen Farben und auf die kleinsten wahrnehmbaren Farbenunterschiede für ein dichromatisches Auge beziehen. Die Rechnung für ein solches Auge ist natürUch viel einfacher, wenigstens, wenn man dabei die gewöhnlich bisher gemachte Annahme zu Grunde legt, dafs darin eine der Grundempfin- dungen der Trichromaten überhaupt nicht zu Stande kommt, sondern gänzlich fehlt. Die auf diese Annahme und unsere oben bezeichnete Hypothese gegründete Rechnung stimmte nicht gerade besonders genau mit den Beobachtungen überein, aber doch immerhin genügend, dafs man die stehenbleibenden Differenzen sich aus den Ungenauigkeiten der ursprünglich

* H. V. Helmholtz: Vergeh eifur erweiterten Anwendung des Fechn er- sehen Gesetzes im Farbensystem. Diese Zeitschrift Bd. 11, S. 1. 1891.

Zeitschrift fUr Psychologe ni. 1

2 H. t?. HelmhoUz.

zu verschiedenen unabhängigen Zwecken angestellten Beob- achtungen, aus der Unsicherheit der sie ergänzenden Inter- polationsrechnungen und der Unbestimmtheit des angewendeten Helligkeitsgrades erklären konnte.

Nun würde die von mir formulirte hypothetische Erweite- rung des psychophysischen Gesetzes, wenn sie sich durchgängig bewährt, Eines für die Theorie der Farbenempfindungen leisten können, wozu bisher noch gar kein sicherer Anhalt gegeben war, nämlich die Feststellung der wirklichen drei physiologisch, einfachen Farbenempfindungen.

Es ist bekannt, dafs Newtons Farbenmischungsgesetz die ganze Mannigfaltigkeit der möglichen Farbenempfindungen zwar auf drei nebeneinander bestehende Erregungsweisen des Seh- nervenapparates zurückzuführen erlaubt, aber ganz oder fast ganz unbestimmt läfst, welche Farbenempfindungen diesen drei elementaren Erregungen entsprechen. Denken wir uns nach Newtons Regel die Spektralfarben und ihre Mischungen in eine Farbentafel eingetragen, so würden die Orte der drei Grund- farben in der YoüNGschen Theorie nur der einzigen Beschrän- kung unterliegen, dafs das zwischen ihnen construirte Dreieck sämmtliche Spektralfarben in sich fassen mufs; wenn wir dagegen mit Hm. E. Hering negative Erregungswerthe zulassen wollten, würden gar keine Beschränkungen in der Wahl der drei Urempfindungen gegeben sein.

Dieses Problem erschien mir wichtig genug, um seine Lösung, so gut es eben mit den bisher vorliegenden, in vieler Beziehung unzureichenden Beobachtungen angeht^ zu versuchen, auch wenn man nur hoffen durfte, eine vorläufige angenäherte Lösung zu erhalten. Gleichzeitig wird sich ja dabei zeigen müssen, ob auch die Beobachtungen über die Farbenempfind- lichkeit des trichromatischen Auges sich so weit unserer psycho- physischen Hypothese fügen, als es bei den bestehenden Fehler- grenzen der Beobachtungen zu erwarten ist.

In letzterer Beziehung erinnere ich hier zunächst an die zur Zeit noch bestehenden Unzulänglichkeiten der Beobachtungen^ Grofse Genauigkeit ist überhaupt bei allen Messungen der Grenze, wo irgend eine Erscheinung noch wahrnehmbar ist, ehe sie ganz verschwindet, der Eegel nach nicht zu erreichen. Hier handelt es sich um die Wahrnehmung des Farbenunter- schiedes benachbarter Spektralfarben. Dabei, wie in fast allen

Ikis psychophyaische Gesetz u. d. Farhenunter schiede trichromatischer Augen, 3

ähnlichen Fällen, spielen allerlei unkontrollirbare Abänderungen in dem Zustande unserer Nervenapparate und psychischen Thätig- keiten mit, welche sich schlielslich in dem abweichenden Q-ange der Messungsergebnisse zu erkennen geben.

Die Vergleichungen des Farbentons sind zwar in den letzten Messungsreihen der Hm. A. König und E. Brodhün^ zwischen gleich hell erscheinenden Farben durchgeführt worden, und wir darfen wohl annehmen, dafs sie sich zu diesem Zwecke die gün- stigsten Helligkeiten herzustellen gesucht haben. Solche würden in den Gültigkeitsbereich des normalen FBCHNBRschen Gesetzes fallen, wo die wahrnehmbaren Helligkeitsstufen der absoluten Lioltstärke proportional sind. Aber selbst, wenn sie dies für diö sämmtlichen Spektralfarben haben einhalten können, ist es frfitglich, ob nicht Abweichungen von dieser einfachsten Form des FECHNBRschen Gesetzes da eintreten konnten, wo einer oder z^^ei der elementaren Farbeneindrücke in der Gesammtfarbe selir schwach vertreten waren, z. B. bei sehr gesättigten Farben, deren schwache andersfarbige Einmischungen den Farbenunter- sctied bedingen. Hier konnten sich die Abweichungen von dem genannten Gesetz geltend machen, welche bei geringen Helligkeiten eintreten. In der That werden wir Abweichungen dieser Art zwischen Rechnung und Beobachtung begegnen, ^ären Angaben über die absoluten Lichtstärken der ver- glicHenen farbigen Felder gegeben worden, so würden wir die ^^^ dem genannten Umstand bedingte gröfsere Unempfindlich- keit gegen die betreffenden Farbenunterschiede berechnen ^örxxien ; sehr grofs können allerdings diese Abweichungen unter Qen Verhältnissen des Farbendreiecks, die wir finden werden^ ^^^Ixt sein, da fast alle Spektralfarben sich als stark gemischt *^^ den Grundfarben ergeben werden.

Die Zahlenwerthe, welche die thatsächliche Unterlage für ^]^ bezeichnete Rechnung büden, sind bei verschiedenen, von ®^^^jider unabhängigen Untersuchungen gewonnen worden, die ^^^^e Rücksicht auf den gegenwärtig vorliegenden Zweck durch- ß^^f^öhrt wurden. Wäre letzteres der Fall gewesen, so hätten ®^^^Vige Erleichterungen der Rechnung und eine wesentliche Siehe-

~^^ \

* E. Brodhün: VerJiandl der physiol Gesellschaft zu Berlin, 1885—1886. > ^^'^ 17 und 18. Eine ausführlichere Mittheilung über diese Beob- \ ^^«itungsreihen folgt weiter unten auf S. 89 dieses Bandes.

1*

4 E.* V. Helmholtz.

rung ihrer Genauigkeit eintreten können. Namentlich wird die Rechnung erschwert und die Genauigkeit der Ergebnisse be- einträchtigt dadurch, dafs die Bestimmungen der Mischungs- verhältnisse der Farben einerseits und die Bestimmungen der Sehschärfe für Farbenunterschiede andererseits nicht durchgängig für dieselben Wellenlängen gemacht sind, so dafs die Zahlen für die Mischungsverhältnisse, die in der Rechnung gebraucht werden, zum Theil schon durch Interpolation gefunden werden mufsten. Vollends konnten die gleichzeitig gebrauchten Werthe der nach den Wellenlängen genommenen Differentialquotienten der Farbenwerthe im Spektrum überhaupt nur durch Inter- polation gefunden werden, und gerade an einigen Stellen, wo diese Differentialquotienten sich sehr schnell ändern, wären engere Intervalle für die Beobachtungen höchst wünschens- werth.

Da die von Hm. A. König gefundenen Zahlen, welche selbst schon die Umrechnung von dem prismatischen Spektrum des Gaslichtes auf das Interferenzspektrum des Sonnenlichtes mit Hülfe einer empirischen Formel erlitten hatten, unverkennbare kleine Unregelmäfsigkeiten der nach ihnen construirten Inten- sitätskurven der Elementarfarben erkennen liefsen, schien es am besten, eine graphische Interpolation zu Grunde zu legen, wie eine solche übrigens der genannte Autor in den von ihm und C. DiETERici veröffentlichten Kurven selbst angewendet hat. Diese Interpolation ist von Hm. Dr. Sell, der den gröfsten Theil der höchst langwierigen Rechnungen durchgeführt hat, gemacht worden, und zwar zu einer Zeit, wo weder er noch ich übersehen konnten, welchen Einflufs auf die erhofften Rechnungsergebnisse die Führung der Kurve haben würde.

Für 18 Wellenlängen lagen ausreichende Beobachtungen vor. Wenn man annehmen durfte, dafs durchgängig die ein- fache erste Form des FECHNERschen Gesetzes als gültig be- trachtet werden durfte, waren sechs Parameter zu suchen, mit deren Hülfe sich für alle diese Wellenlängen nahehin gleiche Werthe für das Maafs der Empfindlichkeit des Auges hätten ergehen müssen. Die Gleichungen, aus denen die Parameter ^funden werden mufsten, waren sechsten Grades nach jedem /von ihnen, also nur durch allmälige Annäherungsrechnungen lösbar. Es liefsen sich jedoch Regeln über den Sinn der Ände- rungen der Werthe der Empfindlichkeit für die einzelnen

D(t8 psychophyskche Gesetz u. d. Farbenunterschiede trichromaUscher Augen. 5

Wellenlängen bei Änderungen der einzelnen Parameter finden, Tv^elche als Leitfaden für die Rechnung dienen konnten.

Die Hechnung konnte schliefslicli überhaupt nur so weit fortgesetzt werden, bis die übrigbleibenden Differenzen zwischen Rechnung und Beobachtung keinen regelmäfsigen Gang mehr erkennen liefsen, oder wenigstens keinen, der sich nicht schon aus den bekannten Abweichungen vom FECHNERschen Gesetze hätte erklären lassen. Die grofse Arbeit, welche es gemacht hätte, die Differenzen durch Rechnung nach der Methode der kleinsten Quadrate noch zu verkleinem, schien mir gegenüber der ungenügenden Genauigkeit der zu Grunde liegenden Be- obachtungen, welche künftig unschwer werden verbessert werden können, nicht gerechtfertigt.

Da diese Untersuchung einen Zusammenhang nachzuweisen sucht zwischen Gröfsen, für die ein solcher bisher durchaus nicht bekannt war, und die, wenn die von uns vorausgesetzte Abhängigkeit oder eine analoge zwischen ihnen nicht bestände, ebensogut im Verhältnisse von 1 : 100 oder 1 : 1000 hätten stehen können, statt einander annähernd gleich zu sein, so wird es immerhin als ein vorläufiges Resultat zu betrachten sein, wenn dieselben, trotz aller besprochenen ungünstigen Verhältnisse, nur im Verhältnifs von 1 : 1,5 von ihrem Mittel- werthe abweichen.

Berechnungsweise. In meinem früheren Aufsatz habe ich die Rechnung nur für das dichromatische Auge durch* geführt. Sie muTs also hier zunächst auf das trichomatisohe Auge erweitert werden.

Ich benutze dieselben Bezeichnungen, wie früher. Es sei wieder dE die Deutlichkeit eines sehr kleinen Unterschiedes einer zusammengesetzten Empfindung, die entsprechenden Deut- lichkeitsgrade der Einzelempfindungen seien dE^^ dE^ und dE^. Ich folge weiter der dort aufgestellten und motivirten Hypo- these, dafs

dE^ = dE,^ + dE^^ -f- dE^^ } 1

sei.

Für die hier durchzuführende Rechnung begnügen wir uns, wie schon bemerkt, mit der einfachsten Form des FECHNER- schen Gesetzes und setzen demnach :

H. V. Hdmholtz.

X

dE,= k.^

y

dE. = k.—

Es ergiebt sich also

-='y(?r+(f)'+(^i' }-

Um die Wahmehmbarkeit der Farbenabstufungen auf die der Helligkeitsabstufungen zurückzuführen, wenden wir diese Gleichung zunächst auf den Fall an, wo nur die Lichtstärken zweier Farben gleicher Quahtät vergUchen werden, also die Intensitäten aller drei Grundfarben in der einen Lichtmenge die in der anderen um einen gleichen Bruchtheü übertreffen. Wir setzen daher

worin e einen kleinen ächten Bruch bezeichnet. Dies ergiebt

dE=k.€,yZ=h.eA,1^20 lg

Der Werth von k ist, wie ich schon in meinem vorigen Aufsatze erwähnt habe, je nach der Methode der Beobachtung verschieden grofs zu nehmen. Ich habe dort schon erwähnt, dafs der aus den Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung hergeleitete theoretische Werth von k bei solchen Beobach- tungen, wo man s als den mittleren Fehler bestimmt hat, 1,8238 mal so grofs zu nehmen ist, als wenn e den kleinsten Fehler bedeutet, den man in 10 Fällen immer noch wahr- nehmen konnte.

Ersteres ist bei Königs und Brodhüns Messungen der Empfindlichkeit für Farbenunterschiede, letzteres bei denen der beiden genannten Beobachter für Helligkeitsstufen ge- schehen.

In einer Arbeit von Hm. Uhthoff^ ist das Verhältniss

* W. Uhthopp, Über die Unterschiedsempfindlichkeit des normalen Auges gegen Farbentöne im Spektrum. Gräfes Archiv. Bd. XXXIV (4). pag. 14.

Das psychophysische Gesetz u. d. Farbenunterachiede trichromaiischer Augen. 7

empirisch bestimmt. Es schwankt zwischen den Werthen 1,25 und 2,44 und beträgt im Mittel 2,025, was mit der theo- retischen Ableitung des Werthes ausreichend stimmt.

Bestimmung ähnlichster Farbenpaare. Wenn wir ein Paar zusammengesetzter Farben haben, von denen die eine die Quanta der Grundfarben x, y, z enthält, die andere die irenig davon verschiedenen {x -f- dx\ {y -f- äy)^ {z -f- dz)^ und die Lichtstärke der ersten Farbe gesteigert werden kann im Ver- hältniss 1 : (1 + «), so dafs ihre Componenten werden

x{\+s), y{\+B), z(\+b),

so ist das Maafs für den Empfindungsunterschied zwischen der zweiten und dritten dieser Farben

dl? _ ldx sx\ Idy sy^ I dz gg\»

Bei veränderlichen Werten von e wird dies ein Minimum, wenn

dx €X dy ey dz sz

H :: r

X y ' z

dx dy dz

o = 2 oder

d.nr. fli£ flj! \

3a

^ cfy^_3^ 1

X y z j

Und wenn wir dem e diesen Werth geben, erhalten wir den Werth des Minimums von dl?

f=M(f-fr+(?-fr+(f-f)T}-

dE

k

V3l\x'dX ydll~^\ydl 2dXl'^\zdX x dXl '

Die X, y, z hängen nun mit den Elementarfarben R, G, F, welche zur Angabe des Farbenwerthes der verschiedenen Spektral- farben von den Hm. A. König und C. Dieterici gebraucht sind, nach Newtons Gesetz durch lineare homogene Gleichungen

8 H, V. HeknhoUz.

zusammen, deren Coefficienten aber zunächst nocli unbekannt sind. Bezeiobnen wir diese Werthe mit

y = a^ . i? -f &j . (? + ^2 . F

so ist zunächst zu bemerken, dafs je einem der Coefficienten in jeder Horizontahreihe ein willkürlicher Werth gegeben

werden kann, da

dx du ^ dz , und x^ y z

ihre Werthe nicht ändern, wenn jeder der Gröfsen x, y, b ein willkürlicher constanter Factor hinzugefügt wird. Sonst ist die Wahl der Coefficienten im Sinne von Yoüngs Theorie nur der einen Beschränkung unterworfen, dafs die Werthe von i?, 6r, F, welche den Spektralfarben angehören, keine negativen Werthe von x^ y, z geben dürfen. Das wird nie der Fall sein können, wenn sämmtliche Coefficienten a, &, c positive Werthe haben. Wenn aber negative Werthe vorkommen, wird man prüfen müssen, ob alle Spektralfarben positive x^ y, z ergeben. Übrigens wird man von jedem System von Coefficienten der [x^ y, z\ was der letzteren Bedingung Genüge leistet, zu anderen der [x^^ y^, z^ übergehen können, indem man setzt

x^=x + fy -\-gz etc.

Wenn die f und g positiv sind, wird auch das neue System für die Spektralfarben keine negativen Werthe ergeben.

Es kommt nun zunächst darauf an, sechs Verhältnisse der Constanten in den Gleichungen 4 so zu bestimmen, dafs die Werthe von dE aus den Gleichungen 3b alle einander möglichst gleich werden. Dann würde nachher der berechnete Grad der Empfindlichkeit zu vergleichen sein mit dem, der für Hellig- keitsunterschiede mittels der Gleichung 3 gefunden ist.

Die Werthe der Constanten, die uns bis jetzt in unseren Berechnungsversuchen am besten zu genügen schienen, waren

X = 0,7964 . R 0,3515 . G -f- 0,555 . F y = 0,2612 . R + 0,3483 . G + 0,3930 . F 0 = 0,250 .JS + 0,125 .(? + 0,625 .F

Ikis psychophysisehe Gesetz u. d, Farbenunterschiede trichromatiscJier Äugen. 9

Die im Folgenden angegebenen Werthe der Diflferential-

quotienten

dB dG dV

dX' dX' dX'

scwie auch einige der Werthe von ü, ö, V wurden, wie oben bemerkt, durch grapliische Interpolation theils gefunden, theils ausgeglichen.

Die dX sind die von König gefundenen mittleren Fehler, welche in je zehn Versuchen, das Spektrometer auf gleiche Farben einzustellen, begangen wurden.

Tafel I. Data für die Bechnung

0

R

G

V

dB dX

dG

dX

dV dX

n

€40fifi

2,66

0,22

0

0,116

0,023

0

2,37 (Mfi

630 r>

3,95

0^

0

- 0,129

-0,044

0

1,35

620 ,

5,35

1,12

0

0,160

0,078

0

0,67

610 «

6,60

2,17

0

0,107

0,123

0

0,55 ,

600 ,

7,51

3,60

0

0,081

0,165

0

0,45 ,

590

8,27

5,48

0

0,067

0,208

0

0,42

580

8,90

7,65

0

-0,055

0,200

0

0,38

570

9,37

9,98

0

0,039

0,199

0

0,51 .,

560

9,56

11,45

0,22

0

0,100

0

0,58

550

9,21

12,00

0,3

+ 0,068

0

0,0138

0,77

540

8,30

11,55

0,49

+ 0,121

+ 0,083

0,0233

0,80

530

6,54

10,36

0,76

+ 0,202

+ 0,139

0,0326

0,77 ,

520

4,62

8,45

1,10

+ 0,171

+ 0,228

0,0400

0,71

510 ,

3,0

5,75

1,55

+ 0,162

+ 0,271

0,0536

0,64

500

1,50

3,32

2,2

+ 0,114

+ 0,168

0,0887

0.35

490 ,

0,78

2,24

3,6

+ 0,051

+ 0,059

-0,208

0,31

480

0,4

1,88

7,9

+ 0,043

+ 0,028

-0,52

0,38 ,

Dies sind die durch die Beobachtungen gegebenen Grund- lagen der Bechnung. Die folgende Tafein. giebt die Ergeb- nisse der Bechnung.

10

H. V. Helmholtz.

Tafel n.

1

Wellen- länge

X

y

z

1 dx x' dl

1 dy y dX

1 dz z'dl

dE

640^/*

2,05

0,73

0,69

0,0413

0,0496

-0,0456

(0,0263)

630

2,98

1,18

1,10

0,0294

0,0402

-0,0346

0,0196

620

3,88

1,70

1,47

0,0261

-0,0391

0,0359

0,0120

610

4,52

2,38

1,92

-0,0094

0,0298

-0,0221

0,0151

600 »

4,75

3,10

2,82

0,0014

-0,0250

0,0175

0,0146

590

4,68

3,95

2,76

4-0,0043

0,0226

- 0,0156

0,0158

580 ,

4,43

4,86

3,18

+ 0,0060

- 0,0171

0,0122

0,0125

570

3,99

5,79

3,59

+ 0,0098

- 0,0136

-0,0097

0,0173

560

3,77

6.43

3,96

+ 0,0093

0,0054

-0,0032

0,0125

550

3,31

6,47

3,99

+ 0,0142

+ 0,0017

+ 0,0021

0,0146

540 ,

2,86

6,26

3,82

+ 0,0210

+ 0,0078

+ 0,0064

0,0173

530

2,00

5,51

3,40

+ 0,0469

+ 0,0155

+ 0,0140

(0,0389)

520 ,

1,37

4,51

2,90

+ 0,0196

+ 0,0300

+ 0,0159

0,0138

510

1,24

3,31

2,44

+ 0,0043

+ 0,0338

+ 0,0167

(0,0253)

500 ,

1,33

2,38

2,16

0,0129

+ 0,0219

-0,0027

0,0169

490

1,83

2,38

2,72

0,0287

0,0202

0,0404

0,0133

480

4,04

3,86

5,27

0,1028

- 0,0726

0,0877

0,0141

Mittel: 0,0176

U

1 -

Fig. 1.

/

•,,^y

T 1 r

640

T \ r

600

T I i I 1 i 1 1 1 1

560 520 480

1

I>a8 psychopkysisehe Gesetz u. d. Farbenunterschiede UichromaUseher Augen, 1 1

Um eine anschauliche Übersicht über die bisher erreichte Übereinstimmung zwischen Beobachtung und Theorie zu geben, liabe ich in Fig. 1 die Werthe des dl dargestellt, wie sie Königs letzte Beobachtungen ergeben haben. Diese sind durch die ausgezogene Curve verbunden. Die punctirte Cnrve dagegen giebt die Werthe von dA, wie sie nach der Theorie sein müTsten, um ein constantes dE bei den gemachten Annahmen über die Grundfarben zu erreichen. Man sieht dafs eine ziemlich ähnlich verlaufende Curve, wie die der beobachteten Werthe, durch die gegebene Theorie erreicht werden kann. Auch würden weitere Verbesserungen der Con- atanten a, 6, c wohl noch merklich bessere Ubereinstmimung haben erreichen lassen, als es bisher gelungen ist. Die auf- fallendste Abweichung ist bei X = 530 fifi^ wo ein einzelner ganz kleiner Werth von dJl, in Fig. 1 mit p bezeichnet (beziehlich grofser Werth von öE)^ mitten zwischen solchen erscheint, die dem dort bestehenden Maximum von dk entsprechen. Es liegt diese Stelle im Grün nahe bei der Linie E und dort mufste ein besonders weites Intervall (von >L = 536jitjit bis 516,5 jw^it) durch Interpolation ausgefüllt werden, wodurch die Werthe der Differentialquotienten an jener Stelle erheblich unsicher werden. Der hier vorliegende jähe Sprung zwischen den drei benach- barten Werthen läfst sich durch keine Combination der Con- stanten a. 6, c beseitigen. Es ist hauptsächlich das Glied

£

1 dx\ X dX

was hier die Abweichung verursacht, und diese wird um so grofser, da x hier einem Minimum ganz nahe ist und das x im Nenner deshalb sehr klein ausfallt.

übrigens könnte es wohl sein, dafs eine der Curven der Farbenwerthe der SpektraLfarben eine Ecke hätte mit plötzlicher Änderung des Differentialquotienten. Unsere Interpolations- rechnungen, die von der Annahme einer continuirlichen Eaiim- mung der Kurven ausgehen, müssen an einer solchen Stelle irre führen.

Sonst ist noch zu bemerken, dafs überall, wo die Licht- starke einer der drei Farben gegen die anderen sehr zurücktritt, die verminderte Empfindlichkeit für die Unterschiedsschwellen ichwachen Lichtes sich geltend macht. Dort wird, wenn nicht

12

H, V. Helmholtz.

gleichzeitig der DifFerentialquotient nach X sehr klein wird, zu erwarten sein, dafs die Empfindlichkeit für die Farben- unterschiede in der Beobachtung sich geringer (ßX dagegen gröfser) zeigen wird, als sie der Theorie nach sein soUte. Das ist also aufser bei der schon angegebenen Stelle zwischen 530 fjbfjb und 510 fjbfi, wo das eingemischte Roth sehr schwach ist, auch für die grüneElementarfarbe am rothen Ende des Spek- trum der Fall, und dem entspricht hier die Abweichung der Curven voneinander, welche Fig. 1 bei 640/a/a zeigt.

Die gefundenen Grundfarben.

Das Verhältnifs der durch unsere Bechnung wenigstens provisorisch gefundenen Grundfarben zu den Spektralfarben macht sich am besten in einem Farbendreieck anschaulich. Ein

solches ist in Fig. 2 construirt. Die Farbenwerthe der neuen Grundfarben sind einander gleich gesetzt und dieselben daher in den Ecken des gleichseitigen Dreiecks x y g ange- bracht, wobei nach den auf S. 8 gegebenen Werthen Weils

Das psyehopkysische Gesetz u. d, Farbenunterschiede irichromaUscher Augen. 13

(nämlich das des Sonnenlichts) im Mittelpunkt des Dreiecks bei W liegt. Die Ciirve R G V entspricht der Eeihe der Spektral- farben. Diese liegen alle ziemlich entfernt von den Ecken des Dreiecks, sind also, wie es schon die oben gegebenen Zahlen- werthe anzeigten, stark gemischt, auch die Endfarben Both imd Violett.

Das spektrale Bot würde nach den auf S. 8 angegebenen Werthen eine weifsliche und ein wenig gelbliche Modifikation der Grundfarbe x sein ; letztere also würde etwa ein höchst ge- sättigtes Carminroth darstellen. Das spektrale Violett wäre eine weifsröthliche Abänderung der Grundfarbe Zy und diese letztere wäre also etwa mit dem ültramarinblau im Farbenton ZQ vergleichen. Beide Farbenbestimmungen stimmten dem- nach mit Hm. E. Herings Vermuthungen. Endlich würde die Gnmdfarbe y im Farbenton der Stelle zwischen X = 540 fifA, und 560/A/iA entsprechen, wo x = z ist; das wäre im gelblichen Grün, und zwar grüner, als die Complementärfarbe des Violett, etwa dem Grün der Vegetation entsprechend.

Die starke Wölbung der Curve bei G entspricht dem spektralen Grün bei Fraunhofers Linie E, Das (G) aufser- halb des Dreiecks bezeichnet das von A. König und C. Dibtbrici ursprünglich als Elementarfarbe für ihre Mischungsversuche ge- wählte Grün 6r. Diese Farbe war übrigens auch schon aufser- halb ihres nach der Analogie der farbenblinden Augen con- struirten Farbendreiecks SR, ®, S gelegen.

Da das spektrale Grün dem Bande des Farbendreiecks verhältnifsmäTsig nahe liegt, bekommt es eine unter den übrigen Farben, die im Farbenton der Mischung zweier Grund- farben entsprechen, ziemlich hervortretende Farbensättigung. Die bei X = 530 (iit, hervortretende Unregelmäfsigkeit der Em- pfindlichkeitskurve fällt gerade in diese starke Krümmung der Farbenkurve im Grün, was die Unsicherheit der dort gemachten Messungen und Interpolationen erklärlich machen mag.

Übrigens zeigt diese Curve an, dafs alle einfachen Farben die sämmtlichen lichtempfindlichen Nervenelemente des tri- chromatischen Auges gleichzeitig und mit nur mäfsigen Intensitätsunterschieden erregen. Wenn wir also diese Er- regungen auf die Anwesenheit dreier photochemisch zu ver- ändernder Substanzen in der Netzhaut hypothetisch zurück- fuhren, so müssen wir schliefsen, dafs diese alle drei nahehin

14 Ä ^' Hehnholtz.

gleiche Grenzen der Lichtempfindlichkeit haben und nur unter- geordnete Abweichungen von mäfsigem Betrage im Gange der photochemischen Wirkung für die verschiedenen Wellenlängen zeigen. Ähnliche Abänderungen durch Zumischung anderer Substanzen, Substitutionen analoger Atomgruppen u. s. w. kommen ja ^auch bei anderen photochemisch veränderlichen Substanzen vor, wie sie in der Photographie gebraucht werden, z. B. bei den verschiedenen Haloidsalzen des Silbers.

Vergleich mit dichromatischen Augen.

Die hier gefundenen Grundfarben stimmen nicht mit denen überein, welche die Hrn. A. König und C. Dibterici aus der Vergleichung farbenblinder Augen mit normalsichtigen hergeleitet haben. Indessen liegt in den Thatsachen hierbei kein noth wendiger Widerspruch. Nur die besondere, von Th. Younö ausgegangene und von den meisten Bearbeitern der Theorie, auch von mir selbst, von E. Hering, A. König und C. Dieterici früher angenommene Erklärungsweise, dafs bei den Dichromaten einfach eine der Grunderregungen des trichromatischen Auges nicht zu Stande komme, tritt in Widerspruch mit dem bezeichneten Ergebnifs. Aber es ist eine allgemeinere Hypothese über das Wesen der Dichromasie möglich, bei welcher die Nothwendig- keit aufhört, dafs die fehlende Farbe eine der Grundfarben sei, und doch die Regel festgehalten wird, dafs alle Farben- paare, welche für das normale trichromatische Auge gleich aussehen, auch för das dichromatische gleich aussehend bleiben.

Um dies durch ein einfaches Beispiel anschaulich zu machen, nehme man an, dafs die Lichteinwirkungen, welche sonst die Empfindung Grün erregen, die grünempfindenden Nerven nicht, wohl aber die roth- und blauempfindenden in bestimmtem festen Verhältnifs erregen. Alle Empfindungen eines solchen Auges würden aus Rot und Blau gemischt erscheinen; es wäre di- chromatisch. Aber die Farben, welche auf der Farbenscheibe in denjenigen Geraden liegen, die durch den Ort der grünen Grundempfindung gezogen werden, werden im Allgemeinen nicht gleich erscheinen, wie es unter der älteren Annahme der FaU sein würde, wo einfach Ausfall der grünen Erregung angenommen wurde. Denn statt der wechselnden Menge des Grün im trichroma- tischen Auge würde hier eine wechselnde Menge einer bestimmten Purpurfarbe zu dem schon vorhandenen, verschieden gemischten

Las ptychophysische Gesetz u. d. Farbenunterschiede trichrotnaiischer Augen. 15

Purpur hinzukommen und diesen in der Mehrzahl der Fälle verändern. In diesem Falle würde in der That der Schnitt- punkt derjenigen Linien des dichromatischen Feldes, welche dichromatisch gleich erscheinende Farben enthalten, aufserhalb des Farbendreiecks jenseits der grünen Ecke desselben hegen müssen.

Dies Verhältnifs bhebe iingeändert, wenn wir hierzu noch

weiter annehmen wollten, dafs jede Erregung des Roth, auch die eben neu angenommene, in bestimmtem Verhältnifs auch die grünempfindenden Nerventheüe erregte, und also eine bestimmte Art Gelb zur Empfindung brächte, und jede Er- regung des Blau ebenso eine bestimmte Art Grünblau. Dann wären sämmtUche Empfindungen eines solchen Auges aus Selb und Grünblau zu mischen, während der Schnittpunkt der dichromatischen Linien gleichen Aussehens dadurch nicht ge- ändert würde.

Allgemeinere Form der Dichromasie.

Bezeichnen wir, wie bisher, mit x, y, z die Farbenwerthe der verschiedenen Lichter für das trichromatische Auge und damit zugleich das Maafs für die ihnen entsprechenden physio- logischen Prozesse im Sehnervenapparat, welche nebeneinander bestehen und sich addiren bei der Erzeugung der Farben- empfindung. Dagegen wollen wir mit J, iy, f die entsprechen- den physiologischen Prozesse im dichromatischen Auge be- zeichnen.

Die erste Regel, die sich aus den Beobachtungen er- geben hat, ist die, dafs farbige Lichter, die den normalen Trichromaten gleich aussehen, es auch für die Dichromaten thun. Also wenn x, y und z gleichen Werth für zwei aus verschie- denen Spektralfarben gemischte Lichter haben, haben für beide auch 5, fi und f gleiche Werthe, d. h. die letzteren Gröfsen sind Funktionen von x, y, z^ und nur von diesen.

Die zweite Regel ist die, dafs Newtons Mischungs- gesetz auch für die Farben des dichromatischen Systems an- wendbar ist, was zu einer Gleichung von der Form fuhrt

woraus folgt, dafs die J, jy, f nur lineare Functionen von x, y, z »ein können, und zwar homogene lineare, da 5 = 1^=^ = 0

16 H, V, HdmkoUz,

sein mufs, wenn x = y = js = 0. Da aber 5, ^, f nur zwei Variable vertreten sollen, so wird zwischen ibren Wertben eine Gleichung stattfinden müssen, die wiederum nur eine lineare sein kann. Wir kommen also zu drei Gleichungen folgender Form:

i = p^x+p^y + p^ K^

il = q^x-\-q^-\-q^ß /

Die Coefficienten p und q dieser letzteren Gleichungen müssen positiv sein, da J und ^ für alle positive Werthe von X, y und e positiv sein müssen. Dagegen mufs einer der Coefficienten der Gleichung 5 nothwendig das entgegengesetzte Vorzeichen von den beiden anderen haben, da 5, iy, C in Th. Yoüngs Theorie nothwendig positive Gröfsen für alle physio- logisch möglichen Farbenempfindungen sein müssen.

Es sei Y dieser Coefficient mit abweichendem Zeichen. Schreiben wir

= a und = 6 ,

Y Y

wo also a und h positiv sind, so ergiebt Gleichung 5

f = af + 6iy }56

Setzen wir weiter

Ci = aj und f 2 = ^n

so können wir die Empfindung J mit der ihr proportionalen ti = aj zusammenfassen in die Empfindung einer Mischfarbe von bestimmter Zusammensetzung ^^ und 5, und ebenso fg = ^V mit fj. Der ganze vorhandene Farbenwerth des dichromatischen Auges erscheint dann als Mischung in veränderlichem Ver- hältnifs von diesen beiden bestimmt zusammengesetzten Farben. Dadurch wäre dann auch das Aussehen der dichromatischen Farben bestimmt.

Um die besprochenen Verhältnisse in einer analytisch geometrischen Darstellung des Farbensystems anschaulich zu machen, verfahren wir am einfachsten,* wenn wir die Werthe

* S. mein Handbuch der Physiologischen Optik, 2. Aufl., S. 336—338.

Las psychophyaiache Gesete u. d. Farbenunterachiede trichromatischer Äugen. 17

der Grundfarben des trichromatischen Systems x, y^ z als rechtwinklige Coordinaten eines die betreffende Farbe ent- haltenden Ponctes gebrauchen. Nach Yoüngs Hypothese, welche nur positive Werthe der physiologisch möglichen Farben- werthe zuläfst, ist dann das System aller Farben in der recht- winkligen positiven Ecke dieses Coordinatensystems angeordnet. Als Farbentafel kann jede Ebene gelten, die die drei positiven Coordinataxen schneidet, z. B. die Ebene

^ + y + ^ = Gofi&i ) 5c,

in der das Farbendreieck ein gleichseitiges wird. Unter diesen Annahmen würde die Gleichung

f = Pi.^+P8.y + Ps.^ = 0 )6

eine Ebene darstellen, die durch den Anfangspunkt der Coor- dinateu (die Spitze der Farbenecke) geht, aber ganz aufser- halb der positiven Ecke liegt, da bei den vorausgesetzten posi- tiven Werthen der Coefficienten jp nothwendig eine oder zwei der Coordinaten negative Werthe haben müssen, um das Trinom zn Null zu machen.

Dasselbe würde gelten für die andere Gleichung

^ = ?i.a? + «2.y + g8.^ = 0 )6a.

Sollen die beiden Gleichungen gleichzeitig gelten, so würde dadurch die Schnittlinie der beiden Ebenen, beziehlich wenn wir die Gleichung der Farbentafel (5c) hinzunehmen, der Punct, wo die Schnittlinie die Farbentafel schneidet, gegeben sein.

Setzen wir dagegen die Gleichung

B.l = A.fi )66

oder

(^1 Aq>^ . X + [Bp^ Aq^).y-\- (Bp, Aq^) . ^ = O) 6c,

80 ist dies wieder Gleichung einer Ebene, und zwar einer

solchen, welche die beiden früher genannten ^ = 0 und 17 = 0

in derselben Schnittlinie schneidet, da diese beiden letzteren Gleichungen zusammen auch 5^ erfüllen.

ZtUMhilft fBr Psycholoi^ie III. t

18 H. V. HelmhoUz.

Die Gleichung 66 aber können wir auch schreiben

und mit Hülfe von Gleichung 5 ergiebt siph dann för die Puncte der Ebene 66 weiter

= a +

d. h., die drei Farbenempfindungen haben in jeder Ebene von der Form 66 constantes Yerhältnifs zu einander. Die ganze Ebene ist gleichfarbig, und alle in einem dichromatischen Farbensystem gleichfarbigen Ebenen gehen durch eine gemeinsame Schnittlinie, die aber nothwendig aufser- halb oder an der Grenze der positiven Farbenecke liegt. In der nach Newton konstruirten Farbentafel schnei- den sich alle gleichfarbigen Linien eines dichroma- tischen Systems in einem Punkte aufserhalb oder an der Grenze des trichromatischen Farbendreiecks.

Zu bemerken ist, dafs in diesem Puncte auch C = 0 werden^ also jede Lichtempfindung fehlen würde, was aber thatsächlich nur dann in Betracht kommt, wenn der Punct an der Grenze oder in einer Ecke des Farbengebietes liegt. Letzteres würde der älteren Annahme über die Natur der Dichromasie ent- sprechen.

In unseren Betrachtungen ist keinerlei Beschränkung für die Lage des Schnittpunctes gegeben. Daher fallt bei dieser Verallgemeinerung der Theorie der Dichromasie auch die Trennung in zwei scharf getrennte Erlassen Grünblinde und Rothblinde weg, welche ja auch den Beobachtungen gegenüber nicht ganz gesichert erschien.

Damit ist auch nachgewiesen, dafs der Mangel an Über- einstimmung zwischen der fehlenden Farbe der dichromatischen Systeme und je einer der von uns gefundenen Grundfarben keinen unlöslichen Widerspruch einschliefst.

Die Messungen der Hm. König und Dietebici haben fiir zwei Klassen von Dichromaten die fehlenden Farben auf die von ihnen gewählten Elementarfarben R, G, V zurückgeführte

Das psychophysische Gesetz u. d, Farbenimterachiede trid^romaUacher Augen. 19

Diejenige Grnndfarbe, welche normale Trichromaten mehr haben als Grünblinde, ist von den beiden Autoren bezeichnet als :

dagegen die andere, welche normale Trichromaten mehr haben als Bothblinde, als

201i— 3G + 2F

« =

19

Wenn wir die oben gefundenen Gleichungen, in denen die Werthe von x, y, z durch ü, G, V ausgedrückt waren, be- nutzen, um die letzteren Gröfsen durch x, y, e auszudrücken, erhalten wir:

R= 1,328 .ir + 2,278 .y 2,611 .z G = 0,5122 . X + 2,8294 . y 1,3249 . z r= 0,4288 . X 1,4771 . y + 2,9094 . z.

Femer die beiden fehlenden Farben

91= 1,434 .:r + 1,797. y 2,132.^ ® = 0,1442 . X + 2,715 . y 1,483 . z.

Da negative Coefficienten anzeigen, dafs die definirten Farben aufserhalb des Farbendreiecks liegen, so ergiebt sich di^s hiermit thatsächlich für die fehlenden Farben beider Klassen von Dichromaten. Die fehlende Farbe der Grünblinden '^rde zwischen den verlängerten Seiten des Farbendreiecks hegen, die sich im Grün schneiden, näher dem vom Both kommenden Schenkel, die der Rothblinden aufserhalb der Koth-Grün-Linie, deren Mitte etwa gegenüber, aber ziemlich entfernt.

^ergleichung der Empfindlichkeit für Helligkeits- unterschiede mit der für Farbenunterschiede. Der kleinste erkennbare Bruchtheil für Helligkeitsunter- schiede bei weifser Beleuchtung in den Beobachtungen von Hrn. A. König unter ähnlichen äufseren Einrichtungen, ähnlicher Gröfse des Gesichtsfeldes u. s. w., wie bei den Farben- "^ergleichungen betrug 0,0173. Die Gleichung (3) ergiebt als- dann

d^Ä^A:. 0,0173. YY

2*

20 B. V. Helmholtz.

Der Werth von h mufs, wie oben bemerkt, bei den Farben- vergleichungsversuchen, in denen die Rechnung vom mittieren Fehler ausgeht, 1 ,8238 mal so grofs genommen werden, als bei den Helligkeitsvergleichungen, bei denen noch eben sichtbare unterschiede gesucht sind. Wir erhalten daher aus den letz- teren, wenn wir den Werth von dE hier auf dasselbe Maafs zurückfuhren wollen, wie es in der obigen Tafel 11 (S. 10) gebraucht ist,

"^"w*^" »■'"'*'■

während der aus den Werthen der Tafel 11 gefundene Mittel-

werth ist

rfJB = 0,0176.

Diese Übereinstimmung kann unter den gegebenen um- ständen wohl als über Erwarten gut bezeichnet werden. Sie entspricht der Voraussetzung, von der wir hier ausgegangen sind, dafs die Wahrnehmung der Farbenunterschiede ursprüng- lich auf der Wahrnehmung von Helligkeitsuntersohieden beruht.

Eine weitere Prüfung des hier aufgestellten Gesetzes wird wohl besser durch direkte Mischung je zweier Spektralfarben in verschiedenem Verhältnisse auszuführen sein, bei denen das Mischungsverhältnifs unmittelbar am Apparat abgelesen werden kann, und bei denen auch mannigfachere Vergleichungen herzustellen sind, als sie zwischen unmittelbar benachbarten Spektralfarben eintreten.

Die Rechnung für das dichromatische Auge wäre ebenfalls mit den hier gefundenen Grundfarben x, y^ e durchzuführen. Indessen läfst die Umformung der Formel schon übersehen, dafs dabei noch eine neue Constante eintritt, über die frei zu verfugen ist, und man wird mit deren Hülfe also jedenfalls eine bessere Übereinstimmung mit der Formel herstellen können, ads mit der kleineren Zahl von Constanten. Die mühsame Rechnung in diesem noch ziemlich provisorischen Zustande unserer Kenntnisse des Gegenstandes durchzuführen, schien mir überflüssig.

(Aus der physikalischen Abteilung des Physiologischen Institutes

zu Berlin.)

Untersuchungen über binokulares Sehen mit Anwendung des HEEiNGSchen Fallversuchs.

Von

Dr. Eichard Greeff,

Assistenzarzt an der kgl. üniversitäts- Augenklinik zu Berlin.

(Mit 8 Abbildnn^n.)

Inhalt.

i 1. Efnleitung und Apparat 8. 21 .

} 2. Tlefenwahnielmiimg bei parallel gestellten und diTergierenden Sehaxen 8. 28.

} 8. In welclier Entfemang ist der Fallyersnch noch möglich? 8. 84.

f 4. Binoknlarsehen bei herabgesetster Sehschärfe eines Anges 8. 41 .

1 5. Binokulares Sehen Schielender 8. 45.

§ 1. Einleitung und Beschreibung des Apparates.

Die LokaUsation und Beurteilung der uns umgebenden Dinge geschieht offenbar durch eine Kombination aus den Netzhautbildem und den Muskelempfindungen unserer Augen. Wir ziehen aus der Gröfse und Beschaffenheit der beiden Netz- hautbUder und dem Spiel der Aufsen- und Binnenmuskeln der Augen einen SchluTs auf die G-röfse, Gestalt und Entfernung des betrachteten Objekts. Diesen SchluTs richtig zu ziehen, lelirt uns erst die Erfahrung; bekanntlich ist ein Blinder, der plötzlich sehend wird, den gröbsten Irrtümern unterworfen.

Auch der Einäugige besitzt ein gewisses körperliches Sehen, ^e uns die tägUche Erfahrung lehrt, er ist z. B. wohl im Stande, eine weilse Scheibe von einer gleich grofsen Kugel zu unterscheiden, jedoch bleibt er in der Beurteilung der Aufisen- ^elt, besonders der Tiefen-Dimensionen oder der Entfernungen vom Auge, gegen den binokular Sehenden weit zurück und wird viel häufiger, als dieser, falsche Schlüsse ziehen. Dem Einäugigen fehlt von den Netzhauteindrücken und von den Muskelempfindungen je ein wichtiger Faktor. Von ersteren ^'itbehrt er die Beurteilung nach den verschiedenen perspekti- ^^chen Netzhautbildem der beiden Augen, von letzteren die ^«Tirteilung nach der Konvergenz der Sehaxen.

22 Eichard Qreeff.

Die Verschmelzung der beiden Netzhautbilder im Ge- hirn mufs erlernt werden, und es scheint, dafs sie in ganzer Vollendung nur in der Jugend erlernt wird (s. unten). Unter Umständen findet diese Verschmelzung der Bilder bei Zwei- äugigen nicht statt; trotzdem dieselben auf beiden Augen scharfe Netzhautbilder empfangen, können dieselben geistig nicht vereinigt werden, es fehlt ihnen der binokulare Sehakt, und sie verhalten sich im körperlichen Sehen wie Einäugige. Die Theorie von der steten Unterdrückung des einen Netz- hautbildes kann als widerlegt betrachtet werden; beide Bilder kommen zum Bewufstsein, wie zu beweisen ist,* können jedoch nicht zu einem geistigen Urteil vereinigt werden.

Das feinste Prüfungsmittel, ein Vorhandensein oder Nichtvor- handensein des binokularen Sehens zu prüfen, ist der sogenannte HjERiNGsche Fallversuch.* Der Apparat ist so beschaffen, dafs er die Muskelbewegungen der Augen so gut wie ganz auszu- schliefsen im stände ist, und er soll dadurch den Beweis bringen, dafs das Wesentliche zur Beurteilung der Tiefen-Dimension die perspektivischen Netzhautbilder ausmachen, eine Ansicht, die schon von dem Erfinder des Stereoskopes , Whkatstonb, aus- gesprochen wurde, gegenüber der Meinung von Brücke und anderen, welche das Hauptgewicht auf die MuskelempfindungöU legten.

Man stellt den Herin Gschen Fallversuch bekanntlich folgender- mafsen an: Durch einen weiten Cylinder aus Pappe von wenigen Zoll Länge blickt man mit beiden Augen auf einen vor- gehaltenen Punkt (eine Nadelspitze oder sonst ein isoliertes Objekt), während ein Gehülfe kleine Kügelchen dicht vor oder hinter dem fixierten Punkte herunterfallen läfst. Man wird sich dann nie darüber täuschen, ob die Kügelchen diesseits oder jenseits des fixierten Punktes gefallen sind , sondern wird sogar im stände sein annähernd anzugeben, in welchem Abstände vom Fixationspunkte sie herabgefallen sind. Bei Verschlufs eines Auges oder bei fehlendem binokularem Sehakt wird man dagegen hierzu nicht im stände sein. Als Fixationspunkt wählt man gewöhnlich eine weifse Perle, die vor der Papp-

* Siehe Schweigoer: Lehrbuch der Augenheilkunde. 5. Aufl. S. 138 u. f.

E. Hering: Die Gesetze der bitiokularen Tiefenwahmehmung. Archiv f, Anat. u. FhysioL, Jahrg. 1865.

Untersuchungen über binokulares Sehen. 23

Töhre in einer Entfernung von ca. 50 cm vom Auge zwischen Drahten an einem von oben nach unten verlaufenden Faden vor einem schwarzen Hintergrund angebracht ist.

G-egen die Exaktheit des HsRiNGschen Fallversuches wurden von DoNDERS und seinen Schülern folgende Einwände erhoben:*

1. Wenn die Kugel nicht dicht vor dem Auge niederfällt, so mufs sie aus einer ansehnlichen Höhe fallen, um während des Falles jede Bewegung der Augen sicher auszuschliefsen.

2. Die scheinbare Schnelligkeit des Falles, die mit der Verminderung der Entfernung vom Auge zunimmt, dürfte eine Andeutung geben.

3. Fixiert man einen Punkt, so bekommt man von anderen vor oder dahinter liegenden Punkten Doppelbilder, und zwar von den davorliegenden Punkten gekreuzte, von den dahinter- liegenden gleichnamige. Das fallende Kügelchen erscheint also in jedem Falle doppelt, und zwar als doppelte senkrechte Linie, jedoch mit dem Unterschiede, dafs diese Linien, vor dem Fixier- punkte gelegen, nach oben zu divergieren scheinen, hinter dem Fixierpunkte gelegen, nach oben zu konvergieren scheinen. Auch aus dieser Thatsache soll sich ein Anhaltspunkt für das Urteil ergeben.

In der That fand DESsfi durch eine grofse Reihe von Ver- suchen, welche im DoNDERSschen Institut angestellt wurden, dals beim Sehen mit nur Einem Auge im HEKiNGschen Apparate die falschen Angaben sich zu den richtigen verhielten, wie 2 : 3, nicht wie nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu ver- langen ist, wie 2 : 2.

Um den nicht fixierten Punkt dem Beobachter nur momentan zu zeigen und eine Bewegung der Augenmuskeln also nach Möglichkeit auszuschliefsen, liefs Donders deshalb im dunklen Räume eine Linie fixieren, welche durch schnell nacheinander zwischen zwei Kupferdrähten überspringende Induktions- fiinkchen gebildet wurden. Vor und hinter dieser Fixationslinie sprangen von Zeit zu Zeit Funken über, deren Abstand vom Fixierpunkte (vor oder hinter demselben) angegeben werden mufste.^

* Van dir Meülen: Stereoskapie bei unvollkommenem Sehen, v. Graefes Archiv, Bd. XrX (1).

" DoKDBRs: Archiv /*. Ophthalm., Bd. XVII und Ibid,, Bd. XIII.

24 Bichard Qreeff,

Hering^ suchte die Einwände von Donders gegen den Fallversuch zu widerlegen und betonte, dafs dieselben praktisch jedenfalls nicht in Betra^cht kämen.

Fufsend auf den Einwänden von Donders wurde jedoch von VAN DER Mbülen ein verbesserter HERiNOscher Fallapparat* konstruiert, ein ziemlich kompliziertes Instrument, welches nach folgenden Grundsätzen gebaut ist: 1. Die Zeit, während welcher die Kügelchen im Gesichtsfeld sind, soll so kurz sein,, dafs Augenbewegungen ausgeschlossen sind; 2. die Kügelchen sollen aus einer solchen Höhe fallen, dafs sie die verschiedenen Höhen-Dimensionen des Gesichtsfeldes bei verschiedenen Ent- fernungen vom Auge in derselben Weise durchlaufen; 3. der Winkel, unter dem die Kügelchen gesehen werden, soll für alle derselbe sein.

Die erste Bedingung wird dadurch erfüllt, dafs die Augen durch ein kleines Kästchen sehen, in dem das Gesichtsfeld durch eine horizontale und vertikale Spalte sehr eingeschränkt wird, um die zweite Bedingung zu erfüllen, ist über dem Apparat eine Kurve angebracht, welche durch Striche die Höhe anzeigt,, in der die Kügelchen in den verschiedenen Entfernungen fallen müssen, um in derselben Weise das Gesichtsfeld zu durchlaufen. Der dritten Forderung wird dadurch genügt, dafs neun verschie- den grolse Kügelchen vorhanden sind, welche von Teilstrichen der oben befindlichen Kurve herabfallen und deren Gröfse der Entfernung entsprechend zu wählen ist.

Dieser wissenschaftlich sehr exakte Apparat hat gegenüber dem einfachen zum Unterricht und zur Untersuchung leicht herzustellenden HsRiNOschen den Fehler, zu kompliziert zu sein *,. femer ist man blofs in kleinen Strecken vor dem Auge im stände, den Versuch anzustellen. So hat sich der Apparat vak DER Meulens auch nicht einzubürgern vermocht.

Die Einwände Donders' sind theoretisch sicher richtig, es fragt sich nur, ob bei der praktischen Ausführung dieselben eine nennenswerte Bedeutung haben, was ja schon von Hering geleugnet wurde.

Sicher reduzieren wir die Fehler auf ein Minimum oder bringen sie thatsächlich zum Verschwinden, wenn wir die

» E. Hbrino: Archiv f, Ophthalm., Bd. XIV, 1. - VAN DBB Meulen: Gfacfes Archiv, Bd. XIX, 1.

nntavuehttttgen über binokularet Sehen.

26

Menden Kugeln einfach dadurch dem Beobachter möglichst hiTze Zeit erscheinen lassen, dafs wir den G-esichtswinkel, nuter welchem dieselben sichtbar sind, mfiglichst klein nehmen, nnd es zeigt die praktische AosfOhrong, dafs derselbe recht klein sein kann.

Femer war es zn meinen Untersuchungen notwendig, den Apparat so einzarichten, daTs er in jeder, auch weiten Ent- fentong vor den Äugen benutzt werden kann, und schliefsUch, dals man die Entfernung, welche die fallenden Kugeln von dem Fixierpunkt haben, nicht vernachlässigt, sondern genau ta bestimmen im stände ist.

unter diesen Gesichtspunkten und in der Absicht, den Apparat möglichst einfach zu lassen, gestaltete sich im Laufe der Untersuchnngen der Apparat folgendermafsen :

Fig. 1.

Der Beobachter sieht durch die gewöhnliche Pappröhre (P) von etwa 30 cm Länge, welche hinten eine Öffnung von etwa 20 cm im Durchmesser hat, so dafs das ganze Gtesicht hinein- geht and welche nach vorne behufs Verkleinerung des Gesichts- feldes enger wird. Das Innere der Bohre ist schwarz. Der Zweck dieser Bohre ist nur, störende Bilder oder Licht von den Augen abzuhalten; sie kann oft, besonders bei weiten Entfernungen , unbeschadet fortgelassen werden. Die Bohre besitzt unten ein Stativ und steht auf einem langen schwarzen Brett (B), auf dem weiter vorne als Fizierpunkt (F) in gleicher Höbe eine kleine weifse Perle oder nach Bedürfnis eine etwas gTölsere Gipskugel sich befindet, die auf der Spitze eines möglichst feinen schwarzen Drahtes befestigt ist. Dieser Punkt ■telt in einem etwa 60 cm langen und 20 cm breiten Kasten {bb}

26 Bichard Greeff.

von geringer Höhe, dessen Boden mit einem dicken schwarzen Tuch bedeckt ist, welches die fallenden Kugehi aufhalten soll. Über dem Kasten baut sich ein Gerüst von 30 cm Höhe auf, dessen Decke (aa) aus einer Pappscheibe besteht, in welche genau im Abstand von je 2 cm runde Löcher von Vs cm im Durchmesser geschlagen sind. Durch diese Löcher werden die Kügelchen fallen gelassen, und man ist so im stände, genau anzugeben, um wie viel vor oder hinter dem Fixierpunkt die Kügelchen fielen, um den G-esichtswinkel , unter dem die fallenden Kugeln erscheinen, berechnen und beliebig vergröfsem oder verkleinem zu können, sind vor dem Kasten zwei schwarze Pappscheiben {c und c^) so angebracht, dafs sie, in Schrauben eingeklemmt, an einem seitlich befindlichen Ständer bequem nach oben und unten verschoben werden können. Endlich ist seitlich und über dem Kasten noch eine Pappwand (d) anzubringen, welche den Zweck hat, die Bewegungen des Gehülfen dem Beobachter zu verdecken. In beliebiger Entfernung hinter dem Apparat mufs ein schwarzer Hintergrund sich befinden (c).

Man wird leicht im stände sein, sich diesen Apparat selbst herzustellen.

Als Lichtquelle wurde meist eine seitlich vom Apparat neben dem Fixierpunkt befindliche Gasflamme benutzt, zur Kontrolle wurde auch Tageslicht und das LiNNEMANNsche Zirkonlicht angewendet.

Dafs dieser Apparat den gestellten Anforderungen genügt, soll ein Beispiel klarlegen: Der Fixationspunkt (eine kleine weifse Perle) befinde sich in 1 m Entfernung von den Augen und 5 cm davor der durch die beiden verschiebbaren Platten gebildete Spalt. Es bedarf alsdann keiner zu grofsen Auf- merksamkeit, um die fallende Kugel deutlich zu sehen, wenn der Spalt 3 cm breit eingestellt wird. Der Fixationspunkt steht in der Mitte zwischen zwei Löchern, in der Decke des Gerüstes, und die Kügelchen fallen in der ersten Beihe der Löcher vor oder hinter dem Fixationspunkt, also je 1 cm von diesem ent- fernt, herab.

Die Entfernung (a) des Spaltes von dem Auge beträgt also 95 cm, die Breite {AB = d) des Spaltes 3 cm, die Entfernung (6) des Weges {CD = x) der vorne fallenden Kugel vom Spalt beträgt 4 cm, die Entfernung {b -\- c) des Weges {EF=y) der hinten fallenden Kugel vom Spalt 6 cm.

üntersu^ihufigen über binokulares Sehen,

27

Es verhält sich nun x :a '\- b = d: a

also ist x=^d ,

a + b

= 3.

95 + 4

a 95

X = 3,126 cm =Weg der vorne fallenden Kugel.

Ebenso verhält sich y:a'{-b-\-c = d:a

also ist y = d . = 3 . rn^

^ a 9o

y = 3,189 cm = Weg der hinten fallenden Kugel.

Es dürfte hieraus ersichtlich sein, dafs der Unterschied in der Länge der Wege der vorne und hinten fallenden Kugel, der also nur 0,063 mm ausmacht, unmöglich beschuldigt werden kami, einen Anhaltspunkt für die Beurteilung der Tiefen- Dimension abzugeben.

Was die Zeit betrifft, in der die beiden Kugeln dem Auge sichtbar werden, so kann man dieselbe, mit Vernachlässigung einer kleinen üngenauigkeit, schon so bestimmen, dafs man die FaDgesch windigkeit auf der Mitte des Weges nach der Formel:

v= V2j~s

berechnet und hierdurch den Weg der fallenden Kugeln (^resp.y) dividiert.

Theoretisch genauer ist folgendes Verfahren: Man berechnet die Zeit bis zum Sichtbarwerden der Kugel und die Zeit bis zum Verschwinden derselben imd substrahiert erstere von letzterer.

Fig. 3,

aaa ist die Decke des Kastens, von

der die Kugeln fallen. Die Kugeln fallen bis zur Höhe des

Fixierpimktes {F) 15 cm herab. 0*

28 Bichard Oreeff.

Also betr&gt:

ab* =15— ix oc' = 15 + i « 05^ = 15-- Jy ac" = 15 + ly

Diese Werte als 8 in die Formel

-y?

eingesetzt, ergeben: für ah\ t = 0,1720 Sek., für ac*, t = 0,1910 Sek. ; also ist die Zeit, in der h'c' durchfallen wird, gleich 0,0190 Sek. = Sichtbarsein der vorne fallenden Kugel; femer für ah**^ ^ = 0,1718 Sek., für ac"^ * = 0,1912 Sek., also wird h" c** durchfallen in 0,0194 Sek. = Sichtbarsein der hinten fallenden Kugel.

Die Zunahme in der Zeit, in der eine hinten faUende Kugel sichtbar bleibt, ist also eine verschwindend Heine und kann selbst bei gröfseren Abständen unmöglich einen Anhalts- punkt gewähren.

Auch ist bei einem Sehen in einer Zeit von noch nicht Vioo Sekunde eine Augenbewegung und eine Accommodation ausgeschlossen.

§ 2. Tiefenwahrnehmung bei parallel gestellten und

divergierenden Sehaxen.

Wenn man der Ansicht ist, dafs die Konvergenz der Seh- axen wesentlich zur Tiefenwahmehmung beiträgt, so mulb sich finden, dafs entweder bei künstlich parallel gestellten Sehaxen oder in einer solchen Entfernung, dafs die einfallenden Strahlen als parallel betrachtet werden dürfen, der HBRiNOsche Versuch nicht mehr möglich ist oder doch wesentlich ungünstiger ausfallt.

Setzt man vor ein Auge ein Prisma mit der Basis nach innen, so erhält man von einem in der Nähe fixierten Punkte gleichnamige Doppelbilder, welche (vorausgesetzt, dafs das Prisma nicht zu stark ist) durch Divergieren des Auges über- wunden werden. Damit nun das Auge bei Fixation des Punktes so weit divergiere, dafs die Sehaxen parallel gestellt sind, mufs ich entweder nach der Entfernung, in welcher der Punkt sich befinden soll, genau die Stärke des Prisma wählen oder, was sich mehr empfiehlt, den Ablenkungswinkel der vorhandenen

Untersuchungen über binokulares Sehen,

29

Prismen bestimmen und danach für jedes Prisma die Entfernung berechnen, in welcher sich der Fixationspunkt bei parallelen Sehaxen befinden muTs.

Fig. 4.

0 und 0' sind die beiden Augen.

p = Pupillardistanz.

F= Fixationspunkt.

^= Entfernung, in welcher der Punkt

bei parallel gestellten Axen sich

befindet. «* = a = Ablenkungswinkel des Prismag^

Ich erhalte somit:

E=

tg a

Man darf sich bei diesen Versuchen nicht mit der Bezeichnung der Prismen nach Graden begnügen und die H&lfte als Ablenkungswinkel rechnen, wie dies für die augen&rztliche Praxis wohl genügt, sondern mnfs genau den Ablenkimgswinkel bestimmen. Nach Professor König empfiehlt sich hierzu, falls man kein Goniometer mit Teilkreis zur Ver- f&gnng hat, folgendes Verfahren : Man sieht durch ein Femrohr mit Faden- kreuz nach einem horizontalen Mafsstab und stellt den vertikalen Faden genau auf einen bestimmten Teilstrich des Mafsstabes ein, den horizontalen Faden so ein, dais er parallel der Kante des Mafsstabes läuft. Bringt man nun ein Prisma vor das Femrohr, so steht der vertikale Faden nicht mehr auf dem vorher notierten Teilstrich, sondern ist entsprechend dem Orad des Prismas um eine Anzahl Striche weitergerückt. Bekanntlich iet aber die Ablenkung eines Prismas verschieden grofs, je nach der Stellung desselben zu seiner vertikalen Axe. Um den Winkel der mini- malen Ablenkung zu erhalten, dreht man das Prisma vor dem Femrohr VD die vertikale Axe und beobachtet am Centimetermafs, dafs das Faden- benz entsprechend verschoben wird. Sobald nun durch diese Drehung die Stellung in der minimalen Ablenkung vorhanden sein wird, mufs ^ weiterem Drehen das Fadenkreuz nach der entgegengesetzten Richtung wandern. Man notiert also die Zahl am Centimetermafs, bei welcher ^^ Wendung des Fadenkreuzes auftritt.

30

Richard Qreeff.

Der horizontale Faden muTs mit einer Kante oder einem Länga- stricli des Mafsstabes zusammenfallen, und das Prisma mufs so gedacht werden, dafs trotz der seitlichen Verschiebung dieses Zusammenfallen bestehen bleibt. Dann steht die brechende Kante des Prismas genau vertikal, und man notiert sich durch zwei Punkte auf dem Prisma die horizontale Axe.

Fig. 5.

p m iiiYiii^ TTTryiniyn

%

«

Ci>

Man erhält sodann den Ablenkungswinkel a des betreffenden Prismas nach der Formel:

V tga = -g, WO

F= Ablenkung, welche der Faden auf dem Centi- metermafs durch das Prisma erleidet.

£= Entfernung des Prismas von dem Centimeter> mafs.

In dem von mir benutzten Brillenkasten ergab sich nach dieser Methode der Ablenkimgswinkel und die dazu gehörige Entfernung, in der der Fixationspunkt bei parallelen Sehaxen sich befinden muTs, für die einzelnen Prismen folgendermafsen : Für Prisma 3: Ablenkungswinkel V 29':

V 56' 2<> 34' 50' 40' 4<» 19' 4<> 50' 4<> 59' 40'

V 26' 8<» 20'

Die Eeihe ist imregelmäfsiger, als man erwarten sollte, und deshalb die Bestimmimg des Ablenkungswinkels bei Prismen nicht überflüssig.

))

n

n

n

n

n

n

n n n n

n n n n

4 5 6 7 8 9

10 12 14 16

»

n n w r>

» n n

n

ixationspu:

akt in 2,78 m

n

« 2,12

»

n 1,60

»

« 1,37

n

, 1,12

rt

, 0,90 ,

»

r, 0,80 ,

n

» 0,76

n

n 0,66 ,

n

r, 0,61

»1

n 0,46

Die Versuche wurden so angestellt, dafs vor das rechte Auge die Prismen mit der Basis nach innen gesetzt worden und der Fixationspunkt mit dem oben beschriebenen Apparate in die dafür berechnete Entfernung geschoben wurde. Als Fixation diente eine kleine weifse Perle und bei weiteren

Untersttdwngen üiber binokulares Sehen.

31

EDtfemongen ein etwas gröfseres Gipskügelchen. Bei den weiteren Entfernungen mufste auch der Abstand der fallenden Engeln vom Fixationspunkt etwas grpfser als 1 cm genommen werden (s. u.). Die öfinung der Spalte im Apparate, die sich immer 5 cm vor dem Fixationspunkte befand, betrug stets 3 cm.

Als Resultat ergab sich, dafs in jeder Entfernung ebenso richtig die Tiefenwahmehmung gemacht wurde, wenn mit onbewafineten Augen auf den Punkt konvergiert wurde, als wenn durch Prismen die Sehaxen parallel gestellt wurden. Die Sicherheit war in beiden Fällen vollkommen die gleiche. Durch eine grofse Anzahl Versuche ergab es sich, dals man absolute Sicherheit im Bestimmen der Tiefe des Falles annehmen kann, wenn 2 3% Fehler gemacht werden, die durch momentane Unaufmerksamkeit, durch zeitliches Zusammentreffen von dem Fallen einer Kugel mit dem Lidschlag etc. entstehen können.

Es wurden nun die Prismen vor dem rechten Auge verstärkt, und das Resultat blieb ganz dasselbe, so lange die Prismen durch Divergieren der Augen überwunden werden konnten.

Z. B.: Dr. Grebpf auf beiden Augen Emmetropie. Seh- schärfe =^6 Fixationspunkt in 1,12 m.

1. Monokular

2. Biookolar (frei)

3. Binokular mit il getteUten Sehaxen:

Rechts Fr. 7

4. Binokular mit diyergenten Sehaxen:

Sechts Fr. 8

«10

w 12

n 14

Ansah] der

Richtig Falsch angegeben

Koffein

50

26

24

50

49

1

50

50

20

18

2

20

20

20

17

3

20

8

12

Bei Prisma 12 wurden die Doppelbilder nur mit Mühe Tind nach einiger Zeit vereinigt; bei Prisma 14 konnte keine, oder doch nur momentane Einigung erzielt werden.

Dasselbe Resultat fand sich bei jeder den einzelnen Prismen entsprechenden Entfernung : Die Tiefenwahmehmung ist dieselbe bei konvergenten wie bei parallel gestellten und bei divergenten

32

BicJtard Qreeff,

Axen; bei letzteren, so lange sich die entstehenden Doppel- bilder noch vereinigen lassen. Bei mir konnte zu dem Prisma, welches bei Fixation der Kugel die Sehaxen parallel stellt, in jeder Entfernung noch bis Prisma 5 hinzugegeben werden.

Van der Meülbn machte mit seinem Apparate Prismen- versuche in 575 mm Entfernung und fand bezüglich der diver- genten Axen dasselbe. Er giebt femer an, dafs, sobald die Doppelbilder sich nicht mehr vereinigen lassen, alle Kügelchen, auch diejenigen, welche vorne fallen, bedeutend hinter dem Fixationspunkt herabzufallen scheinen. Diese Thatsache war ^auch mir sehr auffallend. Umgekehrt ist bei Prismen mit der Basis nach auTsen, bei Doppelbildern der Eindruck vorhanden, als wenn alle Kügelchen vorne herabfielen, doch ist letztere Erscheinung nicht so deutlich, wie erstere.

Die Erklärung dürfte vielleicht diese sein:

Fig. 6.

Fixationspunkt. Vorne fallende Kugel. Hinten fallende Kugel. Macula lutea. Knotenpunkt des Auges.

Sehen wir mit freien Augen den Fixationspunkt an, so •erzeugt die dahinter herabfallende Kugel (J7) ein gleichnamiges Doppelbild, d. h. die Bilder ihres Weges liegen auf den inneren Netzhauthälften , und zwar auf symmetrischen Stellen. * Wir sind also wohl auch umgekehrt gewohnt, Doppelbilder, welohe auf die Netzhauthälften nach innen von der Macula lutea fallen, auf eine Stelle zu beziehen, die hinter dem Punkte liegt, auf den die Macula lutea eingestellt ist.

^ £. Hbbiko: Areh. f, A$Mt u. Fhygicl., s. o.

ürUerauckungen über bmohdarea Sehen. 33

Fig. 7.

Setzen wir nun vor unsere Augen Prismen mit der Basis nach innen, welche uns den Fixationspunkt in gleichnamigen Doppelbildern erscheinen lassen (Fig. 7, F u. F^), so werden die Strahlen von einer davor fallenden Kugel nicht wie sonst auf die äufseren Netzhauthälften fallen, sondern bei stärkeren Prismen über die Macula lutea hin auf die innere Seite der Betina abgelenkt. Wir erhalten also anstatt gekreuzter Doppel- bilder (Fig. 6, r u. F^) gleichnamige (Fig. 7, V u. F^) und lokalisieren diese gewohnheitsgemäfs nach hinten.

Die hinten fallenden Kugeln liefern in diesem Falle natür- lich ebenfalls gleichnamige Doppelbilder, nur dafs die Bilder weiter auseinandergerückt erscheinen müssen.

Es scheinen daher alle Kugeln hinten zu fallen, und anfangs ist es unmöglich, richtig zu urteilen, um die vorne von den hinten fallenden zu trennen. Da aber theoretisch die Doppel- bilder der vorne fallenden Kugeln viel enger zusammenliegen müssen, als die der hinten fallenden, so lohnte es der Mühe, zu untersuchen, ob dieser unterschied zum Bewufstsein kommen kann. In der That gelang es mir nach einiger Übung, obwohl noch alle Kugeln hinten zu fallen schienen, unter 100 Fällen etwa 75 mal richtig anzugeben, wie die Kugeln geworfen wurden.

Ich will noch angeben, dafs es mir nie gelungen ist, mir bei den Versuchen zum Bewufstsein zu bringen, dafs die fallen- den Kugeln in Doppelbildern erscheinen.

Zeittehiift fQr Pbjcholof^e III. 3

34

Richard Oreeff.

§ 3. In welcher Entfernung ist der Fallversuch

noch möglich?

Man pflegt zur Prüfung des binokularen Sehens den Fall- versuch so an2sustellen , dafs das fixierte Objekt (eine weiTse Perle) sich in 50 cm bis höchstens 1 m Entfernung befindet. Auch Van der Mkulbn hat seine Versuche in 575 mm Entfernung gemacht. Ist nun, wie wir eben gesehen haben, der Fall- versuch mögüch bei durch Prismen paraUel und divergent gestellten Sehaxen , so ist es interessant, zu untersuchen , ob und unter welchen Bedingungen und Gesetzen derselbe statt- findet in Entfernungen, bei denen Konvergenz der Sehaxen und Accommodationsbewegung nicht mehr vorhanden sein kann. Untersuchungen über die Frage, in welcher Entfernung der HERiNGsche Fallversuch noch möglich ist, liegen meines Wissens noch nicht vor.

Versuch: Fixierpunkt in 60 cm; Spalte 5 cm davor; Breite des Spaltes 2 cm ; Gesichtsfeld, unter dem die fallende Kugel erscheint, dementsprechend 56'.

Ansah! der Kugreln

Torne fallend hinten fallend

Dr. G.

beiderseitig: Emmetrop. 8 =b «/e.

Monokular

Binokular

Dr. K. beiderseitig Emmetrop. 8. » */••

Monokular

Binokular

Stud. S. beiders. Myop. (— 3D.) 8. =«/9-«/«.

Monokular

Binokular

Monokular

Binokular

50 50

25 25

25 25

50 50

25 25

25 25

Richtig

52

98

22 50

24 49

Falsch

48 2

28 0

26 1

200

200

98 =

49%

173 =

98,5%

102 =

517o

3 =

1.57

Besnltat: Bei monokularem Sehen scheinen alle fallenden Kugeln mit dem Fixierpunkt in einer Ebene zu liegen, man ist

Untersuchungen über binokulares Sehen. 35

bei den Angaben auf reines Eaten angewiesen; dementsprechend finden sich ca. 50 7o falsche Angaben vor. Sobald mit beiden Augen gesehen wird, ist das Gefühl der absoluten Sicherheit in der Schätzung der Tiefe vorhanden, und die Angaben sind immer richtig mit Ausnahme von etwa IV« 7o Fehlern, die

durch momentane Unaufmerksamkeit etc. (s. o.) verschuldet sein

können.

Bei denselben Versuchsbedingungen ergab sich für weitere

Entfernungen bei binokularem Sehen folgendes:

Fixierpunkt in 1 m: l,57o Fehler im Durchschnitt

IV« L07o

w n 2 3,0 /o ,,

»T » 3 iy ^fi /o 11 11 11

Es nimmt also in 2 m Entfernung der Prozentsatz von Fehlem um ein Geringes, in 3 m um ein Bedeutendes zu. Der Grund hierfür ist entweder der, dafs der Fall versuch in diesen Entfernungen überhaupt schon nicht mehr exakt möglich ist, oder nur, dafs er unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich ist. Drei Faktoren können in Betracht kommen, um den Versuch zu erleichtem: 1. Die Vergröfserung des Gesichtsfeldes, in dem die fallenden Kugeln erscheinen; 2. die Vergröfserung des Fixierpunktes und der fallenden Kugeln ; 3. die Vergröfserung des Tiefenunterschiedes, d. h. der Entfernung , in der die fallenden Kugeln auf ihrem Weg sich von dem Fixierpunkt in der Höhe der Blicklinie befinden.

Um No. 1 reguHeren zu können , ist der durch die zwei verschiebbaren Pappscheiben veränderliche Spalt vor dem Kasten angebracht ; um No. 3 messen zu können, befinden sich in der Decke des Kastens über dem Fixierpunkt die Reihen Löcher in Abständen von je 2 cm.

Der Fixationspunkt wurde nun in 3 m Entfernung auf- gestellt.

Die Resultate bei Vergröfserung des Gesichtsfeldes waren diese:

öffiiung des Spaltes 2 cm : 6 7o Fehler im Durchschnitt

n V

V

3

rt

8 7o

n

n

n

n »

n

5

n

5 7o

n

n

n n

n

10

n

5,57o

n

n

»

n ft

n

20

n

2,57o

1)

n

n

n n

monokular

gesehenr

n

4,37o

n

n

n

3*

36 Bichard Oreeff.

Besultat: Durch die Vergröüserang des Gesichtsfeldes werden anfangs keine besseren Resultate erzielt; erst nachdem die Spalte 20 cm breit eingestellt wird, ist der Prozentsatz- Fehler annähernd der gleiche, wie bei den Yersachen in ge- ringerer Entfernung. Jedoch vermindert sich dann auch die Anzahl der Fehler bei monokularer Fixation, ein Beweis, dafs das bessere Besultat erzielt wird durch Nebenumstände, auf die Donders als bei weitem Gesichtsfeld auftretend auf- merksam gemacht hat (s. o.)) nicht durch vollkommeneres Binokularsehen .

Durch weitere Versuche habe ich mich überzeugt, dafs, ebensowenig wie die mit der Zunahme der Entfernung des Fixationspunktes ansteigende Yergröfserung des Gesichtsfeldes, die genau bestimmte Gröfse des Fixationspunktes und der fallenden Kugeln in Betracht kommt. Bei beidem hat man nur soviel zu berücksichtigen, dafs die Aufmerksamkeit des Beobachters nicht über die Mafsen angestrengt wird, und dals die Kugeln bequem noch sichtbar sind. So habe ich den Gesichtswinkel von Versuch 1 immer beibehalten und bei gröfseren Entfernungen Gipskugeln von 'A cm Durchmesser gewählt, die immer gut sichtbar waren. Grölsere Kugeln erwiesen sich nicht besser.

um den Einflufs von Punkt 3 zu prüfen, stellte ich die früheren Versuchsbedingungen wieder her, nur fielen die Kugeln jetzt nicht 1 cm vor oder hinter dem Fixationspunkte nieder, sondern der Tiefen unter schied wurde allmählich vergröfsert.

Entfernung des Fixationspunktes 3 m , Breite des Spaltes 3 cm.

Tiefenunterschied 1 cm: 6 7o Fehler im Durchschnitt.

tt

2

n

6,57o

n

*•

n

3

n

4 Vo

n

»

yt

»»

5

r

5 Vo

tt

»

»«

V

6

n

2 %

>'

n

n

8

2,5Vo

•»

»»

»»

r

10

r>

2,0%

»

r

n

Besultat: Mit der Zunahme des Tiefenunterschiedes nehmen die Fehler ab, bis der Unterschied 6 cm beträgt. Dartiber hinaus werden keine besseren Resultate mehr erzielt. Es ist also jedenfalls bei Beurteilung der Tiefendimensionen die Gröfse des Tiefenunterschiedes im Verhältnis zu der Ent-

üfUer8uchungen Über binokulares Sehen.

37

femting vom Auge von grofser Wichtigkeit, ein umstand,

welcher meines Wissens bisher noch nicht berücksichtigt

worden ist.

Um dieses Verhältnis näher bestimmen zu können, fuhr

ich so fort, dafs ich mit jeder Zunahme der Entfernung den Tiefenunterschied durch die fallenden Kugeln allmählich ver- grölserte, bis ich den Abstand hatte, über den hinaus keine Verbesserung des Resultates mehr erzielt werden konnte.

Versuch in 6 Meter:

Tiefenuntertcbied

Ansah] der Kogeln

Richtig

Falsch

Dr 0. 6 cm

25

22

3

8 ,

50

45

5

10 ,

50

48

2

12 ,

50

48

2

15

50

48

2

Dr.K. 6

25

21

4

8 ,

25

21

4 8

10

25

22

12

25

24

1

16

25

23

2

Das Verhältnis des Tiefenunterschiedes zur Entfernung vom Auge beträgt also bei Dr. G. 10 : 600, bei Dr. K. 12 : 600.

Wir pflegen unsere Sehprüfungen meist in einer Entfernung von 6 m anzustellen und betrachten die von dort kommenden Strahlen als parallel in unser Auge einfallend. Diese Seh- Prüfungen werden monokular angestellt, es divergieren also die von einem in 6 m sich befindlichen Punkte kommenden Strahlen nur um die Weite der Pupille, wenn sie in ein Auge gelangen; bei binokularer Betrachtung divergieren dieselben um die Pupillendistanz und bilden einen Winkel , der bei 6 m Ent- fernung noch nicht vernachlässigt werden darf.

Deshalb genügte mir auch hier die Entfernung von 6 m uoch nicht, um die Augenaxen als parallel gestellt zu betrachten.

Für weitere Entfernungen ergaben sich durch oft ange- stellte Versuche folgende Resultate:

38

Stchard Greeff.

Entfernnng

Tiefenunteraohied

Fehler

8 m

12 cm

4 Vo

10

20

4 Vo

12 ..

25

5 Vo

15

30

6 7o

20 ,

35

6,67o

Es verstellt sich von selbst, dafs immer wieder KontroU- versuche monokular angestellt wurden, um etwa vorhandene Fehlerquellen zu entdecken. Ein solche Fehlerquelle bestand bei gröfseren Tiefenunterschieden der fallenden Kugeln in der Beleuchtung. Steht nur eine Lampe seitlich vom Apparate, so wenden die weit vorne fallenden Kugeln dem Beschauer die beschattete, die weit hinten fallenden Kugeln die beleuchtete Seite zu, was nach längerem Experimentieren dem Beschauer einen Anhaltspunkt zur richtigen Angabe geben kann, auch bei monokularer Betrachtung. Man mufs also entweder seitlich und etwas nach vorne zwei Lampen aufstellen oder aus etwas gröfserer Entfernung einen helleren Lichtkegel einfallen lassen, z. B. Zirkonlicht. Man kann auch von hinten beleuchten, indem man als Hinterwand durchscheinendes Papier und die Kugeln davor schwarz wählt. Künstliche Beleuchtung empfiehlt sich im allgemeinen wegen gröfserer Lichtstärke.

Wenn ich mich auch durch Versuche mit mir und einigen Kollegen berechtigt fühle, die Eesultate als sicher zu betrachten, so mufs doch hervorgehoben werden, dafs in Entfernungen, wo Accommodation und Konvergenz nicht mehr unterstützen, ein hoher Grad von Aufmerksamkeit erforderlich ist, um rich- tige Angaben zu machen, eine Aufinerksamkeit , die an allen Tagen nicht die gleiche ist und die manchem Patienten über- haupt fehlt. Wir haben auch eine gröfsere Anzahl Fehler zugeben müssen. Lnmer aber war, auch in 20 m Entfernung, nach Verschlufs eines Auges sofort das Gefühl der völligen Unsicherheit und des Ratens bei den Angaben vorhanden und das Resultat dementsprechend bedeutend schlechter. Auch der Umstand, auf den Donders besonderes Gewicht legt, dafs die erste fallende Kugel richtig angegeben würde, fand seine Be- stätigung.

Untersuchungen über binokulares Sehen,

39

Die Versuche berechtigen den Satz, dafs der HERiNGsche Fallversuch noch möglich ist in Entfernungen, bei denen Konvergenz der Sehaxen und Accommodation nicht mehr in Frage kommen, sobald die Kugeln deut- lich sichtbar sind und der Tiefenunterschied zwischen der vorne und der hinten fallenden Kugel grofs genug ist im Verhältnis zu der Entfernung des Fixierpunktes vom Auge des Beobachters.

Dies Verhältnis ist offenbar ein ganz bestimmtes; wir fanden in

1 m Entfernung 1 cm Tiefenunterschied als notwendig

10 15 20

•»

ti

n

n

n

n

n

n

\f

n

10

n

20

n

30

n

35

n

n

n

n

n n

n

II

II

if

n

»1

II

»

n

Etwas grob das Mittel genommen, erhält man das Ver- hältnis der Entfernung zum Tiefenunterschied wie 100 : 2.

Es ist klar, dafs der Tiefenunterschied, welcher im Apparat bei den fallenden Kugeln für vollkommenes binokulares Sehen notwendig ist, genau entspricht einer Strecke auf der Netzhaut, um welche beiderseits die perspektivischen Netzhautbilder von der Macula lutea nach innen oder nach aulsen zu entfernt sein •müssen, damit richtige Tiefenwahmehmung stattfindet.

Diese Strecke läfst sich berechnen:

Fig. 8.

C und C: Macula lutea. Pupillardistanz = 70 mm. F: Fixationspunkt, 10 m entfernt von C Ä: Vome fallende Kugel: 20 cm von F. K und K': Knotenpunkt des Auges.

IB^C

40 Bidunrd Qreeff,

nirrx ^0 35

8in CFO = sm y = '-^=^ =

FC 10000 r=0'' 12' 2"

. CO _ 35

^ ^ ~^C7 resp. ^UB "" 9800

d=:0« 12' 17"

a = a_y = 0^ 0' 15^

« = 90^ d = 89<> 47' 43''

£ : 15 = sin /8 : sin «

15 . sin ß

a; = :

sin

a; = 0,00238 mm.

Es müssen also zur richtigen Tiefenwahmehmnng die per» spektivischen Netzhautbilder um mindestens 0.002 bis 0.003 mm beiderseits von der eingestellten Macula lutea entfernt auf die Netzhaut fallen. Es ergab sich diese Strecke als mittlerer Wert für mein Auge. Sicher ist diese Strecke bei allen Menschen nicht genau dieselbe, sondern je nach der Fähig- keit, zu beobachten und die Aufmerksamkeit anzustrengen, um ein Geringes kleiner oder gröfser. Wie aus der Itechnung ersichtlich, spielt dabei auch die Gröfse der Pupillardistanz eine wesentliche Solle, doch ist bei den verschiedenen Menschen der Unterschied in der Gröfse derselben nicht allzu beträchtlich. Bei meinen Experimenten trat femer der umstand hervor, daüs durch Übung das Verhältnis der beiden oben angeführten Faktoren sich günstiger gestaltet. Die Übung in der Beur- teüung der uns umgebenden Dinge, besonders in der Schätzung der Tiefen-Dimensionen, führt sicher zu einer Feinheit der Ekn- pfindung hierin, die andere Individuen erstaunen machen kann. Wenn wir das scharfe Gesicht der Naturvölker rühmen hören, so dürfen wir dies wohl weniger so verstehen, dafs die Seh- schärfe um ein Beträchtliches erhöht sei es hegen darüber auch dies bestätigende Untersuchungen vor sondern so, daJCß dieselben im Kampf ums Dasein gelernt haben, feinere Unter- schiede in der Tiefenwahmehmung zu macheu.

Auch för die Tierwelt trifft dies zu. Als diese Arbeit ziemlich beendet war, erschien im Druck der Aufsatz von

Untersuchungen iäfer binokulares Sehen. 41

Professor Berlin: Über Schätzung der Entfernungen bei Tieren.^ Bbrlin bespricht die ebenso schnelle wie sichere Beurteilung der Entfernungen^ welche er bei fliehenden Gemsen zu bewun- dem Gelegenheit hatte, und fährt fem er an, dafs Beiter sich auf unbekanntem Terrain bei Überwindung eines Hindernisses blindlings dem Gaul zu überlassen pflegen, die Überlegenheit des Pferdes in der Schätzung der Entfernung und des dazu gehörigen Krafbma&es zur Überwindung des Hindernisses aner- kennend. Diese Eigenschaft geht den Tieren verloren, sobald einseitige Erblindung eintritt, ein Beweis daf&r, dafs die übrigen Vorzüge, welche ein Tierauge vor dem Auge des Menschen etwa besitzen könnte, zurücktreten gegen die im Kampf ums Dasein gewonnene virtuose Taxation der Tiefendimensionen durch binokulares stereoskopisches Sehen. Manche Tierarten unterstützt dabei die oft sehr groise Pupillardistanz.

Aus den oben angeführten Untersuchungen geht also hervor, dafs die Vorzüge des Binokularsehens auch in groüsen Entfernungen noch zur Geltung kommen, dafs die weite Welt dem binokular Sehenden anders erscheint, als dem Einäugigen, nur nimmt die Feinheit der Tiefenwahmehmung in ganz be- stimmter Weise proportional der Entfernung vom Auge ab.

§4. Binokularsehen bei herabgesetzter Sehschärfe

eines Auges.

Van Dooremaul und van der Meulen teilen Besultate mit, welche sie durch Experimentieren an sich selbst gewannen, indem sie sich vor ein Auge mattgeschliffene oder dunkel- geiarbte Gläser setzten.

Es steht demgegenüber aus, diese bei künstlichem, unvoll- kommenem Sehen eines Auges gewonnenen Ergebnisse zu vergleichen resp. zu kontrollieren mit Untersuchungen an Patienten, deren eines Auge entweder durch Krankheiten im späteren Lebensalter einen Teil der Sehschärfe eingebüfst hat, oder von Geburt an in seiner Leistungsfähigkeit gegen das andere Auge zurückgeblieben ist. Uns interessieren hier be- sonders Trübungen der brechenden Medien eines Auges (Maculae corneae, Cataracta incipiens), Amblyopia congenita eines Auges und verschiedene optische Einstellung der beiden Augen (Aniso- metropie).

* 2jeitschr. f, vergl Ätigenheilk., Bd. VII, 1.

42

Bic?uird Chreeff.

Wenn es richtig ist, was die beiden Autoren anführen, dafs bei normalem Binoknlarsehen durch Gläser künstlich die Sehschärfe eines Auges um ein Bedeutendes herabgesetzt werden kann unbeschadet der Exaktheit derTiefenwahmehmung, so fragt es sich, ob auch trotz seit Jugend bestehender ein- seitiger Schwachsichtigkeit das Binokularsehen erlernt werden kann und umgekehrt, ob es im späteren Alter, wenn bei früher beiderseits gutem Sehvermögen die Sehschärfe eines Auges dauernd herabgesetzt wird, wieder verlernt wird.

Zunächst wurden Plangläser fein mit Vaseline bestrichen und mit Lykopodium bepudert. Die durch dieselben noch vorhandene Sehschärfe wurde bestimmt durch Sehprüfungen mit den ScHWEiGGBRschen Sehproben in 1 m Entfernung:

BN

C4

U

Recht«! Auge. 8. Linkof Auge. 8.

6

6

6

12

Rechte! Auge. 8. Linke! Auge. 8.

6

6

1

36

Entfernang des Fixationspunktes

1 m

NB. Fixationsponkt und fallende Kugeln werden links gut gesehen.

2 m

3 m

KB. Fixationspunkt links eben noch sichtbar.

4 m

NB. Fixationspunkt nicht deutlich mehr sichtbar.

5 m

Anzahl

der fallenden

Kugeln

100

100 100

100

100

1 m

2 m

100 100

I

Fehler

3 5

18

39

3

20

Als Besultat ergiebt sich, dafs die Sehschärfe eines bino- kular sehenden Isometropen künstlich auf einem Auge bis etwa

auf

bis

resp.

auf 3 m herabgesetzt werden kann,

24 36 ^ 12

ohne dafs wesentlich das Binokularsehen leidet. Eine geringere

Untersuchungen über binoktUarea Sehen, 43

Sehschärfe wird ohne grofse Fehlerzahl nicht ertragen. Die Versuche wurden bei Kollegen wiederholt und ergaben hier angefthr dasselbe, bei den Einen um ein Geringes mehr, bei Anderen etwas weniger.

Von natürlichen Krankheitsformen wurden 20 Fälle ein- seitiger Trübungen der brechenden Medien untersucht, und zwar zehn Kinder im Alter von 13 16 Jahren mit Maculae corneae, welche in den ersten Lebensjahren durch Blennorrhoea neonatorum oder Keratitis phlycthaenulosa erworben waren oder mitemseitigerAmblyopia congenita, und zehn Erwachsene, welche erst im vorgerückten Alter Maculae corneae oder Cataracta incipiens auf einem Auge erhalten hatten. Bei keinem Patienten bestand Strabismus. Es wurden zu diesen Versuchen besonders intelligente Patienten ausgewählt.

Nach Feststellung der Sehschärfe wurde in derselben Weise vorgegangen, wie bei dem letztangeführten Versuch: Der Pixationspunkt wurde immer weiter abgerückt, bis die Fehler- zahl 5% überstieg.

Es ergab sich, dafs auch diejenigen Kinder, welche in den ersten Lebensjahren Trübungen eines Auges erworben hatten, Binokularsehen gelernt hatten, wofern das Auge noch eine

Sehschärfe von etwa -r^ bis -^^ besafs. Die Sehschärfe -r^r bis

-r^ ist als mittlerer Wert aus den erhaltenen Zahlen genommen ;

natürlich stellt sich dieselbe bei den einzelnen Menschen etwas gröfser oder kleiner heraus, je nach Intelligenz und Aufmerk- samkeit.

£s möge genügen, ein Beispiel anzuführen:

Helene K., 15 Jahre. Eechtes Auge. S. = alles normal. Linkes Auge. S. = Vis Maculae corneae, sonst normal.

Intelligentes Mädchen. Die Mutter giebt an, dafs H. am dritten Tage nach der Geburt auf dem linken Auge eine mehrere Wochen anhal- tende Eiterung gehabt (Blennorrhoea neonat.) und von da ab die Flecken auf dem Auge bekommen habe.

Fallversuch in 1 m 3% Fehler n w 2 3 /o

» 3 ^ 19 /o

Die Kugel wird in 3 m links nicht mehr recht gesehen. Es werden als Fixationspunkt und als fallende Kugeln gröfsere Gipskugeln genommen, die links wieder sichtbar sind.

44 lUehard Greeff.

Fallversucli in 3 m 5%

n 4 6%

b 377o

Über 5 m hinaus ist keine Spur von stereoskopiscliem Sehen vor- handen.

Binokularsehen ist also von der H. K. erlernt worden; obwohl, ehe sie binokularen Sehakt hatte, das Sehvermögen eines Auges um ein gaBS Bedeutendes herabgesetzt wurde.

Nach allen Yersuchen, auch bei Kranken, mufs es erstaunen, wie schwach nur ein Gegenstand dem einen der beiden Augen zu erscheinen braucht, ohne dafs ein stereoskopisches Sehen dadurch verloren geht.

Ich kann mich also dem anschlieisen, was van der Mbulbh ^chon nach Versuchen an gesunden Menschen vermutend aus- sprach, dais, im Falle ein Auge normal ist, das andere aber an Trübungen leidet, es sich lohnt, die Sehschärfe desselben durch Gläser, durch Iridektomie oder auf andere Weise zu Yer- bessem, und wenn es auch nur bis zu Vis Sehschärfe ist, indem es feststeht, dafs dies genügt, für die Nähe einen binokularen Sehakt zu Erhalten. Vielleicht wird dieser auch im stände sein, ein Abweichen des sehschwachen Auges zu verhüten.

Was das binokulare Sehen von Anisometropen betrifft, so habe ich Dem, was ich in meiner Arbeit: Zur Vergleichung der Accommodationsleisttmg beider Äugen^ gesagt habe, kaum etwas hinzuzufügen. Anisometropen haben vollkommenes binokulares Sehen, wofern kein Strabismus vorhanden ist, ohne dafs damit die Annahme ungleicher Accommodation verbunden zu sein braucht, wie schon aus Dem hervorgeht, was sich bei den Untersuchungen mit einseitigen Trübungen brechender Medien ergeben hat.

Wir können unsere [Resultate in den Satz zusammenfassen: Bei herabgesetzter Sehschärfe eines Auges ist binokulares SeUen vorhanden, so lange dem sehschwachen Auge der betreffende Gegenstand auch nur ganz schwach oder in grofsen Zerstreuungs* kreisen erscheint, einerlei, ob es sich um Trübungen in den brechenden Medien handelt oder um falsche optische Einstellung des betreffenden Auges, und einerlei, ob die Sehschwäche von Geburt an besteht oder erst erworben wird, nachdem voll- kommenes binokulares Sehen bestanden hat.

ß. Grkejt : Archiv f. Äugenheük. Bd. XXIII. S. 371 u. f.

Untersuchungen über binokulares Sehen. 45

§ 5. Binokulares Sehen Schielender.

Es würde den !Rahmen und die Absicht dieser Arbeit über- schreiten, wenn ich hier auf die Anschauungen und Theorien eingehen wollte, die darüber, wie und wie weit sich das schie- lende Auge am binokularen Sehen beteiligt, ein Streit, der sich hauptsächlich um die von Johannes Müller begründete Lehre von den identischen Netzhautpunkten dreht. Ich kann nur wiederholen, was schon öfters ausgesprochen ist, dcJjs ich keinen Schielenden vor der Operation ausfindig machen konnte, welcher den HERiNGschen Fallversuch bestanden hätte. Yan der Meulen imd Sohweigger berichten femer, daSs auch nach der Operation bei guter Stellung der Augen ein vollkommenes Binokularsehen flieh nicht herstellte.

um diese Mitteilung nachzuprüfen, habe ich mich bemüht, einige Fälle von früherem Strabismus zu ermitteln, bei denen seit längerer Zeit vollkommen gute Stellung der Augen post operationem vorhanden und beiderseits gutes Sehvermögen vor- handen ist, obwohl wir aus Obigem wissen, dafs zum binokularen Sehakt gleiches Sehvermögen beider Augen durchaus nicht erforderlich ist. Bei keinem Einzigen jedoch fand sich so vollkommenes Sehvermögen, dafs die Tiefenangaben im Fall- apparat richtig gemacht werden konnten.

Ein Beispiel möge genügen: H. D., 15 Jahre alt.

R . + 0,75 D. S. = -|-; Schw. 0,3 in 35 10 cm, S. E. S. = -5-; Schw. 0,3 in 30 8 cm.

0

XI. 1889.

Strabismus convergens altemans praecipue ocuU dextri. Ab- lenkung 8 mm. Kein Beweglichkeitsdefekt. Ophthalmoskopisch in Mydriasis bds. 1 D. H. R. Tenotomie des Muse. rect. int. und Vomähung des Muse. rect. extern.

Nach 14 Tagen: Ganz geringe Konvergenz noch vorhanden. Spontan keine Doppelbilder, mit rotem Glas und Prisma ge- kreuzte Doppelbilder nachweisbar. Soll in der Schule Brille -f 1 ,0 D weiter tragen.

Dez. 90. Vollkommene richtige Einstellung beider Augen. Kein Doppelsehen nachweisbar.

46 Bichard Greeff.

Im Apparat wird bds. die Kugel gut gesehen, und sie verändert bei abwechselndem Verdecken eines Auges ihre Stellung nicht.

Fehleranzahl ca. 50%. Reines Raten; sieht binokular ebenso, wie monokular.

Die beiderseitigen Eindrücke werden wahrgenommen, jedoch nicht zu dem Begriff des Binokularsehens verschmolzen.

Es scheint, dafs dieses geistige Verschmelzen der Bilder nur in frühester Jugend erlernt werden kann.

Die Prüfung des Vorhandenseins oder Fehlens eines bin- okularen Sehakts nach geglückter Strabotomie hat eine praktische Bedeutung für die Frage: Wann sollen wir bei schielenden Kindern die Operation vornehmen? Ergiebt es sich als richtig, dafs ein binokularer Sehakt sich herstellen kann, so ist sicher dazu am meisten Aussicht, wenn man die Operation möglichst früh vornimmt; das Binokularsehen wird die Richtig- stellung der Augen sehr befördern. Finden wir aber bei keinem Schielenden nach der Operation binokulares Sehen, so ist das Verfahren derjenigen '^ exakter , welche das Lesenlemen der Kinder abwarten, um ein Urteil über die Sehkraft der Augen zu besitzen. Das letztere Prinzip, welches an der Berliner Universitätsklinik eingehalten wird, würde also auch nach meinen Untersuchungen als das richtigere zu empfehlen sein. Bis heute konnte ich kein vernünftiges Kind auf- treiben, welches nach der Schieloperation binokulares Sehen in vollem Mafse bekommen hätte.

Gbaepe ^ giebt vier Punkte an, welche bei normaler Stellung beider Augen Einfachsehen als Produkt binokularer Zusammen Wirkung beider Augen erkennen läfst:

1. Das Auffassen der Sammelfigur im Stereoskop.

2. Der Nachweis der Anwesenheit physiologischer Doppel- bilder.

3. Die richtige Schätzung der Tiefendistanzen (Nachweis durch den HERiNGschen Fall versuch).

4. Das Auftreten von Doppelbildern bei Anwendung von Prismen oder der dieselben verschmelzenden Augenbewegungen.

Der Umstand gerade, dafs die Proben 1, 2 und 4 von Schielenden nach geglückter Operation meist bestanden werden,

* Gkafe-Semisch. Handbuch der Awjenheilkundej Bd. VI, S. 173,

üntermchungen über binokulares Sehen. 41

also das Yorhandensein eines binokularen Sehakts zu beweisen scheinen, Probe 3 aber immer negativ ausfallt, also das Fehlen vollkommenen binokularen Sehens darthut, zeigt uns, dafs der HsRiNGsche Fallversuch die höchsten Anforderungen an das Binokularsehen stellt, das feinste Beagens auf das Vorhanden- sein desselben ausmacht. Probe 1, 2 und 4 zeigen, dafs bino- kulare Sammelbilder entstehen können, Probe 3, der Fallversuch, zeigt, ob dieselben geistig zu einem normalen Binokularsehen mit Wahrnehmung der Tiefendimensionen verschmolzen werden.

Es drängt mich schKefsUch noch, meinem Lehrer, Herrn Geheimrat Schweioger, für die Anregung zu dieser Arbeit und Herrn Professor Dr. A. König für die Überlassung der nötigen Apparate in seinem Laboratorium, sowie für die mannigfachen Satschläge zur Förderung meiner Arbeit meinen besten Dank auszusprechen.

Bemerkungen zu dem Aufsatze von D^- Sommeb „Zur Psychologie der Sprache"/

Von

Prof. A. Pick (Prag).

Die Möglichkeit bejahender Beantwortung der von Sobcmer an den SchluTs seiner Erörterungen gesteUten Frage' aus der schon vorhandenen Litteratur drängt naturgemäfs zu nach- stehenden Ausführungen; die Ausführlichkeit derselben wird sich vielleicht dadurch entschuldigen lassen, dafs einem Kreise von Lesern dieser Zeitschrift das Thatsachen-Material, von dem aus sich die ganze Angelegenheit noch wesentlich weiter för- dern läfst, als dies durch S. geschehen, nicht vollständig bekannt sein dürfte. Ich glaubte mich aber dieser Aufgabe, angesichts des Appells S.'s an die Psychologie nicht entziehen zu sollen, um nicht im Elreise der Psychologen den Eindruck aufkommen zu lassen, als ob die Pathologie thatsächlich keine Antwort auf jene Fragen zu geben wüfste.

Das Haupt verdienst der eigenartigen Stellung, welche Charcot und seine Schule' in der Lehre von der Aphasie einnehmen, liegt in dem Nachweise, dafs bei verschiedenen

» S. diese Zeitschr., U, S. 143.

* ,,Giebt es physiologische oder pathologische Fälle, in denen Er- innerungen durch Vermittlung von gewollten Bewegungen wach werden und in denen durch Behinderung dieser Bewegungen Amnesie hervor- gerufen werden kann?"

* Ich folge in der Darstellung desselben den zusammenfassenden Schriften von Ballet imd Bernard, von denen die erstere neuerlich auch ins Deutsche Qbersetzt ist.

Bemerkungen „Zur Bsychologie der Sprache**, 49

Menschen, die in den Wortbegriff eingehenden Faktoren eine verschiedene psychologische Wertstellung einnehmen, und dafs je nach dem Überragen des einen oder anderen dieser Faktoren such die ErscheWgen der Aphasie individuell verschieden sich werden gestalten müssen. Entsprechend der Zusammen- setzxmg des Wortbegriffes aus Klangbild, Schriftbild, artikula- rotischen und graphischen Bewegungsvorstellungen, lassen sich die Menschen in vier Kategorien teilen, insofern mit der Vor- stellung jene jeweils hervorstechendste Komponente mehr oder weniger „leise mitklingend" in die Erscheinung tritt. Als das häufigste, wenn auch, wie von vorneherein für jeden Kenner ersichtlich, nicht so ausschliefslich wie das Stricker wollte, kann man das Verhältnis bezeichnen, dafs in der Wortvorstellung die artikulatorischen Bewegungsvorstellungen überwiegen und isoliert anklingen; solche Individuen nennt die französische Schule „moteurs verbaux"; in zweite Linie wären die „auditifs" zu stellen; diesen reihen sich jene an, bei denen das gleiche Verhältnis hinsichtlich der optischen Wortbilder gilt, und die zum grofsen Teil auch mit jenen Individuen zusammenfallen, bei denen die optischen Erinnerungsbilder überhaupt sehr leb- haft sind und das Denken regelmäfsig begleiten;^ es sind das die „visuels"; diesen Kategorien stehen gegenüber die ^indifferents", jene zahlreichen Individuen, bei denen keine der Komponenten des Sprachbegriffes wesentlich überwiegt.

Die Thatsache, dafs bei den des Schreibens Kundigen in den Wortbegriff auch die graphische Bewegungsvorstellung eingeht, legt die Frage nahe, ob es im Gegensatze zu den moteurs im oben erwähnten Sinne Menschen giebt, bei denen jene Bewegungsvorstellung, wenn auch nicht die Hauptkompo- nente, so doch einen besonders hervorstehenden Faktor des Wortbegriffes bildet. Während nun Ballet diese Frage nur auf Grund später zu erwähnender pathologischer Fälle bejahen zu müssen glaubt, stehe ich nicht an, dies auch vom Standpunkte des Normalen zu thun. Es giebt unter mir nahestehenden Bekannten mehrere, bei denen in dem Wortbegriff die graphische Bewegungsvorstellung eine hervorragende Rolle spielt, indem sich an den betreffenden Personen beobachten läfst, namentlich

* Vgl. dazu in Galton „Inquiries into human facidty** , 1883, das Kapitel über mental imagery.

ZeiUchrfft fOr Psycholoflrie UI. 4

50 -'i- J^*.

leicht bei etwas stärkerer Erregung, wie dieselben all ihr Denken, mit Schreibebewegungen begleiten, die sie in der Luft, am Schenkel u. s. w. ausführen ; dabei scheint es mir psychologisch interessant, dafs in mehreren FäUen und zwar nicht blofs solcher Individuen, die sich besonders häufig dieser Schrift- gattung bedienen, die Stenographie zu diesen Schriftzeichen, benutzt wird; offenbar spielt bei diesem letzteren Verhältnis die Thatsache, dafs die Stenographie erst in einem späteren Alter erlernt wird, die wesentlichste Rolle. Zumeist tritt an- scheinend gleichzeitig graphische und artikulatorische Bewe- gungsvorstellung auf; dafs aber gelegentlich auch das gerade für die Deutung des Falles Voit so wichtige zeitliche Hinter- einander der beiden zur Beobachtung kommen kann, lehrt eine von BiNET gemachte, allerdings dem Pathologischen entstam- mende Beobachtung. Derselbe berichtet {Revue philoscphiqtie, 1880): Wenn der Hysterische zwischen den Fingern der anä- sthetischen Hand, verdeckt durch einen Schirm, eine Feder in Schreibstellung hält, so registriert diese Feder seinen eben vor- herrschenden Bewufstseinszustand; fragt man ihn nach seinem Alter, so sieht man, dafs in demselben Augenblicke, wo er antwortet, ja zuweilen einige Sekunden ehe er antwortet, die Feder die entsprechende Antwort niederschreibt.^ Aus den Beobachtungen, welche Ballet, der sehr richtig in den graphischen Bewegungsvorstellim.gen des "Wortes nur einen speziellen Fall des graphischen Gedächtnisses überhaupt sieht, für die hier verfochtene These anfuhrt, sei nur als wichtig angemerkt die Aufserung eines Taubstummen: „Ich fühle, wenn ich denke, dafs meine Finger sich bewegen, auch wenn sie ruhig sind ; ich sehe innerUch das BUd, welches die Bewegung meiner Finger erzeugt."

Von noch wesentlicherer Bedeutung für unser Thema sind jedoch pathologische Beobachtungen, weü direkt die Antwort auf S.'s Frage in sich schliefsend; von diesen sei diejenige Charcots hier kurz angeführt.

Ein 35jähriger Kaufmann von gewöhnlicher Bildung er- leidet einen Schlaganfall, nach dem rechtsseitige Hemiplexie, Hemianopsie und Paraphasie zurückbleiben; nachdem sich diese

* Vergl. dazu auch Preyer „Die Erklärung des Gedankenlesens'* , 1886, S. 37. Das Erraten gedachter Zahlen, Buchstaben, Figuren.

r Bemerkungen „Zur Psychologie der Sprache**. 51

'^ &sc]iemnngen gebessert, zeigt sich später, neben Abnahme des Gedächtnisses, dafs er weder Gedrucktes noch auch von ihm ' selbst Geschriebenes lesen kann; die Untersuchung ergiebt nun, dafs er fremde oder eigene Schriftzeichen, denselben mit dem Finger nachfahrend oder sie auch in der Luft zeichnend, lesen kann, was Charcot so deutet, dafs der Elranke „schreibend liest". Der Kranke sagt selbst: Ich lese Gedrucktes schlechter als Geschriebenes, parceque pour l'ecriture il m'est facile de reproduire mentalement la lettre avec la main droite, während das für Druckschrift viel schwieriger ist ; wichtig ist noch folgende Angabe:

En lisant Pimprimä le malade ne meut pas ses l^vres, ne parle pas a voix basse, bien que ce soit son habitude dans l'6tat de la sante.

In dem Kommentare dazu, sagt Charcot: Wenn der Kranke liest, so kann er das mit Hilfe eines Kunstgriffs; die Seihe von Bewegungen, welche die graphischen Bewegungsvorstel- Inngen eines Buchstaben, eines Wortes ausmachen, erweckt allein bei ihm die klare Erinnerung an diesen Buchstaben oder das Wort.^

In einem von Skwortzoff [De la ceciU et de la surdiÜ des wob, 1881, S. 46) mitgeteilten Falle heifst es von der mit rechts- seitiger Hemiplegie und Aphasie behafteten Kranken: InvitÄe i nommer des objets .... eile indique leur usage sans pouvoir designer leurs noms. Un instant apres eile dit le nom de la plupart des objets qui sont devant eile et pour quelques-uns d'entre eux il suffit de dire la premiere syllabe pour qu'elle se Appelle le mot tout entier, und dann heifst es: Parfois la nialade reconnaissait les lettres en les tra9ant avec son doigt. Hier sind offenbar aufser den graphischen Bewegungsvorstel- hmgen noch andere Komponenten des Wortbegriffes behilflich. Auf Grund dieser und ähnlicher Fälle, die seither mehrfach mitgeteilt sind und die darin übereinstimmen, daJGs der Kranke, ^schreibend liest**, und die demnach der von S. aufgeworfenen Frage insofern entsprechen, als dabei thatsächlich Erinnerungen durch Vermittelung von gewollten Bewegungen wach werden

' BiNET : La Psychologie du raisonnement, 1886, 29. En d^crivant les caractöres avec ses doigts, il se doime un certain nombre d'impressions musculaires qui sont celles de Pecriture .... Timage motrice graphique sogg^re les sens des caract&res Berits au mdme titre que Timage visuelle.

4*

52 A, Pick.

und durch Behinderung derselben Amnesie hervorgerufen wird, glauben wir jetzt auf die Erörterungen Sommebs über den Fall VoiT näher eingehen zu sollen.

Wir können anknüpfen an den Passus (S. 159) der ab durchaus korrekte Entwickelung des bis dahin Erforschten gelten kann und dahin lautet, dafs „das Wort, die Lautkombi- nation bei Voit erst durch die Schreibebewegungen lebendig wird"". Mit der daran schlieisenden Bemerkung, daJEs diese Feststellung allem widerstreitet, „was man sich für gewöhnlich denkt ^,^ stellt sich S. auf theoretischen Boden, den er insofern zu enge umschreibt, als er einerseits die allerdings selteneren aber doch unzweifelhaft vorhandenen Fälle der moteurs gra- phiques, in denen die graphischen BewegungsvorsteUungen im Wortbegriff eine hervorragende RoUe spielen , ganz vernach- lässigt, andererseits gar nicht die Möglichkeit dessen in Erwä- gung zieht, was die Franzosen als suppl6ance fonctionelle bezeichnen, dafs nämUch bei Verlust der einen oder anderen Komponente des Wortbegriffes eine der intakt gebUebenen, also gelegentUch auch die graphische Bewegungsvorstellung, vika- rierend für jene eintreten kann. Als Beweis für die Richtigkeit dieser letzteren Ansicht kann die Thatsache gelten, dafs nicht in allen Fällen der gleichen Art „schreibend gelesen" wird, (Vergl. dazu den zweiten Fall von Landolt in der Festschrift für DoNDBRs, Sep.-Abdr., S. 13) und weiter, dafs zuweilen ein Unterschied zwischen Schrift uud Druckschrift besteht, insofern Nachzeichnen der letzteren kein Verständnis derselben nach sich zieht, unter Berücksichtigung aller hier mitgeteilten Thatsachen läfst sich auch leicht zeigen, dafs die von S. aus der Diskussion des Falles Voit gezogenen Schlul'sfolgerungen (S. 160) durchaus nicht in Widerspruch mit der etwas weiter zu fassenden Theorie der Aphasie stehen ; ohne dies erst näher begründen zu müssen, ist es ersichtlich, dafs bei dem physio- logischer Weise oder infolge vikarierender Stellvertretung zum moteur graphique gewordenen Menschen der Übergang vom Ob- jektbild zu den motorischen Schriftbildern nicht erst auf dem Wege über die Klangbilder und die Buchstaben bilder erfolgt; ob dieser Übergang direkt erfolgt, wofür Binets eben erwähnte

^ Auch auf S. 162 spricht er von den gewohnten Lehren über den Sprachvorgang.

Bemerkungen „Zur Psychologie der Sprache^. 53

Beobaehtxmg sprechen würde, oder mittelbar durch die Klang- bilder, wie Gbashbt {Archiv f. Psych. , Bd. XYI, S. 668) und später Bruks und StOltino (Neural Centralbl , 1888, S. 517 und 519) wollen, ist hier nicht zu diskutieren.

Es ergiebt sich weiter, dafs es nicht erst des Falles Yoir zum Erweise der Thatsache bedurfte, dafs nicht alle Menschen bnchstabierend schreiben, und dafs es normale und patholo- gische Fälle giebt, bei denen vermittelst des Schreibens Klang- bilder gefunden werden. Daraus ergiebt sich auch ohne weiteres die Antwort auf die von S. angeschlossene Frage, welche geistigen Vorgänge bei Voit den Übergang von den Objekt- bildem zu den Schreibbewegungen, mittelst deren die Namen gefunden werden, vermittehi. Dies beantwortet sich dahin, dafs es bei Yoir, den wir als moteur graphique zur Zeit der Untersuchung anzusehen berechtigt sind, die graphischen Be- wegungsvorstellungen es sind, welche sozusagen seiner „Natur^ nach durch die Objektbüder hervorgerufen werden, und von diesen aus die Schreibbewegungen innerviert werden.

Durch die hier gegebene Deutung der Thatsachen, glaube ich auch die übrigen für S. sich ergebenden Schwierigkeiten beseitigt zu haben, und es wäre noch eines naheUegenden Ein- wandes zu gedenken, dcJs nämlich bei Yoit der Übergang von den Objektbildem zum Namen durch die graphischen Bewe- gungsvorstellungen erfolgt, während in den zur Deutung heran- gezogenen Fällen die gleiche Yermittelung vom Schriftbild aus statthat; es entfallt jedoch dieser Einwand, wenn wir mit WsRNiCKB kein besonderes Centrum für das Lesen innerhalb der optischen Eindenendigung annehmen, wofür keinerlei zwin- gende Thatsachen vorliegen, wir vielmehr die Buchstaben und Objektbilder einander gleichstellen.

Am Schlüsse dieser Erörterungen möchten wir noch folgendes bemerken; Sommer macht wiederholt Ausfalle gegen die Lehre von der LokaJisation ; es mufs als Erwiderung hier genügen,^ dafs die Entscheidung in dieser Frage nicht durch psycholo-

* Vergl. dazu auch Spamer: Archiv f. Psych., VI, S. 542.

' Es wäre hier auch nicht der Ort, die ganze Haltlosigkeit der von S. zur Erklärung der Amnesie aufgestellten Hypothese von der moto- rischen Funktion derjenigen Himteile, deren Zerstörung Verlust der Snunerungsbilder (also doch auch Lokalisation?!) bedingt, darzulegen.

54 ^. Pick.

gische Erörterungen, sondern in der Klinik und am Sektions- tische erfolgen wird; im Hinblick darauf scheint es mir aber höchst bemerkenswert, dafs gerade der Fall Voir eine wichtige Handhabe gegen einen jener Psychologen bietet, die sich gleich- falls gegen jene „plump materialistische Lehre** gewendet; wenn Max Müllbr Denken ohne Sprechen leugnet, so beweist VoiTs „wortloses Begreifen" mehr, als ganze Bände voll theo- retischer Diskussionen.

Litteraturbericlit.

A. Bxts, On physiological expression in psycliology. Mind, XVI. 1891 ^ No. 61. S. 1—22. Verfasser behandelt vom Standpunkt der Theorie aus, dafs jeder psychische Vorgang in einem physischen ein Korrelat habe, die Frage, iniiviefeni das Studium körperlicher Organe und Vorgänge für die Psychologie von Nutzen sei. Er wendet sich insbesondere gegen den psychologischen Purismus eines Stout, Bradley und anderer, die sich von dem Studium physiologischer Vorgänge für die Psychologie absolut nichts versprechen und sogar eine dem physischen Leben entnommene Aus- drucksweise ablehnen. Dieses Verhalten scheint Bain nur so lange halt- bar, als man ausschlieislich die höheren intellektuellen Funktionen im Auge hat; xmd er weist nach, wie in der That die extremsten Vertreter des Purismus, sobald sie der Sinnesthätigkeit, den Gefühlen und dem Willen ihre Aufmerksamkeit zuwenden, ihre Theorie aufgeben und eine ganz andere Sprache reden, was schon dadurch nötig wird, dafs es für geistige Vorgänge nie ein eigenes Vokabular gab, sondern alle in der Psychologie verwandten Ausdrücke ursprünglich eine materielle Bedeu- tung haben.

Bain sucht dann näher Gesetze der Verknüpfung zwischen Psychischem und Physischem, die ein Licht auf das Wirken des Geistes werfen, auf- zuweisen; er zeigt in ziemlich ausführlicher, aber nichts Neues enthalten- der Darlegung, wie wichtig das Studium der physischen Seite .für die Srkenntnis aller einfachen psychischen Phänomene auf dem Gebiet der Empfindung, des Litellekts, des Geföhls und Willens ist, er weist auf die interessanten Erfolge hin, wie sie die psychophysischen TJntersuchimgen eines Webbr und anderer hatten.

Zurückzutreten scheint ihm der Wert physiologischer Unter- suchungen für die Erkenntnis der komplizierteren geistigen Phänomene, weil hier die entsprechenden physiologischen Begleitvorgänge sich nicht init irgend welcher Präzision erfassen lassen.

Immer aber ist hei der Verwendung physiologischer Theorien und Ausdrücke im Gebiet der Psychologie an der Theorie des Parallelismus zwischen Geist und Körper festzuhalten; dann liegt keine Gefahr vor, dafs ein physischer Vorgang an die Stelle eines psychischen gesetzt "wird, m bildlicher Weise. Gaupp (Cannstadt).

56 Ldtteraturbmcht

MüNSTSBBBBo. ZoT Indlvidnalpsycliologie. CmtrdlbL f, Nervenheäk. u^ -i Psychiatrie, Intern. Monatsschr,, Mai 1891. S. 196. f

Die Schwierigkeiten, die sich der Untersuchung der psychischen G^setzmäfsigkeiten durch individuelle, zwar noch in der Grenze dea Normalen liegende, aher doch jede Generalisation entwertende Ab- weichungen entgegenstellen, veranlafsten Verfasser, statistische Er- hebungen aber den Einflufs der berufsmäfsigen Beschäftigung auf die psychische Konstitution anzustellen. Er „will untersuchen, ob der geistige Habitus des Arbeiters, des Arztes, des Juristen, des Lehrers, des Kaufmanns, des Offiziers u. s. w. in den Elementen erkennbare Vei> schiedenheiten aufweist, und will vornehmlich die verschiedenen Schul- arten, Gymnasium, Realgymnasium, Realschule, Volksschule, Mädchen- schule u. s. w. Klasse ftir Klasse prüfen, um den Einflufs des verschieden- artigen Unterrichts auf die geistige Organisation des Kindes in exakter,, für die Schulfrage vielleicht nicht ganz unwesentlicher Weise feststellen.''

Vorläufig giebt Verfasser nur das Schema seiner Untersuchungen, das ihm nach langen Vorversuchen als das geeignetste erschien, an und will später dann auch die Resultate der zeitraubenden Experimente veröffentlichen.

Die Hauptprüfung basiert auf dem Prinzip der Zeitmessung, natürlich mit Verwertung der relativen (nicht der absoluten) Zahlen. Zuerst liest die Versuchsperson zehn grofs gedruckte, untereinanderstehende einsilbige oder eine zweite tonlose Silbe enthaltende Worte möglichst schnell mit deutlicher Aussprache, dann werden bei zehn Worten die ihnen zukommenden Farben ausgesprochen, so z. B. bei Schnee: weils.. Im dritten Versuche werden Worte von Gegenständen aus Tier-, Pflanzen- und Steinreich möglichst schnell als Thier, Pflanze oder Stein bezeichnet,, in gleicher Weise dann viertens Kleidungsstücke, Nahrungsmittel und Körperteile gruppiert, indem z. B. die Versuchsperson bei dem Worte Nase: Körper, bei Wein: Nahrung, bei Stiefel: Kleidung sagt. Die Worte stehen in möglichster Abwechselung auf Täf eichen, die bis zum^ Augenblick des Versuchs verdeckt sind; die Versuchsperson vorher die Augen schliefsen zu lassen, empfiehlt sich nicht, weil die plötzliche Blendung beim öffnen der Augen ein zu langes geistiges Latenzstadium verursacht.

Die weiteren Versuche werden mit zehn einfachen, aus Anschauungs- bilderbüchem ausgeschnittenen Abbildungen von Gegenständen angestellt, die benannt werden, dann folgt die Benennung von zehn einfachen Farben» und zwar rot, gelb, grün, blau, braun, weifs, schwarz (Quadrate von Sem) in verschiedenster Zusammenstellung, femer Addieren von zehn einstelligen, untereinandergeschriebenen Zahlen, Angabe der Zahl der Ecken von zehn unregelmäfsigen Polygonen und schliefslich Benennung von drei verschiedenen Gerüchen (in Parfumflaschen).

An diese auf Zeitmessung beruhenden Versuche reiht sich dann das Festhalten von Zahlen und sinnlosen, aus einem Konsonanten und einem Vokal bestehenden Silben durch einmaliges Hören, wobei die Zahl der jedesmal vorgesprochenen Silben oder Zahlen so lange ver- mehrt wird, bis die Versuchsperson bei unmittelbarem Nachsagen einen

Litieraturhericht 57'

Fehler macht. Femer wird das Augenmafis untersucht durch Halbieren- lassen einer Strecke von 80 cm, durch Abschätzen, wie oft eine kleinere Strecke in einer danebengelegenen grofsen Strecke enthalten ist, und durch Beproduzierenlassen beliebigerstrecken nach f(lnf Sekunden. Die Bewegungsempfindungen werden durch einen besonders dazu konstruierten,, in Schienen laufenden Metallwagen, der mit dem Zeigefinger geführt wird, geprüft. Dann wird noch der eben merkbare Gewichtsunterschied in beiden Händen festgestellt, femer die Genauigkeit der Schalllokalisation bestimmt, indem untersucht wird, um wieviel Winkelgrade eine Schall- quelle in einer Bichtung verschoben werden mufs, damit die Verschiebxmg bemerkbar wird, und schliefsllch bei gegebener Grundlinie ein gleich- seitiges Dreieck und ein Quadrat aufgezeichnet.

Zur Untersuchung einer einzigen Person gebraucht man ohne Hülfe fast eine Stunde ; bei Unterstützung durch Assistenten und Untersuchxmg mehrerer Personen, wobei die nötigen Erklärimgen für alle auf einmal gegeben werden, können zehn Personen in zwei Stunden untersucht werden. Bei Schulen genügt es, zehn Knaben aus jeder Klasse zu nehmen, und so läfst sich eine Schule bei täglich zweistündiger Unter- suchung in etwa 14 Tagen hinreichend psychologisch xmtersuchen.

Peretti (Merzig). M. Dessoir. Experimentelle Pathopsychologie. Vierteljahresschr. f. wiss, Philosophie. XV, 1 u. 2 (1891). S. 59-106 u. 190—209.

D. beginnt mit einer Bechtfertigung der hypnotischen Experimente. Referent möchte gegen dieselbe nur einwenden, dafs keineswegs, wie D. behauptet, „alle Sachkenner^' darin übereinstimmen, dafs die Einleitung hypnotischer Zustände „nicht die mindesten Gefahren bietet'^ Im Gegen- teil haben sehr kompetente Beurteiler (Meykert, Binswanger u. a. m.) auf gewisse schwerwiegende Gefahren auch bei richtiger Technik und medizinischer Vorbildung des Experimentierenden - aufmerksam gemacht. Freilich sind diese Gefahren nicht so grofs, dafs man auf jene Versuche völlig verzichten müfste, keineswegs jedoch darf man sie ignorieren. Die weiteren Erörterungen des Verfassers schliefsen sich an das 1889 erschienene Buch Jakets: „VautomaHsme psychologique*' an. Das Besultat derselben ist zunächst, dafs D. „die experimentelle Untersuchung der Psyche unter veränderten Bewufstseinsverhältnissen" als einen besonderen Wissenschaftsbezirk der Gesamtpsychologie herausgreifen möchte; er schlägt für diesen Zweig zimächst den Namen „experimentelle Patho- psychologie" vor. Dem Beferenten erscheint der Gegensatz , welchen D. zwischen seiner „experimentellen Pathopsychologie" und einerseits der Psychopathologie des Psychiaters, andererseits der experimentellen Psychologie unter normalen Bewufstseinsverhältnissen zu konstruieren sucht, durchaus künstlich. Die vermeintlich neue Wissenschaft stellt einfach ein längst bekanntes, neuerdings mehr bearbeitetes Übergangs- gebiet zwischen der Psychologie des Geistesgesunden und der des Geistes- kranken dar.

Ein zweites Kapitel ist der Rechtfertigung der Annahme un- bewuXister oder unterbewufster psychischer Vorgänge gewidmet. Über- zeugend sind die Argumente des Verfassers in keiner Weise. Die S. 73 o.

5 8 Litter aturbei'icht.

hervorgehobene Schwierigkeit ist einer erkenntnistheoretischen Lösung, welche den von der physiologischen Psychologie provisorisch angenom- menen Parallelismus und Dualismus des Materiellen und Psychischen fallen läfst, wohl zugänglich. Schliefslich wird das „Doppelbewufstsein", welches Verfasser konstruiert hat, herbeigezogen, um die Lehre von den unbewufsten psychischen Vorgängen zu stützen; indes die Existenz eines solchen Doppelbewufstseins ist in keiner Weise dargethan. Das Charak- teristische des sogenannten „Ober bewufstseins" sieht D.in der Vereinigung einzelner Bewufstseinsinhalte zu „Synthesen". Eine klare Erläuterung des mit diesen „Synthesen" Gemeinten vermifst Referent.

Bezüglich des Zusammenhanges von Bewegung und Empfindung vertritt D. die im einzelnen nicht genauer ausgeführte Ansicht, dafs die übliche Trennung von Empfindung und Bewegung unstatthaft sei: ^die- selbe Thatsache, welche, von innen angesehen, sich als Empfindung dar- stellt, erscheint, von aufsen angesehen, als Bewegung, wobei freilich die Stärke der Beleuchtung zwischen innen und aufsen dermafsen abwechselt, dafs wir manchmal lediglich den Empfindungscharakter, in anderen Fällen nur den Bewegungscharakter wahrzunehmen vermögen." Ganz besonders scharf kommt die Grund anschauung D.*s auch bei Besprechung der Reflexe zum Ausdruck; hier heifst es S. 102 wörtlich: „Selbst der ein- fachste Reflex ist durch bewufste Empfindungen als durch seine Ursachen bedingt." Das Gefühl der Wahlfreiheit bei Willkürakten entsteht nach D. dadurch, dafs die regulierende Thätigkeit der in Bereitschaft liegenden Vorstellungen den ursprünglich identischen Akt: Bewegung Empfin- dung verlangsamt. „Jede spontane Handlung," heifst es S. 106," „ist wesentlich durch verborgene Vorstellungskomplexe beeinflufst, und zwar verleiht dieser Einfiufs den Willkürbewegungen deshalb den Charakter der Überlegtheit und Langsamkeit, weil der Einfiufs einerseits der Summe der bereits erworbenen Einsichten entspringt, andererseits die natürliche Schnelligkeit der motorischen Reaktion mindert oder die Intensität der stets erfolgenden Bewegungen bis zur Form leichter Spannungen herab- setzt." Man wird den treffenden Ausführungen D.'s in diesem Gebiet im allgemeinen beistimmen können, auch ohne seine Annahme unbewuiüster psychischer Akte, resp. eines Unter- und Oberbewufstseins zu teilen.

Das vierte Kapitel zieht die Konsequenzen der referierten An- schauungen für die Lehre vom Gedächtnis, das fünfte für die Lehre von der „Persönlichkeit". Das unterscheidende Merkmal des sogenannten „selbstbewufsten Aktes" gegenüber dem blofs bewufsten Akt sieht D. erstens in einer Intensitätserhöhung imd zweitens in dem Hinzutreten „interpretativer Empfindungen" zu der Hauptempfindung. In seinen SchlufsausfÜhrungen wendet sich D. gegen die oft ausgesprochene Identi- fikation von Selbstbewufstsein und Persönlichkeit.

Einen besonders anregenden Charakter bekommt die DsssoiBsohe Arbeit durch die häufige Bezugnahme auf die umfangreiche einschlägige Litteratur. Ziehen (Jena).

William Platt Ball. Are the effects of use and disnse inherttad? London, Macmillan, 1890. 156 S.

Das vorliegende Büchlein bildet ein Glied einer Reihe von Schriften,

Litteraturbericht 59

welche allgemein interessante naturwissenschaftliche Probleme für ein gebildetes Publikum bearbeiten. Ein erster Teil wendet sich namentlich gegen einen Aufsatz H. Spencers und versucht dessen Argumente einzeln zu widerlegen ; in einem zweiten Teil werden Argumente Dabwiits geltend gemacht, welche, auf selektionstheoretischer Basis stehend, die Erblich- keit erworbener Eigenschaften bestreiten. Fast mehr als alle Einwände, welche gegen diese Lehre vorgebracht werden, ist dasjenige Kapitel des Verfassers, welches die Konsequenzen der unbedingten Vererbung er- worbener Eigenschaften ins praktische Leben überträgt, geeignet, von der Bichtigkeit der entgegengesetzten Ansicht zu überzeugen. Wenh man aber bedenkt, wie stark die Selektionstheorie erschüttert ist, so dürften wohl die vorgebrachten Beispiele kaum im stände sein, die höchst komplizierte Vererbungsfrage zu lösen. Obschon diese Lösung unseres Erachtens auch dem Verfasser nicht gelungen ist, möchten wir das anziehend und leicht geschriebene Büchlein demCenigen Leserkreise empfehlen, an den es sich richtet. Bubckhardt (Berlin).

Tfi. Mkynert. Das Zusammenwirken der Gehimteile. VerhandL d, 10. Intern. Med. Kongresses, Bd. I (1891). S. 173—190.

M. geht in seinen Darlegungen von einem Satze aus, dem wir in etwas verschiedener Form schon öfter in seinen Abhandlungen begegnet sind. Das Gehirn ist, sagt er, einer Kolonie durch Fühlfäden und Fang- arme sich des Weltbildes bemächtigender, lebender, bewufstseinsfähiger Wesen vergleichbar, und dies ist mehr als ein blofser Vergleich. Nur das Bewufstsein der Hirnrinde fällt beim Menschen in die Aufmerk- samkeit und durch die allseitigen protoplasmatischen und markhaltigen Verbindungen der Elementarwesen der Rinde, durch ihre Associations- Yorgänge erscheint sie sich als ein einziges Wesen. Das Bewufstsein ^er Hirnrinde scheint dem Menschen deshalb das einzig Fühlbare zu sein, weil es das intensivste ist. Das Bewufstsein der Nervenzellen imd die Dinge sind untrennbar; noch niemals waren Dinge, ohne dafs Gehirne da waren, aber auch nie gab es ein Bewufstsein, in dem nicht die Dinge lagen. Die Dinge bestehen im Bewufstsein in zweierlei Art, erstens als Sinnesempfindungen, zweitens als Erinnerimgen, Vorstellungen oder Gedankengänge. Der innere Zustand der Nervenzelle ist Empfin- dungsfähigkeit, welche Ernährung und äufsere Beize zur Empfindxmg gestalten.

Die sich hier anschliefsende Frage, ob allen einfachen Nervenzellen die gleiche Empfindungsfähigkeit zukommt oder ob Unterschiede im Sinne einer spezifischen Energie vorkommen, entscheidet M. in längerer Auseinandersetzung im Sinne einer empiristischen Auffassung: aller spezifischer Charakter der Eindrücke ist in der spezifischen Beschaffen- heit der die difTerenten Reize aufnehmenden peripheren Sinnesorgane zu suchen. „Angeborenes Licht als Funktion des Gehirns und andere spezifische Energien giebt es nicht." Weil die Leitung vom optischen Aofiiahmeorgan zur Binde unzählige Male durch Licht angesprochen

60 lAtteraiurbericht

wurde, schliefst die Binde aus Erregungen innerhalb der ganzen Lei tungs-^ bahn stets auf einen Lichteindruck. Ebenso wie das Baumbild nach Hblmholtz durch Sohlufsprozesse erworben wird, würde nach M. auch fdr den Erwerb der spezifischen Sinnesenergien des BewuXistseins an Schlufsprozesse zu denken sein. Speziell sucht M. dies für die optischen Empfindungen im einzelnen nachzuweisen. Es existiert also nur eine tierische Empfindung, welche erst durch Beizunterschiede und deren Aufnahmeorgane verschieden wird.

Demgemäfs erklärt M. auch die Hallucination für einen „SchluTs^^ der von der Erregung einer Station innerhalb der subkortikalen Zuleitung der Sinnesbilder angesponnen wird und dem die Binde gem&fs ihren im Bewufstsein stehenden Gedanken und Affekten eine Ausdeutung als Wahrnehmung giebt. Der Hirnrinde kommt kein bleibender sinn- licher Inhalt zu, sie kann nicht sinnlich lebhaft reproduzieren. Zu letzterem bedarf es subkortikaler Nervenzellenkolonien, ja die Ab- Schwächung der Bindenthätigkeit begünstigt sogar das Auftreten sub- kortikaler Phantasmen. Das abnorme Zusammenwirken der Himteile in der Hypnose, in der hallucinatorischen Verwirrtheit und auch im Schlaf gehört hierher. In sehr interessanter Weise sucht M. diese Störungen zu der Verschiedenheit des Modus der Blutversorgung von Binde und Himstamm in Beziehung zu setzen.

Weiterhin streift M. kurz die Frage, wie das Phänomen des )>Ich^ entsteht. Die hier vorgetragene Auffassung Mbynbrts ist von ihm bereits ausführlicher in einem früheren Vortrag über „Gehirn und Gesittung*^ auseinandergesetzt worden. In dem ungleichen Umfang des »loh'*, das bei dem Kinde auf die einfachsten Empfindungen des eigenen Körpers beschränkt ist und allmählich immer mehr Gegenstände und Personen n sich aufnimmt, und andererseits bei gewissen Erkrankungen, wie z. B.. bei der Melancholie sich einengt und durch Erschwerung der Associations- leitung auseinanderfällt, sieht M. einen zwingenden Beweis für die soziale, zusammengesetzte Natur des „Gehirnstaates^.

Angeborene Himfunktionen , ein angeborenes Wissen von der Er- soheinungswelt bestreitet M. durchaus. Angeboren ist nur eine gewisse, höchst verwickelte anatomische xmd chemische Beschaffenheit. Die Funktionen selbst aber, Licht, Schall und Baumbild und Bewegungs- motive sind Gegenstände des Erlernens.

Der Vortrag Meynbbts enthüllt uns in grofsen Zügen das Bild des Gehimlebens, wie es sich dem grofsen Hirnanatomen und Psychiater darstellt. Es ist selbstverständlich, dafs es sich bei einem so umfassenden Problem zuweilen nur um ein geniales Ahnen handeln kann; manche kühne Brücke wird geschlagen, deren Sicherheit und Festigkeit die » langsamer nachschreitende Wissenschaft im einzelnen noch lange wird prüfen müssen. Zuweilen reiht sich eine geistvolle, anregende H3rpothese an die andere. Auch Metnbbts grundlegende himanatomische Arbeit ging von mehreren hypothetischen Sätzen aus; zahlreiche, ja die Mehrzahl der von ihm aufgestellten Faserverbindungen im Centralnervensystem hat bei Nachprüfungen korrigiert oder abgelehnt werden müssen, und doch verdanken wir dem durch Mbtnert aufgestellten Standpunkte fast

Litteraturbericht 61

alle neueren Fortschritte der Hirnanatomie. Diesen neuesten Vorträgen M/s gegenüber dürfte ein ähnliches Urteil am Platze sein. Einzelne Einwände gegen einzelne Glieder der neuen grofsartigen Konstruktion des Verfassers erscheinen daher ganz zwecklos, und erlaubt sich Beferent nur den einen Hinweis, dafs die Hirnrinde, als deren „Leistung" M. so gerne die äufsere Welt und das Ich hinstellt, doch selbst zu dieser äufseren Welt gehört und uns auch nur aus Gesichts empfindungen bekannt ist; eine eingehendere Kritik namentlich des philosophischen Teiles der MsYNERTSchen Anschauungen hätte hier einzusetzen.

Ziehen (Jena). H. MuNE. Über die Funktionen der Grofshimrinde. Gesammelte Mit- teilungen mit Anmerkungen. Zweite vermehrte Auflage. Berlin, Hirschwald, 1890. Das vorliegende Buch enthält die im Jahre 1880 erschienenen Mit- teilungen, vermehrt um neun weitere. Wenn auch der Inhalt der ersten Auflage im allgemeinen als bekannt vorausgesetzt werden mufs, so möge doch, um eine Würdigung des neu hinzugekommenen zu ermög- lichen, eine Skizze des Standpunkts, den Munk in der ersten Auflage einnahm, vorausgeschickt werden.

Für Munk war, als er an die TJntersuchrmg der Grofshimrinde ging, die Lokalisation der Funktionen ein physiologisches Postulat. Er vermochte nicht zu glauben: „dafs, wo in den niederen Centralorganen 4ie gröfste Ordnung herrsche, in den oberen alle Fäden bunt durchein- andergewürfelt seien". Seine ersten Versuche führten ihn zu der Auf- stellung zweier grofser, funktionell diflferenter Bezirke auf der Grofs- himrinde. Eine Linie senkrecht vom Ende der Fissura Sylvü gegen die Falx gezogen, scheidet den vorderen Abschnitt, dessen Verstümmelung Bewegungsstörungen zur Folge hat, von einer hinteren, „sensoriellen Sphäre". Loa näheren charakterisieren sich die Störungen nach teilweiser Abtragung dieser letzteren dahin, dafs beispielsweise die Wegnahme eines Stücks der Sehsphäre, die am Hinter hauptslappen liegt, „Seelen- blindheit", ihre totale Zerstörung „Rindenblindheit", d. h. völlige Blindheit erzeugt. Die Seelenblindheit wird definiert als „das Fehlen der Gesichtsvorstellungen, der Erinnerungsbilder der Gesichtswahr- nehmungen". Diese Störung ist aber keine dauernde, da die übrig- gebliebenen Teile der Sehsphäre mit neuen Erinnerungsbildern besetzt werden können; das Tier lernt nun sehen, wie in frühester Jugend. Der Bezirk, dessen Abtragung Seelenblindheit erzeugt, ist in der Mitte der Sehsphäre gelegen, und es kann gelingen bei unvollkommenen Exstir- pationen, einzelne Erinnerungsbilder zu erhalten, so in einem Falle das des Eimers, aus dem der Hund zu trinken gewohnt war. Die ganze Sehsphäre stellt sich Munk als eine Projektion der Retina auf die Hirn- rinde vor. Beim Hund entspricht der lateralste Abschnitt der Netzhaut dem lateralsten Abschnitt der gleichseitigen Sehsphäre, die Macula lutea dem Oentrum der gegenseitigen, der mediale Teil der Retina der medialen Partie ebenfalls der gegenseitigen Sehsphäre. Die einfache Untersuchung des Gesichtsfeldes des operierten Tieres führt zu diesem Resultat.

Die Projektion der Macula lutea ist zugleich die Stelle, deren

62 Litteraturbericht

Zerstörung Seelenblindheit erzeugt. Etwas anders liegen die Verbältnisse am Affengehim. Hier entsteht nach einseitiger totaler Wegnahme der Sehsphäre Hemiopie.

Die vorderen Partien des Grofshims bezeichnet Munk als „Fühl- sphäre^^ der zugehörigen Körperteile: der Ausfall der Haut^, Muskel- und Innervationsgefühle ist es, der die Bewegungsstörungen hervorruft, die nach Exstirpation dieser Gegend auftreten.

Die neuen Abhandlungen beschäftigen sich gröfstenteils mit den Sinnessphären. Die 12. 16. Mitteilung bilden eine Reihe, die den Gesamttitel: „über die centrcUen Organe für das Sehen und Hören hei den Wirbeltieren^ führt imd deren Inhaltsangabe hier vor allem gegeben werden soll. Da Müne zu dem Resultat gekommen war, dafs der centrale Vorgang des Sehens und Hörens beim Hunde und Affen lediglich an die Grofshirnrinde gebunden ist, für die niedem Wirbeltiere aber anderweitige Angaben vorlagen, so lag es nahe, auch diese letztem daraufhin zu imtersuchen. Zunächst den Frosch. Da ergaben die Ver- suche, die Blaschko in Munks Laboratorium ausführte, dafs der grofs- hirnlose Frosch in der That sieht, dafs er seine Bewegungen in Art,. Richtung und Gröfse nach den Hindernissen, die ihm in den Weg gestellt werden, einrichtet, und zwar auch dann, wenn die Verwertung schon vergangener Gesichtseindrücke nötig ist. Ganz anders soll es mit der Taube stehen. Wenn dieser das Grofshirn vollständig entfernt ist, so ist sie total blind. Die Untersuchung des Gesichtsfeldes von Tauben, denen eine Grofshirn half te weggenommen war, ergab, dafs die äufserste laterale (hintere) Partie der Retina, der gleichseitigen, die ganze übrige Retina der gegenseitigen Sehsphäre, die im hintersten Abschnitt des Grofshims gelegen ist, zugehört. Die Angaben anderer Experimen- tatoren, die grofshimlose Tauben nicht blind fanden, führt Munk auf un-^ vollkommene Exstirpation des Grofshims zurück.

Für das Kaninchen behauptet Muxx gleichfalls, dafs Abtragung des Grofshims totale Blindheit erzeuge. Derartig operierte Tiere kommen nach einer mehrstündigen Periode der „Erschöpfung", dann der „Ruhe** in ein „Lauf Stadium**. Die beobachteten Bewegungen sieht Mukk, vor allem in Würdigung des ümstandes, dafs sie in einer bestimmten Zeit nach der Operation auftreten, als reflektorische an. Die Tiere rennen dabei an alle Hindemisse an, fallen vom Tisch, und wenn sie „Anhöhen erklettern**, so sei dies kein Beweis ihrer Fähigkeit zu sehen, sie ge- langten eben bei ihren „Zwangsbewegungen, in Form gewaltiger Sätze, nach oben**, „günstigen Falls auf höhere Objekte**. Auch Kaninchen,, denen bald nach der Geburt das hintere, obere Ende des Grofshims fortgenommen wurde und die man aufwachsen liefs, erwiesen sich, ent- gegen den Angaben Guddens, als blind.

Einer erneuten ausgedehnten Untersuchung wurde die Sehsphäre des Hundes unterworfen. Goltz hat behauptet, dafs Hunde mit ver- stümmelten Hinterhauptslappen nicht blind seien, sondern nur eine all- gemeine Wahmehmungsschwäche aufweisen, und hat einige Versuche angegeben, die dies beweisen sollten. Er giebt an, dafs ein derartige» Tier eine hellbeleuchtete oder mit weifsem Papier belegte Stelle des.

Litteraturhericht 63

Fuisbodens wie ein Hindernis umgehe. Dagegen behauptet Münk, dafs seine Hunde, denen die Sehsphäre beiderseitig, und nur diese, entfernt worden war, solche Stellen auch betraten , ferner, dafs rindenblinde Hunde die Verdeckung des Auges viel ruhiger ertrugen wie sehende, and endlich, dafs Tiere mit partiell zerstörter Sehsphäre den Kopf stets so- trugen, daIJs die den funktionierenden centralen Stellen ent- sprechenden Netzhautteile von den Objekten getroffen wurden. Er kommt daher zu dem Schlufs, indem er „jedem noch möglichen Bedenken Bechnung trägt und die Vögel bei seite läfst^': „Beim Säugetiere ist schon der Anfang alles Sehens, die Lichtempfindung, eine Fxmktion seines Grofshirns. Für die Verschiedenartigkeit der centralen Elemente, die den specifischen Sinnesorganen zu gründe liegen, sei ein „erster Nach- weis" geliefert."

Auch Über die Hörsphäre werden neue Erfahrungen mitgeteilt. Sie ist repräsentiert durch einen Bezirk, der in einem nach unten konvexen Bogen, die Fissura postsylvia, umgreift. Ihre Zerstörung ergiebt völlige Taubheit des Tieres, das aufserdem nach ungefähr zwei Wochen stumm wird. Kombiniert man die Abtragung der Hörsphäre mit Zerstörung des inneren Ohres derselben Seite, so ergiebt sich gleichfalls absolute Taubheit, woraus folgt, dafs die Hörsphäre dem gekreuzten Ohre zugehört. Partielle Exstirpationen dieses Eindenteils führen zu dem weiteren Resultat, dafs dessen hinterer Teil der Wahrnehmung der tiefen, der vordere, der hohen Töne dient. „Das gewöhnliche alltägliche Hören des Hundes" ist, nach Mükks Angaben, an die untere Partie der Hör- sphäre geknüpft. Wir haben es hier also mit derselben Vorstellung zu thun, wie wir sie oben als Muxss Anschauung für die Sehsphäre skiz- zierten: eine direkte Projektion der End-Elemente des Acusticus auf die Hirnrinde, und finden auch den Parallelsatz, dafs nur in der Hör- sphäre die centralen Elemente gelegen seien, welche Schall empfinden, in denen Gehörswahmehmungen zu stände kommen.

Im bisherigen erwähnten wir nirgends der Intelligenzstörungen, die nach Abtragung der Hirnrinde eintraten. Mükk nimmt in dieser Frage den Standpunkt ein, dafs das, was man Intelligenzstörungen zu nennen gewohnt ist, nur auf den Ausfall der betreffenden Sinneswahrnehmungen und Erinnerungsbilder zurückzuführen sei. Die Intelligenz ist für ihn der „Inbegriff und die Resultierende aller Sinneswahmehmungen". Er widerspricht auf Grund seiner Versuche der verbreiteten Ansicht, dafs wir im Stirnhim ein spezielles Organ der Intelligenz zu sehen haben. Das Stirnhim ist nach seinen Ermittelungen die „Fühlsphäre^ (in dem oben angegebenen Sinn) der Rumpfmuskulatur. Zerstörrmg dieser Partie ergiebt beim Hunde und Affen Bewegimgsstörungen, die besonders dann deutlich hervortreten, wenn das Tier kurz wendet. Werden einem Himde beide Stimlappen abgetragen, so vollziehen sich alle seine Drehungen zeigerartig im Becken. Beim Affen tritt zu ähnlichen Störungen noch die ÜnfUiigkeit hinzu, die Rücken-Lendenwirbelsäule zu strecken und zu beugen. Versuche mit elektrischer Reizung des Stirnhims bestätigen diese Auffassung.

Die letzte Mitteilung behandelt die Sehsphäre imd die Augen-

ü4 Lüteraiurbericht,

bewegungen. Schäfer hat gefunden, dafs von der ganzen Sehsphäre aus beim Affen durch Induktionsströme assoziierte Augenbewegungen aus- gelöst werden können. Mukk führte diese Versuche beim Hunde aus und sieht in ihrem Ergebnis eine Bestätigung seiner Vorstellung von der Projektion der Retina auf der Hirnrinde. Die assoziierten Augen- bewegungen traten auch auf, wenn die Stelle der „Fühlsph&re^', deren Reizung Augenbewegungen erzeugt, von der Sehsphäre abgetrennt ist. Es sind also in der Sehsphäre selbst centrifugale Bahnen enthalten, sie ist ein Gebiet, in dem sich ein „Sehreflex niederster Ordnung^ abspielt^ welcher „Lichtempfindungen zur Voraussetzung und AugenbewegongeiL zur Folge hat", welch letztere „den Blick wenden xmd vorher undeutlich. Gesehenes fixieren lassen". R. Wlassae (Zürich).

J. Ferguson. The anditory centre. Jaum, of Anat, and PhysioL^ XXV, January 1891. S. 292.

Der leider nur sehr ungenau mitgeteilte Fall ist folgender: Ein schon seit acht Jahren infolge rechtsseitiger Otitis media auf dem rechten Ohr tauber Mann erkrankte an Krampfanfällen der linken Körperhälfte, welche mit linksseitigen subjektiven Geräuschen einsetzten. Allmählich stellte sich völlige Taubheit des linken Ohres ein. Die subjektiven Geräusche bli eben trotzdem bestehen. Die Sektion ergab eine Geschwulst, welche die erste Schläfenwindung völlig, die zweite leicht zerstört hatte.

Ziehen (Jena).

B. Lkvy. Die EegtLÜerang der Blntbewegnng im Gehirn. Virchowt Archiv. Bd. CXXII (1890). S. 146-200.

In Bd. II, Heft 3, S. 221 dieser Zeitschrift ist über die Schrift von Gkigel (Würzburg) „2>w Mechanik der Blutversorgung des Gehirns^ berichtet worden. Von diesem Aufsatz geht Levy in seiner Arbeit aus (S. 146).

Wie bei Geioel bildet die Voraussetzung der Untersuchung der Gedanke, dafs (S. 158) „die Gehirnmasse inkompressibel und in einer starrwandigen, unnachgiebigen Höhle eingeschlossen sei."

S. 159: „Die Erweiterung irgend einer Arterie hat daher Verengerung der Kapillaren und Venen zur Folge."

Obgleich Levy denselben Grundgedanken wie Geioel hat, kommt er doch zu dem abweichenden Resultat, dafs trotzdem unter gewissen Bedingungen Erweiterung der Arterie eine Vermehrung der Blutströmung, also Eudiämorrhysis zur Folge hat. Diese Bedingungen bestimmt L. in folgendem Satze:

S. 161: „Es werde eine beliebige Arterie vom Radius r (also Quer- schnitt /Tr*) betrachtet. Die entsprechende Vene habe den Radius ^«. Es ist gleichgültig, ob man eine kleinste Arterie oder eine beliebige gröfsere betrachtet, nur mufs man immer das ganze Gebiet der be- treffenden Arterie im Auge behalten. Von der Arterie und ihren Seiten- ästen führen dann im ganzen n Kapillaren vom mittleren Radius ^ eu der Vene und zu ihren Seitenästeu. Sind dann die beiden Bedingungen erfüllt :

Q^>r,n'>

(t)-.

Litteraturbericht, 65

ist also die Vene weiter als die Arterie und übersteigt die Anzahl der Kapillaren einen gewissen, durch Messung leicht festzustellenden Wert, 80 hat eine Verengerung der Arterie stets Verminderung der Blut- strömung, eine Erweiterung der Arterie stets Vermehrung der Blut- strdmung zur Folge, d. h. so lange die beiden Bedingungen erfüllt sind, folgt das Gehirn genau denselben Gesetzen für die Regelung der Blut- zafahr, als jedes andere Organ."

Auf einem sehr weitschweifigen mathematischen Wege, dessen Darlegung hier zu weit führen würde, gelangt L. zu dem Beweis für die Bichtigkeit der beiden Bedingungen, unter welchen die Cirkulations- Verhältnisse im Gehirn denen im übrigen Körper genau entsprechen sollen. Ich mufs hier auf die eigentümlich deduktive und konstruierende Methode Lbtts aufmerksam machen, welche jeden an Induktion auf Grund von Beobachtungen Gewöhnten stutzig machen mufs. Besonders möchte ich zur kritischen Vorsicht in Bezug auf die Annahme der Voraus- setzungen mahnen, von denen aus Lkvy dann weiter deduziert. S. 163. ,Ich gehe nun aus von dem im Gehirn ja nicht erfüllten Falle, dafs die von der Arterie ausgehenden Kapillaren in Form eines sogenannten Wundemetzes (Htbtl, Anatomie des Menschen § 47) angeordnet sind, dais also die Arterie sich in eine Anzahl von Kapillaren auflöst, welche sämtlich von demselben Punkte der Arterie entspringen, und dafs dann die Kapillaren sich sämtlich wieder in einem Punkte zu der abführenden Vene vereinigen, und dafis die Kapillaren unterwegs keine Anastomosen haben. Es ist dies bekanntlich das Schema der MALPioHischen Knäuel." In diesem dem Nierenbau zugehörigen Schema führt nun Lett eine Bedingung ein, welche nicht bei den MALPioeischen Körperchen, wohl aber im Gehirn zutrifft, dafs nämlich der Radius der abführenden Vene gröfser als der Radius der zufahrenden Arterie sei. Das grund- legende Schema, von dem aus L. deduziert, enthält also eine Verbindung von Verhältnissen, die zum gröfsten Teil für den Nieren bau, zum kleineren Teil für den Gehirnbau zutreffen. Dieses Verfahren, nämlich die Deduk- tion von Voraussetzungen, denen nichts sicher Wahrnehmbares im Körper entspricht, kann leicht irreleiten und mufs jedenfalls mit Vorsicht auf- genommen werden. Lett kommt nun durch mathematisch-physikalische Deduktion zu dem Satz (S. 173): „Für unser ideales Gefäfsschema gilt demnach folgender Satz: „Jede Verengerung der Arterie bewirkt Ver- minderung der Blutströmung, arterielle Anämie. Erweitert sich die Arterie, so bewirkt dies zunächst eine Vermehrung der Blutströmung, arterielle Hyperämie; wird die Erweiterung stärker, so nimmt die Blut- strömung wieder ab. Nur eine hochgradige Erweitenmg der Arterie bewirkt demnach arterielle Anämie, eine mäfsige bewirkt Hyperämie." (Gbigel hatte für das Gehirn den Satz aufgestellt, dafs jede Erweiterung der Arterie Adiamorrhysis, d. h. geringere „Durchflutung" zur Folge habe.) „Sind die beiden von mir gefundenen Bedingungen nicht erfüllt, 80 gilt der eben bewiesene Satz nicht mehr." Lett zeigt nun unter all- m&hlicher ümwandelung seines „idealen Gefäfsschemas*' unter Anpassung «ö die wirklichen Verhältnisse der Gefäfs Verteilung im Gehirn, dafs der fELr sein ideales Gefäfsschema giltige Satz auch für das Gehirn

Zeitschrift für Ptychologic III. 5

66 LiUeraturbericht

zutrifft. Wer jenes Gef^sschema als Verbindung eines fCir die MALFioHischen Knäuel und eines für das Gehirn giltigen Verhältnisses erkannt hat, wird über dieses Resultat einigermafsen erstaunt sein. Ich meine, dals man viel eher das Gefühl der Sicherheit bei diesem Resultat haben würde, wenn L. auf Grund von wirklichen Beobachtungen zur Auf- stellung seines Gesetzes gelangt wäre.

Der Satz, zu welchem L. mit Bezug auf Gbioels Theorie gelangt^ lautet (S. 194): „Es bewirkt alsdann unter normalen Verhältnissen die Verengerung einer beliebigen Hirn-Arterie stets Verminderung der Blut- zufuhr, also arterielle Anämie, eine Erweiterung dagegen Vermehrung der Blutzufuhr, also arterielle Hyperämie."

S. 196. »Die arterielle Hyperämie hat (somit) ein bestimmtes Maximum; sobald dieses Maximum erreicht ist, bewirkt jede fernere Arterienerweiterung Gehimanämie mit ihren Folgen.^

S. 196. ),Für pathologische Verhältnisse kann folglich Gciobls Satz Giltigkeit erlangen, im Gebiet des Physiologischen hört aber seine Gil- tigkeit auf.^ Sommer (Würzburg).

R. Gre£ff. Zur Vergleicliimg der Accommodationsleistimg beider Augen. Knapp u. Schweiggers Archiv f. Äugenhk, Bd. XXTTT. 1891, S. 371—386.

(Selbstbericht.)

Zur Prüfimg der in letzter Zeit viel umstrittenen und für die Lehre^ von der Anisometropie fundamentalen Frage, ob Iso- und Anisometropen nur gleiche oder auch ungleiche Accomodation zur Verfügung steht, wurde anstatt des bisher verwendeten komplizierten Prismen-Stereoskop- Leseversuches eine neue höchst einfache und dabei sicher zu kontroK lierende Methode eingeführt, welche es vor allem gestattet, dalis der za Untersuchende seine Angaben subjektiv macht, ohne dafs er weifs, worum. es sich handelt.

Hält man in einiger Entfernung von einem Buch oder einer Ijese- probe in der Mittellinie der Augen einen imdurchsichtigen Gegenstand von geringer Breite (Lineal, Zeigefinger etc.), so ist man trotzdem sehr wohl im Stande, gleichsam durch den Gegenstand hindurch zu lesen. Dies ist nur möglich durch binokulares Gleichsehen, wie man sich leicht überzeugen kann. Schliefst man nämlich ein Auge, so ist sofort eine bestimmte Strecke der Schrift verdeckt und imleserlich, ebenso bei Schliefsung des anderen Auges eine andere Strecke. Der Beobachtende hat also zwei nebeneinander liegende getrennte Gesichtsfelder beider Augen, welche dem binokular Gleichsehenden nicht zum BewuHstsein kommen, weil sie eben beide gleich deutlich sind.

Der Anisometrop mufs sich nun offenbar ebenso verhalten, wenn er durch ungleiche Accommodation beide Augen'richtig auf die Ebene des- Buches einzustellen vermag. Im anderen Falle sieht er das dem nicht eingestellten Auge entsprechende Gesichtsfeld verwaschen.

Zur Erleichtenmg bei der Ausführung der Untersuchungen kon* struierte Verfasser einen einfachen, stabilen Apparat, bei welchem durch eine kleine Rechnung das imdurchsichtige vertikale Stäbchen ftlr

Litteraturbericht 67

jeden Beobachter leicht so geschoben werden kann, dafs die Gesichts- felder beider Augen gerade aneinander grenzen und so leicht der geringste Unterschied beobachtet werden kann.

Sowohl bei künstlicher Anisometropie, welche durch Vorsetzen von Gläsern vor ein Auge erzeugt wurde, als bei natürlicher Anisometropie liefs sich durch Untersuchungen nach dieser Methode auf das exakteste darthun, dafs auch nicht eine Spur von ungleicher Accommoda- tion sich erzwingen läfst.

Der Umstand, dafs Anisometropen vollkommenes binokulares Sehen besitzen, so dafs der Hering sehe Fallversuch bestanden wird, erwies sich als richtig. Die Thatsache ist jedoch nicht auf den Ausgleich des Acconimodationsunterschiedes durch ungleiches^Accommodieren auf den Fixierpunkt zu erklären, denn auch in den Fällen, bei welchen ein solcher Ausgleich unmöglich ist, wenn nämlich der Fixierpunkt sich jenseits des Fempunktes eines Auges befindet, findet das vollkommene Binokularsehen statt.

NoiszEwsKi. Der Elektroplithalin, ein Apparat zur Wahmehmimg der Uchteracheinimgen mittelst des Temperatur- und Lokalisations- geftthls. Centraibl, f. NervenheiUc, u. Psychiatrie; Intern, Manaisschr., Januar 1891. S. 10.

Ausgehend von dem Wunsche, denjenigen Blinden, die entweder der Augen ganz beraubt sind oder die den Unterschied zwischen hell und dunkel nicht mehr wahrnehmen, die Möglichkeit zu verschaffen, sowohl die Licht ausstrahlenden, wie auch die beleuchteten und dunklen Körper aus der Entfernung durch das Gefühl zu erkennen, stellte sich Verfasser die Aufgabe: 1. „den Blinden in jedem Falle es wissen zu lassen, dafs ein leuchtender, beleuchteter oder dunkler Körper vor ihm steht oder aufzutauchen beginnt; 2. ihm die Möglichkeit der Lokalisation solcher Körper im Zustande der Euhe sowohl, wie auch der Bewegung zu geben, so dafs er jederzeit im stände sei, sowohl die Richtung der Fortbewegung des Körpers anzugeben, als auch das Näherkommen des- selben von dessen Entfernung zu unterscheiden/'

Zur Lösung dieser Aufgabe verwertete Verfasser die Eigenschaft des Selen, unter der Einwirkung von Licht eine Steigerung der Elektrizitäts- leitungsfähigkeit zu erfahren, und konstruierte einen von ihm Elektroph- thalm genannten Apparat, der eine Art Camera obscura mit einer bikon- kaven Linse imd einer dreiteiligen Hinterwand darstellt. Letztere wird gebildet aus 1. einem dünnen, runden, siebartig durchlöcherten Metall- plättchen mit Metalleinfassung, welche zur Zuleitung eines elektrischen Stromes auf das Metallsieb dient; 2. einer der Rückseite des Siebes fest anliegenden dünnen Selenplatte, und 3. einer aus feinen, von einer Isolier- schicht bedeckten Golddrähtchen bestehenden, der Rückseite der Selen- platte fest anliegenden Bürste. Dieser Apparat wird über der Nasen- wurzel auf der Stirn so befestigt, dafs die freien Enden der Golddrähtchen die Haut dieser Stelle, die bekanntlich hinsichtlich der Temperatur und Lokalisation sehr empfindlich ist, berühren; von einem leuchtenden oder beleuchteten Gegenstand wird nun durch die Linse ein umgekehrtes und

68 LitUraiwrhericht

verkleinertes Bild auf die Selenplatte geworfen, die so beleuchtete Stelle der Platte wird elektrizitätsleitend, der elektrische Strom, der an dieser Stelle durch das Selen dringt, geht auf die dem beleuchteten Teil der Selenplatte entsprechenden Drähtchen Über , deren Temperatur er erhöht, und diese Temperatursteigerung gelangt zur Empfindung.

Verfasser kommt zu nachstehenden Folgerungen:

„1. Die Anwesenheit eines leuchtenden oder beleuchteten Gegen- standes wird mit Hülfe des Elektrophthalms wahrgenommen werden können als Wärmeempfindung in der Perceptionsfläche.

2. Ein dunkler Gegenstand auf hellem Hintergrunde wird empfunden als peripherische Wärmeempfindung und als Fehlen derselben im Centrum.

3. Die Vergröfserung der Wärmeempfindungsfläche als Kenn- zeichen der Annäherung eines leuchtenden Körpers.

4. Die Abnahme der Wärmeempfindungsfläche in dem Falle, wenn der Gegenstand sich entfernt.

5. Die Abnahme der Wärmeempfindungsfläche vom Centrum aus gegen die Peripherie wenn ein dunkler Gegenstand sich nähert.

6. Die Vergröfserung der Wärmeempfindungsfläche in entgegen- gesetzter Richtung, von der Peripherie aus gegen das Centrum, wenn ein dunkler Gegenstand sich mehr und mehr entfernt.

7. Eine Ortsveränderung der Wärmeempfindung in der Bichtung nach rechts bedeutet, dafs ein beleuchteter Gegenstand sich nach links hin bewegt und umgekehrt.

8. Die fortschreitende Bewegimg der Wärmeempfindung nach unten hin wird anzeigen, dafs der beleuchtete Gegenstand gehoben wird, steigt und umgekehrt.

9. Die Bewegung der centralen Wärme Verminderung nach irgend einer Seite hin wird das Anzeichen dessen sein, dafs ein dunkler Gegen- stand in der entgegengesetzten Richtung fortbewegt wird."

Pebetti (Merzig).

KiEssELBACH. Stimmgabel und Stimmgabelversache. Monatsschr. f. Ohren- heUh Jahrg. XXV (1891). S. 1-7 u. S. 97—102.

Aus dieser Untersuchung verdient hier folgendes hervorgehoben zu werden, was teils neu, teils nicht allgemein bekannt ist. Anspannung des Trommelfelles setzt die Perzeption aero-tympaual zugeleiteter tieferer Töne herab oder hebt sie sogar ganz auf. Osteo-tympanal zugeleitete werden durch Luftverdichtung in der Paukenhöhle, welche ein Auswärts- drängen des Gehörknöchelapparates und einen Überdruck auf das runde Fenster veranlaDst, verstärkt, besonders wenn die Gabel durch ein Lauf- gewicht belastet ist. Einwärtspressen des Trommelfelles samt den Elnöchelchen auf dem Wege der Aspiration oder der Luftkompression im äufseren Gehörgang durch Verstopfung verringert die Perzeptionsdauer, eventuell bis auf Null. Ebenso bewirkt die Kontraktion des Tensor tympani bei tieferen Tönen sowohl flir Luft- wie für Knochenleitung ein Schwächerwerden und ein Höherhören; bei mittleren nur ersteres; jenseits c* bleiben die Töne im verändert. Gähnen beeinträchtigt die

Litteraturberieht 69

HQrföhigkeit stark. Kontrahiert man dabei den Tensor, so wird der Stünmgabelton erst höher, dann erlischt er und in der dann folgenden Hörpanse tritt sehr häufig Ohrenklingen auf. Bleibt der Tensor in Buhe, so wird der Ton ebenfalls schwächer, dabei aber tiefer. Alles, was die Exkursionsfähigkeit des Steigbügels und seines Ringbandes herab- setzt, schädigt in gleicher Weise Luft- wie Enochenleitung. Gewisse katarrhalische Schwellungen begünstigen letztere, Während erstere darunter leidet. SchIfer.

CoRBADi (Verona). Über die funktionelle Wichtigkeit der Schnecke. Archiv f. Ohrenheilk., Bd. XXXH (1891). S. 1—14. Verfasser stellte über die Hörfunktion bei Verlust einer oder beider Schnecken experimentelle Studien an Meerschweinchen an. Die Versuche ergaben folgendes:

1. Zerstörung beider Schnecken setzt eine komplete anhaltende Taubheit für jede Art von Tönen und Geräuschen. Die Taubheit entsteht gleich mit der Operation ; Gleichgewichtsstörungen treten dabei nicht ein.

2. Zerstörung nur einer Schnecke ergiebt nur Abnahme der Hör- fllhigkeit; die Ohrmuschel der operierten Seite bewegt sich bei Schall- einwirkungen wenig oder gar nicht und nimmt zuweilen eine schiefe Stellung ein.

3. Partielle Verletzung der Cochlea, und zwar Zerstörung des oberen TeDes der Schnecke ergab Perceptionsverminderung bezw. vollständigen Ausfall für die tiefsten Töne, also eine Beobachtung, die der bekannten Hypothese von Helmholtz entspricht, dafs die unteren Teile der Schnecke tür die hohen, die oberen Teile für die tiefen Töne abgestimmt seien. Diese Beobachtung von Corradi schliefst sich an diesbezügliche Beob- achtungen von Moor, Baginskt und Habbrmann an. ürbantschitsch.

H. ZwAARDEMAKER (Utrecht). Der Verlast an hohen Tönen mit sn- nehmendem Alter. Archiv f. Ohrenheilk., Bd. XXXTT (1891). S. 53—56. Der Verfasser hat die bekannte Erscheinung, dafs mit dem zu- nehmenden Alter eine Einengung der Hörbreite von den höchsten gegen ^e tieferen Töne erfolgt, mit dem zur Prüfung auf die höchsten Töne sehr geeigneten Galton-Pfeifchen näher untersucht und bestätigt ge- ^den. Die Behauptung des Herrn Verfassers, dais dieser Perceptions- ^erlust für die höchsten Töne vollständig gesetzmäfsig erfolge, so zwar, ^afs der höchst hörbare Ton genau das Alter des Untersuchten angiebt, dürfte wohl zu weitgehend sein. Ürbantschitsch.

UcHKRMANy, V. Drei Fälle von Stommheit (Aphasie) u. s. w. Zeitschr, f. Ohrenheäk. 1891. Bd. XXI. S. 313—322. In Fällen von angeborener Aphasie mufs scharf unterschieden werden, ob es sich um Idioten handelt, die nicht sprechen, „weil sie nichts zu sagen haben"; ob Taubstummheit oder mangelnde Herrschaft Über die Sprechwerkzeuge vorliegt; oder ob endlich Krankheitsprozesse ^öif kortikalen Centra schuld sind. Die wenigen bis jetzt bekannten Beobachtungen anderer, welche U. zusammengestellt, sind in dieser Hin- sicht nicht klar genug. Er selbst sah dagegen zwei ausgesprochene

70 Litteraturbericht.

Fälle von angeborener motorischer Aphasie. Es handelte sich um zwei Knaben, welche gut hörten, normales Begriffsvermögen besa£sen, und keine, wenigstens keine für das Sprechen in Betracht kommenden Ano- malien der Artikulationsmuskulatur darboten. Ein anderer Fall betraf ein früher ganz gesundes Mädchen, welches im dritten Jahre infolge eines heftigen Schreckens Epilepsie acquirierte, von da an zuerst stark stotternd, dann gar nicht mehr sprach und das Sprechen trotz mühsamen Unterrichts auch nur unvollkommen wieder erlernte. Auch hier mufs eine centrale Affektion angenommen werden, gleichwie auch in einem anderen, ganz analogen Falle eine starke Beängstigung die Veranlassung zu vollständiger Sprachtaubheit, also „Seelentaubheit" wurde, als deren Konsequenz Stummheit sich einstellte. Auf Wurmkrankheit, die übrigens eine anerkannte Ursache von Aphasie bei Kindern ist, dürfte bei einem anderen Kinde eine angeborene und später verschwindende Taubstummheit zurückzuführen sein, zu deren Erklärung Verfasser eine reflektorisch vom Darm her ausgelöste trophische Störung gewisser kor- tikaler Gebiete und auch wohl gleichzeitig des Labyrinthes annehmen möchte. Schliefslich wird noch ein Fall von infantiler Stummheit mitgeteilt, der offenbar im Gegensatz zu den obigen auf einer Zungen- und Each^ähmung bulbären oder mesenkephalen Ursprungs beruhte.

Schäfer.

A. Charpentier. Analyse ezpMmentale de quelques ^l^ments de la Sensation de poids. Archives de Physiologie, 1891, Heft 1, S. 122 135.

Es werden Versuche mitgeteilt, welche nachweisen sollen, dafs für die Schätzung eines gehobenen Gewichtes neben dem Druck, welchen das Gewicht auf die Haut ausübt, noch die Intensität der InnervationS' empflndung mafsgebend seL Dafs gegenwärtig wohl kaum noch ein anderer Forscher die Existenz von Innervationsempfindungen annimmt, scheint dem Verfasser unbekannt geblieben zu sein; auch hat er die neueren Untersuchungen, welche sein Problem behandeln, vollständig unberücksichtigt gelassen. Die Versuchsthatsachen sind die folgenden.

1. Dafs die Stärke des Drucks auf die Schätzung eines gehobenen Gewichtes Einflufs hat, illustriert die erste Thatsache: Hebt man zwei an Gewicht gleiche Metallkugeln, von denen die eine massiv, die andere aber hohl und wesentlich umfangreicher ist, nacheinander mit verbundenen Augen, und zwar einmal so, dafs die Kugeln die Haut der hebenden Hand direkt berühren, und darauf in der Weise, dafs beide Kugeln durch eine gleiche leichte Unterlage (etwa von Kork) von der Haut ge- trennt sind, so erscheinen die Kugeln nur im zweiten Falle gleich schwer, während im ersteren Falle die Hohlkugel leichter zu sein scheint.

2. Wiederholt die Versuchsperson den angeführten Versuch bei ge- Öfi&ieten Augen, so erscheint ihr die massive Kugel auch dann als die schwerere, wenn beide Kugeln mit Hülfe gleicher Unterlagen nach ein- ander gehoben werden. Diese Thatsache läfst sich leicht aus den von G. E. MüLLBB und F. Schümann entwickelten Anschauungen (vgl. Pflügen Archiv, Bd. 46, S. 74 f.) erklären.

LitteraiurhericTU. 71

3. Ein mit einer Hand gehobenes Gewicht erscheint um so leichter,

je stärkere Muskelspannungen zu gleicher Zeit von einem anderen Gliede

vollzogen werden. Durch Kontroll versuche, angestellt mit Hülfe eines

Dynamometers und eines Mossoschen Ergographen, glaubt Verf. nach-

"weisen zu können, dafs das zu schätzende Gewicht bei gleichzeitiger

Ausführung anderer Bewegungen nicht mit gröfserer Energie gehoben

wird. Näheres über die Kontroll versuche wird nicht mitgeteilt.

4. Verf. hob zweimal nacheinander mit der Hand einen Holzstuhl, indem er das erste Mal das obere Querstück der Lehne nur mit einer Hand berührte, während er das zweite Mal mit beiden Händen zufafste und die zweite Hand unthätig auf der Lehne liegen liefs. Im zweiten Falle erschien der Stuhl leichter, obwohl derselbe thatsächlich um das Gewicht der unthätigen Hand schwerer war.

Bevor man eine Erklärung der unter 3. und 4. angeführten That- Sachen versucht, hat man dieselben erst einer sorgfältigen Nachprüfung zu unterziehen, da aus der Beschreibung der Versuche nicht ersichtlich ist, wie weit die zahlreich vorhandenen Fehlerquellen vom Verf. eliminiert sind. Schumann (Göttingen).

P. MicHELsoN. Über das Vorhandensein von Geschmacksempfindung im Kehlkopf. Virchmoa ArchiVy Bd. 123, Heft 3 (1891). 8.389^401. Der Umstand, dafs an der Innenfläche des Kehldeckels und an den Stellknorpeln des Kehlkopfs sogenannte Schmeckbecher sich finden, hat bisher nicht blofs vielfältig Verwunderung erregt, sondern auch eine ileihe von Autoren veranlafst, an der Beziehung dieser Gebilde zum Schmecken überhaupt zu zweifeln. Verf. stellte nun auf Anregung und unter Beteiligung von Lanoendorff mittelst einer mit schmeckenden Substanzen bestrichenen Kehlkopf-Sonde, welche unter Leitung des Spiegels eingeführt wurde. Versuche darüber an, ob an den erwähnten Stellen eine Geschmacks-Empfindung zu stände komme, und fand hierbei, dafs dies in der That der Fall ist. Jedoch mifst er nur den sich auf den Kehldeckel beziehenden Untersuchungen eine sichere Bedeutung bei, weil bei Berührung der Stellknorpel eine reflektorische Konstriktion des Kehlkopf eingangs erfolgt, welche zur Folge hat, dafs beim Herausziehen der Sonde die Innenfläche des Kehldeckels leicht gestreift werden kann. Auch durch elektrische Beizung der Kehldeckel-Innenfläche konnte Geschmacks-Empfindung (saure, bezw. laugenartige) erzeugt werden. Die Auffassung der „Schmeckbecher'' als Endorgane der geschmackperzipie- renden Nerven erhält durch diese Ergebnisse eine neue Stütze.

GoLDscHEiDER (Berlin).

LoMBRoso. Tatto e tipo degenerativo in donne aormali, crimlnali ed

alienate. Archw. d% Psichiatr., Scieme penal, ed Antrop. Vol. XII (1891).

S. 1-6.

1. Unter 100 normalen, d.h. solchen Frauen, die weder bestraft

fioch irr waren, befanden sich 54, die kein oder nur 1 Degenerations-

^ichen aufwiesen, d. i. fehlender Typus (T. 0), 38 mit 2—3 Degenerations-

*«ichen (halber Typus = T. V«), 8 mit 4 oder 5 dergleichen (wahrer

'^PU8 = Typus),

72 LUteraturberkht

Die Feinheit des Tastgefühles wurde durch Zahlen bestimmt; als fein gilt 1—1,6, als mittelfein 1,5—3, als stumpf über 3. Fein wir das Gefühl bei 16%, mittelfein bei 56 7o, stumpf bei 25 7o nnd mit jenen Typen y erglichen zeigte es sich

bei typ. 0 fein in 11 F., mittelfein in 33 F., stumpf in 8 F. ww/*»»^» * w22„ ,|11,}

n typUS „„1„ jjl« » w^fi

Im allgemeinen ergiebt sich, dafs das Tastgefühl bei den Fnüen geringer ist, als bei den (ital.) Männern; bei jungen M&dchen jedoch iit es fein, sogar bei solchen mit mehreren Degenerationszeichen und bd stupiden. Auch ist es weniger stumpf bei gebildeten Frauen (= 3) als bei denen der niederen Stände (= 2,6). Die Durchschnittszahl bei erwaclt- senen (Italien.) Männern ist = 1,7.

2. Bestrafte Frauen (57), eine Kleptomane eingerechnet, ergaben ein Tastgefühl von 3,51 rechts, 3,81 links, 2,76 an der Zunge, wihrend dasselbe bei Männern betrug 2,94 rechts, 2,89 links, 1,90 an der Zunge.

Die linke Seite ist bei Diebinnen gleichwie bei den Normalen^ stumpfer als die rechte , umgekehrt die rechte stumpfer als die linke bei Kindsmörderinnen und Prostituierten.

3. Irrsinnige Frauen (43). Das Tastgefühl ergab folgende Zahlen: 3,33 rechts, 3,59 links, 2,28 an der Zunge. Dasselbe ist demnach weniger stumpf als bei irrsinnigen Männern, im Gegensatz zu dem bei den No^ malen und Verbrecherinnen bestehenden Verhältnis.

4. Die Schmerzempfindlichkeit vermittelst des DuBOi8-RBTiiofl>" sehen Schlittenapparates gemessen zeigte eine auffallende Vermin- derung bei Bestraften und Prostituierten, namentlich an der recht« Seite, gegenüber ehrlichen, besonders gegenüber jungen Frauenzimmern.

Ebenso zeigten Geschmacks- und Geruchsempfindung bei Ver brecherinnen imd Prostituierten eine weit geringere Schärfe als hei normalen Weibern, da letztere in dieser Hinsicht sich nur sehr wenig von normalen Männern unterschieden. Fragnkel (Dessau).

H. NiCHOLS. The psychology of time. American Journ, of Psych., Bd. D^» Heft 4, S. 453-529; Bd. IV., Heft 1, S. 60—112. Eine Dissertation, welche unter der Leitung von Stanley Hall ^^ standen ist. Sie zerfällt in drei Teile, von denen der erste eine historis^^' Übersicht giebt, der zweit« einen Beitrag zur experimentellen Un^^ suchung des Zeitsinnes liefert und der dritte sich mit der Psychol<>^ der Zeitwahmehmung beschäftigt. Da sich über den dritten Teil scb"^* in wenigen Sätzen referieren läfst, so beschränkt sich Referent auf ^ Anführung der Grundidee und der Resultate der experimentellen TJti^'^ suchungen. Der Versuchsperson wurden 6 Signale (Schalleindrücke} gleichen Intervallen gegeben und ihr die Aufgabe gestellt, auf die ^^ nale zu achten und zugleich die Intervalle vom dritten Signale an wäh^^ zweier Minuten ununterbrochen durch Niederdrücken einer Taste reproduzieren. Nachdem dann nach kurzer Pause 6 neue Signale einem gröfseren, bezw. kleineren Intervalle angegeben . waren, und ^

Litteraturherieht 7&

Verauohspersoii sich ebenfalls während einiger Minuten bemüht hatte, dieses neue Intervall ununterbrochen zu reproduzieren, wurde der erste Versnob wiederholt und zugesehen, vde die reproduzierten Zeiten sich durch die Einübung auf das eingeschobene Interyall geändert hatten. Es ergab sich aus zahlreichen und sorgfältig angestellten Versuchen, dafs dieselben durch Einsohiebung eines gröfseren Intervalls vergröfsert und durch Einschiebung eines kleineren verkleinert werden.

ScHüMAKV (Göttingen).

PoTOKii, H. Über die Entstebniig der Denkformen. Naiurtoiss, Wochenschr, Bd. VI (1891), No. 15. S. 145-161. Die These des Verfassers lautet: „Die sämtlichen Denkformen sind ebenso entstanden im Kampfe ums Dasein, wie die Formen der organischen Wesen." Den ürorganismen, aus denen sich die Lebewelt der Gegenwart entwickelt hat, waren gewisse einfachste Denkregungen gegeben. Diese sind als das Bohmaterial zu betrachten, aus der die sinnlichen Erfahrungen, also in letzter Instanz die Einwirkungen der Umgebung, die psychische Persönlichkeit eines jeden Einzelwesens in scharfen Umrissen heraus- formte. Die so im Kampfe ums Dasein erworbenen geistigen Eigen- schaften und Fähigkeiten werden dann auf die späteren Generationen durch Vererbung übertragen und jedesmal in ontogenetischer Entwickelung weiter ausgebaut. Dem ewigen Spiel von Anpassung und Vererbung ver^^ danken wir also auch unsere. Denkformen. Die Variationsfähigkeit des Einzelnen in seiner Denkweise ist eine weitgehende ; doch giebt es überall eine Grenze, die nicht überschritten werden darf, ohne dafs die Besultate des Denkens, die Handlungen, das Leben gefllhrden und zum Aussterben ftihren. Daher sind die Abweichungen der Menschen in ihren Denk- ricbtongen nicht unbeschränkt. Mit anderen Worten, es existieren be- stimmte Denkbeziehungen, welche uns Allen gemeinsam sind. Hierher gehören die Grundsätze, Axiome der Geometrie, der Arithmetik, des logischen Denkens. Mögen uns diese aber auch noch so selbstverständlich erscheinen: alle sind Errungenschaft phylogenetischer Erfahrung, das Produkt der beiden Faktoren: Organismus und Aufsenwelt; a priori fertig gegeben ist nichts«

In der That dürften den vorstehenden ähnliche Überlegungen, mehr oder weniger konsequent durchdacht, wohl schon der Mehrzahl darwi* nistisch geschulter und denkender Psychologen als ein Grundprinzip ihrer Forschung vertraut sein. Doch mufs dem Verfasser die scharfe Formulierung dieser Gedanken sicher als Verdienst angerechnet werden. Eine umfassendere Behandlung des Gegenstandes stellt er in Aussicht.

SCHAEFER.

i- Qr, F. Stout. Apperception and tho movement of attention. Mind,

XVI a891), No. 61, S. 23-53. 2. -- Thovglit and Langnage. Mind, XVI (1891), No. 62, S. 181—205.

Verfasser untersucht die Natur der Sprache in ihrer Bedeutung als ^JWtrument nicht der Mitteilung, sondern des Denkens. Den Weg zu ^eser Untersuchung bahnt er sich in dem ersten dieser Artikel, indem er den Prozefs des Denkens, soweit dies ohne Beziehung auf die Sprache-

74 LiUeraiurbenckt

möglich, analysiert. Es gilt ihm dahei hesonders, Denken yon blolser Ideenassoziation zu unterscheiden. Beide Vorgänge sind Apperzeptions- vorgänge, wobei Verfasser unter Apperzeption den Prozefs versteht, durch den ein „geistiges System'* ein neues Element sich inkorporiert oder zu inkorporieren trachtet. Unterstüzt wird die Apperzeption durch die Aufmerksamkeit (Attention), die dann in Thätigkeit tritt, wenn jene In- korporation bis zu einem gewissen Grade irgendwie gehemmt oder ver- zögert wird. Während nun bei der Ideenassoziation die Beziehung, die das assoziative Band zwischen den einzelnen Vorstellungen konstituiert, nicht apperzipiert wird imd folglich auch nicht Gegenstand der Auf- merksamkeit ist, bildet es gerade den wesentlichen Charakter des Denkens, dafs die Beziehung, die jede Vorstellung mit ihrer vorangehenden ver- knüpft, ebenfalls eine Quelle des Interesses bildet, durch das sie die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die verknüpfende Beziehung wird damit selbst Objekt des Bewufstseins, und jede Vorstellung erscheint als weitere Modifikation und Entwicklung der vorangehenden, anstatt dieselbe bloüs in der Ordnung einer exklusiven Succession zu verdrängen. Entscheidend für das Denken gegenüber blofser Ideenassoziation ist das, dals ein sogenanntes proportionales System als appercipierendes den Gedanken- verlauf kontrolliert, d. h, ein System, in dem die dasselbe zusammen- setzenden Elemente nach einem gewissen allgemeinen Typus gegenseitiger Verknüpfung kombiniert sind. Denken ist nichts anderes, als eine Be- wegung der Aufmerksamkeit, durch welche ein ideales Ganze konstruiert wird, gemäfs dem allgemeinen Beziehungsschema, das fUr das propor- tionale System, durch welches die Bewegung der Aufmerksamkeit kontrolliert wird, charakteristisch ist. Soviel über den Inhalt des ersten Artikels. In dem zweiten Artikel äuTsert sich der Verfasser zuerst über die Frage, ob es auch ein von der Sprache unabhängiges Denken giebt, in bejahendem Sinn. Er nennt dieses Denken intuitionales Denken. Dasselbe setzt voraus, dafs die konstituierenden Beziehungen jenes ideellen Ganzen im Brennpunkt des Bewufstseins als unmittelbare Objekte einer starken und andauernden Aufmerksamkeit festgehalten werden können, m. a. W., das ideelle Ganze mufs Gegenstand der An- schauung (Intuition) sein können. In dem intuitionalen Denken sind demgemäfs die Objekte der Aufmerksamkeit, und das ideelle Ganze, das aus ihrer Synthese entsteht, nichts Allgemeines, sondern etwas Bestinuntes und Konkretes. Allgemeine Bedeutimg hat nur der Kombinations plan, gemäfs dem die Objekte der Aufmerksamkeit im Brennpunkt des BewuXst- seins sich folgen und sich zu einem Ganzen verbinden. Dies universelle Element im intuitionalen Denken ist aber niemals selbst Gegenstand der Aufmerksamkeit, sondern es findet sich nur in der apperzipierenden Thätig- keit, welche den Objekten der Aufmerksamkeit Interesse imd Bedeutung ver- leiht. Das ideelle Ganze ist ein intuitionales, nicht ein begriffliches. Da nun das Allgemeine und Universelle als solches nie unmittelbares Objekt der Aufmerksamkeit werden kann, so fragt es sich, wie ist es für das Denken möglich ein begriffliches .Ganze zu konstruieren? Eben das Mittel, diese Schwierigkeit zu überwinden, ist die Sprache. Sie ist das Mittel, um die Aufmerksamkeit indirekt auf das zu lenken

Litteraturbericht 75

auf das sie nicht direkt gelenkt werden kann. Die Zeichen der Sprache sind die nnmittelharen Objekte der Aufmerksamkeit, welche als Vehikel für die Überleitung der Erregung auf die apperzipier enden Systeme dienen, die so indirekt Gegenstand der Aufmerksamkeit werden; die Worte sind aber Objekte der Aufmerksamkeit nicht vermöge eines eigenen inneren Interesses, sondern nur als eben das Vehikel, das eine £rregungs- welle auf das geistige System, mit dem sie jeweilig assoziiert sind, über- leiten« An der Hand dieser Theorie betrachtet nun der Verfasser das Wesen des Begriffs, den er definiert als ein apperzipierendes System, das vermittelst eines expressiven Zeichens objektiviert ist. Er unter- sucht weiter die Synthese der Begriffe, d. h. die Apperzeption eines Begriffs durch einen anderen, das Wesen der Subjekt-Prädikat-Belation, durch die der ganze Denkzusammenhang in einzelne Sätze zerfällt, die Bedeutungsveränderungen der expressiven Zeichen im Zusammenhang des Denkens, und schliefst die ganze Abhandlimg mit einer interessanten Betrachtung der Geberdensprache als einem Mittel begprifflichen Denkens.

Gaupp (Cannstadt).

DB Lacaze-Duthiebs, H. Nonvelles observationB bot le langage des bdtes. Bevue scienUf, Tome 47 (1891), No. 19. S. 677—585.

Verfasser befürwortet durch Beibringung vieler Beispiele die Auf- fassung, dafs auch die Tiere im stände und gewohnt sind, ihre verschie- denen Lebenslagen mit wohlcharakterisierten stimmlichen Äufserungen zu kennzeichnen, sei es dafs jeder Situation ein besonderer „cri inarticul6'' entspricht oder wenigstens derselbe Ton in variierter Modulation, wie «ti^a das Miau der Katze, produziert wird. Die Tierstimme dient zweifellos zu gegenseitigen Mitteilungen, die auch ein aufmerksamer Beobachter unserer Haustiere, besonders des Hundes, bald ganz gut verstehen lernt. Weiteres thatsächliches Material in dieser JRichtung zu sammeln, ist gewifs für die vergleichende Psychologie von hohem Interesse. Aller- dings dürfen Schlüsse daraus auf die ursächlichen oder begleitenden psychischen Vorgänge nur mit gröfster Vorsicht gezogen werden. Die Gefahr starker Irrtümer aus Anthropomorphismus wird ganz allgemein noch viel zu wenig gewürdigt. Schaefer.

LoMBBOBo. IncMesta snlla trasmissioae del pensiero. Archiv, di Psichiatr. Xn (1891). S. 58—108.

um ein reiches Material zur Erhärtung seiner Ansichten über die heikele Frage der Gedankenübertragung zu gewinnen, hatte Prof. LiOMBBOSo einen Aufruf an das gprofse Publikum ergehen lassen. Der Gewinn war nicht grofs. Unter 17 einigermafsen brauchbaren Mit- teilungen fanden sich zwar 11, die von kompetenten und sachkundigen Beobachtern ausgingen, jedoch nur 4 Fälle waren für reine Gedanken- übertragung zu halten, während andere mit hypnotischen Erscheinungen verwechselt wurden, und wieder auf sogen. Ahnungen (Telepathie) sich bezogen, die allerdings auch in das dunkele Gebiet der psychischen Pemwirkung und Übertragung gehören.

Wichtiger sind daher L.'s eigene Untersuchungen, die mit allen möglichen Vorsichtsmafsregeln gegen Betrug und Selbsttäuschung und

76 lAUeratHrberieht

unter Anwendung physikalischer tmd chemischer Beagenzien im Labora* torium derTnriner psychiatrischen Klinik an 14 Individuen stattfanden» Darunter sind 2 besonders bemerkenswerte und ausfQhrlicher be- schriebene Fälle, von denen der eine (Begis) einen 21 Jahre alten, ver- lumpten, hysterischen Burschen betraf, den die Lorbeeren PioncAjrNB nicht hatten schlafen lassen. Er besitzt indes weniger das Vermdgen^ das, was seine Auftraggeber sich vorstellen, zu erraten, als das Ver- mögen, Geschriebenes bei verschlossenen Augen und Ohren durch Couverts hindurch in der Feme zu lesen, gleichviel wer es geschrieben hat. Seine Sinne, auch das Tastgefühl, sind eher stumpf als über- reizt. Um sich fQr die Experimente, die ihn sehr erschöpfen, geschickt zu machen, muiüs er eine ziemliche Portion Bum zu sich nehmen, wie PiOKMANv Kaffee. Der zweite, ein 20 Jahre alter Schriftsetzer, hat AnfUle von spontanem Somnambulismus, in denen er seine Arbeit, ohne im Satz zu irren, fortsetzt. In Hypnose versetzt, errät er die vom Experimentator ge- dachten Zahlen; wachend zeichnet er bei verbundenen Augen die hinter seinem Bücken auf eine Schiefertafel vorgeschriebenen geometrischen Figuren, Köpfe und Tiere, wenn auch mangelhaft, doch meist in annähernder Weise; anstatt Amore schreibt er Morier, anstatt Marghe- rita anfangs Maria, danach aber richtig. Er ist also nicht hloEa Ge- dankenleser, sondern auch Femseher. Auf Grund dieser und der vielen andern, von Biohbt, von Engländern und anderen zuverlässigen Be- obachtern gemachten Erfahrungen meint L., dafs doch etwas Wahre» an der Gedankenübertragung sei. Seine eigenen Beobachtungen haben. wenigstens den Nutzen, den Weg zum Verständnis der Sache gebahnt zu haben und zwar nicht blofs mit Hilfe der Erfolge, sondern auch mit der der Milserfolge. Die Mehrzahl der Fälle betraf Hysterische. Die unmittelbare Berühnmg erleichtert das Fernlesen, ist jedoch nicht durchaus erforderlich. Von besonderem EinfluTs ist die Stärke, die Konzentration der Gedanken, mit der man die Fragen an den Gedanken- leser stellt, ebenso die Konzentration bei letzterem („Monoideismus^). Je gröfser das Interesse der beiden ist, um so günstiger auch der Erfolg. Übriges ist der Gedankenkreis, um den es sich auch bei den G^ dankenlesem von Profession handelt, sehr beschränkt, es handelt sich meist darum, Zahlen, Karten und Namen zu erraten. Für die Er- klärung der Erscheinung ist der Umstand wichtig, dafs die Gedanken- leser einer künstlichen Aufregung bedürfen und der Akt selbst sie und ihr divinatorisches Talent erschöpft. Der Vorgang setzt eine enorme Störung im Gleichgewicht der Nerventhätigkeit voraus, Unterbrechung der Leitung durch Alteration des Axenzylinders (B. Aritot), wodurch die Nervenkraft an einigen Punkten der Hirnrinde sich ansammelt, während sie an anderen verloren geht. Fraevxel (Dessau).

GuTZMANx, H. über Mitbewegnngen. Der Ärztl I\nktiker, IV. Jahrg.^ No. 20, 1891. S. 329-337. Der an interessanten Einzelheiten reiche Aufsatz behandelt die uffallend oft beim Stottern auftretenden Mitbewegungen in den

LiUeratmhenchU 77

verschiedensten Grebieten der Körpermuskulatur. Beim Stottern selbst, z.B. des Wortes Bad, handelt es sich entweder um einen tonischen Krampf,

als eine Dauerkontraktion, des Muscul. orbicularis oris: B ad, oder um

einen klonischen Krampf desselben, ein intermittierendes Zittern: B B Bad; in anderen Fällen hat man- es mit ähnlichen patho- logischen Kontraktionen der Stimmmuskeln zu thun: Abend oder A A Abend; oder endlich, es liegt der Fehler in der Atem- muskulatur derart, dafs das zum Sprechen erforderliche Anblasen der Stimmritze nicht zweckentsprechend ausgeführt wird, n^^ sehen also bei . . . Betrachtung der äufseren Erscheinungen des Stotterns eine unwill- kürliche, krampfartige Muskelkontraktion in irgend einem der drei Gebiete des Sprachorganismus: Artikulation, Stimme, Atmung, oder in zweien von ihnen, oder endlich in allen dreien zugleich.* Die über- energischen Kontraktionen der Sprechmuskeln beruhen auf einem centralen Defekt, und die Mitbewegungen sind der Ausdruck einer centralen Irra- diation des motorischen Impulses auf normaler Weise nicht zum Sprechen mitwirkende Muskelgruppen. Am häufigsten sind daher die den Artikula- tionsmuskeln zunächst liegenden befallen: es tritt Stimrunzeln, Zittern der Nasenflügel , Schnappen des Unterkiefers auf. (Primäre Mitbewegungen.) Schon seltener sind „sekundäre^ Mitbewegungen der Muskeln des Halses, der Schultern, des ganzen Körpers. Die seltsamsten Kombinationen von Bewegungen sind gelegentlich beobachtet worden. Sehr bemerkenswert ist, dafs es Stotterer giebt, bei denen die blofse Intention des Sprechen- wollens zu Krämpfen führt, die aber dann nach Überwindung des Paroxysmus fliefsend und ohne Anstofs zu sprechen vermögen. An Stelle Ton Eörperbewegimgen kommt auch zwangsartiges Einschieben sinnloser Worte in eine sonst fliefsende Rede vor : Embololalie oder besser Embolo- phrasie. Schreibkrampf, Klavierspielerkrampf, Geiger-, Cigarrendreher-, Helkerkrampf sind dem Stottern ganz analoge „spastische Koordinations- neorosen^. Unter Schreibstottern versteht man aber ^eine ganz andere Srscheinung, und zwar eine Art unwillkürlichen Schreibens, welche ganze Buchstaben und Silben wiederholt, wie der Stotterer es beim klonischen Stottern thut. Ebenso ist unter Klavierstottem eine unwillkürliche Muskelbewegung zu verstehen, welche den Klavierspieler zwingt, einen Accord statt nur einmal zweimal anzuschlagen. '' Schaefsb.

OoLDscHEiDBB. Über SprachBtönuigen. £er/. X/nt.',Troc/^«fwcAr. 1891, No. 20. S. 487—491. G. fixierte graphisch den beim Sprechen aus Mund und aus Nase hervor- gehenden Ezspirationsstrom mittelst einer MABETSchen Schreibvorrichtung <uid gewann so an gesunden, normal sprechenden Personen Kurven von Vokalen, Konsonanten, Silben, welche alle gewisse bestimmte Charakte- ristika darbieten. So zeigt sich z. B. in der Kurve eines einfachen, rasch abgesetzten Vokales eine starke terminale Erhebung, offenbar dem Um- stände gemäfs, dafs aus der sich im Momente des Aufhörens der In- tonation,' öffnenden Bima glottidis die Exspirationsluft unbehindert imd plötzlich in starkem Strom hervorbrechen kann. Bei langsamem Aus- ^^genlassen fehlt diese Erhebung. Da auch die Kurven der verschie-

78 lAtteraturhericht,

denen Konsonantengruppen, wie gesagt, alle etwas Spezifisches aufzu- weisen haben, so kann man aus der Yergleichung normaler Kurven mit solchen von Personen, die an Sprachstörungen leiden, mancherlei Schlüsse auf die Natur der pathologischen Verhältnisse machen, die aus anderen Untersuchungsmethoden nicht oder nicht so gut gewonnen werden würden. Bezüglich der vielen Einzelheiten und der zahlreich beigegebenen Kurven mufs auf das Original verwiesen werden. Schaefer.

A. Baik. Notes on VoUtion. Mind, XVI (1891), No. 62. S. 253—259.

1, Wirken Lust imd Unlust, die unbestreitbaren Motive des Willens, direkt auf diesen oder nur indirekt vermittelst einer ^fixed idea^?

Bain spricht sich für die unmittelbare Wirkung aus; entscheidend scheinen ihm die Vorgänge in den niedersten Lebensformen und den Anfangsstadien der höheren. Hinge die Willensthätigkeit von Vorstel- lungen ab, so müDste sie, da die geistigen Vorgänge in Beziehung auf die Vorstellungsthätigkeit in jenen Fällen sehr unvollkommen sind, eben- falls unvollkommen und verkrüppelt sein; was keineswegs der Fall.

2. Müssen wir Schmerz, Unlust als das einzige Motiv in der Willens- thätigkeit ansehen? hat die Lust folglich nur einen negativen Charakter? stimmt sie unter allen Umständen, direkt und mittelbar zur Buhe, eine Buhe, die nur durch irgend eine Form von Unlust gestört werden kann ? Eine genaue Analyse der Thatsachen läfst Bain behaupten, dafs eine Empfindung von Lust einen positiven Antrieb bilden kann, nach noch mehr Lust zu streben, und dafs der Versuch auch dies in ein Motiv von Unlust aufzulösen unnütz und gezwungen wäre. Zuzugeben ist, daüs die Motivkraft ihr Maximian auf der niedersten Stufe der Lust- resp. Unlust- skala hat, und dafs sie je mehr wir uns dem oberen Ende der Skala nähern, desto mehr abnimmt. Schmerz ist nothwendig der treibende Einflufs, bis der Indifferenzpunkt erreicht ist. Darüber hinaus haben wir einen Kräftekonflikt, und nur eine Situation anwachsender Lust kann einen wirksamen Stimulus liefern. Gaupp (Cannstatt).

Koch. Die psycliopathisclien Minderwertigkeiten. I. Abteil. Eavens- bürg, Dom, 1891. 168 S. it 4.—. Unter dem Ausdrucke psychopathische Minderwertigkeiten falst K, ,,alle, sei es angeborenen, sei es erworbenen, den Menschen in seinem Personleben beeinflussenden psychischen Begelwidrigkeiten zusammen, welche auch in schlimmen Fällen doch keine Geisteskrankheiten dar- stellen, welche aber die damit beschwerten Personen auch im günstige sten Falle nicht als im Vollbesitze geistiger Normalität imd LeistungS' fähigkeit stehend erscheinen lassen". Diese psychopathischen Minder- wertigkeiten, deren Ursache immer jenseits der physiologischen Grenze liegende organische Zustände imd Veränderungen sind, führen auf dei einen Seite ganz allmählich völlig zu den Geisteskrankheiten hinüber während sie auf der anderen Seite sich ganz allmählich in die Breite des Normalen verlieren.

Da es sich somit um die sogenannten psychischen Grenzzust&ndc

LitteraturbericJU, 7i)

handelt, die naturgemäfs nicht allein den Psychiater interessieren, so mag auf die Anschauungen des Verfassers etwas näher eingegangen werden.

Die psychopathischen Minderwertigkeiten sind andauernde oder flüchtige, angeborene oder erworbene; die angeborenen andauernden psychopathischen Minderwertigkeiten, die K. in der bis jetzt erschienenen ersten Abteilung seines Werkes schildert, zerfallen in die psycho- pathische Disposition, die psychopathische Belastung und die psycho- pathische Degeneration, sie haben ihre Ursache zumeist in der Ererbung einer Schädigung des Nervensystems, die sich sehr gewöhnlich auch körperlicherseits durch anatomische und funktionelle Degenerations- zeichen ausspricht.

Die angeborene psychopathische Disposition läfst sich trennen in eine latente, bei der die geringere Widerstandskraft des Neryensystems für sich selbst nicht zu erkennen ist und nur angenom- men werden kaim, wenn ein von neuro- oder psychopathischen oder von geschwächten Menschen abstammendes Individuiun zufolge von Grelegenheitsursachen, deren Wirkung sonst unverständlich wäre, geistes- krank wird oder die Merkmale einer manifesten psychopathischen Minderwertigkeit annimmt und in eine manifeste, die sich im wesentlichen als eine für sich erkennbare psychische Zartheit (ge- steigerte Empfänglichkeit für Eindrücke, Empfindlichkeit, Verletzlichkeit und Mangel an Thatkraft) darstellt.

Die angeborene psychopathische Belastung ist gekenn- zeichnet durch Anomalien in der Erregbarkeit (Steigerung oder Ver- minderung der Erregbarkeit oder reizbare Schwäche), Mangel an Eben- mafs im psychischen Gebiete, ein ungebührlich in den Mittelpunkt gerücktes, verschrobenes und widerspruchsvolles Ich, durch Seltsamkeiten und Verkehrtheiten (lächerliche Gewohnheiten, Perversitäten in Em- pfindungs- und Gefühlsleben) primordialinstinktiven Regungen und Aus- brüchen und durch etwas Periodisches in Stimmungen und Neigungen. Diese wesentlichsten Züge und Bestandteile der Bilder angeborener psychopathischer Belastung gehen aber zumeist nicht abgetrennt von- einander und selbständig nebeneinander her, sondern sie beeinflussen sich gegenseitig mannigfach und prägen sich in vielen Sondererschei- nungen gleichzeitig miteinander aus.

Unter diesen Belasteten stofsen dem Beobachter vielfach gevrisse typische Gestalten auf, deren psychisches Leben durch besonders her- vorstechende Merkmale der einen oder anderen Art gekennzeichnet ist. jfi^ trifft man psychopathisch faule und schlingelhafte oder gegenteils 2*rt gewissenhafte und eifrige, vielleicht auch vielversprechende Kinder und Schüler. Da begegnet man älteren psychopathischen Personen, welche man unterscheiden kann als die zartbesaiteten Seelen, die weiner- lichen Gemütsmenschen, die Träumer und Phantasten, die Menschen- scheuen, die Mühseligen, die Gewissensmenschen, die Empfindlichen ^d die Übelnehmerischen, die Launenhaften, die Exaltierten und die ^centrischen, die Gerechtigkeitsmenschen, die Stadt- und Weltver- ^^^sserer, die Eigensinnigen und Bechthaberischen, die Hochmütigen,

80 lAtteraturhericht

die Taktlosen, die Spöttischen, die Eitlen und die Gecken, die Bammler und die Neuigkeitskrämer, die Unruhigen, die Bösewichte, die Sonder- linge, die Sammler und die Erfinder, die milsratenen imd die nicht mlGs- ratenen Genies u. s. w.^ Man mulis sich aher hüten, aus einer der genannten Erscheinungen gleich auf psychopathische Belastung zu schliefsen, keine psychopathische Belastung spricht sich bloüs in einer einzigen Erscheinung aus, pathologische und physiologische Charakter- eigenschaften sind voneinander zu unterscheiden.

Ausführlich bespricht K. das bei den Zuständen psychopatischer Belastung vorkommende und oft vorherrschende Zwangsdenken, das er in folgende Gattungen einteilt: Zwangsempfindungen, Zwangagef&hle und Zwangsaffekte, Zwangsimpulse, Zwangshandlungen, Zwangshem- mungen imd Zwangsunterlassungen, Zwangsvorstellungen im engeren Sinne. Solche Zwangsgedanken, deren Gattimgen einzeln und selbständig. oder, was häufiger ist, in Verbindimgen untereinander auftreten, sind die mafsgebende Erscheinung in den „Zuständen angeborener psycho- pathischer Belastung mit vorherrschendem Zwangsdenken", aber es finden sich in diesen Zuständen auch noch andere Erscheinungen psycho- pathischer Minderwertigkeit. Zwangsdenken kommt nicht blols bei an- geboren psychopathisch Belasteten, sondern auch bei manchen anderen psychopathisch Minderwertigen, bei Geisteskranken und auch bei sonst psychisch Gesunden in transitorischer psychopathischer Minderwertig- keit oder auch einmal als vereinzelte selbständige elementare psychische Anomalie vor. Die Zwangsgedanken sind dadurch gekennzeichnet, dafs sie pathologisch bedingt sind, primordial hervorquellen, mit patholo- gischem Zwange sich aufdrängen und zwischen das übrige Denken ein- drängen, so dafs sich der davon Betroffene nicht willkürlich (völlig) von ihnen losmachen kann, dafs sie aber dabei als etwas Fremdes, Auf- gedrungenes imd beziehungsweise Unzutreffendes erkannt werden.

Bei der angeborenen psychopathischen Degeneration besteht neben den sonst vorhandenen psychischen Anomalien eine habi- tuelle geistige Schwäche, entweder vorwiegend auf dem intellek- tuellen oder vorwiegend auf dem moralischen oder annähernd gleich stark auf dem intellektuellen wie auf dem moralischen Gebiete, wonach sich die Einteilung der angeborenen psychopathischen Degeneration in eine intellektuelle, eine moralische und eine allgemeine ergiebt.

Wenn es sich auch bei der angeborenen psychopathischen Degene- ration nie um einen psychopathischen Grad von Schwäche, also nie um eine für sich allein die freie Willensbestimmimg völlig ausschliefsende Schwäche handeln kann, so bedingt doch jede deutlich ausgesprochene angeborene psychopathische Degeneration an sich selbst jedenfalls einige, unter Umständen eine weitgehende Verminderung der Zurechnungs- fähigkeit. K. spricht sich mit Entschiedenheit dafür aus, dafs der Be- griff der verminderten Zurechnungsfähigkeit in die deutsche Strafgesets- gebung eingeführt werde, und er hält es für wünschenswert, dalÜs ftlr die angeboren psychopathisch Degenerierten, namentlich für die in höherem Grade angeboren psychopathisch Degenerierten besondere An- stalten eingerichtet werden, in welche als in Bewahr-, Sohats- und

Litteratuf bericht 8 1

Bessenmgsanstalten die Betreffenden nicht auf eine bestimmte Zeit, sondern so lange tmtergebracht würden, als es ihr eigenes Interesse und die Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit, Sittlichkeit und Ord- nung erfordern würden.

Zum Schlufs bespricht K. noch die Beziehungen der angeborenen psychopathischen Minderwertigkeiten zu den Psychosen und kommt zu dem Besultate, dafs die angeboren psychopathisch Minderwertigen leichter und häufiger als die in ihrem Nervensystem unversehrten Menschen von interkurrenten Psychosen und psychotischen Zuständen heimgesucht werden, dafs manche psychotische Störungen, die bei an- geboren psychopathisch Minderwertigen interkurriren , mit Vorliebe, manche auch ausschliefslich bei angeboren psychopathisch Minderwertigen auftreten und dafs zwar viele psychopathisch Minderwerthige dauernd geisteskrank werden, viel häufiger aber die angeborene psychopathische Minderwertigkeit nicht in Psychose übergeht. Pbbetti (Merzig).

Delbrück. Die pathologische Lüge nnd die psycliisch abnormen Schwindler. £ine Untersuchung über den allmählichen Übergang eines normalen psychologischen Vorgangs in ein pathologisches Symptom für Ärzte und Juristen. Stuttgart, Enke, 1891. 131 S. Wie uns gar nicht selten im gewöhnlichen Leben Menschen be- gegnen, die sich in harmlosen Prahlereien, Erzählungen von schliefslich zum Teil selbst geglaubten Münchhausiaden und Jagdgeschichten ge- fallen oder als Charlatane in ihrer Beruf sthätigkeit nicht nur Andere, sondern auch sich selbst betrügen, wie sogar jeder geistig Gesunde bei genauer Selbstbeobachtung sich gelegentlich bei den sogenannten Not- nnd Affektlügen auf einer Vereinigung von Lüge und Selbstbetrug ertappen kann, so giebt es auch Fälle, wo die Mischung von Lüge and Irrtum eine pathologische Höhe erreicht, wo man dann eher von einem Gemisch von Lüge und Wahnidee oder Erinnerungsfälschung sprechen kann. Dieses Symptom, von welchem sich treffende Schilderungen in Daudets ff Tartarin de Tarascan'^f in Gottfried Kellers ,f Grüner Heinrich^ und in Göthes ,fIHchhtng und Wahrheit"^ II. Buch, finden, hat D. zum Gegenstand seines Studiums gemacht und schlägt für dasselbe den Namen nPsetidologia phantastica" vor. Das genannte Symptom kann bei allen Arten von Geisteskranken vorkommen, besonders hervortretend ist es bei den Hysterischen und den sogenannten moralisch Irren, aber auch gelegentlich vorhanden bei Paralytikern, Maniakalischen und Paranoikem. Fünf interessante Fälle werden von D. vorgeführt und in eingehen- der Weise deren psychologische Erklärung versucht ; er ist der Ansicht, dafe bei diesen Personen, deren Äufserungen und Handlungen einem Gemisch von Phantasie, Prahlerei, Lüge, Betrug und Wahn zuzuschreiben sind, zwei scheinbar einander widersprechende Bewufstseinszustände gleichzeitig nebeneinander bestehen, das Bewufstsein von der Unwahrheit des Gesagten und gleichzeitig das Überzeugtsein von der Realität der Atissagen. Dals ein derartiges gleichzeitiges Bestehen zweier ver- schiedener Bewufstseinszustände vorkommen kann, läfst sich durch ein hypnotisches Experiment beweisen, das Foeel anstellte, indem er einer

Zelttehiift fttr Psychologie JH. G

82 LitUrcUurbericM,

Wärterin suggerierte, ein von ihr in der Hand gehaltenes Messer sei weggenommen, und sie aufforderte, alle Finger zu spreizen and die Hohlhand dem Boden zuzuwenden ; die W&rterin kam dieser Auffordenmg im wesentlichen nach, bemtLhte sich aber gleichzeitig, durch leichte Adduktion des Daumens das Messer mit grofser Geschicklichkeit in der Hand zu balanzieren. Die Fingerbewegung wurde offenbar durch iwei einander widersprechende Bewufstseinszustände beeinflufst. Beim Traum geschieht manchmal etwas Ähnliches, man kann sehr wohl Ton der Realität eines Traumerlebnisses überzeugt sein und durch dasselbe sogir beunruhigt werden und doch gleichzeitig das Bewuistsein haben, dal^ es nur ein Traum ist.

Auch die Störungen des Beproduktionsvermögens spielen bei der Pseudologia phantastica eine Bolle; jeder Mensch ist bei der Be- produktion früherer Erlebnisse Irrtümern unterworfen, die um w geringer sind, je intensiver und klarer das Bewuistsein zur Zeit des Erlebnisses war. Ist aber das Bewuistsein im Entstehungsmoment eissr Lüge oder Schwindelei ein unklares oder doppeltes, so wird auch die Erinnerung unklar sein, und der Betreffende sucht seine Erinnerongen durch die gerade bei diesen Individuen sehr rege Phantasie zu ergäaseiL So entstehen Erinnerungsfälsch\mgen. Dafs diese auch durch Indusiereii infolge eindringlicher Fragestellung von selten des Arztes oder Bichteis hervorgerufen werden können, \uiterliegt keinem Zweifel.

Es würde hier zu weit führen, noch näher auf das sehr lesenswerte Buch einzugehen, es mag nur noch aufmerksam gemacht werden auf dio Besprechung des Ausdruckes „Simulation'^, den D. mit Recht nur ai^ die mit bewufster Absicht ausgeführte Vortäuschung von Krankheitd^ Symptomen beschränkt wissen will, und auf die Ausführungen über pdi^ verminderte Zurechnungsfähigkeit'' in der Einleitung des Buches.

Man muTs dem Verfasser dankbar sein, dafs er als der Erste e^ versucht hat, den Begriff der pathologischen Lüge zu präcisieren un3 eine Sorte der Übergangsformen zwischen Geistesstörung und geistige^ Gesundheit näher zu beleuchten; seine Arbeit wird gewüs für andere Beobachter Anreg^ung und Veranlassung sein, dahin gehörige Fälle mehr psychologisch zu studieren und mitzuhelfen, Klarheit in das schwierige Kapitel der Obergangsformen zu bringen. Pbbbtti (Merzig).

P. Janet. Etnde sor an cas d'aboulie et d'idöes fixes. Bevue philosoph,, Bd. XXXI (1891). No. 3 u. 4. S. 258-287 u. 382-407. Es handelt sich um ein erblich stark belastetes Mädchen von guten intellektuellen Fähigkeiten, aber eigensinnigem, trotzigem Charakter welches im 14. Jahre nach einem schweren, mit lang anhaltenden Delirien einhergehenden Typhus geistig verändert blieb, nichts mehr lernte, ai nichts Freude hatte, Menschenscheu zeigte und in allen Bewegungei sehr langsam wurde. Dieser Zustand steigerte sich nach dem ein Jahi später erfolgten Tode des Vaters und durch Aufregung infolge einei Liebesverhältnisses allmählich bis zu dem von J. ausführlich geschil derten Verhalten.

Das Hauptsymptom war eine Erschwerung der Bewegungen , alh

lAtteraturhericht. g3

willkOrlichen Bewegungen der Arme, der Beine, der Zunge und der Lippen zeigten dieselbe Kraftlosigkeit und dieselbe Unschlüssigkeit, wodurch die Patientin gewöhnlich aufser stände war aufzustehen, eine Thüre zu ö&en, einen Gegenstand zu ergreifen, manchmal sogar den Mond zu öffnen imd zu sprechen, und nach einigen fruchtlosen Versuchen davon abstand. Dagegen waren alle Beflexe, sowie die physiologischen imd instinktiven Bewegungen (Bespiration, Verdauung, sowie Sichkratzen, Sdui&uzen, Verjagen einer Fliege vom Gesicht) normal, und gewohnte einfache Bewegungen, Nähen und Häkeln konnten ausgeführt werden. Auffallend war, dafs zeitweise, und zwar in impulsiver Weise komplizierte Bewegungen zu stände kamen ; so z. B. zerrüÜs die Patientin gegen ihren Willen ein Fichu zu kleinen Stücken, ohne aufhören zu können, sie Utite an den Fingernägeln, trotzdem es ihr selbst sehr peinlich war, sie muXste, wenn man ihr einen Bleistift und ein Blatt Papier in die Hand gab, triebartig das ganze Blatt mit unförmlichen Zeichen beschreiben, und öfter erfaTste sie ein Selbstmordtrieb , der sie zu raschen und ener- gischen Handlungen veranlafste. Pa sie auch in der Hypnose suggerierte Handlungen ohne jedes Stocken ausführte, ist es einleuchtend, dafs sich die Störung auf die willkürlichen Bewegungen und Handlungen be- sehr&nkte, die automatischen dagegen nicht ergriff, die Patientin konnte sich eben nicht entschliefsen , sie konnte nicht mehr genügend wollen (AboTÜie). Von besonderem psychologischen Interesse war die Beob- ftcbtnng, wie die Schwierigkeit einer gewollten Bewegung geringer wurde, wenn es sich um bekannte Gegenstände und Bewegungszwecke handelte, während Versuche, eine neue Bewegung auszuführen, zuerst immer niÜBglückten.

Neben diesen Bewegungsstörungen, die nicht auf einer Nerven- oder Muskelkrankheit beruhen konnten, sondern rein psychischer Natur waren, hatte Patientin noch andere psychische Störungen; sie bekam AnfUle, in denen sie ganz benommen war, unbeweglich vor sich hin- stierte und unter dem Einflüsse von Beeinträchtigungs-Ideen und Halluci- DAtionen, vorwiegend des Gesichts, stand. Die Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen bezogen sich immer auf frühere Vorgänge tmd wieder- holten sich in derselben Weise; ähnlich wie die posthypnotischen Sug- gestionen hatten sie eine gewisse Nachwirkung auf das Verhalten der Patientin nach dem Anfalle, waren aber nicht die Ursache der Aboulie.

Das Gedächtnis war für die Zeit bis zum Beginn der Krankheit ein gutes, von da ab aber sehr mangelhaft, neue Eindrücke blieben nicht Wten, obgleich die Thätigkeit der Sinnesorgane normal war. Die Patientin zweifelte an der Wirklichkeit aller Vorgänge, zweifelte auch ftQ ihrer eigenen Persönlichkeit. Gelesenes verstand sie nicht, erkannte ^d verstand aber einen Artikel, den sie vorher schon gelesen und den man ihr dabei klar gemacht hatte. In der bis zu einem gewissen Grade fortgefOhrten Hypnose jedoch war sie vollständig verändert, sie erkaimte ^es, war über nichts zweifelhaft, behielt auch in der Erinnerung, was sie in diesem Zustande beobachtet und sich klar gemacht hatte, verstand Gelesenes und führte alle Bewegungen prompt aus.

Diese kurze Zusammenstellung der vornehmlichen krankhaften

6*

34 IMteraturhericht

Erscheinungen wird genügen, um zu zeigen, dafs der gut beobachtete Fall nähere Aufmerksamkeit verdient, nicht zum mindesten wegen der eigentümlichen Beziehungen des Willens zu gewohnten tmd zu neuen Handlungen. Pebbtti (Merzig).

L. Stern. Über das Verhältnis des Körpergewichts zu einer AnzaU von Psychosen. ÄUg. Zeitschr. f, F^chiatrie. Bd. XXVII (1891). S. 697—627.

Das Verhältnis des Körpergewichtes bei Geisteskrankheiten zu dem Verlauf dieser Erkrankungen ist von gröfstem Interesse für die Er- kenntnis der allgemeinen Beziehungen von ,,Körper und Geist.^ Die Untersuchung über dieses Verhältnis ist eine der interessantesten, aber wenn man es genau nimmt schwierigsten der praktischen Psy- chiatrie. Wenn man sich nicht damit begnügt, einfach die Kurve des Gewichtes mit dem Verlauf der psychischen Erkrankung zu vergleichen, sondern durch genaue Wägung und Analyse der aufgenommenen Nahrung und der Körperausscheidungen die wahre Bedeutung der Gewichts-Kurve zu ermitteln sucht, so stöfst man auf die gröfsten Schwierigkeiten.

Nachdem Stern die vielen Widersprüche der verschiedenen Autoren über diese Frage gekennzeichnet hat, bezieht er sich wesentlich auf Emmerich, welcher glaubte, „diese Widersprüche durch die (schon oben angeführten) Ernährungsgesetze der Münchener Schule begründen zu können." S. 603. „Er glaubte, dafs in allen Fällen zunächst das Gewicht sinke, dann aber steige.*' „Geht (aber) die Manie der Melancholie voraus, so wird ein bis dahin gesunder Körper unter dem Einfiufs der psychischen Erkrankung in schlechtere Emährungs Verhältnisse gebracht; es erfolgt also eine Abnahme; andererseits kann nach dem vorher entwickelten Gedankengang in der nun folgenden Melancholie das Gewicht steigen.^ Anfängliches Sinken, späteres Steigen soll also ganz unabhängig von der Art der Krankheit die Begel sein, so dafs ein Steigen des Körpergewichtes sogar mit einer melancholischen Periode isochron sein kann. Beginnende Geisteskrankheit wird von Stern im allgemeinen als mit einer „Schädigung" des Körpers einhergehend betrachtet, und das spätere Ansteigen des Gewichtes wird als „Gewöhnung des Organismus an die ihn betreffende Schädigung", als Anpassung aufgefafst.

Man hatte bisher bei langdauemden Manien oder Melancholien eine Gewichtssteigerung, wenn sie anhielt, ohne dafs geistige Besserung eintrat, als prognostisch ungünstig betrachtet. Stern meint, dafs die Gewichts-Steigerung bei langdauernden Psychosen nicht direkt etwas mit der Prognose zu thun hat, sondern nur ein Ausdruck für die lange Dauer der Krankheit sei. „Der Organismus hat sich ins Einvernehmen mit den veränderten, ihn schädigenden Verhältnissen gesetzt, er rechnet mit einer gröfseren Arbeitsleistung; eine Kompensation in der Assimi- lationsfähigkeit, gewissermafsen eine Hypertrophie der letzteren tritt ein."

Nach dieser Anschauung geht, wenn einmal durch eine Geistes- krankheit eine „Schädigung" des Organismus hervorgebracht ist, die Gewichtskurve unabhängig von dem Verlauf der geistigen Erkrankung ihren Weg, so dafs das Verhalten des Körpergewichtes auch prognostisch gar nicht verwertet werden kann. S. 607. „Einzelne der früheren Autoren

LUieraiurbericht 85

oehinen dies als Zeichen einer beginnenden psychischen Besserung an. £8 ist aber ebensoleicht möglich , dals die Gewichtszunahme mit der Besserung nichts zu thun hat, sondern dafs sie auch hier nur der Aus- druck f&r eine schon früh eingetretene Gewöhnung des Organismus an die ihn betreffende Schädigung ist, mit der er sich verständigt hat.*" Aus solchen Erwägungen und einer Beihe von Krankengeschichten kommt Stern zu dem Schlufs, dafs (S. 625) „das Körpergewicht für die Prognosestellung lange nicht den früher für dasselbe bei psychischen Erkrankungen beanspruchten Wert hat."

Die Begriffe, mit denen Stern fortwährend operiert, sind :„ Schädigung des Organismus durch beginnende Geisteskrankheit^ und „Anpassung in die dadurch bedingten Verhältnisse durch gesteigerte Assimüations- fUiigkeit.''

Wir haben hier die scheinbar einfache Lösung eines Problems vor uns, in welchem vielleicht doch noch später ein tieferer Gehalt gefunden werden wird.

£s ist zu wünschen, dais sich die Psychiatrie nicht so bald an den alleinseligmachenden Begriff der „Anpassung" anpassen möge.

Sommer (Würzburg).

Freiherr von Schrenck-Notzino. Die Bedentong narkotisoher Mittel für den HypnotismiiB mit besonderer BerttcksichtigQng des indischen Hanfii. Schriften der Gesellschaft für psychol. Forschung y 1891, Hefb 1. S. 1-73.

Im ersten Abschnitt seiner Arbeit macht Verfasser Mitteilungen ftber die Unterstützung narkotischer Wirkung durch die Suggestion, sowie anderseits über die Steigenmg der Suggerierbarkeit durch die Einverleibung narkotischer Mittel. Gelingt es, bei einem durch chemische Mittel Eingeschläferten eine suggestive Einwirkung herzustellen, so be- zeichnet Verf. diesen Zustand als eine aus einer Narkose transformierte Hypnose. Er stellt hierüber folgende Beziehungen auf: 1. Narkotische Mittel, wie Äther, Alkohol, Chloroform, Morphium etc. schwächen die kontrollierenden Funktionen des Gehirns, den bewuTsten Intellekt, den Eigenwillen ab und erzeugen durch Hervorrufung von Müdigkeitsempfin- duDgen, Betäubungszuständen etc. eine günstige Prädisposition zur Auf- naHme von Suggestionen, d. h. für den Eintritt des hypnotischen Zustandes.

2. Die aus Narkosen etc. transformierten Hypnosen sind in der Begel tiefer, als die bei demselben Individuum im wachen Zustande durch alleinige Anwendung psychischer Mittel erzeugten Grade der Hypnose.

Im besonderen Mafse kommt nun eine gesteigerte Suggestibilität ^>^ Haschischrausch zu stände, eine Erscheinung, welche Verfasser durch eigne Versuche festgestellt hat und im zweiten Abschnitt seiner Arbeit bespricht.

Diese Versuche führen den Verf. zu dem Besum6, dafs die Geistes-

disposition im Haschischrausch während der suggestiblen Phase in Bezug

A^ die Bealisierung von Suggestionen ein dem hypnotischen Zustande

i^ezu identisches Eesultat darstelle.

GoLDscHEiDER (Berlin).

gg LittertUurherichi.

A. Leppmahv. Die SachverständigentUtigkeit bei Beelenstömiigeii. Ein

Handbuch für die ärztliche Praxis. Berlin, A. Th. F. Enslin, 1890. 273 S. (Selbstanzeige.)

Nachdem der Verfasser die Freude gehabt hat , von der gesamten Kritik die praktische Zweckdienlichkeit seines Buches in kaum gehoffter Weise anerkannt zu sehen, möchte er in folgendem auf einige mehr theoretische Fragen eingehen:

1. Bei der Begutachtung krankhafter Seelenzustände vermiHst der praktische Arzt, auch wenn es ihm möglich ist, im Einzelfalle eine aus- giebige Menge krankhafter Einzelerscheinungen am Seelenleben fest- zustellen, ein allgemein anerkanntes Schema, nach welchem er dieselben, wenn auch nicht zu einem klinisch abgegrenzten Krankheitsbilde, so doch zu einem häufig wiederkehrenden Symptomenbilde gruppieren kann. Dies ist besonders bei den seelischen Störungen der Fall, welche mui einfache nennt, weil sie nicht durch Komplikationen mit besonderen körperlichen Erscheinungen oder besonderen Ursachen, wie z. B. die paralytische Seelenstörung und das Deliriimi tremens, die Zurechnung zu einer besonderen Gruppe rechtfertigen.

Der Hauptfortschritt, welchen die Neuzeit in der symptomatischen Einteilung dieser einfachen Seelenstörungen gemacht hat, ist das Auf- geben des Gnmdsatzes: jede Seelenstörung müsse zuerst mit einer Ge- mütskrankheit beginnen und damit die Einfühnmg des Symptomenbildes der primären Verrücktheit und des primären Blödsinns. Die Feststellung des Auftretens von primären Verstandesstönmgen, welche auf Qrund von allmählich sich entwickelnden, fest einwurzelnden Verfolgungs- und Selbstüberschätzungsideen zur völligen Umgestaltung des Ichbewufstseins führen, schuf zunächst den Begriff der chronischen primären Verrückt- heit. Hierzu fügte Wbstphal den Begriff der akuten primären (hallu- cinatorischen) Verrücktheit durch die thatsächliche Behandlung eines ähnlichen Symptomenkomplexes, welcher aus plötzlich aufspringenden, durch Hallucinationen vermittelten falschen Ideen von gleicher Richtung sich aufbaut.

Die folgerichtige Anwendung dieser modernen Lehre ftlhrte den Verfasser zu folgendem Schema:

A. Akute Seelenstörungen: 1. Melancholie; 2. Manie; 3. akute Verrücktheit; 4. akuter Blödsinn.

B. Chronische Seelenstörungen: 1. Chronische primäre Verrücktheit; 2. chronische sekundäre Verrückt- heit; 3. chronischer primärer Blödsinn; 4. chronischer sekiindärer . Blödsinn.

Dieser TeU seines Buches hat nicht die Billigung aller seiner Fach- genossen gefunden. Die einen sagen: es gäbe eine Beihe von Symptomen- bildern, welche sich unter das Schema überhaupt nicht bringen liefse, die andern, es würde dadurch den Thatsachen Gewalt angethan, indem Krankheiten von verschiedenartigstem Grundgefüge vermöge sympto- matischer Ähnlichkeit zusammengestellt würden. Letzteres möchte Ver- fasser bezweifeln, sein Schema trennt die lockerer einhaftenden, die rein funktioneUen Störungen des Seelenlebens von den Entartungen ebensogut

Litteraturbericht, g7

wie viele andere Einteilungs versuche, und wenn auch der erste Einwurf gerechtfertigt ist, so ist eine erschöpfende Einteilung nach sympto- matischen Grundsätzen hisher überhaupt noch nicht erfolgt. Die seinige aber findet den Beifall der ärztlichen Praktiker; sie befreit dieselben, wenn sie auch nur ein Notbehelf ist, vor dem Umherschwanken auf uferlosem Meere, oder vor dem resultatlosen Eindringen in Einteilungs- systeme von beängstigender Vielgestaltigkeit.

2. Bei der Frage von der Zurechnungsfähigkeit rät Verfasser dem Sachverständigen, auf eine Beantwortung der Frage, ob die freie Willens- bestimmung ausgeschlossen war, nicht zu verzichten, wie er es in seinem (gleich folgenden) Bef erat über Mendel: Zurechnungsfähigkeit erörtert hat ;

3. betont er wie viele andere Psychiater die notwendige Abschaffung der landrechtlichen Begriffe des Wahnsinns und Blödsinns. Er bemüht sich im einzelnen auszuführen, dafs ohne wesentliche logische Fehler zwei Sachverständige aus denselben Thatsachen zu verschiedenen landrecht- lichen Begriffen kommen können, da die Schätzung der Fähigkeit, „mit der AuXsenwelt in vernunftgemäfser Weise verkehren zu können", einen zu grofsen subjektiven Spielraum bietet.

4. Der Verfasser bemüht sich, so weit dies möglich ist, seine Aus- einandersetzungen so zu gestalten, dafs sie auch gebildeten Nichtärzten verständlich werden können. Ein sehr beachtenswerter Kritiker erblickt darin eine Erschwerung der ärztlichen Sachverständigenwirksamkeit. Der Verfasser glaubt aber eher das Gegenteil. Die ärztlichen sach- verständigen Begutachtungen sind zum gröfsten Teil für Laien bestimmt ; sie werden einem psychologisch belehrten Beurteiler gegenüber mehr Verständnis, demnach mehr Anerkennung finden. Auch kann der Laie, wenn er menschlichen Sonderbarkeiten in Beden und Handlungen mit psychologischen Vorkenntnissen gegenübertritt unter gewissen Um- ständen, wie z. B. als Gefängnisbeamter den ersten Anlafs zur Aufdeckung von Seelenstörungen, die sonst verkannt worden wären, geben.

£. Mendel Znreclinnngsfäliigkeit. EidenburgsBeal-Encyklopädie der gesamten Heilkunde. 2. Aufl. Wien und Leipzig, Urban & Schwarzenberg, 1890. Eine Monographie von 27 Seiten, erschöpfend im Inhalt einschliefslich der geschichtlichen Entwickelung imd mit wohlthuender Klarheit ab- gefalst. Verfasser hält an dem von ihm stets vertretenen Standpunkt fest: Die Zurechnungsfähigkeit in forensischer Beziehung ist die Fähig- l^eit, für eine durch das Strafgesetzbuch mit Strafe bedrohte Handlung zur Verantwortung gezogen zu werden. Ihre Vorbedingungen werden durch die einzelnen Gesetzbücher der Kulturstaaten festgestellt; sie ist *lso ein kriminalrechtlicher Begriff, und der ärztliche Sachverständige hat nur das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der gesetzlich um- grenzten Vorbedingungen, so weit sie krankhafte Zustände betreffen, festzustellen, der Entscheid aber, ob daraus ein Mangel oder eine Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit entspringt, steht allein dem Richter zu.

Ebensowenig gehört es zur Pflicht des Arztes, darüber zu entscheiden, 0^ im Einzelfalle eine „Aufhebung der freien Willensbestimmung", wie »« der § 51 des R.-Str.-G. fordert, vorliegt.

88 LiUeraturberieht

Er hat nur festzustellen, ob und welche „krankhafte Störang der Geistesthätigkeif vorliegt, er kennt nach dem modernen Standpunkt^ der Psychiatrie keine besonderen Krankheiten des Willens, er kann vielmehr alle krankhaften Störungen der Willensthätigkeit auf Krankheiten des Wahmehmens, Denkens und Fühlens zurückführen.

Der grundsätzliche Standpunkt des Verfassers hat gewüs seine Berechtigung, doch haben andersartige Anschauungen, welche darin gipfeln, dafs die Sachverständigen als Träger einer Erfahrungswissen- schaft im EinzelfaUe berechtigt seien, Schätzungen der freien Willens- bestimmung zu vollziehen, vielleicht gröfsere praktische Wertigkeit. Dem Bichter bleibt nach dem Prinzip der freien Beweiswürdigong doch der letzte Entscheid. Leppmakk (Berlin).

Internationaler Kongrefs für experimentelle Psychologie.

Aussug aus dem vorläaflgen Programm.

•»

Die zweite Sitzung dieses Kongresses wird in London am 2. Augast 1892 und den drei folgenden Tagen stattfinden, unter dem Präsidium von Herrn H. SmowiCK.

Es ist Vorsorge getroifen, dafs alle wesentlichen Gebiete der zeit- genössischen psychologischen Forschung Vertretimg finden werden. Neben den wichtigsten Zweigen der Experimentalpsychologie des nor- malen Seelenlebens werden also noch Berücksichtigung finden: die cerebralen Beding^imgen der geistigen Vorgänge, das Geistesleben der Kinder, niederen Menschenrassen tmd der Tiere in Verbindung mit der Frage der Vererbung, femer Pathologie des Geistes und Kriminologie, sowie Hypnotismus. Aufserdem wird über die 1889 in Paris beschlossene Statistik von Halluzinationen Bericht erstattet werden. ^

Ihre Teilnahme (oder Vorträge) haben bereits zugesagt: Aus Deutsch- land: GoLDSCHEiDSB , G. E. MüLLER, MüNSTERBERQ (Komplieterte Lust' und üfUustgefühle), Preyer, y. Schrenk-Notzinq ; aus England: Horslby (Degree of LocaUaaiion of Mavements and Correlative Sensatians) , Mercibr , Homaves ; aus Frankreich: Beaünis {Quesiümnaires pftychologiques)^ Biket {Zur Psycho- logie der Insekten) j P. Janet (L'abouUe)j Eibot, Eichet (Die Zukunft der Psychologie)] aus Nordamerika: Donaldson (Laura Bridgman), St. Haix {Becent Hesearches in the Psychology of the Skin\ James; aus anderen Län- dern: LoMBROso {SensUnUtät der Frauen), Grot, N. Lange {Experimente und Theorien, betreffend die Assoziation), Lehmann. Die Teilnahme von Bain und Hering, sowie die Einsendung eines Vortrags von Wundt wird erwartet.

Beitrag zehn Shilling. Auswärtige Teilnehmer können auf Unter- kunft zu mäfsigen Preisen rechnen.

Mitteilungen (begleitet von eingehender Inhaltsangabe) werden erbeten bis spätestens Ende Juni an einen der Sekretäre F. H. Myers, Leckhampton House, Cambridge, oder J. Sully, East Heath Eoad, Hampstead, London N. W.

* Fragebogen hierfür sind zu erhalten von Dr. Dessoir, Berlin, W,, Köthenerstr. 27, u.Dr. v. Schrenk-Notzing, München, Herzog- Wilhelmstr. 29.

über die Empfindlichkeit des grünblinden und des normalen Auges gegen Farbenänderung

im Spektrum.

Von

E. Brodhun.

(Mit 8 Figuren.)

Für das normale Auge sind Bestimmungen der Empfind- lichkeit für Parbenunterscliiede im Spektrum bereits nach verschiedenen Methoden und mit verschiedenen Versuchsanord- nnngen angestellt worden. Die zuerst benutzte Anordnung, die von v. Hblmholtz angegeben und von Mandelstamm* und später zweimal von Dobrowolsky* in Anwendung gebracht wurde, besteht darin, dafs in den Gang der das Spektrum er- zeugenden Lichtstrahlen die Platten des Ophthalmometers so eingeschaltet werden, dafs ihre Drehungsaxe dem Spalte parallel ist, und die Ebene, in der sie aneinander grenzen, das Spektrum in eine obere und eine untere Hälfte teilt. Durch Drehung der Platten wird dann der eine Teil gegen den anderen ver- schoben. Durch einen Okularspalt wird ein nahezu monochro- matisches Stück des Spektrums ausgeschnitten und die Drehung der Platten bestimmt, die nötig ist, damit der obere Teil des Gesichtsfeldes von dem unteren eben merklich verschieden ist. Mandelstamm untersuchte die Empfindlichkeit bei den bekann- testen FRAUNHOFERschen Linien (B, C, D, E, F, G) und jedes- nial einer zwischen ihnen liegenden nicht näher definierteii

' t. Mandelstamm: Gräfes Archiv, 1867. Bd. 13. 2. Abtl. S. 399.

* W. Dobrowolskt: Gräfes Archiv, 1872. Bd. 18. 1. Abtl. S. 66 imd S.98.

Zeitschrift fUr Psychologrie III. 7

98 ^' Brödhun,

Stelle. Er fand ein Maximum der Empfindlichkeit bei D und ein zweites etwas geringeres bei F. Ein damit übereinstimmendes Resultat erhielt Dobrowolskt, der die Versuchsanordnung Mandelstamms etwas veränderte. Er erhielt überall gröisere Empfindlichkeit, als sein Vorgänger, femer bei seinen ersten Versuchen bei J5, wo Mandelstamm nicht untersucht hatte, ein weiteres Empfindlichkeitsmaximum, welches sich aber bei spä- teren Versuchen als durch den Helligkeitsabfall im Spektrum entstanden erwies. Er fand dies, indem er durch Einschaltung zweier NicoLscher Prismen mit einer dazwischen liegenden Quarzplatte dunkle Streifen im Spektrum erzeugte.

Nach derselben Methode des ebenmerklichen Unterschieds, aber mit einer ganz anderen Versuchsanordnung hat Pbircb* dieselbe Untersuchung ausgeführt. Er bewirkt die Verschiebung zweier übereinander liegenden Spektra durch einen Spalt, der so eingerichtet ist, dafs seine obere Hälfte durch eine Mikro- meterschraube nach rechts oder links bewegt werden kann. Es wird dann für jede untersuchte Stelle im Spektrum die Gröfse der Verschiebung der oberen Spalthälfte bestimmt, bei welcher der Beobachter zwar beide Teile des Gesichtsfeldes noch nicht vollkommen gleich sieht, aber auch nicht mehr an- geben kann, ob zur Erlangung völliger Gleichheit der beweg- liche Spalt nach rechts oder nach links verschoben werden mufs. Bei Peirce wurde das Spektrum durch ein Rutherpord- sches Gitter erzeugt, bei Mandelstamm und Dobrowolsky durch Prismen.

Die von Peirce gegebene Kurve, welche aus den Mittel- werten der Beobachtungen von verschiedenen Personen erhalten ist, zeigt drei Maxima der Empfindlichkeit: eins (das gröfste) bei D, eins etwas rechts (nach dem blauen Spektrumende hin) von F, ein drittes links von Li.

Im Jahre 1884 haben A. König und C. Dieterici* Unter- suchungen über denselben Gegenstand veröffentlicht. Den von ihnen verwandten Apparat beschreibe ich ausführlicher, weil er auch für meine unten beschriebenen Versuche benutzt wurde. Er bestand in einem Spektralapparat mit drei Kollimatoren

^ B. 0. Peirce: Säl Journal, Yol. 26. S. 299. 1883. * A. König und C. Dieterici: Wied. Ännalen 22. S. 579. 1884 und Gräfe's Archiv, Bd. 30 (2). S. 171. 1884.

über die Empfindlichkeit des Auges im Spektrum, 99

und einem gleicliseitigen, allseitig polierten Flintglasprisma. Zwei der Kollimatoren, welche um die Axe des Apparats ge- dreht werden konnten, waren mit bilateral verschiebbaren Spalten versehen, die durch sehr lichtstarke Gaslampen er- leuchtet wurden; der dritte, der am Tische des Apparats fest- geschraubt war, trug in der Ebene des Brennpunktes seines Objektivs eine Scheidewand mit einer zur Beobachtung dienen- den, sehr schmalen, rechteckigen Öffiiung. Mitten vor dem Objektiv des letzteren Rohres stand die eine Kante des Prismas, so dafs man durch das Diaphragma hindurchblickend zwei an- einander stofsende Prismenflächen sah, die bei geeigneter Stellung der Spaltrohre monochromatisch leuchteten. Die Stellung der Spaltrohre, von welcher die Farbe der Beobachtungs- felder abhängt, wurde nicht wie gewöhnlich mit Hilfe eines Teilkreises sondern durch Spiegelablesung bestimmt, zu welchem Zweck an jedem Spaltrohr ein Spiegelchen befestigt war. Aus demjenigen Teilstrich einer Millimeterskala, welcher mit dem Fadenkreuz eines auf den Spiegel am Spaltrohr gerichteten Femrohrs zusammenfiel, wurde mit Hilfe einer besonders be- stimmten Tabelle die einstehende Wellenlänge festgestellt. In Bezug auf Einzelheiten mufs ich auf die citierte Abhandlung von König und Dibtbrici verweisen.

Die Beobachtungen geschahen nun so, daijs zunächst beide Spaltrohre auf die zu untersuchende Wellenlänge mit Hilfe der Tabelle eingestellt wurden, so dafs beide Prismenflächen in dieser Farbe leuchteten. Sodann wurde durch Änderung der Spaltbreiten beiden Beobachtungsfeldem die gleiche, im übrigen eine beliebige, dem Auge zusagende Helligkeit gegeben. Nach- dem nun das eine Spaltrohr aus seiner Lage herausgedreht war, so dafs jetzt die betreffende Prismenfläche eine andere Farbe zeigte, führte der Beobachter eine Einstellung in der Weise aus, dafs er das letztgenannte Spaltrohr so lange ver- drehte, bis beide Beobachtungsfelder vollkommen gleich er- schienen. Mit Hilfe der Tabelle wurde sodann die Wellenlänge bestimmt, welche an Stelle der gesuchten einstand. Aus einer grofsen Anzahl solcher Einstellungen wurde der mittlere Fehler einer Beobachtung berechnet und dieser als Maafs für die Empfindlichkeit des Auges gegen den Farbenwechsel benutzt.

Die Empfindlichkeitskurven, welche Köniö und Dibtbrici erhalten haben, zeigen zunächst die bisher stets gefundenen

100

E. Brodhun.

Minima bei D und bei F, Im Gegensatz zu den früheren Beob- achtungen ergab sich aber die Empfindlichkeit bei F am gröfsten, bei D geringer. Aufserdem tritt am violetten Ende (bei X = 440 fifA oder 450 fifi) noch ein drittes Minimum auf. Beide Beobachter (in besonders hohem Maafse A. König) er- hielten am violetten Ende (von 520 fifi etwa an) einen anderen Verlauf der Kurve für hohe als für niedrige Intensität des Spektrums. Da aber die erstere gerade in diesem Bereich durch Benutzung von Kalklicht an Stelle von Q-aslicht erzielt wurde, so liegt mit Rücksicht auf die weiter unten beschrie- benen Versuche die Vermuthung nahe, dafs die Abweichungen vorwiegend von der verschiedenen Helligkeits Verteilung in den Spektren der beiden Lichtarten herrühren.

Die für Königs Auge bei niedriger Intensität gefundenen Resultate sind in der folgenden Tabelle enthalten und als Kurve a in Fig. 3 eingetragen.

Beobachter K. (norm. Trichromat). Intensität varriert.

k

Mittlerer

;i

Mittlerer

Fehler

Fehler

640^^

1,28^^

530 |U^

0,65 f*f^

630 .,

1,05

520 ^

0,59

620

0,68

510 ,,

0,40

610

0,56 ^

500 .,

0,23 ..

600

0,36

490 ,,

0,16

590

0,26

480

0,28

580

0,27

470

0,46

570

0,29

460

0,54 ,

560

0,40 ,.

450

0,44

550

0,65

440

0,68 ,.

540 ,,

0,68 ,.

430

1,06 ,

Genau nach demselben Verfahren habe ich^ auf Vorschlag von Herrn Professor A. König im Jahre 1885 die Empfind- lichkeit meines grünblinden Auges gegen Farbenänderung im

* Eine vorläufige Mitteilung der im folgenden beschriebenen Ver- suche findet sich in den Verhamü. d. Physiol. Gesellsch. zu Berlin 1885 86. No. 17 und 18.

über die Emp/indlieMteit des Auge» im Sptkiru

101

Spektram bestimmt. Für jede untersuchte Stelle wurden min- destens 50 Einstellungen ausgeführt, aus denen dann der mitt- lere Fehler einer Beobachtung zunächst in Skalenteilen und daraus in AVellenlängen berechnet wurde. Es wurde stets bei einer mittleren Intensität beobachtet. Untersucht worden 14 Stellen des Spektrums zwischen 570 [tf* und 440 ju/*. Weiter wurde nach beiden Seiten nicht fortgefahren, da sich ergab, daTs die Einstellungen in höherem Orade von der Veränderung der Intensität im Spektrum als von der des Farbentona ab- hängig wurden. Die Resultate giebt die folgende Tabelle und Kurve a in Fig. 1.

!,♦

«1—

^

Sl *

I J

,u

4 »

i .

t

"J

t i

%

**

i

1- - ^ o

n "V

\ i i

. 5

^ t .

l V

~J~ ^

«- s,

X- 1-1^ l

A Jt" »

s"^ ' q: l

,

V^ -// "

ti

^A i^ l

•r

\ ''

1

S i »

i

N;_/ «

t_

:

JflO fieo MO Ata MO <tSO *<iO v«o tüö

Die Kurve zeigt nur ein Minimum beim neutralen Punkt Sonnenlicht, etwas bnks von dem bei F liegenden Minimnm

102

E. Brodhun,

des Trichromaten. Rechts davon, nach dem violetten Ende hin, ist die Empfindlichkeit ungetähr gleich der des normalen Auges, bei 440 fAfA^ wie es auch König und Dietebici fanden, gröfser als bei 450 fifi,, Links von dem Minimum ist die Em- pfindlichkeit bis 530 fAfA etwas gröfser als beim Trichromaten, nimmt aber dann sehr schnell weiter ab, während sie beim normalen Auge noch ein zweites Minimum bei D hat.

Beobachter E. Br. (grünblind). Intensität konstant.

k

Mittlerer

k

Mittlerer

Fehler

Fehler

blO f^fi

1,28 fifi

500 fifjL

0,12 fAfi

560

1,04

490

0,14 ,,

550

0,94

480

0,25

540

0,75

470

0,42 .

530

0,56

460

0,60

520

0,43

450

0.85

510

0,26

440

0,66 ,,

Der überwiegende Einfluiä, welchen der Intensitätsabfall an den Enden des Spektrums zeigte, machte es notwendig, die Versuche mit einer Abänderung, welche jede Einwirkung der Empfindlichkeit des Auges gegen Helligkeitsunterschiede aus- schlofs, von neuem auszuführen, imd zwar mufsten sie durch das ganze Spektrum, nicht allein an den Enden, wiederholt werden, da es möglich schien, dafs die Helligkeitsverteilung auch da, wo die Empfindlichkeit gegen Farbenänderung über- wiegt, einen gewissen Einflufs ausübt. Ein solcher ist aber um so wesentlicher, als er die Ergebnisse von der Natur des zufallig benutzten Spektrums abhängig macht, so dafs dieselben sich nicht mit denen anderer Beobachter, welche zufällig ein Spektrum mit anderer Helligkeitsverteilung benutzt haben, vergleichen läfst.

Die gewählte Abänderung bestand darin, dafs man vor jeder Einstellung nicht allein die Stellung des betreffenden Spaltrohrs, also die Farbe des einen Beobachtungsfeldes, sondern auch die Breite des Spaltes an diesem Bohre und damit die Helligkeit des Feldes veränderte. Man hatte also jetzt die Ein- stellung nicht allein durch Drehen des Spaltrohrs um die Axe

über die Empfindlichkeit des Auges im Spektrum

103

des Apparats, sondern zugleich durch Verändern der Spalt breite zu bewirken.

Die folgende Tabelle und die Kurve 6 in Fig. 1 geben die Eesultate dieser Untersuchung, deren Grenzen die Wellenlängen 550 fA(A und 440 fifi bilden, da zu beiden Seiten dieses Intervalls die Unsicherheit eine allzugrofse wurde.

Beobachter E. Br. (grünblind). Intensität variiert.

;i

Mittlerer

k

Mittlerer

Fehler

Fehler

bbOfifi

3,56 ftfi

490 ^/i

0,16 fi/^

540

2,17

480

0,28 ,

630

1,03 ,

470 ,

0,59

520

0,47

460 ,

0,92 ,

510

0,31 ,

450

1,43

600

0,16

440

2,13 ,

Es zeigt sich also, dals überall die Empfindlichkeit eine etwas geringere geworden ist; die nochmalige Zunahme hinter 450 ju/* bei der ersten Beobachtungsreihe ergiebt sich als nur durch die Intensitätsabnahme im Gaslicht-Spektrum bewirkt. Die Kurve hat die Gestalt einer Parabel, deren Scheitel bei 495jttji» liegt.

Da sich hier also ergeben hatte, dafs überall, auch wo die Empfindlichkeit ihr Maximum hat, die Intensitätsverteilung einen Einflufs ausübt, so erschien es notwendig, dafs auch für das normale Auge die Untersuchung mit der beschriebenen Abänderung wiederholt wurde. Herr Professor König hatte die Güte, diese zeitraubenden Beobachtungen auszuführen. Ihre Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle und als Kurve 6 in Eig. 2 verzeichnet.

Die Empfindlichkeit wurde für 21 Stellen im Spektrum, zwischen 640 ^^ und 440 ji*^, bestimmt.

Die Kurve zeigt nur zwei Minima, das eine bei 490 fifij das andere bei 580 fifi. Alle bei früheren Beobachtungen ge- fimdenen weiteren Minima an den Enden des Spektrums sind danach nur durch den Intensitätsabfall entstanden. Auch hier zeigt sich die Empfindlichkeit überall etwas geringer, als bei

104

'. Brodhun.

den ohne Veränderung der Intensität angestellten Beobach- tongen.

Zu bemerken ist, daTs in Übereinstimmung mit den früheren Versuchen von A. Köwio und C. Dietbbici und abweichend von den Resultaten aller anderen Vorgänger die Empfindlichkeit links von F gröiser als die rechts von Z> gefunden wurde.

a

V

■■'

" b

Jj

'i

i,a

Jj,

1 t

d

-1

Z t

Jl

ül

l X

T

1, Tit

t

'

l 4 -

-t f

u

Z t

t ^J^

t ^

"'

X 1.

'■'

4 1

^

-j t

Li.

1. t

i L

■'

» t

- U -1

^

" t

- V 1

n

^3 /.'

%^ t

>7 f-

i^ L

Z ^^ J :

' ^\: 3 ^

,

» ■^-■^ -

- \^ t A

S, ^ 4I

la

i ■-' 1

'

i IL 1

f**

«60 ew mo

In Fig. 2 aind die Kurven für das normale <b) und das grünblinde (a) Äuge zusammen gezeichnet. Der Vergleich lehrt , dafs in der letzten Hälfte des Spektrums , rechts von E, der Grünblinde ebenso empfindlich oder noch empfind- licher als der Trichromat gegen Farbenänderung ist, während in der anderen Hälfte der letztere sich weitaus empfindlicher als der erstere erweist.

über die Empfindlichkeit des Auges im Spektrum.

105

Beobachter A. K. (norm. Tricliromat). Intensität variiert.

k

Mittlerer

k

Mittlerer

Fehler

Fehler

640 fifi

2,37 ^.u

530 ^^

0,77 f.fi

630 .,

1,35

520

0,71

620

0,67 .,

510 ,

0,64 ,

610 .,

0,55 ,

500

0,35

600 .,

0,45 .,

490

0,31 ,

590

0,42 ,

480 .,

0,38 ,

580 .,

0,38 .,

470

0,68

570

0,51 .,

460

1,03 .,

560 .,

0,58 .,

450

1,43 ,

550

0,77 .,

440

2,18 ,

540

0,80 .,

Es sei noch hervorgehoben, dafs die Maxima der Empfind- lichkeit mit den Schnittpunkten der Farbenempfindungskurven ^ för SonnenHcht zusammenfallen. Die ersten beiden Kurven der Trichromaten schneiden einander bei D, an der Stelle, wo das erste Minimum von Fig. 26 sich findet, und die dritte Knrve links von JP, da, wo wir das andere Minimum der Em- pfindlichkeitskurve erblicken. Ebenso stimmt das einzige Mini- mum von Figw 2 a mit dem Schnittpunkt meiner Farbenkurven überein.

Im Jahre 1888, also nach meinen Versuchen, hat dann noch Uhthoff^ die Empfindlichkeit seines normalen Auges gegen Farbenwechsel im Spektrum bestimmt. Er benutzte denselben Apparat, mit welchem die letztbeschriebenen Ver- suche angestellt wurden, und auch dieselbe Beobachtungs- weise mit der Abweichung, dafs er nicht auf Gleichheit, sondern auf ebenmerklichen Farbenunterschied einstellte, also nicht den mittleren Fehler, sondern den ebenmerklichen Unterschied als Maafs der Empfindlichkeit benutzte. Er erhielt die Werthe :

* A. KöKiG und C. Dieterici: Sitzutigsberichte der Berl. Akademie vom ».Juli 1886. S. 805.

' W. TJhthoff: Gräfes Archiv. 1888. Bd. 34. Abtl. 4. S. 1.

Beobachter: U- {norm. Trichromat). Intensität variiert.

CnleraeUcid

'

650 ^P

4.70 pp

570 pp

1,10 /ifi

640

2,97

650

1,66

630

hG8

690 ,.

1,88 1,

620

1,24

510 ,.

1,29.

610

1.08

490 ,.

0,72

600 ,

1.02 .,

480 ,.

0,95 ,.

6»0 ,

0,91

i^0

1.57

580 ,

0,88 ..

460 ,.

1,95

450 ..

2,16

Seine Kurve (Fig. 3 c) zeigt denselben Charakter , wie die für Könios Auge znletzt gefandene in Fig. 3a. Die

Z -^

"

*

z

\ "

t t

p "^l* ^

Z l

14 t,

z %

l

-^^ 1- t l

l ~ z

\ t t a

X l

ü u t

\ -, l

» 4C '

^ ' H ^ l

l \ -1

1 1 »

i V \- i

,- l t l

^ ^ S '

V t ^

l % -^ 4

\ -, ,

z l ^-^

j > ;;

z \

-1 i i i

Z j 4

-^ ^7 t t

- - ^

»t ^^ 2l

\5: 7^v^ "

l t^ ^ 1

^3 5^^ l

Z \ ^

\^zL Z

■^ -^

\/ l

«l

000 ew exo

«so ««> VW *90

t

i

■i 4

Über die Empfindlichkeit des Auges im Spektrttm. 107

Ordinaten der ersteren sind natürlich, erheblich gröfser,

als die der letzteren, und zwar schwankt der Quotient

ebemnerklicher Unterschied . « « a . ^ ^

r—i =-rri wenig um 2,2. Am roten Ende

mittlerer Jbenler

des Spektrums hat er freilich einen erheblich kleineren Wert, der aber möglicherweise auf individuelle Unterschiede zwischen den beiden Beobachtern zu schieben ist. Zur be- quemen Vergleichung ist die von Uhthofi^ (c) gefundene Kurve zugleich mit den beiden von König (a und 6) in Fig. 3 ein- getragen.

Zum Schlüsse habe ich Herrn Professor A. König für die mir bei meinen Versuchen gewährte Anregung und Unter- stützung meinen besten Dank auszusprechen.

Kürzeste Linien im Farbensystem.

Von

H. VON Helmholtz.^

Wir wollen im Folgenden von einer geometrischen Dar- stellung des Farbensystems ausgehen, welche Lamberts Farben- pyramide entspricht, indem wir jede besondere Farbe als her- gestellt durch die Vereinigung der passend abgemessenen Quanta dreier passend gewählter Grundfarben ansehen, und die Werthe dieser drei Quanta gleich setzen den drei positiven rechtwinkeUgen Coordinaten ^, y, z. Dann ist jede Farbe durch einen Punct innerhalb der dreikantigen Ecke vertreten, welche zwischen den positiven Coordinataxen eingeschlossen ist. Jede Ebene, welche die drei positiven Coordinataxen schneidet, kann als Farbentafel im Sinne der Newton sehen Anordnung der Farben gebraucht werden, indem die Quanta der ver- schiedenen Farben, wie sie in dieser Ebene vorkommen, als Einheitsquanta für die Abmessung der zu mischenden Farben entsprechender Art genommen werden. Innerhalb der Farben- tafel findet man bekanntlich die Mischfarbe am Orte des Schwer- puncts der gemischten Farben, und ihr Quantum ist der Summe der Quanta der gemischten Farben gleich zu setzen.

Wie Riemann gezeigt, lassen sich alle Eigenschaften einer besonderen Art des Raumes ableiten, wenn man den Werth der Entfernung zweier benachbarter Puncte durch die zu- gehörigen Differentiale der Coordinaten geben kann. Die Ent- fernung zweier Puncte eines festen Körpers aber ist eine Gröfse, von der man verlangt, dafs sie durch die Lage ihrer

* Auszug aus einer Abhandlung gleichen Titels \n\SiUigsher. der Akademie zu Berlin, 17. December 1891.

Kürzeste Linien im Farbensystem. 109

beiden Endpuncte vollkommen gegeben sei und gleich bleibe bei allen möglichen Verschiebungen und Wendungen des festen Körpers, dem die Puncte angehören.

Die Farbenqualitäten sind nun Gröfsen, die dem Gebiet der Empfindungen angehören. Wenn eine der Entfernung analoge Gröfse bei ihnen vorkommt, so muGs dies ebenfalls ein in der Empfindung gegebenes Verhältnifs sein, welches zwischen je zweien besteht und durch die Beschafi'enheit der zwei voll- ständig gegeben ist. In der That läfst sich ein solches ent- decken, es ist nämlich die Deutlichkeit der Unterscheidung zwischen zwei nahestehenden Farben.

Einigermafsen bestimmte Angaben lassen sich über den Grad dieser Deutlichkeit freilich nur bei sehr kleinem Unter- schiede der Farben machen, aber dies genügt in diesem Falle, Die ursprünglichen Versuche E. H. Webers und Fbchnbrs welche zur Aufstellung des psychophysischen Gesetzes führten, bezogen sich allerdings nicht sowohl auf den Grad der Deut- lichkeit, als vielmehr nur auf die Erkennbarkeit oder Nicht- erkennbarkeit des Unterschiedes. Aber die neueren Fortsetzungen dieser Messungen haben, sowohl bei der Construction der Gon- trastphotometer als auch in den Versuchen von Hrn. EßBiNaHAUS über Abstufungen von Licht, und Farbeneindrücken gelehrt, dafe die Aussage darüber, ob von zwei sehr kleinen wahrnehm- baren Unterschieden der eine oder der andere gröfser, d. h. deutlicher sei, sogar noch bestimmter gegeben werden kann, als die früher geforderte Entscheidung über Sichtbarkeit oder NichtSichtbarkeit.

Die Frage über die Deutlichkeit des Unterschiedes kann liuch bei jeder beliebigen Art des letzteren gleich gut gestellt Verden. Man kann sie ebensogut in Bezug auf die Hellig- keit qualitativ gleicher Farben, wie in Bezug auf den Farben- ton gleich heller Lichter stellen und beide mit einander ver- gleichen.

Ich habe nun in neuerer Zeit^ versucht, eine Formel auf- zustellen und mit den vorliegenden Beobachtungen zu vergleichen.

^ H. V. Helmholtz: Versuch einer erweiterten Anwendung des FECHSERschen Gesetzes im Farbensystem. Diese Zeitschrift. Bd. 11., S. 1. ^^1, und: Versuch das psychophysische Gesetz auf die Farbenunter- ßchiede trichromatischer Augen anzuwenden, ebenda. Bd. III., S. 1. 1891.

110 H. V, Helmholtz.

welche, wenn sie sich weiter bestätigt, dieselbe Bolle für das Bereich der Farbenempfindungen spielen würde, wie die Formel für die Länge des Linienelements in der Geometrie. Ich habe darin versucht, den Grad der Deutlichkeit zweier Farben an- zugeben, die sich gleichzeitig in den Quanten aller drei Grund- farben von einander unterscheiden, welche in ihre Zusammen- setzung eingehen, also gleichzeitig sich in Helligkeit und in der Qualität unterscheiden können, während bisher nur diejenige Seite des Gesetzes durchgearbeitet war, welche sich auf Hellig- keitsunterschiede allein, bei unveränderter Qualität, bezieht.

Die auf Nbwtons Mischungsgesetz begründeten bisherigen Definitionen der Farben definiren eigentlich nur diejenigen Mischungen objectiven Lichts, durch welche die besonderen einzelnen Empfindungen erregt werden können, und Nbwtons Gesetz selbst bestimmt nur die Verhältnisse der Aequivalenz verschiedener Mischungen objectiver Lichter in dieser Beziehung.

Auf dem hier einzuschlagenden neuen Wege wurden wir dagegen zu einer Ausmessung des Systems der Farbenem- pfindungen gelangen, die nur auf die Unterschiede der Em- pfindungen gebaut ist. Dabei zeigt sich allerdings eine Über- einstimmung beider Arten der Ausmessung in den grofsen Zügen, aber mit Vorbehalt kleinerer Differenzen in Einzelheiten, die auch schon zum Theil von den Beobachtern bemerkt waren.

Wie die Geometrie des Baumes mit dem Begriff der kürzesten Linie zwischen zwei Puncten beginnt, so werden wir durch die neue Grundformel in den Stand gesetzt, diejenigen Beihen von Üebergangsfarben zwischen zwei gegebenen End* färben verschiedener Qualität und Quantität zu finden, fär* welche die Summe der wahrnehmbaren Unterschiede ein Mini- mum ist, welche Reihen also den kürzesten Linien im Farben System entsprechen würden. Ich werde mir erlauben, für si^s den Namen der kürzesten Farbenreihen zu brauchen.

Da eine vollständig genaue Formel für die Sichtbarkei-H der reinen Helligkeitsunterschiede, wie sie annähernd Fechne^u Gesetz giebt, noch nicht gefunden ist, will ich mich auf d< Gebrauch der von Fechneb selbst noch gegebenen späten Formel beschränken, wonach die Deutlichkeit des Unterschied«

von dem Bruche -j—j ^abhängt, wenn eT" und {J-^-dJ)

beiden zu vergleichenden objectiven Lichtmengen sind, A eijxie

Kürzeste Linien im Farbensystem. 111

von der Qualität des Lichts abhängige Constante. Diese Formel entspricht den Beobachtungen in einem auTserordentlich aus- gedehnten Theil der Scala der Helligkeiten. Für sehr kleine und sehr grolse Helligkeiten ist die Deutlichkeit aber etwas kleiner, als nach der Formel zu erwarten wäre.

Die von mir als wahrscheinliche Hypothese aufgestellte Formel für die Deutlichkeit des Unterschieds zweier Farben^ von denen die eine aus den Quantis der Urfarben Xj y, e zu- scunmengesetzt ist, die andere dagegen aus {x + cfe), (y -j- dy\ (z 4- de) lautet :

-=(^j+(Ff-;+(^)' }■■

Hierbei ist aber zu bemerken, dafs die x^ y, js den physio- logischen Urfarben entsprechen müssen und nicht, wie im Mischungsgesetz, durch lineare Functionen derselben ersetzt werden können. In meiner letzten Arbeit^ habe ich aus den von Hm. Abthub König gemachten Messungen über die kleinsten wahrnehmbaren Unterschiede der Spectralfarben einerseits, und der Zusammensetzung derselben aus drei willkürlich gewählten Grundfarben andererseits die Qualität der physiologischen Ur- farben zu bestimmen gesucht. Diese Bestimmungen sind aller- dings noch nicht sehr zuverlässig. Es ergiebt sich, dafs alle Spectralfarben, auch die Endfarben am rothen und violetten Ende, ziemlich starke Quanta von allen drei Urfarben erhalten, dafs diese letzteren im Farbenton etwa dem Carminroth, Ultrar marinblau und dem Blattgrün entsprechen, aber erheblich ge- sättigter sein müssen, als diese.

Wenn man in Gleichung (1) andere Variabein einführt, und setzt:

log(a-\-x) = ^

iog(b + y) = fi J la,

log (c + ^) = £

80 kann man die Q-leichung )1) auch schreiben

* H. T. Hblmholtz: Versuch das psychophysische Gesetz auf die '^^rbenunterschiede trichromatischer Augen anzuwenden. Diese Zeit- ^ciirift. Bd. m., S. 10-12.

112 H, V, HehnhoUz.

Construirt man also eine Farbenecke, in der man nicht mehr X, y, z sondern $, 17, £ als Coordinaten braucht, so wäre das dlS, direct proportional dem Linienelement zwischen den beiden durch f , 17, t und (J + dj), (17 -f ^7 (t + ^ gegebenen Puncten. In diesem letzteren Coordinatensystem würden sämmtliche kürzeste Farbenreihen durch gerade Linien dargesteUt werden müssen, die aber beim Übergang in das ursprüngliche Coordi- natensystem der x^ y, z im Allgemeinen gekrümmt werden würden.

Wenn wir den einen Endpunct der Farbenreihe mit dem Lidex 1 bezeichnen, den anderen mit 2, so würde man die Gleichung einer geraden Linie im Coordinatensystem der g, ^, f auf die Form bringen können :

? gl ^ y ~ ^^ = ^ ~ ^1 l 2.

?2 ?1 ^2 ^1 C2 Cl '

Um die Gleichung dieser Linie in den x, y, z ausdrücken zu können, setzen wir zunächst zur kürzeren Bezeichnung:

" - '°8 [rpf] = " - '■

2a.

Dann werden die Gleichungen (2):

\a-\- xV Ib -\-y Y (c ~\- z

ia-\-xJ \b+yj \c + z^^

\

2b,

Wenn von den sechs Gröfsen, die in den Gleichungen 2a unter dem Logarithmenzeichen vorkommen, nicht je zwei im Nenner, oder je zwei im Zähler gleich Null werden, haben die Gröfsen Ä, fi, v endliche reelle positive oder negative Werthe, und die Puncte der Linie sind eindeutig bestimmt, da ihre Coordinaten nur positiv reell sein können. Da nun a, 6, c (Farbencomponenten des Eigenlichts im Sinne von Fbchnbrs Auffassung) nur positive Werthe haben können, und x^ y, z für reelle Farben ebenfalls, so kommt für reelle Farben die oben

Kürzeste Linien im Farhensysiem, 113

bemerkte Ausnahme niemals vor, und zwischen jedem Paare Ton Puncten des reellen Farbengebiets giebt es also nur eine kürzeste Farbenlinie.

Da indessen die Puncto, in denen zwei von den Gröfsen (a + ^^ (J> + y) und {c + e) gleich Null werden, eine besondere Bolle bei den Constructionen spielen, mache ich hier darauf aufinerksam, dafs, wenn alle drei Oxöfsen gleich Null gesetzt werden, wir den Nullpunct allen Lichtes, Eigenlicht und ob- jectives Licht zusammengenommen erhalten; wir wollen diesen Pnnct deshalb im Folgenden mit 0 bezeichnen. Wenn nur zwei der genannten Q-röfsen gleich Null sind, sind dadurch die Paral- lelen zu den Coordinataxen gegeben, welche durch den Punct 0 gehen. Wenn von einem Puncto dieser Linien aus kürzeste Farbenreihen nach einem anderen festen Puncto zu construireu sind, so sind diese durch ihre Endpuncte nicht vollständig gegeben, sondern können in unendlicher Anzahl construirt werden.

Ebene Curven. Eben werden Curven, für welche einer der Exponenten A, fi, oder v gleich Null ist, oder zwei derselben einander gleich.

Im ersteren Falle erhalten die drei Gröfsen, welche in 2c einander gleich gesetzt sind, alle den Werth 1, was, wenn i==0 folgern läfst,

ft-fy = h-\-y^ c-\-ss = c-\-z^

d. h, die betreflfenden kürzesten Farbenreihen liegen auf geraden Linien der a;-Axe parallel.

Die Annahme /t* = 0 giebt eben solche Gerade der y-Axe parallel, und y=0 der jsr-Axe parallel. Dieselben können übrigens durch jeden Punct der Farbenpyramide gezogen werden.

Im zweiten Falle, wo zwei Exponenten einander gleich, erhalten wir entweder

g + a?^ ^ & + yi

a + ^, 6 + ^2 oder

ft + gl ^ g + ^1

oder \ 2 d.

g + ^1 ^ g + ^1

g + ^2 « + ^2 Zeitsehrift fOr Ptjehologio Ilf. 8

114 B. V. Helmholtz.

Bezeichnen wir wieder den Punct, dessen Coordinaten ( a\ ( 6), ( c) sind, d. h.. in welchen alle Lichtempfindung fehlt, auch die des Eigenlichts, mit dem Index 0, den Punct a;=y = ;8f=0, wo nur die Empfindung des Eigenlichts da ist, mit €, so sagt die erste unserer Gleichungen aus, dafs die Puncte 0, 1, 2, projicirt auf die a:y-Ebene in gerader Linie lie- gen. Die Curve liegt also in einer Ebene, die der xr-Axe parallel ist, und durch den Punct 0, sowie die beiden End- puncte der Curve geht.

Die zweite der Gleichungen 2 d würde sich auf solche Ebe^ nen beziehen, die der :r-Axe parallel durch den Punct 0 gehen, die dritte auf Ebenen, die der y-Axe parallel durch denselben Punct gehen.

Je zwei dieser Ebenen schneiden sich in gerade n Linien, die dann nothwendig, hinreichend verlängert, durch den Punct 0 gehen und kürzesten Farbenreihen entsprechen.

Dagegen werden die Linien, welche gleicher Qualität des objectiven Lichts entsprechen, verlängert durch den Punct e gehen, wo x = y=a=0* Nur eine von diesen, die gleichzeitig durch und 0 geht, wird einer kürzesten Farbenreihe ent- sprechen.

Nun liegt es im Wesen einer kürzesten Farbenreihe, daüs unter solchen Farben, die von der einen Endfarbe gleich grofisen unterschied zeigen, die in der kürzesten Farbenreihe liegenden auch der anderen Endfarbe ähnlicher als alle anderen benach- barten Farben erscheinen werden.

Fällt die Beihe der Farben gleicher Mischung mit der kürzesten Seihe zusammen, so werden ihre Glieder auch beim Uebergang von schwacher zu hoher Lichtstärke keine Ab- weichung des Farbentons zeigen. Wohl aber wird dies der Fall sein, wenn die erstere Beihe keine kürzeste ist. Denn dann würde es Farben geben von anderer Mischung, durch welche man einen kürzeren Uebergang von den dunkelsten zu den hellsten Tönen gleicher objectiver Qualität bahnen könnte.

Nun kommen in der That solche Unterschiede vor. Ich habe schon in meinen älteren Arbeiten^ über Spectralfarben

* S. mein Handbuch d. Physich Optik, 2. Aufl., S. 284. S. auch H. Helmholtz, „Über die Theorie der zusammengesetzten Farben** in JPoggd. Ann. Bd. LXXXVII., S. 45. 1852 und „Über die Zusammesetzung von Spectralfarben" ebenda Bd. XCIV. S. 11 und 13.

Kürzeste Linien im Farbensystem, 115

eTf^ähnt, dass sie bei steigender Helligkeit alle dem WeiTs,

l>€zielilicli Gelbweils ähnlicher werden. Am schnellsten geht

l>«i steigender Lichtstärke Grün in Gelb, Violett in Weifsblau

^l)er. Höhere Helligkeiten sind nöthig, um spectrales ßoth in

C3Jelb, und Blau in Weifs überzuführen. Es giebt nur eine Farbe,

Xkämlich Gelbweifs, welche bei allen Intensitäten merklich un-

'V'erändert bleibt. Wir würden daraus zu schliefsen haben, dafs

Gelbweifs dem Farbenton der geraden Linie entspricht, die

<3urch die Puncte 0 und unseres Coordinatensystems geht.

Wir wollen diese für unser heut vorliegendes Thema als die

frincipallinie des Farbensystems bezeichnen. Ln Sinne von

X^BNEBs Hypothese wäre sie die Farbe des Eigenlichts der

Netzhaut.

Nehmen wir dagegen eine andere Farbe z. B. Grün,

"welches bei Steigerung der Litensietät und unveränderter

Kischung, gelb wird. Offenbar müfsten wir ein gesättigteres Grün

liöherer Helligkeit herzustellen versuchen, um unsere Farbenreihe

xnit dem dem unteren Ende ähnlichsten Farbentone abzuschliefsen,

d. h. wir müfsten zu einer anderen Farbenmischung übergehen,

tun in einer Beihe möglichst wenig unterschiedener Farbentöne

zu bleiben.

Gekrümmte Projectionslinien. Wenn wir von den drei in Gleichung (2c) einander gleichgesetzten Gröfsen zwei, die nicht gleiche Exponenten haben, einander gleichsetzen, so nnd die Curven verschieden, je nachdem die beiden Exponenten gleiches oder ungleiches Vorzeichen haben.

A. Curven durch den Punct 0. Im ersteren Falle, wenn z. B. die beiden Exponenten X und

/»gleiches Zeichen haben, würde 1 i positiv sein, und die Curve

a-\-Xi \6 + yii

X

^^ärde durch den Punct 0 gehen, da dort a-^ x= b -{' y =^ 0

^ Ist dabei -y^ > 1, so würde (a -{- x) schneller steigen, als

(^ + y) die Curve ihre convexe Seite der Linie 6 -)- y = 0 2tikehren.

8*

116 B. V. UOmhalU.

Umgekehrt \st ~--C 1, so würde die Cnrve ihre couTexe

Seite der Linie a -{- x = 0 ziLkehren.

Die Orenze dieses BdsohelB von Carven sind die, wo y =0

oder = oo. Es sind dies die schon oben erwähnten geraden Linien, gezogen durch den Fanct 1, parallel den Azen der s und der y.

Die Fig. 1 stellt ein Bündel solcher Onrven dar, welche alle durch denselben Pimct e gehen nnd verschiedene Elx- ponenten haben, deren Werthe (1 bis 1,6) am Bande ange- geben sind.

B. Projections-Cnrven mit zwei Asymptoten. Wenn die beiden Exponenten der Gleichung entgegen- gesetztes Zeichen haben, so können wir setzen

Kürzeste Linien im Farbensyatem, 117

Dann ist q eine positive Gröfse und es wird

a +

^1 \ft + yj

Also wird für a-{'X = 0 das 6+y = oo, und ftr a4-^ =

das ft -]- y = 0, d. h. die durch den Punct 0 den Coordinataxen

parallel gezogenen Linien sind Asymptoten für die Curve, welche

byperbelähnlich mit zwei Enden in das Unendliche läuft

Aber diese in oo laufenden Enden der Curven liegen auiserhalb

des Farbenfeldes, selbst auTserhalb des physiologisch mög-

Uchen, da dieses durch zwei gerade Linien begrenzt ist, die

parallel den x und den y durch den Punct s gelegt sind. Das

spectrale Farbenfeld ist noch enger durch einen spitzen Winkel

begrenzt, dessen Scheitel ebenfalls im Puncte liegt, so dafs

von diesen hyperbelähnlichen Curven nur sehr kurze, fast gerade

Stücke für kleine Lichtintensitäten, längere und gekrümmtere

nur für grofse Intensitäten in Betracht kommen.

Wenn die oben mit q bezeichnete Constante den Werth ^ = 1 hat, so ist die Curve eine gleichseitige Hyperbel im strengen Sinne.

Da entweder zwei oder gar keines der Verhältnisse zwischen den Exponenten negativ ist, so können entweder zwei oder keine der Projectionscurven die hyperbelähnliche Form mit zwei Asymptoten haben. Eine von ihnen oder alle drei haben die parabelähnliche Form und gehen durch den Punct 0.

Parbenunter schiede bei gleicher Qualität und verschiedener Helligkeit. Die kürzesten Farbenreihen, Welche durch den Punct s gehen, der dem Mangel alles ob- jectiven Lichts entspricht, geben drei parabelähnliche Projec- tionen, welche auch durch den Punct 0 gehen, wie Fig. 1 zeigt.

In der Mitte des Bündels Hegt die als Principallinie be- zeichnete Gerade, welche durch 0 und s geht und die einzige Linie bildet, welche gleichzeitig einer kürzesten Farbenreihe und gleichbleibender objectiver Qualität der Farbe (gleichem Mischungsverhältnisse) entspricht.

In den drei Ebenen, welche durch diese Linie und die Coordinataxen gehen, liegen ebene Curven, welche der Principal- linie ihre convexen Seiten zukehren.

Um Farben dieser Ebenen objectiv herzustellen, würde man entweder einzelne ürfarben mit der Principalfarbe zu mischen

118 S. V. HelmhoUz.

haben, oder solche Farben, die, mit der entsprechenden ürfarbe gemischt, die Principallinie geben. Ich will die letzteren prin- cipale Gregenfarben nennen. Sind Carminroth, ültramarinblau und Blattgrün im Farbenton den TJrfarben entsprechend, und Gelbweifs die Principalfarbe, so wären etwa Spangrün, Gelb und Purpur die principalen Gegenfarben. Von sämmtlichen Mischungen ^er sechs Farben mit dem principalen Gelbweifs würde zu erwarten sein, dafs die kürzesten Farbenreihen zwischen ihnen alle innerhalb derjenigen Farbentöne bleiben, welche Mischungen der entsprechenden Urfarbe und Gegenfarbe hervorbringen können, und nur das Verhältnifs würde geändert erscheinen, indem die lichtschwachen Farben dieser Art gesättigter er- scheinen würden, als die gleich zusammengesetzten lichtstarken, da die lichtstarken, die in derselben Farbencurve liegen, in der That sich dem Umfange der Farbenpyramide nähern, wo die gesättigteren Farben liegen.

So werden also lichtschwaches ultramarin und Gelb einem lichtstarken weifslicheren Blau und Gelb entsprechen müssen. Die Zumischung von Weifs zum Blau wird relativ stärker sein, als die zum Gelb, weil der gelbe Bestandtheil der Principal- farbe etwas Blau wegnimmt und dafür noch etwas Weifs bildet, dem Gelb aber sich einfach hinzufügt.

Dagegen werden schwaches ürroth bis Purpur einerseits und Blattgrün bis Spangrün andererseits ihre entsprechenden lichtstarken Farben in etwas weifslicheren und gelblicheren Mischungen finden.

Dieses Gelblichwerden der rothen und grünen Farbentöne bei hoher Lichtstärke, das Weifswerden des Blau sind schon oben erwähnt.

Verschwinden der Zwischenstufen bei geringer Helligkeit. Die Spectralfarben sind im AUgemeinen einer Urfarbe oder Mischungen aus je zwei solchen sehr nahe in ihrem Farbentone. Wenn man die letzteren auf die Ebene •der beiden Urfarben projicirt denkt, so werden kürzeste Farbenreihen, die in bestimmter Richtung vom Puncte «, dem Puncto der objectiven Dunkelheit, auslaufen, wie in Fig. 1, alle convex gegen die Projection der Principallinie sein und also im ferneren Verlaufe sich derjenigen Urfarbe nähern, von der sie durch diese Projection nicht getrennt sind. Es werden also lichtschwache Farben, die der Mischung zweier Urfarbßiv

Kürzeste Linien im Farbensystem. 119

entsprechen, der auf gleicher Seite der Gegenfarbe liegenden ürfarbe sich nähern, wenn man nach den ähnlichsten gesättigteren lichtstärkeren Farben sucht.

Dies führt uns auf eine von W. v. Bezold * und E. Brücke * beschriebene Erscheinung. Beide haben nälnlich gefunden, dafs aus einem gut gereinigten Spectrum von mäfsiger Länge, in dem man aber die stärkeren FRAUNHOFERschen Linien noch gut sehen kann, bei aUmählicher Abschwächung die gelben und die cyanblauen Farbentöne ganz verschwinden, und dafs zwischen ihnen schliefslich nur drei Farben, Eoth, Ghrün und Violettblau, stehen bleiben. Die genannten Autoren haben damals auch schon den Schlufs gezogen, dafs die genannten drei Farben die physiologischen Grundfarben sein müssen, indem sie diejenigen Empfindungselemente einer gemischten Empfindung, die die Beizschwelle nicht überschreiten, als unwirksam auch in der gemischten Empfindung betrachten. Es ist dies eine Betrach- tongsweise, die der hier eingeschlagenen wesentlich verwandt ist.

Mischungen mitAVeifs. Aehnliche Abweichungen, wie die bisher besprochenen zwischen dem Farbentone einer licht- schwachen und lichtstarken Farbe von gleicher objectiver Qua- lität, kommen auch zwischen denen einer isolirten gesättigten Farbe und deren Mischung mit sehr vielem Weifs vor.'

"Wenn Weifs und eine Mischung dieses Weifs mit einer kleinen Menge einer Spectralfarbe als gegeben nach ihrem Orte in der Farbenpyramide angesehen werden, so läfist sich die kürzeste Farbenreihe, die durch die beiden Puncte führt, construiren. Diese wird gegen einen Theil der Oberfläche der Farbenpyra- mide hin gerichtet sein, an der die gesättigten Farben derselben Beihe liegen, als deren stark mit Weifs verdünnte Modification die gegebene Mischung erscheint.

Dabei ist zu bemerken, dafs, wenn man zu dem Weifs reine Ürfarben mischen könnte, die Verbindungslinie beider eine der entsprechenden Coordinataxe parallele Grerade werden würde, welche selbst eine kürzeste Farbenreihe ist und ihre [Richtung

^ W. T. Bezold, Über das Gesetz der Farbenmischung und die phy« siologischen Grundfarben. Pogg, Ann, Bd. 150. S. 237—239. 1873.

* £. Bbücke, Über einige Empfindungen im Gebiete des Sehnerven. Wiener SiUungsher. Abth. Hl., Bd. LXXVII. 1878. Febr. 28.

Auch schon von W. von Bezold erwähnt. Pogg. Ann, Bd. 150. 8. 243. 1873.

120 ^ ^' Helmholte.

niclit ändert. Die kürzeste Farbenreihe würde also mit der Mischungsreilie zusammenfallen und keinerlei Aendening des Farbentones zu bemerken sein.

Da aber die Spectralfarben immer als zusammengesetzte Farben anzusehen sind, in denen nur eine oder zwei der Ur- farben merkliches Übergewicht haben, so werden dadurch Ejümmungen der kürzesten Farbenreihen mögUch.

Um die Form der betreffenden Farbenreihe vollständig übersehen zu können, wird man sich im Allgemeinen je zwei Projectionen auf Grenzflächen der Farbenpyramide entwerfen müssen.

Das Curvenbündel der Fig. 1 würde auch bei etwas abge« änderten Verhältnissen seinen Charakter behalten. Deuten wir es jetzt so, dafs wir den Punct als die Projection des WeiiSi auf eine der Coordinatebenen betrachten; ex sei die Coordinat- richtung für die eine Grundfarbe, die zum Weifs hinzugethan werden kann, ay für die andere. Beide Linien entsprechen kür- zesten Farbenreihen. Dann wird noch die mit y = j; bezeich- neten Grade sehr nahehin wenigstens eine kürzeste Farbenlinie sein. Die Gleichung der letzteren, die in diese lUchtang fallt, würde allerdings, streng genommen, nicht x = y^ sondern a -|- 0? = 6 + y sein. Wenn aber die Coordinaten des "Weifs so grofs sind, dafs die des Eigenlichts a, h dagegen verschwinden, wird der Unterschied unerheblich.

Nun sieht man, dafs alle Curven, welche zwischen sx und y=^x liegen, concav gegen x^ die anderen concav gegen y sind. Verfolgt man sie von b aus, so nähern sie sich im Fortlauf der nähern Grundfarbe und weisen auf gesättigtere Abstufungen von dieser hin. Wenn wir also die Art der eingemischten Farbe nach den ähnlichsten, vom Weifs weniger überdeckten Farbentönen beurtheilen, werden wir die Einmischung für ähn- licher der reinen Urfarbe x halten.

Spectrales Roth kann nach meinen neueren Bestimmungen als Urroth mit überwiegend grünlicher Einmischung betrachtet werden. In der Mischung mit Weifs würde das Grünliche mehr zurücktreten, die Farbe dem Urroth näher, also mehr rosenroth erscheinen, was in der That der Fall ist, und schon früher von Hm. E. Hering angeführt wurde.

Violett, was aus gleichen Quantis Urroth und Urblau zu- sammengesetzt wäre, würde in der Projection auf die Blauroth-

Kürzesie Linien im Farbensystem, 121

Ebene mit der Projection des "Weifs fast dieselbe Richtung haben und seine kürzeste Farbenreihe fast geradlinig sein. Da- gegen käme bei spectralem Violett in Betracht, dafs es noch eine Einmischmig von Grün hat, die in der Grünroth-Ebene, wie in der Grünblau-Ebene gegen das überwiegende Eoth, bezüg- lich Blau, mit steigender Entfernung vom Weifs schwinden würde. Dadurch würde die Farbe dem Complement des Grün, dem Bosenroth, ähnlicher gemacht.

Geht man zu bläulicheren violetten Spectralfarben über, so würde neben dem stärkeren Blau der rothe Bestandtheil des Violett zu schwinden anfangen, was anfangs noch durch das stärkere Schwinden des Grüns compensirt würde. Ich fand, dafs zwischen X = 450 fifi bis X = 430 fifi der Zusatz des spectralen Blau dem Weifs eine ziemlich deutlich rosenrothe Färbung gab ; erst bei X = 470 fj^fi schwand dieser röthliche Ton.

Eine andere Heihe von scheinbaren Veränderungen der Farbe zeigt sich bei den kleinsten Lichtstärken, wo das letzte noch sichtbare Licht keine Farbenunterschiede mehr zeigt, sondern grau erscheint. Es erklärt sich das nach der aufge- stellten Theorie dadurch, dafs zur Unterscheidung der Hellig- keit nur die ganze vorhandene Lichtmenge von absoluter Dunkelheit unterschieden werden mufs. Zur Unterscheiduijg einer kleinen Menge Weifs von einem farbigen Licht müssen dagegen Verhältnisse von Lichtmengen zweier Grundfarben von einander unterschieden werden. So ist also z. B. nach meinen letzten Berechnungen in dem Quantum = 1 enthalten, nach Einheiten gleichen Farbenwerthes gemessen :

von spectralem Both von Weifs

Eoth 0.6093 0.3333

Grün 0.1998 0.3333

Blau 0.1913 0.3333

Die Unterscheidung der beiden Farben setzt voraus, dafs die Verhältnisse der horizontal neben einander stehenden Zahlen vom Verhältnifs 1 : 1 unterschieden werden können. Nach der Tabelle der Hrn. König und Brodhün^ würde dies eine dort mit

* A. König und E. Brodhun: SiUsungsher, d, Berl, Akad. vom 27. Juni 1889, S. 643.

122 H. V. Hamholtz.

0.02 bezeichnete Lichtstärke verlangen, während bei der H keit 0.00072, die fast 30 mal kleiner ist, noch Licht vo: Punkelheit unterschieden wird.

Es fügt sich also das ganze Gebiet dieser scheinba regelmäfsigen Erscheinungen leicht unter die erweiterte F( lirung des FscHNEBschen Gesetzes.

Die Eaumanschauung und die Augenbewegungen.

Von

Th. Lipps.

I. Sehfeld und Blickfeld.

Die Herausgabe eines psychologischen „Festgrulses zum aebenzigsten Geburtstage Hermann von Helmholtz'" veran- lafste mich jüngst, gewissen Beobachtungen weiter nachzu- gehen, die sich mir bei Gelegenheit der Untersuchung einfacher arcliitektonischer und keramischer Formen aufgedrängt hatten.^ Die Beobachtungen betrafen scheinbare Modifikationen unserer Gesichtswahmehmung, die, wie mir schien, die sonstigen Er- gebnisse meiner ästhetischen Untersuchung über einfache sicht- bare Formen in erfreulicher Weise bestätigten. Sie fanden ibre Erklärung in der ästhetischen Betrachtungsweise, die wir allen solchen Formen gegenüber jederzeit vollziehen. Dabei verstehe ich unter der ästhetischen Betrachtungsweise diejenige Betrachtungsweise, für welche die sichtbaren Formen nicht nur da sind, sondern sich erzeugen, also Kräfte in sich bergen, Bewegungen repräsentieren, mit einem Worte „Symbole" sind einer bestimmten Art der Lebendigkeit.

Im weiteren Verlauf der Betrachtung stellten sich mir angesucht noch einige bekanntere Augentäuschungen unter denselben Gesichtspunkt ; so vor allem diejenigen,' bei denen eine wirkliche oder angebliche Überschätzung spitzer Winkel statt- findet, also beispielsweise das HeiRiNGsche und ZöLLNERsche Muster, und die Verschiebungen, die die Kreislinie erfährt, wenn im Kreise Sehnen gezogen worden. Daran knüpfe ich Her an.

^ Th. Liffs, Ästhetisclie Faktoren der Eaumanschauung in: Beiträge swr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Hamburg und Leipzig. 1891.

124 Th. Lipps,

Wie bekannt, bringt Wundt diese Überschätznng spitzer Winkel mit Angenbewegungen in Znsammenliang. Ein spitzer Winkel ist ein ansgefüllteres Stück des Sehfeldes als ein stumpfer. Es wird darum vom Auge, wie Wundt meint, weniger leicht durchlaufen. . . Und dies bedingt die Überschätzung. Es ist, allgemein gesagt, die Theorie der Ausmessung des Sehfeldes nach Augenbewegungen, die uns hier in spezieller Wendung und Anwendung entgegentritt.

Gegen diese Theorie nun habe ich mich schon mehrfach erklärt. Und, wie mir scheint, aus guten Gründen. Sie hat von vornherein wenig Vertrauenerweckendes. Schon die erste Voraussetzung ihrer Zulässigkeit, dafs wir nämlich uns von der Form und Gröfse einer Linie oder Fläche überzeugen, indem wir sie fixierend durchlaufen, ist eine unerwiesene. Dafs ich jetzt nicht so verfahre, dessen bin ich sicher. Ich begnüge mich, über Objekte, die ich sehen will, ohne Begel so oder so hinzugehen oder sie zu streifen. Aber auch, dafs ich jemals dieser, wie ich denke, überflüssigen Mühe mich unterzogen haben sollte, habe ich, nach dem, was ich bei Kindern sehen kann, Grund zu bezweifeln. In jedem Falle müfste die Theorie diese ihre Grundvoraussetzung erst noch aus Beobachtungen zu rechtfertigen suchen. Man sieht aber leicht, dafs es sich hier um den Nachweis nicht eines ungefähren und schwankenden, sondern eines sehr bestimmten und haarscharfen Durchlaufens oder Durchmessens von Linien und Flächen handelt. Unsere Fähigkeit räumlicher Wahrnehmung ist ja eine aufserordenilich bestimmte und scharfe.

Ebenso setzt die Theorie weiterhin unbewiesene und un- beweisbare Dinge voraus. Bald diese, bald jene Hilfshypothesen werden aufgestellt; Augenbewegungen werden für schwieriger oder weniger schwierig erklärt, wie es der gerade vorliegende Erklärungszweck fordert. Mögen die Behauptungen in einigen Fällen zutreffen; in anderen scheint es mir nicht so. Hebung des Auges soll schwieriger sein als Seitwärts Wendung; die Überschätzung Von Höhendistanzen soll darauf beruhen. Da« gegen sprechen meine Erfahrungen. Die kleine Arbeit „ü6er eine falsche Nachbüdlokalisation^y die im ersten Hefte dieser Zeitschrift veröffentlicht ist, veranlafste mich, wochenlang bei allen möglichen Gelegenheiten möglichst rasche Augenbewe- gungen auszuführen. Schliefslich beschränkte ich mich fast»

DU Baumanschauung und die Augenbewegungen. 125

ansschlieislicli auf Bewegungen von unten nach oben, weil sie mir am leichtesten fielen. Dem entsprach es auch, dafs ich mit diesen Bewegungen den beabsichtigten Erfolg am sichersten erzielte. Darum überschätze doch auch ich Höhendistanzen. Angenommen aber auch, es hätte mit der behaupteten größeren oder geringeren Schwierigkeit von Augenbewegungen jedesmal seine Richtigkeit, so würde ich doch nicht einzusehen vermögen, warum die von der Theorie angenommene Beziehung zwischen ihnen und unserem Bewufstsein räumlicher Gröfsen bestehen solle, warum insbesondere Distanzen, deren Durch- messung schwieriger ist^ gröfser erscheinen sollen, als solche, die leichter durchmessen werden. Ist das Baumbewufstsein eimnal gegeben, dann gewifs können Bewegungen mit einer Art des ßaumbewufstseins sich verknüpfen und so zu Zeichen werden für zukünftige Haumbestimmungen. Insbesondere kann, wer es einmal erlebt hat, dafs die Durchmessung einer gröfseren Strecke gröfsere Anstrengung erforderte, dazu kommen, auch in Zukunft mit dem Bewufstsein der gröfseren Anstrengung die Vorstellung der gröfseren Raumstrecke zu verbinden. Aber dies ist ja nicht die Meinung der Theorie. Durch ein, jeder Analogie entbehrendes Wunder, „psychische Synthese" genannt «ein „Wunder" nur darum, weü es jeder Analogie entbehrt , sollen Augenbewegungen, die doch an sich för das Bewufstsein mit gesehenen Gröfsen ganz und gar nichts zu thun haben, das Bewufstsein solcher Gröfsen entstehen lassen. Wir sollen an ihr Entstehen glauben, nicht weil irgendwelche psychischen Thatbestände uns daran glauben lassen, sondern einzig, weil es die Theorie so fordert.

Dais auch abgesehen von allem dem die Theorie eine un-

niögliche ist, dafs die auf ihr beruhenden Erklärungsversuche

nichts erklären, dafs sie in ihren Konsequenzen einfachen

Thatsachen widerstreitet, habe ich an einer anderen Stelle,

nämlich meinen ^^Psychologischen Studien^ j ausführlich zu zeigen

versucht. Natürlich wiederhole ich hier nicht das dort Gesagte.

Ebensowenig dasjenige, was ich gegen die Anwendung des

Prinzips in einzelnen Fällen schon in meinen y^Grundthatsachen

des Seelenlebens^ bemerkt habe. Da nichts dagegen vorgebracht

worden ist, so darf ich meine Gründe ja wohl auch weiterhin

als stichhaltig ansehen.

Nur einer Gegenbemerkung begegne ich bei Wündt. Er

126 Th. lApps.

meint, ich übersehe ^die den Erscheinungen des Sehens selbst entnommenen Belege^ für seine Theorie. Dies ist nicht ganz zutreffend. Ich habe diese Belege nicht übersehen, sondern, wenigstens teUweise, übergangen ; und dies darum, weü sie mir einer besonderen Widerlegung nicht zu bedürfen schienen. Dies mag ein Irrtum gewesen sein ; insofern bekenne ich mich gerne eines Versäumnisses schuldig.

Dies Versäumnis nun habe ich teilweise in der Abhandlung über ^ästhetische Faktoren der Baumanschauung^ ^ auf die ich vor- hin anspielte, gut zu machen gesucht. Aber eben auch nur teilweise, d. h. nur mit Eücksicht auf die „Erscheinungen des Sehens'', bei denen mir an die Stelle des vermeintlichen Ein* flusses der Augenbewegungen ästhetische Faktoren schienen treten zu müssen. Hier will ich jener Pflicht weiter zu genügen suchen. Da es sich dabei um Vertretung einer Position han- delt, die ich schon anderwärts vertreten habe, so bitte ich^ dais man sich im Folgenden weder über Verweisungen, noch selbst über gelegentliche ausdrückliche Erinnerungen an schon Gesagtes wundem möge.

Erste Voraussetzung der Entscheidung einer Streitfrage ist, dafs der Streitpunkt klar hege. Streitpunkt nun ist hier der Einflufs der Augenbewegungen auf die Ausmessung des Sehfeldes, nicht der von niemand bestrittene FiinflnPs derselben auf unser EaumbewuTstsein überhaupt. Dabei wider- um ist erforderlich, dafs wir wissen, was wir unter der Aus- messung des Sehfeldes verstehen.

Sehfeld nun ist ich denke fOr jedermann die räum- liche Einheit dessen, was wir in einem Momente sehen, oder, genauer gesagt, das System der räumlichen Ausbreitung und räumlichen Zusammenordnung von Objekten und Teilen von Objekten, wie es in einem gegebenen Augenblick Gegenstand unserer Gesichtswahmehmung ist. Das Sehfeld in diesem Sinne ist eine Fläche; es hat also, an und für sich betrachtet, keine Beziehung zur dritten oder Tiefendimension. Es verhält sich zur dritten Dimension, wie ich an anderer Stelle sagte, etwa so^ wie sich die Zeit zur zweiten und dritten Dimension verhält, d. h. es hat, so lange nur das Sehfeld als solches in Betracht kommt, keinen Sinn, von einer dritten Dimension überhaupt zu reden. Wahrgenommene Objekte sind als solche dem Auge weder nahe, noch fem, sowie die Zeit weder dick, noch dünn

IHe Baumanschauung und die Augenbewegungen. 127

ist, sondern sie sind einfacli da und haben eine bestimmte flächenhafte Ausdehnung und Anordnung ihrer Teile. Die Ausmessung des Sehfeldes ist das in der Wahrnehmung un* mittelbar enthaltene Bewufstsein von der relativen Lage seiner Punkte oder der relativen Gröfse der in ihr enthaltenen Distanzen. Beides sagt dasselbe, sofern die Lage eines Punktes in der Gröfse seiner Abstände von anderen Punkten besteht. Inwiefern ich zu den in diesen Sätzen liegenden sachlichen Behauptungen, auf die ich teilweise zurückkommen werde, berechtigt bin, habe ich in meinen ^Grundthatsachen des Seden- kftöw** und den ^^Psychologischen Studien^ zu zeigen versucht. Ebenda suche ich deutlich zu machen, aus welchen der Erfah- rung angehörigen Thatsachen und nach welchen bekannten psychologischen Gesetzen das Sehfeld oder die Zusammenord- nung der Eindrücke zur räumlichen Einheit des Sehfeldes ent- stehen könne, bezw. müsse. Allgemein gesagt, erscheint meiner Sehfeldtheorie zufolge die Einordnung der Eindrücke im Seh- feld oder die relative Gröfse wahrgenommener Abstände innerhalb desselben durch die relative Lage der den Eindrücken zugehörigen Netzhautpunkte unmittelbar bestimmt; und zwar ist es, wiederum sehr allgemein gesagt, die Erfahrung, die jene wahrgenonmiene Ordnung der Eindrücke an diese tha{>- sächlichen Ordnung der Netzhautpunkte unmittelbar bindet.

Lassen wir nun aber hier das Becht meiner Anschauungen über das Sehfeld, über seine Entstehung sowohl, wie über seine Beschaffenheit, einstweilen dahingestellt. Eine Forderung, die ich dabei zu erfüllen suchte, bleibt in jedem Falle für jede Theorie der Baumanschauung oder jeden Versuch einer solchen bestehen. Keine Baumtheorie darf es unterlassen, zunächst das, was wir wirklich sehen, von dem, was Inhalt eines abge- leiteten oder vermittelten Baumbewufstseins ist, genau zu scheiden. Eine Baumtheorie gewinnt überhaupt erst Sinn, wenn diese Scheidung vollzogen ist.

Diese Forderung gilt, mag es sich um ein normales oder mn. ein abnormes Baumbewufstsein handeln. Wo sich das letztere findet, sprechen wir von „optischen Täuschungen". Doch ist der Begriff der optischen Täuschungen im Grunde kein sehr bestimmter. Nähmen wir die „Täuschung** im all- gemeinen Sinne, als Widerspruch zwischen Bewufstsein imd Wirklichkeit, so hätten wir drei Arten optischer Täuschung

128 Th. Lipps.

zu unterscheiden: Wir sehen, was nicht ist; wir glauben za sehen, was wir nicht sehen; und wir glauben zu sehen, was nicht ist. unter Voraussetzung dieser Dreiteilung unterlägen wir optischen Täuschungen der beiden ersten Arten jederzeit und allen Objekten gegenüber. Wir sehen nie, was ist; und wir sehen nie, was wir zu sehen glauben. In solchem Sinne pflegen wir indessen den Begriff der optischen Täuschung nicht zu fassen. Wir verstehen darunter vielmehr nur gewisse Ab- weichungen von dem, was wir nach allgemeineren Segeln des BaumbewuTstseins erwarten sollten. Auch dann aber müssen wir in jedem einzelnen FaUe uns bewufst sein, ob wir tmter der optischen Täuschung eine Modifikation des Sehens, genauer: des Gesichtsfeldes verstehen, oder eine Modifikation dessen, was wir zu sehen glauben, also eine Modifikation unseres optischen Urteils.

An der Genauigkeit in diesem Punkte nun hat man es allzu oft fehlen lassen. Vor allem auch der Augenbewefiruniratheorie kann dieser Vorwurf nicht erspart bleiben

Das BewuTstsein der relativen Gröfse gesehener Distanzen setzt den Vergleich voraus. Vergleichen ist eine Art des XJr- teilens. Die Vergleichsbedingungen aber können eine Modi- fikation unseres Bewufstseins von dem, was wir wahrnehmen, herbeiführen. Hier ist eine erste Möglichkeit gegeben für optische ürteilstäuschungen.

Zwei in gröfserer Entfernung voneinander befindliche Körper von nicht allzu verschiedener Färbung erscheinen mir vielleicht gleich gefUrbt; nicht weil die Entfernung meine Farbenwahmehmung veränderte, sondern weil sie die Erkenntnis des Unterschiedes der Wahmehmungsinhalte erschwert. Wie es mit der Wahrnehmung selbst sich verhält, davon überzeuge ich mich um so sicherer, je näher aneinander ich die farbigen Körper halte, je günstigere Vergleichsbedingungen überhaupt ich wähle.

Selbstredend verhält es sich ebenso beim Vergleich räum- licher Gröfsen. Damit erledigt sich zunächst eine neuerdings von Martiüs aufgestellte Theorie. Distanzen, denen gleich grofse Netzhautbilder entsprechen, die darum, wie wir annehmen, gleich grois gesehen werden, erscheinen gröfser, wenn wir das Bewufstsein haben, dafs sie vom Auge weiter entfernt sind. Wir wissen, dafs sie thatsächlich gröfser sein müssen; darum

Die Baumcmschauung und die Augenbewegungen. 129

halten wir sie für gröfser und glauben sie gröfser zu sehen. Diese Auffassung bestreitet Martius. Ihm zufolge vergröfsert das Bewufstsein der gröfseren Entfernung vom Auge das Wahr- nebnungsbild. Jenes Bewufstsein hat bei ihm diese, sonst nirgends nachweisbare Fähigkeit, die Wahrnehmung selbst zu verändern. Ob es aber wirklich so sei, dies zu entscheiden giebt es nur ein einziges Mittel, nämlich das Mittel der Ver- gleichung unter den günstigsten Vergleichsbedingungen. Und dies Mittel entscheidet sofort. Ich halte die gleichgerichteten Distanzen unmittelbar nebeneinander und erkenne sie mit Be- stimmtheit als gleich. Ich sehe sie also gleich grofs.

In gleicher Weise erledigt sich auch die schon erwähnte Erklärung, die Wündt von den auf der Art der Ausfüllung des SeUeldes beruhenden optischen Täuschungen giebt. Eine ge- rade Linie sei geteüt, eine andere ebenso grofse ungeteilt. Die geteilte erscheint dann gröfser. Meint man, sie werde gröfser gesehen, dann giebt es wiederum nur ein Mittel, den Streit zu entscheiden. Ich lege beide Linien in gleicher Richtung unmittelbar nebeneinander. Beide erscheinen dann nicht un- gleich, sondern gleich. Also sind sie für die Wahrnehmung gleich. Scheinen sie trotzdem unter anderen Vergleichsbedin- gmigen ungleich, so kann dies nur daran liegen, dafs unter diesen Bedingungen die Geteiltheit und Ungeteiltheit den Akt des Vergleichens in bestimmter Weise beeinflufst. In welcher Weise, dies habe ich anderwärts gesagt. In jedem Falle ist der Schein der Ungleichheit Ergebnis unseres Vergleichs, all- gemeiner gesagt, Sache des Urteils.

Für WuNDT nun sind auch hier Augenbewegungen im Spiel. Von diesen Augenbewegungen erfahren wir sonst, dafs sie EinfluiB üben auf die „Ausmessungen des Sehfeldes". Noch bestimmter sagt AVündt, unsere „ursprünglichen" Ilaum- vorstellungen seien unter dem Einflufs der Augenbewegungen entstanden. Q-ewifs können unter diesen „ursprünglichen" ßaum- vorstellungen nicht solche Inhalte oder Bestimmungen unseres Saombewufstseins verstanden sein, die sich erst aus der Ver- gleichung schon vorher für die Wahrnehmung vorhandener Gröfsen ergeben. Für jene Anschauung aber führt Wündt, wenn ich ihn recht verstehe, auch die Überschätzung geteilter Linien als Beweis an. Ist es so, dann beruht die Augen- bewegungstheorie in diesem Punkte auf einer Verwechselung.

Z«iteclirift für Psycholoerie III. 9

130 Th, Upps.

Dafs die Erklärung jener Überschätzung auch abgesehen davon unzulässig ist, dafür verweise ich auf die j^Grundr fhatsachen des Seelenlebens^,

Bei alledem leugne ich doch nicht einen gewissen Einflufs der Augenbewegungen auf die Ausmessung des Sehfeldes ; nur ist es nicht der von Wündt behauptete: kein unmittelbarer, sondern ein mittelbarer Einflufs. Inwiefern ein solcher EinfluJGs besteht, dies zu sagen, geben mir Wündts direkte Einwände gegen meine Sehfeldtheorie Gelegenheit. Ich erwähne sie in veränderter Reihenfolge.

Gewifs hat Wundt Recht, wenn er als Voraussetzung meiner Theorie „irgendwelche Merkmale" fordert, die „an die Netzhaut- punkte selbst geknüpft" sind. Aber diese Forderung habe ich selbst so eindringlich als möglich aufgestellt ; ja ich habe die An- nahme solcher Merkmale, d. h. die Annahme von ursprüng- lichen, an die Netzhautpunkte als solche gebundenen Unter- schieden der Eindrücke der verschiedenen Netzhautpunkte als die erste und als eine selbstverständliche Voraussetzung jeder Er- klärung der Ausmessung des Sehfeldes bezeichnet. Eben unter Voraussetzung solcher Unterschiede wollte ich, ebenso wie auch Wundt, die der Ordnung der Netzhautpunkte entsprechende Ordnung der Eindrücke verständlich machen. Ich wollte dies nur mit anderen Mitteln. Wundt scheint hier einen Teü meiner Ausführungen übersehen zu haben.

Weiter meint Wundt, meine „Erklärung der Ausfüllung des blinden Flecks aus einer Art Irradiation der Reizung^ vermöge „nicht über die Genauigkeit der Schätzung von Strecken, die zum Teil in das Gebiet des blinden Flecks fallen, Rechenschaft zu geben, abgesehen davon, dais sie nicht mit der sonstigen Natur der Irradiation übereinstimme". Hier irrt Wundt zunächst hinsichtlich dessen, was ich sage. Ich spreche an der Stelle, die er im Auge hat,^ nicht von einer Irradiation der Reizung, sondern von einer psychologischen Irradiation, die ich der physiologischen oder Irradiation der „Reizung" entgegenstelle. Oder genauer : nachdem ich von der „stetigen Verschmelzung" der Gesichtseindrücke gesprochen und aus- führlich gesagt habe, was ich darunter verstehe, bezeichne ich dieselbe nebenbei auch, um durch ein bekanntes Wort an eine

* Psychologische Studien^ S. 46.

Die ILaumanachauung und die Augenbewegungen. 131

bekannte Thatsaohe zu ermnem, als eine Art psychischer Irradiation, die mit der physiologischen vergleichbar sei. Im übrigen erledigt sich obiger Einwand von selbst, wenn man beachtet, dafs nach dem ganzen Sinne meiner Theorie die Oröfsenwahmehmung von der Art der Verteilung der reiz- baren Elemente auf der Netzhaut, also auch vom Vorhanden- sein von Stellen, denen die Reizbarkeit völlig abgeht, zunächst nnabhängig ist. Zum Überflufs habe ich auf den Punkt be- sonders aufmerksam gemacht.

Damit hängt der dritte bei Wündt erste Einwurf rosammen. Meine Theorie setzt, wie Wündt wiederum mit Eecht bemerkt, eine Proportionalität voraus zwischen der Ent- fernung der Netzhautpunkte und der durchschnittlichen objek- tiven Verschiedenheit der auf diese Punkte geschehenden Licht- eindrücke. Von dieser Proportionalität meint Wündt, sie sei »mindestens höchst bestreitbar". Nun kenne ich freilich Wündts Gründe nicht. Jene Proportionalität aber scheint mir, soweit sie gefordert werden kann, einfach dadurch gegeben, dafs bei jeder Bewegung des Auges identische Objekte nacheinander auf verschiedenen Teilen der Netzhaut dasselbe Netzhautbild entstehen lassen, also jedesmal gleichen Licht- oder Farben- miterschieden objektiver Punkte gleiche Entfernungen der zu- gehörigen Netzhautpunkte auf den verschiedenen Netzhautteilen entsprechen. Freilich wandert nicht jedes Netzhautbild über die ganze Netzhaut, sondern das eine über diese, das andere über jene Teile; auch verändern sich Objekte, in Wirklichkeit oder nur fürs Auge; sie ändern vor allem ihre Stellung und ihre Entfernung vom Auge. In allen solchen Fällen erlebt der eine Netzhautteil, was nicht alle anderen Netzhautteile zugleich miterleben. Aber im ganzen müssen diese Unterschiede sich ausgleichen. Kein Netzhautteil kann schliefslich hinsicht- lich der Gleichartigkeit oder Verschiedenartigkeit der Einwir- kungen, die er in seinen einzelnen Punkten gleichzeitig erföhrt, einem andern gegenüber bevorzugt oder benachteiligt erscheinen. Dennoch sage ich mit Bedacht, die behauptete Propor- tionalität bestehe, soweit sie gefordert sei. Die Proportionalität zwischen Entfernung von Netzhautpunkten und durchschnitt- licher objektiver Verschiedenheit der zugehörigen Reize soll die andere Proportionalität verständlich machen, die zwischen Ordnung der Eindrücke im Sehfeld und Ordnung der Netz-

132 Th. lApps.

hautpunkte bestellt. Wie weit nun die letztere Proportionalität eine genaue ist, wissen wir nicht. Es fehlt uns ja, was man nie vergessen sollte, jede Möglichkeit eines sicheren Vergleichs der Bilder, die wir im indirekten, und derjenigen, die wir im direkten Sehen gewinnen. Natürlich will ich aber durch meine Theorie die Ausmessung des Sehfeldes verständlich machen, nur soweit wir davon wissen. Die Theorie entspricht allen billigen Anforderungen, wenn sie in ihren Konsequenzen dem sicher feststehenden Thatbestand unseres Lokalisierens nicht wider- spricht. Mit vollem Bewufstsein habe ich mich darum an den bezeichneten Orten hinsichtlich gewisser Punkte nicht bestimmter ausgesprochen, als ich es that.

In der Antwort auf den letzten der drei Einwürfe Wündts nun habe ich zugleich gesagt, inwiefern Augenbewegungen zur Ausmessung des Sehfeldes allerdings mitwirken. Man sieht, dafs diese Wirkung nichts zu thun hat mit derjenigen, die Wündt be- hauptet. Das Gleiche gilt nun aber auch von den mancherlei anderen thatsächlich bestehenden Arten des Einflasses der Augenbewegungen auf unser Raumbewufstsein. Ich suche diese Arten im Folgenden zu unterscheiden.

Augenbewegungen sind wichtig einmal, sofern sie das Mittel sind zur sicheren Auffassung räumlicher Verhältnisse. Hier besteht wiederum eine doppelte Möglichkeit. Der einen be- gegnen wir bei den „optischen Täuschungen aus ästhetischen Gründen". Eine optische Wirkung sei dadurch bedingt, d&fis in einer Form bestimmte, in bestimmter Art verlaufende oder gegeneinander wirkende Bewegungen verwirklicht scheinen. Dann müssen wir diesen Bewegungen folgen, wenn die optische Wirkung eintreten soll. Zunächst mit der Aufmerksamkeit oder dem inneren „Blickpunkt''. Aber man weifs, wie die Be- wegung der Aufmerksamkeit an die der Augen gebunden ist.

Zum Anderen mufs natürlich in allen den Fällen, in denen optische Täuschungen auf einem Vergleich verschiedener Gröfsen oder Formen beruhen, dieser Vergleich wirklich voll- zogen werden. Und auch dazu gehören Augenbewegungen. So mufs ich auch, wenn ich zwei Farben miteinander ver- gleiche, vor allem solche, die etwas weiter auseinander liegen, meine Augen bewegen. Die Augenbewegungen sind das Mittel, mir die Farben genügend deutlich zum Bewufstsein zu bringen oder von ihnen ein genügend deutliches Bild zu gewinnen.

Die Baumanschauung und die Augenbewegungen. 133

Um das Verhältnis verschiedener Gebirgsfonnationen kennen zu lernen, mufs ich vielleicht sogar weite Eeisen unternehmen. Daraus schliefst doch niemand, dafs wir den Unterschied zweier Farben nach Augenbewegungen oder die Verschiedenheit von Gebirgsfonnationen nach der Länge und Schwierigkeit von Eisenbahn- oder Dampfschiffahrten bemessen.

Aber auch daran ist kein Zweifel, dafs wir Eaumgröfsen nach Augenbewegungen bemessen. Nur nicht Raumgröfsen innerhalb des Sehfeldes. Das Sehfeld, d. h. der Inbegriff dessen, was wir in einem Momente sehen, ist ja nicht der Baum unseres Bewufstseins, sondern nur ein Teil desselben. Zu ihm hinzu tritt die mich umgebende räumliche Welt, die ich sehe, wenn ich mein Auge aus seiner jetzigen Lage herausbewege, weiter- hin den Kopf und schliefslich meinen Körper drehe. Von diesem ^Blickfeld" oder Raum der möglichen Gesichts Wahrneh- mung bildet das Sehfeld oder der Baum der in einem Augen- blick wirklichen Gesichts Wahrnehmung einen Ausschnitt. Vermöge der Bewegungen des Auges, ebensowohl des Kopfes und Körpers verschiebt sich das Sehfeld innerhalb dieses Blick- feldes, es gewinnt in ihm bald diese, bald jene Lage; und es ist kein Zweifel, dafs wir diese Lagen und Lagenverschiebungen des Sehfeldes im Blickfeld nach der Lage und den Bewegungen des Auges, freilich nicht minder des Kopfes und Körpers be- messen, dafs uns die Gröfse solcher Bewegungen davon Kunde giebt, wie weit das Sehfeld eines Momentes sich von einer gewissen mittleren Lage innerhalb des Blickfeldes nach rechts oder links, nach oben oder unten verschoben hat. Wiederum aber hat mit diesem Bewufstsein der Lage des Sehfeldes im Blickfeld das Bewufstsein der relativen Lage der Punkte des Sehfeldes zu einander oder kurz die Ausmessung des Sehfeldes nichts zu thun. Wenn ich mich drehe, während die Objekte in Buhe bleiben, so verschiebt sich das Sehfeld im Blickfeld bestandig. Dagegen bleibt das räumliche Verhältnis der Punkte des Sehfeldes zu einander wie es ist.

Ich betone hier diesen Gegensatz zwischen Lage und Aus- messung des Sehfeldes so sehr, weil Wündt in diesem Punkte wiederum eine Verwechselung begegnet. Er gewinnt daraus seinen ersten speziellen Beweis für seine Theorie. Wird, so er- fikhren wir (PAy5ioZ.PÄycAofo5Pte,3. Aufl.,n.,114f.) der äufsere gerade Augenmuskel, etwa infolge einer Verletzung, plötzlich wirkungs-

134 Th. Lipps,

los, so bleibt Bicbtsdesto weniger die Tendenz bestehen, das Auge gelegentlich nach aufsen zu drehen; die hierzu aufge- wandte Innervationsanstrengung ist aber ohne Erfolg. Man bemerkt nun in solchem Fall, dafs sich das Auge nach allen anderen Sichtungen im Blickfelde zu drehen vermag, und dafs es die Lage der Objekte in demselben richtig wahrnimmt. Sobald es sich aber nach aufsen zu drehen strebt, tritt eine Scheinbewegung der Objekte ein; diese scheinen sich nun nach derselben Seite zu bewegen, nach welcher das Auge vergeb- Uche Innervationsanstrengungen macht.''

Man sieht, und auch Wündt sieht zunächst wohl, warum es sich hier handelt. Die erwähnte Thatsache zeigt, dafs ich das Bewufstsein der Bechtsdrehung des Auges auch haben kann, wenn ich nur die betreffende Bewegungsanstrengung mache! Kein Wunder, da die Vorstellung jener Bewegung genügende Ge- legenheit gehabt hat, mit dem Gefühl der entsprechenden Willens- anstrengung — WuNDT nennt es Innervationsempfindung sich zu verknüpfen. Da sich nun trotz dieser vermeintlichen Rechtsdrehung des Auges das Sehfeld nicht verschiebt, so muiSs ich glauben, die Objekte seien meiner Bewegung gefolgt, hätten sich also gleichfalls nach rechts gedreht. Dagegen glaube ich in einem solchen Falle durchaus nicht, dafs irgendwelche Verschiebung innerhalb des Sehfeldes sich vollzogen hätte. Die Thatsache steht darnach zur Frage nach der Ausmessung des Sehfeldes in gar keiner Beziehung. Trotzdem ist sie für Wündt eine „schöne Bestätigung" dafür, dafs „nicht nur die allgemeine Form des Sehfeldes, sondern auch das gegen- seitige Lagenverhältnis der Objekte in demselben mittelst der Bewegungen des Auges festgestellt wird." Offenbar könnte, wenn überhaupt aus jener Täuschung auf die Ausmessung des Sehfeldes ein Schlufs gezogen werden sollte, derselbe nur umgekehrt lauten.

n. Die Tiefe.

Aufser den bisher bezeichneten besteht noch eine weitere Art, wie Augenbewegungen für unser Raum bewufstsein von Einflufs, ja von entscheidender Bedeutung sind. Das Sehfeld, sagte ich oben, habe als solches keinerlei Beziehung zur dritten Dimension oder zur Tiefe. Dasselbe gilt von dem Blickfeld. Thatsächlich besteht aber der Inhalt unseres

Die Baumanschauung und die Äugenhewegtmgen, 135

BÄumbewurstseins niemals ausschHefsUch aus dem Sehfeld md dem BUckfeld. Sondern immer ist damit untrennbar ver- bunden, was wir zu ihm auf Grund unserer Erfahrung hinzu- fügen; und das ist eben die Tiefe. Wir sehen keine Tiefe, aber wir schreiben dem Gesehenen in Gedanken eine Lage in der Tiefe und eine Ausdehnung nach der Tiefe zu; wir denken die gesehene Fläche in bestimmter Weise körperlich; wir wissen oder glauben zu wissen, dafs dieser Punkt dem Auge näher, jener von ihm entfernter ist, diese Linie weiter, jene weniger weit in die Tiefe sich erstrecke. Wir fallen beständig Urteile von solchem Inhalte.

Immerhin sind diese Urteile von besonderer Art, nämlich besonders zwingend und unmittelbar sich aufdrängend. Sie sind mit unserer flächenhaften Wahrnehmung so innig und nnlöshch verbunden, dafs wir meinen, ihr Inhalt sei mit der Wahrnehmung zugleich gegeben oder in ihr selbst enthalten, also mit wahrgenommen. Wir glauben nicht nur an die Tiefe oder Entfernung vom Auge, sondern wir glauben sie zu sehen. Dadurch unterscheiden sich diese Urteile wesentlich von den wissenschaftlichen Urteilen, auch von den wissenschaftlichen Tiefenurteilen. Es ist etwas Anderes um die Vorstellung, der Mond befinde sich in einer Entfernung von einigen Metern tber mir, wie ich sie im gewöhnlichen Leben habe, und der wissenschaftlichen Erkenntnis, seine Entfernung betrage viele tausend Meilen. Nicht hier, wohl aber dort glaube ich die Entfernung zu sehen. Und doch ist jenes Bewufstsein, so gut wie dieses, durch Erfahrung vermittelt, jenes so gut wie dieses Prteil über Wahrgenommenes, nicht selbst Wahrnehmung. Ich verweile bei diesem Punkte einen Augenblick. Wie innig das Bewufstsein der Tiefe mit Gesichtswahr- nehmungen sich verbindet, dies zeigt wohl nichts so deutlich, als der Umstand, dafs selbst hervorragende Psychologen sich Von dem Glauben, die Tiefe zu sehen, nicht losmachen können. Auf WüNDT werde ich nachher zurückzukommen haben. Hier denke ich beispielsweise an den Verfasser der Abhandlung j^The perception of space" im 12. Bande «des „Mind*^, Ich beweise, so wendet William James gegen die hierauf bezüglichen Erör- terungen meiner ^^Psychologischen Studien^ ein, „that it is logi- cally impossible, we should perceive the distance of anything tfrom the eye by sight. Aber," so meint er weiter, „no argu-

136 Th. Lippa,

ments in the world can prove a feeling which actually exists to be impossible." William James glaubt also wirklich die Tiefe zu sehen. Darauf habe ich nichts zu erwidern. Nicht dafs James oder irgend jemand sonst den Glauben habe, wollte ich in meinen j^Psychologischen Studien^ bestreiten, sondern dals der Glaube berechtigt sei. James urteilt nach dem unmittel- baren Eindruck. Es geht aber gewifs nicht an, wo der un- mittelbare Eindruck eben der Gegenstand der Untersuchung ist, diesen selben unmittelbaren Eindruck zugleich als Beweis- mittel zu verwenden. Natürlich kann es aber für eine solche Untersuchung keine andere Methode geben, als die „logische^. Damit meine ich nicht den Streit über die Wahmehmbar- keit oder Nichtwahmehmbarkeit der Tiefe beendet zu haben; obgleich ich gestehen muTs, dafs ich ebensowohl mit hörbaren Gerüchen, als mit sichtbaren Tiefendimensionen eine Vorstel- lung zu verbinden wüfste. Kann ich aber den Streit nicht schlichten, so darf ich doch vielleicht auf ein, in ähnlichen Fällen als wirksam anerkanntes Mittel aufmerksam machen^ durch welches er leichter geschlichtet werden könnte. Es be- steht darin, dafs man den einzelnen Fall nicht isoliert betrachtet, sondern in den Zusammenhang analoger Fälle hineinstellt. Zahlreich sind ja die Fälle, in denen wir dem Eindruck unter- liegen, als werde von uns unmittelbar wahrgenommen, was wir doch gewiis jetzt eben nicht wahrnehmen, oder überhaupt nicht wahrzunehmen vermögen. Wir glauben, wenn wir Töne hören, den Ort, wo sie erklingen, ja vielleicht gar eine räum- liche Ausbreitung des Tones mit zu hören. Wird ja auch dieser Glaube von einigen Psychologen in vollem Ernste ver- treten. Wir glauben ein ander Mal um ein von dem ge- nannten weit abliegendes und doch ihm vöUig gleichartiges Beispiel zu erwähnen Freude oder Zorn aus dem Auge eines Menschen uns unmittelbar entgegenleuchten zu sehen. Andere Beispiele habe ich im oben angeführten Zusammenhange nam- haft gemacht. Wiederum anders geartete liefsen sich leicht hinzufügen. Zu den belehrendsten gehören schliefslich die- jenigen, die uns hier am nächsten hegen, die optischen Täu- schungen, die in Wahrheit optische Urteilstäuschungen sind. Niemand leugnet, wie ich hoffe, dafs es solche giebt. Vor allem kann hier wiederum auf die „optischen Täuschungen aus ästhetischen Gründen^ hingewiesen werden. Sieht man abei

Die Baumanschauung und die Äugenbewegungen. 137

genauer zu, so finden sicli schliefslich überall in unseren Wahr- nehmungen Elemente und Elemente der verschiedensten Art, die der Wahrnehmung als solcher fremd, ja mit ihrem Inhalte unvergleichUch, doch für uns so innig damit verbunden sind, dafs wir uns schwer dem Eindruck entziehen, sie gehörten dazu. So wenig ist in jedem einzelnen Falle unmittelbar klar, was wir wahrnehmen, dafs wir gut thäten, alle vermeint- Kche Wahrnehmung von vornherein als ein Produkt aus zwei Faktoren zu betrachten, der Wahrnehmung selbst und dem, was wir in sie hineinlegen, darum hineinlegen, weil es nun einmal mit dem Inhalt der Wahrnehmung, auf Grund der Erfah- rang, psychisch in ein Ganzes verwoben ist. Niemand, der nur einigermafsen die Menge und Mannigfaltigkeit der hierher gehörigen Fälle übersieht, ja der sich auch nur die Mühe genommen hat, einige besonders naheliegende Fälle genauer ins Auge zu fassen, kann in allen Fällen den unmittelbaren Eindruck des Wahrnehmens zugleich als Beweis seiner Berech- tigung nehmen wollen. Hat man aber einmal in einigen oder nur in einem Falle jenen unmittelbaren Eindruck als trüge- risch erkannt, so wird man auch in anderen Fällen ich sage nicht, die Täuschung erkennen, aber doch mit seinem Urteile zum mindesten etwas vorsichtiger sein. Man wird, statt nur blind dem Eindruck zu vertrauen und so geflissentlich in ein System der wissenschaftlichen Selbsttäuschung sich ein- TOspinnen, sich entschliefsen, die Bedingungen des Eindrucks zu untersuchen. Man thäte gut, gleich alle Psychologie und erst recht alle Ästhetik aufzugeben, wenn man auf solche Untersuchung überhaupt verzichten wollte.

Doch gehen wir weiter. Wie das Sehfeld keine Beziehung zur Tiefe, so hat es auch keine Form. Kein Wunder, da die Form, von der wir hier reden, eben in dem Vor- und Zurück- treten der Teile des Sehfeldes besteht, also das BewuTstsein der Form mit dem Bewufstsein der gleichen, oder von Punkt zu Punkt sich verändernden Tiefe eine und dieselbe Sache ist. Indem wir den Teilen des Sehfeldes eine bestimmte Tiefe und ein bestimmtes Tiefen Verhältnis zuschreiben, schreiben wir zugleich dem Sehfeld eine bestimmte Form zu. Auch die Form des Sehfeldes ist also Sache des Gedankens, der Interpretation, des wirklichen oder vermeintlichen Wissens, kurz des Urteils, nicht Sache der Wahrnehmung.

138 Th. lAppa,

Jenes Urteil über die Tiefe und damit zugleich das Urteil über die Form des Sehfeldes beruht nun ohne Zweifel nicht ursprünglich, aber für unser ausgebildetes Kaumbewufstsein in erster Linie auf Augenbewegungen; es beruht, genauer gesagt, auf den Konvergenzempfindungen, die wir bei Gelegenheit bino- kularer Fixationen und der dazu erforderlichen Bewegungen der Augen erleben. Diese Konvergenzempfindungen sind für uns auf Grund der Erfahrung zu Tiefenzeichen geworden. Ich wiederhole nicht meine Auffassung der Art, wie dies zugeht. Es genügt mir zunächst, dafs auch hier wiederum die Augen- bewegungen, so wichtig sie sind, zur Ausmessung des Sehfeldes in keinerlei Beziehung stehen, immer vorausgesetzt, dafs man unter dem Sehfeld eben das Sehfeld versteht.

WuNDT nun glaubt auch hier wiederum eine unmittelbare Beziehung zwischen Augenbewegungen und Sehfeld konstatieren zu können. Wenigstens weifs ich mir den Gedankengang auf S. 109 des 2. Bandes der Physiologischen Psychologie nicht anders zu deuten. Für uns ist jede ^ursprüngliche" Form des Sehfeldes, d. h. jede Form, die das Sehfeld als solches besälse und nicht erst auf Grund der Erfahrung gewänne, ein vollen- detes Unding. Für Wundt ist die ursprüngliche Form des Sehfeldes die Kugelfläche. Den „naheliegenden Grund" findet er in der Bewegung des Auges. „Bei dieser beschreibt der Fixationspunkt fortwährend gröfste Kreise, die einer Hohlkugel- fläche angehören. Als Mittelpunkt des kugelförmigen Sehfeldes, das wir beim Mangel sonstiger Motive erblicken, ist daher der Drehpunkt des Auges zu betrachten. Da nun auch das ruhende Auge sein Sehfeld kugelförmig sieht, so liegt eigentlich hierin schon der Grund für die Annahme, dafs die ursprüngUche Raumanschauung unter dem Einflufs der Augenbewegungen entstanden ist."

Diese Stelle in Wündts berühmtem Werke ist mir eines der merkwürdigsten Beispiele dafür, was in der Psychologie Worte vermögen. Ich lege hier noch kein Gewicht darauf, dafs die Übereinstimmung zwischen ruhendem und bewegtem Sehfeld für den Einflufs der Bewegungen auf das ruhende Sehfeld doch wohl ganz und gar nichts beweisen kann. Im Grunde giebt dies Wündt durch das „EigentHch" selbst zu, in der Wissenschaft hat das „Eigentlich" keine Stelle.

Ich stelle aber zunächst die Thatsachenfrage. Das ruhende

Die Baumanschauung und die Augenbewegungen. 139

Auge sieht sein Sehfeld ursprünglich kugelförmig: für diese Annahme ist der einzige Beweisgrund der, dafs uns das Himmels- gewölbe kugelförmig erscheint. Aber die Erdoberfläche erscheint uns nicht kugelförmig, sondern eben. Warum sollen wir nicht daraus mit gleichem Rechte schliefsen, dafs die ursprüngliche Form des Sehfeldes die Ebene sei ? Das Sehfeld, so wird vorher allgemeiner gesagt, besitze die Gestalt der Kugelfläche, sobald speziellere Gründe fehlen, welche auf eine andere Ordnung seiner Punkte weisen. Aber genau dasselbe gilt auch von der Form das Ebene. Wir leihen überhaupt dem Sehfeld immer die Form, für die wir Gründe haben, niemals diejenige, für die die Gründe fehlen. Mag man die einen oder die anderen Gründe spezieUere nennen, für die Ursprünglichkeit der einen oder der anderen Form folgt daraus nichts.

Es liegt aber in Wündts Annahme eine weitere unberech- tigte Voraussetzung. Das kugelförmige Sehfeld, von dem WuNDT redet, ist ein monokulares. Nur vom monokularen Sehfeld ist im Zusammenhang jener Stelle die Eede. Wo aber liegt der Beweis, dafs für das Sehen mit einem Auge ein kugelförmiges Sehfeld ich sage nicht ursprünglich, sondern überhaupt besteht? Wir sehen von vornherein mit beiden Augen. Besteht da nicht wenigstens die Möglichkeit, dafs das kugelförmige Sehfeld, soweit es besteht dafs also besonders das kugelförmige Himmelsgewölbe dem doppel- ängigen Sehen sein Dasein verdankt nnd erst, nachdem es im doppeläugigen Sehen entstanden ist, auch im einäugigen festgehalten wird; dafs also Wundt hier mit einer reinen Fiktion operiert? Indem Wundt annimmt, das kugelförmige Sehfeld bestehe schon für das einäugige Sehen, also ohne die „spezielleren" Gründe, die aus dem doppeläugigen Sehen sich ergeben, setzt er genau das voraus, worauf es eigentlich an- kommt.

Und endlich, was mir hier das Wichtigste ist: Was ist der „Pixations"- oder „Blickpunkt", den Wundt an der angeführten Stelle aufserhalb des Auges umherschweben und gröfste Kreise beschreiben läfst. Gewifs nicht ein Ding, nicht einmal ein in sich identischer Vorstellungsinhalt ; sondern eine reine Abstrak- tion, ein blofser verallgemeinernder Name. Blickpunkt ist jedesmal derjenige wahrgenommene Punkt des Sehfeldes, den ich fixiere. Der Blickpunkt beschreibt gröfste Kreise, dies

140 Th. Lipps.

heilst gar nichts anderes als: die Punkte des Sehfeldes, die ich nacheinander fixiere, sind für mein BewuTstsein in gröfsteu Kreisen angeordnet, oder: das Sehfeld hat für mein Bewufstsein die Form der Kugelfläche. Weil mir die Punkte oder Objekte des Sehfeldes kugelförmig angeordnet oder ausgebreitet er- scheinen oder vielmehr, wenn oder soweit sie kugelförmig angeordnet oder ausgebreitet erscheinen, sind auch für mein Bewufstsein die bei der Bewegung des Auges nacheinander fixierten Punkte Punkte eines gröfsten Kreises oder ist für mein Bewufstsein die Bewegung des Blickpunktes Bewegung in einem gröfsten Ejreis. Dagegen verliert die Behauptung einer solchen Bewegung jeden angebbaren Sinn, wenn ich jene Voraussetzung zu machen unterlasse. Warum scheint das Sehfeld die Gestalt einer Kugelfläche zu haben? Darauf ant- wortet Wundt: weil es dieselbe zu haben scheint. Diese un- leugbare Einsicht ist das Fundament der Augenbewegungs* theorie.

Giebt es keine ursprüngliche Kugelgestalt des SehfeldeSi so ist die Kugelgestalt, soweit sie besteht, so ist insbesondere die scheinbare Form des Himmelsgewölbes, die Wundt als Überrest jener ursprünglichen Kugelgestalt fafst, auf Grund der Erfahrung geworden, so, wie überhaupt die Form des Sehfeldes geworden ist. Sie ist ein Produkt eben derjenigen XJrteüsthätigkeit, der jede Form des Sehfeldes ihr Dasein verdankt. Es thut nichts zur Sache, dafs sie ein trügerisches Ergebnis dieser Urteilsthätigkeit oder eine optische Täu- schung ist.

Vom Begriff der optischen Täuschung war oben die Bede; ihre Arten wurden unterschieden. Die scheinbare Form des Himmelsgewölbes gehört zu denjenigen, die genauer als optische Urteilstäuschungen zu bezeichnen sind. Sie mufs zu ihnen gehören, so gewifs es nur für unser Urteil eine Form des Sehfeldes überhaupt giebt. Aus gleichem Grunde müssen alle Täuschungen, die die Form des Sehfeldes betreffen, Urteils- täuschungen sein. Sie sind, genauer gesagt, jederzeit irrtümliche Tiefenurteile.

Damit ist zugleich zugestanden, dafs sie freilich mit Augen- bewegtingen zusammenhängen; nur in völlig anderer Weise, als WüNDT annimmt. Die bei Gelegenheit der Augenbewegungen entstandenen Konvergenzempfindungen, so sagten wir, bedingten

Die Baumanschauung und die Augenbewegungen, 141

das Tiefenbewufstsein, durcliaus nicht allein; aber ich will mich nun einmal in diesem Zusammenhang darauf beschränken. Dieselben sind auf Grund der Erfahrung das Nähere gehört nicht hierher zu Zeichen der Tiefe geworden. Verschiedene Konvergenzempfindungen sind zu Zeichen verschiedener Tiefen geworden. Entsprechend müssen uns gleiche Konvergenz- empfindungen Zeichen gleicher Tiefe sein. Sind wir einmal dazu gelangt, aus Konvergenzempfindungen die Tiefe so zu sagen abzulesen, so können wir nicht umhin da, wo wir keinen Unterschied dieser Empfindungen mehr bemerken, an eine gleiche Tiefe zu glauben. Nun ist jene Voraussetzung bei sehr weit vom Auge entfernten Gegenständen erfüllt, also verlegen wir solche Objekte in unseren Gedanken in gleiche Tiefe, oder wir verlegen sie auf eine Kugeloberfläche.

Damit leugne ich doch nicht, dafs auch von Hause aus der Gedanke der Tiefengleichheit, also die Verlegung des Ge- sehenen auf eine Kugeloberfläche, vor den sonstigen Möglich- keiten einen leicht verständlichen Vorzug hat. Das Bewufst- sein der Form des Sehfeldes ist mit dem Bewufstsein der Tiefen und Tiefenunterschiede gegeben. Mit beidem zugleich wiederum ist das Bewufstsein der relativen Gröfse der gesehenen Objekte oder ihrer Teile unmittelbar gegeben. Erkennen wir eine Linie als in bestimmter Art in die Tiefe sich erstreckend, so schreiben wir ihr notwendig zugleich die Länge zu, die sie haben muTs, wenn sie bei solpher Lage das Gesichtsbild ergeben soll, das sie ergiebt. Wir schreiben ihr eine gröfsere Länge zu, als der für die Wahrnehmung gleich grofsen, die nicht oder nicht in gleichem Grade in die Tiefe zurückweicht. So bedingt über- haupt das Bewufstsein verschieden grofser Tiefen eine ver- schiedene Gröfsenschätzung der gesehenen Objekte und ihrer Teüe, also eine gedankliche Veränderung oder Korrektur der wahrgenommenen Gröfsenverhältnisse. Natürlich geschieht diese Korrektur jederzeit im Widerstreit mit der Wahrnehmung. Wahrnehmung fordert hier wie überall Anerkennung. Es besteht tdso für uns jederzeit in gewissem Grade der Zwang das wahrgenommene Gröfsenverhältnis zweier in verschiedener Tiefe befindlicher Objekte oder Teile von Objekten anzuerkennen, oder es in unserem Urteil bei ihm zu belassen. Dieser Zwang mufs, wenn die verschiedene Gröfsenschätzung oder die ge- •dankliche Aufhebung des gesehenen Gröfsenverhältnisses zu

142 Th. L^^,

Stande kommen soll, überwunden werden. Es ist aber jeder* zeit die Frage, wie weit er überwunden wird, bezw. wie weit die Wahrnehmung ihr Eecht zu behaupten vermag.

Damit ist gesagt, welche besondere Bedeutung auch für uns die Kugelgestalt des Sehfeldes hat oder haben kann. An- genommen, der Zwang der Wahrnehmung würde nirgends über- wunden, es käme also die Forderung der Anerkennung der wahrgenommenen GröfsenverhäJtnisse überall unverkürzt zu ihrem Eechte, wir könnten uns aber doch zugleich der Forde- rung, Tiefe überhaupt anzuerkennen, nicht entziehen, dann hätte das Sehfeld für uns wirklich die Form der Kugelfläche. Obgleich nun jene Voraussetzung für keine Stufe unseres Eaumbewufstseins zutrifft, da es ja „Tiefe überhaupt** nicht giebt noch je gegeben hat, so können wir doch fingieren, sie träfe zu. Wir können in unseren Gedanken von der Wirkung der Motive des Tiefenbewufstseins, soweit sie in der Erzeugung eines Bewufstseins verschiedener Tiefen besteht, abstrahieren und vermöge dieser Abstraktion uns einen Zustand des Raumbewufstseins, oder eine „Form des Sehfeldes" kon- struieren, in der zwar Tiefe, aber noch kein Tiefenunterschied vorkäme. Wir können dann zu dieser Form des Sehfeldes jene Wirkungen wiederum successive hinzutreten und so aus der konstruierten oder fingierten Form des Sehfeldes diejenige Form entstehen lassen, die das Sehfeld für unser Bewufstsein that- sächlich hat. Jene fingierte Form ist dann auch für uns die ursprüngliche ** ; d. h. sie ist der Ausgangspunkt unserer Be- trachtung; immerhin einer Betrachtung, bei der der ganze Bestand des Sehfeldes und aufserdem das „Tiefenbewufstsein überhaupt" bereits vorausgesetzt ist.

Den Wert nun, den die bezeichnete Art des Verfahrens und damit zugleich die Fiktion des kugelförmigen Sehfeldes für die Darstellung des Thatbestandes unserer Baum- anschauung haben mag, leugne ich nicht. Ich sehe auch ein, dafs die orientierende Kraft diese Fiktion sich erhöht, wenn das kugelförmige Sehfeld mit allerlei Meridianen und Breite- kreisen ausgestattet wird. Ich leugne schliefslich auch nicht, dafs es zweckmäfsig sein mag, vermöge einer neuen Fiktion dies Sehfeld durch Bewegungen irgend eines Punktes entstehen zu lassen, der, aufserhalb des Auges befindlich, aber mit dem Auge fest verbunden, nicht umhin kann der Bewegung des

Die BautnanscJuMung und die Augenbewegungen. 143

Auges zu folgen und gröfste Kreise zu beschreiben. Nur darf man bei allem dem die Fiktion nicht mit der Wirklichkeit identifizieren, die subjektive Betrachtungs- oder Darstellungs- weise nicht für eine Beschreibung oder gar Erklärung des ob- jektiven Hergangs ausgeben.

Andererseits hindert uns doch auch nichts im Interesse der Vermeidung solcher Selbsttäuschungen , auf alle solche Fiktionen zu verzichten und dem objektiven Hergang der Ent- stehung des BaumbewuTstseins zu folgen, insbesondere den Motiven des Tiefenbewufstseins von vornherein die konkreten Wirkungen zuzuschreiben, die sie von vornherein üben. Auch dann behält noch das kugelförmige Sehfeld für uns eine gewisse Bedeutung. Ist es nicht mehr Ausgangspunkt, so ist es in gewisser Weise Zielpunkt, d. h. es bezeichnet den Punkt, dem sich das Baumbewufstsein nähert in dem Mafse, als die Motive des Tiefenbewufstseins hinter der Aufgabe, den Zwang der Wahrnehmung zu überwinden, zurück bleiben.

Offenbar kann nun die Wahrscheinlichkeit, dafs dieser Zwang der Wahrnehmung vollkommen überwunden werde, in doppelter Weise sich vermindern. Entweder der Gegensatz zwischen dem Wahmehmungsinhalt und der durch die Erfah- rung geforderten Korrektur ist allzu grofs. Oder die Motive, die die Korrektur fordern, besitzen nicht genügenden Nachdruck. Letzteres wiederum kann, sofern diese Motive in Konvergenz- empfindungen bestehen und andere wollen wir ja hier un- berücksichtigt lassen aus doppeltem Grunde der Fall sein. Die Konvergenzempfindungen selbst drängen sich mit geringerer Sicherheit und Bestimmtheit auf; oder die Beziehung zwischen ihnen und dem Bewufstsein der Tiefe und damit zugleich der Gröfse ist eine weniger innige.

Daraus ergeben sich verschiedene Arten von optischen Täuschungen oder genauer optischen Urteilstäuschungen. Zu- nächst eine Gattung, die darauf beruht, dafs die Konvergenz- empfindungen nicht genügend sicher und bestimmt sich auf- drängen. Konvergenzempfindungen wirken als Zeichen der Tiefe zunächst, wenn sie unmittelbar als Empfindungen da sind. Dies ist der Fall, soweit wir die Objekte oder Teile von Objekten binokular fixieren. Sie wirken dann auch und in gleicher Weise, wenn sie nur in der Erinnerung oder Repro- duktion gegeben sind. Auf solche blofs reproduktive Konvergenz-

144 ^' Lipps.

empfindungen sind wir angewiesen, soweit die binokulare Fixation unterbleiben muTs oder aus irgend welchem Grunde thatsächlich unterbleibt. Wir bemessen dann die Tiefenlagen und die Unterschiede derselben nach den Konvergenzempfin- dungen, die wir in gleichartigen Fällen gewonnen haben. Dabei ist unter der Gleichartigkeit der Fälle das gleiche Ver- hältnis der Doppelbilder in den verschiedenen Fällen zu ver- stehen. Das Genauere gehört wiederum nicht hierher. Nur die Erklärung wiederhole ich hier, dafs Wündts Theorie der totalen Verschmelzung der Doppelbilder nach meiner Erfahrungr mit den Thatsachen in direktem Widerspruch steht. Leider erfahren wir von Wundt nicht, welche erneute Prüfung de^ Sachverhaltes ihn veranlafst, bei seiner, auf Grund jener That^ Sachen von mir bestrittenen Meinung zu verharren.

Nun haben aber reproduktive Vorstellungen hier wie überall nicht die Kraft der unmittelbaren Empfindung. Also wird. beim Verzicht auf Augenbewegungen oder bei starrer FixatioiL die Nötigung, gesehenen Objekten oder Teilen von Objekten, die ihnen erfahrungsgemäfs zukommende verschiedene Tiefen- läge und entsprechende Gröfse zuzuschreiben, eine geringere sein. Wir werden darum bei starrer Fixation in gewissem Grade geneigt sein, die Objekte als in gleicher Tiefe liegend oder sich ausbreitend zu betrachten.

Daraus erklärt sich eine Thatsache, in der Wündt wiederum einen unmittelbaren Beweis für die Augenbewegungstheorie zu finden scheint. „Man nehme einen Bogen weifsen Papiers, in dessen Mitte man einen schwarzen Punkt anbringt, der als Fixationspunkt dient". . . . Man bringe „seitlich vom Fixations- punkt zwei schwarze Papierschnitzel an, die genau in einer Vertikallinie liegen, auf demselben Bogen an. Man wird be- merken, dafs dieselben nur dann in einer Vertikallinie zu liegen scheinen, wenn ihre Richtung entweder mit der durch den Blickpunkt gelegten Vertikalen zusammenfallt oder zu der durch den Blickpunkt gelegten Horizontalen senkrecht ist. In den übrigen TeUen des Blickfeldes dagegen mufs man den Objekten in Wirklichkeit eine schräge Lage geben, wenn sie im indirekten Sehen vertikal erscheinen sollen, und zwar mufs in allen schrägen Lagen das in vertikaler Kichtung vom Blickpunkt entferntere Objekt auch nach der horizontalen weiter vor dem- selben weggeschoben werden." Solche Erscheinungen sind

Die BaumcmscJiauung und die Augenbewegungen, 145

es, die nach. Wundt ,,zeigen, dafs die Bindrücke, die wir bei bewegtem Auge empfangen, auf die Abmessungen im Sehfeld des ruhenden Auges übertragen werden."

Ich bekenne zunächst, dafs es mir sehr schwer fallt, den Zusammenhang zu verstehen, der zwischen diesem Schlufssatz und der Thatsache bestehen soll, aus der er gezogen ist. Gewils stimmen ja die „Eindrücke", die wir bei bewegtem Auge ge- winnen, mit der Ausmessung des ruhenden Sehfeldes wenigstens innerhalb gewisser Grenzen über ein. Was wir bei bewegtem nnd bei ruhendem Auge sehen, stimmt sogar, soweit sich feststellen läfst, durchaus überein. Das Auge ist nun einmal sozweckmäfsig eingerichtet, dafs diese Übereinstimmung bestehen kann. Aber folgt daraus, dafs wir jene „Eindrücke" auf diese Abmessungen übertragen? Warum sollen wir nicht umge- kehrt diese auf jene übertragen? Oder warum schliefst man nicht aus dieser Übereinstimmung, was doch das Nächstliegende wäre, dafs es für die Abmessungen im Sehfeld ganz und gar gleichgültig ist, ob das Auge ruht oder nicht, dafiq|||B%e- wegungen nicht den Zweck haben, irgend welche Abmessungen erst zu erzeugen, sondern nur uns die vorhandenen deutlicher erkennen zu lassen?

Die angeführte Thatsache beweist aber auch, so viel ich sehe, nicht eine Übereinstimmung, sondern vielmehr einen Öegensatz, nicht zwischen ruhendem und bewegtem Sehfeld, wohl aber zwischen den „Eindrücken", die wir bei ruhigem nnd bewegtem Auge gewinnen. Wündt weist selbst darauf hin; und durch die Art, wie er dies thut, scheint er mir die von ihm behauptete Übertragung zugleich wieder zu leugnen. Man lege einen der Papierstreifen etwa in die rechte obere Ecke des in der Mitte fixierten Papierbogens und gebe ihm diejenige schräge Lage, in der er für das indirekte Sehen ver- tikal erscheint. Wendet man dann den Blick von der Mitte des Bogens weg auf eben diesen Papierstreifen, so verschwindet die Täuschung; der Streifen erscheint in seiner wirklichen Lage, also schräg, genauer: mit seinem oberen Ende nach aulsen gekehrt. Und wie nun erklärt dies Wündt? Daraus, dafjs „die im Blickpunkt und dessen Umgebung befindlichen Objekte immer in das jeweilige Sehfeld mit Eücksicht auf die Lage, welche unsere Vorstellung dem letzteren anweist, verlegt" werden. Also beruht doch ohne Zweifel die scheinbare ver-

Zeitsehrin fdr FsycboloKie in. 10

146 Th. Lipps,

tikale Bichtung des Papierstreifens beim indirekten Sehen darauf, dafs bei solcbem indirekten Sehen die wirkliche Lage des Sehfeldes, d. h. in unserem Falle des Papierbogens, nicht oder nicht genügend berücksichtigt wird. Damit sind wir aber genau bei unserer Erklärung angelangt.

Die „Lage^ des Papierbogens, von der hier die Bede ist, ist für mich aber gewifs auch ebenso für "Wündt gleichbedeu- tend mit der Stellung desselben zum Auge, wie sie durch die Entfernung seiner einzelnen Punkte vom Auge ohne weiteres £:e£:eben ist. Das Bewufstsein jener Lage, also das Bewufstseia Lser Entfernungen drängt ih uns beim indirekten Sehen nicht oder weniger bestimmt auf. Dafs ich darin mit Wündt zusammentreffe, haben wir eben gesehen. Eben damit nun vermindert sich, wie wir oben sahen, der durch dies Bewufst- sein bedingte Zwang der Korrektur der wahrgenommenen Gröfsenverhältnisse. Die Gröfsen Verhältnisse erscheinen also im indirekten Sehen den wahrgenommenen angenähert. Damit ist die Täuschung erklärt: Passen wir unter den in Betracht kommenden Gröfsen etwa die Gröfse des Abstandes zwischen dem fixierten Mittelpunkte des Papierbogens, den wir C nennen wollen, einerseits, und dem oberen und unteren Ende des Streifens, die wir bezw. als e^ und e^ bezeichnen wollen, speziell ins Auge. So lange wir die Lage und Form des Papierbogens richtig erkennen, also den Papierbogen als eben, damit zugleich nach den Seiten zu in bestimmter Weise vom Auge sich hinweg erstreckend betrachten, verlegen wir e^ in weitere Entfernung vom Auge als e^, damit vergröfsern wir zugleich in Gedanken den gesehenen Abstand Ce^ im Vergleich zum Abstand Ce^. Dagegen vollziehen wir im indirekten Sehen, weil bei ihm jene Bedingung nicht erfüllt ist, diese relative Vergröfserung nicht, oder nicht in gleichem Mafse. Also erscheint im indirekten Sehen der Abstand Ce^ relativ verkürzt. Diese Verkürzung aber ist gleichbedeutend mit einer Verschiebung des oberen Endes des Streifens nach links oder einer Aufhebung bezw. Verminderung der thatsächlichen Verschiebung desselben nach rechts, d. h. gleichbedeutend mit einer Annäherung des Streifens an die vertikale Lage. Zu diesem Besultate gelangen wir, ohne von Augenbewegungen auch nur zu reden.

So könnte auch Wündt der Augenbewegungen bei diesem Probleme recht wohl entraten. Es erweist sich aber hier

IXe Baumanschauimg und die Augenbewegungen. 147

wiederum ein Zug der Augenbewegungstheorie als verhängnis- ToU, der uns schon oben so erschien. Deutlicher noch als ehemals das kugelförmige Sehfeld wird hier das ebene Blickfeld in Gestalt des ebenen Papierbogens einfach als gegeben, also das darin liegende Problem einfach als bereits gelöst vorausgesetzt. In diesem Problem liegt aber das hier in Bede stehende im Grunde ganz und gar enthalten. Wir sehen dann Sehfeld und Blickfeld sich gegeneinander bewegen, in verschiedene Beziehungen zu einander geraten, und dabei auch den Gegen- satz zwischen der schrägen und der vertikalen Lage des Papier- streifens entstehen. Aber wie der Blickpunkt, durch dessen Bewegungen das kugelförmige Sehfeld entstehen sollte, nicht ein fiir sich bestehender Inhalt unseres Bewufstseins war, so können auch Sehfeld und Blickfeld nicht als solche gelten. Das Blickfeld ist wie das Sehfeld nichts, wenn wir von den konkreten Inhalten unseres ßaumbewufstseins absehen. Es giebt insbesondere keine Form und Lage des Blickfeldes, ebenso wie des Sehfeldes, die etwas anderes wäre, als unser Bewufstsein von der Form und relativen Lage dessen, was wir sehen. Entsprechend ist auch der Gegensatz zwischen Form und Lage des Blickfeldes einerseits und des Sehfeldes anderer- seits nichts anderes, als der Gegensatz zwischen Formen und LfSgen gesehener Objekte oder ihrer Teile. Wer diesen Gegen- satz aus jenem ableitet, sagt darum nur noch einmal, was er in allgemeiner Weise schon vorher gesagt hat. Wiederum leugne ich damit nicht, dafs man das ßecht habe und unter Umständen wohl daran thue, von Blickfeld und Sehfeld und einer Gegeneinanderbewegung beider in abstracto zu sprechen. Dies haben wir ja selbst oben gethan. Insbesondere mag auch die Art, wie Wündt dies thut, recht wohl der Verdeutlichung des Thatbestandes unserer Eaumanschauung dienen. Und ich bitte für meine Kritik um Entschuldigung, wenn Wündt nichts anderes als dies beabsichtigt haben sollte. Zunächst aber mufs ich annehmen, dafs seine Absicht weiter gehe.

Wie der Papierstreifen, von dem wir eben redeten, bei in- direktem Sehen an seinem oberen, vom Auge und dem Blick- punkt entfernteren Ende gegen das Auge und darum gegen den Blickpunkt relativ hergekehrt erschien, ebenso und aus gleichem Grunde mufs jede Linie, die nach beiden Enden 2u vom Auge sich entfernt, im indirekten Sehen mit den Enden

10*

148 Th. Lipps.

gegen das Auge und den Blickpunkt hergekrümmt bezw. in geringerem Grade von ihm weggekrümmt erscheinen. Ist die Linie eine Gerade, so scheint sie gegen das Auge und den Blickpunkt konkav, ist sie gegen beide konvex, so kann sie als eine Gerade erscheinen. Für letztere Möglichkeit verweise ich auf das bekannte von HfiLMHOLTZsche Schachbrettmuster, in dem uns ein ganzes System von Linien entgegentritt, die sich gegen die Enden zu von dem Mittelpunkte des Systems wegkrümmen und um so stärker wegkrümmen, je weiter sie vom Mittelpunkt entfernt liegen. Die Linien erscheinen bei geeigneter Fixation des Mittelpunktes in der That als Gerade.

Li den eben ausgesprochenen allgemeinen Sätzen ist nun freilich noch nicht alles in Ordnung. Müssen wirklich, so kann man fragen, indirekt gesehene gerade Linien, die gegen das Auge konkav erscheinen, ohne weiteres auch gegen den Blickpunkt konkav erscheinen? Angenommen, der Blickpunkt befinde sich unter einer solchen Geraden, giebt es dann nicht jederzeit einen entsprechenden Punkt über der Geraden, gegen den sie genau ebenso konkav erscheinen müfste? Und wenn sie nach entgegengesetzten Seiten gleich konkav erscheinen muTs, heifst dies dann nicht, dafs sie weder nach der einen noch nach der anderen Seite so erscheinen kann? Hier ergiebt sich eine Lücke, die wir noch auszufüllen haben werden.

Lassen wir diese Lücke aber einstweilen unausgefüllt, und betrachten die Krümmung als das, was sie in jedem Falle ist, d. h. als Krümmung gegen das Auge. Diese hat für uns nichts Verwunderliches. Ich meinte oben, das Problem der scheinbaren Lage des Papierstreifens liege in dem Problem des ebenen Blickfeldes im Grunde ganz und gar enthalten. Dasselbe gilt natürlich vom Problem der scheinbaren Krüm- mung gerader Linien. Beide Probleme sind aber nicht minder auch im Problem der geraden Linie schon eingeschlossen. D. h. wir verstehen die scheinbare Krümmung der Geraden, wenn wir verstehen, wie es zugeht, dafs sie unter anderen Umständen nicht gekrümmt, sondern als eine Gerade erscheint. WüNDT setzt wie die Ebene, so auch die geraden Linien ohne weiteres als gegeben voraus. Darin liegt wiederum eine Vorwegnahme der Erklärung.

Gerade Linien sind wiederum zunächst für mich, gewifs aber auch ebenso für Wündt nicht ursprüngliche Lihalte

Die Baumanschauung uwd die Augenbewegungen, 149

tuiseres Bewufstseins; sondern müssen für unser Bewufstsein werden. Die gerade Linie ist nun aber ein nacli drei Dimen- sionen bestimmtes Gebilde. Das Gleiche gilt vom Elreis, der EUipse u. 8. w., kurz von jeder Linie, die in unserem Baum von drei Dimensionen vorkommen oder von uns in denselben hin- eingedacht werden mag. Die Form der Linie ist gleichbedeutend mit der Lage ihrer Punkte. Ein Punkt hat aber in unserem Eamn von drei Dimensionen eine bestimmte Lage, wenn seine Lage nicht nach einer oder zwei, sondern nach drei Dimen- sionen bestimmt ist. Es hat also keinen Sinn, in einem blofs flächenhaften Kaum von einer geraden Linie, ebenso von einem Kreise, einer Ellipse etc. auch nur zu reden, es sei denn, dafs man mit diesen Worten einen völlig neuen Sinn verbindet.

Damach giebt es auch im flächenhaften Sehfeld keine solchen Gebilde. Wir dürfen sagen: So viele gerade Linien, Kreise u. 8. w. wir auch in unserem Leben gesehen haben mögen, so haben wir doch in Wahrheit niemals etwas Dergleichen ge- sehen. Das heifst: wir sahen Linien, die Gerade, Kreisen, s. w. waren, aber die Geradheit, die Kreisform gehörte nicht mit zum Inhalte unserer Wahrnehmung. Was wir von der geraden Linie wahrnahmen, war ein Repräsentant derselben, aber ein Bepräsentant, der an sich ebensowohl allerlei Kreislinien, Ellipsen etc. kurz jede mögliche, nur immer ebene Kurve repräsentierte. Er wurde zum Repräsentanten einer geraden Linie und einer bestimmten geraden Linie, wenn wir ihn, schliefslich auf Grund der Erfahrung, als Repräsentanten einer solchen deuteten, d. h. wenn wir dem Wahrnehmungsbilde, das als solches zur dritten Dimension keine Beziehung hatte, nicht nur irgendwelche, sondern eine bestimmte Beziehung der Art in unseren Gedanken liehen.

Es liegt nun aber hier nichts daran, ob man allen diesen Behauptungen zustimme, obgleich mir scheint, dafs es nichts Einleuchtenderes geben könne : es genügt mir, dafs in jedem Falle die gerade Linie für unser Bewufstsein entsteht, indem wir den einzelnen Punkten des Gesichtsbildes derselben eine bestimmte relative Tiefenlage anweisen oder einen bestimmten Tiefenunterschied zuschreiben, einen solchen nämlich, wie er eben der Natur der geraden Linie entspricht. Oder sollte man auch dies nicht zugestehen, so steht doch fest, dafs es für unser Bewufst- sein keine gerade Linie geben kann ohne das Bewufstsein eines

150 Th. Lipps,

solchen bestimmten Tiefenuntersoliiedes ihrer Punkte. Dann steht aber auch ebenso fest, dafs sich eine gerade Linie für mein Bewufstsein in eine gekrümmte verwandeln muTs, wenn jenes bestimmte Tiefen Verhältnis f&r mein Bewufstsein sich modi- fiziert. Jetzt fragt es sich nur noch, wie dies geschehen könne. Natürlich setzt die Beantwortung dieser Frage die Einsicht in die Gründe des Bewufstseins jenes Tiefen Verhältnisses voraus. Zeigt sich, dafs die Wirksamkeit dieser Gründe sich modifizieren kann, so ist die scheinbare Ejrümmung verständlich geworden. Dagegen verstehe ich nicht, wie vor Untersuchung jener Gründe der Gegensatz der Geradlinigkeit und der scheinbaren Krümmung überhaupt in die Diskussion gezogen werden kann.

In der That nun liegt es, wie wir sahen, in der Natur jener Gründe, es liegt speziell in der Natur der Konvergenzempfin- dungen, dafs sie nicht immer die gleiche Wirkung üben. Also bedarf es zur Erklärung der scheinbaren Krümmung keiner wei- teren Faktoren.

Derselbe Schein der Krümmung gerader Linien scheint nun auch entstehen zu müssen, wenn wir eine gerade Linie in der Mitte fixieren. Auch hier werden ja Teile indirekt ge- sehen. Der Schein entsteht denn auch zweifellos. Nur müssen Einschränkungen hinzugefügt werden. Eine füge ich gleich hier hinzu.

Dabei kommt ein weiterer unter den Faktoren in Betracht, die oben als Gründe für die verminderte Wirksamkeit der Motive des Tiefenbewufstseins, also für den verstärkten Einflufs der wahrgenommenen Gröfsenverhältnisse geltend gemacht wurden. Beruht die Erkenntnis der Tiefe und damit die Schätzung der wirklichen Gröfsenverhältnisse, allgemein gesagt, auf Erfahrung, so ist sie eine Sache, die gelernt werden muTs; und soll sie den Zwang der Wahrnehmung überwinden, so mufs sie nicht nur gelernt, sondern in dem Grade eingeübt sein, dafs sie sich ebenso unmittelbar aufdrängt und die gleiche, ja eine gröfsere zwingende Kraft besitzt als die Wahrnehmung. Nur unter dieser Voraussetzung können wir glauben wahr- zunehmen, was wir nicht nur nicht wahrnehmen, sondern was zur thatsächlichen Wahrnehmung im Gegensatz steht. Nebenbei bemerkt, täusche ich mich nicht darüber, dafs auch unter dieser Voraussetzung in der Überwindung des Zwanges der Wahrnehmung durch das Urteil noch ein Problem liegt.

Die RaumanacJumung und die Augenbewegungen, 151

Schon, worin diese Überwindung eigentlich bestehe, ist eine wichtige und nicht so einfache psychologische Frage. Darauf aber kann hier nicht eingegangen werden. Uns genügt, dafs die Überwindung stattfindet.

Wir pflegen nun, wenn uns an der Erkenntnis der wirk- lichen Lage, Form und Gröfse eines sichtbaren Objektes gelegen ist, dasselbe nach Möglichkeit in der ungezwungensten und für uns bequemsten Stellung der Augen zu betrachten. Man kann diese Stellung als Primärstellung oder Primärlage des Auges bezeichnen. Dabei denke ich aber an eine Primär- lage des Doppelauges, wie ich überhaupt hier das Sehen, das von vornherein ein doppeläugiges ist, auch von vom herein als solches betrachte. Dafs diese Primärlage keine ab- solut fixierte oder fixierbare ist, thut hier nichts zur Sache. Ebenso spreche ich von einem binokularen „Hauptblick- punkt", wenn ich den Punkt, den wir bei solcher Lage des Doppelauges, also bei ungezwungen „gerade aus" gerichtetem Blick, fixieren, als „Hauptbückpunkf* bezeichne. Handelt es sich um genaue Betrachtung einer geraden Linie, so suchen wir zwar nicht successive jeden, wohl aber einen, oder bei gröfserer Länge der Linie, nacheinander mehrere Punkte der Linie zu Hauptblickpunkten zu machen, um von da aus das Auge nach den Seiten zu wenden.

Daraus folgt, dafs die Konvergenzempfindungen, die dem Hauptblickpunkt und den ihm benachbarten Punkten entsprechen, oder die Konvergenzempfindungen, die wir bei der in bequemster Stellung der Augen vollzogenen und den davon nicht allzuweit abweichenden Fixationen gewinnen, zu besonders sicheren Zeichen der Tiefe werden oder geworden sein müssen. Und daraus wiederum ergiebt sich, unter welcher Voraussetzung wir bei der in der Mitte starr fixierten geraden Linie dem Schein der Krümmung nicht oder in besonders geringem Mafse be- gegnen werden. Dann nämlich, wenn der fixierte Punkt zu- gleich der Hauptblickpunkt ist oder ihm nahe steht und die Linie keine allzu lange gestreckte ist. Es ist dann vielmehr Grund zu einem besonders sicheren Bewufstsein der Tiefenlage der einzelnen Punkte der Linie und damit zu einem besonders mcheren Bewufstsein der Form der Linie.

Es kann nun aber der Schein der Krümmung auch ent- stehen, wenn die gerade Linie weder ganz noch zum Teile

152 ^- Lipps.

indirekt gesehen, sondern durchaus mit dem Blick verfolgt wird, sei es ohne, sei es mit Zuhilfenahme der Drehung des Kopfes. Es ist dazu nur erforderlich, dafs die Linie eine ge- nügende Länge besitze und genügend weit nach rechts oder links, nach oben oder unten vom Auge hinweg sich erstrecke. Dafs ich mich dem Schein der Krümmung unter dieser Voraus- setzung nie entziehen kann, daran mag meine Kurzsichtigkeit mit Schuld sein. Die Gesetze der Augenbewegung sind dämm doch bei mir keine anderen. Wohl aber ergiebt sich aus solcher Kurzsichtigkeit eine geringere Bestimmtheit der bino- kularen Fixation, also eine geringere Sicherheit des Tiefen« bewufstseins.

Li solcher geringeren Sicherheit des Tiefenbewufstseins hat aber hier, wie in den oben erwähnten Fällen, der Schein der Krümmung seinen Grund. Genauer ist der Grund ein doppelter. Die Tiefenunterschiede wachsen bei der Geraden, die sich nach rechts oder links, oben oder unten vom Auge entfernt, rascher und rascher. Nun schliefst, wie wir wissen, das Bewufstsein gröfserer Tiefenunterschiede eine gröfsere Korrektur der wahrgenommenen Gröfsenverhältnisse in sich. Und dieser gröfseren Korrektur begegnet ein entsprechend gröfserer Widerstand seitens der Wahrnehmung. Sie vollzieht sich also schwerer und unter im übrigen gleichen Umständen unvollkommener.

Dazu kommt dann das vorhin schon herangezogene Moment der Unterschied hinsichtlich des Grades der Einübung. Wir haben zunächst Gelegenheit gehabt uns von Tiefen und Tiefen- verhältnissen, und damit von wirklicher Gröfse und wirklichen Gröfsenverhältnissen zu überzeugen bei geringen oder mittleren Tiefen und Tiefenunterschieden, also geringerer oder mittlerer perspektivischer Verkleinerung oder Verkürzung. Ich sah von einem Standorte S aus einen Menschen vor mir in einer Ent- fernung von 6 m, einen anderen gleich grofsen in einer Ent- fernung von 3 m. Diese Entfernungen waren mir bekannt oder konnten es werden. Ich hatte vielleicht unmittelbar vorher die Entfernung des einen und des anderen vom Standorte 8 von einem anderen, nämlich seitlichen Standorte aus wahr- genommen und beide in unmittelbarer Wahrnehmung mit- einander verglichen. Indem ich dann die Vorstellung dieser vorher gesehenen Entfernungen mit den Konvergenzempfin-

Die Baumanschauung und die Äugenhewegungen, 155

düngen verknüpfte, die ich hatte, wenn ich nachher von 8 aus erst den einen, dann den anderen betrachtete, wnrden die Kon- vergenzempfindungen zu unmittelbaren Zeichen der Entfernungen und des Entfemungsunterschiedes. Zugleich und in gleicher Weise konnten sie zu Zeichen des wirklichen Gröfsenverhält- nisses werden. Auch dies hatte ich ja Gelegenheit unmittelbar wahrzunehmen; ich hatte vielleicht vorher schon dieselben beiden Menschen in gleicher und als gleich erkannter Ent- fernung gesehen und verglichen. Wiederum verknüpfte ich das Ergebnis mit den Konvergenzempfindungen, die ich nachher von S aus hatte. Ich wufste so in Zukunft aus unmittelbarer Erfahrung , dafs die an Gröfse ver- schiedenen, nämlich in ihrer linearen Ausdehnung wie 1 : 2 sich verhaltenden Gesichtsbilder unter Voraussetzung dieser bestimmten Verschiedenheit der Konvergenzempfindungen gleich grolse Objekte bedeuteten, die nur das eine doppelt so weit wie das andere vom Auge entfernt waren ; vielmehr: ich deutete ohne weitere Reflexion und blind dem Zwange der Vorstellungs- verknüpfung folgend, das, was ich sah, in meinen Gedanken in diesen erfahrungsgemäfsen Thatbestand um; ich that dies nm so sicherer, je fester auf Grund der unmittelbaren Erfah- rung diese oder eine gleichartige Vorstellungsverbindung sich hatte knüpfen können.

Dagegen haben wir bei gröfseren Entfernungen und Ent- femungsunterschieden zu solcher unmittelbaren Erfahrung, darnm zur unmittelbaren Knüpfung solcher Vorstellungsverbin- dungen keine oder wenig Gelegenheit gehabt. Wir sind, um gleich ein extremes, aber darum wohl um so einleuchtenderes Beispiel zu wählen, niemals in der Lage gewesen, die Entfernung zwischen dem Monde und unserem Auge bezw. der Stelle, wo sich unser Auge in einem gegebenen Momente befand, in einem vorangehenden oder folgenden Momente von der Seite, also vom Welträume aus wahrzunehmen und in der unmittelbaren Wahrnehmung mit einer uns bekannten Entfernung zu ver- gleichen; und wir haben nie das wirkliche Gröfsen Verhältnis des Mondes und eines irdischen Gegenstandes, d. h. das Ver- hältnis der Gröfse, wie es sich bei gleicher Entfernung vom Auge darstellen würde, unmittelbar feststellen können. Weil es sich so nicht nur beim Monde, sondern auch bei sehr viel näheren Objekten verhält, darum konnten die Tiefenzeichen, insbeson-

154 Th, lApps.

dere die Konvergenzempfindungen, die gröfseren Entfemangen vom Auge entsprechen, nicht auf Grund unmittelbarer Erfah- rung zu Zeichen dieser Entfernungen und der ihnen ent

sprechenden wirklichen Gröfsen werden. Sie mufsten dazu— werden, soweit sie es geworden sind, in indirekter Weise, d. h_ nach Analogie der Zeichen für relativ geringe Entfemunge und entsprechende Gröfsen und Gröfsenverhältnisse. Diese Analogie nimmt aber notwendig an Sicherheit ab, in dem Mafse als die Entfernungen wachsen.

So haben wir denn auch in der That, wenn jetzt ei

Mensch 6 m, ein anderer 3 m von uns entfernt steht, von de Entfernungsverhältnis ein unmittelbares Bewufstsein oder eine unmittelbaren Eindruck. Und damit ist von selbst der un- mittelbare Eindruck ihres wahren Gröfsenverhältnisses gegeben. Dagegen bleibt der unmittelbare Eindruck der Entfernung vom Auge und des Entfemungsunterschiedes hinter der Wirklichkeit um so weiter zurück, je gröfser beides in Wirklichkeit ist; und eben damit bleibt zugleich der Eindruck der wirklichen Gröfse und des wirklichen Gröfsenverhältnisses entsprechend hinter der Wirklichkeit zurück. Niemand wundert sich darüber und niemand macht dafür Gesetze der Augenbewegungen im WuNDTschen Sinne verantwortUch. Niemand beruft sich insbesondere auf Gesetze der Augenbewegungen für die Thatsache, dafs der Mond uns nicht so weit entfernt und so grofs erscheint, wie er ist, dafs uns die Differenz zwischen der Entfernung des Mondes und der Entfernung einer Wolke oder zwischen der Entfernung einer Wolke und der eines nahestehenden Baumes ver- ringert erscheint. Dann sollte man es doch auch unterlassen, diese Gesetze der Augenbewegung heranzuziehen in völlig gleichartigen Fällen, insbesondere bei der scheinbaren Krüm- mung langgestreckter gerader Linien. Auch hier wachsen die Entfernungen und Entfernungsunterschiede. Auch hier müssen die gröfseren Entfernungen und Entfemungsunterschiede unter- schätzt werden. Unterschätze ich aber die Entfernung des äufsersten Endes einer geraden Linie im Vergleich mit der Entfernung näher gelegener Punkte, so heifst dies doch wohl, dafs ich die gerade Linie an ihrem Ende gegen das Auge her- gekrümmt zu sehen meine.

Bei geraden Linien oder Flächen , die sich irgendwie seitlich vom Auge weg erstrecken, läfst sich schliefslich für die

Die BaumanscJiauung und die Augenbewegungen, 155

Unsicherheit des BewuTstseins der Tiefen- und wirklichen Gröfsen- verhältnisse noch ein besonderer Grund hinzufügen. Je weiter m sich seitlich erstrecken, um so spitzer ist der Winkel, den sie mit der Blicklinie einschliefsen. Wir pflegen aber Linien and Flächen, bei denen uns an der Erkenntnis ihrer Lage zum Auge und ihrer wirklichen Gröfsenverhältnisse gelegen ist, nicht in allzu spitzem Winkel zu betrachten. Wir vermeiden dies eben darum, weil der Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit bei solcher spitzwinkligen Betrachtung sich verschärft, also die Erkenntnis der wirklichen Lage und Gröfsen- verhältnisse sich erschwert. Es geschieht darnach relativ selten, dals wir die wahrgenommenen Gröfsenverhältnisse von Linien und Flächen, die zur Blicklinie in sehr spitzem Winkel geneigt «ind, in die wirklichen Gröfsenverhältnisse übersetzen. Die Folge ist, dalfl wir auf solche Übersetzung in geringerem Mafse eingeübt sind, also sie mit geringer Sicherheit vollziehen, dafs denmach der Zwang der Wahrnehmung, der hier ohnehin schon die Schätzung der wirklichen Gröfsenverhältnisse stärker als sonst beeinträchtigt, noch mehr Gewalt gewinnt.

Wenden wir uns jetzt zu den besonderen, den Schein der ICrümmung betreffenden Fragen, die wir im bisherigen offen- gelassen haben. Zunächst, was die in der Mitte fixierte Gerade angeht. Dem Bewufstsein der Geradlinigkeit stehen hier wie überall entgegen die wahrgenommenen Gröfsenverhält- nisse. Angenommen nun, wir betrachten eine solche gerade Linie völlig für sich, d. h. obne sie in Gedanken auf irgend etwas aufser ihr zu beziehen. Dann kommen nur die Gröfsen- verhältnisse innerhalb der Linie selbst, also die Gröfsenverhält- nisse ihrer Teile in Betracht. Die Wahrnehmung dieser Gröfsenverhältnisse steht zur Wirldickeit im Gegensatz, und dieser Gegensatz mufs überwunden werden, wenn das Bewufst- sein der Geradlinigkeit entstehen soll. Dieser Gegensatz aber ist ein geringer bei kürzeren geraden Linien. Er besitzt in jedem Falle, da die Teile nicht abgegrenzt gegeben sind, sondern ineinander fliefsen, keine allzu grofse Aufdringlichkeit. Ist die Linie eine längere, so vermindert aufserdem das indirekte Sehen zunächst zwar die Sicherheit des Tiefen bewufstseins, zugleich

Iaber auch die Bestimmtheit der Wahrnehmung. Und soweit dies letztere der Fall ist, kommt dann auch noch ein Umstand in Betracht, der sonst aufserhalb unserer Betrachtung liegt, der

I

156 Th, Upps,

umstand nämlich, dafs die gerade Linie nicM ans optischen Gründen, sondern an sich einen Vorzug hat, daüSs wir sie als die zwischen entgegengesetzten MögUchkeiten in der Mitte stehende, darum der Vorstellung nächstliegende oder natürlichste, aufserdem uns geläufigste anzunehmen von vornherein in ge- wissem Mafse geneigt sind.

So scheint es mir denn nicht verwunderUch, wenn die in der Mitte fixierte gerade Linie unter der angegebenen Voraus- setzung keinen bestimmten Eindruck der Krümmung macht. Ja wir können es verstehen, dafs es gelingt, auch solche Linien, die keine Geraden sind, aber auch gegen die Deutung als Gerade nicht allzu energischen Protest erheben, so etwa die Ver- bindungslinie mehrerer einem gröfsten Kreis des Himmels- gewölbes angehöriger Sterne, unter der gleichen Voraussetztmg als gerade Linien zu betrachten. Wir thun es, so könnte man kurz sagen, weil diese Annahme die einfachste ist.

Anders verhält sich nun aber die Sache, wenn es einen Punkt auTserhalb der geraden Linie giebt, auf den ich die Linie beziehen und an dem ich ihre Form messen kann. Nicht nur die Gröfsenverhältnisse in der Linie selbst, sondern die Gröfsenverhältnisse der Abstände jenes Punktes von den Punkten der Linie sind dann die Träger des Gegensatzes zwischen der Wahrnehmung und dem Bewufstsein der Geradlinigkeit. Diese Abstände sind nebeneinander bestehende, in sich abgegrenzte, untereinander vergleichbare. Gewifs mufs der Gegensatz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, der hier sich geltend macht, eben deswegen als der wirkungsvollere gedacht werden, so dafs es kein Wunder ist, wenn uns die Krümmung der geraden Linie vorzugsweise, sofern sie Krümmung gegen einen solchen Punkt ist, sich aufdrängt, und die Krümmung gegen das Auge, als solche, oder abgesehen davon, dahinter zurücktritt.

Damit gelangen wir aber zu der oben bezeichneten Schwierigkeit zurück. Die Krümmung gegen das Auge hin, so sahen wir, ist ebensowohl eine Krümmung nach oben wie nach unten, oder ebensowohl eine Krümmung nach rechts wie nach links. Sie scheint darnach jedesmal weder das Eine noch das Andere sein zu können. Diese Schwierigkeit nun löst sich, wenn wir bedenken, dafs es sich hier nicht um eine wirkliche Krümmung, sondern um den Eindruck einer solchen handelt,

f

JDie Baumanschauung und die Äugenbewegungen. 157

dafs es also darauf ankommt, ob ein Punkt da ist, an welchem

wir die £[rümmung nicht nur messen können, sondern thatsäch-

licher- und natürlicherweise messen. Als Krümmung nach

diesem Punkte hin wird uns die Krümmung gegen das Auge

erscheinen müssen und einzig erscheinen können

Dieser Punkt nun kann in einem gegebenen Falle kein Anderer sein, als derjenige, mit Bezug auf den wir überhaupt xtnter den obwaltenden Umständen die Lage von Punkten im Baume bestimmen. Und ein solcher Punkt besteht jeder- zeit, wenn er auch nicht immer gleich eindeutig bestimmt ist. TVir können ihn kurz bezeichnen als den Mittelpunkt für unsere Betrachtung der Teile des Baumes und unsere Bestimmung der Lage derselben. Es ist der Punkt, der weder rechts noch links, weder oben noch unten liegt, weil von ihm aus das Bechts, Links, Oben, Unten sich bemifst.

Dieser Eaummittelpunkt ist aber nicht immer derselbe. Einen natürlichen Anspruch, als solcher zu fungieren, hat zunächst ohne Zweifel der Punkt, den wir bei beliebiger Kopfhaltung in natür- lichster und ungezwungenster Stellung der Augen fixieren, also der „Hauptblickpunkt". Dafs dieser Punkt wirklich zugleich als Mittelpunkt der scheinbaren Krümmungen gerader Linien fungiert, davon überzeugen wir uns leicht. Ich betrachte in der Nacht vom Fenster meiner Wohnung aus in direktem Sehen eine gerade Reihe von Gasflammen, die sich mir gegenüber auf der anderen Seite der breiten Strafse befindet. Ich thue dies zunächst so, dafs der Hauptblickpunkt in die Mitte der Licht- Knie föUt. Bei dieser Art der Betrachtung erscheine mir die Lichtlinie wirklich als eine gerade. Nun hebe ich den Kopf, rücke also den Hauptblickpunkt nach oben. Durchlaufe ich nun die Lichtlinie mit dem gewaltsam abwärts gekehrten Blick, so scheint sie mir deuthch nach oben konkav. Sie er- scheint mir ebenso uach unten konkav, wenn ich den Kopf senke und mit gewaltsam gehobenem Blick die Lichtlinie fixierend durchlaufe. Der Erfolg ist derselbe, als wenn ich jedesmal den Hauptblickpunkt zum Fixationspunkt machte, und so die Lichtlinie indirekt betrachtete. Die Krüm- mung erscheint nur bei der indirekten Betrachtung stärker, soweit ich nämlich überhaupt die Lichtlinie indirekt zu be- trachten vermag.

Aber nicht unter allen Umständen ergiebt sich ein solcher

158 Th. Lipps.

Erfolg. Der ganze eben bezeichnete Sachverbalt wird ein anderer, wenn ich auf die Strafse herabsteige und mich in genügende Nähe der Laternen, also unter einer der Gasflammen aufstelle. Jetzt scheint mir bei ungezwungenster Betrachtung die Reihe der Flammen nicht mehr in gerader Linie sich zu er- strecken, sondern nach beiden Seiten herabzusinken, und dabei bleibt es, selbst wenn ich meinen Kopf nicht allzu hoch erhebe und mit abwärts gewandtem Blick die Beihe durchlaufe. Ähnliches gilt, wenn ich ein lang gestrecktes eisernes Gitter, dessen vertikale Stäbe durch eine fortlaufende horizontale Stab- linie über und eine ebensolche unter der Höhe der Augen ver- bunden sind, aus genügender Nähe betrachte. Auch hier scheint die obere Stablinie nach den Enden zu abwärts gekrümmt, nicht blofs, wenn ich einen Punkt der Mitte zwischen beiden horizontalen Linien, sondern auch wenn ich einen höher ger- legenen Punkt zum Hauptblickpunkt mache. Ich mufs den Kopf schon ziemlich hoch erheben, wenn es mir gelingen soll, die Krümmung der Enden nach unten in eine solche nach oben umschlagen zu lassen. Andererseits erscheint mir die untere Stablinie, auch wenn ich einen Punkt derselben zimi Haupt- blickpunkt mache, nach oben konkav. Endlich habe ich, wenn ich auf einer breiten und geraden Strafse stehe und nach beiden Seiten die Strafse entlang blicke, den deutlichen Eindruck, dafs die Begrenzungslinien bei einer Allee die ßaumreihen sich nach beiden Seiten wechselseitig einander nähern, also im ganzen zu einander konkav sind ; und wiederum ist es dabei relativ gleichgültig, wo mein Hauptblickpunkt sich befinden mag. Gleichzeitig scheint mir die Strafse deutlich nach beiden Seiten anzusteigen, also im ganzen nach oben konkav.

Wir schliefsen aus solchen Thatsachen, dafs der Haupt- blickpunkt zwar der Mittelpunkt unserer Baumbestimmungen sein kann, aber nicht zu sein braucht. Dies leuchtet aber auch ohnehin ein. Der Hauptblickpunkt ist ein natürlicher, aber nur subjektiver, idealer Mittelpunkt unserer Eaimibetrachtung. Mit ihm tritt bald mehr bald weniger in Wettstreit der objektive oder reale d. h. durch reale räumliche Verhältnisse bedingte Mittelpunkt der Baumbetrachtung. Derselbe ist wiederum doppelter Art: Er ist bestimmt durch meine reale Stellung zu Objekten, oder durch das Verhältnis der Objekte bezw. ihrer Teile zu einander. Die Beihe von Gasflammen, vor der ich

Die BaumansclMuung und die Äugehbewegungen. ]59

Qimiittelbar stehe, tritt zu mir d. h. zn meinem Körper und speziell meinem Auge in bestimmte reale Beziehung. Mag sie unter dem Hauptblickpunkt sein oder nicht, in jedem Falle ist sie über mir, also ihre Krümmung gegen mich her eine Krüm- mung nach unten. Dabei kommt offenbar nicht blofs die Nähe in Betracht, sondern zugleich der Umstand, dafs die Fufsboden- ebene, d. h. der Boden der Strafse, auf dem ich stehe, und "^ber dem sich die Seihe der Flammen hinzieht, ein direktes^ föUbares, zugleich in besonderem Malse geläufiges Verbindungs- glied bildet für die Herstellung jener gedanklichen Beziehung zwischen der Flammenreihe und meinem Körper.

Dagegen beziehe ich die weiter entfernte und von einem dem Erdboden entrückten Standorte aus betrachtete Lichtlinie nicht in solcher Weise körperlich auf mich. Jenes körperliche Oben und Unten ist wegen der gröfseren Entfernung, und weil die unmittelbare Verbindung durch den Erdboden fehlt, für mich relativ aufgehoben. An die Stelle des realen Standortes tritt der ideale d. h. eben der Hauptblickpunkt. In ihn ver- setze ich mich, mich selbst oder den Ort, wo ich stehe, relativ vergessend oder aufser acht lassend, um von dort aus die Form der Linie zu bemessen. So sagt es mir nicht irgend- welche Reflexion, sondern mein unmittelbarer Eindruck.

Wiederum anders verhält es sich bei dem Gitter und der Strafse. Sie sind einheitliche Objekte und haben als solche ihren realen Mittelpunkt in sich selbst. Indem ich sie als solche erkenne, anerkenne ich zugleich in meiner Betrachtung diesen Mittelpunkt, beziehe also die Teile auf ihn und bemesse ihre Form mit Rücksicht darauf. Ich mufs ihren realen Mittel- punkt geflissentlich aufser acht lassen, wenn es mir gelingen »oll, den Hauptblickpunkt zum Mittelpunkt für die Bemessung oder Beurteilung der Büümmung zu machen. Freilich lasse ich ihn aber um so leichter aufser acht, je mehr ich ihn aus dem ^Auge" verliere, und dies geschieht, wenn ich den Hauptblick- pimkt genügend weit entferne.

So ist der Mittelpunkt für die Betrachtung der Objekte und die Bemessung ihrer Lage und Form ein sehr veränder- licher Punkt und eben damit das Bewufstsein der Krümmung ein sehr wechselndes. Es ist in jedem Falle bedingt nicht durch Gesetze der Augenbewegung, sondern durch meine Art der Auffassung. Schliefslich kann ich es dahin bringen, dafs

160 ^. I^P9-

mir dieselbe Linie von demselben Standort ans naobeinande nacb oben, nach nnten, und weder nach oben noch nach nnt» gekrümmt erscheint. Mehrere einem gröfsten Eüreise des Himmek gewölbes angehörige Sterne erscheinen mir, wie ich oben sagt« in einer geraden Linie, wenn ich einen derselben fixiere na die Beihe nach Möglichkeit fiir sich betrachte. Das Letztei wird vorzugsweise dann gelingen, wenn der fixierte Punkt zm gleich Hauptblickpunkt ist. Beim Schein der Q-eradlinigkea nun bleibt es auch, wenn ich mit Festhaltung des Hauptbuch punktes die Sterne nacheinander fixiere. Ich kann aber de Schein der Geradlinigkeit auch aufheben, vor allem wenn M Linie eine recht lange ist. Ich brauche nur mir meine Ste lung auf dem Erdboden, die Oberfläche der Erde, den Horizo^ recht deutlich zu vergegenwärtigen und die Sternenreihe darau zu beziehen; und sie erscheint mir nach unten konkav. S erscheint mir nach oben konkav, wenn ich dies alles verges und meine Aufmerksamkeit auf den Zenith richte, in ihn mic versetze oder „verliere" und darauf die Sternenreihe bezieb^ Natürlich ist hierbei eine mittlere Lage der Sterne zwischei Horizont und Zenith vorausgesetzt.

m. Tiefen- und Gröfsenschätzungen.

Der Schein der Krümmung gerader Linien ist ein speziellei Fall der Unterschätzung grofser Tiefen und Tiefenunterschiede Lediglich ein Stück dieses Scheins ist die scheinbare Verschie- bung des Papierstreifens, von der oben die Rede war. Das selbe kann auch gesagt werden von den Täuschungen über di< Lage und Gröfse von Flächen, die wir unter sehr spitzen Winkel betrachten. Betrachte ich ein Rechteck, dessen länger Seiten sich von mir hinweg erstrecken, also im Sehfeld vertika liegen, in immer spitzerem Winkel, so scheint sich seine vertikal Ausdehnung mehr und mehr zusammenzuschieben. Es witi für meinen unmittelbaren Eindruck zum Quadrat, dann zi einem Rechteck mit verhältnismäfsig immer gröfserer Breitec ausdehnung. Das letzte Ende ist, dafs es als einfache horizon tale Linie sich darstellt. In diese Linie aber geht es allmählicl über, also so, dafs es alle Zwischenstufen der scheinbaren verti kalen Ausdehnung durchläuft. Diese stärkere und stärkere Unter schätzungder vertikalen Ausdehnung ist eine natürliche Folge de stärkeren und stärkeren Unterschätzung des Tiefenunterschiede

Die BaumanscJiouung und die Augenbewegungen. 161

der dem Auge näheren und der von ihm entfernteren Punkte. Dafs eine solche Unterschätzung stattfindet, beobachten wir auch unmittelbar. Liegt das Bechteck horizontal, ist es etwa das Bechteck einer Tischplatte oder eines auf dem Tische liegenden £aches, so scheint es bei genügend schräger Betrachtung nicht mehr horizontal zu liegen, sondern von mir hinweg anzusteigen. In der That mufs das Bechteck ansteigen, wenn der unterschied xwisehen der Entfernung des vorderen und hinteren Bandes der Tischplatte oder des Buches sich vermindert.

Hier ist nun auch der Ort, wo wir das scheinbare Ansteigen der FuTsbodenebene gegen den Horizont hin erwähnen können. VüNDT erklärt dasselbe daraus, dafs wir den Blick „heben", irenn wir die Fufsbodenebene in dieser Richtung durchmessen. Hierbei tritt uns noch einmal das Bedenkliche der Augen- bewegungstheorie deutlich entgegen. Wie die grölsten Kjeise, die der Blickpunkt beschreibt, so ist auch die Hebung des Blickes ein leerer Begriff, wenn wir nicht, was dadurch erklärt werden soll, bereits voraussetzen. An sich betrachtet, ist diese Hebung nichts als eine besondere Art der Augen- drehong, die ebensowohl als Hebung wie als Senkung bezeichnet werden kann, weil sie in Wirklichkeit keines von beiden ist. Sie besteht für unser Bewufstsein in qualitativ eigenartigen Muskel- und Tastempfindungen, die, an sich ohne Beziehung zum Oesichtsraum, erst auf Grund der Erfahrung eine solche ge- winnen können. Die Augendrehung, die wir als Blickhebung bezeichnen, wird für uns eine solche, wenn wir wissen, dafs Objekte, über die der Blick bei dieser Drehung hingeht, an- steigen oder sich „erheben". Davon abgesehen, hat der Name keinen irgend angebbaren Sinn.

Vielleicht aber nimmt Wundt an, die fragliche Drehung des Auges habe ihre Beziehung zum Gesichtsraum für uns schon gewonnen, sei also schon als Blickhebung erkannt, nur auf Grund der Betrachtung anderer Objekte. Wir haben, 80 führe ich diesen Gedanken näher aus, aufgerichtete und als aufgerichtet erkannte Gegenstände zum öfteren fixierend durch- laufen und dabei mit der betreffenden Augendrehung die Vor- stellung der aufrechten Lage verknüpft. Nachdem diese Vorstellungsverknüpfung einmal da ist, wirkt sie auch bei Betrachtung thatsächlich horizontaler Flächen und lä&t sie uns der aufgerichteten Lage wenigstens angenähert erscheinen.

Ztitiehrift fOr Psychologie HI. 11

162 Th, Lipps.

Indessen diese Wendung würde die Sache niclit bessern. Es bliebe aucb hier die Frage, wie es denn komme, dafs wir nicht alle Flächen, zu deren Durchmessung eine „Blickhebung** erforderlich ist, d. h. schliefsllch alle Flächen überhaupt, als ansteigend betrachten. Warum etwa scheint die Tischplatte, die ich von oben betrachte, als rein horizontal, auch in der Richtung, in der ich sie vermöge genau derselben Bewegung des Auges betrachte, die zur Betrachtung der Fufsbodenebene erforderlich ist? Und „hebe" ich denn nicht auch den Blick, wenn ich auf einem Turme stehend den Blick an den Wänden des Turmes heruntergleiten " lasse. Hier bezeichne ich die „Hebung** als ein „Heruntergleiten" ; gewifs darum, weil ich weifs, dafs das vom Blick durchlaufene Objekt von oben nach unten sich erstreckt. Nun, genau in derselben Weise kommen wir dazu, in anderen Fällen genau dieselbe Bewegung als Blick- hebung zu bezeichnen. Darnach ist kein Zweifel: die Augen- bewegungstheorie vollzieht auch hier die für sie charakteristische Eieisbewegung : das Ansteigen der Fufsbodenebene beruht darauf, dafs die Fufsbodenebene ansteigt. Die Augenbewegung thut hier, wie sonst, nichts zur Sache.

Dagegen ist für uns das scheinbare Ansteigen der Fufsboden- ebene wiederum eine selbstverständliche Folge der Unter- schätzung von Tiefen und Tiefenunterschieden. Nicht die nächsten, wohl aber die entferntesten Teile der Fufsbodenebene werden unter sehr spitzem Winkel betrachtet. Dazu kommt die absolute Gröfse der Entfernung der entferntesten Punkte vom Auge. Zum mindesten die Unterschätzung dieser Ent- fernungen giebt doch wohl jeder zu. Damit ist aber der Schein des Ansteigens der Fufsbodenebene unmittelbar gegeben.

Zum Uberflufs wird unsere Anschauung noch dadurch be- stätigt, dafs der Schein des Ansteigens sich verstärkt, wenn man die Fufsbodenebene von erhöhtem Standort, etwa von einem niedrigen Hügel aus betrachtet. Vor allem bei Wegen, die in der Fufsbodenebene vom Beschauer sich hinwegerstrecken, ist der Eindruck ein deutlicher. Dies nun hat offenbar seinen Grund darin, dafs von solchem Standort aus dem auf die fer- neren Teile der Ebene gerichteten Blick die in der Nähe be- findlichen Teile und Objekte der Fufsbodenebene in höherem Mafse entrückt sind, der Blick also freier durch den leeren Baum geht. Solchem frei durch den leeren Baum gehenden Blick

Die Baumanschauung und die Äugenbeweffungen, 163

erscheinen aber, wie wir wissen, Entfernungen geringer, als sie dem Blick erscheinen, der auf seinem Wege allerlei hinsichtlich ihrer Gröfse bekannte Gegenstände streift. Und wir begreifen, warum es so sein mufs. Eben dafs die zwischen dem Auge und dem entfernten Punkte befindhchen Gegenstände ihrer Gröfse nach bekannt sind, verhindert, dafs die Entfernung für unsere Schätzung allzusehr zusammenschrumpft. Es ist dies der Grund, warum uns der Mond im Zenith näher erscheint, als im Horizont. Kein anderer Grund besteht für das scheinbar stärkere Ansteigen der Fufsbodenebene bei der Betrachtung von höherem Standort.

Analog wie mit horizontalen, verhält sich es nim auch mit vertikalen Flächen. Auch die sehr hohe vertikale Turmwand, die ich von unten aus betrachte, nähert sich in ihren oberen Teilen scheinbar dem Auge, macht also den Eindruck des Überhängens. Da hier eine besonders starke „Blickhebung*' erforderlich ist, so müfste der Augenbewegungstheorie zufolge vielmehr der Eindruck des sich Aufrichtens besonders stark sein. EndHch gehört hierher eine Gattung optischer Täuschungen, &af die Münsterberg aufmerksam macht, und an deren Existenz ich nach eigenen Versuchen nicht zweifeln kann. Wenn ich zwei zur Medianebene des Kopfes symmetrisch gelagerte florizontallinien von nicht zu geringer Länge vor mir habe und bei ruhiger Kopfhaltung bald mit dem einen, bald mit dem anderen Auge betrachte natürlich aus einer Entfernung, aus der ich überhaupt längere Linien in solcher Weise be- trachten kann , so finde ich, dafs ich bei Betrachtung mit dem rechten Auge die linksliegende, bei Betrachtung mit dem linken die rechtsliegende der beiden Linien unterschätze. MüNTsERBERG erklärt dies Phänomen mit weiterer Ausbildung der WüNDTschen Theorie durch eine eigens zu dem Zweck an- genommene, im übrigen noch nicht näher bekannt gewordene jjSynergie" beider Augen. Da auch MOnsterberg dieselbe nicht näher zu beschreiben weifs, so ist sie ein Wort. Eine wirk- liche Erklärung ergiebt sich leicht, wenn ich eine der beiden Linien, also die linke oder rechte, abwechselnd mit dem linken und rechten Auge betrachte. Noch besser ist es, wenn ich die Linien durch Flächen ersetze. Ich betrachte etwa zwei an der Wand hängende und sich deutlich von der Wand abhebende Bilder, die so weit voneinander entfernt sind, dafs ich, vor der

164 Th. Lipps.

Mitte derselben stehend, eben noch ohne Bewegung des Köpfet das linke mit dem rechten, das rechte mit dem linken Auge übersehen kann. Ich finde dann, ebenso wie andere, dafs die Fläche des linken Bildes bei rechtsäugiger Betrachtung nicht nui deutlich schmäler erscheint, sondern zugleich in sehr auffallende] Weise mit ihrem vom Auge entfernteren Bande aus der Ebene der Wand herauszutreten, also sich schräg zu stellen scheint Die Fläche tritt wiederum relativ in die Ebene der Wand zurück und wird zugleich breiter, wenn ich sie gleich darau] mit dem linken Auge betrachte. Dasselbe beobachte ich beim rechten Bilde, wenn ich es erst mit dem linken, dann mit dem rechten Auge betrachte.

Damach liegen auch hier verschiedene Schätzungen von Tiefenimterschieden vor. Mit ihnen sind wiederum die ver- schiedenen Gröfsenschätzungen ohne weiteres gegeben. Ich unterschätze die Unterschiede der Tiefe oder Entfernung vom Auge bei Betrachtung der Bildfläche mit dem von ihm ent- fernteren Auge, oder, was unter umständen das B>ichtigere ist, ich unterschätze sie in höherem Grade, als bei Betrachtung mit dem nät^ren Auge; damit unterschätze ich zugleich die zugehörige Gr^fse. Ich unterschätze aber den Tiefenunterschied, weil die Betrachtung mit dem entfernteren Auge unter spitzerem Winkel und unter der gemachten Voraussetzung unter sehr spitzem Winkel geschieht. Hinzukommen wird noch der Umstand, dafs sich uns bei doppeläugiger Betrachtung stark seitlicher oder stark nach der Seite sich erstreckender Distanzen gewifs vorzugsweise das Gesichtsbild des näheren Auges aufdrängt, also vorzugsweise dies Gesichtsbild für unsere Schätzung der wirklichen Lage und Gröfse den Ausgangspunkt bildet. Dann käme für jene Unterschätzung das Prinzip der geringeren Ein- übung noch in besonderer Weise in Frage.

Das Prinzip der „geringeren Einübung", oder das Prinzip, demzufolge wir die durch die Erfahrung geforderte Deutung und Umdeutung des WahmehmungsbUdes um so unvollkommener vollziehen, je weniger wir darauf eingeübt sind, bildet, so weit- tragend es nach dem Bisherigen ist, doch nur die eine Seite eines allgemeineren Prinzips. Die andere Seite ist gegeben in dem Prinzip, das von Hjblmholtz aufgestellt und allgemein mit dem Namen der „Gewohnheiten des Sehens" bezeichnet hat. In der Abhandlung über die ästhetischen Faktoren der S»aum-

Die Baumanschauung und die Ätigenbewegungen, 165

anschauung habe ich dies letztere Prinzip so formuliert: ^Sind y^rir in überwiegend vielen Fällen durch die Erfahrung genötigt gewesen, über eine wahrgenommene Eaumform ein bestimmtes Urteil zu fallen, etwa die Gröfse eines Gesichtsbildes auf be- stimmte Weise in die wirkliche Gröfse des gesehenen Objektes aBn übersetzen, so sind wir geneigt, dies Urteil oder diese Art der Übersetzung auch auf solche analoge Fälle zu übertragen, in denen die besonderen Gründe, die in jenen Fällen das Urteil veranlafsten und rechtfertigten, nicht statthaben, das Urteil also ein irriges ist."

Gemäfs dieser Formulierung könnten wir das Prinzip auch als Prinzip der Übertragung gewohnter Deutungen unserer Gesichtswahrnehmungen bezeichnen. Wie gesagt, bildet es nur die andere Seite des Prinzips, demzufolge imgewohnte Um- deut-ungen eines Wahmehmungsbildes hinter der Wirkhchkeit Kiu^ckbleiben. Beide liefsen sich zusammenfassen in ein Prinzip der gewohnheitsmäfsigen mittleren Deutung oder Schätzung. Darin wäre das Zurückbleiben hinter dem, was in einem ge- gebenen Falle von der Wirklichkeit gefordert ist, und das Darüberhinausgehen zugleich enthalten.

Dem bezeichneten Verhältnis der beiden Prinzipien ent- spricht es, dafs den Unterschätzungen, von denen wir her- kommen, jedesmal eine Überschätzung gegenübersteht. Es sind beide Male Gröfs'en derselben Art, nur die Bedingungen der erfahrungsgemäfsen Schätzimg oder Beurteilung sind andere geworden. Ich denke hier vor allem an die schon von v. Helm- HOLTz angeführten, aufserdem an einen von mir hinzugefügten, endUch an einen Fall, den neuerdings MOnstehberg festgestellt tat. Für die Augenbewegungstheorie bezeichnet jenes Neben- einander von Unterschätzung und Überschätzung einen unlös- baren Widerspruch. Sie hat denn auch nicht einmal den Versuch gemacht, ihn zu lösen.

Wir sahen zuletzt, dafs linke horizontale Distanzen bei rechtsäugiger, rechte bei linksäugiger Betrachtung unterschätzt werden. Bedingung war, dafs die Distanzen genügend weit seitlich sich erstreckten. Heben wir die Bedingung auf, be- trachten also kleinere und unmittelbar nebeneinander liegende Strecken, am besten die Hälfben einer nicht zu grofsen horizon- talen Linie, abwechselnd mit dem linken und rechten Auge, so verschwindet bekannten Untersuchungen zufolge jene Unter-

166 Th. Lipps.

Schätzung nicht nur, sondern schlägt in Überschätzung um. Welches das Moment ist, das diese entgegengesetzte Wirkung hervorbringt, hat von Helmholtz genügend deutlich gesagt. Das rechte Auge pflegt die linke Hälfte horizontaler Linien aus gröfserer Entfernung, also kleiner zu sehen, als das linke Auge. Wir deuten aber im doppeläugigen Sehen beide Gesichts- bilder auf ein einziges Objekt, vergröfsem also in Gedanken das Gesichtsbild, welches das rechte Auge von der linken Hälfbe der Linie gewinnt, im Vergleich mit dem linksäugigen Gesichtsbild derselben Hälfte. Ebenso vergröfsem wir das linksäugige Ge- sichtsbild der rechten Hälfte im Vergleich mit dem rechts- äugigen Gesichtsbild der gleichen Hälfte. Indem wir beides immer und immer wieder thun, bUdet sich eine entsprechende Gewohnheit aus. Diese Gewohnheit kommt dann auch bei ausnahmsweiser einäugiger Betrachtung zur Geltung. Die optische Täuschung, von der wir reden, beruht also auf ge- wohnheitsmäfsiger Übertragung oder Festhaltung des im doppel- äugigen Sehen gewonnenen und eingeübten Gröfsenurteils auf das einäugige Sehen.

Ebenso und aus völlig gleichartigem Grunde wird die Unter- schätzung grofser oder unter sehr spitzem Winkel betrachteter vertikaler, ich meine im Sehfeld vertikaler Distanzen, zur Über- schätzung, wenn diese Bedingungen wegfallen. Wir unter- schätzen die Höhe nicht eines sehr grofsen oder sehr stark geneigten, wohl aber eines kleinen und in gewöhnlicher Weise betrachteten Quadrats. Ich erinnere auch hier wiederum an VON HfiLMHOLTz' oder die im Prinzip damit übereinstimmende Erklärung meiner „Grundthatsachen des Seelenlebens": Die Oberfläche von Dingen, die wir betrachten, die Tischplatte vor mir, die Teile der Fufsbodenebene, Bilder an der Wand u. dgl. sind in überwiegend vielen Fällen zum Blick so geneigt, dafs sie sich in ihrer vertikalen Ausdehnung, also in der Bichtung der „Blickhebung'* dem Auge stärker verkürzt darstellen, als in ihrer Breitenausdehnimg. Wir müssen sie also, um ihre wahren Gröfsenverhältnisse zu erkennen, in Gedanken in dieser Richtung stärker vergröfsem. Es ist verständlich, wie daraus allgemein die Neigung einer stärkeren gedanklichen Vergröfse- rung vertikaler Distanzen sich ergeben kann.

Mit beiden genannten Fällen sind wir zugleich wiederum auf dem Gebiete angelangt, wo die Augenbewegungstheorie

Die Baumanschauung und die Augenbewegungen, 167

mit der gröfseren oder geringeren Schwierigkeit von Augen- bewegungen operiert. Was darüber im allgemeinen zu sagen ist, wurde gesagt. Hier möchte ich nur speziell darauf auf- merksam machen, dafs die gröfsere Schwierigkeit der Hebung des Blickes doch wohl nicht aufhört, wenn vertikale Distanzen sehr grofse werden.

WüNDT hält aber auch in beiden Fällen die HELMHOLTZsche Erklärung für den Thatsachen widersprechend. Ich verstehe nicht, mit welchem Bechte. Wir ziehen, so meint er, bei Betrach- tung eines Quadrates die Lage desselben jederzeit in Rechnung. Mit dieser Regel wird es seine Richtigkeit haben, soweit nicht eben die Gewohnheit des Sehens modifizierend eingreift. Der Sinn dieser Gewohnheit besteht doch eben darin, dafs Schätzun- gen, die bei gewisser Lage von Flächen am Platze sind, auch auf solche Fälle übertragen werden, bei denen diese Berechtigung fehlt. So werden die meisten Gewohnheiten von Hause aus ihre Berechtigung haben oder irgend welcher „Lage** angepafst gewesen sein. Ich gewöhne mich vielleicht an starke Getränke, weil mir solche meiner Gesundheit wegen verordnet worden sind; oder an überlautes Sprechen, weil ich Verkehr mit Halb- tauben hatte. Ich trank oder sprach überlaut zunächst mit Bücksicht auf diese „Lage** der Dinge. Habe ich mich aber einmal daran gewöhnt, dann thue ich es überhaupt. Mein Trinken oder lautes Sprechen wäre sonst eben kein gewohnheits- mäfsiges. Ohne Zweifel mufs, was hier möglich ist, auch bei unseren räumlichen Schätzungen möglich sein. Darum hat doch WuNDT in gewisser Weise Recht, wenn er meint, dafs wir bei Betrachtung eines Quadrates jedesmal die Lage desselben in Rechnung ziehen. Wir korrigieren das gesehene Höhen- und Breitenverhältnis zunächst mit Rücksicht auf seine Lage. Aber dazu kommt in jedem Falle die hiervon unabhängig entstandene Gewohnheit des Korrigierens hinzu, und verschiebt für unser Bewufstsein die Korrektur, die wir, nur durch das Quadrat selbst veranlafst, vollzogen haben würden.

Noch in anderem Sinne aber besteht eine Abhängigkeit zwischen der Schätzung der Höhe des Quadrates und seiner Lage. Die Gewohnheit des Sehens, um die es sich hier handelt, hat sich ausgebildet bei Flächen von bestimmter mittlerer Neigung zur Blicklinie. Wir haben die vertikale Ausdehnung der Flächen in Gedanken stärker vergröfsert als die Breiten-

168 Th. lApps.

ausdehnong, eben weil wir sie als zum Blick geneigte erkannten. Hat sich nun aus der Häufigkeit jener Vergröfserung eine (Je- wohnheit der Vergröfserung ergeben, so wird man erwarten dürfen, dafs zugleich und aus gleichem Grunde auch eine Qe- wohnheit entstanden sei, gleichartigen Flächen in Gedanken eine gewisse Neigung zu geben. Dies nun ist, soviel ich sehe, wirklich der Fall. Um mich davon zu überzeugen, klebe ich auf einen Spiegel einen schmalen Papierstreifen, halte den Spiegel so, dafs der Streifen im Sehfeld vertikal steht, und fixiere die Mitte des Streifens. Zugleich suche ich den Spiegel in solche Stellung zu bringen, dafs ich den Eindruck habe, die Fläche des Spiegels stehe zu meinem auf die Mitte des Streifens gerichteten Blick genau senkrecht. Ich bemerke dann leicht, dafs die Spiegelfläche in Wahrheit mit ihrem oberen Bande etwas gegen mich her gekehrt ist. Ich brauche nur auf das Spiegelbild meiner Augen zu achten; dasselbe befindet sich nicht unbeträchtlich über der Mitte des Streifens. Natürlich scheint mir dann die Spiegelfläche, wenn sie wirklich zur Blicklinie senkrecht steht, zu ihr nicht senkrecht zu stehen, sondern oben etwas zurückzuweichen. Ich überschätze also die Entfernung ihres oberen Bandes vom Auge oder gebe ihr in Gedanken eine geneigte Lage. Man sieht leicht, wie damit unsere Er- klärung der Überschätzung der Höhenausdehnung sich bestätigt. Die Überschätzung des Tiefenunterschiedes schliefst die Über- schätzung der Gröfse ohne weiteres in sich.

Doch darf ich hier auch nicht unterlassen zu bemerken, dafs zu dem hier angenommenen Grund der Überschätzung vertikaler Distanzen andere treten, und dafs es auch an gegen- wirkenden Faktoren nicht fehlt. So sehr ist dies der Fall, dafs nicht ausgemacht werden kann, wie weit die "Wirkung der be- zeichneten Gewohnheiten des Sehens reicht. Davon habe ich in der Arbeit über die „ästhetischen Faktoren der Raum- anschauung^ gesprochen. Hier genüge die Bemerkung, dals vermöge der "Wirkung dieser Faktoren die Höhe eines Quadrates in sehr verschiedenem Grade überschätzt und dafs sie auch wohl unterschätzt werden, dafs aufserdem das Quadrat alle möglichen scheinbaren Verschiebungen erleiden kann. Weil es so ist, so würde ich in dem hier in Bede stehenden Falle an jeder Wirkung der Gewohnheitendes Sehens zweifeln, wenn nicht jene Überstätzung des Tiefenunterschieds und aufserdem die Wirkung der Ge-

Die Baumanschauung und die Augenbewegungen, 169

wolmheiten des Sehens in analogen Fällen mich doch wiederum nötigte, daran zu glauben Dafs nicht jede kleinere vertikale Ausdehnung überschätzt wird., steht ja ohnehin fest. Der Kreis scheint uns nicht höher als breit.

Mit der Überschätzung der Höhe eines Quadrates hat zu- gleich die Überschätzung der oberen Hälften kleiner und in gewöhnlicher Art betrachteter vertikaler Distanzen soweit sie besteht und nicht wiederum aus ästhetischen Gründen in ilir Gegentheil umschlägt ihre Erklärung gefunden. Ich verweise dafür auf meine y^Chrundthatsachen des Seeienlebens^ und die oben erwähnte Schrift. Hier erinnere ich nur daran, dals auch diese Überschätzung in der Unterschätzung der oberen Hälfte gröfserer vertikaler Distanzen ihr Gegenstück hat. Wenn ich einen hohen Thurm von unten betrachte, so scheint sich die obere Hälfte vielmehr zusammenzuschieben.

Auch daran erinnere ich nur, dafs ich dieser Art der optischen Täuschungen ehemals eine neue, völlig analoge Art hinzugefügt und dafs ich dieselbe aus dem gleichen Prinzip abgeleitet habe. Wenn man eine horizontale Linie in drei gleiche Teile zu teilen versucht, so macht man in der Begel den mittleren Teil zu grofs. Man überschätzt also die seit- lichen Distanzen im Vergleich zur mittleren. Auch diese Überschätzung seitUcher Distanzen schlägt, wenn dieselben sehr weit nach der Seite sich erstrecken, in ihr Gegenteil um.

Dagegen verweile ich zum Schlüsse dieses Aufsatzes noch ^en Augenblick bei einer Art von Täuschungen, die Münster- BBRG aufgezeigt hat und die ich wiederum bei eigenen Ver- suchen bestätigt fand. Linke horizontale Distanzen werden ^on Münsterberg und ebenso von mir und anderen, die ich zur Schätzung aufforderte, gegen rechte überschätzt. Die Münster- BSResche Erklärung gründet sich wiederum auf das Prinzip dör schwierigeren oder weniger schwierigen Augenbewegungen. Wir pflegen, 60 meint Münsterberg, beim Lesen und Schreiben loit unserem Blick in gerader Linie von links nach rechts zu gehen, dagegen in der uns bequemsten Art, also im Bogen, von fechts nach links zurückzukehren. Daraus soll sich eine grölsere Leichtigkeit der Bechtswendung des Auges ergeben, tmd daraus wiederum die ünterschätzung rechter horizontaler Diatanzen erklärlich werden.

Angenommen nun, es wäre gegen jenes Prinzip im all-

170 Th, lApps.

gemeinen nichts einzuwenden, so müfste doch der Versuch seiner Anwendung in diesem speziellen Falle als unzulässig erscheinen. Voraussetzung der Erklärung ist, dafs wir bei der Schätzung oder Vergleichung zweier horizontaler Distanzen die rechte nur in der Richtung von links nach rechts, die linke nur in der Richtung von rechts nach links durchlaufen. Wie ich es anfangen sollte, dieser Voraussetzung zu genügen, ist mir nicht recht deutlich. Jedenfalls pflege ich mir nicht die Mühe einer so künstlichen Betrachtungsweise zu nehmen. Ich gehe statt dessen über beide Linien abwechselnd in der einen und anderen Richtung hinweg. Oder vielmehr, ich springe zumal wenn mir an genauer Vergleichung liegt von einem Punkt in der Mitte der einen zu einem Punkt in der Mitte der anderen über, um da einen Augenblick zu verweilen und ohne Regel meinen Blick nach der einen und anderen Seite schwanken zu lassen. So nur gewinne ich ein Bild der Linien und damit die Möglich- keit des sicheren Vergleichs. Das eigentliche Durchmessen der Linien, das die Augenbewegungstheorie vorschreibt, wäre dazu ein möglichst ungeschicktes Mittel. Die besondere Art vollends, wie sie Münsterbbrg hier fordert, müfste, wenn sie ausführbar wäre, viel eher die Folge haben, dafs ich das Bild der einen Linie wieder verlöre, indem ich das der anderen zu gewinnen suchte.

Eine wirkliche Erklärung der fraglichen optischen Täuschung scheint sich mir wiederum nur aus den „Gewohnheiten des Sehens" ergeben zu können. Und zwar denke ich dabei an Folgendes: Wir nehmen in vielen Fällen Gegenstände, die wir genau betrachten und mit anderen vergleichen wollen, in die Hand; und zwar ergreifen wir sie, wenn wir Rechtshänder sind, in der Regel mit der rechten Hand und bringen sie dabei naturgemäfs dem rechten Auge näher als dem linken. Jedesmal nun, wenn dies geschieht, vergröfsem wir Bilder der rechten Hälfte des Sehfeldes in Gedanken in geringerem Mafse als solche , die der linken Hälfte des Sehfeldes angehören. Daraus könnte wiederum eine Gewohnheit, links befindliche Gegen- stände gröfser zu schätzen« sich herausgebildet haben.

Obgleich nun diese Erklärung für mich einstweilen die einzige ist, so würde ich ihr doch wenig Vertrauen schenken, wenn sie mir nicht durch eine anderweitige Beobachtung be- stätigt würde. Die fragliche Beobachtung ergiebt sich bei

Die Bawnanschauung und die Äugenbetcegtmgen. 171

einer Modifikation des oben angeführten Spiegelversuchs. Ich ergänze den vertikalen Streifen, von dem oben die Rede war, zu einem rechtwinkligen Kreuz, fixiere den Eüreuzungsmittelpunkt und bemühe mich wiederum, den Spiegel so zu halten, dais ich den Eindruck habe, mein Blick stehe zu dem Kreuze, also zur Spiegelfläche, genau senkrecht. Ich bemerke dann, dafs das Spiegelbild meiner Augen sich nicht nur über dem Ejreuzungsmittelpunkt befindet, sondern zugleich nicht uner- heblich nach links verrückt ist. Es ergiebt sich daraus, dafs ich die Entfernung des linken Kreuzarmes vom Auge überschätze. Die Überschätzung seiner Gröfse ist davon die natürliche Folge. Ich weifs aber für jene Überschätzung der Entfernung des linken Ej'euzarmes keinen anderen Grund, als den Umstand, dafs in einer Mehrzahl von FäUen linke Objekte von meinem Auge weiter entfernt waren.

Schliefslich mufs sich diese Theorie, wenn sie richtig ist, durch eine einfache Probe erhärten lassen. Linkshänder müssen statt der Unken viehnehr rechte Distanzen überschätzen. In der That scheint es sich so zu verhalten. Ich mufs indessen in diesem Punkte demjenigen jüngeren Psychologen das Wort lassen, der es unternommen hat, darüber genauere Unter- suchungen anzustellen. Eine Mitteilung über die Ergebnisse derselben wird, wie ich hoffe, in Kürze in dieser Zeitschrift erfolgen. Einstweilen mufs ich mein Urteil vertagen. Wie es aber auch schliefslich lauten möge: die Theorie der Augen- bewegungen findet in der Überschätzung linker Distanzen ebensowenig eine Stütze, wie in irgend welcher sonstigen Thatsache.

(Aus der physikalischen Abteilung des Physiologischen Instituts zu Berlin.)

Eine Beobachtung über das indirekte Sehen.

Von

Th. Werthbim

in Berlin.

Die Helligkeit, welche ein Objekt zu haben scheint, wird bekanntlich von der Helligkeit der Umgebung beeinfluTst: ein graues Objekt erscheint auf schwarzem Qrunde heller als aut weLGsem Grunde. PlötzUche Beleuchtungsschwankungen der Umgebung verändern auch unsere Empfindung von der Hellig- keit eines in seiner Beleuchtung unveränderten Objektes. So werden beim Überspringen des elektrischen Funkens in einem nicht vollständig dunklen Zimmer alle matt sichtbaren Objekte sogleich unsichtbar und das Gesichtsfeld erscheint tief dunkel (Aubbrt). Ebenso scheint auch ein Objekt, dessen Beleuchtung gleiohmäfsig bleibt eine Lichtflamme, eine transparent er- leuchtete Milchglasplatte heller zu werden, wenn die Um- gebung plötzKch verdunkelt wird. Es ist nun interessant, dafs das Verschwinden resp. Dunklerwerden von Objekten, deren Umgebung plötzlich heller beleuchtet wird, sowohl bei direkt als bei indirekt gesehenen Gegenständen stattfindet, während das scheinbare Hellerwerden bei plötzlicher Verdunkelung der Umgebung nur bei direkt gesehenen Objekten bemerkt wird. Für indirekt gesehene Objekte ist es gleichgUtig, ob die Be- leuchtung der Umgebung in positivem oder negativem Sinne schwankt: sie verschwinden in beiden Fällen, nicht nur beim HeUerwerden, sondern auch beim plötzlichen Verdunkeln der Umgebung, wie ich bei der folgenden Versuchsanordnung zu beobachten Gelegenheit hatte.

IHne Beobachtung Über das indirekte Sehen. 173

In einem nur durch eine Gasflamme erleuchteten Zimmer befindet sich, seitlich von der Gesichtslinie des Beobachters und ca. 1,5 m von ihm entfernt ein schwarzer, rings ge- schlossener Blechkasten, in welchem eine Gasflamme brennt, und dessen vordere, dem Beobachter zugekehrte Seite einen kreisrunden, durch eine Milchglasplatte bedeckten Ausschnitt von ca. 5 cm Durchmesser hat. Eine lange, innen geschwärzte Bohre schützt diese Milchglasplatte an der Vorderseite gegen auffallendes Licht. Während ich nun einen beliebigen Punkt der gegenüberliegenden Wand fixiere gleichviel, ob mit einem Auge oder mit beiden, der Versuch gelingt in beiden Fällen und dabei meine Aufmerksamkeit auf die indirekt gesehene Milchglasplatte richte, die sich als helle Scheibe von ihrer Umgebung deutlich abhebt, schlief se ich plötzlich den Hahn der das Zimmer erleuchtenden Gasflamme und sofort wird mein ganzes Gesichtsfeld dimkel; die Stelle, an der sich die helle Scheibe befindet, unterscheidet sich nicht von dem übrigen Gesichtsfeld. Ein Nachbild habe ich nie gesehen. Die leichteste Bewegung der Augen beendet die Erscheinung; aber auch wenn es dem Beobachter gelingt, die Augen ganz unbewegt zu halten, dauert sie nicht länger als einige Sekunden an (bei mir bis 7 Sekunden); dann wird die helle Scheibe allmählich wieder sichtbar. Die Lage der Scheibe im Gesichtsfeld scheint nicht ganz ohne Bedeutung zu sem; zwar gelingt der Versuch, wo sie sich auch befindet, wenn sie nur nicht gar zu dicht an die Gesichtslinie heranrückt, ^ besten konnte ich jedoch die Erscheinung beobachten. Wenn die Scheibe in der unteren Hälfte des Gesichtsfeldes (ca. 20^ und mehr unterhalb des Fixierpunktes) sich befand.

Weitere Versuche haben dann gezeigt, dafs es gar nicht uohirendig ist, das ganze Zimmer zu verdunkeln, dafs vielmehr die plötzliche Verdunkelung einer einzelnen Fläche genügt. Als solche diente ebenfalls die eine transparente Wand eines im übrigen undurchsichtigen gröfseren Kastens, der im Inneren durch eine von auTsen regulierbare Gasflamme erleuchtet wurde. Je grölser die transparente Fläche gewählt wird, desto leichter ^ die Erscheinung zu beobachten , dies ist aber auch dann noch möglich, wenn die Fläche nur ebenso grofs ist, als die Uilchglasplatte. Man braucht die helle Fläche übrigens nicht 2U fixieren; auch beim plötzlichen Verdunkeln einer indirekt

174 Th, Weriheim.

gesehenen Fläche wird die zweite indirekt gesehene Fläc unsichtbar. Beide Flächen können weit voneinander steh ja man kann sogar dem einen Auge die eine Fläche (resp. c heUe Zimmer), dem andren die zweite Fläche darbieten, ind. man die Milchglasplatte mit dem einen Auge durch eine Böl verbindet, die rings um das Auge lichtdicht abschliefst. ludest ist mir dieser letztere Versuch, durch Verdunkeln einer nur v rechten Auge gesehenen Fläche eine zweite zum Verschwinc zu bringen, die nur vom linken Auge gesehen wird, nur weilen gelungen.

(Aus dem Institut für Anthropologie und experimentelle Psychologie

der Universität Rom.)

Über einige Eigentümlichkeiten des Tastsinns.

Von

G. Sergi.

Bloch machte im Jahre 1875 (bei Gelegenheit von Messungen der Geschwindigkeit des sensitiven Nervenstroms) einige Ver- suche, die Nachdauer von Tastempfindungen zu bestimmen.^ Er bediente sich dazu mechanischer Stöfse auf die Haut, von verschiedener Geschwindigkeit und auf verschiedenen Teilen des Körpers, und fand, dafs die Nachdauer eines Stofses auf den Finger zwischen 0,0210 u. 0,0236 (also 7*8— V«) Sekunde betrug. Aufserdem fand er, dafs die Nachdauer gröfser zu sein schien, wenn der Stofs plötzlicher war, und dafs sie wuchs, je mehr die Sensibilität des gereizten Teiles abnahm.

Im Jahre 1877 machte derselbe Bloch neue Versuche und glaubte versichern zu können, „dafs für mechanische Stöfse die Nachdauer der Empfindung sich vergröfsert, je weniger die untersuchte Stelle für gewöhnliche Berührung empfänglich ist.** Für das Fleisch der Finger würde sie ein Minimum von V*5 Sekunde erreichen. Als er aber vermittelst einer dazu konstruierten Vorrichtung mit elektrischen Beizen experimentierte, fand er, dafs jene Dauer sich auf Vss Sekunde reduzierte.*

In den folgenden Jahren verfuhr Bloch nach einer anderen Methode, um die Nachdauer der Tastempfindungen zu ermitteln, indem er nämlich eine Beihe successiver Stöfse auf dieselbe Stelle der Haut einwirken liefs und dabei das eben notwendige

* Ärchives de Physiologie, 1875.

Travaux du Ldboraiovre de M, Marey, HI, 1876—77.

176 O' Sergi.

Intervall suchte, bei welchem die Fusion solcher Beize ein- träte. Zu diesem Zwecke Uefs er eine Stimmgabel mit beweg- lichen Gewichten konstruieren, durch deren Verschiebung man die Zahl der Doppelschwingungen und demgemäfs auch die Zahl der successiven Stöfse auf die Haut von 40 auf 70 per Sekunde variieren konnte.^ Auf diese Weise fand er, daDs die Fusion zwischen successiven, regulären und gleichen Beizen, d. h. den Stöfsen der Stimmgabel, eintrat bei 60 Schwingungen auf Daumenballen und E^leinfingerballen, bei 58 und 59 auf dem Vorderarm, bei 64 auf dem Bücken der zweiten Phalanx, während er auf der Volarseite der Finger (letzte Phalanx) die Fusion mit 70 Schwingungen noch nicht erreichen konnte, sein Instrument aber ein Hinausgehen darüber nicht gestattete. Auf jeden Fall glaubte er sich, wie vorher, zu dem Schlüsse berechtigt, dafs die Nachdauer je nach den verschiedenen Stellen der Haut veränderhch und um so geringer ist, je em- pfindlicher der gereizte Teil. Er fand dann, dafs man je nach den Methoden des Experimentes eine verschiedene Zeit fiir die Nachdauer bekäme, wiez. B. zwischen V«o und Vk< Sekunde, um die Fusion der Eindrücke auf den Zehen zu erreichen, und schlofs, dafs es schwer sei, eine Erklänmg für diese verschiedenen Besultate zu finden.

Diese Schlüsse Blochs haben mich nicht überzeugt, be- sonders nicht die Behauptung einer um so gröfseren Nachdauer, je geringer die Sensibilität der Haut ist. Um daher, diese Vor- gänge und das Verhalten der taktilen Sensibilität besser zu er- kennen, beschlofs ich, die Experimente mit successiven Stimm- gabelstöfsen aufs neue anzustellen. Ich benutzte dazu elektrisch getriebene Schreib -Stimmgabeln konstruiert von Köniq, an denen ich statt der flexiblen Messinglamelle, welche zum Schreiben dient, eine abgestumpfte starre Messingspitze ein- setzte, und zwar von demselben Gewicht wie die Lamelle, um die Oscillation der Stimmgabel nicht zu verändern. Die Spitze stand aber in lateraler Bichtung zum Aste der Stimm- gabel, damit sie ihren Zweck besser erfüllte, sich nämlich der Haut applicieren zu lassen. Bisweilen habe ich sie noch mit einer feinen Korkspitze versehen, damit der Stofs sanfter und weniger hart wäre. Eine Stimmgabel mit beweg-

* Travaux etc., IV, 1878—79.

über einige Eigentümlichkeiten des Tastsinns. 177

Lehen Gewichten läfst nur ziemlich, beschränkte Variationen zu, wie ja in der That die von Bloch nur zwischen 40 und 70 Doppelschwingungen gestattete. Ich benutzte daher eine Seihe von Stimmgabeln mit stabiler Schwingungszahl und wählte folgende sechs, nämlich von 50, 100, 250, 435, 500, 1000 Doppel- flchwingungen in der Sekunde.

Die Versuche wurden zu verschiedenen Zeiten im Ver- lauf der beiden Monate Januar und Februar 1891 ausgeführt. Die Ergebnisse sind in der folgenden Zusammenstellung ent- halten:

I. Stimmgabel (König) von 50 D.-S. mit abgestumpfter

starrer Messingspitze.

Die Frequenz an allen Teilen der Hand wahrgenommen; deutliche Empfindung der successiven Stöfse.

Am hinteren Teile des Vorderarmes muTs die Spitze stark in die Haat gedrückt werden, damit der successive Stofs zur Wahrnehmung gelangt; dieser wird daher halb kontinuierlich, halb successiv wahr- genommen, d. h. man fühlt den kontinuierlichen Kontakt, aber auch die Succession der Stöfse, welche tiefer gehen ; wenn die Spitze auf die Ober- fläche der Haut gestellt wird, so wird der Reiz als ganz leicht und snccessiy empfunden.

n. Obige Stimmgabel mit Korkspitze.

Die Succession der Stöfse deutlich wahrgenommen, an den Finger- spitzen, Daumenballen und Kleinfingerballen, auf der Rückseite der Finger, Auf der Mittelhand.

m. Stimmgabel von 100 D.-S. mit Messingspitze.

Die Succession deutlich wahrgenommen an den Fingerspitzen Banmenballen, Kleinfingerballen, auf dem Bücken der Fingerglieder, Mittel- l^d, Handwurzel, auf Vorderarm, Stirn, mittlerem Teil der Glabella, Grista der Schläfen, Nasenspitze, Zungenspitze, roten Lippen.

Am Vorderarm, hintere Mittellinie, wird die Frequenz nicht wahr- genonmien.

An der Eichel wird, wenn man die vibrierende Spitze der Stimm- gabel laufen läfst, eine frequente Empfindung von schmerzhaftem Kitzel ^brgenommen ; wenn man die Spitze an derselben Stelle läfst, wird die Succession nicht wahrgenonmien.

IV. Stimmgabel von 250 D.-S. mit Messingspitze.

Die Succession deutlich wahrgenommen an der Volarseite der EEand ^d der Finger, fem er am Daumenballen, Kleinfingerballen und Hand- ^cken; undeutlich wahrgenommen an der Handwurzel.

Am Vorderarm ist die Empfindung der Succession abgestumpft.

Z«iUchrift für Psychologie HI. 12

178 ö. Sergi.

Deutlich ist die Succession am Fufs an den beiden letzten Gliedern der grofsen, zweiten und mittleren Zehe, dunkel an den andern Zehen (vielleicht wegen der etwas niedrigen Temperatur).

Am Bein die Succession wahrgenommen auf der Kniescheibe und den umliegenden Teilen, auf der äufseren Seite des Beines, auf der Crista des Schienbeins.

Im Gesicht: auf dem mittleren Teile der Stirn, Crista der Schläfen, auf dem Nasenknochen, auf den Wangen, unter der Augenhöhle die Succession wahrgenommen, aber nicht deutlich; auf dem mittleren Teile der Wangen deutlich wahrgenommen ; auf den roten Lippen deut- licher wahrgenommen; auf der Nasenspitze wahrgenommen; auf der Zungenspitze gut wahrgenommen.

V. Stimmgabel von 435 D.-S.

Die Frequenz wahrnehmbar an den Enden der letzten Fingerglieder;

deutlicher am letzten Gliede des Zeigefingers und dem Daumen; wahrgenommen auch um die Finger herum; auf der interdigitalen Fläche; auf der Handfläche, deutlicher auf dem Kleinfinger ballen am Metakarpus des Daumens und den andern Metakarpen deutlich.

An der Handwurzel kaum wahrgenommen, besser auf der Volarseite ungleichmäfsig auf dem Bücken ; an der Apophysis styloides des Cubitus nicht wahrgenommen, aber um sie herum wahrgenommen.

Am Vorderarm, oberhalb der Handwurzel gar nicht oder kaum wahrgenommen.

Am Fufs, untere Seite der grofsen Zehe, deutlich wahrgenommen;

am Knie kaum wahrgenommen ; am Hüftgelenke , ebenso an den inneren Tuberositäten wahrgenommen.

An den roten Lippen wahrgenommen; an der Zungenspitze mit Kitzelempfindung wahrgenommen; an der Nasenspitze nicht wahr- genommen; — ander Stirn, auf der rechten Augenbraue wahrgenommen, auf dem mittleren Teile nicht wahrgenommen, an der Crista der Schläfe wahrgenommen.

VI. Stimmgabel von 500 D.-S.

Die Succession der Stöfse an den Fingerspitzen wahrgenommen; auf der ganzen Handfläche ; am vorderen Teile der Handwurzel ; nicht wahrgenommen auf dem Bücken der Finger oder der Hand ; kaum wahr- genommen auf der Bückenseite der Metakarpo-Phalangealgelenke ; wahrgenommen am zweiten Gliede des Daumens, innen: am Metacarpale des Daumens, an der Handwurzel vorn; kaum wahrgenommen hinten.

Nicht wahrgenommen am hinteren Teile des Vorderarms.

Wahrgenommen auf den roten Lippen und an der Zungenspitze.)

Vn. Stimmgabel von 1000 D.-S.

Die Succession auf der Volarseite der Fingerspitzen wahrgenommen ;

kaum wahrnehmbar an den seitlichen und inneren Partien derselben Fingerglieder ; kaum wahrnehmbar am Daumenballen ; nicht wahr- genommen am Kleinfingerballen ; nicht wahrgenommen an andern unter- suchten Teilen der Hand und des Armes.

über einige Eigentümlichkeiten des Tastsinns, 179

Aus diesen Daten ergiebt sich als erstes Besultat, dafs Äüf dem Fingerfleisch die Succession der Stöfse bis zu einem Intervall von Viooo Sekunde wahrgenommen wird, dafs bei ^/fioo Sekunde die Frequenz an vielen anderen Teilen der Hand, €txi der Zungenspitze, an den roten Lippen zur Wahrnehmung lk:<)mmt| dafs sie bei V^sß Sekunde an andern Stellen und über öine grofse Hautoberfläche fühlbar ist, deren Sensibilität für die Succession der Stöfse zunimmt, je mehr ihre Zahl per Sekunde sich vermindert, bis zu ^/so Sekunde. So beweisen meine Versuche, dafs das zwischen einer Empfindung und der anderen gefühlte Intervall veränderlich ist, je nach den ver- Bcliiedenen Punkten der Hautoberfläche, dals es aber bedeutend kleiner ist als das von Bloch gefundene, bis es ganz winzig, näniHch Viooo Sekunde wird. Hierüber hinaus bin ich nicht gegangen, weil ich glaube, dafs dies das Minimalintervall taktiler Beize ist, welches eine intermittierende Empfindung hervorrufen kann, da die Succession bei einem so kleinen Intervall kaum noch wahrgenommen wird, tmd auch hier nicht immer, wenn einmal für einen Augenblick die Haut- temperatur sich nicht auf einer gewissen Höhe befindet.

Aus dieser ersten Thatsache glaube ich nun aber nicht, dafs man mit Bloch schliefsen kann, die Nachdauer der Empfindung vermindere sich mit der Vermehrung der SensibiHtät, und die Fusion der Breizungen (der Stöfse) werde leichter erreicht an einem Veniger empfindlichen Punkte der Haut und mit einer geringeren Zahl von Stöfsen in der Sekunde, um hierüber zur Klarheit zu gelangen, mufs man vor allem zwei Bedingungen ii^ Auge fassen, nämlich:

1. die Intensität der Beize;

2. die spezielle Sensibilität des gereizten Organs. Beide Bedingungen gehören zusammen, um eine Nach-

daner zu bestinmien, und besonders eine Nachdauer von einiger Erhebüchkeit. Es ist bekannt, dafs die Nachdauer des Ein- ^ckes ohne eine gewisse Intensität des Beizes nicht möglich ^, und nach Bichet entspricht die Gröfse der Nachdauer der Öröfse des Beizes.^ Das Faktum ist evident nachgewiesen fe die Eindrücke der Betina: Hblmholtz schreibt, dafs das

^ Ch. Biohet, Becherches expirim. et dinigues sur la sensibilite. Paris 1877, S. 192.

12

#

180 ö^. Sergi.

positive Nachbild desto heller ist und desto länger andauert, je gröfser die Intensität des primären Lichtes ist, und dafs beim Verschwinden der positiven Nachbilder die weniger hellen Objekte zuerst verschwinden, die helleren länger beharren, dafs folglich wenig beleuchtete Gegenstände im positiven Nach- bild oft absolut dunkel werden, während die helleren allein für längere Zeit sichtbar bleiben.^ Dies Phänomen gilt nicht ausschliefslich für das Gesichtsorgan, sondern ist allen andern Sinnesorganen gemeinsam ; es würde kein Grund vorliegen für die Annahme, dafs der Tastsinn eine Ausnahme mache.

Um die Intensität der Eeize kennen zu lernen, haben wir in unserm Falle ein sehr einfaches Mittel, weil sie durch Oscillationen von Stimmgabeln mit einer bestimmten Schwingungs- zahl in der Sekunde hervorgerufen werden. Diese Vibrationen besitzen nämlich eine mefsbare Amplitude, und die Amplitude mifst in diesem Falle die Intensität des Stofses und demnach des Beizes. Graphisch ist diese Gröfse ersichtlich an der Linie, welche die Stimmgabeln zeichnen, wenn man sie auf geschwärztem Glas oder Papier schreiben läfst, die Stimm- gabel mit 50 Doppelschwingungen in der Sekunde beschreibt eine Linie mit gröfseren Ausbuchtungen als die mit 100 Schwingungen, und die Stimmgabel mit 1000 Schwingungen eine dem unbewaffneten Auge nur als gerade erscheinende Linie.

Ich habe von meinen, durch eine galvanische Batterie in Schwingung gesetzten Stimmgabeln diese Linien aufzeichnen lassen, habe aber von den sechs, mit welchen ich experimen- tiert habe, nur die beiden ersten von 50 und 100 Doppel- schwingungen und die beiden letzten von 5U0 und 1000 Doppel- schwingungen per Sekunde ausgewählt. Diese beiden letzten geben, mit unbewaffnetem Auge gesehen, eine anscheinend gerade und nicht gewundene Linie, zeigen aber ihre Wellen- form, wenn mit der Linse oder unter dem Mikroskop ver- gröfsert. Wenn man also bei diesen 4 Stimmgabeln die Schwingungsamplituden nach den auf den Gläsern hinterlassenen Spuren mifst, so findet sich in abgerundeten Zahlen:

Stimmgabel von 50 D.-S. mm. 3,12

n 100 1,30 500 0,26 1000 0,104.

' y. Helmholtz, Physiol. Optik.^ 8. 358—360.

über einige EigeniümlicTikeiten des Tastsinns. 181

Natürlich mufs der Schlag oder Stofs, welcher von der an dem Aste der Stimmgabel befestigten Spitze der Hautober- fläche erteilt wird, der Schwingungsamplitude entsprechen; es muTs also eine Stimmgabel von 50 Doppelschwingungen per Sekunde einen stärkeren Schlag geben als eine andere von 100 Doppelschwingungen, da letztere schwächere Exkursionen macht. Bei der Stimmgabel von 1000 Doppelschwingungen, deren Amplitude wenig mehr als Vio mm beträgt, ist der Stofs auf die Haut höchst schwach, und zwar so schwach, dafs der leiseste Druck auf die Hautoberfiäche die Oscillation fast augen- blicklich aufhebt, während die Stimmgabeln von 50 und von 100 Doppelschwingungen bis zu einer gewissen Tiefe in die Haut eindringen können, ohne ihre Hin- und Herbeweguug zu verlieren, und die Succession der gleichen Stöfse fühlbar machen. Es ist also sicher, dafs die Beizungen, welche von den vibratorischen Bewegungen der Stimmgabeln von 60 bis 1000 Doppelschwingungen hervorgerufen werden, durchaus nicht von gleicher Intensität sind, und dafs man diejenigen der Stimm- gabel von 1000 Doppelschwingungen als das Minimum ansehen kann, welches für die Unterseite der Fingerspitzen noch eben ftblbar ist. Nun scheint es mir unmöglich, dafs so winzige Inten- sitäten noch eine Nachdauer der Empfindungen hinterlassen können. Ich glaube vielmehr, dafs es nicht der Effekt der Fusion der kleinen Reizungen in eine einzige durch die Nach- dauer der Eindrücke sei, wenn selbst die Fingerspitzen die Succession von Stöfsen mit einem kleineren Intervall als Viooo Sekunde nicht mehr wahrnehmen, sondern der Effekt der Ünempfindlichkeit gegen kleinere Beize als solche Stöfse von Vio mm Amplitude. Dies Faktum wird evident, wenn wir die zweite Bedingung, d. h. die Sensibilität des gereizten Organs, iu unserem Falle der Haut, in Erwägung ziehen.

Dafs die taktile Sensibilität nicht auf der ganzen Haut- oberfläche gleich ist, daran ist nach den grundlegenden Arbeiten Webers nicht zu zweifeln; aber ich möchte die Aufmerksamkeit ftuf ein an sich ziemlich einfaches Faktum lenken, das gleich- wohl sehr instruktiv für die Natur der eigentlichen taktilen Sensi- bilität ist, nämlich auf die Feinheit des Tastsinnes auf einigen sehr begrenzten Gebieten, wenn sie nur durch eine abgestumpfte Spitze ohne irgendwelchen Druck geprüft wird, und auf die Stumpfheit dieses Sinnes auf der gröiseren übrigen Oberfläche

182 O, Sergi,

der Haut. Man nehme einen Bleistift mit abgestumpfter Spitze und untersuche die Fingerspitzen auf der Volarseite; man wird eine höchst genaue Empfindung, eine ganz klare Perzeption der Spitze finden. Viele andere Partien der Hand sind in gleicher Weise empfindlich. Man untersuche aber mit derselben Spitze und mit derselben Sorgfalt den Vorderarm oder den Arm, und man wird eine dumpfe oder verschwindende Em- pfindung mit dunkler Perzeption der Spitze haben; um eine deutlichere zu gewinnen, muTs man die Spitze in die Haut ein- drücken, dies aber verwandelt die Tastempfindung in die des Druckes.

Wir stehen also vor dem sicher konstatierten Faktum, dafs die taktile Sensibilität nicht in gleichartiger Weise auf der Hautoberfiäche entfaltet ist , und . besonders die Sensibilität, welche eine klare und deutliche Perzeption giebt. Unterwerfen wir nun eine weniger empfindliche Partie der Haut dem Ex- perimente mit den Stimmgabehi von verschiedener Schwingungs- zahl und folglich verschiedenen Graden der Intensität des Stofses, so gelangen wir offenbar zu dem Brcsultat, dafs, wenn die Oscillation die die Reizung bewirkende Spitze um mehr als 1 mm entfernt und nähert und demnach diese Spitze in die Haut eindringen kann, die Succession der Stöfse wahrgenommen wird; wenn dagegen die Spitze nur um den Bruchteil eines Millimeter oscilliert und also stets auf der äufsersten Oberfläche der Haut bleiben mufs, dafi dann die Succession nicht wahrgenommen wird. Mit der Stimm- gabel von 50 Doppelschwingungen nimmt man die Succession dei Stöfse am Vorderarm wahr, wenn man die starre Spitze in die Oberfläche der Haut einstöfst, und man hat eine halb konti- nuierliche, halb successive Empfindung; eine kontinuierliche, weil die Spitze immer in Kontakt steht; eine successive, weil dieser Kontakt nicht gleichmäfsig in der Succession der Stöfse ist, bald tiefer, bald oberflächlicher, je nach dem Kommen und Gehen der oscillierenden Spitze, was in diesem Falle mit einei Amplitude von mehr als 3 mm geschieht. Mit der Stimmgabel von 500 Doppelschwingungen hat man die alleinige deutliche Empfindung einer unbeweglichen Spitze, wenn sich diese ein wenig in die Haut des Vorderarmes selbst einbohrt; denn dies löscht fast augenblicklich die winzige Oscillation der Stimm- gabel aus. Oder man hat eine beinahe verschwindende Wahr nehmung wieder nur allein von der Spitze, wenn diese an dei

über einige EtgetUümlichkeiten des Tcistsinns, 183

äo&ersten Oberfläclie der Haut erhalten wird, denn die geringe Intensität des Stofses einer Spitze, welche nur um V* nim oscilliert, ist in diesem Falle ungenügend, um eine Empfindung hervorzurufen. Bei einer für eine Empfindung so ungenügenden Intensität ist dann auch eine Nachdauer unmöglich, welche doch eine be- Btimmte Empfindung von einer gewissen Intensität verlangt.

Aus diesen Ergebnissen geht hervor, dafs die Minimal- grenze des Eeizes veränderlich ist je nach der verschiedenen Sensibilität der Hautpartien. Und wie bei den Fingerspitzen die Minimalgrenze nach meinen Ergebnissen der von einer Os- cillation von 0,104 mm herrührende kleine Stofs ist, entsprechend einem Intervall von Viooo Sekunde, so liegt für andere Haut- partien diese Grenze bei höheren Werten, nämlich bei 0,25, 0,50, 1,00, 2,00, 3,00 mm Amplitude. Dies würde die taktile Sensibilität der Haut messen, wie der Zirkel Webers je nach den verschiedenen Öffnungen ihre Raumempfindung mifst.

Die Hauptresultate dieser experimentellen Beobachtungen über den Tastsinn können folgendermafsen formuliert werden:

1. Die Hautoberfläche ist nicht überall in gleicher Weise empfindlich gegen Tastreize von geringer Intensität; die em- pfindHchsten Teile sind immer die Fingerspitzen auf der Volar- seite, wo auch die schwächste Reizung deutlich empfanden wird.

2. Viele Teile der Haut geben zwar eine bestimmte Tast- empfindung, geben sie aber nicht so klar und deutlich wie die Fingerspitzen.

3. Das Minimum der Energie des Reizes ist veränderlich je nach den verschiedenen Punkten der Hautoberfläche, und bei den successiven isochronen Reizen, wie denen der Stimm- gabel, ist die einheitliche Empfindung, welche etwa daraus Hervorgeht, nicht die Wirkung der Fusion der Eindrücke durch ihre Nachdauer, sondern die Wirkung der Unempfindlichkeit gegen schwache Stöfse; daher wird die Spitze gleichsam als feststehend empfunden, wenn sie in unmittelbarem Kontakt mit der Haut steht.

4. Bei den eigentlichen Tastempfindungen, d. h. den an der Oberfläche ausgelösten, scheint keine Nachdauer der Ein- drücke zu bestehen, wenn die Reize begrenzt und hervorgerufen sind von einer stumpfen Spitze; auch scheint keine Summation Heiner Eindrücke zu einem einzigen Effekt stattzufinden, wie W einigen anderen Sinnen und für die Haut ,auch bei elek-

1 84 ö. Sergi.

trischer Beizung konstatiert ist (Bichbt). Diese Phänomene treten hingegen ein, wenn man die Tastempfindung in Dmck- empfindung umgewandelt hat, wenn man nämlich durch Druck eine abgestumpfte Spitze in die Hautoberfläche eindringen läfst, und wenn also ein breiter, über eine grofse Oberfläche ausgedehnter Reiz von speziellem Charakter vorliegt.

5. Es scheint, dafs fiör Tastreize jenes primäre Stadium einer mehr oder weniger langen Entwicklung, wie man es z. B. als Anklingen der Gesichtsempfindungen kennt, nicht vorhanden ist. Vielmehr scheint es, dafs ein Beiz von rein mechanischem Charakter hier den Efi^ekt unmittelbar hervor- bringt, und dafs, wenn er ihn nicht im ersten Augenblick hervor- bringt, überhaupt gar kein Nutzeffekt zu stände kommt. So würde auch das Fehlen der Nachdauer, abgesehen von der Schwäche der Beizung, noch durch die Abwesenheit eines Entwicklungsstadiums in den Endorganen der Tastnerven er- klärhch werden.

Wenn aber doch eine Art Anklingen im Spiele ist, so kann es nur eine geradezu unmefsbare Zeitdauer in Anspruch nehmen, da man eine Beihe von Empfindungen noch bei einem Intervall von Viooo Sekunde wahrnehmen kann.

6. Auf der Schleimhaut der Eichel giebt es keine Em- pfindung von rein taktilem Charakter, wie sie sich auf der übrigen Haut findet.*

^ Diese meine Beobachtungen waren im Druck, als ich von den Versuchen von Bümpf und Schwaner in Marburg erfuhr, welche zu klinischen Zwecken mit der Stimmgabel-Methode angestellt wurden. Ich habe sogleich von den Versuchen Schwaners (die Prüfung der Haut- sensibilität vermittelst Stimmgabeln bei Gesunden imd Slranken, Mar* bürg, 1890) Kenntnis nehmen können und habe gefunden, daüs sie mir zu einer Abänderung meiner Schlüsse keinen Anlafs geben.

Beiträge zur vergleichenden Psychologie.

Von

Karl L. Schaefeb.

I. Das Verhalten wirbelloser Tiere auf der Drehscheibe.

An der Spitze einer gröfseren Beihe vergleichend psycho- logischer Untersuchungen, die in erster Linie die Beaktion wirbelloser Tiere auf passive Botationsbewegungen zum Gegen- stande haben werden, möge hier einiges aus einer früheren Untersuchung: y^Über die Wahrnehmung eigener passiver Bewegungen iwrch den Muskelsinn** ^ Platz finden ; zunächst eine kurze Zu- sammenfassung der Erscheinungen, welche Menschen während Und unmittelbar nach dem Aufhören passiver Bewegungen darbieten. 1. Bei einer passiven progressiven, d. h. geradlinigen Bewegung ist man auch unter AusschluTs aller etwaigen Hülfs- ^ttel, wie Augen, Tastempfindungen, Luftströmungen u. s. w., Un Stande, ganz genau den Moment des Beginns, die Bich- tiing und ungefähre Geschwindigkeit einer Bewegung anzugeben. 2. Von Botationsbewegungen gilt ganz das Nämliche. 3. Man lillt bei Botationsbewegungen die Bichtung der resultierenden ^assenbeschleunigung für die Vertikale. 4. Die meisten aktiven Bewegungen sind während der Botation sehr erschwert, einige luunöglich. 5. Man empfindet bei allen passiven Bewegungen iwir die positive oder negative Beschleunigung, nicht die Ge- schwindigkeit. 6. Positive und negative Beschleunigung wird bei progressiven Bewegungen weniger gut empfunden, als bei Kreisbewegungen* 7. Es ist noch streitig, ob eine konstant gegen den Beobachter dieselbe Bichtung einhaltende Be- schleunigung sohUefslich aufhört, empfunden zu werden, oder

' Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol, Bd. XLI, S. 566 ff.

186 ^orl L, Schaefer,

nicht. 8. Man hat bei Verminderung der Geschwindigkeit einer Eotationsbewegung und in noch höherem Grade bei plötzUcher Arretierung das Gefühl, in entgegengesetztem Sinne gedreht zu werden. 9. Bei diesem Gefühl von Gegendrehung hat man die Empfindung, dieselbe geschähe unter einem gewissen Wider- stände. 10. Beim Aufhören einer Progressivbewegung fehlt ein analoges Gefühl von Rückwärtsbewegung. 11. Alle schein- baren Bewegungen lassen sich durch wirkliche von entgegen- gesetztem Sinne kompensieren. [Mach.]

Die analogen Tierexperimente, welche von anderen und in vervollständigender Weise von mir auf Vertreter so ziemlich aller mit drei Halbzirkelkanälen jederseits versehenen Verte- bratengruppen ausgedehnt wurden, ergeben folgende gemein- samen Resultate. Auf progressive Bewegungen findet eine sichtbare Reaktion nicht statt. Sobald aber eine Rotation auf der horizontalen Drehscheibe beginnt, verdreht das Tier den Kopf in dem der Rotation entgegengesetzten Sinne. Diese Erscheinung tritt regelmäfsig ein und bleibt während der ganzen Rotation bestehen, wenn nicht was bei nur irgend günstigen Versuchsbedingungen mit Vorliebe geschieht der Kopf- drehung ein Umwenden des ganzen Leibes folgt und das Tier alsdann anfängt, immer gegen die Drehung am Rande der Centrifuge entlang zu laufen. Im Momente des Aufhörens der Rotation beginnen die Tiere meist stürmisch dieselbe aktiv fortzusetzen und ein getreues Abbild der passiven zu produ- zieren. Hatten sie sich im Radius der Scheibe befunden, und war der Kopf dem Centrum zugewandt oder im Centrum selbst gewesen, so erfolgt die sogenannte Uhrzeigerbewegung, d. h. das Tier steht mit den Vorderbeinen fest auf dem Boden, und die Hinterfüfse führen den Körper im Kreise um diese als Axe herum. Waren die Hinterfüfse im Centrum gewesen, so bleiben diese in Ruhe, und die Vorderextremitäten besorgen die Rotation. Hatte man das VTersuchsobjekt in die Peripherie gestellt, so läuft es nachher fortwährend im Kreise um eine imaginäre Axe dies die sogenannte Manegebewegung. Auch ist es gleich, um welche Axe des Tieres die Drehung stattfand: sie wird immer um diese weiter fortgesetzt; war z. B. das Tier um seine Längsaxe oder um eine dieser Parallelen gedreht, so wälzt ee sich nachher fortwährend um seine Längsaxe: Rollbewegung. Diese Zwangsbewegungen kommen allerdings nicht immer mit

Beiträge zur vergleichenden Psychologie. 187

vollkommener Deutlichkeit zum Ausdruck, da hierzu eine be- stimmte Dauer und Intensität der Sotation nötig ist. Stets aber bildet den Schlufs der Beaktion auf die passive Drehung ein Hin- und Herpendeln des Kopfes, welches noch eine Weile von nystagmischen Augenbewegungen im entgegengesetzten Sinne der Eotation überdauert zu werden pflegt.

Den Beobachtungen über das Verhalten Wirbelloser auf der Drehscheibe wurde nun anfangs der Pljui zu Grunde gelegt, so systematisch als möglich alle Ordnungen und Gruppen der Evertebraten zu durchmustern. Es stellte sich jedoch bald heraus, dafs wahrscheinlich nicht die Verwandtschaft der Tiere, wie sie im zoologischen System Ausdruck findet, sondern viel eher die Ähnlichkeit der äulseren Körperform, insofern sie auch einen ähnlichen Lokomotionsmodus bedingt, ein gleichartiges Reagieren gegen passive Rotationen zur Folge hat. So zeigen Schnecken, als deren Vertreter H. nemoralis gewählt wurde, und Baupen P. brassicae ein relativ übereinstimmendes Verhalten ; beide bilden zusammen gewissermafsen eine Gruppe, der man eine zweite spezifisch reagierende, bestehend aus: Ameisen, Stubenfliegen, (Käfern:) Geotrupes silva- ticus und Ohrwürmern gegenüberstellen kann.

Was nun zunächst die Versuche mit H. nemoralis anlangt, so war weder bei Progressivbewegungen noch nach Dreh ver- suchen eine Reaktion auf die passive Bewegung wahrzunehmen. Anders während der Reaktion. Hierüber habe ich bereits fiiiher a. and. 0.^ folgendes berichten können. Die zuerst gewählte Versuchsanordnung war folgende. Der Radius der kleinen Drehscheibe betrug etwa 10 cm. Die Position der etwa in die Mitte zwischen Peripherie und Centrum auf- gesetzten Schnecken war die, dafs jedesmal der Leib vor der Rotation eine genau gerade Linie bildete und seine Längsaxe mit einem Radius zusammenfiel. Der Kopf war der Peri- pherie zugewandt. Bei jedem Versuche kam ein frisches Exemplar zur Verwendung, das immer nur wenigen lang- samen Drehungen, und zwar im Sinne des Uhrzeigers, aus- gesetzt wurde. Von 100 so Behandelten drehten 84 den Kopf gegen die Drehrichtung; von dem Reste wurden 3 gar nicht

* Über den Drehschwindel bei Tieren. Naturw, Wochenschr. Bd. VI,

188 ^(^rl L, Schaefer,

affiziert, die übrigen drehten den Kopf mit der Drehrichtung. Als aber von den letzteren die meisten noch einmal geprüft wurden, wandte der gröfste Teil nunmehr den Kopf eben- falls nach links zurück. Von 100 anderen, umgekehrt wie der Uhrzeiger Gedrehten, wandten 74 den Kopf gegen die Drehrichtung; nur 2 blieben unbeeinflufst; der Brest wandte den Kopf im Sinne der Drehung; er entging aus äufserlichen Gründen einer zweiten Prüfung.

Die Frage, wie die Schnecken sich verhalten würden bei einer unter sonst gleichen Bedingungen mehrere Minuten lang fortgesetzten Botation fand folgende Lösung. Von 40 daraufhin Geprüften erschienen 2 ganz unbeeinflufst. Die Mehrzahl indessen kehrte sich völlig um der Kopf war also auch hier anfangs nach der Peripherie gerichtet kroch auf das Centrum zu, wand sich an dem daselbst zur Fixation der Drehscheibe angebrachten Schraubenknopf in die Höhe und fing dann an, diesen der Drehung entgegen fortgesetzt zu umkreisen. Andere begaben sich nicht nach dem Centrum, sondern krochen in der der Botation entgegengesetzten Bichtung an der Peripherie entlang. Ein dritter Teil endlich kombinierte gewissermafsen beide Bewegungsarten und näherte sich in einer Spirale langsam dem Centrum. Im Sinne der Drehung aber bewegte sich keine.

Im ganzen betrachtet ist hiernach die Beaktion der Schnecken im Gegensatz zu der der Vertebraten auf den Be- ginn und die Dauer des Drehversuches beschränkt, aber auch da kaum eine streng gesetzmäfsige zu nennen.

Völlig negativ fielen ihrerseits die Experimente an den Baupen aus. Die Botationsversuche an denselben begannen meist, während sie sich vom Centrum geradlinig zur Peripherie bewegten. Als Besultat der Versuche ergab sich: Gerade ruhende Tiere wurden durch die Drehung zu einer Lokomotion nicht veranlafst. Von den schon in Bewegung begriffenen krochen die meisten während der Drehung unbeirrt weiter und wichen von der geraden Lauflinie gar nicht oder nur ein wenig bald mit, bald gegen die Drehung ab ; wobei ihr Leib in der Begel selbst eine gerade Linie bildete, gelegentlich aber auch unregelmälSsig schlängelnd fortbewegt ward. Einige Baupen gaben die gerade Bichtung auf und beschrieben Bogenlinien, mit der Konkavität dem Centrum zu, dabei aber ebenso oft mit der Drehung wie gegen dieselbe kriechend. Zuweilen kamen im

Beiträge zur vergleichenden Paychdogie. 189

3egiim der Botation Wendungen des Kopfes und der vorderen Segmente gegen die Drehung, aber auch im Sinne derselben vor. Eine Nachwirkung der Drehung, also Drehschwindel, wurde nicht bemerkt.

Was nun die andere Gruppe anlangt, so wurden die Ameisen und Fliegen, welche sich in allen Punkten völlig überein- stimmend zeigen, in einem parallelepipedonischen Glaskasten gedreht, dessen Gröfse ihnen genügenden Spielraum bot. Fast immer in lebhafter Spontanbewegung begriffen, werden sie, falls auf dem Boden oder an der Innenseite des Deckels ent- lang laufend, durch alle Arten der Drehung rechts herum, links herum, rasch oder langsam zu einer Gegendrehung veranlafst d. h. sie beginnen alsbald in dem der Drehung entgegengesetzten Sinne eine Spirale, eine Ellipse oder einen Kreis, immer von sehr kleinem Badius, um den im Beginn des Versuchs innegehabten Platz als Centrum abzulaufen. Diese Oegendrehung tritt so maschinenmäfsig prompt ein, dafs man jederzeit im stände ist, das Tier durch entsprechende Bechts- und Linksschwenkungen der Scheibe genau nach einem vorher- bestimmten Punkte zu dirigieren. Nach dem Aufhören des Drehversuches wird die Laufrichtung meist momentan wieder geradlinig: Drehschwindel besteht mithin jedenfalls nicht.

Während also in aktiver Bewegung begriffene Ameisen oder Fliegen im Augenblicke des Beginns der Drehung auch schon auf diese reagieren, ist dies nicht der FaU, wenn das Tier ruhig sitzend, etwa die Fühler resp. Flügel putzend, von der Drehung überrascht wird. Es läfst dann die passive Be- wegung ungestört über sich ergehen. Genau dieselbe Be- obachtung wurde später auch an den Käfern und Ohr- würmern gemacht auch die Baupen zeigten, wie wir ge- sehen, dasselbe Verhalten. Es scheint sich hier also um eine konstante Erscheinung zu handeln, und vielleicht waren auph die oben mehrfach angeführten, von der Drehung ganz un- beeinflufst gebliebenen Schnecken solche, welche während des Versuches ruhten, worauf seinerzeit allerdings noch nicht be- sonders geachtet wurde.

Ein anderer Punkt von Wichtigkeit ist das Verhalten der- jenigen Ameisen und Fliegen, die sich während des Versuches an den vertikalen Seitenwänden bewegen. Die Kastenform bringt es mit sich^ daJGs die Gröfse der Schwungkraft in der

190 ^^^ ^' Schaefer.

vertikalen Mittellinie der Seitenwände ihr Minimum hat. Es wurden nun die Versuche stets so eingerichtet, dafs das Ver- suchsobjekt bei einem etwaigen Gegenlaufen gegen die Drehung sich der Mittellinie nähern mufste, also mit anderen Worten gerade bei dieser Bewegungsrichtung die günstigsten Chancen für ein etwa «mgestrebtes Paralysieren der passiven Bewegung gefunden hätte. Indessen zeigte sich diese Sichtung durchaus nicht bevorzugt. Die Tiere liefen vielmehr viel häufiger direkt aufwärts bezüglich abwärts, oder der nächsten Kante zu, oder gar mit der Drehung, oder rührten sich, in eine Ecke ver- krochen, überhaupt nicht.

Dies giebt den Anlafs zu folgender Überlegung. Ent- sprechend der bisher von anderen den Resultaten der Dreh- versuche an Vertebraten gegebenen Auslegung würde die Gegendrehung als eine beabsichtigte, überlegte Handlung, die Kompensation der unangenehm empfundenen Eotation bezweckend, anzusehen sein. Wenn aber überhaupt, so kann die Drehung nur durch die Verschiebung gewisser Körperteile gegeneinander, welche sie im Gefolge hat, zur Wahrnehmung kommen und muTs daher von den ruhenden wie von den an den Seitenwänden umherlaufenden Tieren percipiert werden. Warum reagieren denn diese nicht auch mit Gegendrehung? Sollte man ferner nicht annehmen, dafs Fliegen, wenn die passive Dotation sie zur Flucht triebe, an Stelle des andauernden Kreislaufes eher von dem bequemeren und gewohnteren Hülfs- mittel des Wegfliegens Gebrauch machen würden? Fortfliegen wurde aber nur, und auch dann nicht regehnäfsig, bei plötz- lichem, ruckendem Beginn rascher Drehung beobachtet, wobei die Fliege auch einfach durch die Schwungkraft abgeschleudert sein kann. Langsamer, sozusagen einschleichender Beginn der Drehung hat nie Wegfliegen zur Folge. Schliefslich wäre noch das zu bedenken, dafs ein fortdauernder Anreiz zur Flucht doch auch eine ununterbrochene Reaktion hervorrufen müTste. Diesen Charakter trägt aber die Gegendrehung der Fliegen keineswegs immer. Nicht selten macht eine Fliege öfter Halt, um die Flügel erst zu putzen. Andere laufen überhaupt nur in Absätzen, ebenso wie man es an ihnen so oft in der Freiheit sieht: Es wird eine kleine Strecke durchlaufen, dann plötzlich inne gehalten, mit dem Bussel rekognosziert, eilfertig weiter gelaufen, wieder pausiert u. s. f. Kurz es machen alles in allem

Beiträge zur vergleichenden Psycho) 191

diese Gregendrehungen ebenso wie die gl^iCn zu erwähnenden der Käfer und Ohrwürmer viel mehr den Eindruck von Beflexvorgängen als den einer zweckbewuTsten Handlung.

Die Käfer wurden auf einer rotierenden Pappscheibe unter- sucht. Die Drehung war auch hier bei jedem Exemplar eine vierfache, rechts- und linksherum, rasch und langsam. Aufser- dem wurden aber auch noch Versuche angestellt, bei denen die Scheibe, statt wie sonst norizontal gestellt zu sein, etwa 45^ gegen den Horizont geneigt war. Das Resultat war immer dasselbe: völliger Mangel von Drehschwindel nach dem Versuch und Gegendrehung ganz konform derjenigen der Ameisen und Fliegen während desselben. Wurde die E-otations- geschwindigkeit so gesteigert, dafs von den einzelnen Konturen des Tieres nichts mehr zu unterscheiden war, so hörte die Ghegendrehung und überhaupt alle spontane Lokomotion auf, die Käfer verharrten regungslos am Platze. Zum Schlüsse Wxirden allen Käfern beide Fühler amputiert und alsdann die Versuche wiederholt. Dies geschah in Anbetracht der Möglich- keit, dafs die Fühler etwa durch Vermittelung der Perception ^on Luftströmungen, hier verursacht durch die Drehung, oder scnst irgendwie an der Wahrnehmung der Lage und ihrer -Änderung im Baum falls eine solche überhaupt statthaben Seilte beteiligt sein könnten. Es ergab sich jedoch, dafs ^iH den beschriebenen Versuchsresultaten der Mangel der Fühler lüchts ändert.

Die Drehversuche an den Ohrwürmern gesondert zu be- sprechen, hiefse nur Bekanntes wiederholen. Ihr Verhalten deicht in keiner Weise von dem beschriebenen Typus ab. Bemerkenswert ist aber, dafs dekapitierte Ohrwürmer bei Dreh- ^ersuchen stets regunglos bleiben, während sie im übrigen eine lücht unbeträchtliche Reflexerregbarkeit zeigen. So haben z. B. Versuche, das Tier auf den Rücken zu legen. Anklammem an das Instrument bezüglich sofortiges Wiederumdrehen zur Folge. Kitzelnde Berührung des Hinterleibes löst eine Fluchtbewegtmg ^ch vom aus, oder es wird die Stelle mit dem letzten Bein derselben Seite abgewischt; ganz wie ein kopfloser Frosch gögen einen Säuretropfen verfährt. Seitliche Berührung des Thorax zwischen dem zweiten und dritten Bein führt zu einem Ausweichen nach der entgegengesetzten Seite und Abwischen der Stelle mit dem zweiten Bein. Auf Druck gegen die Amputa-

192 ^arl L. Sehaefer.

tionswunde läuft das Tier regelrecHt eine Strecke rückwärt^s. Berühren der Fufsspitzen ist stets von promptem Anziehen <1^m betreffenden Beines gefolgt.

Aus den im Vorstehenden mitgeteilten Einzelheiten ergiebt sich nun folgendes

Gesamtresultat der Untersuchung.

1. Im Beginn und während der Drehung auf horizontal Ebene findet Gegendrehung statt; jedoch nicht ausnahmsloi nämUch

a) bei Kohl weifslingraupen überhaupt nicht, bei Hell nemoralis nicht durchweg und

b) bei Mistkäfern, Ameisen, Stubenfliegen un Ohrwürmern nur dann, wenn sie gerade in aktiver' Lokomotion begriffen sind.

2. Eine Nachwirkung der Drehung findet nicht stat Einem Drehschwindel, wie die Vertebraten, unterliegen also bisher geprüften WirbeUosen nicht.

Gegen an twort auf die Erwiderung von 0. Flügel.

Von J. BSHMEE

In der Hofl&mng, Herrn Flügel zu bekehren, habe ich den Artikel die „Seelenfrage" Bd. 11, S. 180 218, nicht geschrieben. i^üGELs Schrift war mir nur ein gefundener Anlafs, meine Ansicht darzulegen, wie sehr noch heutzutage in der Psycho- logie der Materialismus verbreitet sei und selbst geschworene Qegner schlechtweg überschlucke.

Herr Flügel beschwert sich, dafs ich „niemals deutlich S^&gt habe, was unter Materialismus von mir verstanden ^^^erde". Es ist richtig, eine Definition habe ich unterlassen, ^W fast jede Seite des Artikels sagt auch dem weniger ein- ^chtigei^L Leser deutlich genug, was ich meine, und auch Herr ■B^lügel wird es wissen. Meine Meinung ist die: Materialismus ^■^ der Psychologie ist nicht nur die Lehre, welche „ein be- ^K)nderes selbständiges Seelenwesen leugnet und den Geist als ^ine Eigenschaft des Gehirns" ansieht, sondern auch die Lehre, "Welche die Seele für ein besonderes räumliches Wesen aus- sieht — und mit letzterem treffe ich Herrn Flügel.

Herr Flügel beschwert sich über ungenaue Berichterstat- tung, wenn ich ihm die Worte „punktförmige Seele" und uSeelenatom" in den Mund lege. Er hat Eecht, gerade diese ^orte finden sich nicht in seiner Schrift. Aber dafs ich ihn ^och ganz richtig gezeichnet habe, kann ich nachweisen an «eben eigenen Worten. Li der Erwiderung, Bd. ü, S. 445, giebt er zu, dafs, „wenn die letzten Bestandteile der Materie «treng einfach (und streng einfaches Wesen soll ja auch Ate ^reale Wesen Seele" sein) gedacht werden" sie „in räum- licher Beziehung punktförmig gedacht werden müssen",

Zeitsdurlft für Psychologie m. 13

194 J- Behmke.

Was ich gegen die Punktförmigkeit eines immateriellen, also nnräumlichen AVesens Bd. ü, S. 189 gesagt habe, ist nicht ge- würdigt worden, aber das Angeführte zeigt schon, dafs ich Flügels Meinung mit „punktförmiger Seele" richtig getroffen habe. Doch auch seine Schrift bietet Belege genug, besonders auch für das Eecht, das Wort „Seelenatom" auf seine Seele anzuwenden. Nachdem er erklärt hat, dafs das Wort „keine Kraft ohne Stoff" auch für das Seelengebiet gelte, schreibt er: „unter Stoff hat man sich die Atome vorzustellen" (S. 89); „nur durch Aufgabe des Substanzbegriffes oder der Ato- mistik kann Kant versuchen, jenem Schlufs auf ein einheit- liches Wesen (Seele) zu entgehen" (S. 97) ; „wenn man Ernst macht mit dem atomistischen Grundgedanken von der Dis- kretion der Materie und dieselben Prinzipien und Metho- den der Naturforschung auch auf die geistigen Vor- gänge anwendet, so stellt sich die Notwendigkeit ein, alle geistigen Zustände bez. Kräfte einer Person einem unteil- baren einfachen Wesen (Atom) beizulegen" (S. 125); „man wird Ein Wesen als Seelensubstanz vorauszusetzen haben, welcher alle geistigen Thätigkeiten innewohnen. Dieses Wesen ist wie jedes andere Atom einfach und von bestimmter Qualität" (S. 125). Eehmke „giebt sich dem Mifsverständnisse hin, als seien die Atome (und also auch das Seelen wesen) selbst schon an und für sich Materie" : Erwiderung Bd. II, S. 444. War es angesichts dieser Sätze etwa „keine genaue Bericht- erstattung" , wenn ich die FLüGELsche Seele „Seelenatom" nannte? Und auch das „punktförmige Atom" Seele kann ich noch als Flügels eigenes Wort anführen: „Ist denn die Ansicht des influxus physicus („die Seele müfste selbst von körper- licher Beschaffenheit sein, wenn sie vom Leibe Stöfse empfangen und wieder solche an ihn zurückgeben könnte") die notwendige Folge aus der Voraussetzung eines punktförmigen Seelen- atoms? Mufs oder kann ein solches körperlich gedacht werden? Giebt es zwischen realen Wesen keine andere Wechselwirkung als Stofs und Gegenstofs? Auf die von uns entwickelte An- sicht von der Seele als einem einfachen Wesen und deren Wechselwirkung mit dem Leibe als einem Systeme ein- facher Wesen pafst jener influxus physicus in keinem Stücke.*^ (S. 127.) Warum nun wehrt sich Herr Flügel gegen die Be- richterstattung eines „Seelenatoms", und einer „punktförmigen

Gegenantwort auf die Erwiderung von 0. Flügel 195

Seele"? Ahnt er vielleicht, dafs in dem „punktförmigen Atom", 'will man wirklich dabei etwas denken, notwendig „Eäumliches", „Materielles" gedacht wird?

Herr Flügel wirft mir vor, ich lege seiner Seele nur innere

Zustände bei und verneine äuTsere Zustände derselben. Ich

mufs einräumen, im Unrecht zu sein; mein Streben, Herrn

FiiüOEL gegen seinen eigenen Materialismus zu helfen, hat mich

liier verführt. Herrn Flügels Seele hat auch äufser e Zustände,

sie „zeigt Bewegungs Vorgänge, Lageveränderung, zeigt sich bald

ruhend, bald sich bewegend", allerdings Zustände, die ich nur

am Bäumlichen, Materiellen verstehen kann ; und-daher stehe ich

starr vor Flügels Behauptung in seiner „Erwiderung" Bd. 11,

S. 446, es „liege kein Widerspruch darin, der Seele die Eäum-

lichkeit abzusprechen, aber doch Bewegung zuzusprechen".

Herr Flügel meint femer, „mir scheine Anschaulichkeit tmd Materialismus dasselbe zu seia", und fahrt fort: „sonst pflegt Anschaulichkeit einer Lehre eher als Vorzug angerechnet zu werden, aber nicht als Nachteil" (Bd. 11, S. 447). Offenbar doch nur ein kleiner Scherz ! Anschaulichkeit einer Lehre kann Zweierlei bedeuten, einmal ist sie im ganz allgemeinen Sinne Klarheit, und dann bezeichnet sie im engeren Sinne eine Lehre, die mit Anschaulichem, Baumgegebenem, Materiellem, zu ^Ixun hat und dieses klar hinstellt. Wenn ich nun von dem Banne der Anschaulichkeit rede und diesen den materialistischen ^enne, so meine ich den Hang des Menschen, alles Gegebene, ^tich das nicht Anschauliche, nicht Materielle, als Anschau- Uches, Baumgegebenes zu fassen; so ereignet es sich denn, dais, wenn der Lehrgegenstand Lnmaterielles ist, wie z. B. die Seele, die „Anschaulichkeit" einer Seelenlehre, welche aus jenem ^ange geboren ist und Seelen für ein Anschauliches d. i. Bäum- Uches ausgiebt, eben ein Nachteil und kein Vorteil ist, weil ^ese Anschaulichkeit der Lehre keine Klarheit, keine Wahr- Ixeit giebt.

Herr Flügel macht endlich die Bemerkung, ich sei wohl „zu ^en modernen Psychologen" zu rechnen, von denen ich sage CBd. n, S. 200), dafs sie die Empfindung in ihrem Dasein allein ^us dem gereizten Leibe zu verstehen suchen: liest er die Stelle nur noch einmal, so wird er gestehen, dafs er in diesem Punkte nicht nur eine ungenaue, sondern eine ganz irrige Be- "richterstattung geübt habe.

13»

196 J' Behmke.

Im übrigen hat mir die Erwiderung des Herrn Flügel gezeigt, wie Becht ich that, wenn ich alle Hoffnung, ihn zu bekehren, von vornherein dahinten liefs; spielt er doch sogar noch den Trumpf ans: „die Atome bleiben immateriell, auch wenn sie eine gewisse Ausdehnung besitzen sollten/ (Bd. n, S. 446.)

Litteraturbericht.

C. Stümff. Psychologie nnd Erkenntnistlieorie. Abhandlungen der königL bayer. Akademie d, Wissenschaften, I. Kl. XIX. Bd. U. Abtl. 1891. S. 467—516. (Selbstanzeige.) Die Abhandlung richtet sich gegen den Kritizismos, der die Er- kenntnistheorie von allen psychologischen Grundlagen zu befreien sucht, aber auch gegen den Psychologismus, der alle philosophischen und be- sonders auch alle erkenntnistheoretischen Untersuchungen auf Psycho- logie zurückfahren will. Doch fällt der Hauptteil der ersteren Aufgabe zu, da der Psychologismus doch gegenwärtig viel weniger ausdrücklich und prinzipiell vertreten wird. Nach einer Übersicht des Standes der Streitfrage und der nächstliegenden Argumente (I) wird dargelegt, dafs (ü) die KANTSche Lehre von der Schöpfung der Natur und ihrer Gesetz- lichkeit durch den Verstand, welche angeblich auf keinerlei psycho- logischen Voraussetzungen ruhen soll, in ihren Hauptteilen (Schema- tismus der Verstandesbegriffe imd transscendentale Deduktion) den Anforderungen der Erkenntnistheorie nicht entspricht, und dafs (HI) die ihr zu Grunde liegende Lehre von Materie und Form der Vorstellungen den Anforderungen der Psychologie nach allen Richtungen hin wider- spricht. Dem regressiven Plane gemäfs wird dann noch (IV) der Begi^der Naturnotwendigkeit (synthetischen Notwendigkeit) untersucht, in welchem die Kritik der reinen Vernunft ihre letzte Wurzel hat. Es wird versucht, die psychologische Herkunft dieses Begriffes, ebenso die Garantien seiner objektiven Gültigkeit aufzuzeigen. Dafs Kant überhaupt an dem strengen Begriff der Notwendigkeit festhielt, erscheint als sein wahres Verdienst, die Tendenz zur Ablehnung psychologischer Untersuchimgen aber auch hier wieder als eine unglückliche, da nur die psychologische Analyse uns die Konstitution, die letzten Elemente eines Begriffes kennen lehrt. Ich möchte hier betonen, dafs dieser Abschnitt das schwierige Problem natürlich nicht erschöpfend behandeln, sondern nur zeigen soll, wie auch hier die kriticistische Wendung keineswegs die einzige Lösung des von Hume geschürzten Knotens ist, wie vielmehr der sonst naheliegende Weg psychologische Herleitung des Begriffes aus der Wahrnehmung, Bewährung seiner objektiven Gültigkeit durch hypothetische Anwendung mit beständiger Verifikation auch hier durchführbar erscheint, wenn- gleich beim wirklichen Aufstieg zum Gipfel noch an manchen Stellen Stiifen zu hauen sind. Der letzte Abschnitt (V) sucht, an die

198 Litteraturhericht.

vorherigen Einzelbetraclituiigen anknüpfend, allgemein die Aufgaben der Erkenntnistheorie und der Psychologie gegeneinander abzugrenzen, während er zugleich den innigen Zusammenhang der Arbeiten in der Durchführung der Aufgaben hervorhebt.

Ein historischer Anhang giebt eine kurze Übersicht der Ausgangs- punkte und Anregungen, die Kants Trennung von Form und Materie des Vorteilens zu Grunde lagen, sowie der Verhältnis- und Notwendigkeits- lehre des Nicolas Tstens. Bein historisch hatte ich hier nichts wesentlich Neues zu bieten. Der Zweck war nur, in Erinnerung zu bringen, dafs an Kants verhängnisvoller Unterscheidung mancherlei äufsere Einflüsse mitbeteiligt waren, sowie zu betonen, dafs die gegen Tetens erhobenen Vorwürfe in Hinsicht seines Psychologismus nur zum geringen Teile zutreffen, allerdings immer noch in genügendem Mause, um Kants Abneigung gegen die Heranziehung der Psychologie zur Erkenntnistheorie begreiflich zu machen.

F. Ch. Poetter. Psychologie, 2. Aufl. 3. Teil des Philos. Eepertor. für Studierende und Kandidaten etc. von A.Vogel. Gütersloh 1891. Bertels- mann. 142 S. Ein recht dürftiges kleines Buch. Dem Verfasser fehlt eine Haupt- eigenschaft für den Schreiber eines kleinen Kompendiums, die um so notwendiger ist, auf je knapperem Baume er sich ausdrücken will: er ist nicht warm und voll von seinem Gegenstande. Dagegen hat er ein geradezu unglückliches Talent, immer im allgemeinen zu bleiben und gar nicht zur eigentlichen Sache kommen zu können. Man höre die Disposition: 64 S. Geschichte der Psychologie, 13 S. Erörterungen über Beziehungen zur Metaphysik, Wesen der Seele u. s. w., weitere 11 S. Geschichte, dann endlich 41 S. über das, was doch schliefslich die Haupt- sache ist, das normale Seelenleben. Die Wahrheit von dem Nutzen einer historisch fundierten Kenntnis kann nicht stärker in ihr Gegenteil verkehrt werden. 6 S. im ganzen über ELa^nt, dessen Psychologie be- kanntlich so ziemlich seine schwächste Leistvmg war, und 2V> S. über die ganze reichentwickelte Psychologie des Gesichtssinnes, 3 Vi S. über die alles kompliziertere Seelenleben bedingenden Beproduktions- und Assoziationsvorgänge! Und wenn nur wenigstens dieser geringe Baum ordentlich ausgenutzt wäre ! Aber überall (auch in dem historischen Teil) merkt man, dafs dem Verfasser die Dinge und Probleme, von denen er handelt, niemals recht Fleisch und Blut geworden sind, dafs er nicht aus dem Vollen schöpft. Immer nur Worte, ganz allgemein gehaltene Sätze und dazu Citate, vorwiegend aus Planck, Ulrioi und Wundt; nirgend konkrete Anschauung, sowie ein Eingehen auf das Einzelne und das, was den Leser fesseln kann.

Kandidaten, die sich unglücklicherweise mit dem Buche vorbereiten sollten, müssen danach die Prüfung in der Psychologie für die ödeste und unsinnigste aller Quälereien halten. Ebbinohaus.

Gius. Seroi. Psicologia per le sende con 62 figure. Milano, Fratelli Dumolard, 1891. 213 S. Verfasser, Professor in Bom, welcher seinen psychologischen Stiuid'-

Litteraturbericht 199

punkt schon in zwei älteren Arbeiten : Elementi di Psicologia (1879) und Vorigine dei fenomeni psichici e loro significazione biologica (1885) ent- 'wickelt hat, will mit vorliegendem Buch ein Handbuch der Psychologie für Schulen liefern, welches frei von jeder metaphysischen Voraus- setzung eine reine Zergliederung der seelischen Thatsachen darbietet, unter Zugrundelegung der physiologischen und biologischen Forschungs- ergebnisse.

Sein Buch steht in erfreulichem Gegensatze zu dem, was vielfach, namentlich in Frankreich, als psychologische Elementarkost geboten ^rd, solchen Darstellungen nämlich, welche aus philosophischen oder gar theologischen, vom Schüler unmöglich zu verstehenden Systemen herausgesponnen sind. Statt dessen geht . S. von den bestgesicherten Erfahrungen aus Tier- und Menschenwelt aus: er giebt wirklich em- pirische, objektive Psychologie.

Die Psychologie ist ihm ein Teil der Biologie. Während die Physio- logie die Funktionen der Ernährung oder Erhaltung behandelt, fallen der P.sychologie die des „Schutzes" (protezione) zu. Denn die Sinne und die übrigen psychischen Vermögen, deren Organ das Nervensystem ist, er- möglichen dem Lebewesen, das Nützliche zu suchen, das Schädliche zu meiden. Dies ist die ursprüngliche biologische Bedeutung der psychischen Funktionen, wie das Studium der Tiere ergiebt. Beim Menschen erreicht zwar das psychische Leben eine viel höhere Entwickelung, aber ohne doch den Charakter seines Ursprunges und Zweckes zu verlieren. Indem wir dahingestellt sein lassen, ob der von S. gemachte Unterschied von Funktionen der „Erhaltung" imd des „Schutzes" in voller definitions- begründender Strenge durchführbar sei, und ob er sich dann genau mit dem zwischen Physischen und Psychischen decken würde, legen wir Wert darauf, dafs S. die seelischen Thätigkeiten gleichwertig in eine Reihe mit den körperlichen stellt, beide als Mittel im Kampfe um das Dasein eine für die biologische vmd objektive Betrachtung zweifellos treffende und fruchtbare Auffassung. ' Wenn er über dieser objektiven Betrachtungsweise die doch andererseits bestehende völlige Heterogenität aind Unvergleichbarkeit von Psychischem und Physischem zu wenig betont, so erklärt sich das wohl als Reaktion gegen die verbreitete gegenteilige Einseitigkeit der subjektiven und idealistischen Psychologie, das Seelische völlig für sich, als aufser und über der Natur Stehendes zu betrachten. Der Mensch wird bei S. nicht als das einzigartige Wesen, welches der erwachsene Kulturmensch zu sein scheint, sondern als höchster Organis- mus im Zusammenhang mit der ganzen Lebewelt, mit seinen natürlichen Wurzeln betrachtet.

S. beginnt mit einem kurzen Überblick über den Bau des Nerven- systems und Gehirns, geht dann zu einer Erörterung der verschiedenen Sinnesfonktionen über, überall die anatomischen Verhältnisse zu Grunde legend und diese, wie auch sonst der Veranschaulichung Bedürfendes mit Illustrationen begleitend.

Kap. Vm unterscheidet Empfindung und Vorstellung. Die Leistung und Bedeutung des Gehirns wird im IX. Kapitel besprochen. S. vertritt hier einen gemäfsigten Lokalisationsstandpunkt. Das Bisherige nimmt

200 Litteraturbericht

xmgefäbr ein Dritteil des Buches ein. Die weiteren zwei Dritteile ge* hören den höheren Seelenthätigkeiten an.

Es werden abgehandelt die Themata: Reproduktion, Gedächtnis, Bewufstsein, Begriffsbildung, Verstand, Vernunft, Begriff, Einbildungs- kraft, Lust und Schmerz, ästhetische Gefühle, Bewegungen, Erblichkeit Instinkt und Charakter.

Den Schlufs bildet ein Streifzug in die Psychophysik : es werden kurz die Zeitmessungen der psychischen Phänomene besprochen.

Verfasser hat mit dieser Schulpsychologie seinen Landsleuten ein Buch geschenkt, wie es in ähnlicher Art anderen Nationen sehr zu wünschen wäre. Liepmann (Berlin).

J. Jastbow. The psychological Study of Ohildren. Educat B&mtm

(New-York) Bd. I. S. 253-264. (März 1891.) Verf. giebt auf Grund der Werke von Preter, Perez, Sikobski und anderen eine kurze Übersicht über die Ergebnisse der Kinderspychologie^ insofern sie für den Pädagogen von Interesse und Wichtigkeit sind.

Gaupp (London). E. W. ScRiPTURF. Arithmetical prodigies. Amer.Joum. of Psycholoffy IV.

N. 1. (1891.) S. 1—59.

Verfasser giebt zuerst einen historischen Überblick über die uns bekannten Personen, die im Besitz wunderbarer arithmetischer Fähig- keiten waren, um dann eine psychologische Analyse dieser Fähigkeiten selbst folgen zulassen. Hierbei legt er insbesondere die charakteristischen Züge, die das Gedächtnis und die arithmetische Assoziationsfähigkeit jener Wundermänner aufweist, klar. Das Ganze enthält viele interessante Einzelheiten und manche praktischen Winke für den Bechenunterrioht.

Gaupp (London). H. HöFFDiNo. Die QesetzmäTsigkeit der psychischen Aktivität. Vtertd-

jahrsschrift für mssensch. Philos. XV. H. 4. (1891) S. 373—91.

Verf. behandelt unter diesem allgemeinen Titel ein spezielles Problem^ in dem die Gesetzmäfsigkeit der psych. Aktiv, in Frage kommt. Ist die eigen- tümliche Natur der moralischen Gefühle (insb. des Beue- und Schuldgefühls) dadurch bedingt, dafs für sie das Kausalgesetz gar nicht oder nicht gans gültig ist? Sind wir diesen Gefühlen gegenüber vor die Alternative ge- stellt, entweder Kausalitätslosigkeit anzunehmen oder sie als auf Illusion gegründet zu verwerfen? Eine solche Fragestellung scheint dem Verf. auf einer Verwechselung des Standpunkts der Psychologie mit dem der Ethik zu beruhen. Für die Psychologie als solche ist es gleichgültig, ob die Vorstellung, mit der ein GefUhl assoziiert ist, gültig ist oder nicht. Verfasser zeigt dann weiter, was schon oft gezeigt wurde, wie die Ent> stehung der Vorstellung von der Kausallosigkeit eines Willensakta psychologisch zu erklären ist. Im zweiten Teil behandelt er das determi- nistische Problem als ethische Frage, indem er die Frage nach der ethischen Bedeutung und Berechtigung derjenigen Gefühle, auf die man oft die Notwendigkeit gründet, die Kausallosigkeit des Wissens anzu- nehmen, zum Ausgangspunkt nimmt. Das Resultat dieser Untersuchung und einer sich daran knüpfenden Polemik gegen Prof. Kromans Log^k

Lüteraturbericht 201

uzKi Psychologie ist der Nachweis, dafs Gesetzmälsigkeit der psychischen A^lctivität auch eine Grundvoraussetzung der Ethik ist.

Gaupp (London). W. T. Harris (Washington). Fndtfal Lines of Investigation in Psyclio- logy. Educatümal Bev. (New York), I., 1891, S. 8—14.

Der verlockende Titel dieses Aufsatzes könnte gelegentlich irre- leiten; ich mache daher darauf aufmerksam, dafs der wohlmeinende Verfasser lediglich beabsichtigt, die Pädagogen seines Landes vor der physiologischen oder materialistischen Psychologie zu warnen. An und filr sich taugt sie nichts; sie verfährt blofs die Leute zum Materialismus und zur Negation der ethischen und religiösen Überzeugungen des Zeit- alters. Nur wenn sie korrigiert und getragen wird durch das Studium der Seele als eines unabhängigen und selbstthätigen Wesens, kann sie allenfalls auch dem Erzieher von Nutzen sein.

Hoffentlich lassen sich^s die Leute gesagt sein und bleiben von einer so bösen Wissenschaft, Ebbinghaus.

L. Manoutribr. Leg aptitndes et las actes* Bernde scientifique. Bd. 48. No. 8. (1891). S. 225—237. Wie die phylogenetische Entwickelung der Leibesform, so ist auch die Psyche, und zwar auch die des Individuums gewissermafsen die Resultierende aus den Einwirkungen der AuTsenwelt und der spezifischen Art und Weise, wie diese vom Organismus aufgenommen und verwertet Werden. Nach der Ansicht des Verfassers wird nun ganz allgemein auf ^en ersten Faktor zu Gunsten des zweiten viel zu wenig Gewicht gelegt. ^an gewährt dem Angeborenen einen viel zu grofsen Spielraum gegen- über dem Anerzogenen; man unterschätzt die Anpassungsfähigkeit der psychischen Himfunktionen gegenüber ihrer spezifischen Energie, wenn ^er Ausdruck hier gestattet ist. In Wirklichkeit seien unsere Hand- lungen gleichsam nur das Echo der Aufsenwelt. Das Gehirn als ana- tomisch-physiologisches Substrat der psychischen Vorgänge wäre einem kavier zu vergleichen, dessen Tonerzeugnisse zwar nicht unabhängig ^on seiner besseren oder schlechteren Konstruktion sind, aber doch in Uiivergleichlich höherem Mafse von Geschick und Laune des Spielers abhängen, dessen Holle im vorliegenden Falle eben die Aufsenwelt

'fortritt. SCHABFBR.

^ONHKsiAT. Sur röquation personnelle dana las observations de passages. Comptes rend,, CXn, Nr. 4, 1891, S. 207 ff. Verfasser hat die Änderung seiner persönlichen Gleichung durch Verschiedene Umstände, welchen teils nur ein astronomisches teils aber ^tich ein psychologisches Interesse zukommt, untersucht. In allen Fällen ^lirde sowohl die Augen- und Ohrmethode als auch die elektrische Registrierung benutzt. Es ergab sich, dafs die elektrische Registrierung ^ allgemeinen überlegen ist und nur in einzelnen Fällen die Augen* Und Ohrmethode den Vorzug hat. Sghxtmamn (Göttingen).

^. Stboobamt. Becherches ezpörimentales anr Täqnation personnelle dana le« observationa de passage. Compt Bend, Bd. 113, S. 457. (12. Okt. 1891.)

202 LiiteraturherichL

Verfasser untersucht die persönliche Gleichung in bekannter Wnse mit Hilfe eines künstlichen Sterns und findet u. a. folgende Besultate von allgemeinerem Interesse :

. 1. Die persönliche Gleichung liefert kleinere Werte bei elektrischer Begistrierung als bei der Auge- und Ohrmethode; aber die Unte^ schiede sind nicht sehr bedeutend.

2. Wenn das passierende Gestirn einen Durchmesser hat, so registriert man den vorausgehenden Band durchweg zu früh, den nachfolgenden durchweg zu spät. Auf die Gröfse des Durchmessers kommt es dabei nicht an.

3. Bei längerer Fortsetzung der Experimente zeigt sich die Tendenz, zunehmend früher zu registrieren.

4. Der Beobachter ist ziemlich gut im stände die relative Genauigkeit seiner Beobachtimgen nach dem unmittelbaren Eindruck, den er davon hat, zu beurteilen. Str. notierte sich in einer Anzahl von Fällen, ob die Begistrierung nach seinem JJrteU. viel zu früh, «u/ruA oder ein wenig zu früh (bezw. zu spät) erfolgt sei, imd fand hinterher als Mittel der zugehörigen Zahlen 0.058, 0.041 und 0.017 Sek.

5. Bei der Abschätzung von Dezimalen (sowohl bei Sekunden wie bei Millimetern) giebt es gewisse subjektive Prädilektionen für einzelne Zahlen, auf die man also vorwiegend häufig verfällt. So kommt z. B. die Dezimale 0 bei weitem am häufigsten vor, dagegen 9 bei weitem am seltensten. Ebbinghaus.

H. Siebeck. Beiträge znr Entstehnngs-Oeschichte der neneren Psycho- logie. (Progr, der Universität Oiefsen,) Giefsen 1891. 35 S. 4*.

Von der Sorgfalt und Umsicht, die wir an dem Verfasser gewohnt sind, erhalten wir in einem neuen wertvollen Beitrag zur Geschichte der Psychologie eine weitere Probe. Seinen Satz, dafs die Zeit zwischen Thomas und den Häuptern der Benaissance-Philosophie an neuen £^ kenntnissen oder Ansätzen auf dem Gebiete der Philosophie höchst fruchtbar gewesen ist, bewährt Siebeck an zwei sehr disparaten Er- scheinungen, an der EcKHARTischen Spekulation und dem Empirismus Buridans. Unzweifelhaft richtig ist seine Ausführung, dafs bei Eckhabt and in seiner Schule zuerst mit klarem Bewufstsein der Begriff des Gefühls als koordinierten dritten Geistesvermögens zu Verstand und Wille er- fafst wird, auf Grund allerdings thomistischer Denkweise, aber zugleich nicht ohne ausdrückliche Kritik derselben. Die Vertiefung in die Inner- lichkeit, wie sie seit Bonaventura und den Victorinern geläufig geworden ist, wirkt in derselben Bichtung das ganze spätere Mittelalter hindurch nach, auch bei Duns, bei Occam; am energischsten wird doch die reine Subjektivität als Beziehung des Subjekts auf sich im Gegensatze zu der denkenden und wollenden Beziehung auf das Objekt bei Eckhabt als der tiefste Grund aller Erscheinungen des Seelenlebens herausgehoben, und Eckhart findet in dem Begriffe des Seelengrundes, des „Fünkleins", des „Gemütes^' als des Inbegriffs reiner Innerlichkeit auch eine bestimmtere Ausprägung für seine Intention. Treffend macht Siebeck darauf auf- merksam, dafs die Ausdrücke „Geschmack^ und „schmecken^, und so

Litteraturbericht 203

auch „Minne^ bei Eckhart geradezu terminologisch dienen, den fehlenden Ausdruck für das, was wir QefCihl nennen, leidlich zu ersetzen. Die beiden folgenden Abhandlungen beschäftigen sich mit Bübidan, seiner Auffassung der Willensfreiheit und den Anfängen der psychischen Mechanik bei ihm. SiEBEOK nennt Buridan den eigentlichen psychologischen Fachmann unter den Scholastikern, der die Probleme der inneren Erfahrung eigentümlich durchdachte und wie die Wahrnehmung so auch das Wollen nicht ohne Erfolg zum Gegenstande seiner Forschung machte. Buridan unter- scheidet den Trieb vom Begehren und Wollen, im Willen ein aktives und ein passives Element; er bezeichnet den engen Zusammenhang zwischen Vorstellen und Wollen ; Wille ist ihm nicht eine vom Intellekt verschiedene Kraft, sondern nur eine andere Thätigkeitsrichtung der einheitlichen Seele. Gegen Überweg konstatiert Siebeck, dals Buridan die Frage der Willensfreiheit nicht unentschieden gelassen, sondern dem Willen die Thätigkeit zugeschrieben hat, den Intellekt zu leiten und sich praktisch nach Willkür zu bestimmen, während die Tiere determiniert sind. Die Freiheit der Willkür dient der ethischen Freiheit als ihrem Ziele, in der dann der Intellekt die Herrschaft über den Willen übt. Endlich werden noch bei Buridan Grundlagen zur Assoziationspsycho- logie nachgewiesen. Es findet sich bei ihm eine Eeihe von feinen Be- obachtungen über die Enge des Bewufstseins, die gegenseitige Hemmung von Empfindungen, die Wirkungen des Kontrastes, eine Farbenlehre, die als Vorläuferin der GoETHEschen bezeichnet werden darf. Die Frage, wie diese Theorien weiter gewirkt haben auf die Späteren, bezeichnet Siebeck als eine bedeutsame Aufgabe weiterer Forschung.

A. Lasson.

P. Kronthal. Schnitte durch das centrale Nervensystem des Menschen.

Gefertigt, photographiert und erläutert. 18 Tafeln mit 29 Heliogra- vüren nach Original-Negativen und erläuterndem Text. Berlin, Speyer und Peters 1892. Folio. (Selbstanzeige).

Es war schon seit lange meine Absicht, die Photographien einer gröfseren Anzahl von seltenen und besonders instruktiven Schnitten durch das centrale Nervensystem des Menschen zu veröffentlichen. Die betref- fenden Schnitte zeichneten sich nämlich einerseits durch die Eichtung aus, in der sie geführt waren, andererseits durch die Gröfse. Was das Erste betrifft, so wurden die Schnittebenen so gewählt , dafs eine ganze Bahn oder ein möglichst grofser Teil derselben in den Schnitt fiel die Bahn der Pyramiden, der Schleife, der columnae posteriores fornicis» der commissura posterior, der columnae anteriores fornicis, der commis- sura anterior, der brachia conjunctiva und der austretenden Hirnnerven ist dargestellt bezüglich des zweiten Punktes ist mir nicht bekannt, dafs mit Ausnahme des Atlas von Lirrs je Schnitte durch das ganze Ge- hirn durch ein photographisches Verfahren veröffentlicht worden sind. Im LuYsschen Atlas sind aber die Photographien sehr detaillos ; ob dies an den Präparaten oder an der photographischen Technik gelegen hat, ist schwer zu beurteilen.

204 LiUer<iHirbericht

Zur Yervielfältigong mittelst eines photographischeii Verfahrens be* stimmten mich verschiedene Umstände. Die Zeichnungen, die wir yom Nervensystem besitzen, sind mehr oder weniger schematisch. Es ist nicht möglich, alle Details, die ein Präparat zeigt, mit dem Griffe wiederzugeben. Femer leiden viele der Abbildungen von Schnitten durch das Gehirn unter einer subjektiven Auffassung des Zeichnenden. Deshalb wurde auch in dem vorliegenden Werke jedwede Betouche y«^ mieden. Somit ersetzen diese Photographien auch zum Teil die Prl> parate selbst.

Der Atlas giebt vermittelst 29 Abbildungen eine vollständige Ol)e^ sieht über den Faserverlauf im centralen Nervensystem, als auch über die Form der dasselbe zusammensetzenden einzelnen Gebilde. Die erste Tafel zeigt Präparate vom Rückenmark. Dann folgen Querschnitte durch die medulla oblongata und pons, hierauf Schnitte durch das ganze Gbhira in horizontaler, frontaler und sagittaler Bichtung.

Ich glaube, der Lernende und Lehrende wird in vorliegendem Atlas manches finden, was ihm bisher keine Zeichnung gezeigt hat. Es werden ihm sicherlich auch einzelne Verhältnisse klarer werden, und wird er eher imstande sein, sich an der Hand dieser Tafel in seinen Präparaten zu orien- tieren, als mit Hülfe der Schemata. Die Erläuterungen wurden möglichst eingehend gegeben, d. h. so, dafs fast alle Punkte des Bildes bezeichnet worden sind. Von einer zusammenhängenden Darstellung der Anatomie des Nervensystems glaubte ich Abstand nehmen zu können und m müssen, denn einerseits besitzen wir eine grofse Anzahl desoriptiTer Anatomien des Nervensystems , andererseits wäre ich nicht in der Lago gewesen, über einige Bildungen, die in den Photographien zwar klsr zu erkennen sind, über deren Schicksal in anderen Ebenen aber noch nichts Definitives auszusagen ist, Auskunft zu geben.

J. Gaule. Die Bingbänder der Nervenfaser. Mitgeteilt nach ünte^

suchungen von Dr. Johansson. Centralblatt für Fhysiol, V., No.

29. Aug. 1891.

Durch eine besondere Färbungsmethode brachte Joh. an peripherea

Nervenfasern des Frosches und Kaninchens eigentümliche Querb&nder

hervor, die in ihrer Lage den ScHMiDT-LANTERMANKSchen Einkerbnsgon

des Nervenmarks entsprechen. Gaule sieht darin eine Bestätigung seinem

in dieser Zeitschr. (11., 1, S. 18) ausgesprochenen Vermutung, dafs die

durch jene Einschnürungen abgeteilten Markstulpen einer ursprünglichen,

allerdings modifizierten zelligen Gliederung der Nerven entspringen.

Ebbinohaub.

M. Knies, üeber die centralen Störungen der willkttrlichen Augen- muskeln. Ärch, für Äugenheilk. XXII. (1890.) S. 19—61. Bekanntlich haben Schäfer sowie Münk und Obrbgia vor einigen Jahren nachgewiesen, dafs elektrische Beizung der Sehsphäre assoziierte Augenbewegungen nach der entgegengeeetzten Seite auslösen. Unter Berücksichtigung dieser Versuchsresultate, sowie gestützt auf allgemeine

Litteraturbericht 205

klin. Beobachtungen und unter Zugrundelegung neuerer Himanatomischer und histologischer Ergebnisse sucht der Verf. die verschiedenen hier in Frage kommenden physiol. Mechanismen theoretisch klar zu legen und hieraus die Konsequenzen für die menschliche Pathologie zu ziehen, aber leider ohne neues thatsächliches Material vorzubringen.

Die Fasern, welche mit den Augenmuskelnervenkernen sich in Verbindimg setzen, trennt Verf. in solche, welche die unwillkürlichen Beflexe vermitteln, und solche, die den durch Sinnenreize veranlalsten willkürlichen Augenbewegungen dienen. Die letztgenannten entstammen vorwiegend der MüKKSchen Sehsphäre ; diese letztere sei demnach als das eigentliche motor. Bindencentrum für die willkürlichen Augenbewegungen (6 äuTseren Augenmuskeln), sofern sie durch Gesichtswahrnehmimgen veranlafst werden, aufzufassen. In der Besprechung der bei der Innervation der willkürlichen Augenbewegungen stattfindenden Vorgänge führt Verf. ein bisher viel zu wenig berücksichtigtes Moment, nämlich die Intensität der Beize, in die Betrachtung ein, bewegt sich dabei, wie im allgemeinen vielfach auf dem sehr schwankenden Boden der Hypothesen. Unter Einschränkung der MuHKschen Lehre nimmt Verf. an, dafs von jeder Netzhautstelle die ganze gekreuzte Sehsphäre erregt wtlrde, e i n d Stelle derselben aber am intensivsten, die (übrigen umgekehrt proportional zu der Entfernung. Von der erregten Bindenstelle aus werden bestimmte motorische Ganglienzellen der Augenmuskelkerne am stärksten inneviert, d. h. diejenigen, welche eine Bewegung der macula beider Augen nach dem Orte des Beizes bewirken. Je peripherer der Beiz im Gesichtsfeld auftritt, um so peripherer erregt er die Sehsphäre, und um so energischer ist auch der motorische Impuls zu konjugierten Bewegungen (Ob regia). Diese Augenbewegungen sind stets konjugiert und associiert, behufs binocul. Einstellung auf eine bestimmte Stelle des Sehfeldes ; sie sind willkürliche und bewufste und dürfen nicht als niedere Sehreflexe (Munk) aufgefafst werden.

Während das eigentliche Augenbewegimgscentrum mit der Seh- sphäre zusammentut, müsse das corticale Centrum für die Augenlider (Öffnung und SchluTs) in das Bindenfeld des Quintus (vorderes Ende der vorderen Zentralwindung) verlegt werden.

Die verschiedenen vom Verf. postulierten Verbindungen der Augen- muskelkeme mit dem Kortex, mit den primären opt. Centren und mit dem Bückenmark werden durch ein Schema (welches anatomisch noch schwach gestützt ist. Bef.) illustriert, welches namentlich durch ein scharfes Auseinanderhalten des sogen, „primären Beflexbogens^' und des „willkürlichen Beflexbogens'^ charakterisiert ist. Die willkürliche Lid- öfPnung denkt sich Verf. vermittelt durch Assoziationsfasern zwischen Sehsphäre und jenem kortikalen Centrum für die Augenlider.

Wenn die Sehsphäre wirklich Ursprungsstätte der willkürlichen Augenbewegungen ist, dann müssen, so schliefst Verf., Erkrankimgen derselben notwendig von Bewegungsstörungen gefolgt sein, und es können solche nur konjugierte und assoziierte sein. Dies treffe nach den bisherigen klinischen Erfahrungen (deviation conjugee) voll- ständig zu. Willkürliche Augenbewegungen bei Bindenblinden werden

206 lAtteraturhencht

nicht durcbLichteindrücke, sondern durch andere Sinnenreize veranlafst, wobei direkte Faserbeziehungen zwischen Augenmuskel- kernen und jenen Sinnesorganen entsprechenden Kindenfeldem anzunehmen wären. Die Dyslexie hält Verf. für willkürlich mangelhafte konjugierte Bewegungsfähigkeit der Bulbi nach der Seite des blinden Gesichtsfeldes.

Im allgemeinen werden nach Verf. Seh- und Bewegungsstörungen nach Läsionen in der Sehstrahlung von solchen nach Erkrankung der Sehsphäre selbst schwer zu unterscheiden sein; zeige sich aber eine Stabkranzfaserunterbrechung in unmittelbarer Nähe der Augenmuskel- kerne, dann könne der Fall eintreten, dafs bei Störung der will- kürlichen Augenbewegung eine hemian. Sehstörang nicht zur Beobachtung käme. Bei Ausschaltung der motor. Fasern, welche der Maculagegend der Sehsphäre entsprechen, wäre eine Störung in der Konvergenz („mangelhafte Fusion*^) zu erwarten, ein neues, bisher nicht beschriebenes Herdsymptom. Bei Läsionen zwischen den primären optischen Centren und den Augenmuskelkemen (d. h. innerhalb des 1. Reflexbogens) würden die willkürlichen Augenbewegungen nicht behindert, auch bliebe Hemianopsie aus, wohl wäre aber hier eine hemian. Pupillenreaktion auf Licht als einziges Symptom zu erwarten, was auch noch nicht beobachtet wurde, worauf jedoch in Zukunft geachtet werden müiste. Letztere Arten von centralen Augenmuskellähmungen bezeichnet Verf. als perinukleäre oder internukleäre.

Was die Beziehungen der verschiedenen Zellengruppen des Okulo- motoriuskems zu den Augenmuskeln anbetrifft, so schliefst sich Verf. am engsten an das A. STARRSche Schema an und nimmt für den Sphinkter Pupill. den vorderen seitlichen und für den Ciliarmuskel den WbstphaIt EDiNGERSchen Kern in Anspruch. Den centralen Kern von Psrlia bringt er mit dem rectus intern., den vordersten (in Übereinstimmung mit fmderen Autoren) mit dem levator palpebr. in Beziehung. Diesem reihen sich von vom nach hinten die lateralen Gruppen, für den rectus super»» obliqu. infer. und rectus inf. an. Die centralen Verbindungen stellt sich Verf. so vor, dafs jede Sehsphäre vorwiegend mit dem gleichzeitige^ Okulomotorius und Trochlearis und dem gekreuztenAbducens verknüpft sei, auch nimmt er für den Okulomotoriuskem eine Art von motor. Pro- jektionsfeld an, in der Weise, dafs der vordere Teil der Sehspäre vor- wiegend mit der Innervationsstelle des rectus inf., der hintere Abschnitt mit derjenigen des rectus sup. imd die Maculastelle (welche die Zellen- gruppen für Konvergenz und Assoziation beherrsche und mit beiden Hemisphären durch Fasern verbunden sei) mit derjenigen des rectus int. in Beziehung treten (vgl. Schäfer und Munk).

Auch die vom Verf. postulierten Projektionsfasem aus den andern Bindenpartien verliefen vorwiegend zum gleichseitigen Okulomotorius und Trochlearis und zum gekreuzten Abducens. Dieselben bewirkten nur eine „ungefähre Bewegung der Augen nach rechts, links etc.**» während die feine Einstellung nur von der Sehrinde aus möglich w&re^ mit Hülfe der daselbst zum Bewufstsein kommenden Seheindrücke.

C. V. Monakow (Zürich).

Litteraturbericht 207

Gh. A. Oliver. Ein Fall von intrakranieller Neubildung, lokalisiert durch okulare Symptome. (Übersetzt von A. Weiland.) Knapp und Schweiggers Ärch. f, Äugenheük. Bd. XXIV. S. 157—160.

Die Krankengeschichte ist kurz folgende: F., 39 J. alt, hat vor zwei Jahren an Schwindel, Kopfweh und Anfällen von plötzlicher Blindheit gelitten. Trauma, Lues, Mifsbrauch von Stimulantien liegt nicht vor. Es stellte sich zuerst eine Steifheit und Taubheit des rechten Fufses ein, dann traten häufig im rechten Arm eigentümliche, denselben an den Thorax adduzierende Krämpfe auf.

Die okularen Symptome waren: Centrale Sehschärfe beiderseits S. = 7»; centrales Skotom für Kot und Grün; rechtsseitige laterale Hemianopsie; schwache negative Skotome für Grün, besonders links; Wernickes hemianopisches Fupillenreaktionszeichen; die linke Iris reagiert schwächer.

Ophthalmoskopisch erscheinen die Arterien und Venen des rechten Auges geschlängelt, verbreitert und mit schwarzem Blut gefüllt. Eine breite Blutung besteht rechts im unteren äufseren Quadranten.

Die Symptome weisen auf eine grobe linksseitige intrakranielle liäsion hin, welche so gelegen ist, dafs sie den gröfsten Druck auf den linken Tractus opticus zwischen Corpora quadrigemina und Chiasma verursacht. Hauptsitz der Läsion in der Gegend des linken Fulvinar.

Diese Diagnose wurde durch die Sektion bestätigt.

R. Greeff (Berlin). Breisacher. Zur Physiologie des Schlafs. Du Bots Beymonds Archiv 1891. S. 321.

Verf. findet auf Grund eigener Versuche (bei Salkowski gearbeitet), übereinstimmend mit Zülzer, dafs im Schlaf bei gewöhnlicher Diät die Phosphorsäure- Ausscheidung höher ist als am Tage, hat jedoch, wohl mit Becht, Bedenken, diese Vermehrung mit den Vorgängen des Schlafs in direkten Zusammenhang zu bringen ; er macht vielmehr die Möglicheit geltend, dafs die niedrige relative Fhosphorsäure-Ausscheidung in den Stunden von 8 Uhr morgens bis 4 Uhr nachm. vielleicht der Nacht ent- spreche. Verl*, kommt im Verlaufe seiner Schlufsfolgerungen zu dem Resultat, dafs die ErmüdimgsstofiP-Theorie des Schlafs unrichtig sei. Im Zusammenhang hiermit spricht er sich auch gegen die MAüTHNERSche Schlaf-Theorie aus. , Goldscheider (Berlin).

G. Kirchhoff. Vorlesungen über mathematische Phsrsik. Zweiter Band.

Mathematische Optik. Herausgegeben von K. Hansel. Leipzig. 1891.

B. G. Teubner. VIII und 272 S. Bald nach der Übersiedelung von Heidelberg nach Berlin unter- brach G. Kirchhoff die Herausgabe seiner Vorlesungen über mathematische Physik. Der ungemein grofse Zuhörerkreis, der sich in jedem Semester zu den Füisen des allverehrten Meisters sammelte, legte diesem den Gedanken nahe, die systematische Darstellung seines Lehrgebietes lediglich auf den mündlichen Vortrag zu beschränken. Nach dem Tode Kirchhoffs übernahm K. Henbel die Aufgabe, mit Hilfe der hinter-

208 lAtteraturbericht

lassenen BJanuskripte und mehrerer Nachschriften der 1876 erschienenen ^Mechanik^' zunächst die „mathematische Optik'' folgen zu lassen. Der Beferent, welcher seihst früher diese Vorlesung gehört hat, bedauert, dafs ihm der Eahmen dieser Zeitschrift nicht gestattet eingehender hervorzuheben, wie vortrefflich Hensel die Lösung der übernommenen Aufgabe durchgeführt hat; denn nur ein sehr kleiner Theil des Buches hat zur physiologischen Optik direkte Beziehung. Zunächst ist es die in der 4. Vorlesung besprochene optische Wirkung eines centrierten liinsen* Systems, dann in der 5. Vorlesung die Lichtbeugung an dem Bande der Pupille (wo leider durch einen ofifenbaren Druckfehler die numerischen Verhältnisse völlig entstellt werden) und endlich in der 9. Vorlesung die Berechnung der Intensitätsverhältnisse des von einem Glassatz reflektierten und durchgelassenen Lichtes, die in der Theorie des HELMHOLTzschen Augenspiegels eine Bolle spielt und im Anhang zu der ersten HELMHOLTZschen Abhandlung über den Augenspiegel auch be- handelt ist.

Kirchhoff's Form der Darstellung, welche Hensel getreu be^ wahrt hat, ist streng abstrakt und daher auf die praktischen Ver* hältnisse nicht überall ohne weiteres anwendbar. Wer sich aber einmal in sie hineingearbeitet hat, der trägt dauernden und reichen Gewinn davon.

Die weiteren Bände (Wärme, Elektrizität imd Magnetismus) sind in Vorbereitung, werden uns aber keine Veranlassung bieten, sie hier zu besprechen.

Wenn nach einiger Zeit das ganze Werk vollendet vorliegt, so ist darin- Gustav Kirchhoff ein dauernderes und wertvolleres Denkmal gesetzt als in dem kostbarsten Aufbau von Stein und Erz.

Abt HUB König.

A. y. WoüYBBMANS. Faibenlelire. Für die praktische Anwendung in den verschiedenen Gewerben und in der Kunstindustrie bearbeitet. 2. Aufl. Wien, Pest und Leipzig. 1891. A. Hartleben's Verlag. VIU u. 196 S. „Der Verfasser dieser „Farbenlehre" hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf leichtfafsliche Weise das Wesen der Farben und die Wirkungen der- selben zu einander auf Grundlage der heutigen Naturwissenschafben zu erklären, um dem Gewerbetreibenden und dem technischen Zeichner die Möglichkeit zu bieten, die Farben mit Geschmack und Verständnis anzuwenden."

Diesen im Vorwort zu der ersten Auflage des Werkchens vorkommen- den Worten hat der Beferent nur hinzuzufügen, dafs die in ihnen um- schriebene Aufgabe im allgemeinen gelöst ist. Der Verfasser zitiert an allen wichtigen Stellen die Original- Arbeiten von Cheyreul, v. Bbücke, y. Hblmholtz u. s. w. im Wortlaut und meistenteils mit bibliographisch genauer Quellenangabe, so dafs der Weiterstrebende sofort erfährt, wo er sich eingehendere Belehrung verschaffen kann. Befremdend fällt auf, dafs das vortreffliche einen ähnlichen Zweck verfolgende Werk von W. y. Brzold, Die Farbenlehre im Hinblick auf Kunst und Kunstgewerbe, niemals benutzt ist.

lAUeraturbericht 209

Das rein Physiologische läfst manches zu wünschen ührig und im Abschnitt IV ist es ungerecht, ausschliefslich die YouNO-HBLMHOLTZsche Theorie zu erwähnen; die HERiNosche Auffassung ist doch für eine populäre Darstellung in gleichem Mafse geeignet, und welche von beiden Theorien die richtige ist, hat die Wissenschaft zur Zeit noch nicht entschieden. Arthur König.

0. Gerloff. Über die Photographie des Angenhintergrimdeg. Zehenders kl. MoncUsbl f. Augmheük. 29. Jahrg. (1891). S. 397—403. Mit einer Original-Photographie.

Das vielfach angestrebte Ziel, den lebenden menschlichen Augen- Mntergrund photographisch aufzunehmen, ist durch die vorliegende Arbeit endlich erreicht worden, und ein Blick auf die der Abhandlung beigegebene Originalphotog^aphie lehrt, dafs in Bezug auf die Vermei- dung aller störenden Beflexe die weitestgehenden Wünsche erftdlt sind ; auch die Schärfe des Bildes ist sehr gut. Wie es so oft bei der Lösung derartiger Probleme der Fall, zeigt sich auch hier wieder, dals zum iSchlufs eine infolge ihrer ungemeinen Einfachheit stets übersehene Versuchsanordnung dasjenige leistet, was bei den verwickeltsten Me- thoden zu erreichen nicht möglich war.

Dem zu photographierenden Auge wird ein etwas modifiziertes OzERMAKSches Orthoskop, das mit erwärmter physiologischer Kochsalz- lösung gefüllt ist, vorgesetzt und dann vermittelst eines grofsen Kehl- kopfspiegels in dasselbe das Licht einer Zirkonlampe oder einer Mag- nesiumlampe oder eines Magnesium -Blitzlichtes hineingeschickt. Die pbotographische Aufnahme geschieht durch die etwa 1 cm im Durch- niesser enthaltende Durchbohrung des Spiegels mit einem gewöhnlichen Objektiv.

Das Orthoskop beseitigt den störenden Befiex an der Cornea und vergrölsert zugleich das Gesichtsfeld, welches in der vorliegenden Photographie etwa 3 Papillen -Durchmesser breit ist. Dieses durch optische Hilfsmittel noch weiter auszudehnen dürfte nicht schwer sein.

Der lang ersehnte erste Schritt ist endlich gethan, und ein weites dankbares Feld bietet sich dem experimentellen Forscher dar. Hoffentlich haben wir recht bald weitere Erfolge zu verzeichnen.

Arthur König.

A. Carl. Ein Apparat zur Prüfimg der Sehschärfe. Knapp und Schweig gers Archiv f. Äugenheük., Bd. XXIV. S. 41 47.

Verfasser hat einen Apparat ersonnen, welcher die Sehprüfung schneller und bequemer vorzunehmen gestattet. Durch elektromagne- tische Kraft springen auf einer 5 m entfernten Tafel einzelne Buch- staben von verschiedener Gröfse beim Drücken auf eine Taste hervor. Die Sehschärfe ergiebt sich sodann nach der Buchstabengröfse, welche der Reihe nach einer Sehschärfe von 0,1, 0,2 etc. bis 1,0 entsprechen (nach MoKOYER und Maoawlt).

Es steht eine gröfsere Anzahl von Buchstaben zur Verfügung, als auf den üblichen Lesetafeln. Auch bei Simulation ist der Apparat recht brauchbar.

Zeitschrift für Psychologrie III. 14

210 Litteraturbtricht

Die gute Idee beeinträchtigt nur der noch recht hohe Preis des Apparates. B. Gbbeff (Berlin).

Y. FuKALA. Über die Ursache der Verbesserang der Sehschärfe bei höchst- gradig myopisch gewesenen Aphaken. Knapp und Schweiggera Arch. f. Augenheilk, Bd. XXIV. S. 161—168. Bei Emmetropen findet sich nach Entfernung der Linse durch Staaroperation ziemlich konstant eine Hypermetropie von 9,5 bis 10,0 D. Es wäre also zu erwarten, dafs eine Myopie von 10,0 D. im aphakischen Zustand in Emmetropie umgewandelt würde. Bei den vom Verfasser sehr zahlreichen operierten höchstgradigen Myopen wurde jedoch durch Linsenextraktion die Refraktion im Durchschnitt um 15,5 D. herab- gesetzt. Die Brechkraft der Linse scheint also bei hochgradiger Myopie 15,0 D. zu betragen. Die Verbesserung der Sehschärfe durch die Ent- fernung der Linse bei Myopie wird dadurch bewirkt, dals der zweite Knotenpunkt im Auge weiter von der Netzhaut abgerückt wird, wodurch die Gegenstände gröfser und näher gerückt erscheinen.

B. Gbeeff (Berlin).

V. FüKALA. Heilung höchstgradiger Kurzsichtigkeit durch Beseitigimg der Linse. Leipzig und Wien. F. Deuticke. 1891. 31 S.

Th. V. SoHRöDBB. Die operative Behandlung der hochgradigen Myopie mittelst Entfernung der Linse. St. Petersburger Med. WixAenschrifL

1891. No. 29. Die erste Broschüre enthält eine nicht nur fQr Augenärzte, sondern für den allgemeinen praktischen Arzt berechnete ausführlichere Dar- stellung der im vorhergehenden Beferat besprochenen Operation (Ent- fernung der Linse zur Beseitigung der Kurzsichtigkeit).

Der Verfasser der zweiten Abhandlung bestätigt ihren Lihalt auf Grund eigener Erfahrung. Arthur König.

P. Becker. Ober absolute und relative Sehschärfe bei verschiedenen Formen der Amblyopie. Zeh enders klin. MtsbL f. Augenhik 29. Jahrg. (1891). S. 404—423.

Die bei ruhender Accommodation nach möglichst vollkommener Korrektion aller optischen Fehler beim Sehen auf 5 oder 6 m entfernte Probeobjekte ermittelte Sehschärfe wird nach Donders ,,absolute Seh- schärfe" (S) genannt, während ,,relative Sehschärfe" (s) diejenige ist, welche das Auge für nahe Objekte bei thätiger Accommodation oder beim Gebrauch von Brillen zeigt. Der Verfasser hat nim 100 Amblyopen, bei denen S <C war, sorgfältig auf s untersucht und zu diesem Zwecke zugleich zwischen den SNSLLENSchen und den jABOERSchen Tafeln einen sorgfältigen Vergleich ausgeführt. Es ergiebt sich, dafs bei gleichem S die Werte von s ungemein verschieden sein können (z. B. bei S = Va4, schwankt s zwischen 1 und V«). Ordnet man aber die Am- blyopen nach „Eefraktionsambljopen**, „Trübungsamblyopen** und „Perzep- tionsamblyopen", so ist bei gleichem S in jeder dieser drei Ellassen eine viel bessere Übereinstimmung von s vorhanden.

Als praktische Folgerung aus dieser dankenswerten IJntersuchimg

Litteraturbericht. 211

ergiebt sich, dafs man bei grofsem TJnterscbied von S und s nicht ohne weiteres berechtigt ist, auf Simulation oder Aggravation zu schliefsen.

Arthur König. £. Fischer. Qesichtsfeld-Einengung bei traumatischer Nenrose. Knapp und Schweiggers Ärch. f, Äugenheilk. Bd. XXIV. S. 168—176.

Das von Oppenheim an der Hand von 33 Fällen aufgestellte Elrank- heitsbild der „traumatischen Neurose'^ ist in neuerer Zeit mehrfach angefochten worden. Von Schültze (Bonn), Seeliomüllbr und Mendel -werden die konzentrische Gesichtsfeldeinengung und die Anästhesien als stets auf Simulation beruhend betrachtet. Verfasser weist nun an einem typischen Fall, bei welchem Simulation als ausgeschlossen betrachtet werden kann, nach, dafs in der That solche Symptome, besonders konzentrische Gesichtsfeldverengung, bestanden. Er erwähnt, dafs gleiche Befunde auch in der ScHWEiooERSchen Klinik und von Uhthoff und Wilbrand gemacht worden sind. R. Greeff (Berlin).

H. E. LiESBOANo. Theorien der Farbenempfindnng. Photogr. Ärch, 32. Jahrg. (1891). S. 115—120. Der Verfasser giebt eine höchst unklare, zum Teil völlig falsche Darstellung der bisherigen Farbentheorien und versucht dann eine neue Tlieorie aufzustellen, welche die elektrischen Vorgänge in der Netzhaut zxi berücksichtigen sucht, aber über blofse Analogien nicht hinaus- kommt. Abthüb König.

1. C. Hess. Über den Farbensinn bei indirektem Sehen. Gräfes Ärch. XXXV. (4.) S. 1-62.

2. £. Hebino. Über die Hjrpothesen znr Erklärung der peripheren Farbenblindheit. Gräfes Ärch. XXXV. (4.) S. 63-83.

3. £. Hering. Berichtigung zur Abhandlung über periphere Farben- blindheit. Gräfes Ärch. XXXVI. (1.) S. 264.

^. A. FicK. Znr Theorie des Farbensinnes bei indirektem Sehen.

Pflüg ers Ärch. Bd. 47. S. 274—285. ^- £. Hbbing. Prüfung der sogenannten Farbendreiecke mit Hülfe des

Farbensinnes excentrischer Netzhautstellen, Pflügers Ärch. Bd. 47.

S. 417—438.

Die periphere Farbenblindheit, an welcher sich schon so viele

Beobachter abgemüht haben, wird von C. Hess einer vollständigen

experimentellen Durcharbeitimg sowohl mit Pigmentfarben, als auch mit

spektralen Lichtem unterzogen. Das äufserst reichhaltige Ergebnis der

schwierigen Untersuchung lälst sich in folgenden Sätzen zusammenfassen ,

wobei sich der Beferent im wesentlichen derjenigen Formulienmg an-

schliefst, welche E. Hebino in der zweiten der hier zu besprechenden

Abhandlungen gegeben hat.

1. Drei bestimmte homogene Lichter: ein gelbes (574 576 fifi), ein grünes (494—497 ft/n) und ein blaues (470—472 ^ju) werden auf allen Teilen einer neutralgestimmten Netzhaut, soweit sie überhaupt noch farbig erscheinen, in demselben Farbenton gesehen wie auf der centralen Netz- haut, wenngleich in sehr verschiedener Sättigung (Weifslichkeit).

2. Die übrigen homogenen Lichter ändern bei zunehmend indirektem

14»

212 Lüteraturbericht.

Sehen mehr oder minder deutlich nicht nur ihre Sättigung, sondern auch ihren Farhenton.

3. Von den drei genannten im Tone unveränderlichen Lichtem sind zwei, das gelbe und blaue, zu einander komplementär.

4. Jede zwei homogenen Lichter, welche für eine beliebige neutral- gestimmte Netzhautstelle komplementär sind, sind dies auch für jede andere. Das Mischungsverhältnis kann innerhalb der Macula' ein anderes sein als auTserhalb.

5. Zusammengesetzte Lichter, deren Farbenton dem Tone «ines der drei unveränderlichen homogenen Lichter entspricht, ferner Lichter von einem bestimmten roten Farbentone, endlich alle weifs erscheinenden Lichter ändern ebenfalls bei zunehmend indirektem Sehen ihren Ton bezw. ihre Farblosigkeit gar nicht, sofern die Netzhaut neutralgestimmt ist und ihre intramakulare Zone aufser Betracht bleibt, d. h. die Beobachtung an der äufseren Grenze der Macula begonnen wird.

6. Alle übrigen gemischten Lichter ändern unter den genannten Umständen nicht nur ihre Sättigung, sondern auch ihren Farbenton.

7. Die im Tone unveränderlichen roten Lichter geben passend ge- mischt mit dem unveränderlich grünen für jede neutralgestimmte Netz- hautstelle Weifs, ebenso die unveränderlichen gelben mit den blauen.

8. Jede für eine farbentüchtige extramakulare Netzhautstelle gültige Farbengleichung gilt auch für jede beliebige andere extramakulare Stelle. Jede zwei gegenfarbigen Lichter von gleicher weifser Valenz, welche, halb und halb gemischt, für die farbeutüchtige extramakulare Netzhaut Weiis geben, mindern bei zunehmend indirektem Sehen ihre Sättigung in dem- selben Mafse, werden also auch gleichzeitig farblos und bilden dann unter sich eine Gleichung.

Der Eeferent muJfe Hess und Hering darin unbedingt Becht geben, dafs alle diese Ergebnisse mit der Theorie der Gegenfarben in völligem Einklang stehen; er kann ihnen aber nicht beipflichten, wenn sie die- selben mit der YouNG-HELMHOLTzschen Theorie für unvereinbar erklären. Hkrikg beschäftigt sich in den beiden Abhandlungen hauptsächlich mit dem Nachweis dieser Unvereinbarkeit und benutzt hierbei das von d<»m Referenten gemeinsam mit C. Dieterici auf Grund messender Versuche berechnete Farbendreieck. Jede von dem Weifspunkt einer solchen Farbentafel nach irgend einem Punkte des Dreieckumfanges gezogene Gerade enthält alle diejenigen Lichter, welche denselben Farben ton (in verschiedener Sättigung) haben. Aus den Beobachtungen von Hess er- giebt sich nun, dafs vier von diesen Geraden dadurch ausgezeichnet sind, dafs die auf ihnen liegenden Lichter bei zunehmend indirektem Sehen ihren Farbenton nicht ändern, sondern nur minder gesättigt, d. h. weiis- licher werden; sie müssen also für jede beliebige Netzhautzone auf der bezüglichen Geraden bleiben, nur wird mit zunehmendem Abstand von der Macula der Abstand des betreflfenden Punktes von dem Weifspunkt der Farbentafel geringer. Da diese vier Geraden paarweise komplementäre Lichter enthalten, so bilden sie zusammen zwei Geraden, welche sich im Weifspunkte schneiden. (Es mag hier noch darauf hingewiesen sein, was Herimo \md Hess nicht aufgefallen zu sein scheint, dafs diese beiden Geraden

Litteraturbericht 213

auch in dem ^^KöNiG-DiETERicischen Farbendreieck" eine ausgezeichnete Lage haben : Die eine ist das von der Blau-Ecke auf die Kot-Griln-Seite, die andere das von der Eot-Ecke auf die Grün-Blau-Seite gefällte Lot.) Wenn wir nun für eine beliebige periphere Netzhautzone in dem Farben- dreieck die Kurve der spektralen Lichter und der aus diesen zu mischen- den Purpurtöne zeichnen wollen, so haben wir, und darin stimmt der Referent Hering völlig zu, die betreffenden Punkte auf den beiden Teilen derselben Geraden um den gleichen Bruchteil ihres Abstandes vom Weifs- punkte diesem zu nähern; es ist aber nicht erforderlich, wie Hering glaubt, dafs eine gleiche Annäherung auch für die beiden auf der anderen Geraden gelegenen Punkte eintritt. Ja, aus den Hsss'schen Versuchen geht sogar hervor (siehe u. a. Seite 19), dafs beim Übergang von einer „farben- tüchtigen" Netzhautstelle zu einer bestimmten peripheren Zone die Verschiebung auf dem Kotgrün-Durchmesser viel stärker sein mufs, als auf dem Blaugelb-Durchmesser. Dann aber ist die HERiNosche Schlufs- folgerung, beim Übergang auf stets peripherer gelegene Netzhautstellen könne sich die Kurve der spektralen und purpurnen Lichter nur ohne ihre Gestalt zu ändern immer mehr und mehr verjüngen, bis sie schliefslich für die total farbenblinde Netzhautperipherie in einen Punkt zusammenschrumpft, hinfällig, und dann müssen auch nach der Youno- HELMHOLTzschen Theorie die Lichter, welche nicht auf diesen beiden ausgezeichneten Geraden liegen, ihren Farbenton ändern.

FiCK macht in seiner Abhandlung im Prinzip dieselben Einwände gegen die HERixGschen Schlufsfolgerungen wie der Eeferent, doch ist die ^onn seiner Beweisführung eine wesentlich andere; sie kann aber ohne Abdruck der benutzten Figuren nicht referiert werden. Wie Fict zu dem »*^hlusse kommt, dafs die in den HESs'schen Versuchen ausgezeichnete ^ot-Grün-Gerade der Eot-Grün-Seite des Farbendreiecks parallel sein *^ufs, ist dem Referenten nicht ersichtlich. Es ist oben schon erwähnt, ^b.[b dieselbe durch die Rot-Ecke des KöNiG-DiETERicischen Farbendreiecks ^^ht. Arthur König.

^oiszEwsKT. Hypothese über die Entstehung der Gedächtnissparen von SeheindrfickenundderreflektiertenBewegongen. CentrcUblatt für Nerven- heilkunde und Psychiatrie, Juni 1891. S. 241.

Unter der Einwirkung des Lichtes tritt in den Vorderenden der ^^etzhautstäbchen eine chemische Zersetzung ein und zwar, wie N. glaubt, nach Art einer Explosion. Man mufs sich das mit Sprengstoff ftngefQllte Vorderende der Stäbchen vorstellen als aus einer ganzen Keihe von einzelnen, durch Zwischenwände voneinander getrennten, durch die Achse aber verbundenen Ladungen bestehend; hat die Explo- sion einer Ladung stattgefunden, so fällt an dieser Stelle die Hülle ein und bildet eine ringförmige Falte, die als Strich dauernd kenntlich bleibt. Diese Striche sind die Gedächtniszeichen, und man mufs also das Gedächtnis als eine konservierende, aber negative Erscheinung be- trachten. Die durch die Einwirkung des Lichtes in den Vorderendeu der Sehfäden hervorgerufene Veränderung entwickelt elektrische Ströme, die durch die Nervenfasern ins Gehirn geleitet werden imd in den

214 LittercUurbericht

Ganglienzellen eine ähnliche Explosion wie in den Stähchen hervor- bringen, wiederum mit Hinterlassung eines Striches.

Da nach gemachten Beobachtungen viele Nerverfasem die Zellen ohne Unterbrechung passieren, so kann man annehmen, dals der elektrische Strom ohne Unterbrechung in einer Empfindungszelle in die Zellen der zweckmäfsigen Bewegungen eintritt und in diesen, sowie in den von ihnen abhängigen Muskelendenapparaton eine Explosion und somit eine ohne Theilnahme des Bewufstseins im Denkapparate zu stände kommende reflektierte Bewegung hervorruft.

Je länger ein Lichteindruck wirkt« desto mehr Nervenenden- ladungen explodieren und desto mehr Spuren werden hinterlassen; die Spuren gleichzeitiger Eindrücke liegen nebeneinander, Spuren von der Zeit nach ungleichen Eindrücken hintereinander. Wiederholungen von Scheindrücken sind gleichbedeutend mit einer mehr oder weniger grofsen Anzahl von Strichen ein und derselben Nervenfaserendigung, sei es im Sinnesapparat, in der Medulla oder in der Kirnrinde, und bleiben um so mehr dem Gedächtnis fest eingeprägt. Peretti (Merzig).

E. Lindemann. Über eine von Prof. Oeraski angedeutete persönliclie Gleichung bei Helligkeitsvergleichungen der Sterne. BtUl. de VÄcad. des Sc. de St Htersbourg, Bd. 24, 1. S. 77—82. (März 1891). Cebaski machte im vorigen Jahre Mitteilung von einer Wahr- nehmung, auf die unter Umständen nicht nur bei astronomischen, sondern auch bei anderen Beobachtimgen Eücksicht zu nehmen ist. Er bemerkte nämlich, dafs ihm bei Vergleichung objektiv gleich heller Sterne stets der rechts gelegene um etwa Vs Gröfsenklasse lichtschwächer erschien als der links gelegene. Linüemann widmet der Sache eine Reihe von Beobachtungen und findet sie für seine Augen bestätigt. Nur ist der Unterschied für ihn merklich geringer; er sieht den rechts stehenden Stern durchschnittlich nur um V& Gröfsenklasse schwächer als den links stehenden. Gleichzeitig giebt er auch eine, vermutlich zutreffende, Er- klärimg des Phänomens. Die Beobachter, bei denen diese persönliche Gleichung in dem genannten Sinne besteht, werden die Tendenz haben, vorwiegend rechts zu fixieren. Dadurch fällt das Bild des links gele- genen Sterns vorwiegend auf etwas excentrisch gelegene Teile der Retina und, wie lange bekannt, ist deren Lichtempfindlichkeit etwas gröfser als die der Mitte der Fovea. Ebbikohaus.

M. T. Vintschgaü. Physiologische Analyse eines ungewöhnlichen Falles partieller Farbenblindheit (Trichromasie des Spektrums). Pflügers

Arch. Bd. 48. S. 431—528. (1891). Neben der totalen Farbenblindheit und denjenigen Formen von partieller Farbenblindheit, welche im HsRiNOSchen Sinne als Rotgprttn- blindheit zu bezeichnen sind, und endlich neben den von Lord Ratlbioh zuerst aufgefundenen sogenannten „anomalen Trichromaten" sind in sehr seltenen Fällen noch andere Anomalien des Farbensystems gefunden worden, die aber fast alle darin übereinstimmen, dafs die Abweichung von den normalen Verhältnissen sich hauptsächlich auf den kurz-

Litteraturbericht. 215

Tirelligen Teil des Spektrums beschränkt. Der Verfasser hat nun das Glück gehabt, diese seltene Beschaffenheit des Farbensystems bei einem intelligenten und für die Sache selbst interessierten Individuum vorzufinden. Mit imgemeinem Zeitaufwand imd rühmens- i^v^ertem FleiXse sowohl vom Untersuchenden wie vom Untersuchten wurden mit einer einzigen Ausnahme alle bisher jemals zu derartigen Untersuchungen benutzten Methoden, sogar die nach dem gegenwärtigen 43tandpunkt unserer Erkenntnis als völlig zwecklos zu bezeichnenden an- gew^andt, und das Ergebnis war dasselbe, was auch schon die oberfläch- Hohste Prüfung hätte ergeben können, dafs nämlich am kurzwelligen Ende cles Spektrums eine beträchtliche Verkürzung vorhanden war, und dafs monochromatisches Licht niemals den Eindruck von Grau oder Weifs xaachte.

Die einzige hier nicht angewandte Methode: eine systematische TJntersuchung vermittelst sachverständig hergestellter Gleichungen von Spektralfarben, würde wohl in kürzester Zeit eine wertvolle Bereicherung xinseres auf diesem Gebiete leider noch immer so lückenhaften Wissens ^erzielt haben. Arthur König.

£. Landolt. Un nonvean cas d'achromatopsie totale. Arch, cTophtcUm,

Tome XI (1891) p. 202—206. X". QüEREKOHi. Du« casi di acromatopsia totale. AnncUi di Ottalmologia,

Anno XX (1891) p. 351—355. Die drei Fälle angeborener totaler Farbenblindheit, über welche liier berichtet wird, zeigen alle die charakteristischen Eigenschaften, i^elche gewöhnlich mit dieser Anomalie verbunden sind: geringe Seh- schärfe, Nystagmus und Lichtscheu. Dafs die Helligkeitsverteilung im Spektrum mit derjenigen identisch ist, welche übereinstimmend DoNBBRs, HsRiNG Und der Beferent (gemeinsam mit C. Dietbrici) messend bestimmt haben, ist vor allem aus der geringen Helligkeit, welche alle ■drei hier beschriebenen Personen dem Bot beilegen, mit grofser Wahr- scheinlichkeit zu schliefsen, besonders in den beiden von Qubrbnohi untersuchten Fällen, wo aufserdem noch angegeben wird, dafs das Hellig- keitsmazimum im Spektrum zwischen Gelb und Grün liegt.

Arthur Xönio.

0. ScHiRMBR. Über die Giltigkeit des Weberschen Gesetzes ftlr den Idchtaüm. Gräfe's Arch, f. Ophih, XXXVI (4) S. 121—149 (1890). Dem Verfasser war es aufgefallen, dafs Aübert und später v. Hblmholtz der Adaptation des Auges bei ihren Versuchen über das psychophysische Gesetz wenig Beachtung schenkten. Er hat nun eine lange Beihe ge- schickt angestellter Beobachtungen über dieses Gesetz ausgeführt und dabei das Auge sich stets auf das sorgfältigste für die benutzte Helligkeit erst adaptieren lassen. Die Versuche sind an einer MASsoNschen Scheibe gemacht. Parallel einem Badius waren in die weifse Pappe zwei beinahe bis an die Peripherie und den Mittelpunkt heranreichende Einschnitte im Abstände von 1 bis 2 mm gemacht. Durch diese beiden Schnitte wurde nun ein 1 cm breiter Streifen von schwarzem Papier hindurchgezogen, and durch gröfsere oder geringere Annäherung desselben an das Centrum

216 Litteraiurherichi.

konnte ein verschieden breiter Sektor, also bei der Botation ein ver- schieden dunkler Bing erzeugt werden. Mit Berücksichtigung des Hellig- keitsverhältnisses des schwarzen und weifsen Papiers ergiebt sich bei guter Beleuchtung und nach einiger Übung stets eine IJnterschiedsempfindlichkeit von ^l^ bis ^^7, also gröfser als sie Aubbrt (jin) und v. Hjslmholtz dl^) erhalten {haben. Nachdem die Methode durch Übereinstimmung des Besultates an verschiedenen Scheiben sich als zuverlässig erwiesen, wurden Versuche bei verschiedenen Helligkeiten vorgenommen. Die er- langten Besultate stellt der Verfasser in folgenden Sätzen zusammen.

1. Das WEBEBSche Gesetz von den ebenmerklichen Unterscbieden. hat für den Lichtsinn Giltigkeit innerhalb einer Helligkeitsbreite von 1 bis 1000 Meter-Kerzen, wenn dem Auge die Möglichkeit gegeben wird, die volle Kraft seines Adaptationsvermögens zu entfalten; die Giltigkeit des Gesetzes ist also von gewissen physiologischen Vorbedingungen abhängig.*

2. Die Giltigkeit des WEBERschen Gesetzes kann durch physiologische Vorgänge, durch die Adaptation allein erklärt werden. Es ist aber durch diese IJntersuchimgen allein nicht möglich, die Mitwirkimg eines psycho- physischen Prozesses auszuschliefsen.

3. Die Adaptation im normalen Auge vermag nicht oder nicht immer mit der Abnahme der Tageshelligkeit in der Dämmerung gleichen Schritt zu halten.

Der Verfasser erklärt demnach die Änderung der Unterschieds - empfindlichkeit, welche andere IJntersucher (z. B. Aübebt und v. Helmholtz) innerhalb des erwähnten Helligkeitsintervalles gefunden haben, aus der fehlenden Adaptation; würde der Untersucher sich der herrschenden Helligkeit besser angepafst haben, so hätte sich eine konstante Unter- schiedsempündlichkeit ergeben.

Dem Beferenten mag es gestattet sein, hier hervorzuheben, dafs die Abhängigkeit der Unterschiedsschwelle von der absoluten Hellig- keit, welche er in seiner gemeinsam mit E. Brodhun ausgeführten Unter- suchung gefunden hat, jedenfalls nicht ausschliefslich auf fehlende Adap- tation zurückzuführen ist. Arthur König.

G. 0. Säyaoe. Insufficienz der schrägen Aagemnnskelii. Knapp und Schweiggers Archiv f. AugenheiUc., Bd. XXIV, 1891. S. 47— 49. Um Insufficienz der schrägen Augenmuskeln nachzuweisen, hält Verfasser nach Verschlufs des einen Auges vor das andere ein Doppel- prisma (Modifikation des MADDONSchen Prismas) und läfst eine etwa 50 cm entfernte horizontale Linie betrachten. Diese Linie erscheint dann doppelt, als zwei einander parallele Linien. Wird nun das verdeckte Auge frei gelassen, so erscheint zwischen diesen beiden Linien eine dritte, die unter normalen Umständen den ersten beiden parallel verläuft. Liegt jedoch eine Gleichgewichtsstörung der schrägen Augenmuskeln vor, so wird die mittlere Linie ihre parallele Lage aufgeben und mit dem einen oder dem anderen Ende sich nach oben resp. nach unten neigen, je nach der Natur des Leidens. B. Greeff (Berlin).

Litteraturhericht 217

li. Treitel. Über Diplacnsis binanralis. Ärch. für Ohrenheilkunde, Bd. 32. (1891). S. 215. Verfasser beobachtete 2 Fälle von Doppeltbören, welches in einem Falle nach angestrengtem Telephonieren, im anderen Falle nach einer Trommelfell-Kuptur entstand. In dem ersten Falle trat das Doppelthören bei Einwirkung hoher Stimmen auf und zwar wurde nebst diesen die tiefere Oktave gehört; im 2. Falle bemerkte Patient wahrend des Orgel- spielens bei allen Orgeltönen aufser dem angeschlagenen Ton den be- treffenden nächsten tieferen Ton. In beiden Fällen ging die Diplakusis rasch vorüber. Verf. versucht eine Deutung dieser Fälle und hebt hier- bei hervor, dafs die Hypothese von Knapp, welche die Diplakusis auf Spannvmgsanomalicn in der Basilarmembran zurückführt, in den an- geführten beiden Fällen nicht zutreffe. Für den einen der beiden Fälle, in welchem nach dem Telephonieren die Diplakusis entstand, meint Verf. das ursächliche Moment in der Ermüdung suchen zu können, und zwar würden durch die intensivere Ermüdung des Ohres für hohe Töne in diesem nur die tieferen Töne als normal stark klingen, indes das gesunde Ohr die hohen Töne in normaler Stärke empfinde. Für den anderen Fall von Diplakusis läfst es Verfasser dahingestellt, ob diese durch Än- derungen in der Schallleitung hervorgerufen wurde. Ubbantschttsoh.

Chr.Leeoaard. Über eine Methode zur Bestiiniiiimg des Temperatnrsiims am Krankenbett. Deutsch. Arch. f, klin. Med. Bd. 48 (1891) S. 207—222. Es ist bekannt, dafs man, um an einer Hautstelle die Empfindung der Kälte oder Wärme zu erzeugen, dieselbe von ihrer „physiologischen Nullpunktstemperatur" aus um einen je nach der Hautregion ver- schiedenen bestimmten Betrag abkühlen oder erwärmen mufs, welcher als Schwellenwert der Kälte- bez. Wärme-Empfindung bezeichnet zu werden pflegt. EüLENBURO hat bereits im Jahre 1884, im Zusammenhang mit den von Blix und dem Eef. ausgeführten Temperatursinn-Üntersuchungen diese Schwellenwerte bestimmt imd vorgeschlagen, dieselben zur Grund- lage der klinischen Prüfung des Temperatursinns zu machen. Verf. falst nun den Schwellenwert der Kälte- und Wärme-Empfindung unter dem neuen Namen „thermische Indifferenzbreite" zusammen, womit also die Breite der an einer Hautstelle nach oben und unten hin mög- lichen Temperatur seh wankung verstanden wird, welche noch keine Temperaturempfindung giebt. Die Messung dieses Bereiches macht er zur Grundlage der klinischen Prüfung. Wie man sieht, ist seine Methode im wesentlichen dieselbe, wie die EüLENBüRosche, welche er gar nicht er- wähnt. Verf. bestimmt nunmehr die „Indifferenzbreite" (I.-B.) bei Gesunden an verschiedenen Körperteilen, findet, dafs sie im allgemeinen 1^ 0. und in der Begel 0,5^ C. nicht übersteigt, und stellt daher den Satz auf, dafs, Tinabhängig vom Körperteil, eine V C. tibersteigende I.-B. pathologisch sei. Was die praktische Ausführung betrifft, so sagt Verf., dafs es, ehe man zur Bestimmung der Gröfse der I.-B. übergeht, nützlich sei, sich erst durch eine gröbere Probe zu tiberzeugen, ob der Temperatursinn deutlich veringert ist. Hierzu bertihrt man den Kranken mit irgend einem kalten oder warmen Gegenstand. „Sagt der Kranke, dafs dieser

218 Litteraiurbericht

auf einer Stelle wärmer oder kälter ist, als auf einer anderen Stelle, so ist der Temperatursinn auf der letztgenannten veringert.*' Dies letztere ist nun absolut falsch! Denn, wie Bef. gezeigt hat, sind die topischen Differenzen der Temperaturempfindlichkeit unter normalen Verhältnissen sehr bedeutend. Um nunmehr nach Verf. die I.-B. zu beztimmen, f&ii§^ man mit 20 25^ an, steigert die Temperatur des Objektes jedesmal um 0,5 bis 1 ^, hält den vom Verf. angegebenen mit Wasser gefüllten Kupfer- Kolben immer 6 Sekunden lang gegen die Haut, läist angeben, ob eine Temperatur-Empfindung entsteht, und erhält so in kurzer Zeit einen Wert für die I.-B. Jeder Sachverständige sieht sofort, dals bei einem solchen Verfahren nicht blofs der physiologische Nullpunkt, sondern auch die Empfindlichkeit der Nerven selbst fortwährend verändert wird. Dieses fehlerhafte Vorgehen zusammen mit der irrtümlichen Anschauung des Verf., dafs die Hautstellen gleichwertig seien er sagt geradezu, dals nach seiner Ansicht die von Notnagbl aufgestellte örtliche Reihenfolge der Unterschieds-Empfindlichkeit nicht mit den wahren Verhältnissen übereinstimme lassen den Wert seiner Methode in sehr zweifelhaftem Lichte erscheinen. Goldscheideb (Berlin).

E. Alix. Le prötendn sens de direcüon chez les ftnimAnT, Bev, Sdenttf-

48. No. 17. (24. Oktbr. 1891). Verf. leugnet und sicher mit Becht das Vorhandensein eines hin und wieder behaupteten besonderen Orientierimgssinnes der Tauben, Hunde, Pferde u. s. w. Beobachtet man die Tiere, wenn sie sich an ua- bekannten Orten zu orientieren und nach Hause zurückzufinden sucheiif so sieht man, dafs sie sich gerade so verhalten, wie es der Mensch in solchen*' Falle thun würde. Natürlich nicht wie der civilisierte Mensch, de^ in der vollen Ausnutzung seiner natürlichen Fähigkeiten nicht geübt ist ^ sondern etwa so wie der Wilde : sie probieren und tasten herum, YieUhcAM- vergeblich aber unermüdlich, und achten dabei mit gröfster Schärfe auT jeden Anhaltspunkt, der sich ihrem Gesicht, Gehör, Geruch etwa da^ bietet. Ebbikohaus.

L. Eddtgeb. Qiebt es central entstehende Schmerzen? Deutsche Ztitsckr. f, Nervenheäkunde, Bd. I, Heft 3 u. 4.

Ob eine innere Beizung centraler Leitungsbahnen Schmerz erzeugen kann, welcher in der Peripherie lokalisiert wird, ist immer noch strittig. Es giebt aus der menschlichen Pathologie nur einige ganz vereinzelte und noch nicht einmal eindeutige Beobachtungen hierfür. Verf. teilt nun einen genau beobachteten und untersuchten Fall mit, welcher geeignet ist, diese Frage in bejahenden Sinne zu erledigen. Eine 48jährige Frau wurde im November 1886 von einem apoplektischen Insult befallen, welcher eine Lähmung des rechten Arms und Beins und sehr heftige Schmerzen in den gelähmten Gliedern mit Hyperästhesie hinterlie£s. Letztere blieben bestehen, während sich die Lähmung besserte, ja sie steigerten sich zu so furchtbarer Höhe, dafs die Kranke im Oktober 1888 einen Selbstmord beging. Die anatomische Untersuchung des gehärteten Gehirns auf Schnitten ergab einen Herd alter Erweichung, welcher im Thalamus opticus und zwar im äufseren Kern desselben gelegen war und

Litter aturhericht. 219

sieb in das Pulvinar desselben bineinstreckte. Ein wenig war aucb die Fasemng der inneren Kapsel beteiligt. Da nun die Gefüblsbabnen un- mittelbar dem Herde benacbbart liegen, so ist mit grofser Wabrsobein- liebkeit zu scbliefsen, dafs die Schmerzen durcb direkten Kontakt der sensoriscben Kapselbabn mit erkranktem Gewebe erzeugt worden sind.

GoLDSCHEiDEB. (Berlin).

Th. Lipps. ÄsthetiBche Faktoren der Ranmanschanimg. Beiträge zur Psycbologie und Physiologie der Sinnesorgane. Hermakk von Helmholtz als FestgruTs zu seinem siebzigsten Ge- burtstag dargebracht. Hamburg und Leipzig, Leopold Voss, 1891. S. 217—307. (Selbstanzeige.) Die Abhandlung führt eine Beihe von optischen Täuschungen vor, zum Teil bekannte, zum gröfseren Teile bis jetzt nicht mitgeteilte, und erklärt sie aus der für jedermann unvermeidlichen „ästhetischen" Be- trachtungsweise sichtbarer Formen. Dabei ist unter ästhetischer Be- ^x^achtungsweise diejenige verstanden, für welche die Formen nicht nur ^sfc sind, sondern als Träger von Kräften sich darstellen, Bewegungen ^>^xx sich zu verwirklichen scheinen, kurz „Symbole'' sind einer inneren X^cbendigkeit.

Bezeichnen wir jede einzelne Kraftbethätigung, die uns in einem sichtbaren Gebilde vergegenwärtigt erscheinen kann, das Sichaufrichten ^^nd Sichgehenlassen, das Aussichherausgehen und Sichkonzentrieren, die ^Gegenwirkung gegen eine andere Kraft und das Nachgeben u. s. w. mit ^inem nicht mehr ungeläufigen Ausdruck als Funktionen, so ergiebt sich ^imächst die allgemeine Begel, dafs wir den Erfolg derjenigen Funktion überschätzen, die in dem Gesamteindruck eines sichtbaren Gebildes iror anderen hervortritt.

Diese Begel erföhrt ihre nähere Bestimmung in folgenden spe- zielleren Begeln. Der Bestand eines sichtbaren Gebildes ist für die ILsthetische Betrachtung jederzeit und in allen seinen Teilen das Ergebnis des Gegen einander Wirkens von Funktionen oder Kräften. Dabei erscheint jedesmal eine Funktion vorzugsweise als die eigene Thätigkeit des Gebildes, während dasselbe hinsichtlich der entgegenstehenden Funktion passiv erscheint. Wir haben dann unter im übrigen gleichen Umständen von der Thätigkeit den lebhafteren Eindruck, über- schätzen also ihren Erfolg.

Erscheint eine Thätigkeit das eine Mal als frei, das andere Mal als gehemmt, gebunden, nur mit Anstrengung sich vollziehend, so wird jene im Vergleich mit dieser in ihrem Erfolg überschätzt.

Scheint von zwei, einander im Ganzen einer Form das Gleichgewicht haltenden Funktionen die eine in einem Punkte vorzugsweise wirksam, 80 tritt jenseits des Punktes die Beaktion ein: die andere Funktion scheint nunmehr ihrerseits freier zur Geltung kommen zu müssen; sie wird also in ihrem Erfolg überschätzt.

Treten zwei Thätigkeiten aus einem Zustand wechselseitiger Ge- bundenheit — in einer Linie oder einem Punkte divergierend heraus, so überschätzen wir die Divergenz.

220 Littetaturbericht

Wir tiberschätzen den Erfolg einer Funktion, da wo sie neu, mit frischer noch ungehemmter Kraft einsetzt und einen vorhandenen Z'mjL' stand der Enge oder Weite zu überwinden beginnt. Sofern die Funktion eben gegen diese Enge oder Weite gerichtet ist, ist diese Übersch&tzuE^ip mit einer Unterschätzung der Enge oder Weite gleichbedeutend. I>ie Täuschung geht in ihr Gegenteil über, in dem Mafse als die Energie d.^r Funktion abnimmt, dieselbe also durch eine gegenwirkende Krafb S*^" hemmt und überwunden scheint.

Wie wir den Erfolg der abnehmenden Kraftwirkung unterschätz^s, so überschätzen wir den der zunehmenden.

Auch das Aufhören einer Thätigkeit erscheint jederzeit als ^in Überwunden werden. Darum wird der Erfolg der aufhörenden Thätigkeit imterschätzt im Vergleich zu derjenigen, die sich fortsetzt, also noch Krs^ zur Fortsetzung hat.

Der Erfolg einer Thätigkeit scheint gröfser, wenn uns die ür entgegenstehende Kraft ausdrücklich in besonderen Linien ssur Anschauung gebracht vird.

Aufeinander folgende Thätigkeiten, deren Kiohtungen einen stump:^ <en Winkel einschliefsen, scheinen einerseits auseinander hervorzugehen oder sich wechselseitig fortzusetzen, andererseits sich entgegenzuwirken. nachdem der eine oder der andere Gedanke gemäfs dem Sinne d«8 ganzen Gebildes überwiegt, erscheint der Unterschied der Richtunf^^Q relativ ausgeglichen oder verstärkt. Erlaubt das Gebilde im ganzen ver- schiedene Deutungen, so kann das Urteil schwanken. Auch Unfc^'* schiede der individuellen Auffassung, wie sie vor allem durch die ver- schiedene Vertrautheit mit Formen bedingt sind, kommen in Betracli*''

Wenn Linien, die aus inneren Gründen, d. h. vermöge der in ihaeo wirksam gedachten Kräfte, nicht auseinander hervorgehen können- « dennoch stetig ineinander übergehen, so erzeugt der Gedanke an dezi^ notwendigen Konflikt der Kräfte entsprechende Täuschungen.

Anders geartet, als die sonst in der Abhandlung besprochenen Täuschungen sind diejenigen, die darauf beruhen, dafs wir Formverände- rungen, die uns aus inneren oder ästhetischen Gründen an ihrer Stelle „selbstverständlich" geworden sind, zu übersehen geneigt sind.

Die Geltung der angeführten Begeln wird an einfachen Formen aufgezeigt; zugleich ihre Bedeutung für die Kunst, vor allem die Archi- tektur durch Hinweis auf einige wenige Beispiele angedeutet. Das Interesse des Vorgebrachten, wenn es ein solches hat, ist einerseits ein psychologisch-optisches, andererseits ein ästhetisches. Ich meine für gewisse optische Täuschungen eine gesicherte Erklärung gegeben und zugleich die Überzeugung von der Unvermeidlichkeit der ästhetischen d. h. belebenden Betrachtungsweise der sichtbaren Formen in möglichst wirksamer Weise bestätigt zu haben. Vielleicht darf ich hinzuftigen, dafs die quantitative Bestimmung gewisser Über- oder Unterschätzungen schliefslich sogar eine quantitative Bestimmung der Kräfte und Ejraft- Wirkungen ermöglichen könnte, die wir in sichtbaren Formen wirksam denken. Damit wäre von einer neuen Seite her der Weg zu einer exakteren Behandlung eines Teiles der Ästhetik eröffnet.

Litteraiurbericht. 221

Indessen gehe ich damit über den Inhalt der Abhandlung hinaus. Sie selbst erhebt keinen solchen Anspruch. Sie begnügt sich einige Thatsachen, wie sie im Laufe der Untersuchung sich ergaben, aufzu- zeigen \md nach dem bezeichneten Prinzip verständlich zu machen. Selbst auf eigentliche systematische Anordnung des Gegebenen mufste Verzicht geleistet werden. Noch weniger konnte die Anwendung auf die Kunst irgendwie vollständig sein. Ich bitte ausdrücklich in der Arbeit eine Skizze oder eine Beihe von Andeutungen zu sehen. Dies schliefst nicht ans, dafs der Grundgedanke überall deutlich heraustritt. Vielleicht dient es diesem zur Empfehlung, wenn ich bemerke, dafs die fraglichen optischen Täuschungen, soweit sie nicht schon bekannt waren, von mir zum gröfsten Teil deduktiv gefunden wurden.

Ich füge noch die Bitte hinzu, dafs man sich in Fällen, wo der Eindruck der Täuschung zweifelhaft erscheint, nicht ohne weiteres auf die in den Text gedruckten Figuren verlassen möge. Einige Linien sind nicht scharf wiedergegeben, gelegentlich stört auch die zu geringe Gröfse oder die zu grofse Nachbarschaft des Druckes. Aufserdem ist in einigen f^ällen, aus Gründen, die ich angedeutet habe, die seitliche oder halb- zeitliche Betrachtung der Figuren erforderlich oder dem Eindruck Äiderlich.

^. W. ScRiPTURE. Zur Definition einer Vorstellung. Biilosoph, Studien VII. 2.

(1891.) S. 213-221.

Das Schwankende des psychologischen Begriffs der Vorstellimg sucht

^erf. durch eine genaue und brauchbare psychologische Definition dieses

■^«griflfe zu beseitigen, die es zugleich vermeidet, irgend eine metaphysische,

^rtenntnistheoretische oder auch psychologische Theorie ex-vel implicite

^Xnzuschliefsen. Indem er die Vorstellung in Gegensatz zur Empfindung

^«tzt, gewinnt er die Definition: eine Vorstellung ist eine Kombination

^^on Empfindungen. Um aber zwischen Vorstellung und andernMischungen

^^on Empfindungen zu unterscheiden, bedarf es noch eines neuen Merk-

"^^lals, und dies ist die Einheitlichkeit. Eine Vorstellung ist also die

^mnme derjenigen Empfindimgen, die zu einer Einheit zusammengefafst

^ind. Gaupp (London).

^. Dumas. L'association des idöes dans les passions. Bevue philosophique, Bd. 31. (1891.) S. 482—505.

Der Verfasser versteht unter Leidenschaft (passion) jede psychische Gesamterscheinung, in welcher sich ein intensives Verlangen (d6sir) kundgiebt. Dieses, begleitende Vorstellungen, Lust- und Unlustgefühle sind die Momente der Leidenschaft. Die Abhandlung beschäftigt sich nur mit den beiden ersten.

Verfasser teilt die Ansicht derer, welche das Verlangen (Wollen) nach der physiologischen Seite in Bewegungen und Bewegungshemmungen, nach der psychischen in jenen entsprechende Empfindungen, zu welchen Vorstellungen hinzutreten, zerlegen. Diejenigen Begehrungen (tendances, •das sind eben jene Bewegungen bzw. Bewegungsempfindungen mit

222 Litteraturhericht.

zugehörigen Vorstellungen), welche in der Leidenschaft gehemmt werden, hilden die negative, die, welche erregt werden, die positive Seite de» Verlangens.

Dieses soll sich nur infolge eines Assoziationsmechanismus ent- wickeln. Die Liebe eines Mädchens zu einem Manne geht mit Not- wendigkeit aus der Vorstellung dieses Mannes dann hervor, wenn diese Vorstellung eine assoziative Verbindung mit den tendances der Liebe herzustellen vermag: „on aime ou l'on haitt, parce que l'on a d6j& aim6 ou hai"'. Der Verfasser sucht diese Theorie durch Beispiele aus der Pathologie und aus der Bomanlitteratur zu rechtfertigen. Dabei wird verkannt, dafs ein aktuelles Verlangen (z. B. die Liebe eines Mädchens zu einem Manne, der ihrem Vater ähnlich sieht) mit dem reproduzierten Verlangen (dem Achtungsgefühl, das die Erinnerung an den Vater hervorruft) nicht identisch ist. Das Letztere ist höchstens die Gelegen- heitsursache des Verlangens.

Die begleitenden Vorstellungen, welche die Begehrungen vorbereiten, aber doch nur auf Grund solcher entstehen sollen, entwickeln sich nach Dumas gleichfalls mechanisch. Die Gesamtheit des geschilderten assoziativen Zusammenhangs wird mit dem organischen Leben ver- glichen. K. Marbe (Bonn).

E. W. SoBiPTüRB 1. Über den ftssociatlTen Verlauf der VontellimgwL. Inaug.-Dissert., Leipzig 1891. Auch: Philos. Studien FIZ, i, 8. 50— 147. 2. Vorstelluiig und CkfäU, Phüos. Studien VI, 4, S. 536—542.

Verf. beklagt, dafs seit Aristoteles in der Erkenntnis des Vor- stellungsverlaufs »nur wenig Fortschritte gemacht seien**. Das liegt^ nach seiner Meinung, an der alten „Selbstbeobachtungsmethode**. Es müssen genaue Versuche gemacht, nicht zufällige der allgemeinea Erfahrung entnommene Beispiele zu Grunde gelegt werden.

Von dieser Überzeugung geleitet, hat S. eine sehr greise Zahl fleifsiger Versuche, unter Anwendung aller möglichen Kautelen mit acht dem Gelehrtenstande angehörigen Personen (einschliefslich S. selbst) ausgeführt. Dem im dunklon, geräuschlosen Baum sitzenden Beobachter wurden mittelst eines photographischen Objektivs auf eine Scheibe ge- worfene Bilder und Worte während ca. 4 Sek. vorgeführt und er ange- halten nach 2 Sek. anzugeben, was er assoziiert habe. Oder es wurden ihm Tast-, Gehörs-, Geschmacks-, Geruchseindrücke geboten. Er muDste präzisieren, ob die assoziierte Vorstellung Phantasievorstellung, allgemeine Vorstellung, Begriff u. s. w. sei, und ob ein Wort als Gefühlsvorstellxmg oder Gehörsvorstellung oder Innervationsimpuls auftrat.

Wir lassen dahingestellt, wie weit die Angaben von acht Beob- achtern, welche sich vor eine Aufgabe gestellt sehen d. h. wissen: jetzt soll assoziiert werden, Angaben über Inhalt, Zeit- und Grad- Verhältnisse und psychologische Natur ihrer Vorstellungen, wirklich den Mängeln der Selbstbeobachtung entgehen, und wenden uns den Resultaten zu.

Von den zahlreichen Versuchsreihen scheinen uns nur zwei als sinnvoll gestellte Fragen bemerkenswerte Ergebnisse zu liefern.

In dem einen Fall handelt es sich um die Frage: Kann eine

lAtteraturbericht. 223

Vorstellung eine andere erneuern, mit welcher sie in keiner Verbindung steht, wenn jede mit einer dritten jetzt nicht im Bewufstsein liegenden Vorstellung früher verbunden war? An diese von Hamilton schon in bejahendem Sinne beantwortete Frage geht S. folgendermafsen heran. Er zeigte eine Beihe von Karten, auf deren jeder ein japanisches Wort und ein japanischer Buchstabe stand. Dann eine Eeihe deutscher Worte, von welchen jedes von einem Buchstaben der japanischen Beihe begleitet war. Später wurde eines der japanischen oder deutschen Worte für sich vorgeführt, und der Beobachter mufste angeben, welche Vorstellung in ihm aufstieg. Es ergab sich, dafs häuüg das Wort der anderen Beihe, welchem das gleiche Zeichen vorher beigegeben war, assoziiert wurde, obgleich das Zeichen entweder erst nach der Assoziation oder überhaupt nicht von selbst in das Bewufstein trat, oder gar ganz oder teilweise vergessen war. S. schliefst daraus: unter günstigen Umständen kann eine Vorstellung mittelbar auf eine andere wirken. Und glaubt auch behaupten zu dürfen: ^^Die Glieder eines Vorstellungsverlaufs sind nicht notwendigerweise alle bewufst.^

Die zweite uns ergiebig erscheinende Versuchsreihe behandelt die

f^rage, ob ein nicht perzipirter Teil einer Gesamtvorstellung eine so

SZ'oDse Nachwirkung haben kann, dafs, wenn er allein zu einer späteren

2eit perzipiert wird, er die ganze Vorstellung hervorrufen kann. Dazu

"^^"urden mehrere Karten mit einem mittelständigen Worte und eck-

»'tSndigen Buchstaben so kurze Zeit gezeigt, dafs der Beobachter von den

i^xi.direkt gesehenen Buchstaben „kein Bewufstsein hatte'^ Dies wurde

^•—15 mal wiederholt, dann dem Beobachter einer der Buchstaben

S^zeigt und er gefragt, woran er dächte. Verf. giebt an, dais in 34 Vo

^^r Versuche das vorher mit dem Buchstaben verbundene Wort assoziiert

^^^^iirde, während der blofse Zufall nur 20,, 7o hätte erwarten lassen.

Auch hier buchen wir nur das Versuchsergebnis, ohne in seiner ^«utung mit dem Verf. zu gehen, welchem „Bewufstsein nicht not- wendig (!) mit psychischem Leben identisch ist'', der fortwährend mit ^Xmbewufsten Vorstellungen^ operiert, ja sogar „Empfundenes aber nicht ^Xn BewuXstsein Gewesenes^ (S. 92) kennt.

Sind aber, wie gesagt, die beiden thatsächlichen Ergebnisse dankens ^erte Bestätigxmgen von Sätzen, welche allerdings schon die allge-. >tieine Erfahrung liefert, so ist ein grofser Teil der übrigen Versuche Bo gut wie ergebnislos. Sie bringen auf der Strafse Liegendes, wofür jeder aus seiner Erfahrung beliebig viel gleich beweiskräftiger Beispiele ohne Anwendung von photographischen Objektivs und Luftdruckauslöser stellen kann. Was Wesentliches und Zutreffendes gesagt wird, ergiebt sich meist gar nicht aus den Versuchen, sondern wird schon vorher vor- wiegend aus WuNDTS Psychologie mitgebracht. Andererseits hat der Wunsch, dem so mühsam errungenen Material möglichst viel zu ent- locken und dasselbe möglichst unabhängig von den überlieferten Problem- stelliingen und Lösungsversuchen selbst sprechen zu lassen, den Verf. zur Begründung einer Beihe bedeutungsloser an das Nebensächliche und Unwesentliche sich haltender Distinktionen und Betrachtungsweisen verleitet.

224 Litteraturbericht

Er zerlegt den ganzen assoziativen Verlauf in 4 ^Grundprozesso^, ^welche allen seinen Arten zu Grunde liegen." Es sind:

1. Das Vorbereiten f 2. das Einwirken, 3. das Hinzufügen, 4. das Nachwirken von Vorstellungen. Schon die Nebeneinanderstellung dieser 4 Benennungen verletzt durch das Hin- und Herflattem von einem Gesichtspunkte zum andern. Die Ausdrücke 2. und 4. stellen die Vor- stellungen als selbstständige Agentien hin: sie „wirken ein" sie „wirken nach". In 1. und 3. dagegen sind sie die Spielbälle in den Händen einer höheren ungenannten Macht: „Sie werden vorbereitet, sie werden hinzugefügt."

„Vorbereitung" definiert Verf. als „denjenigen Prozefs, welchen Vorstellungen durchlaufen, um (!) einen Einflufs auf den Bewufstseins- verlauf zu gewinnen. Was er meint, sind Aufmerksamkeits Verschiebungen, welche sich vor der Assoziation abspielen, welche aber ebensowenig wie alle übrigen BewuHstseins Vorgänge, welche vor dem Einwirken der assoziativen Elemente statthaben, den Bang eines „Fundamentalprozesses" der Assoziation verdienen, vielmehr in die Psychologie der Aufmerksam- keit gehören.

Unter „Einwirkung" versteht Verf. einen Einflufs ,der Vor- stellung, welcher den Vorstellungs verlauf ändert. Das ist aber der Assoziationsprozels selbst.

Es wird hier die oben näher besprochene Untersuchung gegeben, ob ein a ein nie mit ihm verbunden gewesenes b hervorrufen könne, wenn beide früher mit c verbunden waren, und auf deren positives Ergebnis werden 2 Arten der Einwirkung unterschieden: unmittelbare und mittelbare. Es handelt sich aber gar nicht um verschiedene Arten der Einwirkung, sondern der Unterschied betrifft bestimmte zurück- liegende Bedingungen des Zustandekommens von „Einwirkungen" oder Assoziationen. „Einwirken" läfst übrigens S. eine Vorstellung bald auf den Vorstellungsverlauf, bald auf eine andere Vorstellung (also auf etwas, das zur Zeit des Einwirkens noch nicht da ist).

„Ein anderer Fundamentalprozefs ist das Hinzufügen." Ja, wenn das ein anderer Prozefs ist, worin bestand dann das Einwirken? Die Änderung der Vorstellungsverlaufs ist ja nur dadurch möglich, dafs dem a um nach S.*s Geschmack zu reden ein b hinzugefügt wird. Es handelt sich also hier um denselben einheitlichen Prozefs, der über- haupt vorliegt, dafs ein b auf a folgt auf Grund irgend welcher Be- ziehungen zwischen beiden, nur dafs hier der iinwesentliche Gesichts- punkt des Inhalts der assoziierten Vorstellung und insbesondere seines Verhältnisses zu dem der assoziierenden im Vordergrund steht. Ist in a b enthalten, (wie wenn „ohne" „ohne was" assoziiert), so liegt „einfache Hinzufügung" vor. Tritt die assoziierende etwas in den Hintergrund, so haben wir „Hinzufügung mit Veränderung". Verschwindet sie ganz, so spricht Verf. in deplaziertem Mathematisieren von „Hinzufügen mit Ver- minderung auf 0 d. h. Substitution".

Als vierter Prozefs wird das „Nachwirken" aufgeführt. Dies ist aber gar kein Prozefs, und vor allem nicht ein dem „Einwirken** u. s. w. koordinierbarer, vielmehr ist es die allgemeine Bedingung,

LUUruimrherieht 325

der Möglichkeit des Zustandekommens von Assoziationen überliaapt und damit auch aller etwaigen .Prozesse' derselben.

Den gründlich und treffend gefohrten Nachweis. da(s die reproduziert« Yorstellung nie Töllig identisch mit der ursprünglichen ist, bauscht S. SU einer lebhaften Polemik g^en die Ausdrücke ^Emeuerung, Bepro* duktion, Wiedererweckung' u. s. w., wenigstens in grundlegenden ITntersuchungen, auf, statt den Autoren einfach bei EinftLhrung jener Ausdrücke eine einschränkende Bemerkung anzuempfehlen. S. will nur Ton „Nachwirkungen" einer Vorstellung gesprochen wissen und übersieht, dafs dabei das Spezifische, das die Reproduktion von anderen Nach- wirkungen unterscheidet, ganz verloren geht. Sine derartige Peinlich, keit würde sich auch gegen des Verlas eigene Erörterungen richten, wie ihre konsequente Durchföhrung überhaupt jede Verständigung ab- schneiden würde.

Zum Schluls bemängelt S. unsere bisherigen Einsichten in den Assoziationsprozefs, entlä(st uns aber mit der Hoffnung, dafs er in einer späteren Arbeit eine „Theorie^ hegenden werde.

Vielleicht, dafs der erste grolse Fortschritt über Akistotklcs, welchen der Verf. in der Assoziationslehre bisher Termifst, in der noch zu erwartenden Arbeit zu beg^Isen sein wird.

In der zweiten Arbeit: Vorstellung und Gefahl, will S. die Frage entscheiden, ob das Gefühl neben der Vorstellung ein selbständiges Element sei oder nicht. Einige Versuche beweisen dem Verf., dafs für den Blickpunkt des Bewufstseins Gefühle ohne Vorstellung ebenso wie Vorstellungen ohne Gefühl bestehen können. Für das »klare Bewufst- sein'' (S. 541) sind sie also trennbar.

Dagegen zeigen andere Versuche, dafs eine von einem Gefühl ver- verdrängte Vorstellung, ob sie auch aufserhalb des Blickpunktes, ja selbst des Bewufistseins überhaupt steht, sich dennoch wirksam zeigt durch ihren Einflufs auf den weiteren Vorstellungs verlauf. Also steht die Vorstellung, wenn selbst aufser dem Bewufstsein, doch noch im psychischen Leben und so mit dem Gefühl in Verbindung.

Daher hat die Selbständigkeitstheorie recht für den Blick- punkt des Bewufstseins, die gegenteilige, welche, die untrennbar keit des Gefühls von der Vorstellung behauptet, für das geistige Leben überhaupt. Liepmaxx (Berlin).

Th. Ribot. Enqu§te snr les idöes gönörales. Bevue philosophique. Bd. 32. S. 376—388. ^Oktbr. 1891.)

Zahlreiche Untersuchungen über das der sinnlichen Wahrnehmung entsprechende Vorstellungsbild (image) haben gezeigt, dafs sich ganz be> stimmte Formen der Vorstellungsfähigkeit unterscheiden lassen, bedingt durch das ausgesprochene Vorwiegen einer besonderen Klasse von Vor- stellungen — entweder solcher des Gesichts oder des Gehörs oder eines anderen Sinnes. Es giebt nicht eine VorstellimgsfUhigkeit im allge- meinen; dies ist nur ein unbestimmter Ausdruck, der sehr verschiedene individuelle Varietäten bezeichnet, die die eigentlichen psychologischen Bealitäten sind, deren Studium für die Erkenntnis des geistigen Mecha- nismus wichtig ist.

Zeitschrift fOr PsycLoIogie III. 15

226 Litieraturbericht,

Analoge Untersuchungen über den Begriff, die idee generale, dahin gebend, ob nicht auch der Begriff nur eine solche vage Formel, die ihre eigentliche psychologische Bealität in noch unbestimmten Typen und Varietäten hat, scheinen dem Verfasser sehr nützlich, und seine Abhand- lung soll ein erster Versuch auf diesem Gebiet sein.

Seine Frage lautet:

Wenn wir einen allgemeinen Ausdruck denken, hören oder lesen, was findet sich dann unmittelbar und ohne Beflezion aufser dem Zeichen im Bewufstsein?

XJntersuchungsmethode: Verf. richtete im ganzen bis jetzt an 103 Personen von verschiedenstem Bildungsgrad, verschiedenster Geistes- richtung und Berufsart die Frage: Ich werde einige Worte aussprechen, ich bitte Sie mir augenblicklich und ohne Überlegung zu sagen, ob die Worte nichts in ihrem Geist hervorrufen, und wenn ja, was? Damit die Antworten genau vergleichbar, wurden Kinder ausgeschlossen. Die Antwort wurde augenblicklich notiert, blieb sie länger als 5 6 Sekunden aus, so galt sie nicht. Die in beliebiger Ordnung vorgebrachten Worte waren: Hund, Tier, Farbe, Form, Gerechtigkeit, Güte, Tugend, Gesetz, Zahl, Kraft, Zeit, Beziehung, Ursache, Unendlichkeit. Nur solche Indi- viduen, die bestimmt vom Zweck des Fragers nichts wissen konnten, wurden gefragt. Das Total der Antworten betrug 900.

Eine einfache Bestätigung der auf diesem Weg gewonnenen Besul- tate erhielt der Verf., indem er in vielen Fällen statt der einzelnen Worte ganz allgemeine Sätze wie : Die Ursache geht der Wirkung voran etc. vorlegte. Resultate: Verfasser unterscheidet auf Grimd seines Ma- terials 3 reine oder Haupttypen :

I. Type concret:

Das abstrakte Wort ruft beinahe immer ein mehr oder weniger deutliches Bild hervor. Personen dieses Typus denken in Bildern. Das Wort ist für sie nicht ein einfaches Zeichen, sondern es bildet sich un- mittelbar und spontan in etwas Konkretes um.

Dieser Typus der verbreiteste: beinahe alle Frauen, Künstler und alle, die nicht an wissenschaftliche Abstraktionen gewöhnt sind aber durchaus nicht ausschliefslich solche.

II. Type visuel typographique.

Unter seiner reinen Form besteht er darin, dafs die unter ihn Fallenden die gedruckten Worte sehen und nichts weiter. Gewöhnlich wird bei halbkonkreten Begriffen (Hund, Tier, Farbe) das Bild des ge- druckten Wortes wie bei Type I von einem konkreten Bild begleitet, aber nie bei ganz abstrakten. Hierher gehören hauptsächlich Bücher- menschen — aber nicht ohne viele Ausnahmen. Verfasser, ganz zu Type I gehörig und auf Type 11 gar nicht vorbereitet, bemerkte ihn erst beim 30. Versuch, wo er ihm an einem bekannten Physiologen in reinster Form entgegentrat.

III. Type auditif.

Sehr selten ganz rein; besteht darin, dafs man im Geist nichts hat als Töne, Gehörsbilder, ohne irgend eine Begleitung weder vom Sehen der gedruckten Worte noch konkreter Bilder.

LUteraturbericht. 227

rv. Die allerhäufigste Antwort aber war „Dichts", keine Person "wurde gefragt, wo dies nicht wenigstens einmal, oft drei-, viermal ge- antwortet wurde. So bei Ursache 53 7o aller Antworten. Was ist dieses ^nichts", denn etwas mufs es sein?

Wir haben hier zwei Elemente zu unterscheiden: 1. eines, das im BewuTstsein existiert (das gehörte oder gesehene Wort); 2. eines unter der Schwelle des BewuTstseins, das aber deshalb nicht ohne Wert und Wirksamkeit ist. um nun die Rolle dieses zweiten immer aktiven, aber stillen Faktors zu bestimmen, ist das einfachste Verfahren zu unter- suchen, wie man überhaupt zum Verständnis allgemeiner Begriffe gelangt. Legt man einem Neuling ein philosophisches Werk vor, so versteht er zuerst nichts. Der einzige Weg, es ihm zu erklären, ist, der Eeihe nach die abstrakten Ausdrücke in konkrete Vorgänge, in Thatsachen der ge- wöhnlichen Erfahrung zu übersetzen. Mit jedem neuen Versuch wird dies unnötiger, und was erst Stimden zum Verständnis erforderte, braucht nun nur Minuten. D. h. kurz: man lernt allgemeine Begriffe verstehen wie man Tanzen, ein Instrument spielen lernt. Es ist eine Gewohnheit, d. h. ein organisches Gedächtnis. Die allgemeinen Ausdrücke verdecken ein organisiertes latentes Wissen. Sie sind die Gewohnheiten im Beich des Denkens, und wie jeder vollkommenen Gewohnheit die Unterdrückung der Ausstreuung entspricht, so auch dem vollkommenen Begreifen.

Was also allemal vorgeht, wenn wir im BewuTstsein nur das all- gemeine Wort haben, ist nichts als ein Spezialfall einer sehr allgemeinen psychologischen Thatsache, die darin besteht, dafs die nützliche Arbeit unter der Schwelle des Bewufstseins verrichtet wird, und in demselben sich nur Resultate oder Zeichen derselben finden. In einem solchen Fall ist das allein im BewuTstsein Existierende nur der oberflächliche und sichtbare Teil des Vorganges; das eigentlich Bedeutsame aber, das dem Wort seinen Wert verleiht, ist sein unbewuTstes Substrat, das potentielle organisierte Wissen. Gaupp (London).

J. DoiroTAv. The festal origin of hnman speeeh. Mind, XVI. (1891.) Nr. 64, S. 498-507.

Verf. versucht die Wurzeln, die philologisch betrachtet sich als nicht weiter reduzierbare Wortelemente darstellen, durch eine psychologische Analyse noch weiter zurückzuführen, wobei für den Gang der Unter- suchung seine Überzeugung, dafs der Ursprung der Musik eine viel ein- fachere psychologische Maschinerie voraussetzte als der Ursprung der Sprache, malsgehend ist. Dm in dem beginnenden Vergnügen an Musik den Impuls, der die Vorfahren der Menschen zur Ent Wickelung der Sprache trieb, nachzuweisen, legt Verf. den engen Zusammenhang dieses Ver- gnügens mit den ältesten Festen und Spielen dar. Er zeigt, wie sich überall als konstante Elemente dieser ältesten Feste 1. körperliche Spielbewegungen in Nachahmung von Thätigkeiten, 2. rhythmisches Schlagen, 3. einige Annäherung an Gesang und 4. ein gewisser Grad gemeinschaftlichen Interesses finden. Er betont, dafs eben die natür- lichen Ausdrucksmittel eines Bewulstseinszustandes, der von einem Ver- gnügen an körperlicher Spielerregung und von einem gemeinsamen Hoch-

15^

228 lAtteraturhencht.

gefühl als Ergebnis eines Erfolgs in einem gemeinsamen Unternehmen erfüllt ist, nämlich die Spielbewegungen und das rhythmische Schlagen ihrerseits die Tendenz haben, jenen Zustand zu erhalten, indem sie ihn durch ihre die Aufmerksamkeit absorbierende Kraft vor allen zerstörenden Elementen der Wahrnehmung schützen. Er bringt weiter damit den tierischen Schrei der Erregung in Beziehung. Aus ihm allein die Ent- stehung der Sprache abzuleiten, ist deshalb so schwer, weil der Vorrat an Yokalischen Tönen bei den nächsten Verwandten der Menschen so aufserordentlich kümmerlich ist, und der Schrei der Leidenschaft in seiner Monotonie äufserst wenig entwickelungsfähige Keime zeigt. Dieselbe Erregung nun, die zum Schreien treibt, treibt auch zum rhythmischen Schlagen und schafft dadurch durch das Gehör ein dauerndes Vorbild für die Schreie. Diese verlieren so ihren natürlichen Charakter und athmen die durch das Schlagen erzeugten Töne nach. Paust sich aber der vokalische Apparat des Menschen überhaupt einmal der rhyth- mischen Succession von Tönen an, so bringt er bald besser musikalische Töne hervor als sein Vorbild. Verfasser zeigt dann, inwiefern der Um- stand dieser vokalischen Produktion von Tönen die Begriffsbildung begünstigt. Einmal bringt eben die musikalische Veranlassung eine dauernde Widerholung der vokalischen Töne mit sich, wodurch sie geeignet werden, als Erinnerungsmittel für die Handlungen zu dienen, mit denen sie für alle Glieder der Gemeinschaft assoziiert sind, und dann ist es eben das intensiv Lustvolle des ganzen Vorgangs, das es ermöglicht, dafs vokalische, tönende Zeichen sich in dem Bewufstsein von Tieren, die noch nicht die spezifisch menschlichen Geisteseigenschaften besitzen, zu den vagen, mannigfaltigen, präsentativen Begriffselementen fixieren.

Gaupp (London),

I. J. Mabk Baldwin. The coefficient of extemal reality. Mind. XVI

(1891) Nr. 63, S. 389—393.. n. G. F. Stout. Belief. Ebda. Nr. 64, S. 449—470.

Unter Koeffizent der Eealität der Aussenwelt versteht Baldwin jenes Etwas, das manchen Vorstellungen anhängt, infolgedessen wir ihnen Bealität zusprechen. Wenn für die einen (Spencer, Stout etc.) der Koeffizient der äufsern Bealität eines Vorstellungsbildes seine Unab- hängigkeit vom Willen, für die andern (Bain, Pikler) dagegen seine Unterwerfung unter den Willen ist, so sucht Verf. diese diametral ent- gegengesetzten Behauptungen durch den Nachweis zu versöhnen, dais sie Ergebnisse der Betrachtung ein und desselben Dings von ver- schiedenen Standpunkten aus sind. Die einen gehen vom „Sensational Coefficient" aus, d. h. dem Kriterium gegenwärtiger sinnlicher Healit&t. Diese nun steht nicht unter der Kontrolle des Willens. Die psycholo- gische Basis der äufseren Realität ist daher hier die Empfindung von Widerstand. Die andern dagegen vom Gedächtnis -Koeffizenten der Eealität d. h. von dem Etwas im Gedächtnis, das uns zu glauben veran- lafst, dafs es eine wirkliche Erfahrung repräsentiere; für sie ist das Bild ein treues Erinnerungsbild, das wir imstande sind wieder als eine Empfindung zu erhalten, in dem wir eine fleihe willkürlicher Muskel-

Litteraturbericht 229

empfindiingen wiederholen, die mit ihm in seiner ersten Erfahrimg assoziiert waren.

Stout gehört zu der 1. Kategorie. Die Vorstellung realer Existenz liängt nach ihm ab von der Begrenzung unserer Willensthätigkeit durch das Material, auf das sie ausgeübt wird. Er imterscheidet Willens- tbätigkeit, insofern sie sich 1. als Bewegung des Körpers und 2. als innerer Prozefs der Aufmerksamkeit darstellt. Die Beschränkung der ersteren hat Verf. Mind XV. S. 22, Genesis of the Cognition of physical reality dargestellt. Hierzu enthält dieser Artikel nur einige Bemerkungen. Sein eigentlicher Zweck ist die Beschränkung der Innern Willens- richtung, der Aufmerksamkeit, durch die Natur der Vorstellungen, auf <lie sie sich richtet, darzustellen. Verf. untersucht des Nähern das Reale in den Empfindungen, in den Vergleichungsarbeiten, ferner die objektiven Attribute der Vorstellungen, die Objektivität des Baums und der Baumbeziehungen, die Bealität in der Ideenassoziation etc.

Überall sucht er dabei die Objektivität in der Beschränkung und der Kontrolle, die durch die innere Natur dessen, auf das sich unsere Aufmerksamkeit richtet, dieser unserer subjektiven Thätigkeit auf- ^i'legt wird. Gaupp (London).

^tks Dblagb. Essai sur la thöorie du rdve. Bev. Scientif. Bd. 48. S. 40—48. (11. Juli 1891.) Die vorliegende Abhandlung untersucht in ansprechender Weise *^-iiiige Probleme der Traumpsychologie und gelangt dabei zu Besultaten, '^^'elche zum gröfsten Teile neu sind. Die hauptsächlichsten sind folgende: ^m allgemeinen kehren die Ideen, welche den Geist im wachen Zustande v)eherrscht haben, im Traume nicht wieder. Die Grundbedingung dafür, ^afs ein Eindruck einen Traum hervorrufe, ist die, dafs der Geist fast Sogleich, nachdem er den Eindruck im Wachen perzipiert hatte, davon abgewendet wurde, oder dafs er im Momente der Perzeption auf natür- liche Weise abgezogen wurde. Dieses Abziehen des Geistes kann so weit gehen, dafs dabei die Perzeption völlig unbewufst erfolgt ist, so dafs sie keine Spur im Gedächtnis zurückläfst. Denmach giebt es für einen Eindruck um so mehr Möglichkeiten, einen Traum hervorzurufen, je weniger bewufst und je lebhafter er gewesen ist.

Die soeben angeführten Sätze werden dadurch erklärt, daüs die im Wachen am meisten unterdrückten Ideen das gröfste Mafs von Energie zurückbehalten haben und vermöge derselben in der Traumwelt die Oberhand gewinnen. Auch stärkere Eindrücke, bei denen die Hemmung im Wachen eine schwache oder langsame war, können Traumbilder her- vorrufen, falls sie noch ein ausreichendes Mafs von Energie besitzen. Daher kommt es auch, dafs wir viel mehr von traurigen als von freudigen Ereignissen träumen: weil die Erinnerung an erstere im Wachen unter- drückt worden ist, haben sie ihre Energie konzentriert. Diese Erwä- gungen sind für die an Alpdrücken leidenden Personen wichtig, denn wenn sie sich vor dem Schlafengehen den schreckhaften Vorstellungen hingeben, so träumen sie sicher nicht davon. Umgekehrt kann man sich den Genuls beliebiger Träume verschaffen, wenn man die darauf bezüg- lichen Eindrücke in sich hervorruft und sofort wieder unterdrückt.

230 LiUeraiurherichL

Bei der Verschmelzung zweier oder mehrerer Eindrücke ist die Phantasie nicht thätig, sie verschmelzen vielmehr von seihst, weil die Urteilskraft sie nicht auf die Dauer auseinander hält. Dagegen ist die Phantasie hei denjenigen Traumscenen, welche reicher sind an Hand- lung, ohne Zweifel wirksam. Von den psychischen Funktionen schläft der Wille zuerst ein, hierauf das Urteil, sodann die Phantasie: das Ge- dächtnis hleiht zuletzt ührig zusammen mit der Empfindung.

Den Ausgangspunkt der Abhandlung bildet die Thatsache, dais wichtige Lebensereignisse, wie Todesfälle, Verlobungen, Unglücksfälle, welche den Geist vollständig beherrschen, während dieser Zeit kein darauf bezügliches Traumbild hervorrufen. Aus dieser Thatsache, welche richtig ist, aber auch noch auf andere Weise erklärt werden kann, hat der Verfasser zwei Folgerungen abgeleitet, eine Erweiterung und einen Schlufs auf das Gegenteil, welche zwar beide logisch mit der gegebenen Erklärung der zu Grunde gelegten Thatsache zusammenstimmen, aber der Erfahrung nicht entsprechen. Die Ideen, welche den Geist am Tage nacheinander beherrscht d. h. ihn mit Ausschlufs heterogener Vor- stellungskreise einige Zeit hindurch beschäftigt haben, sollen im Traume im allgemeinen nicht wiederkehren! Gerade sie bilden in Verbindung mit den ihnen assoziierten bei mindestens der Hälfte der Fälle die psychische Basis, aus welcher die Traumideen hervorgehen. Femer soll ein weniger bewufst erfolgter Einzeleindruck die gröfsten Möglichkeiten haben, einen Traum hervorzurufen! Auch diese Behauptung erscheint mir unhaltbar. Bei meinen Träumen wenigstens hat es sich heraus- gestellt, dafs, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, solche Einzel- eindrücke bewuTst und in aller Ruhe vom Geiste am Tage aufgenommen worden waren, worauf letzterer, ohne eine gewaltsame Ablenkung er- fahren zu haben, sich anderen Eindrücken oder Vorstellungen überlassen hatte.

Ob man ferner häufiger von traurigen als von freudigen Ereignissen träumt, das hängt meiner Ansicht nach von körperlichen Zuständen ab, namentlich von der Art des Verdauungsvorganges. Dafs man endlich auf die oben angegebene Weise Träume von bestimmter Art willkürlich erzeugen kann, glaube icli nicht recht, da der Traum ein zu gewissen- hafter Interpret der wirklich vorhandenen psychischen Dispositionen ist.

Im übrigen stimme ich mit den erwähnten Ausführungen des Ver- fassers überein. Namentlich haben mich die drei zuletzt aufgestellten Gesetze überrascht, in denen der Verfasser eine feine Beobachtungsgabe bekundet. Max Giessler (Erfurt).

VON Frankl-Hochwart. Ueber den Verlust des musikalisclien Anadmcks- Vermögens. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde, Bd. I., Heft 3 u. 4. S. 283. Man hat beobachtet, dafs es Kinder giebt, die früher singen als sprechen lernen und dafs zuweilen bei angeborenem oder erworbenem Idiotismus der Sinn für Musik, ein gutes musikalisches Gehör und Ge- dächtnis für Melodien selbst da, wo die Sprache fehlt, vorhanden ist. Bekanntlich können Vögel (z. B. Gimpel), die nie sprechen lernen, doch

Liiteraturhericht 231

«isige Melodien singen; Betrunkene, die nicht mehr sprechen können, liört man oft noch singen. Es giebt also ein musikalisches Ausdrucks- Trermögen bei Sprachlosen; es giebt Leute, welche die Sprache verloren und doch ihr musikalisches Können behalten haben. Andererseits giebt es aber auch Leute, die mit dem Verlust der Sprache auch das musi- l^alische Ausdrucksvermögen gänzlich oder doch gröfsten teils eingebüTst liaben, wofür Verf. aufser mehreren der Litteratur entnommenen Fällen ^ eigene Beobachtungen anführt. Verlust des musikalischen Ausdrucks- vermögens allein ohne Sprachstörung ist bisher noch nicht konstatiert -worden. (Ob die von Ribot in seinem Buche über das Gedächtnis er- ^wähnte Beobachtung Carpentbrs, wo ein Kind nach einer Kopfverletzung alle seine musikalischen Kenntnisse, sonst aber nichts verloren hatte, ein derartiger Fall ist, läfst sich bei der Kürze der Notiz nicht ersehen. Sef.) Ebensowenig beobachtete man bei einer Erkrankung der rechten Sirnhemisphäre Verlust des musikalischen Ausdrucksvermögens. Warum d.asselbe bei der Aphasie das eine Mal erhalten bleibt, das andere Mal verloren geht, versucht Verf. durch folgende Hypothese zu erklären. Zum Verständnis der Töne kommt man nach Strickers Ansicht dadurch, dafs der akustische Eindruck sofort eine Muskelinnervation im Kehlkopf oder den Lippen auslöst, welche für gewöhnlich, wenn man ein Tonstück anhört, so wenig intensiv ist, dafs sie von dem akustischen Eindruck, von der Klangfarbe des Gehörten gedeckt wird und daher unbemerkt bleibt. Beide aber, der akustische Eindruck und die Muskelinnervation, hinterlassen im potentiellen Wissen Residuen des wahrgenommenen Ton- stückes, welche bei der Erinnerung an dieses Tonstück beide zugleich in das lebendige Wissen treten. Li der Erinnerung ist jedoch das akustische Bild nicht mehr so vorherrschend, wie beim direkten An- hören, und man fühlt, wenn man darauf achtet, bei der Vorstellung der Melodie eine Linervation des Kehlkopfes oder der Lippen. Da es auch Menschen giebt, die bei der Vorstellung weder im Kehlkopf noch in den I'ippen etwas verspüren, stellte Stricker später selbst die Vermutung *uf, dafs die Innervation eines Muskels im Ohr, des Tensor tympani, die Vorstellung vermitteln könne, eine Vermutung, die durch die Be- ohachtung Pollars, dafs dieser Muskel beim Hunde auf Töne reagiert ^d dafs je nach der Höhe derselben der Ausschlag ein ganz verschie- dener ist, bekräftigt wird. Es scheint auch, dafs bei manchen Musikern* die Instrumente spielen, die Bewegung der Finger ein Mittel ist, sich ohne Benutzung des Instrumentes bei Durchlesen der Noten oder auch ohne Noten ein Tonstück wieder ins Gedächtnis zurückzurufen.

Bei vielen Leuten beruht also, wie fast allgemein angenommen wird, die Musikvorstellung auf Kehlkopf-Lippeninnervation, es giebt aber auch Leute, bei denen sie noch auf andere Weise zu stände kommt.

„Wir haben Grund anzunehmen, dafs Sprache und Musikvorstellungen hei vielen Leuten auf identischen oder nahe benachbarten Centren be- ruhen; denn oft verliert sich das musikalische Ausdrucksvermögen mit der Sprache, und meistens entwickelt sich (einzelne Ausnahmen ab- gerechnet) beim Kinde beides gleichzeitig. In anderen Fällen erhält es sich trotz des Verlustes der Sprache. Dann haben wir vielleicht Leute

232 Litteraturbericht

vor uns, die mit Ohr Vorstellung (nach Stricker mit dem Tensor tympani) arbeiteten, so dafs sich dieses Centmm erhielt, während das der Sprach- vorstellung zu Grunde ging. Es kann auch Leute geben, die doppelte Vorstellungsmodalitäten haben und bei Verlust der einen doch mit der anderen (vielleicht öfters nur teilweise) Vikariieren."

Peretti (Merzig). J. Mark Baldwik. (Toronto). Suggestion in infancy. Science (NeW'Tark)^

XVII. No. 421, 27. Febr. 1891. Auf Grund von Beoachtungen am eigenen Kinde kommt B. zu folgender Einteilung der Arten der Suggestion. Physiologische Suggestion ist das Bestreben eines Heflexes oder eines automatischen Vorganges, mit einem anderen Empfindungs- oder Vorstellungsprozesse sich zu ver- knüpfen und von ihm beeinflufst zu werden. Sensori-motorische Suggestion ist das Bestreben aller nervösen Heaktionen sekundär automatisch und reflektorisch zu werden. Deliberative Suggestion ist das Bestreben ver- schiedener, im Wettstreit befindlicher sensorischer Vorgänge, in eine einzige motorische Reaktion auszugehen. Persistente imitative Suggestion ist das Bestreben eines sensorischen Vorganges, sich durch eine solche Anpassung seiner Heaktionen zu behaupten, dafs sie ihrerseits neue Reize abgeben. Von selten des Bewufstseins ist Suggestion im allge- meinen die Neigimg eines Empfindungs- oder Vorstellungszustandes, von einem motorischen Zustand gefolgt zu werden.

As HER (Heidelberg). TAN Deventer. Die Bolle der Suggestion in wachem Zustande, vom

forensischen Standpunkte ans beleuchtet. CentraJblaU für Nervenheä-

künde und Psychiatrie, September 1891. S. 385.

Sicherlich hat man die Bedeutung der Suggestion in der Hypnose für die Möglichkeit, jemandem das Begehen einer mit seiner ganzen Persönlichkeit in Widerspruch stehenden Strafthat zu suggerieren, über- schätzt, aber es giebt doch unzweifelhaft Fälle, in denen der Hypno- tisierte gegen seinen Willen strafbare Handlungen begeht. Unter ge- wissen Umständen kann die Suggestibilität auch im wachen Zustande ebenso stark sein, wie in der Hypnose; so kommt es vor, dafs ein ein- drucksfähiges Individium vor dem Untersuchungsrichter infolge unbe- wufster Suggestion, indem es dem Gedankengange des Inquirenten folgt, in gutem Glauben ein falsches Zeugnis abgiebt, ebenso wie es auch möglich ist, dafs unter dem doppelten Einflufs von Suggestion imd psychischer Emotion von einem neuropathisch veranlagten Menschen Handlungen begangen werden können, die mit seiner Persönlichkeit in vollem Widerspruch stehen.

Zum Beweise, welchen nachteiligen Einflufs eine inkorrekte Unter- suchungsführung auf eine Person von unbescholtenem Betragen aus- üben kann, erzählt v. D. ausführlich einen Fall, in welchem ein in seinem Wesen unselbständiger, leicht deprimierter und affektierter Post- beamter, der mit 12 Jahren an einer Lähmung der Nackenmuskulatur imd der Extremitäten gelitten und später einmal nach einer Aufregung einen Krampfanfall gehabt hatte, infolge der ihm in heftigster Weise vorgeworfenen (falschen) Beschuldigung, er habe einen Brief wider-

lAtteraturbericht 233

recbtlich geöffnet, in eine derartige Gemütserschütterung geriet, dafs er sich des Vergehens für schuldig erklärte und auch ohne äuTseren Zwang Briefe, aus denen seine Schuld gefolgert werden mufste, schrieb. In einem weiteren Verhöre wurde er bewufstlos, hatte einen Krampfanfall mit folgender (wochenlang dauernden) Extremitätenlähmung und war erst eineWoche später wieder bei klarem Bewufstsein; von da ab beharrte er dabei, dafs er durch Drohungen und Versprechungen im ersten Verhör dazu gedrängt worden wäre, ein falsches Geständnis abzulegen und dafs er von den Briefen keine Erinnerung habe. Auf Grund eines Gut- achtens V. D.s, nach welchem der Betreffende bei seinem Verhalten yyunter dem Einflufs psychischer Emotionen und höchst wahrscheinlich anch bewufster oder unbewuftser Suggestion stand, ein Umstand, der die Vorgänge, wie sie hier in Betracht kommen, begünstigt", wurde der- selbe freigesprochen. Pbretti (Merzig).

P. S. Observations d'hallucinations individnelles et collectives. Revue

sdeniif.y 1891, Bd. 48, Nr. 10, S. 303.

Anscheinend vertrauenswerte Mitteilungen eines französischen Militärarztes über eine Illusion und eine Hallucination, die ihm in Zu- st&nden grofser körperlicher Schwäche und nervöser Erschöpfung, übri- gens aber geistiger Gesundheit, begegneten. Angeschlossen ist ein Be- riclit über eine durch einen Ruf geweckte und dann bei zahlreichen In- <üviduen in derselben Weise aufgetretene Illusion. Ebbinghaus.

I. B. Wallaschek. On the origin of Music. MindXVI. (1891.) Nr. 63,

S. 375—386. II. J. McK. Cattell. Ebenda S. 386—389. ni. H. Spencer. Ebenda Nr. 64, S. 535—638.

Wall, sucht den Ursprung der Musik in einem rhythmischen Impuls vax Menschen. Den Sinn für Khythmus führt er zurück auf den all- göiaaeinen Spieltrieb (appetite for exercise), wobei er aus soziolog^ischen Tind psychologischen Bedingungen heraus zu erklären sucht, warum sich ^eser in rhythmischen Formen äufsert. Die Ursache des allgemeinen Spieltriebs selbst findet er mit Spencer in einem Überschufs von Kraft in den höher entwickelten Wesen, der, was für die immittelbaren Lebens- bedürfnisse nötig ist, überschreitet. Er sucht nun des nähern nachzu- weisen, wie der Ehythmus an und für sich zu musikalischen Tönen und auf diesem Weg zur Würdigung von Intervall und Melodie führt.

Er wendet sich dann ausführlich gegen die schon von Spencer be- kämpfte Theorie Darwins, die den Ursprung der Musik in dem sich in Tönen äufsernden Liebeswerben der Männchen sucht, um sich dann zum Schlufs mit Spencers Theorie, die er als Sprechthorie (Speechtheory) be- zeichnet, auseinanderzusetzen. Für Spencer ist Musik die idealisierte natura liehe Sprache der Leidenschaft, den Ursprung der Musik haben wir nach ihm also in der entwickelten Sprache der Emotion zu suchen. Während Spenobb so den Ursprung der musikalischen Modulation in den Modulationen des Sprechens suche, will Verf. ihn direkt aus dem rh3rthmischen Impuls ab-

234 Litteraturbericht

leiten. Die Menschen kamen nicht zur Musik durch Töne, sondern sie kamen zu Tönen und Liedern durch rhythmischen Impuls. Femer sei Musik der Ausdruck des Gefühls, Sprache der Ausdruck des Denkens. Nehmen wir also an, dafs Musik aus dem Sprechen sich entwickelt habe, so müTsten wir auch annehmen, dafs Gefühl sich aus dem Denken ent- wickelt habe. (?)

n. Prof. Gatt, wendet sich gegen den Abschnitt in Spencebs Auf- satz: The origin of music, Mind. 60. der von der Harmonie handelt. Er will zeigen, dafs Harmonie sich aus der Melodie entwickelt hat und dafs die emotionelle Wirkung der Harmonie auf derselben Grundlage be- ruht wie die der Musik überhaupt. Er sucht zu diesem Zwecke nach- zuweisen, dafs der Kombination von Tönen in der Harmonie schon im einzelnen Ton die Harmonie der Obertöne entspricht. Alle Kombinationen der Musik sind nach ihm latent in den Tönen der Natur.

m. Spenckr wendet'sich kurz gegen obige Ausführungen. Er findet den Hauptmangel der JEthythmustheorie in der Ansicht, dafs Musik ihren wesentlichen Gharakter durch einen Zug, den sie mit andern Dingen gemein hat, erhalte, statt durch einen Zug, den sie allein besitzt. Während Musik als eines der verschiedenen rhythmischen Produkte zu klassifizieren sei, werde sie Musik allein durch das, was sie von andern rhythmischen Produkten unterscheide. Der Name „Speechtheory" sei mifsleitend; er lehre nur, dafs Musik aus dem Gefühlselemeut der Sprache sich ent- wickelt habe.

Gegen Prof. Gatt, bemerkt er, er würde der Lehre, dafs Harmonie sich aus der Melodie entwickelt habe, gerne zustimmen, wenn nachweis- bare Übergänge zwischen den Tonkombinationen, die die Klangfärbung konstituieren, die wir aber nicht als Harmonie wahrnehmen, und den Tonkombinationen, die fiir unsere Wahrnehmung eine Harmonie bilden, gefunden werden könnten. Gaüpp (London).

E. Grosse. Ethnologie und Ästhetik. Viertefjahrsschrift für tcissensch. Philosophie XV. H. 4 (1891) S. 392—417. Verf. bezeichnet es als Zweck seiner Ausführungen, die Wichtigkeit der ethnologischen vergleichenden Methode, der alle übrigen Geistes- wissenschaften so viel verdanken, für die empirische Ästhetik darzuthun. Er giebt zuerst eine kurze historische Übersicht über die Beziehungen zwischen Ethnologie und Ästhetik seit Abbe Dubos und deutet dann näher an, in welchen Fragen die Ästhetik von der Ethnologie Hülfe imd Aufklärung zu erwarten hat. Jedes ästhetische Gefühl setzt ein Subjekt, in dem es erregt wird, und ein wahrgenommenes oder vorgestell- tes Objekt, von dem es erregt wird, voraus. An die letztere Bedingung knüpft die Frage nach den objektiven Bedingungen für das ästhetische Gefühl an. Verf. zeigt, wie alle Theorien hier fehlgehen, wenn sie die ethnolog. vergleichende Betrachtung vernachlässigen. Aber auch in Be- ziehung auf den subjektiven Faktor wirkt die ethnolog. Methode auf- klärend. Gerade indem sie uns einfachste und primitivste Verhältnisse vorführt, ermöglicht sie uns, in den komplizierten Fragen nach den Gründen der verschiedenen ästhetischen Empfänglichkeit der einzelnen Völker

LiUeraturbericht, 235

und in der noch komplizierteren nach dem allgem. Zusammenhang der Kunstthätigkeit eines Volks mit seiner Umgebung und seiner übrigen Kultur zu festeren Eesultaten zu kommen. Vollends leicht föllt dem Verf. der Nachweis der Unentbehrlichkeit der ethnolog. Methode für die Entwickelungsgeschichte der Kunst. Man meinte, hier mit der historischen Methode auszukommen; aber man vergafs, dafs die Anfänge der Kunst in der Geschichte durchaus nicht zusammenfallen mit den Anfangen der Kunst überhaupt. Gaitpp (London).

Charles E. Beevor. On some points in the action of muscles. Brain, Lilly

1891, S. 51 ff.

Verfasser gelangt auf Grund eigener Beobachtungen zu folgenden Resultaten :

1. Für die Untersuchung der Wirkungen, welche die Thätigkeit eines Muskels hat, giebt es drei Methoden, erstens die anatomische, bei welcher an der Leiche die Wirkungen beobachtet werden, welche ein- treten, wenn auf den Muskel in seiner Kontraktionsrichtung ein Zug ausgeübt wird, zweitens die Methode der elektrischen Eeizung des Muskels und drittens die „natürliche" Methode, bei welcher direkt an dem sich willkürlich bewegenden Körper mittelst des Gesichts- oder Tastsinns festgestellt wird, welche Muskeln sich bei Ausführung der verschiedenen Willensbewegungen kontrahieren. Für diejenigen Muskeln, welche so tief liegen, dafs sie vom faradischen Strome nicht erreicht werden und ihre Kontraktionen dem Gesichts- und Tastsinne unmerkbar bleiben, kommt natürlich allein die erste Methode in Betracht. Hiervon abgesehen, ver- dient aber die natürliche Methode durchaus den Vorzug, weil der Umstand, dafs ein Muskel den anatomischen Verhältnissen nach fähig ist, eine bestimmte Bewegung hervorzurufen oder bei Ausführung derselben mit- zuwirken, nachweislich nicht mit dem Umstände verbunden zu sein braucht, dafs der Muskel auch wirklich bei willkürlicher Ausführung dieser Bewegung benutzt werde.

2. Werden Muskeln behufs Ausführung schneller und gewaltsamer Bewegungen in Thätigkeit versetzt, so läfst sich eine Miterregung ihrer Antagonisten nicht beobachten. Ob die Antagonisten bei langsamen, moderierten Bewegungen mehr thun, als das durch die Schwere bedingte Herabsinken des Gliedes zu mäfsigen, ist zweifelhaft. Bei sehr feinen Bewegungen sind die Antagonisten wahrscheinlich thätig. (Man ver- gleiche hierzu den im 2. Bande dieser Zeitschrift, S. 412 f., gegebenen Bericht über die Untersuchungen von H. Dement. D. Ref.)

3. Trotz der (auf den m. supinator longus imd pectoralis major be- züglichen) gegenteiligen Behauptungen von Duchenne und anderen kommt es nie vor, dafs ein Muskel unter gewissen Umständen eine Bewegung bewirke, welche der unter anderen Umständen von ihm bewirkten Be- wegung genau entgegengesetzt sei.

4. Ebenso wie ein Augenmuskel kann auch ein Gliedmuskel für eine Art von Bewegungen gelähmt sein, für eine andere Art aber nicht.

236 Litieraturbericht.

5. Dieser Zustand weist auf eine Schädigung hin, welche die Kerne oder Wurzeln des Eückenmarkes, nicht aher die peripherischen Nerven oder Muskeln direkt hetroffen hat. G. E. Mülleb (Göttingen).

A. GoLDscBEiDER. Übor eine Beziehung zwischen Muskelkontraktioii und Leitungsfähigkeit des Nerven. Zeitschr, für Klin. Medicin, B. XTX. H. 1 u. 2 (1891) S. 2-31.

G. führt den experimentellen Nachwefis, dafs Kontraktionsformen des Muskels, die sonst zu den qualitativen Abweichungen gezählt w^urden, lediglich durch eine Veränderung der Nervenleitungsfähigkeit erzeugt werden können. Wurde durch Alkoholdämpfe oder Kokain eine Strecke des Nerven in ihrer Leitungsfähigkeit herabsetzt, so zeigten sich bei einem central von dieser Stelle applizierten Eeize sowohl bei £inzel- Zuckung, wie summierten Zuckimgen und Tetanus kurvenmäfsig die Er- scheinungen, die man an dem ermüdeten Muskel beobachtet, vrährend bei gleichen Beizbedingungen ein peripher applizierter Heiz den normalen Vorgang auslöste. Verstärkung des Eeizes auf der centralen Seite, Schwächung auf der peripheren führten aber zum Ausgleich der Er- scheinung. Andere, gemeinhin dem Muskel zugeschriebene Besonder- heiten, wie latente Summation, Anfangszuckung und rhythmische Kon- traktion liefsen sich durch geeignete Versuche auf Herabsetzung der Leitungsfähigkeit des Nerven zurückführen. Für die Pathologie ins- besondere sind diese Ergebnisse nicht unwichtig.

AsHEB (Heidelberg). 0. Damsch. Über Mitbewegungen in ssrmmetrischen Muskeln an nicht gelähmten Gliedern. Zeitschr. für Idin. Medusin. Bd. 19, SuppL, (1891) S. 170 ff.

Verf. hat 2 Individuen beobachtet, an denen diese seltene Art von Mitbewegungen auftrat, imd fand folgendes:

Bei beabsichtigter Ausführung irgendwelcher, noch so komplizierter Bewegungen an der einen Extremität traten genau die gleichen Be- wegungen an der andern Extremität auf. Dieser Zwang zu symmetrischen Mitbewegungen erstreckte sich auf das gesamte Muskelgebiet des Rumpfes und der Extremitäten, während die Muskeln des Gesichts auffallende r- weise davon verschont waren.

Die Mitbewegungen waren um so ausgeprägter, je energischer und je schwieriger die Ausführvmg der willkürlichen Bewegimgen der andern Seite war.

Die Mitbewegungen waren bei willkürlicher Innervation rechts- seitiger Muskeln und linksseitigem Auftreten der Mitbeweg^ungen stärker ausgesprochen, als im umgekehrten Falle.

Aufser dem Zwange zu symmetrischen Mitbewegungen war keinerlei Störung der Motilität an den Patienten zu beobachten. Die letztern zeigten bei den gewöhnlichen Bewegungen niemals auffällige Mitbe- wegungen in benachbarten Muskeln derselben Seite; auch konnte niemals eine Steigerung der Reflexe oder ein Überspringen derselben auf die andere Seite beobachtet werden. Bemerkenswert ist die (vom Verf. bei seinen theoretischen Ausführungen nicht weiter berücksichtigte)

Litteraturhericht 237

Thatsache, dafs bei starker elektrischer Beizung der Muskeln der einen Seite wiederholt, wenn auch nicht regelmäfsig, schwache Mitbewegungen in den entsprechenden Muskeln der andern Seite auftraten.

Verf. macht zur Erklärung der von ihm beobachteten Mitbewegungen geltend, „dafs alle einseitig erfolgenden, . von den psychomotorischen Oentren der Hirnrinde ausgehenden willkürlichen Impulse sich bei ihrem Eintritt in die grofsen centralen Himganglien unter physiologischen Verhältnissen den gleichen Ganglien massen der anderen Seite in symmetrischer Ausbreitimg mitteilen". Diese Ausbreitung der Erregungs- -welle führe in gesundem Zustande nicht zu bilateral symmetrischen Bewegungen, weil seitens der bei dem Willensimpuls unbeteiligten Hemisphären ein Hemmungsapparat in Thätigkeit trete, der, von der Hirnrinde ausgehend, die irradiierte Erregung in den grofsen Ganglien dieser Seite paralysiere. Dieser Hemmungsapparat werde höchstwahr- scheinlich durch Erziehung und Übung entwickelt. Ein Ausfall der Thätigkeit desselben müsse notwendig einen Zwang zu symmetrischen Mitbewegungen zur Folge haben, möge dieser Ausfall nun seinen Grund in einer in frühester Kindheit eingetretenen Erkrankung der Hirnrinde haben, wie in gewissen von Westphal beobachteten Fällen, oder durch eine mangelhafte Erziehung bedingt sein, wie vermutlich in den beiden hier beschriebenen Beispielen der Fall gewesen sei.

G. E. Müller (Göttingen).

A. Kraus. Physiologische Mitbewegungen des paretischen obem Lides.

Inaug.-Dissert. Göttingen, 1891.

Verf. giebt eine Übersicht über die bisher beschriebenen Fälle dieser Abnormität, teilt 3 weitere Fälle mit, bespricht kurz die bis- herigen theoretischen Erklärungen dieser Erscheinung und führt selbst dieselbe darauf zurück, dafs der paretische Muskel eine stärkere Willens- intention beanspruche, um zur Kontraktion veranlafst zu werden. Diese gesteigerte Willensintention rufe Mitbewegungen in andern (z. B. dem Kauakte dienenden) Muskeln hervor, die für den beabsichtigten Zweck ohne Nutzen seien. Hierbei entstehe eine Assoziation zwischen der Bewegung des paretischen Muskels und diesen unbeabsichtigten Be- wegungen anderer Muskeln. Die Folge dieser Assoziation sei, dafs nun die willkürliche Ausführung derjenigen Bewegungen, welche die Kon- traktion des paretischen Muskels ursprünglich als zwecklose Mitbe- wegungen begleiteten, die Kontraktion des geschwächten Muskels erleichtere und hervorrufe. Dafs die Kontraktionen des paretischen Muskels so excessiv ausfallen, rühre vielleicht davon her, dafs auch die beabsichtigten Bewegungen, mit denen verknüpft sie auftreten, so energisch und ausgiebig seien.

Beobachtungen, welche die in dieser Erklärungsweise enthaltene Behauptung, dafs willkürliche Anstrengung, den paretischen Muskel zu kontrahieren, von deutlichen Kaubewegungen oder Schluckbewegungen u. dergl. begleitet sei, mit Sicherheit bestätigen, werden vom Verf. nicht mitgeteilt und scheinen nach dem vom Verf. Mitgeteilten überhaupt nicht vorzuliegen. G. E. Müller (Göttingen).

238 Lüteraturhericlit:

B. Perez. Le caractöre et les mouvements. Beme philosophique. Bd. 31, 1. (Jan. 1891.) S. 45-62.

Der Verfasser teilt die Charaktere nacli der Art der Bewegungen ein. Er findet die drei Grandtypen der vifs, ardents und lents und die daraus resultierenden Zwischentypen der vifs-ardents, lents-ardents und pond6res. Es liegt dabei der Untersuchung der Q-edanke zu Grunde, dafs Freude, Zorn, Wohlwollen, Furcht, Mut, Ehrgeiz nicht unmittelbar abhängen von Lebhaftigkeit, Heftigkeit, Langsamkeit, dais aber die genannten seelischen Eigenschaften sich in anderer Weise mit der Lebhaftigkeit als mit der Heftigkeit imd Langsamkeit kombinieren.

Lebhaftigkeit hat Beweglichkeit der Gefühle zur Folge. Leb- hafte Leute verweilen nicht lange bei denselben Eindrücken und Gefühlen. Sie sind rasch und vorübergehend in ihren Neigungen. Hure freudige Grundstimmung wird wenig beeinflufst durch Krankheit, ein einsames Leben, eine unzweckmäfsige Lebensweise, eine strenge Erziehung. Ihr unwiderstehliches Bedür&iis nach erregenden Eindrücken disponiert sie. alles aufzusuchen, was ihrer Eitelkeit schmeichelt.

Die Heftigen kennzeichnen sich durch einen hohen Grad von Empfindlichkeit und eine sehr reizbare Eigenliebe. Es zeigt sich bei ihnen eine gewisse Affektion der Organe und eine hervorragende Gehirn- thätigkeit. Der Streit ist ihr Element. Sie können sich schwer beherrschen und sind unduldsam gegenüber allem, was sich ihnen in den Weg legt. Bisweilen wohlwollend, grofsmütig, bescheiden, ehren- wert, ohne Ehrgeiz, gute Gesellschafter, verbergen sie in ihrem Linem eine reizbare und schlechte Persönlichkeit.

Bei den Langsamen ist die Empfindlichkeit weniger tief und umfassend ausgebildet. Sie brauchen einige Zeit, um aus sich heraus zugehen. Mit einer wenig aktiven Einbildungskraft und Urteilskraft begabt, ohne heftige Wünsche geben sie sich mehr oder weniger dem Verlaufe der Dinge hin und verhalten sich vielen Dingen gegenüber indifferent. Sie erregen sich nur über Dinge, welche der Mühe wert sind. Aber aufs äufserste getrieben, kennen sie keine Grenze für ihren Zorn und ihr Aufsersichsein. Sie besitzen weder Eigenliebe noch Eitelkeit.

Die Gemäfs igten sind empfindlich für eine grofse Menge der verschiedenartigsten Objekte. Unter ihnen finden sich die glücklichsten Naturen, welche fähig sind, ihrer Seele alle möglichen Formen zu geben. Der Wechsel ihres Geschmacks, ihrer Gewohnheiten, ihr gesundes Urteil schützt sie vor andauernden Schmerzen. Zu klug und vernünftig, um Vorurteile zu haben, gründen sie ihre Sympathien imd Antipathien auf Überlegung und Urteil. Wohlwollen ist das vorwiegende Gefühl den Menschen gegenüber. Edelsinn und Würde sind bei ihnen Gaben der Natur.

Es ist das Verdienst Peuez', den eigentümlichen Zusammenhang zwischen Charakter und Bewegungen zuerst genauer dargelegt zu haben. Die Beobachtungen sind im allgemeinen zutreffend und setzen eine tiefere Menschenkenntnis voraus.

M. GiESSLEB (Erfurt).

Litteraturben'cht. 239

Shadworth H. Hodgson: Free- Will: an Analysis. Mind. XVI. Nr. 62 (1891) S. 161—180.

Ist freier Wille eine Realität ? d. h. können wir in Wirklichkeit zvdsclien verschiedenen Trieben und Motiven eine Wahl treffen ? Von der Bejahung dieser Frage scheint dem Verf. die Möglichkeit einer Ethik der Pflicht, die Bedeutung der Idee des Gewissens und der moralischen Verantwortlichkeit abzuhängen. Verf. wendet sich zuerst gegen 2 ent- gegengesetzte Theorien, die aber beide dem gemeinsamen Fehler anheim- fallen, das Agens oder Subjekt bewufster Handlungen in einem abstrakten Ich zu sehen, das ohne Realität nichts als ein hypostasiertes Wort ist. Indem sie dieses Nichts nun entweder als eine Aktivität oder als pure Passivität fassen, sind sie Indeterministen oder Deterministen. Verf. sieht^ dagegen das reale Agens, die unmittelbare reale Bedingung aller BewuXstseinsakte, einschliefsl. der Willensakte in dem neurocerebralen System, wobei er die Frage nach dem verborgenen Zusammenhang des Bewufstseins mit diesem physischen Agens als nicht hierher gehörig zurück- 'Weist. Die Grundfrage ist für ihn : Ist das Motiv, dessen gröfste Stärke durch die Thatsache seiner Wahl bewiesen wird und das die durch die ^ahl vorgeschriebene Handlung bestimmt, vom Anfang der Überlegung, «n das stärkte gewesen, und hat es die Überlegung und den Prozels der "Wahl bestimmt, wie es die gewählte Handlung bestimmt hat, oder ver- dankt es seine überlegene Stärke im Momente der Wahl ebensosehr dem ^Akt der Überlegung, der in der Wahl endigt? Trifft das letztere zu, so liaben wir nach d. Verf. Willensfreiheit. Wille heifst, Macht zu wählen. lEben diese Macht im Willen ist seine Freiheit. Die so bestimmte 'Willensfreiheit sucht Verf. dann als Realität nachzuweisen, indem er den Ikiechanismus der in der Wahl endigenden Überlegungsakte analisirt, und 4en wirklichen Willensakten Bewultseinsvorgänge gegenüberstellt, die, ohne wirkliche Willensakte zu sein, doch leicht mit diesen zusammen- geworfen werden. Gaupp (London).

JuLTOs DuBoc. GrTmdriJfo einer einheitlichen Trieblehre vom Standpunkt des Determinismns. Leipzig, Wigand. 1892. 308 S. Der Inhalt der Schrift deckt sich nur teilweise mit dem, was der Titel in Aussicht stellt. Das Hauptabsehen ist darauf gerichtet, von deterministischen Voraussetzungen aus die Entstehimg^ der Sittlichkeit zu erklären. Die Determination des Willens wird wesentlich nach der inneren Seite ins Auge gefafst; sie ist dem Verf. nach dieser Seite nichü eine dualistische, nach der die Triebe von Haus aus in selbstische und selbstlose, egoistische und altruistische, auseinanderfallen, sondern eine monistische : die Triebe sind ausschliefslich selbstisch. Von dieser Vor- aussetzimg aus erscheint ihm jedoch der ütilitarismus, die Wohlfahrts- moral mit ihrer Triebfeder, der Spekulation auf die individual-eudämo- nistischen Folgen der allgemeinen Wohlfahrt, als eine unzulängliche, weil dem Wesen der Sittlichkeit nicht Genüge thuende Lösung der Frage nach der Entstehung des Sittlichen. Mit Eecht läfst er das Sitt- liche erst da beginnen, wo nicht erst die äufsere That, sondern schon die Gesinnung, die Willensrichtung, die Maxime des Handelns, gut, d. h.

240 Litteraturhericht.

altruistisch ist. Das Problem besteht also darin, das Sittliche in diesem Sinne unter Festhaltung der egoistischen Triebfeder erklärlich zu machen. Diese Problemstellung ist unzweifelhaft richtig und stellt ein entschie- denes, rückhaltlos anzuerkennendes Verdienst des Verfassers dar.

Leider nur gelingt ihm, wie so vielen anderen, die von den gleichen Voraussetzungen aus die natürliche Entstehung der Sittlichkeit nachzu- weisen unternommen haben, die Lösung nicht. Sein Lösungsversuch hat etwas Künstliches und Verschwommenes und läfst sich schwer in wenig Worten formulieren. Ihm ist das Gewissen ein universelleres Analogen der Ehre. Li den verschiedenen Formen, in denen die Ehre als Trieb- feder des Handelns auftritt, Mannesehre, Künstler-, Beamten-, Haus- frauenehre u. dgl., ist nach des Verfassers Meinung das Gemeinsame der Trieb zur Behauptung der für die betreffende Obliegenheit eingesetzter. Per- sönlichkeit. Dieser Trieb, von den in den vorstehenden Fällen vorhan- denen Schranken befreit und ins allgemeine Menschliche generalisiert, ist, wenn wir den Verfasser recht verstehen, das Gewissen. Wir glauben nicht, dafs damit das Wesen der Ehre und des Gewissens zutreffend bestimmt ist. Wir glauben, dafs der Verfasser, wenn er sich in der neuesten Litteratur über den Gegenstand eingehender umgesehen hätte, dort möglicherweise auf eine Lösung gestofsen sein würde, die vielleicht auch ihn selbst mehr befriedigt hätte, als dieser eigene unzulängliche Lösungsversuch.

An diesen Hauptpunkt der Schrift schliefsen sich nun noch Be- trachtungen über das höchste Gut, über Lebens werte überhaupt u. dgl. an, wobei der Verf. u. a. auch zur Unsterblichkeitsfrage ziemlich posi- tive Erwägungen zum besten giebt, die freilich leicht nach Sphinx und Occultismus schmecken. Schliefslich läuft die Betrachtung in allerlei geistreiche Träumereien über einen universellen evolutionistischen Welt- fortschritt aus, der mehr seinem Geschmacke entspricht, als das ewig sich wiederholende Einerlei des Weltprozesses im Sinne einer rein natur- wissenschaftlichen Weltanschauung. Diese Ausführungen hängen frei- lich mit dem Grundproblem der Schrift nur noch durch den dünnen Faden des eudämonistischen Grundgedankens zusammen.

A Döring (Grofs-Lichterfelde).

P. SoLLiER. Psychologie de Hdiot et de rimb^cile. Paris, Alcan 1891.

276 S. Der Idiot und der Imbecille. Eine psychologische Studie. Über- setzt von Dr. P. Brie. Hamburg, Leopold Voss, 1891. 226 S.

S. hält es für unzweckmäfsig , den psychologischen Zustand der Idioten mit dem gesunder Kinder zu vergleichen. Auch die Intelligenz der Tiere ist nicht verwendbar, weil der Idiot, auch der erzogene, immer ein anormales Wesen ist. Die bisherigen Definitionen des Begriffes Idiotie werden dann kritisiert; keine derselben pafst auf alle Fälle, es giebt eben keine Idiotie , sondern nur Idioten. S. selbst giebt dann folgende Erklärung: „ist die Idiotie eine auf verschiedenartigen Ver- änderungen beruhende, chronische Gehirnerkrankung, welche charak-

Litteraturbericht 241

terisiert ist durch Störungen der intellektuellen, sensitiven und motorischen Funktionen bis zur fast vollständigen Aufhebung derselben, und die ihren besonderen Charakter, namentlich was die intellektuellen Störungen betrifiPt, nur dem jugendlichen Alter der Individuen entlehnt, die sie befällt"

S. stellt drei Kategorien der Idiotie auf:

1. schwere Idiotie: vollständige Geistesabwesenheit und Unver- mögen zur Aufmerksamkeit;

2. leichte Idiotie : Schwäche und Erschwerung der Aufmerksamkeit ;

3. Imbecillität : Unbeständigkeit der Aufmerksamkeit.

£r benutzt also als Grundlage der Einteilung nicht die Sprache, oder die Triebe, oder den Gesamtzustand der geistigen Fähigkeiten, sondern die Aufmerksamkeit, auf die er bei der Entwickelung und Er- ziehung das Hauptgewicht legt. Aus dem mehr oder weniger ausge- sprochenen Mangel an Aufmerksamkeit folgert er die Nichtentwickelung der Fähigkeiten und darum das dauernde Fehlen dieser Entwickelung, d.h. die Idiotie. Die Aufmerksamkeit, d. h. das spontane Aufmerken, scheint stets auf affektiven Zuständen zu beruhen, die durch Sinneswahmehmungen hervorgebracht werden.

S. beg^innt daher mit den Sinneswahmehmungen und bespricht dann der Heihe nach die Aufmerksamkeit, die Triebe, die Gemütsbewegungen und ethischen Gef&hle, die Sprache, die eigentliche Intelligenz, das Ge- dächtnis, die Ideenassoziation, das Urteil, den Willen, das Selbstbewufst- sein und die Verantwortlichkeit, immer nur in Bezug auf Idioten und Imbecille, und beide nur ohne weitere Komplikation wie Epilepsie und dergl. Jedes Kapitel bringt eine Menge scharfer Beobachtungen und eine Fülle neuer Gedanken. S. bevorzugt die Idioten, die er überall mit grofser Wärme schildert, während er für die Imbecillen nichts übrig hat, sie gehören eigentlich alle hinter Schlofs und Riegel! Während er die ersten als extrasozial bezeichnet, nennt er letztere geradezu antisozial. Ihre wenig entwickelte Fähigkeit benutzen sie nur dazu, um feindlich gegen ihre Mitmenschen vorzugehen. Das zeigt S. überall in seinem Buche, namentlich in dem interessanten Kapitel über die Gefühle.

Wie zu erwarten, läfst sich S. sehr ausführlich über die Aufmerk- samkeit aus. Die Intelligenz ist proportional der Entwickelung der Aufmerksamkeit, die wiederum proportional ist der Entwickelung der Stirnlappen. Die letzteren sind bei Idioten nur unvollkommen entwickelt« Die Aufmersamkeit ist ein auf die motorische Kraft übertragener Affekt- zustand. Da beide Faktoren beim Idioten verändert sind, ist auch die Aufmerksamkeit gestört. Die Störungen der Motilität die Schwäche der Empfindungen, die UnvoUkommenheit des Sinneseindrücke tk\h*,H mindert die Fähigkeit zur spontanen, auf äufsere Dinge gerichteten Auf- merksamkeit. Aber auch die willkürliche Aufmerksamkeit ist gering und fehlt ganz bei den tiefstehenden Idioten. Sie fehlt auch don wilden Völkern, wie sie überhaupt nur unter dem Druck der Verhältni«iNe, erst mit dem Fortschritt der Intelligenz entstanden ist. Die wülkürlichs Aufmerksamkeit folgt der spontanen, sie ist ein soziol oginch«« Phänomtn^ das Produkt von Disciplin und Gewohnheit,

Ztbaekiih fir Pkjehokvie HL K

242 lAüeraturbericht

Der Idiot hat sehr wenig willkürliche Aufmerksamkeit, ist aber harmlos. Der Imbecille hat die Aufmerksamkeit bis zu einem gewissem Grade, aber es ist unmöglich, sie zu fesseln. Dabei hat der ImbeciiJ\f eine relative Intelligenz, die auf falsche Bahnen gelenkt wird. Er dadurch gefährlich für die Mitmenschen, ist eben antisozial! Die merksamkeit der Imbecillen ist eine intermittierende, unbeständige. Unbeständigkeit der Aufmerksamkeit äufsert sich auch in den lungen. Während viele Idioten automatisch arbeiten, ohne einen Zw< im Auge zu haben , begreift der Imbecille den Zweck der Arbeit, er e müdet aber sehr rasch und vergifst schliefslich die Arbeit. Dan^^^. kann man die Imbecillen einteilen in die zerfahrenen Zerstreuten und (2f, vertieften Zerstreuten. Die sog. Vertieftheit fehlt den Idioten ganz.

Es würde zu weit führen, die einzelnen Kapitel des Buche» ^o referieren. S. bringt zu viel des Interessanten. Fesselnd ist beson^lezs noch der Abschnitt über die Sprache. Intelligenz und Sprache geLeo nicht Hand in Hand. Zur Intelligenz gehört, daüs das Gehirn enir wickelungsfahigist und der Idiot oder Mensch die Sprache Anderer versteiii Manche Idioten denken weder in Wortgehörsbildern, noch in WortgesidLtfh bildem, sondern in Bildern, die Handlungen darstellen. Also kann man auch ohne Worte denken, indem man eben mit Hülfe der eben genannten Bilder denkt. Kinder von 1 16 Monat zeigen wirkliche motorische Aphasie. Die ersten Wortbilder sind Gehörsbilder, dann kommen die Bewegong?- bilder, schliefslich die Gesichtsbilder. Die neugeborenen Kinder leiden an motorischer Aphasie, weil ihr Artikulations-Centrum noch nicht genügend entwickelt ist. Idioten lernen meist erst verspätet sprechen. Sie machen dieselben Phasen des Sprechens durch wie normale Kinder, doch folgen die Phasen sich langsamer, oder der Idiot bleibt auf irgend einer Sta& des Sprechenlemens stehen (Dysphasie und Lalopathie). Die Idioten verstehen nicht eher als sie sprechen. Das Zurückbleiben der Sprache ist bei ihnen aber nicht eine Folge von Entwickelimgshemmung des Artikulations-Cent rums, sondern von Entwickelungshemmung des ganzen Gehirns. Der Idiot hat zugleich sensorische Aphasie. Wort und Begriff sind unabhängig voneinander.

S. unterscheidet 4 Arten von idiotischer Stummheit: Stummheit durch das Fehlen von Begriffen ; durch die central bedingte Unfähigkeit, sie auszudrücken; durch die mangelhafte Bildimg der Stimmwerkzengo; und schliefslich Stummheit infolge von Taubheit oder Pseudo-Taubhcit S. erklärt sie durch motorische Aphasie und Worttaubheit. Bei jener versteht der Idiot alles, was man sagt; bei dieser versteht er kein Wort, was gesagt wird, kann auch kein Wort sprechen.

Dies Wenige wird genügen, um das Interesse für S. zu erwecken. Er stellt schliefslich Idioten imd Imbecille folgendermafsen gegenein- ander: „Der Idiot ist vor allem ein zum Handeln und Denken unfähigem Geschöpf; er ist ein unvollkommen entwickeltes Individuum. Der Imbe- cille dagegen ist ein abnorm, ungleichmäfsig entwickeltes Individuom, das die Fähigkeiten besitzt zu handeln und zu denken ; diese aber sind notgedrungen meist abnorm, wie das Gehirn, das sie hervorbringt. ^ Idiot kann dauernd eine gewisse Gutmütigkeit zeigen ; der Imbecille is^

Litteraturhericht. 243

Egoist, oft boshaft, selbst gegen die, welche es gut mit ihm meinen. Beim Idioten erreicht man mehr durch Milde, beim Imbecillen mehr durch Porcht. Jener ist schüchtern, dieser anmalsend ; jener arbeitsam, dieser ein verstockter Faulenzer; jener ist gutmütig, dieser bösartig. Bei jenem ist das Urteil schwach, bei diesem falsch ; bei jenem der Wille schwach, bei diesem unbeständig. Der Idiot ist für die Suggestion kaum, der Imbecille sehr zugänglich."

Man mufs die Idioten, meint S., pflegen, wie die mit chronischen Krankheiten Behafteten, während man die Imbecillen als schädliche und gefiLhrliche Geschöpfe unschädlich machen muis!

Meistens wird man S. bei seinen Deduktionen Recht geben müssen, auch in seinem Bedauern, dafs für die Imbecillen die rechtliche Verant- wortlichkeit nicht besteht, und dafs viele Imbecillen besser in Besserungs- anstalten als in Krankenanstalten imtergebracht wären.

Bais-Bonn sind wir zu Danke verpflichtet, dals er durch seine wohlgelungene Übersetzung Sollieb uns näher gerückt hat.

Umpfekbach (Bonn). y. Maokav. Psychiatrische Vorlesiingen. I. Heft. Über das „d^lire ehroniqne k Evolution systämatiqae (Paranoia chronica mit syste- matlseher Entwickelnng oder Paranoia completa). Deutsch von P. J. MöBivs. Leipzig, Thieme, 1891. 63 S. J(t 1.20.

Die Ansichten des französischen Psychiaters über diejenige Form ▼on Geistesstörung, die wir auf deutsch Paranoia nennen, sind bekannt, und sie verdienen unsere volle Beachtung, wenn sie auch nicht von allen geteilt werden.

Nach Magkah hat die Paranoia, wie sie sich bei Entarteten zeigt, nichts mit jener, in Entwickelung und Verlauf streng systematischen Form gemein, hier System und Unheilbarkeit, dort Systemlosigkeit bei besserer Prognose.

Die Paranoia completa, wie sie Möbius nennen möchte, ist eine Er- krankung des reiferen Alters und des rüstigen Gehirns, also nicht des ent- arteten. Sie zeigt eine lange Dauer, manchmal 50 Jahre und mehr, und ihr methodischer, stetig fortschreitender Verlauf lälst deutlich 4 Abschnitte erkennen.

1. Periode der Vorbereitung; Illusionen, wahnhafte Auslegungen und stetig zunehmende Unruhe. Die Vorstellungen von Beeinträchtigung und Verfolgung sind noch unbestimmt und treten mehr als Verdacht auf.

2. Periode der Verfolgung, Halluzinationen verschiedener Sinne, meist des Gehörs. Der Ejranke hört Zischeln, einzelne Worte, dann ganze Sätze und endlich vollständige Dialoge.

3. Periode der Grö/senvorstellungen. Der Übergang geschieht ent- weder auf dem Wege der Überlegung oder ganz instinktiv durch Hallu- zinationen. Der Wahn ist verschieden und je nach Zeit und Bildungs- stufe geftrbt.

4. Die Periode des Schwachsinnes.

Mit der fortschreitenden Erkrankung entzieht sich die erste Schläfen- windung der Herrschaft des Vorderhims, sie wird selbständig, die in ihr zurückbehaltenen Klangbilder der Worte gewinnen Leben und Laute,

1€»

244 Litteraturbericht

und der Kranke hört seine Gedanken, als wenn sie ihm von aufsen her zugesprochen würden. Aufserhalb des Gedankenganges entstehen Worte , Sätze, Monologe, und während er an ganz andere Dinge denkt, hört er sich von seinen Feinden interpelliert. Indem er darauf antwortet, bildet sich ein Zwiegespräch zwischen dem Kranken, der den (erkrankten) Stimlappen darstellt, und dem Gegner, der im Schläfenlappen sitzt. Im zunehmenden Verlaufe der Erkrankung wird die Unabhängigkeit der Eindenzentren noch gröfser, sie werden automatisch thätig und der Kranke steht ihnen wie ein Fremder gegenüber. Es ist eine Verdoppelung der Persönlich- keit. Diese Halluzinationen fehlen bei der P. completa nie, während man sie bei den Entarteten vergeblich suchen würde. Ebensowenig finden wir hier eine systematische Entwickelung und bestimmt voneinander geschiedene Perioden.

Meist schon früh (zuweilen mit 10—12 Jahren) entwickelt sich bei dem Entarteten die Geistesstörung aus dem Charakter heraus, und der Wahn ist oft nur das Zerrbild des Charakters. Die Lebensgeschichte des Kranken ist seine Krankheitsgeschichte, die meisten dieser Kranken sind entwickelungsunfähig, und die fixen Ideen entstehen primär. Kommt es überhaupt zu ihrer Begründung, so ist diese später entstanden.

Der Mangel an innerem Gleichgewicht, der allen diesen Entarteten gemeinsam ist, nimmt im Laufe der Jahre immer mehr zu und läfst endlich an der Krankheit nicht mehr zweifeln. Bis dahin aber war eine bestimmte Diagnose oft schwer genug, und mancher dieser Entarteten mufs vor Gericht seine erbliche Belastung als Schuld und Verbrechen schwer büfsen. Hierzu gehören die verfolgten Verfolger, die Querulanten die an moralischem Irrsinn Leidenden u. a. m.

Magnans Schreibweise ist durchsichtig und klar und sie verliert durch die Übersetzung nicht an diesen Vorzügen, was bei einem fran- zösischen Buche vieJ besagen will.

Eine Eeihe (32) gut ausgewählter Krankengeschichten dient den Aus- führungen Magnans zur weiteren Stütze.

Dem Anscheine nach sollen dem I. nach andere Hefte folgen, was wir in diesem Falle mit Freuden begrüfsen würden. Pelman.

Chr. Ufrr. Geistesstörungen in der Schule. Ein Vortrag nebst dreizehn Krankenbildern. Wiesbaden, Bergmann, 1891. 50 S. A 1,20.

TJfkr hat seine Befähigung zu derartigen Untersuchungen bereits in einer anderen Schrift nachgewiesen, die den Titel trägt: „Nervosität und Mädchenerziehung in Schule und Haus**, und wir können die Ar- beiten des praktischen Pädagogen nur willkommen heifsen.

So wichtig die Beachtung der Eigentümlichkeiten in der Entwicke- lung des kindlichen Seelenlebens unbestritten ist, so wenig Aufmerk- samkeit wird diesen Eigentümlichkeiten in Wirklichkeit geschenkt, und nicht am wenigsten in der Schule. Hieraus den Lehrern einen Vorwurf machen zu wollen, wäre ungerecht, man müfste denn ein Mafa psychia- trischer Ausbildung bei ihnen voraussetzen, das zur Zeit selbst den Medizinern fehlt. Um so freudiger aber müssen wir jeden Versuch be- grüfsen, diese mangelnde Kenntnis auszufüllen imd die Lehrer anzuregen.

Litteraturhericht 245

den ihnen anvertrauten Kindern eine gröfsere und bessere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Geschieht dies alsdann mit der Sachkenntnis Ufers, dann T^ird auch hoffentlich der Erfolg nicht ausbleiben. Jedenfalls ist schon ^iel gewonnen, wenn die Anschauung in breiteren Kreisen zur G-eltung kommt, dafs manches von dem, was jetzt als Ungezogenheit bei den Sündern aufgefafst und dementsprechend bestraft wird, ein krankhaft bedingtes Nichtkönnen, kurz wirkliche Krankheit ist, wofür das eigene Wissen und Können des Lehrers nicht mehr ausreicht und die Th&tigkeit eines Arztes einzutreten hat.

Ufer belegt seine Ausführungen mit 13 Krankenbildem, die er gröfstenteils der psychiatrischen Fachlitteratur entnommen hat.

Wie schwer es dem Nicht-Psychiater bei allem guten Willen wird, eine richtige Deutung ähnlicher Krankheitszustände zu gewinnen, zeigt u. a. eine andere, an sich höchst interessante Schrift, auf die ich hier ebenfalls aufmerksam machen möchte, nämlich „G. Sieoert, Problematische Kindesnaturen^^ . Um so mehr ist den Bestrebungen Ufers ein guter Erfolg zu wünschen. Pelman.

Holst. Die Behandlnng der Hysterie, der Neurasthenie nnd ähnlicher allgemeiner funktioneller Neurosen, 3. Aufl. Stuttgart, Enke. 1891. 93 S. Leyillain. Hygiene des gens nervenz. Avec gravures dans le texte. Paris. Alcan. 1891. 308 S. Diese beiden Bücher haben im Grunde nichts miteinander gemein, als dafs sie so ziemlich denselben Gegenstand behandeln. Während SoLST ganz auf dem Boden der eigenen Erfahrung steht, und diese Er- fahrung seinen Fachgenossen zur Beurteilung vorlegen will, ist es mir nicht recht klar geworden, für welche Kreise Levillain sein Buch be- stimmt hat. Allem Anschein nach für Laien, aber hierfür ist es eigent- lich zu umfangreich und auch mit zu vielem gelehrten Beiwerke um- geben, obwohl dieses Beiwerk wiederum für Ärzte allzu dürftig und vinzureichend ist.

Bei alledem liest sich das Buch leicht, und die allen Franzosen geläufige Kunst des Stils läfst uns über manche oberflächliche Schilde- X'ung hinwegsehen. Dementsprechend ist die Darstellungs weise klar, und A^enn uns auch kaum etwas Neues geboten wird, so ist das Bekannte cloch mit Geschick zusammengestellt, und der Verfasser zeigt sich überall ^Is ein nüchterner und verständiger Beurteiler der obwaltenden Ver- l^ältnisse. Besonders eingehend behandelt er die diätetischen Verhal- ^ungsmafsregeln, und wenn er als Franzose seinen Botweinen schon das 'Vreitgehendste Mifstrauen entgegenbringt, so dürfen wir in Deutschland sicherlich noch weniger von ihnen erwarten. Wer sich über die Hygiene <ier Nervosität unterrichten will, wird in dem Buche so ziemlich alles Zusammengetragen finden, was zur Zeit über diesen Gegenstand bekannt vind veröffentlicht ist. Wenn Levillain aber und mit Eecht den Grund- ssatz aufstellt, primo non nocere, so könnte man, imd vielleicht auch Xnit Becht, daran die Frage knüpfen, ob nicht eine zu weit gehende Seiehrung der Laien schon zu den Schädlichkeiten gehöre, die man \>esser zu vermeiden hätte. Der Bat, den Arzt zu gebrauchen, wird

246 Litteraturbericht

gerade von den Nervösen gar zu gerne übersehen, und das Kurieren auf eigene Faust mit allen seinen Gefahren tritt nirgends mehr zu Tage, als gerade hier.

Wie schon bemerkt, ist das Buch von Holst auf einen engeren Kreis von Lesern berechnet. Mit Becht hebt der Verfasser hervor, daXs die allgemeinen funktionellen Neurosen diagnostisch ohne feste Grensen ineinander übergingen. Auf dem Gebiete der Neurosen giebt es nnr fliefsende Unterschiede. Es ist daher natürlich, wenn er sie auch bei der Behandlung zusammenfällst und nach einer einheitlichen Methode verfährt.

Auch hierin hat der Verf. Recht, dafs diese Krankheiten nicht die Arznei heile, sondern der Arzt, und zwar nur der Arzt, der es versteht, seinen Willen an die Stelle des krankhaft geschwächten Eigenwillens seiner Patienten zu setzen und sie an Regelmäfsigkeit, Konsequenz und Ausdauer zu gewöhnen.

Weitaus in den meisten Fällen wird dies nur in eigenen Anstalten zu ermöglichen sein, und Holst fordert demnach spezielle Anstalten ftlr Nervenkranke. Was er über die hypnotische Therapie sagt, die im günstigsten Falle nur die Symptome beseitige, niemals aber die Er- krankung, seine Ansichten über das Bedenkliche einer gynäkologischen Behandlung bei Hysterischen können mit Sicherheit auf den Beifall seiner engeren Fachgenossen rechnen. Bei beiden mahnt er zur gröfsten Vor- sicht. Pblmak (Bonn). Tanzi. Diffasione sistematica dei reflessi nell' nemo. Biv. di FrmUatHa.

xvn. 1-2.

T. erörtert den „seltenen^ Fall eines Geisteskranken, bei dem Stupor mit luciden Intervallen wechselte und wo im stuporösen Zustande das von Pflüger beim enthaupteten Frosche gefundene Gesetz der Ver- breitung und Irradiation der Eeflexbeweg^ungen bei Summation der Reize in volle Geltung trat, während im luciden Zustand die Irradiation verschwand. 2 mg Strychnininjektion, Chloroformnarkose oder mittlere Gaben von Bromkali beseitigten die Sehnenreflexe. Der Gang der Erscheinungen war in Kürze folgender: 1. Bei einmaligem leichten Anschlagen auf die Tricepssehne unterhalb der Patella sofort lebhafte fast epileptoide Bewegung des Triceps; 2. bei einem 2. und 3. Anschlag zugleich Kontraktion anderer ünterschenkelmuskeln , nie aber des Fufses; 3. bei öfterem Anschlagen auf die Patellarsehne Kontraktion derselben Muskeln des andern Beines; 4. endlich wurden beide Körperhälfteu wie von einem epileptischen Anfall in allerdings nur momentane Bewegung versetzt. Die Frage, ob hier die Erregbarkeit des Rückenmarkes zu Reflexbewegungen in letzterm selbständig ist, oder ob sie von der Gehimkrankheit abhängt, entscheidet Verfasser zu Gimsten der letztern, -— weil 1. die Erregbarkeit des Rückenmarkes so gering war, dafs sie auf eine schwache Gabe Bromkali verschwand; 2. weil sonst jedes Zeichen von organ- oder funktioneller Störung des Rückenmarkes fehlte; 3. weil die Irradiation des Patellarreflexes mit der Präzision eines Uhrwerkes bei Stupor eintrat und bei der Remission verschwand. Fbäkkkl (Dessau).

Litteraturbericht 247

U. Stkfani. Oontribnto allo studio dell' ansia neuraBtenica. Biv. di frematr. XVH. 3. (1891.) S. 317-345.

Ein Fall von Zwangsvorstellungen der seltenen Art, bei der (G-esichts-, Gehör-) Halluzinationen auftreten, giebt dem Verfasser Veranlassung, sich über das ganze Gebiet der seit Morel ange- regten Frage zu verbreiten, die gegenwärtig als dem ünbewufsten zugehörig angesehen wird (s. oben Takzi). Dafs Empfindungen unbewufster Art den häufigsten Grund zu Zwangs äufserungen abgeben (welchen Ausdruck Bef. für den geeignetsten hält, um sämtliche dahin gehörige, [Empfindung, Intellekt und Willen betreffende Zustände zusammenfassend zu bezeichnen), ist wenigstens aus der umfangreichen Litteratur zu entnehmen, die auf und gegen Westphals Ausspruch sich erhoben hat, dafs es reine Zwangsideen, unvermischt mit Empfindung und Handlung, ^ebt, die nie zu Geistesstörung führen. Der Charakter der Zwangs- äufserungen ist der, dafs das betreffende Individuum sich bewufst ist, gegen sein eigentliches Empfinden, gegen sein besseres Wissen und Wollen sich zu äufsern. Die „Angst" des Verf. ist im Grunde nur der verstärkte, krankhafte Ausdruck eines seelischen Zusbandes, der jedem, auch dem gesündesten Thun, sei es Empfinden, Wissen, Wollen anhaftet, indem es als einen geraden Gegensatz im Hintergrunde (im ünbewufsten, Dessoirs Unterbewufsten) schlummert, und erst als Angst- gefühl in die Erscheinung tritt, wenn das Element des Empfindens den hemmenden Einflufs der andern Elemente überwindet. Der Zwang (unser deutsches Wort enthält den Begriff der Enge) ist der Ausdruck jenes Znstandes in der Bichtung der Bewegung (Impuls). In diesem Sinne scheint S. seinen Fall aufzufassen. Ein heftiger Ärger gab bei der, übrigens erblich belasteten, hochgradig erregbaren Frau den ersten Anstofs zur Angst, die sie selbst mit neugebildeten Wörtern, als Stöfse im Kopf (scioccamenti), Schnürungsgefühl in der Brust (struccamento) und Angst (convulso, tremazzo) bezeichnete, die einer ganzen Beihe von Zwangsäufserungen Zweifel, Furcht vor Berührung, sogar vor Worten, Drang zum Predigen, zum Singen u. a. m., und den wirklichen Halluzinationen vorausgingen. Dafs die Angst eine Erscheinung der Neurasthenie sei, nimmt Verf. mit Fbiedenrbich an und hält sie f(ir eine Beflex- oder vielmehr f(ir eine Summe von Beflexerscheinungen (s. S. 340 Anm.). FrInkel (Dessau).

MERCKLI5. Über die Beziehnngen der Zwangsvorstellimgen znr Paranoia. ÄU§. Zeitschr, f. Psychiatrie, Bd. 47 (1891). S. 628—668. So lange wie die Lehre von den Zwangsvorstellungen besteht, hat man sich mit der Frage beschäftigt, ob zwischen ihnen und der Paranoia, speziell dem hauptsächlichen Symptom derselben, den Wahnvorstel- lungen, genetische Beziehungen bestehen. Dieser Frage tritt Mbrcklut von zwei Gesichtspunkten aus näher. Erstens verfolgt er den Verlauf und die Ausgänge der „Geistesstörung durch Zwangsvorstellungen^, um zu entscheiden, ob ein Übergang in Wahnvorstellungen resp. Paranoia häufiger vorkommt. Zweitens durchsucht er die Vorgeschichte von paranoischen Kranken nach einem Stadium, welches etwa Zwangsvor-

248 Litteraiurhericht.

steUuDgen und die Umbildung derselben in Wahnideen erkennen liefse. Im Anschlufs daran wird dem Vorkommen von Zwangsvorstellungen bei bereits ausgebildeter Paranoia Beachtung geschenkt.

I. Als nebensächliches und vorübergehendes Symptom treten die Zwangsvorstellungen häufig bei neurasthenischen und hysterischen Per- sonen auf. Ein solches Individuum kann nun, wie von anderen Geistes- krankheiten, so auch von Paranoia befallen werden, ohne dafs zwischen dieser und den Zwangsvorstellungen ein innerer Zusammenhang nach- weisbar wäre. Die eigentliche „Zwangsvorstellungspsychose" zeigt häufig einen progressiven Verlauf, und ihr höchstes Stadium, das dritte nach der Einteilung von Luorand du Saulle, bietet grofse Ähnlichkeit mit manchen Fällen von Paranoia dar. Der Kranke kann schliefslich von seinen Zwangsvorstellungen gänzlich beherrscht und in seinem Thun und Handeln aufs äufserste beschränkt werden. In der That sind diese Zu- stände auch von manchen Psychiatern der Paranoia zugezählt worden. Mit Unrecht, denn es fehlt bei ihnen jedwede Neigung, die krankhaften Vorstellungen zu einem System auszubauen, und es pfiegt selbst in den extremsten Fällen eine gewisse Krankheitseinsicht erhalten zu sein. Es giebt indessen auch Fälle, in denen das „Irresein durch Zwangsvorstel- lungen" in wirkliche Paranoia übergeht, doch sind dieselben relativ selten, jedenfalls nicht häufiger als der Übergang in andere Geistesstörungen.

Von den in diesem Teil der Arbeit mitgeteilten Krankengeschichten erscheint besonders die dritte interessant : Ein 18j ähriges Mädchen hegt im Beginne ihrer Erkrankung die zwangsmäfsige Befürchtimg, dafs ihre Hände schmutzig und übelriechend sein könnten. Späterhin behauptete sie, dals sie den Schmutz deutlich fühle und rieche, überall nahm sie einen fäkalen Geruch war, sie entschlofs sich daher nur schwer zum Essen. Angstliche Erregung, Gesichtshallucinationen traten hinzu. Der Verlauf war anfänglich remittierend, später bildete sich ein stabiler Zu- stand aus. Sie sieht überall schwarze Flecken, eine dunkle Flüssigkeit spritzt unter ihrem Fufs hervor u. s. w. Dementsprechend glaubt sie alles, was sie anrührt, zu verunreinigen und meidet möglichst den Um- gang mit Menschen. Sie ist vollkommen überzeugt von der RealitSt ihrer Hallucinationen und demgemäfs von der Berechtigung ihrer Be- fürchtungen. Es haben sich also die anfangs bestehenden Zwangsvor> Stellungen durch den Hinzutritt unterstützender Hallucinationen in Wahnvorstellungen umgewandelt. Eine eigentliche Paranoia ist das so entstandene Krankheitsbild nicht ; Mebcklin ist geneigt, dasselbe unter ge- wissen Vorbehalten als sekundäre Verrücktheit zu bezeichnen.

n. TüczEK hat die Behauptung aufgestellt, dafs bei der Paranoia die successive Entwickelung von Wahnideen aus Zwangsvorstellungen ein gewöhnlicher Vorgang sei. Mercklin kann dem nicht beipflichten. Die Wahnvorstellungen pflegen bei der Paranoia unvermittelt als solche auf- zutreten. Der Kranke hält sie von vornherein für objektiv begründet, für wahr. Grade diese Kritiklosigkeit, die auf eine gewisse psychische Schwäche zurückgeführt werden mufs, bildet das Charakteristische des Vorgangs. Der an Zwangsvorstellungen Leidende dagegen steht mit seinem Bewufstsein dem Eindringling feindlich gegenüber, er empfindet

Lüteraturhericht 249

den ^wang". Allerdings können die Walinvorstellungen im Beginn der Paranoia zeitweise zurücktreten, und während dieser Zeit mag auch Mer eine richtige Beurteilung von selten des Kranken stattfinden. Mkkcklin schlägt vor, die Wahnvorstellungen in diesem Stadium als »mobile" zu bezeichnen.

Nur in seltenen Fällen wird die Paranoia durch ein Stadium ein- geleitet, welches durch Zwangsvorstellungen charakterisiert ist; einen Übergang derselben in Wahnvorstellungen hat Mebcklin bei der Paranoia niemals beobachtet. Auch bei der ausgebildeten Paranoia lassen sich manchmal neben den Zwangsvorstellungen auch Wahnvorstellungen nach- weisen, ohne dafs ein innerer Zusammenhang derselben mit der Haupt- erkrankung erkennbar ist. Liebmann (Bonn).

0. £linke. Über Zwangsreden. Ällg, Zeitschr. für Psychiatrie. Bd. 48, Heft 1—2 (1891) S. 91—108.

Verfasser giebt in vorliegendem Aufsatze eine kurze Übersicht über di© bisher mitgeteilten Anschauungen über Zwangsreden, wobei er insbe- soxiders der Verbigeration (Kahlbaum) gedenkt. Er berichtet dann ausführlich ftl>^r einen von ihm beobachteten Fall von akutem halluzinatorischem I^^T^^sein, der neben dem Zwangsreden noch die Symptome des Gedanken- ^^►■^twerdens sowie die der Zwangsstellung und Zwangsbewegung darbot ; ^i^ Mitteilung gewinnt dadurch besonders an Interesse, dafs sie uns die -^^^^serungen der Patientin wortgetreu nach Stenogrammen wiedergiebt. Bei ^^i:»ien epikritischen Betrachtungen gelangt Verf. zu dem Schluss, dafs von ^^^«n bisher aufgestellten Hypothesen die CBAMEBSche noch am annehm- "'^'X^ten erscheint, welche das Zwangsreden und Gedankenlautwerden ^^:f eine halluzinatorische Erregung im Bereich des Muskelsinns des ^ Techapparats zurückführt. (A. Cbameb, Die HaUuzinationen im Muskelsinn,

Es wird hierbei unter Muskelsinn diejenige centripetal verlaufende ^V^mesbahn verstanden, deren Aufnahme-Station in dem betreflfenden ^Xiskel gelegen ist und deren spezifische Energie darin besteht, dafs ^i^ Bewegungs-Empfindungen nach der Hirnrinde transportiert, die dort ^Vi Vorstellungen von der betrefifendeu Bewegung umgesetzt und als Solche deponiert werden. Wird nun diese Sinnesbahn halluzinatorisch ^tregt, so wird naturgemäfs das Bewufstsein Nachricht erhalten über ^ine Bewegung, welche in Wirklichkeit nicht ausgeführt worden ist; ^es hat dann nach Crameb wiederum zur Folge, dafs eine jene vor- getäuschte Bewegung korrigieren sollende Bewegung erfolgt, oder ^afs, falls der Beiz stärker ist, die betreffende Bewegung nim wirklich ausgeführt wird. E. Schultze (Bonn).

John Macphebson. Mania and Melancholia. Jouam. of ment. science. Bd. 37. No. 157. (April 1891.) S. 212-225.

Über den Wert oder Unwert der Hypothesen in der medizinischen Wissenschaft ist schon viel gestritten worden. So viel dürfte indes feststehen, dafs uns eine gute Hypothese zuweilen weiter gebracht hat, als die langwierigsten Untersuchungen, und dafs wir die Hypothesen in der Psychiatrie wenigstens nicht entbehren können. In England nun

250 Litteraturbericht.

beherrscht zur Zeit H. Spencer den wissenschaftlichen Markt, und SpEKCERSche Ansichten sind es denn auch, von denen aus Macphiksov die Manie und Melancholie einer spekulativen Betrachtung unterzieht.

I. Zunächst vom psychologischen Standpunkte aus. Der Unterschied zwischen beiden ist Freude und Schmerz, der Schmerz aber entsteht aus TJnthätigkeit oder Überthätigkeit, Freude durch einen Zwischenzustand, der keines von beiden ist. So erzeugt z. B. intensive Hitze ebensogut Schmerz wie intensive Kälte, mäfsige Wärme dagegen ergiebt das QeftQil der Behaglichkeit; ünthätigkeit und Leere des Magens rufen den Hunger hervor, eine schmerzhafte Empfindung, aber auch die Überf&llung des Magens, seine Überthätigkeit , ist mit einem unbehaglichen G-eRihle verbunden.

Wir haben somit einen positiven und einen negativen Schmerz, und zwischen beiden das weite Gebiet der Behaglichkeit.

Der negative Schmerz führt Abnahme der Nervenenergie mit sich, der positive ein zu schnelles oder zu heftiges Anschwellen derselben.

Zwischen beiden Endpunkten liegt die mäfsige Nervenenergie, deren Begleiter Zustände der Behaglichkeit oder indifferenten Empfindens sind. Eine gleiche Mannigfaltigkeit wie für die Empfindungen besteht bei den Gemütsbewegungen nicht, da es im wesentlichen nur zwei Arten von Gemütsbewegungen giebt Vergnügen und Schmerz, innerhalb welchen nur eine Unterscheidung nach Graden stattfindet. Welchem Sinnesein- drucke sie auch ihre Entstehung verdanken, ob äusseren oder ob inneren, organischen Ursprunges, sie sind ihrer Natur nach nicht zu unter- scheiden.

Um diese Verhältnisse ihrem ganzen Werte nach klar zu legen, müssen wir uns die Thätigkeit des Gehirnes als eine Art der Bewegung vorstellen, die sich in immer vollkommeneren Bahnen vollzieht, je "weitere Fortschritte die geistige Entwickelimg macht. Die ursprünglich will- kürlichen Bewegungen gehen untereinander immer engere Verbindungen ein, bis sie nach und nach zu mehr unbewufsten Handlungen werden, über denen sich stets neue und höhere Centren entwickeln.

Das Bewufstsein ist die Summe aller Anregungen, die das Gehirn in jedem Augenblicke von jedem Teile des Organismus und der ihn um- gebenden Aufsenwelt durch die Sinnesorgane empfangt, und sein Sitz ist das Vorderhim.

Das Nervensystem erscheint somit im Lichte eines Mechanismus für die Übertragung molekularer Bewegungen auf bestimmte Bahnen und unter bestimmten Bedingungen, und diese Bedingungen bestehen in der beständigen Einfügung neuer KontroUbogen, deren Spitze in das Bewufstsein ausläuft.

In den unzähligen Bogen findet ein ewiges Gehen und Kommen von Nervenströmen statt, und indem jeder von ihnen einen kleinen Teil seines Ganzen nach oben zum Bewufstsein sendet, bildet sich der Ge- mütszustand aus.

Dieser Ströme giebt es zwei Ellassen, schmerzliche und freudige, und je nachdem der eine oder der andere vorwiegt, entwickelt sich der ent- sprechende Gemütszustand. Die gewöhnliche Gemütsstimmung ist neutral,

Litteratttrbericht, 251

wie etwa das weifse Licht, das alle anderen Farben in sich schliefst. Ist die schmerzliche Empfindung stark genug, um das BewuXstsein in Mitleiden- schaft zu ziehen, so verursacht sie hier eine schmerzliche Verstimmung, die vag und unbestimmbar ist, aber wie jede molekulare Nervenenergie die Neigung hat, auf verwandte Nebenbahnen überzugehen und ähnliche Stimmungen hervorzurufen. So verbindet sich mit dem Schmerze leicht das GefQhl der Angst und der Furcht, mit der Freude die verwandte Empfindung der Selbstüberschätzimg.

Beide, sowohl die schmerzlichen wie die freudigen Gemütsbewe- gungen erhöhen das subjektive Bewufstsein auf Kosten des objektiven, indem die ersteren die vorhandene Nervenkraft zum Zwecke der Selbst- erhaltimg zu verwenden suchen, die letzteren dadurch, dafs sie die Nervenkraft in andere Bahnen ableiten und die dadurch hervorgerufenen verwandten Gemütsbewegungen zu einer Wichtigkeit aufbauschen, die ihnen thatsächlich nicht zukommt.

Daher stört jede Gemütsbewegung das Urteil, und dies um so mehr, je stärker sie ist. Es entspricht dies der Erfahrung, wonach der Beginn aller Geistesstörungen durch mächtige Gemütsbewegungen charakterisiert ist«

II. Vom physiologischen Standpunkte aus.

Die physischen Symptome, die einer schmerzlichen Gemütsbewegung folgen, sind:

1. diffuse Entladung von Nervenenergie nach allen Teilen des Körpers,

2. Kontraktion der Blutgefäfse, mit Ausnahme der Organe des Unterleibes,

3. Hemmung der Herzthätigkeit,

4. Störungen in der Ausscheidung der Zersetzungsprodukte in den Hirnzellen und in der Erneuerung der Nervenelemente,

5. Lähmung der Schliefsmuskeln durch Hemmung ihrer Inner- vationscentren.

Diesen Störungen stehen die physischen Symptome der Freude meist schroff gegenüber :

1. Erweiterung des arteriellen Blutsystemes,

2. Vermehrung der Herzthätigkeit,

3. Erleichterung in der Ausscheidung der Zersetzungsprodukte und in der Neubereitung von Nervenkraft, daher erhöhte Energie und Muskeltonus, gutes Aussehen, blitzende Augen u. s. w.

m. Vom pathologischen Standpimkte aus gilt eine Gemütsbewegung als Krankheit, wenn sie

1. aufserordentlich intensiv ist oder

2. ohne entsprechende Ursache entsteht, oder

3. sich in das Unbegrenzte hinauszieht.

Macphekson glaubt, dais dem Blute weit häufiger toxische Eigen- schaften beiwohnten, und dafs hierin die Ursachen depressiver Empfin- dungen zu suchen seien. Bestimmte Mittel bringen durch ihre Ein- führung in das Blut sofort eine Herabsetzung der Gemütsstimmung hervor, wie z. B. Hyoscyamus, dasselbe thut eine Blutvergiftung und besonders die Gelbsucht.

252 LiUeraiurbericht

Da wir femer wissen, dafs eine Menge von Mitteln durch Zer- Setzung der Eiweifs Verbindungen wirkt, so schliefst der Verf., dafs auch eine Selbstvergiftung des Gehirns durch mangelhafte Entfemimg seiner Zersetzungsprodukte stattfinden könne.

Er baut auf dieser Hypothese eine besondere Therapie auf, die zu- meist in der Enthaltung von Fleischnahrung besteht, um der Natur Zeit zu geben, die stickstoffhaltigen Zersetzungsprodukte aus ihrem Haushalte zu entfernen und so normale Verhältnisse wiederherzustelleo.

Pelman (Bonn). J. BoEDEKER. Ein forensischer Fall von indnciertem Irresein. Ckanü- Ann., XVI. (1891). S. 479-512.

Eingehender Bericht über einen relativ seltenen und interessanten Fall. Ein an chronischer Verrücktheit leidender junger Mensch übe^ trägt durch unablässiges und eindringliches Zureden seine Wahnideen auf einen anderen jungen Menschen von geringer geistiger Selbständig- keit, mit dem er berufsmäfsig mehrere Monate in täglichem Verkehr steht. Der letztere nimmt die falschen Vorstellungen und Deutungen der Wirklichkeit nicht blofs passiv von dem Kranken an, sondern er macht allmählich auch eigene bestätigende Wahrnehmungen und bfLüst daneben noch in anderer Beziehung, in seinen Handlungen nämlich, den geistigen Halt ein. Er acquiriert also thatsächlich gleichsam dorcli Übertragung eine leichte Psychose und verliert diese erst allmählich im Verlauf einiger Wochen nach der Trennung der Beiden.

Ebbinohaus.

G. Malleby. Salntations par gestes. Beme scientifique, Bd. 47 (1891), No. 13, S. 387-394.

Wie die Zeichensprache der Lautsprache zeitlich vorangeht, so -. gehen nach dem Verf. die durch Gesten vermittelten Grufsformen den mündlichen voraus, und ein Studium der heute gebräuchlichen GruiJS- weisen setzt daher eine Erforschung der mimischen Sprache voraus, wi« | wir sie heute noch bei Taubstummen und vielen Völkerschaften finden. Die mimische Sprache setzt zum Zweck des Grufses insbesondere 3 Sinne in Thätigkeit : 1. den Tastsinn, 2. den Geruch- und 3. den Geschmacksinn.

Ad 1 behandelt Verf. alle leiblichen Berühnmgen (Streicheln, Reiben, Lecken, Beklopfen von Kopf, Brust imd Bauch), alles sehr alte und weit verbreitete Grufsformen, meist nur allgemeiner Ausdruck eines WoU" wollens, das sich durch die Absicht, eine angenehme Empfindung ^ bereiten, kundgiebt.

Ad 2 bespricht Verfasser insbesondere den sehr alten und w©*^ gebrauchten Nasengrufs, dessen Wesen ihm ein gegenseitiges Beschnüffele zu sein scheint.

Ad 3 wird der Grufs behandelt, der ihm als Handkufs und Kufs bX^ einfacher Grufs ziemlich alt zu sein scheint. Wogegen der Lippenko^ unter Personen verschiedenen Geschlechts erst neueren Datums ist, d»^* imverträglich mit der niederen Stellung der Frau bei primitiven Völker^* Überall stützt der Verf. seine Ausführungen durch Analogien aus de^

Litteraturhericht 25 3

ierreich und viele interessanten aus Bevueberichten geschöpften Bei- piele von Grufsformen bei wilden Völkerschaften.

Gaüpp (London). L Mag Donald. Ethics as applied to crimlnology. Joum. of Mental Science Bd. 37. S. 10-18 (Jan. 1891). Der Unterschied zwischen eigentlichen Verbrechen und andern Formen pathologischer und abnormer Menschlichkeit ist nur ein Grad- imterschied im Schlechten (wrong.); Grade, die bestimmt werden sollen nach der Gefahr oder dem Nachteil (moralischen, intellektuellen, physischen oder finanziellen), den ein Gedanke, ein Gefühl, ein Wollen oder Handeln der Gesellschaft bringt. Dies Princip sollte auch die Haupt- basis für die Bestrafung der Verbrecher sein; wobei sich Verf. mit der Theorie, die diese Basis in dem Grad der Willensfreiheit oder persön- lichen Schuld sieht, auseinandersetzt. Der Best des Aufsatzes beschäftigt sich mit der Frage, welches denn jene schädlichen Gedanken, Handlungen etc. seien und durch welche Methode sie festzustellen sind. Die Methode kann nur die scientifische sein, -d. h. eine empirische, die sich auf alle festgestellten psychologischen, physiologischen und pathologischen That- sachen stützt. Gaupp (London).

SioHELE. La folla delinqnente. Arch, di Bsichiatria XII (1891), S, 10—53 u. 222-267.

Von dem SPENCERSchen Satz ausgehend, dafs die Haupteigenschaften der Gesellschaft den Haupteigenschaften des (einzelnen) Menschen ent- sprechen und so die Grundlage der Soziologie bilden, zeigt Verfasser, dafs ^s bestimmte Ausnahmen von dieser Begel giebt, indem die Klassen, AUS denen die Gesellschaft sich herausgebildet hat, in ihrer Eigenschaft ^8 Kollektivindividuen ganz entgegengesetzten Anschauungen unterliegen, Als die Individuen, aus denen sie bestehen. Demgemäfs müsse man eine Kollektivpsychologie von der Sozialpsychologie unterscheiden. Der Ausfall der Geschworenen-Verdikte, die häufig gerade das Gegenteil ^on dem aussprechen, was der Einzelne im Sinne hat, wird als Beispiel angefahrt.

Kap. 1. Für die Menge (folla), namentlich der Delinquenten, d. h. fe in Gemeinschaft begangene Verbrechen, sei ein besonderer Mafsstab der Beurteilung anzulegen, hier trete somit eine besondere Psycho- Hysiologie in ihr Recht. Die ältere Juristenschule, der es gleichgültig sei, ob ein Individuum von Epileptischen und Alkoholisten oder von gesunden Eltern abstamme, berücksichtige bei der Strafabmessung nur die freie Selbstbestimmung und beachte nicht, ob ein Mensch unter dem Toben einer aufgeregten Menge ein Verbrechen begangen habe; die upositive Schule" dagegen hält die freie Selbstbestimmung für Illusion, die Phrasen von voller oder beschränkter Verantwortlichkeit für ver- altet, und forscht nur nach der geeigneten Form der Beaktion gegen das Verbrechen.

Kap. 2. behandelt die Diagnose des Übels, gegen das man zu ^^eren hat. Dahin gehört alles, was je von politischen, sozialen und religiösen Verbänden und Parteien an ünthaten im grofsen und kleinen

254 lAUeraturheridU.

verübt worden ist auf Grund moralischer Kontagion, von der noch heutigen Tages ganze Nationen angesteckt sind. Die Kontagion selbst, die von Zeit zu Zeit wahrhafte Epidemien entwickelt, beruht aber auf dem Gesetz der Nachahmung, dem jeder Mensch mehr oder mindar unterworfen ist. (Tabdb: Les Uns de Vimitation, 1890). Die Nachahmung und damit auch die moralische Kontagion hat ihrerseits ihren Urgrund darin, dafs die seelische Thätigkeit, wie jede andere organische, eine Beflexwirkung ist, die, durch einen äufsersn Stimulus geweckt, ins Leben tritt. Hier ist der Stimulus die Suggestion, der Reflex die Nachahmung. Den Grund dafUr, dafs dieser Beflex stets in iden- tischer Bichtung erfolgt z. B. bei der Selbstmordkontagion, bei dem Doppelwahnsinn, bei Epilepsie, bei den kanadischen Jumpers, bei den Ladahs u. a. m. findet Verf. in dem von Espikas durch Beispiele an Tieren belegten Satz, dafs jede Vorstellung eine entsprechende Begldt^ erscheinung im Muskel herbeiführe, indem wir nicht allein mit dem Ge- hirn, sondern mit unserem ganzen Nervensystem denken und ein plötzlich aufgenommenes Bild unausbleiblich entsprechende Bewegungen hervorruft, die nur ein energischer Gegenbefehl aufzuheben vermag. Je schwächer aber das Denkvermögen, um so ungestümer die Bewegungen. Bei Wespen genügt ein Summen, bei Vögeln ein leichter Flügelschlag, um allgemeine Panik hervorzubringen, bei einer Menschenmenge ist es em Wort, ein Bild, das sie suggestioniert, bevor noch die Ursache der Erregung bekannt ist.

Kap. 3. Alles dieses zugegeben, ist doch der Einwurf berechtigt, warum eine aufgeregte Menge mehr zu bösen, blutigen Thaten neigt, als zum Wohlwollen. Die Antwort lautet, weil die angeborene tierische Wildheit im Menschen, die Lust an der Grausamkeit, unter dem Schuts der Menge sich leichter entwickelt und zu Verbrechen verleitet, die ein Einzelner zu begehen sich hüten würde. Mit der Zahl der Menge wächst die Überzeugung, dafs man auf richtigem Wege ist. Der von Einem oder Wenigen in die Menge hineingetragene Zorn versetzt die Gemüter in eine wahrhaft psychische Gärung und reifst zu Thaten fort, wie die erste französische Bevolution sie in grofsem Mafsstabe zu Tage ge- fördert hat.

Im zweiten, praktischen Teil seiner Abhandlung rückt Verfasser seinem eigentlichen Zwecke, dem Beweise, dafs bei MassenverbrecheiD der Einzelne anders als bisher behandelt werden müsse, näher. Dazi^ dient ihm die Schilderung spezieller Scenen aus der ersten französische^ Revolution (Septembermorde 1792 nicht 1793. Ref.), der Kommune vo^ 1870- 71, des Ausstandes von Decazeville 1886 und der Vorgänge vo^^ 8. Februar 1889 in Rom. Von psychologischem Interesse ist dabei d^^ durch das rücksichtslose Auftreten der bösartigen Elemente gesteiger^^ Blutdurst der Massen, besonders der Frauen, und die Charakterschwäche der besseren, auf die der Schrecken als hauptsächlichstes Suggestion>^ mittel wirkt. In der Kontagion des Blutdurstes bei Massenerhebung^^ bewährt sich die traurige Erfahrung, dafs die vieltausendjährig^^ Schichten der Civilisation, die die Menschheit mit ihrer Tünche übe^" lagern, wie mit einem Rucke „und zwar die letzten Schichten zuerst** '

Litteratwrherieht 255

abspringen und die Bestie im Menschen in voller Nacktheit zeigen, was den Atavismus am besten charakterisiert. -- In einer durch jahr- hundertelange Knechtung, Noth und Elend und durch die Erkenntnis ihrer Menschenrechte angestachelten Gesellschaft gewinnen die am meisten exzentrischen Geister und an ihrer Seite die moralisch Irrsinnigen, Halb- und Ganz-Verrückten» „die keine Reue kennen", den gröfseren Einflufs über die Besonneren, die nach dem Austoben der Leidenschaft sich der in böser Gesellschaft verübten Unthaten „schämen". Denn die Suggestion, wie mächtig sie auch sei, ist nicht immer im stände, den sittlichen Keim im Menschen gänzlich zu zerstören, wie F£r£s', Pittes Experimente an Hypnotisierten sogar beweisen. Die Zersetzung des Charakters, die aus einem ehrbaren Menschen einen Gelegenheits-, Ge- wohnheitsdieb u. s. w. durch Verführung, Umgebung und sonstige Ur- sachen macht, geschieht langsam, durch „Evolution", bei der Masse urplötzlich, durch „Revolution". Der ehrbare Mensch, der gelegentlich zum Verbrecher aus Leidenschaft wird, der von der Masse sich hinreifsen läfst, hat noch ein Gewissen, der geborene Ver- brecher nicht.

Danach nun müsse die Strafe nein, nicht Strafe (denn sogar das Wort pena ist bei der neuen positiven Rechtsschule, der der Ver- fasser, ein römischer Jurist, angehört, verpönt), sondern die Reaktion bemessen werden, und zwar je nach der Gefährlichkeit (temibilit4) des Verbrechers, nicht nach der Gröfse des Verbrechens selbst. Der gefähr- lichste ist selbstverständlich der geborene (und irre) Verbrecher, der aus blofser Lust mordet und der demnach immer mit der höchsten Strafe belegt werden müsse. Nicht aber dürfe gegen den suggestio- nierten, reuigen, der neben jenem an dem Massenverbrechen beteiligt ist, in gleicher Weise durch perpetua pena reagiert werden.

Eine allgemeine Formel lasse sich übrigens bei der Rücksicht auf die noch herrschende klassische Schule nicht geben, höchstens etwa die von PuoLiBSE, dafs Massen verbrechen immer als von halb- verantwort- lichen Individuen begangen angesehen werden müssen. Verfasser ver- weist auf die Zukunft. Fraenkel (Dessau).

Hermann Aubert t

In den Kreis der Männer, welche die Begründung unserer Zeitschrift freudig begrüfsten und ihr von Anfang an durch thätige Mitarbeit sowie durch die Autorität ihres Namens eine wirksame Stütze gewesen sind, hat der Tod unerwartet eine Lücke gerissen.

Am 12. Februar 1892 starb Hermann Aubbrt, o. Professor der Physiologie zu Rostock i. M. Die physiologische Optik verliert in ihm einen ihrer eifrigsten Jünger, der mit gro&em Scharfsinn der Beobachtung den umfassenden Überblick des gesamten Arbeitsfeldes verband. Neben dem „Handbuch der Physiologischen Optik*" von Helmholtz, ist Auberts „Physiologische Optik" (in dem 2. Bande von Gräfe imd Sämisgh, „Handbuch der gesamten Augenheilkunde^*) die einzige gröfsere einheitliche Darstellung dieses Gebietes. Seine letzten experimentellen Arbeiten bezogen sich auf die Genauigkeitsgrenzen der ophthal- mometrischen Messungen. Gerade war er im Begriff hier- über sowie auch über die neueren Ergebnisse der heterochromen Photometrie Berichte für unsere Zeitschrift niederzuschreiben, als ihn der Tod übereilte und die Feder seiner Hand ent- sinken liefs.

Wir beklagen in ihm einen aufrichtigen Freund und stets nachsichtigen Beurteiler unserer Bestrebungen.

Die Bedaktion.

über das absolute Gehör.

Von

J. V. Kribs.

Die Fälligkeit, die absolute Höhe gehörter Töne jederzeit frei ans dem Gedäclitnifs zu erkennen, ist bekanntlich keine allgemein verbreitete. Sie wird in Musiker-Kreisen gewöhnlich kurz als ein absolutes Gehör bezeichnet; ich will im folgenden diese Benennung, obwohl sich vielleicht manches gegen sie ein- wenden liefse, auch beibehalten, da es schwer sein dürfte, ihr eine ganz einwurfsfreie von ähnlicher Kürze zu substituieren. Auch sei gestattet, das absolute Gehör abkürzungsweise durch A. G. zu bezeichnen. Dafs das A. G. sich bei musikalisch gut veranlagten Personen nicht gar zu selten findet und keineswegs, wie noch Valentin geglaubt hatte, eine ganz exceptioneUe, kaum jemals zu beobachtende Eigentümlichkeit des Gehörsinnes dar- stellt, dies ist, so viel mir bekannt, in der sinnesphysiologischen Litter atur erst durch Stumpf^ angegeben und durch eine An- zahl spezieller Mitteilungen belegt worden, während es allerdings in den Kreisen der Musiker wohl schon lange bekannt war. Nicht minder aber giebt es auch sehr zahlreiche musikalisch gut, sogar hervorragend beanlagte Personen, welche kein A. G. besitzen. n^iQ Natur, sagt Stockhausbn,* hat nur wenigen Sän- gern ein absolutes Gehör verliehen Ob das relative

Gehör zu einem absoluten herangebildet werden kann, weils ich nicht. Bei mir selbst habe ich es trotz allen Fleifses nie so weit gebracht. ..... So giebt es auch Komponisten, die

berühmt geworden Bind, ohne ein absolutes Gehör zu besitsen.

* Stumpf, Tonpsychologie, Bd. I, S. 305 f. ' Stockhausek, Gesangsmeihode S. 1.

Zeitschrift für Psychologie m.

258 'J' ^' Kries.

Ich erinnere z. B. an Meterbebr, der stets eine kleine Stimm- gabel oder Pfeife bei sich trug, nm damit das Gehörte zu ver- gleichen und zu prüfen."

Da im ganzen über den Gegenstand bis jetzt nnr wenig Material vorliegt, und da derselbe, wie ich glaube, nach mehre- ren Richtungen ein allgemeineres sinnesphysiologisches Interesse besitzt, so möchte ich nachstehend meine darauf bezüglichen Beobachtungen mitteilen. Ich mufs dabei um Entschuldigung bitten, wenn ich überwiegend von mir selbst reden werde; allein gerade der Umstand, dafs ich das A. G. in gewi3sem Mafse besitze (wenn auch keineswegs in der höchsten Yoll- kommenheit, die überhaupt vorkommt), hat einerseits schon seit langer Zeit meine Aufmerksamkeit diesem Gegenstande zuge- wandt, anderseits auch mir gestattet, manche Erfahrungen zu machen, welche durch Beobachtungen an anderen Personen nur schwierig zu gewinnen gewesen wären. Die Spärlichkeit der ge- eigneten Versuchspersonen und die grofsen individueUen Ve^ schiedenheiten, welche das A. G. bei den Wenigen, die es über- haupt besitzen, aufweist, sind in der That grofse Hindernisse für derartige Untersuchungen. Die gegenwärtige Mitteilung verfolgt zum grofsen Teile auch den Zweck, ähnliche anzuregen, damit für das ganze Gebiet ein etwas reicheres Thatsachen- material gewonnen werde.

Einer Anzahl von Personen, welche mich durch Mitteilung ihrer Erfahrungen, z. T. auch durch Anstellimg von Versuchen unterstützt haben, sei hier mein verbindlichster Dank gesagt^ vor allem Herrn Konzertmeister Röntgen in Leipzig, dessen sehr eingehende briefliche Mitteilungen mir in verschieden«'^ Richtungen äufserst wertvoll gewesen sind.

Das A. G. besteht, um mit einer etwas genaueren 3^ Stimmung und Abgrenzung unsres Gegenstandes zu beginn^^' in der Fähigkeit, die Höhe einzelner gehörter EHänge oh.*^ weiteres Hilfsmittel anzugeben. Es ist also namentlich \r^^ dem Intervallgedächtnis, dem „relativen Gehör** zu unterscheid^^^' Dieses gestattet die gleiche Angabe nur dann, wenn kurz ^^^ vor ein Ton gehört und dessen Höhe auf andere Weise t^^® kannt gegeben wurde. Man könnte vielleicht meinen, dafs t^'^* Unterscheidung des A. G. von dieser Art der Tonhöhen-]S^^' kennung nicht ganz sicher und streng durchzuführen L^^' Thatsächlich aber* besteht hier eine ganz scharfe Grenze, uX^^

über das absolute Gehör, 259

zwar deshalb, weil die Eriniierung an die zuletzt gehörten Töne ganz ungemein schnell verschwindet. Es steht dies ganz in Einstimmung mit den Erfahrungen Wolfes.^ An mir selbst kann ich gerade durch die Eigentümlichkeiten des A. 6. ähn- liches konstatieren. Diejenigen EHänge, für welche ich kein A. Gr. besitze, erkenne ich kurz nach dem Hören anderer Klänge von bekannter Höhe vermöge der Intervallvergleichung. Diese Möglichkeit erstreckt sich aber immer nur über wenige Minuten. Das A. G. funktioniert dagegen von derartigen um- ständen völlig unabhängig ; für die Erkennung solcher . Klänge, für die ich ein A. Gr. besitze, ist es also gleichgiltig, ob seit dem Hören anderer Töne Minuten, Stunden oder Tage vergan- gen sind. Das A. 6. stellt eine dauernde Fähigkeit dar, welche in keiner Weise gerade von den letztgehörten Tönen abhängig ist.

Das A. G. ist femer zu unterscheiden von dem Gedächtnis far Klangarten oder Klangkombinationen, vermöge dessen ein gehörter Accord als Dur-Dreiklang, als Quart-Sext-Accord u. dgl. erkannt wird; es handelt sich bei der uns beschäftigenden Art des Gedächtnisses darum, dafs er z. B. als E-dur-Accord erkannt wird. Weniger scharf abzugrenzen ist dagegen das A. G. von derjenigen Unterscheidungsfahigkeit für Hoch und Tief, welche in gewissem Mafse eigentlich jedermann besitzt. Auch Per- sonen von geringster musikalischer Beanlagung und Bildung bezeichnen gewisse Töne als hoch, andere als tief und er- kennen an einzelnen Instrumenten, besonders wohl an der menschUchen Stimme, ob ein bestimmter Ton der obem oder der untern Grenze ihres Umfanges nahe steht u. dgl. Auch hier liegen ohne Zweifel Urteile über die absolute Tonhöhe vor. Wenn man gleichwohl dies noch kein A. G. nennt, so liegt dies, glaube ich, an folgendem. In der Bezeichnung der Tonskala wiederholen sich periodisch dieselben Namen, und es stehen auch die gleichbenannten Töne alle in besonderen, durch die Übereinstimmung einer Seihe von Partialtönen bedingten^ Beziehungen. Hiermit hängt es ohne Zweifel zusammen, dafs wie ich für mich aufs Deutlichste ausgeprägt finde und gewifs auch für andere Personen mit absolutem Gehör gilt, alle gleich- benannten Töne einen gemeinsamen Charakter zu haben scheinen.

» WuNDTs Fhaosopkische Studien, Bd. III, S. 634 ff.

260 J' «. Kries.

Alle A besitzen für micli etwas besonderes, charakteristisches, was sie von den sämtlichen C, E. etc. unterscheidet. Die Erkennung dagegen, welches C ich höre, ist eine Aufgabe ganz anderer Art, als die Unterscheidung von C und D.^ Stellen wir uns nun vor, was von Haus aus am wahrscheinUchsten ist, dafs die Erkennung der Tonhöhe bei verschiedenen Menschen einfach mit verschiedenen Graden der Genauigkeit statthat, so wird hiemach begreiflich werden, dafs diehauptsächlich inBetraoht kommende musikalische Verwertung dann völlig aufhört, wenn die Höhe mit einer üngenauigkeit von einer Quart oder mehr er- kannt wird; denn dann kann bezüghch der Benennung eines vorgelegten Tones gar nichts mehr ausgesagt werden. Vielmehr wird, wenn eine Benennung möghch sein soll, die Genauigkeit des Höhenurteils eine solche sein müssen, dafs der Fehler jeden- falls nicht mehr als 2 oder 3 Halbtöne beträgt. Die Gewohn- heit aber, gehörte Töne sich sogleich und immer als bestimmte Noten vorzustellen, wird sich sogar voraussichtlich nur da aus- bilden, wo eine Erkennung bis auf einen Halbton stattfindet. Indem ich vorläufig von theoretischen Erwägungen absehe und mich auf rein ThatsächUches beschränke, konstatiere ich zunächst, dafs ich selbst und eine Anzahl mir bekannter Personen, ebenso wie die von Stumpf beobachteten dieses Ver- mögen besitzen. Es wird (allerdings zum Teil unter gewissen noch näher zu besprechenden Voraussetzungen) sowohl ein ein- zelner gehörter Ton jederzeit richtig benannt, als auch ganze Accorde in ihrer Tonart erkannt. Da es sich hier, wie bekannt, um eine individuelle Eigentümlichkeit handelt, so können wir sogleich die Frage aufwerfen, ob es gelingt, diejenigen Um- stände anzugeben, von welchen das Vorhandensein oder Fehlen derselben abhängt. Nun ist klar, dafs ein gewisser Grad von musikalischer Einübung jedenfalls dazu erforderlich ist, damit dieses Tongedächtnis in der gewöhnlichen Weise sich bemerkbar mache und hervortrete ; es müssen eben die Bezeichnungen der verschiedenen Töne erlernt sein. Zwar ist es nicht ausge- schlossen, dafs eine Erkennung auch in einem etwas anderen Sinne stattfindet, etwa ein Ton nicht als b oder d, sondern als

^ Eine Aufgabe, die z. B. mir auch lange Zeit so wenig geläufig war, dafs ich die Bezeichnungen der verschiedenen Oktaven nicht sicher kannte und oft verwechselte.

über das absolute Gehör. 261

übereinstiininend mit dem Ton einer bestimmten, dem Hörer bekannten Glocke oder Pfeife etc. wieder erkannt werde. Gleichwohl ist ohne Zweifel das Erlernen einer systematischen Bezeichnung der Tonhöhen für das Erkennen eine aofserordent- liehe Unterstützung, und eine Erkennung aller möglichen ver- schiedenen Tonhöhen ohne den Besitz von Benennungen kaum möglich. Eine ganz andere Frage ist es aber, ob das A. G. überhaupt als ein Erfolg der Einübung, insbesondere längerer musikalischer Beschäftigung anzusehen ist. „Alles hängt hier,^ sagt Stumpf, ^von der Übimg, vom Gedächtnis, eben damit aber auch von einem individuellen Koeffizienten ab." Ich erwähne diesen Punkt hauptsächlich deshalb, weil meine Beobachtungen der naheliegenden und, wie es scheint, verbreiteten Meinimg, dafs die Übung hier eine erhebHche RoUe spielt, nicht günstig sind. Mir scheint vielmehr von entscheidender Bedeutung eine indi- viduelle Anlage zu sein. Hierfür spricht zunächst schon die Tatsache, dafs selbst Musiker von Profession nur zum kleinen Teil ein A. G. besitzen. Allerdings läfst sich einwenden, dafs die musikalische Einübung grade auf die Erkennung absoluter Ton- höhe nicht wesentlich gerichtet ist. Immerhin giebt es manche Musiker (die Äufserung Stookhausens in dieser Hinsicht wurde schon erwähnt), welche grade auf die Erwerbimg eines abso- luten Gehörs viel Mühe verwendet haben, ohne doch dies Ziel zu erreichen. Es scheint femer auch, dafs diejenigen, die ein A. G. besitzen, sich desselben in der Begel so zu sagen von Anfang an erfreuen, d. h. dafs dasselbe schon in früher Jugend be- merklich wird, sobald die Benennung der Töne erlernt worden ist. Es ist bekannt, was in dieser Hinsicht von Mozart berichtet worden ist.^ Herr Konzertmeister Röntgen teilt mir mit, dafs sein Sohn (jetzt Konzertmeister in Amsterdam) schon im Alter von etwa 5 Jahren erkannte, dafs eine Stimmgabel nicht, wie ihm gesagt worden war, A, sondern As angäbe, was in der dem Knaben geläufigen Stimmung richtig war. Die meisten mit absolutem Gehör begabten Personen berichten Ähnliches. Die geringe Bedeutung der Übung zeigt sich noch deutlicher bei einem weniger guten Gehör, wie z. B. ich es besitze. Ich habe Ela viertöne , wie ich durch bestimmte Erinnerung fest- stellen kann, als achtjähriger Knabe ganz sicher erkannt ; ich

' Vgl. STrMPP, Tonpsycliohgie, I, S. 280.

262 J- »• Kriea.

hatte damals erst kurze Zeit (jedenfalls noch nicht 2 Jahre lang) Musikunterricht, auch keineswegs viel Gelegenheit Musik zu hören. Nun ist mein A. G., wie alsbald genauer zu be- sprechen sein wird , in dem Sinne ein beschränktes , dafs ich nicht jeden Klang, sondern nur gewisse Timbres sicher erkenne. Durch eine lange fortgesetzte und speciell auf das Ton- erkennen gerichtete Einübung in den letzten Jahren ist es mir gleichwohl nur in sehr geringem Mafse gelungen, mein Erken- nungsvermögen in dieser Beziehung zu erweitem. Ich bin daher im Grunde geneigt zu glauben, dafs (wie es eine meiner Versuchspersonen ausdrückt) in Bezug auf das Tongedächtnis individuelle Anlage alles und Übung so gut wie nichts aus- macht.* Mir ist auch trotz manchen Nachforschens kein Fall bekannt geworden, in dem ein wirkliches A. G. nachweisbar durch Übung erworben worden wäre. Natürlich kann ich diese Anschauung von der geringen Bedeutung der Übung nur als Vermutung aussprechen ; es wäre erwünscht, sie durch Erfahrungen anderer Beobachter, sei es nun bestätigt, sei es auch berichtigt zu sehen.

Sehr fragKch scheint mir femer, um auch diesen Punkt hier gleich zu erledigen, ob das Tongedächtnis mit einer besonders hochgradigen Leistungsfähigkeit des Gehörsinns in anderen Beziehungen in einem regehnäfsigen Zusammenhang steht. Weder die absolute Hörschärfe, noch der Intervall- sinn ist z. B. bei mir besonders hoch. Ich finde vielmehr in Bezug auf die Erkennung kleiner Differenzen der Tonhöhe gute Geiger mir meist überlegen. Ich möchte danach glauben, dafs im Gegensatz zu dem A. G. die Feinheit des Intervallsinnes durch eine hierzu geeignete musikalische Betätigung (nament- lich das Spielen von Streichinstrumenten) in hohem Grade ge- winnt, und dafs meine geringe Leistungsfähigkeit in dieser Bo- ziehuilg dem Umstände zuzuschreibenLt, dafs ich niemals ei* Streichinstrument gespielt habe. Als ganz unrichtig mufs ic^>

^ Au(5h Herr Böktoen ist der gleichen Ansicht. „Es scheint," schrei er mir, „dafs die Fähigkeit, die Tonhöhe eines Ellanges ohne alle weiter Hilfsmittel zu bestimmen, manchen Menschen angeboren ist. Es oft Versuche gemacht worden, sich dieses Vermögen durch Übung eignen; die Besultate sind aber immer nur sehr dürftig und beschränke sich gewöhnlich darauf, die relative Tonhöhe, d. h. die Höhe eines To in Bezug auf einen andern gegebenen, bestimmen zu können.*'

über das absolute Gehör. 263

die, wie ich höre, neuerdings unter Musikern mehrfach ver- tretene Annahme bezeichnen, dafs Geiger im aUgemeinen ein A. G. besäfsen, Klavierspieler dagegen nicht. Mir sind (au&er mir selbst) noch mehrere andere Personen (nicht Musiker von Fach) bekannt, die ein gutes A. G. besitzen, ohne ein Streich- instrument zu spielen, wie ich auch anderseits vortreffliche Geiger kenne, denen jenes Vermögen gänzlich abgeht.^

Unter den Bedingungen, von welchen die Erkennung der

Tonhöhe sich abhängig findet, giebt es einige, die, wenn auch

vieUeicht nicht in ganz bündiger Weise erklärbar, doch zu

manchen bekannten Thatsachen in dursichtiger Analogie stehen.

Dahin gehört zunächst, dafs für die Erkennung eine gewisse

Stärke und Dauer der gehörten Töne erforderlich ist. Sehr

deutlich ausgeprägt ist dieser Umstand für mich bei solchen

Klängen, deren Erkennung eine schwierige und unsichere ist,

wovon sogleich zu handeln sein wird. Hier finde ich die

Erkennung nicht selten unmöglich, wenn ich einen Ton (z. B.

den einer Lokomotiv-Pfeife) einmal kurz habe erklingen hören,

während nach mehrmaliger Wiederholimg des Pfiffs ein sicheres

Urteil sich bildet.^ Bei den leicht erkennbaren Klängen, wie

z. B. Klaviertönen, genügt eine geringe Intensität und auch

isehr kurze Dauer, um das Urteil sogleich festzustellen. Immerhin

läfst sich konstatieren^ dafs bei ganz kurzdauerndem Erklingen

in minimaler Intensität, namentlich auch bei Yerdeckung des

Klanges durch gleichzeitige Geräusche, die Erkennung beein-

trächtigt wird, was im Hinblick auf alle ähnlichen Urteils-Klassen

nicht auffallen kann. Beachtenswerter ist die Thatsache, dafs, wie

ich mit Stumpf und dessen Versuchspersonen finde, die Erkennung

der Tonhöhe in den mittleren Lagen am leichtesten und

sichersten ist, während sie bei sehr hohen und noch mehr bei

sehr tiefen Tönen schwieriger erscheint. Ich finde an mir

^ Herr Böktgen teilt mir zur Illustration der Wirksamkeit des A. G-. iint, es sei G-eigem, die ein solches besitzen, wie z. B. ihm selbst und ^etm Joachim, durchaus unmöglich, mit einer G-eige zu spielen, die um «uien Halbton zu hoch gestimmt sei, wie dies z. B. Paoanini für die Aus- ^Wirung seines Es-dur Konzerts vorgeschrieben. Gerade aus der That- «ache, dafs Paoanini diese Anweisung gegeben hat, läfst sich also wohl sclilie&en, dafs er selbst und zahlreiche andere Geiger in solcher Weise spielen konnten, also vermutlich kein A. G. besäfsen.

* VgL über die Art, wie bei dem wiederholten Hören desselben -Klangs verfahren wird, das weiter unten Gesagte.

264 J' t?. Kries,

eine deutliche Verminderung der Sicherheit, etwa wenn die Tonhöhe über o^ oder unter C geht. Ohne Zweifel wird man diese Thatsache damit in Zusammenhang bringen dürfen, daüs überhaupt alle musikalischen Beziehungen bei sehr hohen und sehr tiefen Tönen sich weniger ausgeprägt bemerklich machen, als in den mittleren Lagen. So ist es ja namentUch am Klavier schon schwierig, die tiefsten Töne genau zu stimmen, und auch der Intervallsinn hat hier eine viel geringere Feinheit als bei den musikalisch hauptsächlich verwerteten Mittellagen. Ahnliches gilt wohl für die höchsten Töne auch.

Am merkwürdigsten scheint mir aber die Abhängigkeit zu sein, in welcher die Erkennbarkeit der Tonhöhe von der Klangart steht. Ich möchte in dieser Hinsicht zuerst berichten, was ich an mir selbst zu beobachten G-elegenheit hatte, und dann das leider nur dürftige Material beibringen, was ich in Bezug auf andere Personen habe zusammenbringen können. Ich lasse, indem ich hier von verschiedenen Klangarten rede, zunächst solche aufser Acht, welche überhaupt keine deutlich ausgeprägte Tonhöhe besitzen und daher nicht ohne weiteres nachgesungen werden können; dies ist z. B. der Fall bei Klängen, die, wie manche Glockentöne, sehr zahlreiche und unharmonische Obertöne enthalten, ferner bei starker Bei- mischung von Geräuschen u. dgl. Kann dagegen die Höhe eines Klanges sogleich und mit Sicherheit durch Nachsingen angegeben werden, so liegt nach mancherlei Analogien die Erwartung nahe, es werde hier für denjenigen, der ein A. G. überhaupt besitzt, auch die Benennung der betreffenden Tonhöhe als a, eis u. dgl. durchgängig in ähnlicher Weise möglich sein. Es zeigt sich nun, dafs dies durchaus nicht der Fall ist. Ich habe diese Beobachtung an mir schon in meinen Knabenjahren gemacht und mich darüber gewundert. Ich teilte damals für mich die Klänge in erkennbare und nicht erkennbare ein. Zu den ersteren gehörten die Töne des Klaviers und der meisten musikalischen Instrumente (sowohl Streich- ais Blas-Instrumente), zu den letzteren die Gesangtöne der menschlichen Stimme, femer Stimmgabeltöne, die Töne vieler Pfeifen, auch die mit der Lippe gepfiffenen Töne. Um den Gegensatz, der in dieser Beziehung stattfindet, ganz hervor- treten zu lassen, mufs ich bemerken, dass ich z. B. die Klaviertöne mit grofser Sicherheit erkannte, so dafs Irrungen

über das (absolute Gehör, 265

fast niemals (und dann höchstens um einen halben Ton) vorkamen, während bei Gesangtönen ein Erkennen überhaupt gar nicht stattfand. Die Erkennung der Tonhöhe steht, wie hieraus hervorgeht, unter ganz anderen Bedingungen, als die Vergleichung zweier gehörter Töne oder auch eines gehörten mit einem zuvor nur vorgestellten Tone, da in dieser Beziehung wenigstens innerhalb der hier eingehaltenen Grenzen die Klangart keine erhebliche Bolle spielt. Es mufs daher zuvörderst festgehalten werden und ist in der That für die richtige Auffassung des ganzen Gebietes fundamental, dafs die Tonerkennung nicht auf der Vergleichung mit einem im Gedächtnis aufbewahrten und unabhängig von dem gehörten Tone existierenden oder hervor- zurufen den Erinnerungsbilde irgend einer bestimmten Tonhöhe zu beruhen braucht. Besäfse ich eine richtige und jederzeit hervorrufbare Vorstellung von jedem behebigen Tone oder auch nur von einem einzigen und beruhte die Erkennung gehörter Töne auf der Vergleichung mit solchen Erinnerungs- bildern, so wäre ein derartiger Unterschied der Erkennbarkeit je nach der Klangart ganz undenkbar. Thatsächlich nun ist auch nichts dergleichen der Fall. Gegenüber der Aufgabe, einen bestimmten Ton mir frei aus der Phantasie vorzustellen und etwa durch Singen anzugeben, bin ich im höchsten MaJGse unsicher, und wenn ich es versuche, so gelingt es mir nur in Ausnahmsfallen. Die ganze Tonerkennung hat also, wenigstens bei mir, mit einem durch Vergleichung sich bildenden Urteil nichts zu thun.

Eine zutreffendere Auffassung des Vorganges uns zu bil- den werden wir dagegen in Anknüpfung an die neuerHchen Erörterungen der Assoziationsvorgänge versuchen können. Die Erkennung der Tonhöhe können wir mit Lehmann^ als eine Wiedererkennung durch Benennung bezeichnen, ja sogar al» eines der einfachsten und reinsten Beispiele für diese Art der Erkennung ansehen.

Allerdings gehen ja hinsichtlich der genaueren Auffassung dieser Vorgänge die Anschauungen noch weit auseinander. Ob wir indessen hier eine reine „Berührungsassoziation" oder zu- nächst die Beproduktion eines Erinnerungsbildes früher statt- gefundener ähnlicher Empfindungen anzunehmen haben, ist für

^ Lehmann, Wundts Philosophische Studien, 1889.

266 ^^J^' Kries.

4ins hier niclit von wesentlichem Belang. Jedenfalls hätten wir in der Entstehung des Benennungsurteils einen, in den allgemeinen B*ahmen der assoziativen Verbindungen fallenden Effekt der jeweils das Ohr afßzierenden Klänge zu erblicken. Wir könnten nun demgemäfs sagen, daTs gewisse Klänge einen bestimmten Namen reproduzieren, andere aber nicht. Darin ferner, dafs ein Klang dies thut, andererseits aber die Vor- stellung des Ton-Namens keineswegs ausreicht, um die Vor- stellung der betreffenden Tonhöhe hervorzurufen, würde man ein ganz interessantes, aber keineswegs vereinzeltes Beispiel für den allgemeinen Satz finden, dafs Assoziationswege nicht alle- mal in der einen und in der entgegengesetzten ßichtnng gleich gangbar sind. So kommt es ja z. B. beim Erlernen einer fremden Sprache sehr häufig vor, dafs wir ein Wort der- selben verstehen (seine Bedeutung kennen), sobald wir es hören, es uns aber nicht einfallt, wenn wir es suchen; es wird ako der zugehörige Begriff durch das Wort reproduziert, nicht aber umgekehrt.

Indessen glaube ich, dafs die Vorstellung, von der soeben ausgegangen wurde, doch noch einiger Modifikationen bedarf. Wir konnten uns ihr zufolge wohl denken, dafs gewisse Klänge einen Ton-Namen reproduzierten und andere nicht, vielleicht auch, dafs die einen dies stets, andere nur gelegentlich unter besonders günstigen Bedingungen thun u. dgl. Doch würde diese Auffassung keineswegs ausreichen, um die Mannigfaltig- keit der Vorgänge, die thatsächlich beim Erkennen stattfinden, zu decken. Wir müssen aber auch bedenken, dafs es doch notwendig ist, das Benennungsurteil von einer blofsen Koexistenz der beiden Bewufstseinsinhalte (der gegenwärtigen Gehörsempfindung und des Namens), wie sie die einfachste Folge einer Assoziation wäre, zu unterscheiden, ein Punkt, der, wie ich glaube, in den Theorien und Erörterungen über Assoziation vielfach nicht genügend berücksichtigt wird. Selbst- verständlich ist das Erkennen, die Entstehung des Urteils ^dieser Ton ist c" nicht dadurch zu ersetzen, dafs ich gleich- zeitig mit dem Hören des betreffenden Tones etwa willkürlich mir die Bezeichnung c vorgestellt habe. Es gehört also zu der Entstehung des Benennungsurteils neben der Koexistenz der in dasselbe eingehenden Vorstellungen (Empfindung und Name) doch noch etwas weiteres; es bleibe zunächst dahin-

über das absoluU GeJkör. 267

gestellt, was. Auf dieser Basis erst werden eine Beihe von Besonderheiten verständlich, welche (bei mir) die Tonerken- nungen zeigen. Erstlich kann es vorkommen, dafs das Hören eines Tones mir sogleich eine gewisse Benennung, sagen wir c, reproduziert, trotzdem aber ich schliefslich in Zweifel bleibe, ob ich c oder d höre. Anderseits aber ist die Erkennung auch dadurch noch nicht ausgeschlossen, dafs sich mir beim Hören des Tones nicht sogleich eine bestimmte Bezeichnung aufdrängt. Die Erkennung wird unter diesen Umständen ge- wissermafsen Sache eines Probierens, eines Tatonnements. Ich versuche also z. B. (ganz willkürlich), den Ton mir als ein c vorzustellen und konstatiere (ich weils keinen treffenderen Aus- druck dafür zu finden), ob dies geht, ob die Benennung pafst. Sehr oft empfinde ich dann aufs deutlichste, dafs das nicht der Fall ist, und gelange auch weiter, nach einigem Herumprobieren, bei einem andern Namen zu dem entgegengesetzten Er- gebnis und somit zu der ganz sichern Überzeugung, dafs eine bestimmte Tonhöhe vorliege, worin ich mich dann auch fast niemals täusche. Man wird ohne Zweifel vermuten, dafs hier nun doch die Einmischung des umgekehrten Assoziationsweges vorUege, dafs ich mir z. B. unabhängig von dem gehörten Tone die Tonhöhe C mea sponte vorzustellen versuche, um diese alsdann mit dem gehörten Tone zu vergleichen. Ich glaube indessen kaum, dafs dies der Fall ist. Die Aufgabe, einen be- stimmten Ton mir vorzustellen, ist für mich, wie oben schon erwähnt, eine sehr schwierige ; von dem ganzen, mir sehr wohl bekannten Verhalten, welches dabei eintritt, ist hier gar keine Spur vorhanden. So kommt es auch gar niemals vor, dafs etwa der willkürlich vorgestellte Name eine andere Ton Vorstellung her- vorriefe und nun deren Nichtübereinstimmung mit dem eben gehörten Tone erkannt, der letztere dann etwa durch das Inter- vall bestimmt würde. Dieser indirekte Weg der Tonerkennung, der bei manchen Personen eingeschlagen werden mag, kommt bei mir nicht vor. Es handelt sich viehnehr, wie mir scheint, lediglich darum, dafs die Entstehung des Urteils durch die, zunächst etwa rein willkürlich hervorgebrachte Vorstellung des zutreffenden Namens begünstigt und erleichtert wird. Diese Thatsache findet auf zahlreichen Gebieten des Gedächtnisses in ganz ähnlicher Weise statt. Wenn uns z. B. der Vorname irgend einer Person ganz geläufig ist, so dokumentiert sich

268 J' ^' Kries.

dies darin, dafs die ganze Yorstellung der Persönlichkeit sogleich den richtigen Vornamen reproduziert, sobald wir nur unsere Auf- merksamkeit daraufrichten. Ist aber dies in geringerem Mause der Fall, so fallt uns häufig, auch wenn uns der Zuname er- innerlich ist, der richtige Vornamen nicht ein; wir können alsdann ein Probieren beginnen, welches oft genug zum ge- wünschten Resultat führt, indem eine Anzahl von Vornamen, mit dem betreffenden Geschlechtsnamen zusammengeftLgt, unverzüglich als falsch erkannt werden, schliefslich aber wir an einen kommen, bei dem ebenso unmittelbar die Brichtigkeit der Verbindung erkannt wird. Ähnliches findet sich, wenn wir die Jahreszahl eines historischen Ereignisses suchen, und dürfte wohl überhaupt sehr vielfach und besonders da vorkommen, wo die Zahl der in Betracht kommenden Verknüpfungen eine beschränkte und dadurch jenes Probieren sehr erleichtert wird. Hiernach ist nun für den Grad der Erkennbarkeit, den ich irgendwelchen Klängen zuschreiben kann, der Umstand, ob sie eine Benennung reproduzieren oder nicht, zwar auch von Be- deutung, aber nicht allein mafsgebend : vielmehr kommt es vor allem auf Art und Genauigkeit des schliefslich zu erzielenden Urteils an. Wenn ich die verschiedenen Klänge nach ihrer Er- kennbarkeit rangiere, so mufs ich an die Spitze die Klaviertöne stellen. Bei diesen ist die Erkennung der Höhe eine ganz un* mittelbare ; der richtige Name tritt sofort in die Vorstellung ; ich bedarf hier keiner merkbaren Zeit der Überlegung, auch ist hier für mich mit derartigen Versuchen nicht die geringste geistige Anstrengung verbunden. Was den hier erreichten Ge- nauigkeitsgrad anlangt, so möchte ich glauben, dafs er, der Natur des Sinnesorganes nach, wohl über die Erkennung von Halbtonstufen noch hinausgehen könnte, dafs aber verschiedene Umstände dem hinderlich entgegenstehen. Wenigstens koumit es ab und zu vor, dafs mir ein Ton z. B. anfanglich als c er- scheint, ich dann unsicher werde, ob er nicht vielleicht eis ist, woraus ich dann den richtigen Schlufs ziehe, dafs ich es mit einem im Vergleich zu der mir geläufigen Stimmung zu hoch stehenden c zu thun habe. Dafs die Erkennung der kleinen Differenzen der Tonhöhe sich in dieser eigentümlichen Art merkbar macht, liegt ohne Zweifel daran, dafs unser Benen- nungssystem keine kleineren Stufen als Halbtöne kennt. Dieser Umstand erschwert naturgemäfs die Gewinnung von Sicherheit

über das absolute GeJiör, 269

in der Erkennung kleiner Tonstufen. In der gleichen Bichtung ist wohl auch der Übelstand wirksam, dafs wir keine allgemein verwirklichte Normalstimmung besitzen und daher nicht in die Lage kommen, eine wirklich bestimmte Tonhöhe immer wieder als a, c etc. dem Gedächtnis einzuprägen. So habe ich z. B. Jahre hindurch an meinem eigenen Klavier eine merklich nie- drigere Stimmung als diejenige der zumeist gehörten Orchester- musik gehabt. Die verschiedenen Klaviere, auf denen ich selbst gelegentlich spiele oder spielen höre, stehen wieder alle mehr oder weniger ungleich. Es kommen hier im ganzen Differenzen vor, die sich dem Werte eines Halbtones annähern, und es ist begreiflich, dafs dieser Umstand einer genauen Ausbildimg des Tongedächtnisses hinderlich entgegensteht.

Ich finde nun, um zu anderen Klangarten überzugehen, annähernd die gleiche Erkennbarkeit bei den durch Streichen hervorgebrachten Geigentönen. Dagegegen ist die Genauigkeit eine schon etwas geringere z. B. bei Kiaviertönen, die ich durch Anreifsen der Saiten mit dem Pinger hervorbringe ; hier kommen mir (auch an meinem eigenen Flügel und in den Mittellagen) Irrungen von einem Halbton nicht ganz selten vor ; ähnlich wird es sich ohne Zweifel für die Pizzicato-Geigentöne ver- halten, worüber ich keine Versuche angestellt habe. Bei den meisten Blasinstrumenten ist das Urteil in ähnlicher Weise «twa um einen Halbton unsicher, noch unsicherer bei den Zungenpfeifen, wie sie z. B. in den AppuNschen Oberton-Appa- raten benutzt werden, wo ich oft um einen ganzen oder an- derthalb Töne schwankend bin. Bei all diesen Klängen repro- duziert aber die Empfindung, sobald ich überhaupt darauf achte, die betreffende Benennung, wenn auch häufig in der unbe- stimmten Weise, dafs ich sogleich zwischen zwei benachbarten Bezeichnungen schwanke. An dem untersten Ende der Erkenn- barkeits-Skala stehen nun jene oben erwähnten nicht erkenn- baren Klänge, welche zuhächst eine Benennung nicht sozusagen von selbst hervorrufen und bei welchen auch das oben erwähnte Probieren ganz resultatlos bleibt. Ich kann also hier von einem Tone mir eben so gut einbilden, dafs er c als dafs er f ist etc. Ich glaubte nun früher, dafs zwischen diesen nicht erkennbaren und den erkennbaren Tönen eine ganz scharfe Grenze zu ziehen sei ; doch ist mir neuerdings sehr wahrscheinlich geworden, daüs dies nicht der Fall ist. Erstlich finden schon in Bezug

270 *^' V. Kries.

auf die unmittelbare Reproduktion eines Ton-Namens man- cherlei Übergänge statt, sofern manche Klänge dies wohl ab und zu, aber nicht ganz regelmäfsig thun. Aufserdem scheint aber auch die Urteilsbildung alle möglichen Grade der Genauigkeit aufzuweisen. Denn ich finde einerseits Klänge, welche nur äufserst ungenau erkannt werden, anderseits scheint es nahe- liegend, anzunehmen, dafs das mich früher besonders frappierende Verhalten mancher Klänge, welche gar nicht erkennbar sind, seine Erklärung in dem schon oben berührten umstände findet, dafs sich die Ton-Namen periodisch wiederholen und die gleich benannten in gewissen ausgezeichneten Beziehungen unterein- anderstehen. Es wurde oben bereits ausgeführt, dafs aus diesem Grunde die Erkennung, sobald sie unterhalb eines gewissen Ge- nauigkeitsgrades bleibt, gänzlich zu mangeln scheinen kann.

Aufserdem wird hier der Ort sein, zu erwähnen, dals ich das Gebiet dieser unerkennbaren Klänge durch eine lange dauernde üebimg in gewissem Betrage habe einschränken können. So erkenne ich jetzt namentlich Stimmgabeltöne mit leidlicher Sicherheit,* noch besser die EQänge hoher Pfeifen, wie z. B. die von Lokomotiven und anderwärts benutzten Dampf- pfeifen. Doch ist auch hier die Reproduktion des Tonnamens oft keine unmittelbare, und ich bin dann auf das vorhin geschüderte Probieren angewiesen, auch bin ich meist um mindestens einen Halbton unsicher. Ich erkenne also diese Klänge zwar entschieden besser als früher, aber noch jetzt nicht annähernd mit der Leichtigkeit und Sicherheit, wie ich sie gegenüber Havier- und Geigentönen besitze. Namentlich bedarf ich hier fast immer einer längeren Überlegung. Die Töne von Glocken und Gläsern, selbst solchen, die keine merklichen unharmonischen

^ Um in irgend einer Weise ein zahlenmäfsiges Material zu geben, will ich erwähnen, dafs z. B. in 20 Versuchen mit Stimmgabeln (ich be- nutzte 12 die chromatische Tonleiter a bis a' darstellende Gabeln) 7 Urteile richtig, 8 um einen Halhton, 3 um einen ganzen, eines lun zwei ganze Töne falsch waren. Der Unterschied im Vergleich mit Klaviertönen, bei welchen in dieser Lage Irrungen niemals (höchstens bei einer von der gewohnten abweichenden Stimmung um einen Halbton) vorkommen, ^ also sehr deutlich. Der Hauptunterschied übrigens tritt in solchen Zabl^ nicht hervor; er besteht darin, dafs die Erkennung der Stimmgabeltöne unmittelbar als eine viel schwierigere empfunden wird, längerer Über- legung bedarf, das Urteil unsicher bleibt, zuweilen gar nicht abgegeben werden kann etc.

über das ahsohUe Gehör. 2711

Obertöne haben, schön und rein klingen und leicht nachzu- singen sind, erkenne ich auch jetzt fast nie; doch macht sich bei ihnen, ebenso bei den mit den Lippen gepfiffenen Tönen und in noch höherem Mafse bei d.en Gesangtönen der mensch- lichen Stimme das eigentümliche Verhältnis bemerklich, dais Klänge von ganz gleicher Art zuweilen erkannt und zuweilen nicht erkannt werden. Ein junger Musiker (Herr W.) findet an. sich ganz das Gleiche. Der Grimd hierfür liegt ganz zweifellos nicht blofs an den allgemeinen Verhältnissen der geistigen Disposition (Ermüdung u. dgl.); eher möchte ich glauben, dafs« es sich um geringfügige, nicht unmittelbar bemerkbare Unterschiede des Timbres handelt, die die Erkennbarkeit beeinflussen. Vielleicht auch kommt es darauf an, ob die gehörte Tonhöhe mit einem Tone der dem Hörenden geläufigsten. Stimmung genau zusammenfällt oder zwischen zwei hinein.^ Demgemäfs nun erkenne ich ab und zu den Ton einer Sing- stimme ganz sicher und genau (d. h. mit einer Irrung von höchstens einem Halbton), doch ist das ein Ausnahmefall. Soprantöne erkenne ich eher als die Töne von Männ»erstimmen,. von diesen aber hohe Tonlagen auch am ehesten. Im ganzen aber sind mir die Töne der menschlichen Stimme immer noch die schwerst erkennbaren. Töne, die ich selbst singe oder pfeife erkenne ich niemals.*

Endlich mufs hier noch einiges über die Erkennung von Ton-Komplexen angefügt werden. Ich finde in dieser Hinsicht, dafs ganz unharmonische Zusammenfügungen schwerer erkennbar

* Für diese letztere Auffassung spricht die Thatsache, dafs Kinder zuweilen die Untertasten des Klaviers sicherer als die Obertasten erkennen und bei dem Anschlagen einer der letzteren nicht blofs, wie man zunächst vermuten sollte, Fehler von einem Halbton, sondern von einer Quart machen, fis für eis halten u. dgl., was bei den Tönen der Untertasten nicht vorkommt. Solches berichtet Stumpf von einem achtjährigen Mädchen ». das er zu prüfen Gelegenheit hatte. Ich erinnere mich, dafs bei den frühesten Versuchen in meiner Knabenzeit Ähnliche» stattfand.

' Die vielfach gemachte Annahme, dafs das Erkennen der Tonhöhe auf Empfindungen beruhe, welche die zum Singen des betr. Tones er- forderliche Einstellung der Kehlkopfmuskulatur begleiten, wird hier- durch in zweifellosester Weise ausgeschlossen. Sie ist überhaupt schon dem UmStande gegenüber unhaltbar, dafs die Erkennbarkeit der Klänge an ganz andere Bedingungen geknüpft, ist als die Möglichkeit des. Nachsingens.

272 J' V. Kries.

sind, als die einzelnen Elemente. Aus unharmonischen Kom- binationen von 4 oder 5 Klaviertönen kann ich zwar häufig, aber doch nicht ganz sicher die einzelnen Töne angeben, am wenigsten in den tiefen Lagen und wenn die einzelnen Töne nahe aneinanderliegen. Weit bemerkenswerter aber als diese Thatsache ist die Erleichterung, welche die Erkennung bei harmonischen Zusammenklängen erfahrt. Mir ist in dieser Hinsicht von jeher besonders auffällig gewesen, dafs mir jeder mehrstimmige Gesang (ohne Begleitinstrumente) sofort den Eindruck einer bestimmten Tonhöhe macht, namentlich wenn die Intervalle mittlerer Konsonanz (Quinten, Quarten oder Terzen) darin vorkommen. So genügt auch oft, wenn ich eine Stimme höre und den Ton nicht erkenne, das Hinzutreten einer zweiten, sich eine Terz tiefer bewegenden Stimme, um das Urteil über die Tonhöhe festzustellen. Diese Thatsache ist sehr auffallig, wenn man bedenkt, dass doch bei der Erkennung eines Accordes auch stets die Höhe aller (oder wenigstens mehrerer) Töne implicite erkannt wird. Bei einer von verschiedenen Instrumenten ausgeführten Orchestermusik erkenne ich dem- gemäfs auch stets sicher die Tonart und zugleich, wenn nicht alle, jedenfalls die am meisten hervortretenden einzelnen Töne. Was die Erscheinungen des A. G. an anderen Personen angeht, so habe ich wenigstens einige Fälle aufgefunden, welche zeigen, dafs der bei mir so ausgesprochene Einflols der Klangart auf die Erkennbarkeit nichts ganz Exceptionelles ist. Am meisten Ähnlichkeit mit dem meinigen hat das A. G-. des Herrn Fr. P. Dieser (guter Klavierspieler) schreibt mir darüber folgendes : „Ich finde unmittelbar erkennbar nur die Klavier- töne, und zwar derartig, dafs der Ton sofort und ohne irgend welche Vermittlung, auch ohne Hilfe der Verstandesthätigkeit . . . erkannt wird. Dagegen habe ich diesen unmittelbaren Eindruck von allen anderen Arten der Töne, also von Tönen der Streioh- und Blasinstrumente, des Gesanges, Pfeifens, der Glocken etc. nicht." Zwar gelingt es Herrn P. meist, diese Töne auf dem Umwege festzustellen, dafs er aktiv die Vorstellung irgend einer bestimmten Tonhöhe hervorruft und diese mit dem gehörten Ton vergleicht ; doch ist dieses Verfahren nicht ganz sicher, weil bei jener aktiven Hervorrufung einer gewünschten Tonvorstellung Irrtümer unterlaufen. Die direkte Erkennung ist also bei Herrn P. noch beschränkter als bei mir, dagegen

über das absolute Gehör, 273

ist der Assoziationsweg vom Namen zur Tonvorstellung bei ihm entwickelter als bei mir, wenn auch nicht ganz fehlerlos funktionierend.

Bei einem bekannten Berliner Musiker, der wegen der Sicherheit, mit der er Klaviertöne auch in unharmonischen Zusammenklängen erkannte, renommiert war, hatte ich zufallig Gelegenheit zu konstatieren, dafs er den Ton einer (geschulten und sehr klangvollen) Männerstimme um eine Quart falsch bezeichnete. Es ist mir leider nicht möglich gewesen, gerade in diesem Fall genaue Beobachtungen anzustellen.

Bei einer lungen Dame, die sich eines miten, aber nicht gerade hervorragenden A. 4. erfreut und neben Klavierspiel sehr viel Gesang getrieben hat, zeigten mir die Versuche auch eine entschiedene Bevorzugung der Klaviertöne vor Stimmgabel- und Gesangtönen. Dieselbe trat namentlich darin hervor, dafs jene weit schneller und sicherer erkannt wurden, diese zögernd und nach einiger Überlegung, wobei das Bedürfnis bestand, sie „innerlich nachzusingen."

Der schon oben erwähnte junge Geiger, Herr W., besitzt für Klavier- und Geigentöne ein sehr vollkommenes A. G. Pfeifentönen gegenüber funktioniert dasselbe in der dort ange- gebenen Weise unsicher, so dafs die Erkennung nur zuweilen stattfindet.

Ferner wäre hier die Thatsache anzureihen, dafs manche Personen zwar Accorde und die Tonart eines ganzen Stückes, nicht aber einzelne Töne erkennen. Solches berichtet u. a. Stumpf von R. Franz. Dieser war einzelnen Tönen gegenüber stets unsicher, während er bei Accorden oder Stücken die Tonart beim Klavier oder Orchester stets richtig erkannte, nicht dagegen an der Orgel.

Im Gegensatz hierzu kann nun allerdings leicht konstatiert werden, dafs es zahlreiche Personen auch giebt, für welche das A. G. nicht auf besondere Kiangarten beschränkt ist. Als Beispiel hierfür kann zunächst Mozabt angeführt werden, von welchem sein Vater ankündigte, „er werde in der Entfernung alle Töne, die man einzeln oder in Accorden auf dem Klavier oder auf allen nur denkbaren Instrumenten, Glocken, Gläsern, Uhren etc. aufzugeben im stände ist, genauest erkennen".

Aber es scheint überhaupt die Fähigkeit, alle Klänge bezüglich ihrer Höhe zu erkennen, nicht gar zu selten zu sein.

Zeitschrift für Psychologie III. 13

274 J' V. Kries.

Herr Konzertmeister Röntgen findet alle „rein musikalischen" Klänge (d. h. solche, die von Geräuschen und von unharmonischen Obertönen frei sind) gleich gut erkennbar, namentlich auch die Töne der menschlichen Stimme. Auch an zwei hiesigen Musikern überzeugte ich mich, dafs sie Gesang- und Stimm- gabeltöne sogleich richtig benannten; beide sagten, wie über- haupt die meisten der in dieser Hinsicht befragten Personen, dafs ihnen irgend ein Unterschied der Erkennbarkeit zwischen den verschiedenen Klangarten niemals aufgefallen sei.

Übrigens mufs wohl bemerkt werden, dafs, wenn auch alle Klänge richtig benannt werden und die betreffenden Personen einen Unterschied der Klangarten in dieser Beziehung nicht bemerkt haben, damit doch noch keineswegs konstatiert ist, ob ein solcher nicht doch besteht und der Genauigkeitsgrad der Erkennung bei verschiedenen Klängen ungleich ist. Erst eine genaue systematische Untersuchung, deren Ausführung aber leider mit sehr grofsen Schwierigkeiten verknüpft ist, könnte dies zeigen.

Während die Personen der zuletzt besprochenen Kategorie die höchste Leistung des A. G. darstellen, scheint der geringste Grad desselben, der überhaupt noch als A. G. bezeichnet werden darf, sich so zu präsentieren, dafs, ähnlich wie ich es an mir gewissen Klängen gegenüber beobachte, die Erkennung eine unsicher funktionierende ist: sie findet gelegentlich statt, gelegentlich nicht, ohne dafs ein bestimmter Grund dafür zu konstatieren wäre. Personen dieser Art pflegen, was sehr charakteristisch ist, von einem „Erraten" der Tonhöhe zu sprechen.

Von den hier mitgeteüten Thatsachen dürfte nun nament- lich die, in manchen Fällen zweifellos vorhandene Abhängig' keit des UrteUs über die Tonhöhe von der Klangart einer go" naueren Erörterung wert sein. Es erscheint nämlich nicht recht verständlich, weshalb für das Höhenurteü nicht der Grundtox^ allein mafsgebend ist, um so weniger, wenn man bedenkt, d**-'^ bei der Vergleichung der Höhe zweier, schnell nacheinand®^ gehörter Klänge thatsächlich blofs die Übereinstimmung d^^ Grundtöne in Betracht kommt. Zieht man ferner in ErwäguJ^ß' dafs alle möglichen Klänge gleichen Grundtons mit demsell^^ Namen benannt werden, so sollte man um so mehr erwart^^' dafs die Benennung sich nur mit der Empfindung des Gro^^'

über das absolute Gehör, 275

tones verknüpfen, die begleitenden Partialtöne aber dafür irre- levant sein würden, ganz ähnlich, wie wir z.B. die Möglichkeit des Nachsingens auch thatsächlich innerhalb weitester Grenzen nur durch den Grundton bedingt, von der Klangart aber unabhängig finden. Im Gegensatz hierzu sehen wir in vielen Fällen Assoziation und Urteilsbüdung nur eintreten, wenn ganz be- stimmte Klangarten vorhanden sind, also jedenfalls nicht den Grundton allein dafür mafsgebend.

Suchen wir nach einer Erklärung, so wird sich wohl als nächstliegend der Gedanke darbieten, dafs hier eine Folge der be- sondem Richtung vorliege, welche die Einübimg genommen habe. Jedermann, kann man denken, hört gewisse Arten von Klängen vorzugsweise häufig, er verknüpft daher auch die Ton-Namen ganz vorzugsweise mit diesen besonderen Klängen, und es erscheint nicht unverständlich, dafs sie von diesen leichter und sicherer hervorgerufen werden als von andern. In der That könnte es nicht überraschen, daXs wenn eine Vorstellung (wiei hier der Ton-Name) immer mit einem ganzen Empfindungs-Komplex zusammen vorkommt, alsdann auch für ihre Reproduktion der ganze Komplez erforderlich, nicht aber ein einzelner Teil desselben ausreichend ist. Ich glaube indessen nicht, dafs die Thatsachen sich in diesem Sinne genügend erklären lassen. Nur die dominierende Stellung, welche die IQaviertöne bezüglich ihrer Erkennbarkeit für mich und einige andere einnehmen, entspricht vielleicht jener Anschauung. Aber die besondere Schwierigkeit, welche ich bei den Tönen der menschlichen Stimme finde, läfst sich danach nicht ver- stehen. Zufällige Verhältnisse haben es mit sich gebracht, dafs ich von meinem zwölften Jahre an lange Zeit fast unausgesetzt sehr viel Gelegenheit gehabt habe, Singstimmen zu accompag- nieren. Nun giebt es nichts, was so geeignet wäre, das Ton- erkennen zu üben, als das Begleiten, weil man immer auf die Prinzipalstimmen Acht geben und ihre Bewegung verfolgen Daufs. Gleichwohl gehören die Gesangtöne mir noch jetzt zu ^en am schwersten erkennbaren. Mit Geigern zusammen zu Diusizieren, habe ich dagegen erst viel später angefangen, und ich kann mit Sicherheit konstatieren, dafs ich die Geigentöne erkannte, als ich noch keine erhebliche Einübung auf sie be- Sitzen konnte. Auch kann man wohl kaum sagen, dafs die

276 J- V' ^riea.

Geigentöne den Klaviertönen besonders älmlich wären.* Die hiernach schon unwahrscheinlich gewordene Annahme wird aber vollends unhaltbar gegenüber den Erscheinungen der Zu- sammenklänge. Einzelne Singstimmen hört man ja unendlich viel häufiger als mehrstimmigen Gesang. Findet man also in diesen und, wie es scheint, auch in andern ähnlichen Fällen die Accorde leichter erkennbar als einzelne Töne, so kann dies ge- wifs nicht auf Unterschiede der Übung zurückgeführt werden. Dagegen legen gerade diese Thatsachen eine andere Auf. fassung nahe. Man könnte nämlich wohl geneigt sein, hier eine Art des Zusammenhanges psychischer Effekte anzunehmen, wie wir ihn in der That auf andern Gebieten nicht ganz selten finden. Es handelt sich dabei um die wechselseitige Unter- stützung verschiedener Assoziationsvorgänge, allgemein formu- liert darum, dafs zwar der Effekt a vorzugsweise an a und der Effekt ß vorzugsweise an b geknüpft ist, gleichwohl a allein durch a nicht hervorgerufen werden kann, sondern nur a und ß zusammen durch a und b. Beispiele hierfür sind namentlich bei pathologischer Behinderung der Assoziations- vorgänge bekannt. So kommt es vor, dafs jemand die Worte eines Liedes nicht zu sprechen, sondern nur zu singen vermag.* Auch der von Ehrenfels* angeführte Fall, dals jemand sich bestimmte Tonhöhen nur durch die Imagination eines bestimm- ten Musikstückes vorzustellen vermochte, würde hierher ge- hören, und überhaupt finden sich wohl auch innerhalb normaler Verhältnisse so manche ähnliche Erscheinungen.

^ Als jedenfalls nicht zutreffend kann auch die Annahme bezeichnet werden, dafs die Erschwerung des Erkenn ens auf der Beimischung von Geräuschen oder unharmonischen Obertönen beruhe. Beide sind bei den schwer erkennbaren Klängen oft gar nicht vorhanden. Eine Bei- mischung von Geräuschen aber, wenn sie nicht sehr stark ist, behindert die Erkennimg thatsächlich sehr wenig. Ich habe, seit Jahren auf die Erkennbarkeit verschiedener Klänge achtend, in dieser Hinsicht oft die auffallendsten Erfahrungen gemacht und in sehr stark mit Geräuschen vermischten Klängen, z. B. dem Schall einer Kreissäge oder eines knarrenden Hemmschuhs, sogleich die richtige Tonhöhe erkannt.

Vgl. über Fälle dieser Art Wallaschek, Über die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck. Vierteljahrsschrift für Musik- Wissenschaft, VII., 1891, S. 61.

' Über Gestaltqualitäten. VierteJjahrsschrift für wissenschaftliche Ihüa- Sophie 1890.

über das absolute Gehör, 277

Wenn von ganzen Accorden jeder einzelne Ton richtig benannt wird, jeder für sich allein aber nicht erkannt werden kann, so hat dies ohne Zweifel eine gewisse Analogie mit solchen Erscheinungen. Man könnte dann weiter vermuten, dafs bei einzelnen Klängen ein gewisser Reichtum an Ober- tönen diese den Accorden ähnlicher macht und die Erkennung begünstigt, dafs dagegen vorzugsweise schwer die nahezu oder ganz obertonfreien Klänge erkannt werden.

Mir scheint in der That dieser Erklärungsversuch noch am meisten Anspruch auf Beachtung zu haben, obwohl sich ohne Frage auch ihm manche Schwierigkeiten entgegenstellen. Erst- lich sind doch auch bei Klaviertönen die Obertöne relativ schwach. Wenn ich, wie es der Fall ist, einen einzelnen kurz angeschlagenen Ton durch mehrere geschlossene Türen hin- durch nur ganz schwach vernehme und gleichwohl über die Höhe keinen Augenblick im Zweifel bin, so erscheint es schwierig, da an eine Mitwirkung der Obertöne zu denken; ein Heraus- hören derselben ist unter solchen Bedingungen völlig unmöglich. Auf der anderen Seite sind auch die Töne der menschlichen Stimme ja keineswegs frei von Obertönen, im Gegenteil jeden- falls reicher daran als Stimmgabeltöne. Trotzdem finde ich die Erkennung der ersteren viel schwieriger.

Ob hier die besondere Natur des Stimmklanges und die sich einmischende Erkennung der Vokale eine Rolle spielt? Ich habe nicht finden können, dafs es für die Erkennbarkeit von grofsem Einflufs ist, auf welchen Vokal ein Ton gesungen wird. Auch die mit geschlossenem Munde hervorgebrachten summenden Töne, welche keinen Vokalcharakter haben, sind ebenso schwierig oder noch schwieriger, als die auf einen Vokal gesungenen zu erkennen. Wenn übrigens, wie die Unter- suchungen Hermanns ergeben, zwischen dem charakteristischen Ton des U und dem des 0 eine nur sehr geringe Differenz be- steht (Uc*— d*. Od* e*), so ist die Sicherheit, mit der die beiden Vokale unterschieden werden , und zwar von allen Menschen, im Hinblick auf die sonstigen Leistungen betr. Er- kennung der Tonhöhe sicher sehr merkwürdig.*

* Versucht man, auf anderen Sinnesgebieten analoge Erscheinungen zu finden und einer genaueren Prüfung zu unterziehen, so bietet sich hierzu in erster Linie das absolute Augenmafs, die Erkennung be- stimmter, dem Gedächtnisse eingeprägter absoluten Gröfsen. Über

278 «^- V- Kries.

Die Auffindung einer ganz befriedigenden und sicher begrün- deten Erklärung der mitgeteilten Tatsachen mufs ich somit der Zukunft überlassen. Eine systematische experimentelle Behand- lung der Frage könnte wohl am ehesten dazu führen. Mir ist es bis jetzt nicht möglich gewesen, zu einer solchen zu schreiten, da ich mich nicht in den Besitz der umfangreichen Hilfsmittel habe setzen können, die zu einer systematischen Varürung sowohl der IQangfarben als der Tonhöhen erforderlich sind.

Abgesehen von dem, was eine solche Erklärung etwa lehren würde, scheinen mir die Eigenheiten des absoluten Gehörs in mancher Hinsicht interessant zu sein. Dafs von zwei Tönen, deren Höhengleichheit unmittelbar erkannt wird, der eine be- züglich seiner absoluten Höhe sicher beurteilt wird, der andere aber nicht : dies kann als ein gewisser Mangel von Logik im psychischen Geschehn bezeichnet werden. In der That hat die Erscheinung wohl manche Analogie mit denjenigen, die Pleischl^ zu dem Ausspruche veranlafsten, „dafs die Gesetze der Logik, insbesondere der Satz des Widerspruchs nur Gültigkeit haben für Gedanken und Vorstellungen, nicht aber für unmittelbare Empfindungen", ein Satz, dessen Formulierung zwar wohl disku- tierbar ist, der aber ohne Zweifel eine Anzahl theoretisch sehr wichtiger Thatsachen zum Ausdruck zu bringen wünscht. Di^ Bedeutung derselben liegt, wie mir scheint, darin, dafs sie eirx

einige Thatsachen desselben habe ich von dem hier gegebenen Gesichte punkte aus an anderer Stelle berichtet. Im Anschlufs an die besprochen.^ Vermutung einer Begtinstigimg des Erkennens durch das Zusammexr— wirken vieler Elemente könnte man fragen, ob z. B. die Gröfse ganz^^ Kreise genauer erkannt wird als der Abstand eines einzelnen Punk^~ paares. Ich habe hierüber Versuche in der Weise angestellt, dafs icl^ mir eine Anzahl von Punktpaaren herstellte, welche teils 49,5 teü^ 50,5 mm Abstand hatten, ebenso eine Anzahl von Kreisen von teils 4^ t^' teils 50,5 mm Durchmesser. Es wurde dann in zufälligem Wechsel ein^^^ der Punktpaare herausgegriffen und seine Gröfse beurteilt. Die Versuch*® erstreckten sich über viele Tage, da bei jedem Versuch der Einflufs d«^ vorigen möglichst verschwunden sein sollte, also täglich nur eine mäfö^^® Zahl von Versuchen angestellt werden konnte. Analog wurde bei ^^^ Kreisen verfahren. Die noch nicht ganz abgeschlossenen Versu^** haben aber schon herausgestellt, dafs die prozentische Zahl der richti^®*^ Urteile bei Punktpaaren und bei ganzen Kreisen jedenfalls eine erb.®^' liehe Differenz nicht zeigt.

* V. Fleischl, Physiologisch-optische Notizen. Wiener Sitzungsber*^'^ Math.-phys. Cl, Bd. 86. 1882.

Über das ahftolufe Gehör, 279

Licht darauf werfen, mit welcher Unmittelbarkeit und Zwangs- mäfsigkeit nicht selten Urteile sich an physiologische Vorgänge von derselben Art knüpfen, die wir sonst nur Empfindungen im strengsten Sinne des Wortes bewirken sehen. Doch würde die genauere Verfolgung dieses Gesichtspunktes zu sehr aufserhalb des Bahmens der gegenwärtigen Mitteilung fallen xmd mag daher einer spätem Gelegenheit vorbehalten bleiben.

Die zweiten PuBKiNjESchen Bilder im schematischen und im wirklichen Auge.

Von

Professor Ludwig Matthibssen

in Itostock.

Nach dem Vorgange von H. v. Helmholtz und seinen Schülern werden die PuRKiNJEschen Spiegelbilder bekanntlich benutzt, um die Krümmung der Linsenflächen im lebenden Auge zu messen. Es wird die Brennweite des dioptrisch- katoptrischen Systems mit Hülfe leuchtender Objekte bestimmt und die Krümmung der letzten und spiegelnden Fläche aus der Brennweite und den dioptrischen Elementen des voran- gehenden brechenden Systems berechnet. Da das vor der vorderen Linsenfläche gelegene Kammerwasser ein isotropes Medium ist, so hat diese Bestimmungsmethode keine beson- deren Schwierigkeiten für diese Linsenfläche. Ebenso einfach ist dieselbe bezügUch der hinteren Linsenfläche, wenn man die Linse als ein homogenes, isotropes Medium voraussetzt mit einem gewissen Totalindex, welcher auf Grund ophthal- mometrischer Messungen von H. v. Helmholtz in seinem neueren schematischen Auge gleich 1,4371 angenommen ist. Abweichend davon müssen sich die Verhältnisse bezüglich des zweiten PuRKiNJEschen Bildes gestalten, wenn man von der natür- lichen, geschichteten, anisotropen Linse mit einem von Schicht zu Schicht variabelen Brechungsindex ausgeht. Denn hier findet das vorangehende brechende System seinen Abschlufs erst in der letzten Schicht, der hinteren und äufsersten Kortikalschicht unmittelbar vor der hinteren spiegelnden Fläche ; da ihr Brechungsindex bei allen Wirbeltieraugen im Mittel

Die zweiten Purkir^eschen Bilder im schematischen u, im toirkUchen Auge, 281

nur 1,3860* beträgt gegen den Totalindex 1,4371 der mensch- lichen Linse, so ist von' vorneherein klar, dafs das voran- gehende System einen weit gröfseren . Brechwert besitzt, als man bisher bei Benutzung des Totalindex anzunehmen geneigt war. E8 dürfte somit für weitere Messungen obiger Art von Interesse sein, zu untersuchen, ob und wie weit dadurch die Kardinalpunkte des dioptrisch-katoptrischen Systems einer Ver- änderung unterliegen. Es mögen also unter gleichen Voraus- setzungen die in Betracht zu ziehenden Gröfsen am mensch- lichen Auge und zum Vergleiche auch am Pferdeauge für beide Fälle berechnet werden. Wir gehen dabei von bereits bekannten, auf zahlreichen Messungen beruhenden Daten aus,* welche sich auf das für die Feme accommodierte Auge beziehen.

Das menschliche Auge.

Geometrische und phyBikalisohe Konsüuiten

mm

Krümmungsradius der vorderen Hombautfläche Si Linsenfläcbe 8^

hinteren S^

Ort des vorderen Linsenscheitels S^

Kerncentrums M

hinteren Linsenscheitels S^

Axe der Krystalllinse

Brechungsindex des destillierten Wassers bei 15** II. der flüssigen Augenmedien . . .

äufsersten Kortikalschicht . .

des Kemcentrums (Mittel aus 14 Linsen *)

dl d, + h, d, + d,

dt no

No

Nr Nu.

7,829 10,0 6,0 3,6 5,2 7,2 3,6

1,3331 1,3350 1,3830 J ,4107

a.

A. Das dioptrisch-katoptrische System mit homogener Linse.

Das Hornhautsystem. Aus den gemessenen Daten r^ = 7,829, Nq = 1 ,3350 = n^

* L. Matthiessek, Die neueren Fortschritte in unserer Kenntnis von dem optischen Bau des Auges der Wirbeltiere; in Beiträge zur Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Festschrift zur Feier des 70. Geburts- tages von H. V. Helmholtz. Leipzig 1891. S. 71.

L. Matthiessen, Beiträge zur Dioptrik der Krystalllinse. Erste Folge § 9 und §10 in: Berlin-Eversbuschs Zeitschr, f, vergleich. Äugen- heilk. V. 1887.

' L. Matthiessen, Die neueren Fortschritte etc. 1. c. S. 67.

282 Ludwig Matthiessen.

finden wir die BrenHweiten

/; = 23,3700, 9i = 31,1990.

b. Das Linsensystem. Die gemessenen Konstanten «ind r2 = 10,0, r3 = 6,0, 6i = 1,6, h = 2fi, d^ = 3fi.

Das Inkrement des Linsenindex ist

Daraus findet man mit Hülfe der dioptrischen Integrale* den absoluten Totalindex der Linse

N = 1,3830 (l + 2C + Vs C* *l-±A\ = 1^3830 . 1,0401 = 1,4384.

H. V. Helmholtz nahm in seinem neueren schematischen Auge den Totalindex gleich 1,4371 an. Um zu diesem etwas kleineren Werte zu gelangen, gentigt die Erhöhung des Wertes JVi = 1,3830 auf den allgemeinen Mittelwert 1,3860.

Es ist nun der relative Index der vorderen Linsenfläche

1,4384 , ^^^^ ^ = P350 = 1'^"^^

und die Brennweiten derselben

fi = 129,1990, 9g = 139,1990.

c. Das vor der Hinterfläche der Linse liegex*-^® brechende System. Bezeichnen wir die Brennweiten dieö*^ brechenden Systems mit /*' und 9', so finden wir

f = 7 ^^-^T-r = - 19,256, 9' = =1^2 = 27,69%

/2 9i + »1 /2 9Pl + »1

* L. Matthiessen, Die neueren Fortschritte etc. 1. c. S. 92,

Die ztoeiten Pwrkinjeschen Bilder im schematischen u. im wirklichen Auge, 283 und die Hauptpunktsdistanzen

Ha S, = a, = ,. ~^'^' = 0,5356,

/2 9i -r »1

8, = a,= ~J^^ = 3,1959.

h 9i ~r »1

Das Interstitium ist demgemäfs

Ha flß = « = (7i + «1 «2 = 0,1324.

Der zweite Hauptpunkt H^ liegt also vor dem ersten Ha' Für ein dreiflächiges dioptrisch-katoptrisches System gelten nun Formeln, welche am Schlüsse der Abhandlung abgeleitet werden sollen, nämlich

HF=fr- V«r,/»9p'

(y' - A) (rs - 9-' + A) '

5,^=< = -(a+^.,.^--^

SP2 ^

9i + ^i) fi 92' '

worin H den Hauptpunkt, 1^ den Hauptbrennpunkt bedeutet. Hierin ist zu setzen r, negativ und

D^ = JE?3 S3 = og -f ^2 = 6,7959, y' D, = 20,901,

rj 9' + 2)j = 26,901.

Daraus ergeben sich die Brennweite und die vordere Haupt- punktsdistanz des dioptrisch-katoptrischen Systems

/•= 2,8455, «/ = 6,7976.

Die Örter der Kardinalpunkte sind demgemäis

5iiT= 6,7976, S,F = 3,9521, 5, K= 1,1066.

284 Ludwig Matthieasen,

Der Brennpunkt F liegt in der Mitte zwisohen dem Haupt* punkt H und dem Knotenpunkte K. Der Brennpunkt liegt 0,3521 mm hinter der vorderen Linsenfläche, der Hauptpunkt 0,4024 mm vor dem Scheitel der hinteren Linsenfläche.

B. Das dioptrisch-katoptrische System mit geschichteter Linse.

a. Das Hornhautsystem. Die Brennweiten sind wie vorhin

/; = _ 23,3700, 9)1 = 31,1990.

b. Das Linsensystem. Wir berechnen zunächst a. Die Kernlinse oder die Linse bei Immersion ia

Kortikalsubstanz.

Die Elemente sind wieder

r^ = 10,0, rj = 6,0, 6, = 1 ,6, \ = 2,0, t = 0,0200.

Mit Anwendung der dioptrischen Litegrale findet man bei Zugrundelegung der für die Linsen aller "Wirbeltiere gültigexL Indicialkiu've

n = iV; (1 -I- C ^-=^1 (Parabel)

die Brennweiten

/•= y = 94,3406,

und die Hauptpunktsdistanzen von den Linsenfläohen

H, S, = a„i = 1,9041, H^ Ä, = a^,^ = 1,6589, = 0,037«-

ß. Die Kombination der Kernlinse mit dem Ka»^^' mer Wasser. Der relative Lidex der Kortikalsubstanz ^ 7i^ = 1,3830: 1,3350 = 1,03595. Die dioptrischen Elemente st^*

/;'= 278,164, 9)1 = 288,164, —f^=^^=z 94,3406,

D = S^H^=— «1,1 = 1,9041.

Daraus ergeben sich die Brennweiten und Hauptpunktsdistaix^^ f= 68,9493, y = 71,4281, a,,^ = 1,3916, «,„ = 0,47S?<'-

Die zweiten Purkir^eschen Bilder im schematischen u. im toirkUchen Äuge, 285

Bezeichnet man die neuen Hauptpunkte mit H^,^ H^m ^^ ^^^ nunmehr Sm S^ = «1« = 1.3916, Hin S, = ««,» + ««« = 2,1309.

c. Das vorangehende brechende System /S>| S^ Die dioptrischen Elemente sind

/i = 23,3700, 9>, = 31,1990, ^g = 68,9493, y, = 71,4281,

D = 5i fl,,, = (?! + 1,3916 = 4,9916.

Bezeichnen wir die Brennweiten des vorangehenden brechenden Systems wieder mit f und 9', so findet man

f = 16,9336, y' = 23,4191,

-H; 5, = «1 = 1 ,2259, ITp ir„i = oj = 3,7468,

Ha Hfi ^ e == dj + dg 4" <f 1 «2 (hn **»>» ^ 0,0964.

In dem wirklichen Auge liegt also der zweite Hauptpunkt hinter dem ersten und die Brennweiten des vorangehenden brechenden Systems sind beträchtlich kleiner, als wie zuvor. Für dies dioptrisch-katoptrische System gelten nun die Formeln

V. r, f 9'

f=

(y'-D,)(r3-y' + D,)'

«/- (/i+^«9'M9'.-A)(/r-9'i+^)-A»J'

Hierin ist nach dem Vorhergehenden zu substituieren r^ negativ und

JTß S3 = 2)2 = «2 + «2)1 + «212 = &,8777, ^2)1 ^3 = A = «2)1 + «2)2 = 2,1309,

S, H,,, = D = d, «,„ = 4,9916, y' A = 17,5414,

r3 y' + Dj = - 23,5414.

Daraus ergiebt sich nun

HF= f= 2,8810, HS^ = «/ = -6,9000.

Die Orter der Kardinalpunkte sind demgemäXs

286

Ludwig Matthiessen.

S,H= 6,9000,

SiF = 4,0190,

S,K= 1,1380. Vergleichen wir diese "Werte mit den in A. für das sclie- matische Auge gefundenen, so ergeben sie das ßesultat, dafs durch die Annahme einer geschichteten Linse die Kardinal- punkte nur ganz unbeträchtlich nach hinten verschoben werden und dafs die Brennweite ebenfalls unmerklich vergrölsert wird. Der Brennpunkt liegt 0,4190 mm hinter der vorderen Linsen- fläche und der Hauptpunkt H des Spiegels 0,3000 mm vor der hinteren Linsenfläche.

Ahnliche Verhältnisse gelten für die Orter der Elardinal- punkte des ganzen Auges,^ nur mit dem Unterschiede, dafs hier dieselben ein wenig nach vorne gerückt worden.

Das Pferdeauge.

Dieses Auge ist bereits früher von Bbrlin,* Kosghbl,' Klingberg* und Verfasser^ in Bezug auf seine geometrischen und physikalischen Konstanten gemessen worden. Wir gehen aus von folgenden Daten, welche sich ebenfalls auf das für die Feme accommodierte Auge beziehen.

Geometrische and physikalische Konstanten

mm

Krümmungsradius der vorderen Homhautfläche Si yi Linsenfläche S^

hinteren 5j

Ort des vorderen Linsenscheitels 5,

Kerncentrums M

hinteren Linsenscheitels ^3

Axe der Linse

Brechungsindex der flüssigen Augenmedien . . . äufsersten Kortikalschicht . . des Kerncentrums M

n

19,75

r^

21,0

^3

13,0

d.

5,5

d, + b.

10,0

di + d.

18,5

d.

13,0

No

1,3350

^x

1,3830

Nrn

1,4458

* L. Matthiesskk, Beiträge zur Dioptrik der Krystalllinse 1. c. § 9 in fine. ' Berlin, Zeitschr. f. vergleich. Augenheilk. I. S. 17. 1882.

» KoscHEL, Ihid. n. S. 76.

* Klinoberg, Beiträge zur Dioptrik der Äugen einiger Haustiere. Progr. Güstrow. 1. 1888. U. 1889. IH. 1892.

* L. Matthiessen, Pflügers Arch. f. d. ges. PhysioL XIX. S. 545. 1879. Zeitschr, f. vergleich. Augenheük. V. 1887.

IHe zweiten Purkiiyeschen Bilder im schematischen u. im imrldichen Auge. 287

A. Das dioptrisch-katoptrisclie System mit homogener Linse.

a. Das Hornhautsystem. Aus den gemessenen Daten

r^ = 19,75, Nq = 1,3350 = n^

findet man die Brennweiten

f, = 59,00, 9), = 78,75.

b. Das Linsensystem. Die gemessenen Konstanten sind

r2 = 21,0, ^3 = 13,0, 6i = 4,5, 6^ = 8,5, dg = 13,0.

Das Inkrement des Index der Linse ist

1,4458-1,3830 _ '' 1,3830 ","*o*-

Mit Hülfe der dioptrischen Integrale findet man daraus den absoluten Totalindex der Linse

iV= 1,3830 (l + 2C + VsC» ^L±^) = 1,5100.

Die Brennweiten der vorderen Linsenfläche ergeben sich aus dem Krümmungsradius und ihrem relativen Lidex Wg = 1,1300, nämHch

f^ = 161,538, f^ = 182,538.

c. Das vor der Hinterfläche der Linse gelegene brechende System. Bezeichnen wir seine Brennweiten wie früher mit f und 5p', so erhalten wir

f = 40,593, 9)' = 61,225

und die Hauptpunktsdistanzen

Ha8^ = a^ = 1,382, JE?ß 5, = «, = 4,276,

288 Ludwig Matthiessen.

Der zweite Hauptpunkt liegt also vor dem ersten. Für das dioptrisch-katoptrische System mit homogener Linse sind Brennweite und Hauptpunktsdistanz

HF=f=r-j ^"'''^'^'

(9' - D,) (r, - y' + D,y

^ifl=«i' = -(/;+/;yi7— z:

(SP2 —^2)

(SP2 ^2) (/i SPi + ^1) ^2 9il

Hierin ist zu setzen r^ negativ und

D, =.H^8^ = a, + d, = 17,276, 9' - Dj = 43,949,

r3 9' + Dg = 56,949.

Daraus ergiebt sich die Brennweite und vordere Hauptpunktß- distanz des dioptrisch-katoptrischen Systems

f= 6,4545, «/ = 17,340.

Die Örter der Kardinalpunkte sind demgemäfs

5^5= 17,340, S^F= 10,885, S,K= 4,430.

Der Brennpunkt F liegt 5,385 mm hinter der vorderen Linsend fläche, der Hauptpunkt H 1,160 mm vor der hinteren Lönseii^ fläche.

B. Das dioptrisch-katoptrische System mit geschichteter Linse.

a. Das Hornhautsystem. Die Brennweiten sind wi^ vorhin

/; = _ 59,00, 9i = 78,75.

b. Das Linsensystem. Wir berechnen zunächst

a. Die Kernlinse oder die Linse bei Immersior^ in Kortikalsubstanz. Die Elemente sind wiedenmi

rj = 21,0, r3=13,0, &i = 4,5, 6^ = 8,5, f = 0,0454=^

Die zweiten Purkiiyeschen Bilder im schematischen u, im wirldicheii Auge. 289

Mit Anwendung der dioptrischen Integrale findet man die Brennweiten

f=^ = 90,472

und die Hauptpunktsdistanzen von den Linsenflächen

jBTj /Sg = «1,1 = 6,136, J3^ Äj = «2,1 = 6,626, = 0,238.

fi. Die Kombination der Kernlinse mit dem Kammerwassse r. Der relative Index der Kortikalsubstanz ist Wj = 1,03595 und die dioptrischen Elemente dieser Kombi- nation

/; = 584,06, yi = 605,06, —f^ = g>^ = 90,472,

D= S^ H^ = «1,1 = 6,136.

Daraus ergeben sich die Brennweiten und Hauptpunkts- distanzen

/= 76,649, 9 = 79,404, «i,^ = 5,198, «j,^ = 0,805.

Bezeichnet man die neuen Hauptpunkte mit J3i,i ^2,1, so ist nunmehr

-^in ^2 = «1« = 5,198, J?2,i 8^ = «2,1 -h «2,2 = 7,431.

c. Das vorangehende brechende System S^ S^. Die dioptrischen Elemente desselben sind

/i = 59,00, 9)2 = 78,75, ^ = 76,649, 92 = 79,404,

D = S^ ^1,1 = d^-\- 5,198 = 10,698.

Bezeichnen wir die Brennweiten wieder mit f imd 5p', so dindet man

f = 31,252, y' = 43,214,

HaS^ = a^= 4,362, H^ H^,^ = «2 = 5,870,

HaHß = = d^-{- d^-\- aj^ «2 «„1 «2,2 = 0,836.

In dem wirklichen Auge liegt also auch hier der zweite Hauptpunkt hinter dem ersten. Für das dioptrisch-katoptrische System ist wie früher

Zeitschrift fUr Psychologrie m. \^

290 Ludwig Matthiessen.

r, r y'

(y' - D,) (r, - y' ^- D,)

Eüerm ist nach dem Vorhergehenden zu setzen r^ negativ und

Dg = Zfß Äs = «2 + «2,1 + «2,2 = 13,302,

A = ^>l ^3 = «2U + «272 = 7,431,

n = 8^ ^1,1 = dl «1,2 = 10,698, 9)' 2), = 29,912, rg y' -h Dg = 42,912.

Daraus ergiebt sich

HF=f= 6fiS9, i/i5i = «i' = 18,261.

Die Örter der Kardinalpunkte sind demgemäfs

5^15=18,261, Si 2^= 11,422, S,K= 4,583.

Vergleichen wir diese Werte mit den in A. gefundenen, so ergeben sie das Resultat, dafs durch die Annahme der natür- lichen, geschichteten Linse die Kardinalpunkte des dioptrisch- katoptrischen Systems ebenso wie bei dem menschlichen Auge ein wenig nach hinten gerückt werden, und dafs die Brenn- weite vergröfsert wird. Der Brennpunkt F liegt 5,922 nun hinter der Vorderfläche und der Hauptpunkt H 0,239 mm vor der Hinterfläche der Linse. Ahnliche Verschiebungen gelten auch für die Kardinalpunkte des ganzen Auges; diese werden aber wie bei dem menschlichen Auge sämtlich ein wenig gegen die Hornhaut gerückt.^

^ Beiträge zur Dioptrik der Kry stalllinse 1. c. § 13 und § 15 in fine.

Die zweiten Purkir^eschen Bilder im schematischefi u. im wirkUchen Auge, 291

Die Bereclmuiig der Kardinalpunkte eines dioptrisch-

katoptrischen Systems.

H. V. Helmholtz hat zuerst eine Ableitung des Ausdrucks für die Brennweite gegeben.^ Man leitet die beiden Formeln am einfachsten ab auf Grund der folgenden drei Theoreme.

1. Theorem. Das System hat nur einen Hauptpunkt i/, welcher das Bild von der spiegelnden Fläche ist:

Fig. 1.

Es seien fi« -Sß (Fig. 1) die Hauptpunkte des vorangehenden brechenden Systems, S^ die erste, Sa die spiegelnde Fläche. Konstruiert man zwei symmetrisch zur Axe gelegene Strahlen von Sa nach jE und J^ so treten sie auch symmetrisch nach vorne aus in jE^ L^ und J^ ig, als wenn sie aus demselben Punkte J5r kämen. JT ist also das Bild von Sa, Umgekehrt tritt der gegen H gerichtete Strahl L^ H nach der Reflexion in Sa so aus dem Systeme nach vorne in J^ L^ wieder aus, als wenn er von H käme. Dies ist aber charakteristisch für die Hauptpunkte.

2. Theorem. Das System hat nur einen Knotenpunkt -ZT, welcher das Bild des Centrums G der spiegelnden Fläche ist.

I,

Fig. 2.

* AuBERT, Physiologische Optik; in: Handbuch der ges, Äugenheilk. von Graefe und Saemisch. Bd. U. S. 433.

19*

292 Ludwig Matthiessen.

Konstruiert man einen Centralstrahl C B (Fig. 2), so tritt er in B^ L^ nach vorne aus, als wenn er aus K käme; K ist also das Bild von G, Es hat aber K die bekannte Eigenschaft der Ejiotenpunkte , welche Punkte parallelen oder gleichen Durchganges sind, denn ein gegen K gerichteter Strahl £, K geht von B nach C, wird darauf von der Fläche Sa wieder nach G reflektiert und tritt wieder auf demselben Wege aus dem Systeme nach vorne aus.

3. Theorem. Das System hat nur einen Brennpunkt, welcher zwischen H und K in der Mitte liegt.

Für jedes System ist nämlich y = nf. Sind a Flächen vorhanden, von denen die letzte spiegelt, so repräsentiert das dioptrisch-katoptrische System ein solches von 2a 1 Flächen, worin

Dabei ist für die spiegelnde Fläche = 1 und femer

1 1 1

Wa-i Wa-2 ^1

Folglich ist y = /*, d. h. die Brennweiten sind nach Grölse und Lage gegen den Hauptpunkt dieselben. Da nun immer die Hauptpunkte und die Knotenpunkte symmetrisch zu den Brennpunkten liegen, so liegt hier der Brennpunkt in der Mitte von beiden, also ganz so wie bei einem sphärischen Spiegel vom Radius Qa, so dafs man hat f= ^1% Qo, Demnach ist Qa = HK das Bild von Sa C=ra, welches sich auf folgende Art leicht berechnen läfst.

Sind bezüglich der Hauptpunkte fl« J3ß des vorangehenden brechenden Systems Xq und x^ die Abscissen zweier konjugierter Punkte H und Sa, t^ und t^ die Abscissen zweier anderer kon- jugierten Punkte K und C bezüglich H und Sa, so ist be- kanntlich

{f - ^o) (y' - ^i) = f 9-',

fi'—^o I 9' ^x 1 1 ' 1 ""

Daraus folgt

Die zweiten Purkinjeschen Bilder im schemaUachen u. im wirklichen Auge. 293

h <i 5P' + ^i W ^i) {h 5P' -h «i)* Nim ist t^ = r«, t^ = Qa, Xi = D,, also

,.. ^ _f Vi r. /" y'

Es ist noch die vordere Hauptpunktsdistanz nSj^=^ai' oder der Ort des Bildes von Sa zu suchen. Sind also wieder x^^ und x^ die Abscissen beider Punkte bezüglich JT« nnd fifp und die Hauptpunktsdistanz des brechenden Systems, also JT« ^i = «i^ so ist

^'+^=1

"^0 ^1

und weiter

folglich

^1 ^l ^0? '^l -^2»

«1 = «1 + -7

SP A

Ist das System ein dreiflächiges ä^ /S'g, wie im schematischen Auge, so ist

/2 SPi + »j /2 SPi + ^1

fi _ fiU , . _ SPl SP2

^2 9l+^l ' /i yi + d/

Pur diesen FaU erhält man also

(2) a,^ = ^Uj^f^^ ,M/"~\ä\ f \

\ m «2) \fi 9i + »1) ^2 9%i

Folgt auf die erste Fläche ein zusammengesetztes System mit den Hauptpunktsdistanzen D und D^ von der ersten und der letzten spiegelnden Fläche, so wird sein

(3)

«.' - (/i 4- /i 9r [y,-B,){fl-^, + I))-f,9)

= f (y«--P.)-P -/;!>' ^My. - A) (y. - 1>^

294

Ludwig Matihiessen,

Für konsekutive Systeme höherer Ordnung mit lauter sphärischen Flächen bedient man sich zur Berechnung am ein- fachsten der Kettenbruch-Determinanten, und zwar entweder nach der Methode von Brockmann* oder mittelst Berechnmig des vorangehenden brechenden Systems.

Ist a 1 die Anzahl der sphärischen Flächen des voran- gehenden Systems und die Determinante der sekundären Fokal- interstitien

12 ^i

-Ra-2 =

Tu 2 ^^ « ~ 2

SO ist Jm = fm-iri <Pm-[- ^m UUd

/y __ t\f% ' ' tu 1

JRa-2

Wir fanden früher

SP

üa-2

2

f=TD

V2 Ta r y'

(9)'-D«_,)(r«-y'-f D_J-

Nun ist

V2ra y' +!) = /•« y' + 2)«_,=

und

Ha 1 e/« _ j Ha 2 I # «— 1 1 "^w S*

Man kann demnach die Brennweite auch darstellen in d^^ Gleichung

'2 / 1 Tl /2 9^2

w /•=

[(J«_l V2r„ )-Ba-2 +/«-! SPa-i -Ba-3]

/;-,ya-i(-l)"-^

[(Ja-i -j- V2^o )-Ra-2 + - 1 ~ 1 -^a - sl

X

Die vordere Hauptpunktsdistanz des vorangehenden brechende Systems ist

* Beockmann, Inaug.-Diss. Rostock 1887. Man vergl. auch Schl^-^ milchs Zeitschr. f. Math, u. Phys, XXXII. (1887).

Die zweiten Piirkinjeschen Bilder im schematiscJien t«. im wirklichen Äuge. 295

«.=/'-(/i

+

/; 5P, SBa-

Ra f 3«7i

r)

Tind die vordere Hauptpunktsdistanz des dioptrisch-katoptrischen Systems

Gemäfs einer Eigenschaft der Kettenbrüche ist nun

mithin wird

3Ita-sl

(5) <=-/;+A9>,

9 7?

i^u-i ) 3^p + A-i SPa-i -^

oder in Determinantenform

«/= /i /iSPi

«^2 SP3 "/3 ^'a

"/i «^2

(Ja-^-ira)

Ist a = 2 (erste PiTRKmjEsche Bilder), so erhält man aus (4) und (5)

V2 r^ fi SPi

f

(J, - «A r,) (J, + r,)

«1- \n i- j-^ _ 1/, ^ J y^_^^-

Ist a = 3 (zweite PoRKiNJEsche Bilder), so ergiebt sich aus (4) und (5)

»'s /i iPi ft

f=

((./, - V2 r,) Jj + A 9>, } ((J, + r,) J-, + f, y, }'

«1' =-{/;+ /; Vi (j-^ _ V, r,) j/l ^, J-

296 Lttdwig Matthiessen.

Die Gleicliuiigeii (4) und (5) enthalten die allgemeinste Lösung für die Berechnung der Kardinalpunkte eines beUebigen dioptrisch-katoptrischen Systems unter den bekannten Gauss- schen Beschränkungen. Kommen in diesen Systemen anisotrope Systeme gleicher Art vor, wie z. B. die Linse im Auge, so bedarf es, wie oben gezeigt worden ist, der Einfuhrung der dioptrischen Litegrale.

Besprechungen.

William James. The principles of Psychology. London, Macmillan & Co., New York, Holt & Co. Vol. 1, VII und 689 S., Vol. 2, VI und 704 S.

Das vorliegende Werk enthält 28 teils gröfsere, teils kleinere Kapitel, von denen manche ein mehr oder weniger veränderter Abdruck von Abhandlungen sind, die früher in Zeitschriften erschienen waren. Der Autor erzählt: das Buch, dessen aufsergewöhnliche Länge er selbst bedaure, sei wesentlich im Zusammenhang mit seinen TJniversitätsvor- lesungen entstanden. Jene successive Veröffentlichung einzelner Stücke aber sei die Folge seiner langsamen Entstehung gewesen. Ohne diese Bemerkung der Vorrede hätte der Leser leicht auf die Vermutimg kommen können, dafs von Anfang nicht eine Behandlimg der gesamten 'Psycho- logie im Plane des Autors gelegen, imd er vielmehr eine Reihe mehr oder weniger unabhängig voneinander entstandener Aufsätze nachträg- lich gesammelt, ergänzt und zu einem, ziemlich alle Fragen des Gebietes umfassenden Ganzen redigiert habe.

J.'s Werk macht nämlich in mehrfacher Beziehung den Eindruck^ als ob es nicht aus Einem Gusse sei. Vor allem ist kein völlig syste- matischer Aufbau weder nach einem mehr didaktischen noch nach einem streng wissenschaftlichen Plane darin erkennbar. Die Folge der Materien in den Kapitebi (und die Kapiteleinteilung ist die einzige, die äufserlich zu Tage tritt) erscheint als eine ziemlich lockere. Ja, sie verblüfft nicht blofs den Leser, sondern bringt auch den Autor selbst zuweilen sichtlich in Verlegenheit. Einheitlich ist das Werk sodann auch in dem Sinne nicht, dafs die verschiedenen Fragen der Psychologie nicht durchgängig eine ihrer Wichtigkeit und dem heutigen Stand der Forschung ent- sprechende und gleichmäfsig ausführliche Berücksichtigung finden. (Und damit meine ich nicht blofs, was der Verfasser selbst in der Vorrede zugesteht, dafs dem Gebiete der Gefühle (Lust und Schmerz) keine irgendwie eingehendere Behandlung zu teil wird.) Endlich läfst das Werk auch insofern einen einheitlichen Charakter vermissen, als die Höhe seiner wissenschaftlichen Haltimg nicht in jeder Bichtung und in allen Teilen dieselbe ist und es in diesem Sinne nicht überall für ein und dasselbe Publikum geeignet erscheint. Des Verfassers gründliche Gelehrsamkeit und eindringender Scharfsinn einerseits und sein ent- schiedenes Talent für anschaulich-populäre Darstellung haben sich nicht

298 Besprechungen.

zu einer harmonischen Ehe gefunden. Sie führen vielfach einen getrenn- ten Hausstand nebeneinander, und so erfahren manche Fragen eine nach meiner Meinung allzu populäre und ans Feuilleton streifende Art der Behandlung. Mit Partien, die in trefflicher Weise das in Bezug auf ein Problem bisher Geleistete resümieren und eine beachtenswerte selbst- ständige Diskussion bieten, wechseln andere, die zwar den phantasievollen und sprachgewaltigen Essayisten, aber weniger den Forscher James zeigen. Doch genug von diesen Mängeln! Sie hindern nicht, dafs das Buch Gutes, ja mitunter Vorzügliches enthalte, und was der Verfasser bewahrheitet sehen möchte: Wer vieles bringt, wird vielen etwas bringen das darf er mit Kecht von ihm erwarten.

Zwar für den Anfänger und zur ersten Einführung in das wissenschaftliche Studium der Psychologie scheint es mir nicht passend, aus Gründen, die zum Teil in dem bereits Gesagten liegen, zum Teil noch aus späteren Erörterungen sich von selbst ergeben werden. Dagegen müssen manche Ausführungen des Buches den Fachmann interessieren. Andere werden Demjenigen eine anregende und genuls- reiche Lektüre sein, der eine mehr populäre Behandlimg psychologischer Fragen wtlnscht. Den letzteren möchte ich besonders auf solche Partien aufmerksam machen, wo der Autor mit edler Wärme und mit einer anschaulichen Kraft des Ausdrucks, die einem Dichter nicht Unehre machen würde, wissenschaftliche Lehrsätze in ihrer Anwendimg auf Ethik und Pädagogik darstellt.

Wir geben im folgenden erst eine Inhaltsübersicht der Kapitel wo wir uns freilich erlauben, bei manchen Materien etwas mehr zu ver- weilen, als bei anderen; nachher müssen gewisse methodische Grund- anschauungen des Buches, die, weittragend in ihren Folgen, vor anderen für seine Art die Probleme zu stellen und zu lösen bestimmend sind, kritisch zur Sprache Jcommen.

I. Das I., verhältnismäfsig recht kurze Kapitel handelt von den Aufgaben der Psychologie, ein Pimkt, auf den wir zurückkommen werden. Das II. und III. geben eine gute, nur für die Zwecke des Buches wohl zu ausführliche Übersicht über [den gegenwärtigen Stand der Gehirnphysiologie. Das IV. Kapitel, von der Gewöhnung, ent- hält neben hübschen Winken für die Ethik und Pädagogik vornehmlich eine physiologische Theorie des Gegenstands. Das V. (Automaton- Theory) hat jene Anschauung im Auge, wonach alle Kräfte und aller kausale Verlauf in ims rein mechanisch wäre, so dafs das Psychische nur die Rolle eines Epiphenomenon (eines Schattens oder müfsigen Zuschauers) spielte, dem jedes Vermögen zum Wirken abginge. Der Verfasser ent- scheidet sich gegen sie, nachdem er die Gründe für und wider (nur die letzteren vielleicht nicht in erschöpfender Weise) aufgeführt hat Das VL Kapitel (The Mind-stuff Theory) bringt incidentell alles Namhafte zur Sprache, was zu Gunsten der Annahme unbewufster psychischer Zustände vorgebracht worden ist, und lehnt sie seinerseits entschieden ab. Das Hauptaugenmerk ist aber gegen den Versuch gerichtet, unser einheitliches Bewußtsein als ein Kollektiv aus „kleineren Einheiten" aufzufassen und aus einer realen Vielheit von Bewufstseinsstäubchen

Besprechungen. 299

seien diese nun bewufst oder unbewufst) zu konstruieren. Die falschen Analogien, die dabei beliebt sind (wie die vom Kräfteparallelogramm) und andere Unklarheiten wie, wenn man dabei das Gehirn je nach Bedarf bald als eine Vielheit von Realitäten, bald als eine Einheit auf- fafst (um dann von seiner Thätigkeit, wie derjenigen Eines Dings sprechen zu können) erfahren eine scharfe Beleuchtung. Etwas unsanft werden die bezüglichen Seiten der SpENCEBschen Evolutionsphilosophie mitgenommen, denen freilich auch der objektivste Kritiker einen lockeren und vagen Charakter nicht absprechen kann. Was J.'s eigene positive Anschauung über den Träger unseres Bewufstseins betrifft, so ist mit den Ausführungen des VI. auch eine Partie des X. Kapitels zu ver- gleichen. Das vorliegende verweist, nachdem es sowohl die Annahme abgelehnt hat, dafs das Gehirn, als Ganzes betrachtet, der einheitliche ,,Denker" sein könne, als diejenige, dafs einer einzelnen Zelle oder einem Atom desselben diese Funktion zukomme (letzteres erscheint ihm mit Rücksicht auf anatomische und pathologische Erfahrungen nicht annehm- bar), auf die Lehre von einer immateriellen Seele, als eine Hypothese, welcher von dieser Seite eine respektable logische Position zukomme. Das X. Kapitel findet jedoch, die Annahme einer geistigen Seelensubstanz erkläre nichts (d. h. wohl wenn der Widerspruch vermieden werden soll nichts Weiteres). Sie sei überdies eine metaphysische Angelegen- heit, die den Psychologen als solchen nichts angehe. Der letztere müsse auf dem empirisch phänomenalen Standpimkte bleiben, und da könne nur der jeweilig gegenwärtige Bewulstseinszustand selber als Bewufstseins- träger gelten. The passing Thought itself isthe only verifiable Thinker (I. S. 34fj). Auf den Inhalt des kurzen VI. Kapitels (Methode und Schwierigkeiten der Psychologie), das seinen Gegenstand keines- wegs erschöpft, kommen wir teilweise unten noch zu sprechen ; hier sei nur erwähnt, dafs J. die Möglichkeit, ein gegenwärtiges psychisches Phänomen zum Gegenstand der Beobachtung zu machen, schlechterdings m Abrede stellt. Jede Beobachtung finde nachträglich und in der Er- innerung statt. Ja, der Verfasser geht so weit, zu erklären: „Kein Bewufst- seinszustand ist, während er gegenwärtig ist, sein eigenes Objekt; sein Objekt ist immer etwas Anderes". Doch haben wir dies wohl nur als einen, dem Eifer des Gefechtes entsprungenen ungenauen Ausdruck anzusehen. Denn kurz zuvor hatte J. wenn ich nicht alles mifsverstehe Brentanos wichtige Unterscheidung zwischen innerer Beobachtung und einfacher Wahrnehmung anerkannt. Auch stände jener Satz, wörtlich verstanden, in direktem Widerspruch mit seiner Bekämpfung der Annahme von unbewufsten psychischen Zuständen (oder sind damit nicht eben Zustände gemeint, die blofs ein Bewufstsein von etwas Anderem und nicht zugleich ein Selbstbewufstsein wären?). Allein auch die Behauptung, dafs wir uns beobachtend niemals einem gegenwärtigen psychischen Phänomen zuwenden könnten, hat J. nicht bewiesen 'und mit den That- sachen dürfte es besser stimmen, wenn man die Möglichkeit einer Be- obachtung gegenwärtiger psychischer Zustände nicht so unbedingt und ohne jede Einschränkung leugnet.

Das Vni. Kapitel führt die Aufschrift : Relationen des Geistes

300 Besprechungen.

(rnind) zu anderen Dingen. Doch wird statt dessen sofort auch gesagt: zu anderen Objekten. Und die Äquivokation, die in diesem Worte liegt, indem es bald eine vom Bewufstsein unabhängige Wirklich- keit, bald ein Korrelat des Bewufstseins (den Inhalt desselben) bezeichnet, ermöglicht es dem Verfasser, unter dem obigen Titel eine Reihe von Prob- lemen zu behandeln, die man sonst nicht beisammen suchen würde : nftm' lieh neben der Frage nach der Zahl der fundamental verschiedenen Weisen unseres bewufsten Verhaltens zu Objekten auch die ganz andere (die aber von der vorigen nicht klar geschieden wird vgl. auch Kap. X. S. 271 jßf.), ob unser Bewufstsein Wirkung und Zeichen sogen, äulserer Realitäten (anderer Geister imd materieller Dinge) sei, und weiter die : in welchem Verhältnis unsere Seelenzu stände zum Kaum (Seelensitz) und zur Zeit stehen (m. a. W., ob das Bewufstsein jemals eine völlige Unter- brechung erfahre). Das IX. Kapitel (The Stream of Thought) will mit dem Studium der Seele „von innen" den Anfang machen, und zwar zunächst etwas wie eine Kohlenskizzo des inneren Lebens bieten, welche nur die Züge, die dem Strome des Bewufstseins als Ganzem charakteristiscli sind, hervorheben soll. Unter diesen Eigentümlichkeiten betont J. insbe- sondere, weil sie vielfach verkannt worden seien, den beständigen Wechsel im Bewufstsein und seine Kontinuität, und im Zusammenhang mit der Lehre von der Kontinuität stellt er eine ganz neue Scheidung der psychischen Zustände in Substantive und transitive states au£ Beide Punkte müssen uns später eingehender beschäftigen.

Das X. Kapitel (Vom Selbst bewufstsein) enthält aufser einer strengeren Untersuchung über das „reine Selbst oder das innere Prinzip der persönlichen Identität" (wo neben der „assoziationistischen Theorie* D. HuMES und der „transcendentalistischen" Kants die Lehre von einer im- materiellen Seele nochmals zur Sprache kommt vgl. Kap. 6), eine ganze Reihe mehr populärer Ausführimgen über das sog. materielle, soziale und geistige Selbst, über Selbstgefühle (Befriedigung und Unbefriedigung), Selbstliebe und Selbsterhaltung u. s. w. Unter anderem wird hier auch die Frage aufgeworfen, was das seif of all the other selves sei und dahin entschieden, es sei dies das „centrale aktive Selbst", wobei unter Aktivität oder Spontaneität das zustimmende und verwerfende Verhalten der Seele zu den vorgestellten Objekten verstanden wird aber in doppeltem Sinne, nämlich sowohl indem des urteilenden Anerkennens und Leugiiens, als in dem des Vorziehens und Ablehnens durch Ge- müt und Wille. Diese ganze Unterscheidung zwischen einem centralen und weniger centralen Selbst hat meines Erachtens geringen wissen- schaftlichen Wert. Und wenn J. die weitere Frage, wie der „centrale Teil des Selbst" wahrgenommen werde, in ähnlicher Weise wie Wündt dahin zu beantworten geneigt ist, dafs das Gefühl dieses innersten Selbst, sorgfältig untersucht, sich als eine Summe von Bewegimgsempfindungen im Kopf und zwischen Kopf und Kehle erweise, so sehen wir ihn offenbar auf bestem Wege, gänzlich zu ignorieren, dafs es noch andere Anschauungen giebt, als solche von physischen Phänomenen. Ein Versehen, das freilich auch anderwärts noch recht auffällig bei ihm «u Tage tritt. (Vgl. z B. 11, S. 7 u. 8; 455 u. ö.) Die volle Konsequenz

Besprechungeil, 301

davon zieht er freilich so wenig, wie Wundt. Sie wäre keine geringere, als ehrlich und ein für allemal alles Gerede von consenting und ab- negating, welcome und reject, wish, desire, interest u. s. w. als sinnlos aufzugeben. Aus Anschauungen physischer Phänomene (Bewegungsgefühlen u. dgl.) haben wir diese Begriffe sicher nicht gewonnen. Und wenn es keine anderen Anschauimgen giebt, woher sollen wir sie denn, und mit ihnen den Begriff des aktiveren Selbst, wie er uns anfänglich von J. vorge- führt wurde, überhaupt haben? Schliefslich bespricht das (über 100 Seiten) ausgedehnte Kapitel auch noch eingehend die mannigfachen „Alterationen des Ich" und die namentlich von französischen und amerika- nischen Forschern neuester Zeit beigebrachten Thatsachen über sog. doppeltes und mehrfaches Bewufstsein. Das XI. Kapitel handelt von der Natur und den Gesetzen der Aufmerksamkeit (vgl. damit auch Partien des XTTT., XXI. und XXVI. Kap.). Der Autor sieht das Wesen ^ dieses Vorganges in der Adaptation der Sinnesorgane für einen Eindruck imd in einer gewissen Vorbereitung der bezüglichen „ideationalen Oentren*', d. h. in einer anticipatorischen, dem Eindruck „entgegen- kommenden" , ihn „erhöhenden" Phantasiethätigkeit (Inward repro- duction I, 504. Formation of a separate image 503. The image in the Mind i s the attention I. 442.) Diese Beschreibung dünkt mich einseitig ; sie hat offenbar ausschliefslich die sog. sinnliche Aufmerksamkeit im Auge. Auch die „Rölationsgefühle" und Begriffe aber, die J. (wie wir noch hören werden) zu allen sinnlichen Bildern als etwas wesentlich davon Verschiedenes in Gegensatz bringt, können doch von Aufmerk- samkeit begleitet sein! Und wie, wenn er später geradezu den Willen, ja auch das Glauben oder Urteilen mit der Aufmerksamkeit identi- fiziert? Soll jedes Wollen imd jedes „Glauben" in einer pre- perception, in der Bildung eines separaten sinnlichen Bildes (image) von dem Gegenstand bestehen? Das XII. Kapitel (Conception) bekämpft den Nominalismus von Berkeley, der beiden Mill u. a., ohne freilich etwas Befriedigendes an die Stelle zu setzen, wie wir noch sehen werden. Auch klingen die Schilderungen, die der Verfasser selbst hier und anderwärts (vgl. z. B. I. S. 265 ff.) von den Denkvorgängen giebt, oft nominalistisch genug. Das Xm. Kapitel, eine Erörterung des Wesens und der Gesetze der Unterscheidung und Vergleichung, dürfte mancherlei Widerspruch finden. Hier nur die Erwähnung, dafs u. a. auch Webers Gesetz (für welches J. eine rein physiologische Deutung als die wahrscheinlichste ansieht) und die Aufstellungen zur Sprache kommen, welche Fechker darauf gegründet hat. Dabei setzt uns in Erstaunen, dafs der Verfasser, der die psychologische Forschung heute schon durchgängig und damit wohl in weiterem Umfange, als der Stand der Dinge verträgt psychophysisch machen möchte, doch gerade die- jenige Li tteratur, welche der Streit um Fechners „psychophysisches Gesetz" mit sich brachte, „schrecklich" fdreadful) findet und jene FECHNERSche Formel selbst, die doch wohl als ein erlaubter Versuch eine den That- sachen genügende Hypothese zu finden, gelten darf, zu den idola specus, wenn es je deren gegeben habe, rechnen will. Das XTV. Kapitel (Asso- ziation) enthält historisch und sachlich Treffliches. Doch nicht, ohne

302 Besprechungen.

dafs die historische Darstellung ungerechte Vorwürfe gegen die sog, Assoziationspsychologie enthielte (Vgl. auch Kap. X, XIT und Xlll.) Wir werden darauf zurückkommen. In sachlicher Beziehung ist namentlich be- achtenswert, dafs J. das sog. Gesetz der Ähnlichkeit als besonderes Gesetz streichen will und den eigentlichen Grund aller Ideenassoziation in dem Gesetz der Gewohnheit sucht. Wir sind in der Hauptsache mit diesem Gedanken, der schon bei Aristoteles angedeutet und in neuerer Zeit von Fr. Brentano klar ausgesprochen worden ist ^, einverstanden, obschon uns die Art, wie J. die Fälle der „Assoziation nach Ähnlichkeit^^ auf sein all- gemeines Prinzip zurückführen will, nicht völlig befriedigt. "Wenn er weiter betont, dafs die Grundgesetze der Ideenassoziation psychophysische seien, so sind wir auch darin mit ihm einig. Aber was er selbst als etwas Der- artiges bietet, scheint mir wenig Anderes zu sein, als eine Übersetzmig der auf dem Wege psychologischer Beobachtung gefundenen empirischen Generalisationen in die Sprache einer noch recht vagen Gehimphysiologie. Das XV. Kapitel („Z eitwahrnehmun g") giebt sich Mühe, dem Leser den unterschied zwischen der eigentlichen (unzweifelhaft sehr engen) Zeitanschauung (duration intuitively feit; specious present) und den uneigentlichen Vorstellimgen einzuschärfen, die wir uns von gröl^eren Zeitstrecken bilden. Doch scheint mir der Verfasser weder die wahre Natur der ersteren völlig richtig zu erfassen, noch ihre Grenze genügend in die Enge zu ziehen. Letzteres nicht blofs, weil er auch ein Stück Zukunft dazu zu rechnen scheint* (wo von wir in Wahrheit sicher keine Anschauung haben), sondern weil er überhaupt aus den Versuchen Wundts und anderer über den Umfang imseres Bewufstseins für successive Eindrücke voreilige Schlüsse ziehend den Betrag der „unmittelbar wahrge- nommenen^ Dauer erheblich zu hochj nämlich bis auf ca. 12 Sekimden schätzt. Das XVI. Kapitel handelt vom „Gedächtnis". Im XVII. Kapitel (über die „Sensationen") finden die Farbenemp findungen dieausführ- liebste Erörterung, insbesondere die Kontroverse über die Natur des simultanen Kontrastes, die auf Grund von Herings eingehenden ünte^ suchungen und in seinem Sinne entschieden wird. Ein Versuch zu einer exakten Klassifikation der Empfindungen vom deskriptiven Gesichts- punkte wird nicht gemacht, ja eigentlich als unmöglich angesehen. Es giebt nach J.^s Grimdsätzen keine introspektive Analyse von Empfindungen. Sie sind phänomenal alle gleich einfach. Zusammensetzimg hat nur genetisch einen Sinn. Wir müssen hierauf zurückkommen. Das XVIII. Kapitel (Imagination) legt das gröfste Gewicht auf den Nachweis, dafs die „Phantasie" bei verschiedenen Individuen durchaus nicht etwas Gleich- artiges, sondern ihr bildlicher oder anschaulicher Gehalt sowohl graduell als qualitativ (Vorherrschen des visuellen, audiblen Typus u. s. w.) sehr verschieden beschaflPen sei. Von den Hallucinationen handelt merk- würdigerweise das folgende Kapitel: XIX. (The perception of things). Der Verfasser versteht unter perception dasselbe, was

^ Vgl. dessen im Jahre 1880 gehaltenen Vortrag über das „Genie" Leipzig 1892.

* Vgl. I S. 606.

Besprechungen. 303

deutsche Psychologen (äufsere) „Wahrnehmung" im Gegensatz zu Empfindung genannt hahen, nämlich ein zusammen gesetztes Produkt von Erfahrungen. * Dafs es sich dahei um unbewufste Schlüsse handle, lehnt er mit Recht ab und betont statt dessen die Wirk- samkeit der Assoziation. Doch scheidet er meines Erachtens und dies gilt namentlich auch von den verwandten Ausführungen des folgen- den Kapitels nicht genügend zwischen dem, was bei dem Einflufs früherer Erfahrungen auf die „Perception" gegenwärtiger Eindrücke wirklich als eine Umbildung der anschaulichen Vorstellung, und dem, was blofs als Sache veränderter Beurteilung zu fassen ist. Der wahren Natur und Tragweite der letzteren Vorgänge scheint mir J. nicht gerecht zu werden. Von den Sinnestäuschungen, die in diesem Abschnitt auch zur Sprache kommen, werden mehrere Typen unterschieden. Das XX., sehr ausführliche (11. S. 134 282) und von grofser litterarischer und sachlicher Detailkenntnis zeugende Kapitel über die Raumwahr- nehmung giebt zum Schlüsse eine gute Übersicht über den Streit um die psychologische Natur und den Ursprung der Raumvorstellung seit Berkeley; insbesondere über die Diskussion zwischen den Lagern der sogenannten Nativisten und Empiristen. J. macht dabei die richtige Be- merkung, dafs wohl bei manchem, der dem Kern der Erörterung femer steht und selbständigen Urteils ermangelt, diese beiden Namen, wovon der eine fortschrittlich, der andere etwas rückchrittlich klingt, präjudi- zierend wirken. Wozu noch komme, dals man den Nativismus gerne mit Apriorismus und speziell mit Kants Anschauung verwechsele, während in der That Kant mit seiner Scheidung des Ursprungs von Raum und Qualität dem Nativismus, wie ihn etwa Hering xmd Stumpf vertreten, ganz ferne steht. J. selbst ist Nativist und erklärt, in der Bildung seiner bezüg- lichen Anschauungen namentlich durch die ebengenannten Forscher ge- fördert worden zu sein. Wie sie, erklärt er Raum xmd Qualität fiftr gleich ursprüngliche und unzertrennliche Empfindungsinhalte, will aber damit nicht leugnen, dafs trotzdem die Erfahrung bei unserer Aufi^assung der räumlichen Verhältnisse eine grofse Rolle spiele. Hier kann nun freilich, auch wer im Prinzip ganz mit dem Autor einig ist, anders darüber denken, wieviel an dem, was wir populär unsere „Raumanschauungen" nennen, thatsächlich Sache anschaulicher Vorstellung ist, sei es ursprünglich („Empfindung**), sei es infolge wirklicher Umbildung der Empfindung durch die „Phantasie« und wieviel blofs Sache uneigentlicher Vor- stellung und wechselnder Beurteilung. J. möchte doch die beiden erster en Momente (sensations und imagined sensations) zu hoch ange- schlagen haben. Mancher wird sich vielleicht auch an mifsverständliche und weniger glückliche Ausdrucksweisen stofsen, wie wenn (S. 145 flf.) von Raum ohne Ordnung die Rede ist und öfter (S. 154, 158, 164) gesagt wird, ein Raumpunkt für sich allein habe keine Position; seine Position werde geschaffen durch die Existenz anderer Punkte, zu denen er in Beziehung stehe! Heifst dies: Die Orte seien nichts Anderes als Rela-

* Doch ist die „Zusammensetzung^^ nach ihm nur uneigentlich zu verstehen, wie wir noch hören werden.

304 Besprechungen.

tionen (also Relationen ohne das Fundament absoluter Bestim- mungen!)? Oder soll blofs gesagt sein, ein Punkt kJnne nur im Zu- sammenhang mit unzähligen anderen (mit einem Oontinuam) sein und vorgestellt werden ; so dafs mit einer absoluten örtlichen Bestimmung immer notwendig eine Vielheit solcher und somit auch örtliche Bel^ tionen gegeben sind? II., S. 171 wird die angeschaute Bewegung für eine elementare und spezifische Empfindungsqualität (a primitive form of sensibility) erklärt, die sich nicht aus dem „Sinn für Position" und dem Sinn für Zeitfolge (welche beide viel weniger fein seien, als „der Sinn für Bewegung") ableiten liefse. Aber die Argumente, die dafür an- geführt werden, sind keineswegs beweisend. Die Täuschung, in der uns hier der Verfasser befangen scheint, hängt zum guten Teil mit dem Mangel an Klarheit über die wahre Natur des „Zeitsinns" zusammen. Doch wir müssen abbrechen.

Das XXI. Kapitel (Perceptionofreality), das ich zu den schwächsten des Buches zählen mufs, will die Natur des ürteilens oder Glaubens (belief) und die Gesetze seines Entstehens untersuchen. Doch gelingt weder das eine noch das andere in irgend befriedigender Weise. Vorab mufs die Beschreibung imd Charakteristik des Phänomens eine schier chaotische genannt werden. 11., S. 286, 87 bezeichnet J. dasselbe unter beifälligem Hinweis auf Beentangs Opposition gegen die bisherige Urteils- lehre — als einen Bewufstseinszustand sui generis. Doch das sui generis scheint nur dem Vorstellen (conception) gegenüber gemeint. Denn ander- wärts nimmt der Verfasser keinen Anstand, den Glauben bald für eine Emotion zu erklären bald vollständig mit dem Willen zu identifizieren (320 £f.) Ja! auch daran hindert ihn obiger Ausspruch nicht, zu finden, HuME habe wesentlich das Richtige getroflPen, indem er sagte: that belief in anything was simply the having the idea of it in a lively and active manner (295). Und wiederum werden sowohl Hüme wie Brbk- TANO verlassen, wenn S. 287 wie als etwas Selbstverständliches und nie Angefochtenes das alte Dogma erneuert wird, dafs zu jedem Urteilen oder Glauben wesentlich eine Verbindung von Vorstellungen (Subjekt und Prädikat) gehöre. Danach wird man sich nicht wundem, wenn J. auch darin ohne jedes Bedenken wieder der Tradition folgt, dafs er trotz Brentanos überzeugendem Nachweis, wie der Begriff der Existenz gleich dem der Wahrheit durch Reflexion auf das (richtige und bejahende) Urteil entstehe ihn umgekehrt und vermöge eines offen- kundigen Hysteron-proteron zur Definition jenes Phänomens verwendet. Sieht man zu, was denn nach unserem Autor der Gehalt des viel müs- handelten Begrifi'es sein soll, so bemerkt man sofort, dafs er ihn mit dem ganz anderen Begriffe des Realen verwechselt. ^ Reality und existence bedeutet ihm völlig permiscue bald das Existierende (d. h. richtig verstanden: alles, was mit Recht anerkannt werden kann, im Gegensatz zum Falschen), bald das Reale (d. h. das Sachhaltige im Gegensatz zu etwas, was ein

^ Vgl. über beide Begriffe Brentano, „Vom Ursprung sittlicher Er- kenntnis," S. 64, und meinen 2. Artikel „Über subjektlose Sätze" u. s. w. in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Niilosophie VIII, S. 169 ff.

Bespredmngen, 305

blofser Mangel, eine blofse Möglichkeit, ein blofs Vorgestelltes u. s. w. ist). Die Folge davon ist sofort, dals er den Umstand, ob das mit Recht Anerkennbare ein Reales oder Nichtreales (z. B. ein Pferd oder ein blofs vorgestelltes Pferd) ist und die Unterschiede des Realen unter- einander als Differenzen in der Weise der Existenz fafst. Doch dies bat er mit vielen gemein. Aber etwas Anderes ist ihm eigentümlich : er vermengt die Begriffe real und existierend nicht blofs untereinander, sondern auch noch mit einem Dritten und Vierten. Nennt er doch real und existierend auch alles, was thatsächlich wenn auch ganz un- berechtigt — von irgend jemand anerkannt wird, so lange es Gegenstand des Fürwahrhaltens oder (was dasselbe sein soll) der Aufmerksamkeit ist; ja denn das soll nach J. abermals identisch sein alles, was thatsächlich jemandes Interesse erregt, so lange es dies thut. Dadurch bekommt er neue und schliefslich unzählige „Weisen der Existenz". Es giebt nämlich, wie sich herausstellt, nach ihm vor allem so viele Welten, each with its own special and separate style of existence, als man vom deskriptiven und genetischen Gesichtspunkte allgemeinere und speziellere, ja speciellste und nur in Einem Individuum verwirklichte Klassen des Glaubens und Wahns imd des Geglaubten und Gewähnten unterscheiden kann; von den „Welten" der idola tribus und denjenigen eines ganzen Zeiten und Völkern gemeinsamen religiösen Glaubens an- gefangen bis zu den unzähligen Welten der individuellen Meinungen und des Irrsinns, Alles ist „real", nur jedes after bis own fashion. Das Interesse, das J. mit dem Glauben identifiziert, trägt dann mit all seinen Differenzen (ästhetisches, praktisches u. s. w.) überdies zur Vermehrung der ,,Existensweisen" bei. Und indem der Verfasser beim Interesse mit Recht, bei der Überzeugung mit weniger Berechtigung etwas wie Intensitäts- grade unterscheidet, kommt er dazu, auch noch allen Ernstes von einem Unterschied zwischen mehr und weniger „real" oder existierend zu sprechen. Ein Anfänger mufs diesem Knäuel von Äquivokationen und dem damit verbundenen, alle Begriffe verwirrenden Subjektivismus völlig ratlos gegenüberstehen. Dafs auf Gnmd einer so unexakten Beschrei- bung des Urteils die Untersuchung der genetischen Gesetze nicht be- friedigend ausfallen kann, ist selbstverständlich. Es stände wahrlich schlimm um den, endlichen Sieg der Wahrheit, auf den wir alle hoffen, wenn alles zuträfe was J. über die Genesis unserer Überzeugungen lehrt. Aber zum Glück ist eben Glauben und Interesse und Mifsachten und Nichtglauben doch nicht, wie er meint, ein und dasselbe.

Das XXII. Kapitel handelt vom Schliefsen (Reasoning) und vom Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Verstand. Wenn J. die Wurzel dieses Unterschieds in der UnvoUkommenheit sucht, womit die Tiere nach Ähnlichkeit assoziieren, so fragt sich, ob nicht eben dieses Faktum psychologisch noch einer weiteren Analyse bedürftig und fähig ist.* Das kurze XXIII. Kapitel, über die Erzeugung der Bewegungen ,

* Vgl. darüber unseren 6. Artikel „Über Sprachreflex, Nativismus ind absichtliche Sprachbildung" in der VierUhahrschrifi für wiaaenschaftliche Philosophie XIV., S. 74 ff.

Zeitachrift für Psychologie m. 20

306 Besprechungen,

ist fast ganz physiologisch. Eeichhaltig an eigenen und fremden Beob- achtungen ist das XXIV. Kapitel über die Instinkte. Ebenso das XXV. über die Emotionen, das sich vornehmlich mit den die Gemütsbe- wegungen begleitenden körperlichen Veränderungen und Ausdrucksbe- wegungen beschäftigt. Nach J. ist nämlich, was man sich gewöhnlich unter Emotion denkt, in den meisten Fällen eine Fiktion. Richtige Beob- achtungen ins ungebührliche überspannend, lehrt er, vom Zorn, von der Furcht, dem Staunen, und überhaupt von den meisten Emotionen bleibe nach Abzug der Empfindungen und Lust- imd XJnlustgefühle, welche die bezügliche körperliche Alteration begleiten, nichts übrig aufser einem kalten, farblosen und neutralen intellektuellen Zustand. „Die körperlichen Veränderungen folgen direkt auf die Wahrnehmimg der uns erregenden Lage, und das Innewerden (feeling) dieser Veränderungen ist die Emotion^ II., 449. Den Ursprung der sog. Ausdrucksbewegungen behandelt der Vei^ fasser indem er Darwin zu ergänzen sucht. Dieser soll ein Prinzip, welches J. dasjenige „einer ähnlichen Reaktionsweise gegenüber analogen Beizen'* nennen möchte, nicht genügend beachtet haben. Die vom Verfasser dafür angeführten Beispiele sind aber in Wahrheit nichts Anderes als Fälle des DABWiNSchen „Prinzips zweckmäfsiger assoziierter Gewohnheiten^ und es ist ein allgemeiner Zug der Gewohnheit, dafs sie nicht blofs miter gleichen, sondern auch unter blofs ähnlichen und analogen Umständen wirksam ist. ^ Dagegen hat Darwin übersehen, dafs manche unserer Aus- drucksbewegungen auf einer Analogie der Geberde zu dem, was durch sie ausgedrückt wird, beruhen, wie z. B. das Kopfnicken auf einer Analogie zwischen der körperlichen Hinwendung zu etwas und dem seelischen Verhalten des Beistimmenden, der (wie auch die Sprache metaphorisch sagt) sich zu der Ansicht „hinneigf*. Diese eigentümliche Quelle von Ausdrucksbewegungen verkennt aber auch J., und doch wäre sie mit mohi* Recht als ein neues Prinzip der „Analogie^* oder des „symbolischen" Ausdrucks zu Darwins Prinzipien hinzuzufügen.'

Das XXVI. Kapitel, vom Willen, enthält u. a. eine eingehende Erörterung der Streitfrage um die Existenz der sog. Innervationsem- pfindungen und entscheidet sich gegen dieselbe. Was die Erörterung der Natur und wesentlichen Momente des Willensphänomens betrifft, so kann ich nicht verhehlen, dafs sie mir an analogen Mängeln zu leiden scheint, wie die Charakteristik des Glaubens oder Urteils. Sie ve^ wechselt die fragliche Erscheinung mit anderem, was als Bedingung oder Folge damit zusammenhängt, und enthält neben Äquivokationen schwer oder ganz unvereinbare Angaben. Vor allem vermengt J. (ähnlich wie AVundt') beständig Wille und Willenshandlung, was beides bei ihm will und volition heifst, und fafst überdies, wo er vom Verhältnis des Willens zu den Gedanken (idea, thought) spricht, den letzteren Ausdruck konfus bald im Sinne des Gedachten, bald im Sinne des Denkens. Nur so kann

^ Vgl. unseren 7. Artikel „Über Sprachreflex u. s. w." Viertefjtxhrsschrift u. s, w. XIV., S. 456 ff

* Vgl. darüber meinen „Ursprung der Sprache" 1875. S. 93 ff.

* Vgl. darüber unseren lEL und IV. Artikel „Über Sprachreflex u. s. w." a. a. 0. X., S. 357—364 und XQI., S. 195—220.

Besprechungen. 307

ich es einigermafsen verstehen, wenn er aufs ausdrücklichste will oder volition mit der Aufmerksamkeit identifiziert (II., 661,662, 664, 571 u. ö.; I., 447: volition is nothing but attention); nur so, wenn er erklärt, dasjenige, dem sich der Wille zuwende, sei stets eine Vorstellung und das Wesen des WoUens wie der Aufmerksamkeit bestehe darin, dafs der Geist eine Vorstellung, die sonst entschlüpfen würde, festhalte und sich mit ihr erfülle (11., 559 ff. 564, 567).* Damit kann wir sagten ähnlich schon WüNDT gegenüber vernünftigerweise blofs gemeint sein, dafs auch der äufsereu W^illenshandlung stets eine innere, auf ein Vorstellen ge- richtete, vorausgehen müsse. Und wenn J. dann doch anderwärts (568) selbst bemerkt, manchmal müsse zur „Aufmerksamkeit", obschon sie das Erste und Fundamentale beim „Wollen" sei, noch „die ausdrückliche Billigung der Wirklichkeit dessen hinzukommen, worauf die Aufmerk- samkeit gerichtet" sei, so scheint mir vielmehr, dafs, wo das zu Ver- wirklichende eben nicht ein blofses Vorstellen, sondern etwas Anderes, z. B. eine äufsere Bewegung ist, jene von der „Aufmerksamkeit** (d. h. nach J.: dem Festhalten der Vorstellung) verschiedene „Billigung** that- sächlich jedesmal vorhanden sein müsse, damit man in Wahrheit nicht blofs von einer inneren, sondern auch von einer äufseren Willenshandlimg und einem auf etwas Äufseres gerichteten Wollen sprechen könne.* Dais der Wille oder jene Billigimg (consent) auch dann auf ein Vorge- stelltes gerichtet und in diesem Sinne Wollen immer eine relation between the mind and its ideas sei, wird aufser Schopenhauer niemand leugnen. Nach dem Gesagten wird man sich nicht wundem, dafs ich auch damit nicht einverstanden bin, wenn J. in Bezug auf unsere (äufseren) Handlvmgen zwei Fälle unterscheidet, nämlich den, wo einer Bewegung blofs die Vorstellung der Folgen, welche dieselbe für unser Em- pfinden haben wird, vorausgehe, und andere Fälle, wo hierzu noch ein anderes psychisches Antecedens hinzutrete in der Form eines Fiat, eines Befehls, einer Entschliefsung, Billigung (consense), imd wenn er doch beide Arten von Vorgängen für Willenshandlungen, ja die erste, die ideomotorische, Aktion sogar als den eigentlichen Typus des „Willens- prozesses" bezeichnet (522). Meines Erachtens sind diese Aktionen, wo die Vorstellimg der Bewegung ihr einziges psychisches Antecedens bildet, keine Willenshandlimgen. Zum Wesen der Willenshandlung ge- hört immer imd überall jenes Fiat, das Moment der Billigung (the de- ment of consent) ; ' nur braucht ihm nicht "Überlegung und zauderndes

* The point, to which the will is directly applied, is always an idea.

* Ich verstehe aber selbst von J*s. Standpimkte nicht, wie es mit seinem obigen Zugeständnisse zu vereinigen ist, wenn er anderwärts (z. B. II. 571) Aufmerksamkeit und Billigung (consent) geradezu identi- fiziert.

* So sagt der Verf. selbst ganz richtig S. 501. (The fiat, the element of consent . . . constitutes the essence of the volimtariness of the act.) Und ich begreife schlechterdings nicht, wie er wenige Zeilen darauf doch wieder behaupten kann, nur in einigen Fällen, nicht immer, brauche dieses Fiat unseren Willenshandlungen (voluntary acts) voraus- zugehen.

20*

308 Besprechungen,

Schwanken vorauszugehen, wie manche Stellen bei James (z. B. S. 522, 528 £f.) zu sagen scheinen. Das hiefse, Wollen mit überlegtem W&hlen verwechseln. Den Schlufs des Kapitels bilden die Abschnitte über die Freiheit und die Erziehimg des Willens. In ersterer Beziehung bekennt sich J. als Anhänger des Indeterminismus; doch aus ethischen Gründen, vod denen der Psychologe ein Becht habe, abzusehen und ihrer ungeachtet für seine wissenschaftlichen Zwecke den Determinismus zu postulieren. (Die ethischen Überzeugungen J's. sind also wohl nicht auf Einsicht ge- gründet? Oder kann Einsicht der Einsicht widerstreiten?) Das XXVII. Kapitel giebt eine treffliche und von besonnener Kritik getragene Übersicht über die Erscheinungen und Theorien des Hypnotismus. Das XXVin. Kapitel. (Die notwendigen Wahrheiten und die Wirkungen der Erfahrung) bringt mehr zur Sprache, als der Titel vermuten läfst, nämlich aufser dem, was man erwarten würde, auch das ganze Gebiet der sog. Psychogenesis, in Bezug auf welches J. aber mit Becht noch mehr des Dunkels als des Lichtes gewahren will.

II, Schon dieser Überblick über J's. Werk hat den Leser erkennen lassen, dafs zwar darin fast alle Fragen, denen sich heute der Psy- chologe zuwenden kann, irgendwie zur Behandlung kommen, aber nicht alle mit gleicher Sorgfalt und mit gleichem Erfolg. Und sofern dieser Umstand, der natürlich den eigentümlichen Charakter und Wert des Buches mitbestimmt, aus gewissen Grundanschauungen des Verfassers über die Aufgaben und Methoden der Psychologie und speziell auch über die Möglichkeit imd Grenzen psychologischer Analyse flieist, können wir nicht umhin, darauf noch eigens einen Blick zu werfen.

1. Was die Aufgabe der psychologischen Forschung betrifft, so ruht nach der Meinung von J. das Hauptgewicht auf der Erforschung der genetischen Gesetze.^ Die Beschreibung und ICassifikation bildet eine niedere Stufe der Untersuchung und hat zurückzutreten, sobald genetische Fragen formuliert sind. Lange habe die deskriptive Arbeit die Haupt- beschäftigung der Psychologen gebildet; heute aber sei reichlich die Zeit gekommen zum Aufsteigen auf jene höhere Stufe, und J. begrüfst es, dafs dementsprechend auch in der Methode der Forschung ein Umschwung nach der experimentellen und physiologischen Seite eingetreten sei. Man sehe heute, namentlich in Deutschland, eine Schar von Arbeitern mit Chronograph und Pendel an die Stelle der früheren treten, welche blofs mit den stumpfen Waffen der inneren Beobachtung dem schwierigen Gegenstand beikommen wollten, und diejenige Psychologie, der die Zukunft gehöre, gehe auch ernstlich ans Studium der Gehirn- Physiologie.

Demgegenüber wollen wir nun weder bestreiten, dafs die Forschung nach den genetischen Gesetzen die höhere Stufe und ihre Kenntnis das wünschenswerteste Ziel der Psychologie sei, noch dafs diese Gesetze in

* Ich verstehe vmter diesem kurzen Ausdruck im folgenden immer die Gesetze der Aufeinanderfolge und Verursachung unserer BewuCst- seinszustände ; nicht etwa, was man im Zusammenhang mit der Evo- lutionsphilosophie Psychogenesis genannt hat.

Besprechungen. 309

letzter Instanz psycliophysische sein müssen. Allein wir sind der Meinung, dafs es heute noch verfrüht wäre, durchgängig dieses höchste Ziel anzustreben. Ehe der Psychologe durchweg direkt auf die Er- forschung der kausalen Zusammenhänge, und insbesondere der exakten Grundgesetze des psychischen Geschehens, losgehen kann, sind noch wichtige Vorarbeiten zu erledigen. Vor allem möchte für die Erreichung der letzgenannten, im strengsten Sinne wissenschaftlichen, Stufe psycho- logischer Einsicht der Stand der Gehimphysiologie noch keineswegs reif sein. Wie unexakt und vorläufig darum auch die durch blofse psychologische Beobachtung gefundenen empirischen Gesetze des Verlaufs unserer Bewufstseins Vorgänge sein mögen, so dürften die Regeln gesunder Methode doch den Tausch nicht rechtfertigen, den Der- jenige einginge, der auf das, was wir von solchen empirischen Generali- sationen besitzen und auf analogem Wege noch femer zu gewinnen hoffen können, verzichten wollte zu Gunsten jener luftigen Hypothesen, wie sie heute noch vielfach in Ermangelung sicherer Kenntnisse für eine Theorie spezieller und speziellster Zusammenhänge von Psychi- schem und Physiologischem ausgeboten werden. Aber nicht blofs, dafs unsere wirkliche Einsicht in den höchsten Zweigen der Physiologie noch recht mangelhaft ist, hindert die exakte Ergründung der genetischen psychischen Gesetze. Es bedarf dazu noch einer anderen Vorbereitung, nämlich einer exakten beschreibenden Analyse der Thatsachen des Bewufstseins. J. spricht gelegentlich von einer mikroskopischen Psycho- logie, die heute in Bildung begriffen sei. Ich adoptiere diesen Ausdruck, wenn ich ihn auch etwas anders deute. Wir bedürfen in der That mikroskopischer Arbeit auf dem Gebiete der Psychologie, aber vor allem noch in deskriptiver Beziehung. Eine mikroskopische Analyse des Bewufstseins thut not, eine lückenlose Angabe seiner einfachsten Elemente und ihrer elementaren Verbindungsweisen. Wo die Grenzen solcher genauen Beschreibung liegen, da liegen für uns auch die Grenzen strenger psychologischer Forschung überhaupt. Demgemäfs kann ich es gar nicht billigen, wenn J. gelegentlich (II., 454) von den klassifikatorischen und deskriptiven Untersuchungen als von einer oberflächlichen Stufe der Forschung spricht, der die genetische als tiefergehende gegenüberstände. Nur exakte und in diesem Sinne tief- dringende Analyse und Charakteristik der Erscheinungen kann die Grundlage einer exakten und fruchtbaren Formulierung genetischer Fragen werden. Und man würde sehr irren, wenn man glaubte, dafs solche deskriptive Arbeit schon genügend gethan sei. Manches, was in dieser Richtung Klärendes von einzelnen geboten wurde, ist noch nicht hinreichend gewürdigt und allgemein anerkannt; vieles Andere aber harrt auch erst der Aufhellung und exakten Erledigung. Und in den Dienst dieser mikroskopischen Arbeit müssen meines Erachtens heute auch das Experiment und die Messung noch vorwiegend gestellt werden, wo immer dergleichen möglich ist. Damit ist schon gesagt, dals wir die Förderung keineswegs verkennen, welche die Auf- gabe der Beschreibung ihrerseits von den genetischen psychologischen Kenntnissen (die ja allein eine experimentelle Beherrschung der Er-

310 Besprechungen,

scheinungen möglich machen) erfahren kann. Aber im grofsen und ganzen mufs doch die Beschreibung das Frühere sein; die genetische Unter- suchung kann nicht methodisch und exakt werden, ehe man sich des- kriptiv klar ist, was man vor sich hat, und ob es so, wie es erscheint und erfahren wird einfach oder zusammengesetzt und mit anderem bereits Bekanntem gleichartig oder ungleichartig ist.

Der theoretische Irrtum des Verfasser über das, was heute der psycho- logischen Forschung not thut, hat natürlich auch praktische Folgen ftlr sein Werk geäufsert. Auf Schritt und Tritt begegnen wir einer gewissen Vernachlässigung des deskriptiven Elementes und der Resultate der inneren Beobachtimg gegenüber genetischen, und insbesondere physiologischen, Erörterungen. Dies tritt schon in der Berücksichtigung und Wert- schätzung der Litteratur zu Tage. Von den wirklichen oder vermeint- lichen Beiträgen zur sog. physiologischen Psychologie sind wenige von J. unberücksichtigt geblieben, und auch manche flüchtige und unmethodische Erzeugnisse dieser Gattung begegnen einer ernsten Diskussion und einem Bespekt, den sie nicht verdienen. Dagegen sind Forschungen älterer und neuerer Zeit, die weder durch stattliche Zahlenreihen noch durch „angenehme Holzschnitte" imponieren (und dies einfach darum, weil sie sich mit Fragen beschäftigen, die keine experimentelle Behandlung zu- lassen, oder mit solchen, wo der Stand der Dinge es noch verbietet, eine physiologische Ergründung der Thatsachen anzustreben) vom Ver- fasser nicht ebenso eingehend gewürdigt und benutzt worden. Abistotelks finde ich gar nicht beachtet, und Locke, D. Humb, die beiden Mill u. a. erfahren eine Kritik, die zuweilen wohl schärfer im Ausdruck, als ge- recht in der Sache ist.

Analog wie mit der Berücksichtigung der Resultate fremder Arbeit, so ist es aber auch mit J.'s eigenen Beiträgen zur Forschung. Mehr als einmal scheint er mir verfrüht auf die Frage nach den physio- logischen Substraten gewisser psychischer Vorgänge sich einzulassen, so namentlich bezüglich des „Zeitsinnes", bezüglich der allgemeinen Begriffe und Belationsgedanken, bezüglich der sog. Phantasievorstellungen im Verhältnis zu den Empfindungen und wiederum der „Wahrnehmungen** im Verhältnis zu beiden. (Vgl. Kap. IX., XII., XV., XVm., XIX.) Wäre auch von physiologischer Seite kein Hindernis mehr zu einer gründlichen Behandlung dieser Probleme, so bestände doch bei J. wenigstens ein solches von psychologischer Seite. Denn seine de- skriptiven Angaben über die Natur und das gegenseitige Verhältnis jener psychischen Erscheinungen können vor der Kritik keineswegs be- stehen. (Wir kommen darauf zurück.) Je nach der Lösung dieser Auf- gabe aber wird schon die Fragestellung im genetischen Teil der Unter- suchung ganz verschieden ausfallen. Und so wäre wohl die Mühe einstweilen besser noch auf eine exakte Erledigung jener beschrei- benden Arbeit verwendet gewesen.

Aber nicht blofs hier, sondern auch sonst vielfach scheint mir der Verf. die Beschreibung zu nebensächlich und zu wenig gründlich zu behan- deln, öfter, und selbst in den wichtigsten Punkten, sind seine deskriptiven Angaben unter sich nicht in Harmonie oder wenigstens, infolge un-

Bespreckiifigen . 311

gewöhnlicher Sorglosigkeit hinsichtlich der Terminologie and allzugiofser Vorliebe flir Bilder und Vergleiche, unklar und verschwommen. Dazu kommt, dafs nicht selten genetische Gesichtspunkte in störender Weise mit den deskriptiven vermengt und kausale Beziehungen der BewuTstseins- zustände zu ihren Ursachen und Folgen (seien diese nun psychologisch oder physiologisch) mit inneren Merkmalen derselben verwechselt werden. Gelegentlich sehen wir wirkliche oder hypothetische Eigentümlichkeiten des physiologischen Substrats der psychischen Vorgänge ohne genügende Berechtigung auf letztere übertragen, oder wenigstens ihre Angabe als Surrogat für eine exakte psychologische Analyse und Charakteristik dargeboten und letztere darüber versäumt oder vorzeitig fallen gelassen. In anderen Fällen neigt der Verf. dazu, wichtige Unterschiede, die die innere Erfahrung an den Bewufstseinszuständen zeigt, zu verwischen und zu übersehen, weil unsere mangelhafte Kenntnis der Gehimvorgänge heute auch nicht einmal hypothetisch gestattet, jeder Verschiedenheit im Psychischen eine korrespondierende im Physiologischen gegenüber- zust^lleu. In beiden Fällen sind durch verfehlte Verwendung von genetischen Kenntnissen oder (was öfter der Fall ist) Hypothesen für die Beantwortung deskriptiver Fragen die Resultate der inneren Beobachtung getrübt. Und dies ist der schlechteste Dienst, den man einer einstigen, allseitig exakten und durchgreifenden „physiologischen Psychologie" leisten kann.

Beispiele für diese Mangelhaftigkeit der Beschreibung bei J. ergaben sich zum Teil schon im Beferat. Ausdrücklich sei nur noch auf wenige Züge hingewiesen, die seine Sorglosigkeit in diesem Punkte illustrieren.

a. Für jeden, dem es darum zu thun ist, feste Linien zu gewinnen für die Orientierung in dem bunten Gewebe unseres psychischen Lebens, scheint es mir ein unentbehrliches Geschäft, vor allem eine klare Scheidung der Grundklassen psychischer Thätigkeit vorzunehmen, d. h. darüber ins Reine zu kommen, wie viele fundamental verschiedene Weisen des Verhaltens der Seele zum mentalen Objekt die innere Erfahrung zeige. Bei J. finde ich diese Frage weder klar formuliert (sie wird, wie wir schon im Referate andeuteten, mit ganz anderen vermengt), noch befriedigend gelöst. Die Antwort bleibt dunkel und in schwer oder gar nicht vereinbaren Angaben befangen. Vod speziellen psychischen Zu- ständen treffen wir vor allem folgende Klassennamen: Sensationen, Pbantasiebilder (images), thoughts, knowledges, cognisances, Anerkennen, Leugnen, Interesse, Verlangen, Wunsch, Wille, Lust und Schmerz, Emotionen der Furcht, des Schreckens, Zornes u. s. w. Wenn wir einer Äufserung I. S. 216 vertrauen dürfen, so würde aber J. in all diesen Phänomenen nur zwei grundverschiedene Weisen der intentionalen Be- ziehung erblicken. Sie wären sämlich teils cognitive teils emotional relations oder wie sofort auch gesagt wird teils ein knowing, teils ein welcoming und rejecting. Allein man vermifst eine irgendwie ein- g^ehendere Begründung dieser Behauptung und wird nicht ins Ellare gesetzt über die Zuordnung der spezielleren Erscheinungen zu diesen zwei Grundklassen. Es erhebt sich vor allem die Frage, was

312 Besprechungen,

wir uns dabei unter emotionell zu denken haben. Im XXV. Kapitel, das ausdrücklich von den „Emotionen" handelt, lehrt J., bei den meisten dieser Vorgänge lasse sich schlechterdings kein anderes Bewustseins- element konstatieren, als einerseits die Perzeption der erregenden Lage was aber, für sich betrachtet, ein kalter „Erkenntnis-Zustand" ohne jede emotionelle Wärme sei und anderseits das von Lust oder Schmerz begleitete Innewerden (feeling) der körperlichen Eesonanz d. h. der mannigfachen physischen Alterationen, welche (nach des Verf. Meinung unmittelbar) von jener Perzeption in ims hervorgerufen werden. So soll es sich ganz zweifellos bei allen sogen, gröberen Emotionen wie Furcht, Schrecken, Zorn u. s. w. verhalten. Aber genau besehen auch bei den meisten feineren. Zu diesen rechnet J. nämlich die ästhetischen, moralischen und intellektuellen Freuden und Leiden, und nur bei den ästhetischen Emotionen will er primäre Lust- und TJnlustgefühle als einen Bestandteil des psychischen Zustandes zugeben. Bei den ethischen und logischen spielen nach seiner Meinung wieder jene B-eflexgeftthle die gröfste Rolle, so dafs, wenn sie hinwegfielen, nur ein neu- traler intellektueller Zustand übrig bliebe, der nicht wahrhaft den Namen einer Emotion verdiente. Auch bei jenen ästhetischen Gefühlen aber -- das wird ausdrücklich betont sei das Vergnügen stets an Sinnesquali- täten (Farben, Töne u. dgl.) geknüpft. Und so erscheint denn danach ausgemacht, dafs nach J. das spezifisch emotionelle Element eines psychischen Zustands, dasjenige, wodurch er sich fundamental von einem blofs „erkennenden^' unterscheidet, stets und in allen Fällen in einem sinnlichen Lust- oder XJnlustgeftihl bestehe. Aber wie? wenn er nun auch das Urteilen oder Glauben für eine Emotion erklärt? Unmöglich kann man es doch der Lust oder Unlust an Sinnesqualitäten, weder einer primär noch sekundär entstandenen, gleichsetzen. Und dieselbe Schwierig- keit erhebt sich bezüglich des Willens, der nach J. ebenfalls zu den emotionellen Zuständen gehören soll, was schon daraus hervorgeht, dais er ihn aufs ausdrücklichste mit dem Glauben identifiziert (II. S. 321). Ich weifs demgegenüber keinen Ausweg, als etwa die Annahme, dafsJ. den Ausdruck Emotion oder emotionell, ohne sich klar darüber zu sein jedenfalls ohne es deutlich zu sagen in einem engeren und weiteren Sinne gebrauche. Im engeren Sinne würde der Name nur die sinnlichen Lust- und Unlustgefühle umfassen ; im weiteren dagegen w&ie er allgemeinere Bezeichnung für eine Grundklasse psychischen Verhaltens (welcome und reject), die neben jenen Gefühlen auch noch das Phänomen der „Billigung" (consent) umschlösse, welches J. gemeinsam im Glauben und Wollen erkennen will und das ja keineswegs eine Lust (oder Unlust) an Sinnesqualitäten ist. Lust an Sinnesqualitäten und der Wille samt dem Glauben wären zwar beide ein welcome; aber mit verschiedenem Objekt und anders geartetem Ton. Nur diese Unterscheidung macht es, so scheint mir, irgendwie begreiflich, wie J. Glauben und Wollen in den Emotionen rechnen und über die letzteren doch so sprechen kann, wie er es im XXV. Kapitel thut. Allein ob ich damit seine Gedanken errate? Wenn nämlich jene Unterscheidung wirklich die seinige ist, dann ist schwer begreiflich, wie er mit so viel Zuversicht behaupten

Besprechungen. 313

kann, bei den Affekten der Furcht, Hoffnung u. s. w. sei schlechterdings kein Element im Bewiifstsein aufser der kalten und neutralen Perzeption der anregenden Lage und den die körperliche Resonanz begleitenden Empfindungen und Gefühlen. Man fragt sich : wenn wir im Wollen und Glauben ein welcome von uns haben sollen, das in Objekt und Ton von aller Lust und Unlust wohl unterschieden und nur im allgemeinen in der Weise der Beziehung zum Objekt mit ihnen verwandt ist, ist es dann etwas so Unerhörtes und der Erfahrung Zuwiderlaufendes, anzu- nehmen, dafs auch bei Furcht, Hoffnvmg und anderen „Emotionen" besondere Formen jenes welcome und reject vorliegen, die nicht mit den für jene Zustände charakteristischen Reflexgefühlen identisch, viel- mehr nur fundamental damit verwandt sind, im übrigen aber von ihnen, und unter sich und vom Willen durch spezielle Besonderheiten abweichen? Und so bleibt hier in jedem Fall Dunkel und Befremden bei J.s An- gaben zurück. Doch nicht genug! Auch ein anderer Punkt ist jeden- falls unklar, ja widerspruchsvoll, ü. S. 471 wird dasjenige, was bei den meisten Emotionen übrig bleibe, wenn man die Folgen der körperlichen Erregung für das sinnliche Gefühl in Abzug bringe, ein judicial State genannt, dem der wahrhaft emotionelle Charakter fehle. Er sei einzu- reihen unter die awarenesses of truth und sei somit ein cognitive act. Wie sollen wir dies damit vereinigen, dals eben das Urteilen oder Glauben von J. für ein emotionelles Verhalten erklärt wurde? Sind die judicial States keine Urteile, obschon sie awarenesses of truth sind? Femer: auch die cognizances, zu deren Charakter es gehöre, wahr oder falsch zu sein, rechnet J. zu den cognitive states, die er den Emotionen entgegensetzt. Soll es also psychische Zustände geben, denen es eigen- tümlich ist, wahr oder falsch zu sein, die aber keine Urteile sind?* Und soll auf der anderen Seite, was J. belief nennt und zu den Emotionen rechnet, ein Urteil sein, aber weder wahr noch falsch und keine awareness of truth? Und wie kann bei alledem der Verfasser ü. S. 286 ff. so sprechen, als ob er mit Brentanos Opposition gegen die bisherige Urteils- lehre ganz eins wäre, bis auf eine Abweichung im Ausdruck, indem er näm- lich das, was Brentano Urteil (judgement) nennt, lieber belief heifsen wolle. Brentano hat seinerseits nicht den geringsten Zweifel darüber gelassen, dafs er unter Urteil diejenigen psychischen Zustände versteht, denen es eigentümlich zukommt, wahr und falsch zu sein, und die awarenesses of truth sein können. Dafs diese Phänomene fundamental vom blofsen Vorstellen verschieden seien, ist seine Meinimg und Gegen- stand seiner ausführlichen Begründung. J. dagegen will ja, so scheint es, eben diese von Brentano Urteil genannten Vorgänge mit dem Vor- stellen in eine Klasse (cognitive states oder knowing) zusammenwerfen, und was er belief nennt, ist nicht das, was Brentano und ziemlich alle

* I. S. 217 wird know eigens vom blofsen think unterschieden, und die Unterscheidung scheint schlechterdings keinen anderen Sinn haben zu können, als den, dafs think das blofse Vorstellen (conception), know dagegen ein Urteilen (speziell ein Erkennen) bedeute. Aber eben know wird doch S. 216 dem emotionellen Verhalten als fundamentaler Gegen- satz gegenübergestellt!

314 Besprechungen.

Welt Urteil nennt, sondern es sind gewisse emotionelle Folgen des Urteils. Doch es ist nutzlos, weiter über die eigentliche Meinung des Verfassers zu raten und zu grübeln, wo alles in solcher Unklarheit ge- blieben ist.^

Sachlich ist gewifs zu sagen, dafs wenn J. das Glauben für eine emotionelle Erscheinung (im weiteren Sinne), ja für wesentlich identisch mit dem Willen hält, er eine blofse Analogie für Identität nimmt, indem ihm consent in dem Sinne wie beim zustimmenden Urteil und in dem Sinne wie bei der Hinneigung des Interesses und Willens zu etwas, davon die Bede ist, als dieselbe Weise des BewuTstseins erscheint. Die übliche Äquivokation der Sprache, die nicht blofs bei dem ebengenannten Worte, sondern auch bei den Ausdrücken affirm, adopt, welcome, reject u. a. besteht, trug zur Verwechslung bei. Als weiterer Anlafs zur Täuschung kam hinzu, dafs Glaube und Wille (samt den übrigen Formen des Interesses überhaupt) kausal innig verknüpft sind, J. aber, hier wie auch sonst noch, deskriptive imd genetische Gesichtspunkte konfus ineinander fliefsen läfst. Gemütsbewegungen und Wille sind oft Motiv des Glaubens;

^ Vorhin hörten wir Äufserungen von J., woraus man schlielsen mufste. er halte den Zustand der cognizance nicht für ein Glauben (belief). Allein II 283 heifst es gleichwohl: Belief is . . the mental State or function of cognizing reality. Ferner : I S. 300 werden assenting und negating ausdrücklich zum ,,aktiven Selbst" d. h. (wie kurz zuvor, S. 297, gesagt war) zu demjenigen Gebiete psychischen Verhaltens ge- rechnet, welches ein welcome und reject sei, somit (nach S. 216) zum emotionellen Verhalten. Allein 11 629 führt der Verfasser unter den elementaren psychischen Kategorien als eine besondere und von den Emotionen unterschiedene Kategorie: die bejahenden und verneinenden Urteile (judgements: affirming, denying) auf. Sind also assenting und affirming, negating und denying nach J. etwas wesentlich, ja fundamental Verschiedenes? Das Eine eine Emotion, das Andere nicht? Ähnlich widerstreitende Angaben begegnen uns bezüglich des Verhältnisses von Glaube und Wille. 11 S. 320 sind beide aufs ausdrücklichste fiir identisch, für dieselbe Weise des Bewu&t- seins erklärt. Da lesen wir z. B. : Der Unterschied der Objekte des Willens und Glaubens sei völlig irrelevant, was das Verhalten des Be- wufstseins zu ihnen anbelange. All that the mind does, is in both cases the same; it looks at the object and consents to its existence, espouses it, says „it shall be my reality". It tums to it, in short, in the interested,

emotional way Will and Belief, in short, meaning a

certain relation between objects an the Seif, ar two Names for one and the same psychological phenomenon . . . The causes and conditions of the peculiar relation must be the same in both. The free-will question arises as regards belief. If our wills are indeter- minate, so must our belief s be, etc. Doch II S. 568 hören wir wieder etwas ganz anderes: When an idea stings us in a certain way . . . . we believe that it is a reality. When it stings us in another way, makes another connection with our Seif, we say, let it be a reality. To the Word „is** and to the words „let it be" tnere correspond pecu- liar attitudes of consciousness which it is vain to seek to explain. The indicative and the imperative moods are as much ultimate categories of thinking as they are of grammar. Wer würde danach nicht mit aller Zuversicht schliefsen, J. halte Glaube und Wille für fundamental verschiedene letzte Kategorien des Be wufstseins ? also das strikte Gegenteil von dem, was wir früher hörten?

BesprecJiungen. 315

amgekehrt sind viele Formen des Interesses auf Urteile gegründet, so insbesondere der Wille (der ja auf die Verwirklichung von etwas gerichtet st) auf die Ueberzeugung, dafs sein Gegenstand als Folge des Willens Bintritt und so durch unser Belieben verwirklicht werden kann. Und sogar davon kann ich J. nicht freisprechen, direkt diese Richtung des Willens auf die Verwirklichung von etwas verwechselt zu haben mit der ganz anderen Beziehung des Glaubens zur Existenz von 3twas, indem er hier und dort diesen zweiten Terminus reality nennt lind beides als wesentlich dasselbe Verhalten zu ihm ansieht. (Vgl. 11 3. 320). Doch genug von der fundamentalen Einteilung der Bewufstseins- zustände bei James.

b) Kein günstigeres Urteil über seine Art zu beschreiben erweckt aber auch eine speziellere Klassifikation, die ihm ganz eigentümlich ist und mittelst deren er gar manches wichtige Problem lösen will. Wir meinen seine Scheidung der seelischen Phänomene in Substantive und transitive states, die er im IX. Kapitel in Zusammenhang mit der Lehre von der Kontinuität des Bewufstseins aufstellt. Der Strom unseres psychischen Lebens damit leitet J. (I. S. 243) diese Unterscheidung ein zeige in unverkennbarer Weise einen Wechsel verschieden gearteter Zustände, ähnlich dem Leben eines Vogels, das sich aus Flugperioden (places of flight) und Ruhezeiten (perchings, resting places) zusammensetze. Die Ruheplätze in unserem bewufsten Leben (er nennt sie auch lingering consciousnesses, Substantive states oder parts of consciousness) seien ge- wöhnlich ausgefüllt durch sinnliche Bilder (sensorial imaginations) irgendwelcher Art, deren Eigentümlichkeit darin bestehe, dafs sie eine beliebige Zeit dem Bewufstsein gegenwärtig erhalten und betrachtet werden können, und die Erreichimg solcher Zustände welche sich in der Gliederung der Rede durch den Schlufs eines Satzes oder einerPeriode kund- gebe — bilde einen provisorischen oder definitiven Zweck unseres Denkens, den Abschlufs eines theoretischen oder praktischen Gedankenganges. Die Flugstrecken dagegen (swift und internodal consciousnesses, transitive parts oder states of consciousness, evanescent facts of mind) kommen weniger in sich selbst in Betracht, denn als Mittel, uns von einem Ruheplatz zum andern überzuleiten und die Lücke auszufüllen. Darin bestehe ihre wesentliche Aufgabe. In sich selbst seien sie schwer oder gar nicht zum Gegenstand der inneren Beobachtung zu machen und als das zu erkennen, was sie sind. Über den Grund dieser Unmöglichkeit äufsert sich J. nicht übereinstimmend. Nach manchen seiner Angaben (vgl. S. 643, 644, 648!) läge derselbe entweder in der grofsen Flüchtigkeit und dem raschen Verlauf dieser Zustände* oder in ihrer Unselbständigkeit oder in beidem. Nach anderen Stellen hätten wir

* Infolge ihrer kurzen Dauer, meint er, geschehe es, dafs our con- sciousness of these transitive states is shut up to their own moment, d. h. : dafs sie niemals Gegenstand eines nachfolgenden und nachträglichen Bewufst- seins werden könnten. Alle Zustände aber, von denen dies gelte, entziehen aich nach seiner Ansicht nicht blofs gänzlich der inneren Beobachtung, sondern es sei, intellektuell gesprochen, als ob sie einem ganz anderen Bewnfstseinsstrom angehörten. Aller intellektuelle Wertvon Bewufstseins-

316 Besprechungen,

ihn in einer sonstwie in der Natur dieser Phänomene gelegenen XJndeut- lichkeit, einem „unartikulierten^'Charakter, ja geradezu in ein er Unbestimmt- heit derselben zu suchen (I. S. 478. 79. Anmerk.)* Soviel ist sicher, dais sie nach J. oft von den Psychologen übersehen worden sind; insbeson- dere von den Sensationalisten, die alles Denken in eine Anzahl „bestimmter Ideen'' (definite ideas) auflösen und dem Vagen keinen Platz im psychi- schen Leben einräumen wollten. Es geschah dies aber, so meint er, lun keinen geringeren Preis als die Zerreifsung der Kontinuität des Bewufet- Seinsstromes, die thatsächlich gerade durch jene transitiven Zustände hergestellt werde.

Dafs J. diese eigentümlichen Bewufstseinsphänomene als etwas relativ Unselbständiges betrachtet, ging schon aus früheren Angaben hervor. Er betont es noch mehr durch eine weitere Reihe von bildlichen Bezeich- nungen, die er mit Vorliebe auf sie anwendet: sie sind ihm psychische Fransen (fringes), psychische Obertöne, Färbungen (suffusionsX Säume oder Höfe (halos). Die substantivischen Teile dagegen sind etwas wie ein Kern (nucleus) oder Grundton. Endlich, und nicht zum mindesten, hofft er dem Leser auch noch durch Hinweis auf die physiologischen Substrate die Eigenart jener beiden Bestandteile des psychischen Lebens klar zu machen. Den substantivischen Zuständen sollen nämlich Gehirn- prozesse entsprechen, die sich im Kulminationspunkt ihrer Stärke be- finden. Dagegen sind die „Fransen" das Resultat des Einflusses ehen erwachender oder erlöschender, aufdämmernder oder verschwindender Intensitäten auf unser Bewufstsein.^

Von Beispielen solcher Säume oder Fransen bringt J. teils an«- drücklich, theils gelegentlich eine reiche, nur allzubimte Fülle. Vor allem rechnet er dahin jedes Denken oder Erfassen einer Relation (feelings of relation) und alle begrifflichen Gedanken (conceptions). Die „Empfindung*^ der Ähnlichkeit und des Unterschiedes ist ein Saum; aber ebenso auch der allgemeine Begriff Mensch. Und J. hält die letztere Entscheidung für das erlösende und abschliefsende Wort in dem langen Streit zwischen Konzeptualismus und Nominalismus. Der Nominalismus habe die Frage nach der Bedeutung der allgemeinen Namen nicht zu beantworten

zuständen, alle Möglichkeit derselben, sich mit anderen zu einem einheit- lichen Gedankensysteme zu vereinigen, beruhe auf ihrer Nachdauer in der Erinnerung, und diese gehe den transitiven Zuständen gänzlich ab. Man mufs sich danach nur verwundern, wie J. überhaupt etwas, ja so viel, von ihnen zu erzählen weifs und ihnen wie wir noch sehen werden eine so wichtige Rolle in unserem einheitlichen Bewufstsein zuschreiben kann! Ohne Widerspruch mit seiner eigenen Theorie scheint es mir schlechterdings unmöglich.

* Für diese geringe Stärke der erregenden Gehimprozesse soll wohl die Undeutlichkeit oder „Unbestimmtheit'' der fringes das Analogon sein? Der prekäre Charakter dieser Analogie bedarf keiner weiteren Bemer- kung. Auch scheint J. ganz zu übersehen, dafs er anderwärts (Kap. XV) in dem Einflufs der abschwindenden Gehirnprozesse auf imser Bewuiat- sein für eine ganz andere Erscheinung, die er selbst nicht zu den „Fransen" rechnet, die Erklärung sucht, nämlich für den Zeitsinn d. h. das zeitweilige Zurücktreten der Eindrücke in eine anschauliche Vergangenheit.

Besprechungen. 317

vermocht, weil er über den konkreten und anschaulichen Bildern, den ^substantivischen" Bewufstseins teilen, die Fransen übersehen habe. Dem allgemeinen Namen entspreche nicht eine Vielheit von individuellen Vor- stellungen, wie Bkreelet, Humb und Mill geglaubt. Ihre Lehre von einem Schwärme von „Ideen'^, welcher den allgemeinen Begriff ausmachen soll, bekomme aber Wahrheit, wenn man sie in die Sprache der Gehirn- physiologie übersetze genauer: wenn man an die Stelle jeder „Idee" einen besonderen schwach anklingenden Nervenprozess setze. Dann möge das Aggregat dieser schwachen Nervenprozesse zu seinem bewufsten Korrelat eine psychische Franse haben, und diese sei der allgemeine Begriff, die Bedeutung des allgemeinen Namens. Diese Franse sei: die allgemeine Relation eines Bildes zu einer Masse anderer Bilder, die noch nicht da zu sein brauchen, ein „Gefühl** oder eine „Intention", dafs jenes Eine für alle stehe (I. 477. 78). Jede weitere Frage nach dem Wie dieses Vorganges hält J. offenbar für unvernünftig. Wir stehen vor etwas XJnanalysierbarem oder gar „Vagem", und dem Vagen mufs sein Recht in der Psychologie zurückgegeben werden.* Doch auTser den ebengenannten rechnet er zu den „Fransen" noch eine Menge anderer schwer zu beschreibender Zustände. So namentlich die sog. feelings of tendency z. B. die Intention etwas zu sagen (während der Inhalt der Rede noch nicht deutlich im Bewuistsein ist), die Ahnung von der Meinung eines anderen, die in ims aufleuchtet, überhaupt das schattenhafte Vorschweben des Gesamtinhaltes einer Phrase,^ aber auch eines Schauspiels, eines philosophischen Systems, das „Gefühl" davon, was für Gedanken nach- kommen werden (wodurch namentlich bei frischen Geisteskräften unser Bewufstsein einen immensen Horizont umspanne) und ähnliches. Kurz, J. nimmt keinen Anstand, die mannigfaltigen Zustände, welche seiner eigentümlichen Klasse der „Fransen" angehören sollen, gelegentlich unter die zwei Titel zusammenzufassen: feelings of relations imd ob j ect s but dimly perceived.

Ist es aber danach noch nötig zu bemerken, dafs diese seine Scheidung der psychischen Zustände in Substantive und transitive states den Anforderungen, die man an eine wissenschaftliche Einteilung stellen mufs, nicht entspricht? Worin soll die innere Verwandtschaft des unter das letztere Einteilungsglied Zusammengerechneten liegen ? In der ündeut- lichkeit der Phänomene und der Schwierigkeit, die sie der Beobachtung

* Dies haben nach seiner Meinung auch die Konzeptualisten ver- kannt, und er ruft der einen und anderen der streitenden Parteien zu: Once admit that the passing and evanescent (sc. mental facts) are as real parts of the stream as the distinct and comparatively abiding; once allow that fringes and halos, inarticulate perceptions, .... mere nascen- cies of cognitions, premonitions, awarenesses ot direction, are thoughts suigeneris, as much as articulates imaginings and propositions are; once restore, I say, the vague to its psychological rights, and the matter presents no further difficulty. I. 478. 79, Anm.

' Die mancherlei bisher noch nicht genügend analysierten imd beschriebenen Bewufstseinsvorgänge, die mit dem Sprechen und Ver- stehen zusammenhängen, geben dem Verf. besonders oft Anlafs, an die Klasse der „Fransen" als das Wort des Rätsels zu appellieren.

318 Besprechungen.

entgegensetzen? Allein es kann doch nicht angehen, die Mängel im Besultat unserer Beobachtung, die, auch wenn sie in der Beschaffenheit des Beobachteten irgendwie begründet sind, doch eben hier noch die all erverschiedensten Gründe haben können, ohne weiteres zum Gesichts- punkt einer Klassifikation des Beobachteten zu machen, die in schwierigen Streitfragen das letzte klärende Wort bilden soll und von Eechtswegen aal ein einheitliches, wesentliches und weiter nicht analysierbares Merkmal ge- gründet sein müfste. Oder soll die Verwandtschaft in der Unselbständig- keit liegen? Allein ist die Unselbständigkeit eines Belationsgedankens, der nur auf Grund einer gleichzeitigen Vorstellung der Termini, sowie die eines allgemeinen Begriffs, der nur gebaut auf eine entsprechende Anschauung möglich ist und für welche darum das Bild von dem „Oberton" und der Name „Franse" einige Berechtigung hat ist diese Unselbständigkeit gleichartig mit der Unselbständigkeit eines Gedanken- laufs, der nur sofern Interesse hat, als er zu einer gewissen theoretischen Konklusion oder einem praktischen Entschlüsse führt, und worauf das ganz andere Bild von den Flugperioden und der Name transitive State einigermafsen pafst?^ Es springt in die Augen, dafs J. hier ganz Ver- schiedenartiges zusammengerechnet hat, und dafs etwas in Wahrheit ganz gut ein substantivischer resp. transitiver Zustand im einen Sinne sein kann, ohne es im anderen zu sein.

c) Wie der Widerstreit seiner deskriptiven Angaben, so ist auch die allzugrofse Bildlichkeit seiner Art zu beschreiben an diesem Beispiele wohl von selbst dem Leser aufgefallen. Sie kehrt anderwärts wieder und giebt, an Stelle trockener technischer Termini tretend, der Darstellung zwar eine gewisse Frische und Farbigkeit; aber es ist eine künstlerische Schönheit, welche auf Kosten der Exaktheit und Klarheit und darum bei einem wissenschaftlichen Werke zu teuer erkauft ist. Und auch wo nicht die Bildlichkeit überwuchert, ist doch vielfach ein über die

^ Dies wenigstens sofern, als die Prämissen der Konklusion und die praktischen Erwägungen dem Willensentechlufs vorausgehen, imd Konklusion und Entschlufs auch noch im Bewufstsein sein können, wenn jene entschwunden sind. Doch darf nicht vergessen werden, daij3, so oft die Konklusion als solche und der Entschlufs als motivierter im Bewufstsein sein soll, es nicht genügt, dafs ihnen die motivierenden Bewufstseinsphänomene vorausgegangen sind, sondern sie auch gleich- zeitig mit ihnen gegenwärtig sein müssen.

Aber es scheint fast, als ob J. sogar die Belationsgedanken wahrhaft in dem Sinne für „transitive" Zustände halte, daHs sie nach seiner Meinung zeitlich zwischen den substantivischen stattfänden (vgl. I S. 243 ff. und S. 495 98), und als ob zu dieser seiner Unklarheit über die wahre Stellung jener Gedanken eine falsche, von der Sprache herge- nommene, Analogie beigetragen habe. Er nennt sie nämlich (I 6&.) gelegentlich auch präpositionale und konjunktionale Zustände, und be- merkt, den Partikeln unserer Rede entsprächen objektiv die Bela- tionen der Dinge, subjektiv aber eben jene transitiven oder Itelations- gefühle. Auch müsse man eben so gut von einem feeling of if, but, and u. s. w. reden, als von einem feeling of red, blue u. dgl.

Allein, auch wenn es im übrigen wahr wäre, dafs die Partikeln Relationen bezeichneten, würde natürlich nicht folgen, dafs die Relations- gedanken ähnlich wie die Partikeln zeitlich zwischen die den anderen

Besprechungen. 319

Mafsen äquivoker und vager Charakter an der Terminologie zu beklagen. Wenige Psychologen wird es heute geben, die nicht bedauern, dafs ihre Wissenschaft sich immer noch nicht, so wie andere Disziplinen, von der Vieldeutigkeit und Unexaktheit des populären Sprachschatzes emanzipiert imd zum sicheren Besitz und der konsequenten Verwendung einer genügenden Anzahl eindeutiger und scharfer technischer Ausdrücke durchgerungen hat. J. jedoch scheint diese Gefühle und Wünsche nicht zu teilen. Nicht blofs nimmt er ohne Widerstreben eine Menge Aus- drücke in der ganzen Verschwommenheit und Vieldeutigkeit ihres popu- lären Gebrauchs auf; er zeigt in gewissen Fällen auch nicht übel Lust, die Schranken, die gemeinhin noch vor der völligen Alldeutigkeit gewisser Bezeichnungen schützen, seinerseits niederzureifsen. So wenn er erklärt, er werde thought und feeling abwechselnd für alle Bewufstseinszustände gebrauchen. Vorübergehend wir erwähnten es schon scheint er zwischen think und know eine Scheidung in ihrem Gebrauche machen zu wollen, und zwar so, dafs ersteres ein blofses Vorstellen, dieses ein Erkennen, also eine besondere Form des Urteilens, bedeutete. Aber im Handumdrehen wird dies wieder aufgegeben. Know steht auch wieder, wo offenbar ein blofses Vorstellen (Conception) gemeint ist, ja auch, wo es blofs Bewufstsein überhaupt bedeuten kann. Dafs es dann, wo Urteilen seine Bedeutung ist, ebenfalls nicht blofs ein Erkennen d. h. ein einsich- tiges Urteilen, sondern wieder jedes beliebige blinde Urteil bezeichnen kann, wird danach nicht mehr wunder nehmen. Und öfter ist man bei aller Achtsamkeit auf den Zusammenhang ratlos, welche von all diesen Bedeutungen dem Autor vorschwebe. Ähnlich ist es mit einer ganzen Keihe anderer Ausdrücke. Sie werden schier alldeutig für das psychische Gebiet gebraucht trotz zeitweiser Anläufe zu einer engeren Definition und einer ihr entsprechenden Verwendimg.

Nach alledem mufs man wohl sagen, dafs J. das Geschäft der Be- schreibung imd was damit zusammenhängt, in einer unberechtigten Weise

Redeteilen entsprechenden Gedanken fallen müfsten oder könnten. Schon darum, weil alles, was zum Sinne eines einheitlichen Satzes gehört, gleichzeitig im Bewufstsein des Verstehenden sein mufs und insbesondere eine Kelation nicht ohne ihre Termini vorstellbar ist. Doch auch jene Voraussetzung trifft nicht einmal zu, und J. ist überhaupt hin- sichtlich der wahren Funktion der Partikeln sehr in der Irre. Gäbe es ein feeling of if, but u. dgl., so müfste if, but entweder ein Name oder eine Aussage, oder aber der Ausdruck einer Gemütsbewegung, eines Wunsches oder Willens sein. Nichts von alledem ist der Fall. Die Partikeln haben gar keine selbständige Bedeutung. Sie sind blofs mitbedeutend oder synkategorematisch, und dabei ist ihre Funktion überdies eine sehr verschiedenartige. Nicht alle sind Teilausdruck einer Vor- stellung (was der Anschauung von J. noch am nächsten käme); andere sind Teilausdruck für Urteile und für noch kompliziertere psychische Zustände, wo man auch nicht einmal das sagen kann, dafs sie mit- bedeutend zu einer Relation in besonderer Beziehung ständen. Und wie man dies nicht immer sagen kann, so kann man auch umgekehrt nicht sagen, dafs die „Substantive" nie eine Relation bedeuteten. Oder kann ich eine Relation nicht nennen? und ist sie dann nicht durch ein „Substantiv" bezeichnet und, wenn die Analogie zutrifft, somit ein „sub- stantivischer Zustand" in J.s Sinne?

320 Besprechungen.

Als etwas Untergeordnetes und Vorläufiges behandelt; als sei es etwas, was leichthin und ohne grofse Ängstlichkeit abzuthun auch dem wissens- chaftlichsten Forscher, ja wohl diesem erst recht, gestattet w&re. Und dies ist ein Fehler, welcher den Wert seines Buches bedeutend schmälert.

2. Doch wir haben noch einer anderen Eigentümlichkeit des Werkes zu gedenken: seiner Anschauungen über psychologische Analyse. J. hält eine solche durchaus nicht in der Weise für möglich, wie man es bisher fast allgemein that, imd übt gerade in dieser Hinsicht oft und recht zuversichtlich Kritik an seinen Vorgängern. Seine bezügliche Opposition tritt insbesondere im Zusammenhang mit der schon erw&hnten eigentümlichen Lehre von transitiven Zuständen oder psychischen Fransen auf. Hier vor allem, meint er, müsse die introspektive Psychologie die Flinte ins Korn werfen imd darauf verzichten, mit ihren plumpen Mitteln die feinen Strömungen des Bewufstseins festhalten, den einheitlichen Gedanken in Teile zerlegen imd jedem Teile sein Objekt zuweisen sn wollen. Doch reichen die prinzipiellen Sätze, die J. der bisherigen Anschauung von der Möglichkeit einer Analyse des Bewufstseins ent- gegensetzt, noch über jenes Gebiet hinaus; ja, sie sind so weitgreifend und sagen wir es gleich so bedenklich, dals der Verfasser selbst sie nicht konsequent festzuhalten vermag.* Wir erachten es gleichwolil für angezeigt, etwas auf sie einzugehen, weil sich mit dem Falschen Richtiges verknüpft was wir gerne anerkennen und ihm zugleich einen Schein von Berechtigung giebt, den wir soweit die Kürze der Behandlung es zuläfst, zerstören möchten. Sind doch klare Ansichten über diesen Punkt und eine methodisch konsequente Durchführung der- selben eine Lebensfrage für die Psychologie.

Die gewöhnliche Lehre der Psychologen ist, dafs, wie auch immer unser psychisches Leben als Ganzes einem unablässigen Wechsel unterworfen sei, dennoch in späteren Zeitpunkten gleiche Elemente wiederkehren, wie sie in früheren da waren, und dafs z. B. ein solcher Fall vorliege, wenn wir zu zwei verschiedenen Malen die Vorstellung von Farbe oder Ton haben. Im Zusammenhang damit hielten sie es für eine ihrer funda- mentalsten Aufgaben, diese Teile, Seiten oder Momente, in welche sich der jeweilige psychische Gesamtzustand für das Auge der vei^ gleichenden Beobachtung zerlegt, samt deren elementaren Verknüpfongs- weisen lückenlos aufzuzählen und mit mikroskopischer Genauigkeit zu charakterisieren, um den neuen Wellen des Stromes nicht immer

* Dies sei ein für allemal bemerkt, da der Baum es nicht gestatten wird, auf bezügliche Details einzugehen. II. S. 45 will J. offenbar einem solchen Vorw^urf vorbeugen, indem er bemerkt, er werde selbst gelegentlich die gewöhnliche Redeweise gebrauchen und von einer Zu- sammensetzung und Kombination von Ideen reden; doch geschehe dies lediglich for popularity and convenience. In Wahrheit liegen aber vieler- orts, und oft dort, wo J. es am wenigsten glaubt, wirkliche Inkonse- quenzen vor. Es ist eben wie wir sehen werden schlechterdings unmöglich, alle Zusammensetzung in die wirklichen Objekte oder Reize zu verlegen und sie vom Psychischen und seinen Inhalten gänzlich aus- zuschlieisen. Das Eine widerstreitet dem Anderen.

Besprechungen. 321

wieder wie etwas absolut Neuem gegenüberzustehen was ja dem Verzicht auf ein wissenschaftliches Erfassen des Gegenstandes gleich- käme — , sondern jede Phase unbeschadet ihrer konkreten Besonderheit doch so weit wie möglich als ein aus schon bekannten Elementen verflochtenes und aufgebautes Gebilde verstehen zu lernen.

Dieser Art von Psychologie nun erklärt J. einen erbitterten Krieg. Es ist nach ihm ein gewaltiges Versehen (huge error), wenn man glaubte, der in einem bestimmten Augenblick gegenwärtige Bewufstseinszustand sei zusammengesetzt aus einer Vielheit von Teilen, z. B. Empfindungen, Ideen, Gedanken u. s. w., die in früherer Zeit schon dagewesen sein und später wiederkehren könnten. Unser Bewufstsein ist nach seiner Meinung in jedem Moment etwas absolut Einfaches, (an absolutely unique pulse of thought). Weder können wir mehrere gleichzeitige Empfindungen noch neben Empfindungen höhere Zustände in ihm unterscheiden. In der Perzeption z. B. sind die Sensationen nicht enthalten, und im Akt des Unterscheidens nicht die Vorstellungen der unterschiedenen Termini. ^ Überhaupt ist, was die gewöhnliche Psychologie von sogenannten ein- facheren Bewufstseinszuständen in einem sogenannten komplizierten „enthalten" sein läfst, nicht eigentlich, sondern nur modifiziert in ihm gegeben. Er ist irgendwie ein Äquivalent davon, so wie die Kurve ein Äquivalent von zahllosen kleinen Geraden; aber er ist nicht daraus zu- sammengesetzt und läfst sich nicht daraus konstruieren. Zwei successive Ideen, welche „dasselbe Objekt vorstellen", sind nicht derselbe Bewufst- seinszustand, so dafs die gewöhnliche Psychologie ganz irre ist, wenn sie immer so spricht: as if the vehicle of the same thing-known must be the same recurrent State of mind. Nicht dieselbe Vorstellung (idea^ kehrt zweimal wieder, sondern nur dasselbe „Objekt", und nur die Ob- jekte sind zusammengesetzt, nicht die Ideen und Bewufstseinszustände.*

Wir fragen: wie ist dieser Satz, den J. recht zu seinem Losungs- worte macht, zu verstehen? Ist unter „Objekt" das intentionale oder das wirkliche gemeint? Die Unterscheidung das mufs hier gleich bemerkt werden ist bei J. keineswegs klar;' aber dals sie überhaupt gemacht werden mufs, steht aufser Zweifel. Ein intentionales Objekt ist bei jedem psychischen Akt gegeben. Es ist das untrennbare Korrelat des

* Das Erfassen einer Differenz, z. B. von m und n, kommt nach J. zu Stande, indem der Gedanke des einen möglichst unmittelbar auf den des anderen folgt. Unter diesen Umständen erhalte, vermöge einer spezi- fischen Wirkung des verschwindenden Terminus, der folgende Gedanke jene charakteristische Eigentümlichkeit, neben n zugleich den Unterschied von n und m zu erfassen. Aber nicht indem er die Idee von m und n enthielte. „Die reine Idee von n kann gar nicht im Bewufstsein sein, nachdem einmal der Gedanke von m vorausgegangen ist." (I, 500, 501.)

* Vgl. I. S. 230—237. S. 276—282. S. 495-501 und das ganze XII. Kapitel.

* In vielen Fällen versteht er unter „Objekt" gewifs das wirkliche, die reality outside. In anderen scheint das intentionale gemeint; aber leider unterläfst es der Verf., die Äquivokation überall, wo es nötig wäre, tmschädlich zu machen, und bei aller Aufmerksamkeit auf den Zusammen- hang ist öfter nicht mit Sicherheit zu entscheiden, welcher Sinn dem Autor vorschwebt.

ZciUchrilt fttr Psyoholosric UI. 21

322 Besprechungen.

Bewufstseins, eine Seite desselben, ohne welche dieses selbst nicht wäre. Kein Vorstellen ohne Vorgestelltes, und dieses wohnt in gewisser Weise dem Vorstellenden inne, und ebenso kein Lieben ohne Geliebtes. Ein wirkliches Objekt dagegen, d. h. etwas, was dem intentionalen Objekte in Wirklichkeit und unabhängig von ihm entspricht, ist nicht immer ge- geben, so z. B. bei der Vorstellung von blau oder rot nicht. (Ein MiTs- brauch wäre es ja, die Ätherschwingungen oder einen beliebigen soge- nannten Beiz das wirkliche Objekt der Farbenvorstellung zu nennen.) Es giebt nur vorgestellte (empfundene*), nicht wirkliche Farben. Was ist nun in unserem Falle gemeint? Wenn das intentionale Objekt, speziell das Vorgestellte wie es im Vorstellenden ist, dann giebt J. soviel zu, dals es teils ein blofser Wortstreit, teils eine offenkundige Inkonsequenz ist, zu leugnen, dafs unsere Ideen oder Gedanken eine Mehrheit von Teilen haben, die früher imd später wiederkehren können. Denn indem man das letztere behauptet, meint man unter Idee oder Gedanke entweder eben das Vorgestellte als solches (die Vorstellung) und nach dieser Seite wäre somit J. ganz mit der Lehre einverstanden bis auf den Ausdruck, der ihm mifsfiele oder man versteht darunter das V erstellen, d. h. die eigentümliche Beziehung des vorstellenden Ich zum Vorgestellten als solchem, und dann ist es für den, der zugegeben hat, dafs das inten- tionale Objekt zusammengesetzt sein kann, nur eine Sache der Konse- quenz, ebenso anzuerkennen, dafs sich entsprechend auch eine Vielheit gleichzeitiger inten tionaler Beziehungen des Ich zum Objekte untere scheiden läfst. Diese Folge liegt unausweichlich in dem korrelativen Verhältnis des intentionalen Objektes und der Bewufstseinsbeziehong zu ihm. So viele Teilet in dem Ganzen des innewohnenden Objektes sich auseinanderhalten lassen, so viele Innewohnungen sind auch zu unterscheiden, d. h. so viele Teilbeziehungen in der Gesamtbeziehmig des Subjekts zu seinem Inhalt. Manche dieser Teilbeziehungen sind ab- lösbar voneinander wie ein gleichzeitiges Sehen xmd Hören oder die Vorstellung von süfs und von weiis. Andere freilich sind nur in Ge- danken, aber doch in aller Wahrheit (cum fundamento in re) unter- scheidbar, wie ein gleichzeitiges Vorstellen von weifs und von dem dieser Qualität zugehörigen Orte. Und im ersten Falle spricht man jedenfalls mit vollem Hechte von einem Wiederkehren relativ ein- facherer Zustände in unserem Gesamtbewufstseinszustand.

So kann denn, wer zugiebt, dafs uns gleichzeitig Töne, Farben, Ge- rüche u. s. w. intentional innewohnen, ohne Widerspruch nicht leugnen, dafs auch unsere Bewufstseinsthätigkeit eine Mehrheit gleichzeitige! Teilbeziehungen aufweise imd dafs in diesem Sinne eine Vielheit von Teil- thätigkeiten, Empfindungen und Gedanken in uns seien; ein manifold of coexisting ideas kann ihm in keinem Sinne eine blofse „Chimäre^ sein. Und die innere Beobachtung drängt auf verwandten Wegen noch weiter. Sic zeigt, dafs unser in jedem Augenblick gegebenes GesamtbewuJfstsein

* Ich nenne auch die Empfindung „Vorstellung", sofern von jedem damit verbundenen Urteilen und Lust- und Unlustgefühl abgesehen wird. Vgl. Brentano, „Fsychdogie'' I S. 164 ff., 261 ff.

Besprechungen. 323

iiicht blofs mit Bezug auf die Vielheit und Verschiedenheit seiner In- halte verschiedene Seiten oder Teile unterscheiden läfst, sondern auch mit Eücksicht darauf, dafs das Ich zum selben Inhalt gleichzeitig in mehrfacher und verschiedener Weise in Beziehung tritt. Das Vor- gestellte ist vielleicht ein Geliebtes; das Anerkannte ein mit Evidenz Fürwahrgehalteues. Wenn aber die Erfahrung solche (teils fundamental, t^ils weniger fundamental) verschiedene Beziehungsweisen des Subjekts zu seinem intentionalen Inhalt zeigt, so wäre es blofser Wortstreit, sich dagegen zu stemmen, dafs einer auch diese mannigfaltigen Seiten und Momente des bewufsten Verhaltens als Teile des psychichen Gesamt- zustandes bezeichnet, und so z. B. den Akt der Lust an einem Ton zu- sammengesetzt nennt aus der Vorstellungsbeziehimg zum Ton und dem Lustgefühl an der Ton Vorstellung. Blois das wäre allerdings verkehrt, diese oder die früher erwähnten Teile oder Seiten unseres gleichzeitigen psychischen Zustandes als einKollekti v, ähnlich einer Atomgruppe, oder als Resultante der Zustände einer solchen Gruppe anzusehen. Und in diesem Sinne giebt es freilich auch kein früheres und späteres Wieder- kehren derselben Idee, als ob damit Ein Individuum gemeint wäre, das aus dem BewuTstsein verschwände und später wieder über seine Schwelle träte. Gegen solche und ähnliche Mind-stuff und Mind-dust Theorien erklärt sich J. mit vollem Hecht. Alle Bewufstseinsbeziehungen, die gleichzeitig in unsere innere Erfahrung fallen, wie verschiedenartig sie auch nach ihrem Inhalt oder der Weise seines Innewohnens sein mögen, sind Teile Einer Realität , Eines Konkretums. Und darum hat ihr Verhältnis keinerlei Ähnlich- keit mit einer Atomgruppe, die eine Vielheit von Realitäten und Individuen ist. Es ist nun nicht zu leugnen, dafs, wenn D. Hume das Ich ein Bündel von Vorstellungen nannte und wenn andere viel von Vor- stellungsreihen und -massen redeten, dies die Meinung nahelegt, als hätten sie die mannigfaltigen gleichzeitigen Bewufsbseinsteile nur in der lockeren und äufserlichen Weise eines Kollektivs verbunden gedacht. Aber J. ist doch im Unrecht, wenn er der gesamten Assoziations- psychologie eine solche verkehrte Anschauung zu Grunde liegend denkt, und er irrt ganz entschieden, wenn er die Lehre von der Zusammen- setzung des Bewufstseins aus einer Vielheit wechselnder und wieder- kehrender Ideen mit der Zerreifsung desselben in eine Summe von Dingen identifiziert. Der Übereifer unseres Autors gegen die Asso- ziationspsychologieist überhaupt nur daraus erklärlich, dafs ihm seinerseits ein ebenso bedenkliches Versehen begegnet, indem er reale Einheit mit Einfachheit verwechselt und überall jene geleugnet zu sehen meint, wo in Wahrheit nur diese, und mit vollem Recht, verworfen ist. Unser Bewufstsein ist in jedem Augenblicke an absolutely unique pulse of thought nur in dem Sinne, dafs, was es auch immer für Teile und Momente enthalten mag, sie alle Teile Eines Dinges sind. Aber innerhalb dieser realen und individuellen Zusammengehörigkeit sind eben eine Fülle verschiedenartiger, teils loserer, teils innigerer Teil- verhältnisse denkbar. Und J. hat schon den ersten Schritt zu ihrer Anerkennung gethan, wenn er eine Zusammensetzung des intentionalen Objekts unseres Bewufstsein zugiebt.

21*

324 Besprechungen,

Aber haben wir ein Hecht, dieses Zugeständnis bei ihm vorauszusetzen? Oder ist, wenn er eine Wiederkehr des gleichen Objekts und eine Zn- sammensetzung der Objekte zugiebt, während er beides von den Ideen leugnet, in Wahrheit nicht das intentionale, sondern das wirkliche Objekt (oder auch nur der wie immer beschaffene sogenannte Beiz) gemeint ?

In der That scheint das Zugeständnis des Autors sich nur auf das Letztere, nicht auf das Erstere zu beziehen. Stumpf hatte im I. Bd. seiner Tonpsychologie S. 107 hervorgehoben: Wenn wir, in ein Zimmer tretend, Wärme- und Geruchsempfindungen gleichzeitig empfangen, ohne darauf zu merken (d. h. wohl: ohne sie explicite zu unterscheiden), so seien die beiden Empfindungsqualitäten nicht etwa als eine gänzlich neue ein- fache Qualität in uns, welche sich erst in dem Momente, wo wir unsere Aufmerksamkeit analysierend darauf hinwenden, in Geruch und Wanne verwandelte, sondern sie seien wirklich als Elemente in dem unanaly- sierten Ganzen enthalten und lassen sich bei gelingender Analyse als darin befindliche Teile erkennen. So sei es z. B., wenn es klar werde, dafs der durch Pfefiermünzöl erweckte Empfindungsinhalt aus Geschmacks- imd Temperaturempfindungen zusammengesetzt sei.

Dazu bemerkt J., er würde vorziehen zu sagen: „Wir nehmen wahr, dafs die Wirklichkeit (the objective fact), welche ims als Pfeffer- münzgeschmack bekannt ist, jene anderen Wirklichkeiten (those other objective facts) enthalte, die uns als aromatische oder duftige Qualität imd als Kälte bekannt sind. Aber es ist kein Grund anzunehmen, daüs der Träger oder das Mittel (the vehicle) dieser letzteren sehr komplexen Wahrnehmung irgend etwas gemein habe mit dem früheren psychischeo Zustand, geschweige denn dafs er in ihm enthalten sei.'' (I. S. 523 Anmerk., vgl. 158 Anmerk.) Da nun Stumpfs Meinung offenbar dahin geht, dafs das intentionale Objekt der durch Pfeffermünzöl erweckten Empfindung zusammengesetzt sei, so kann J.s Opposition nur so aufgefafst werden, dafs er dies leugnen und nur im wirklichen Objekt (d. h, hier im Eeiz) eine Zusammensetzung anerkennen will. Diesen Sinn haben offenbar auch die Ausführungen II. S. 30, die mit dem Satze schlieüsen: You cannot build up one . . Sensation out of many; and only direct experiment can informe us of what we shall perceive when we get many Stimuli at once. Alle Empfindungen sind phänomenal gleich ein- fach; das scheint J.s Meinung. Und wenn er trotzdem, wie wir eben hörten, von „komplexen" Wahrnehmungen spricht und die Perzep- tionen gegenüber den Empfindungen „zusammengesetzt" nennt, so scheint dies gar nicht deskriptiv oder phänomenal, sondern nur genetisch oder kausal gemeint. Die Eeize (Stimuli) sind zusammengesetzt, nicht die Empfindungsinhalte (vgl. IL S. 30).

Ebenso entschieden leugnet J. bezüglich der Gedanken (thoughts), dafs sie intentional jene Teile enthielten, die ihr wirkliches „Objekt" zusammensetzen. So wenn er es I. S. 278 für einen fundamentalen Irrtum erklärt zu glauben, dafs z. B. in dem Gedanken: das Pack Karten liegt auf dem Tische, ein Gedanke an das Pack Karten und an die Karten als in dem Packet enthalten und an den Tisch und an die Beine

Besprechungen, 325

des Tisches u. s. w. enthalten sei. Ja! hier, wo es sich nicht um Empfindungen handelt, erhebt er überhaupt entschiedenen Protest gegen die gewöhnliche Lehre „der Psychologen aller Schulen", als müfste zwischen den Gedanken und dem durch sie Vorgestellten (thing- known) irgend eine Ähnlichkeit bestehen, als müTsteu jene das Vorgestellte irgend wie „enthalten" oder „sein": that a thought must be what it means or mean what it is. (I. 471.) Von den Sensa- tionen könne man allenfalls sagen, dafs sie ihren „Objekten" ähnlich seien , von den „Gedanken oder Ideen" im engeren Sinnen dagegen in keiner Weise. Diese sind nach J. blofs Zeichen oder Symbole des Vorgestellten; sie bedeuten oder bezeichnen (signifie, mean) es blofs. Und mit aus diesem Grunde obwohl auch noch aus anderen^ kann er sich nicht genug thun in der Verdammung des Versuchs der gewöhnlichen Psychologie, die Thatsache des Bewufstseins , statt sie einfach als ein letztes imerklärliches Faktum zu postulieren, auf ein being of ideas zurückführen zu wollen. „Nein!" meint er, „eine Idee ist weder, was sie vorstellt, noch stellt sie vor, was sie ist" (I. 477), und die unglückliche Meinung, die Ideen müfsten irgendwie eine „Duplikat- ausgabe von dem sein", wovon sie ein Bewufstsein sind oder Ähnlichkeit mit ihm besitzen (I. 471), ist nach seiner Ansicht das Hindernis für die endliche Lösung der wichtigsten Probleme gewesen, z. B. für die Aus- tragung des Streites um die Natur der Begriffe.

Man sieht, die Opposition unseres Autors gegen die bisherige Psy- chologie ist eine weitgehende und radikale. Immerhin liegen auch dem hier Gesagten richtige Gedanken zu Grunde, nur vermengt mit Irrtümern imd Verwechslungen, die den Verf. allerdings weit neben das Ziel führen. Vor allem scheint er mir bei seinem letzterwähnten hartnäckigen Kampf gegen jedes „being of ideas" den Unterschied zwischen realem und inten- tionalem Sein nicht klar festzuhalten und infolge dessen den Gegnern Lehren zu unterschieben, die einen Eückfall in die kindlichsten Anschau- ungen der voraristotelischen Zeit bedeuten würden. Jonier und Eleaten meinten allerdings, zur Erklärung des Erkennens und des Bewufstseins überhaupt, ein wirkliches Eingehen des Erkannten in den Geist des Erkennenden und eine wirkliche Verähnlichung beider annehmen zu müssen. Aber schon der Stagirite hat diese primitive Anschauung durch die Unterscheidung zwischen wirklichem Sein und mentaler Innewohnung überwunden. Gewifs ! „Der Geist kann alle Arten von Dingen vorstellen, ohne dafs diese körperlich (bodily) in ihm sind." Nicht bodily führt er seine Vergangenheit mit sich, wenn er seiner früheren Erlebnisse gedenkt, und nicht real brauchen little rounded and finished off duplicates of M and n in uns zu sein, wenn wir m und n unterscheiden (vgl. I. 501. 499). Nur um eine mentale Innewohnung, ein intentionales „Enthalten" handelt es sich, und nur so ist es auch zu verstehen, wenn man seit Aristoteles sagt, der Gedanke sei gewissermafsen der Gegenstand oder er

^ Vgl. I. 501 : A Man's thought can know and mean all sorts of things» without those things getting bodily into it the distant, for example» the future, and the past. Vgl. auch die Anmerkung dazu!

326 Bespredmngen.

sei ihm ähnlich. Das intentionale Sein des Vorgestellten ist ebea sein Vorgestelltwerden, und dies ist das Korrelat des Vorstellens. In diesem Sinne also ist das know identisch mit dem being of ideas, und hat die letztere Lehre gar nichts „Mitleidwertes" (pitiful) an sich.^ Sie soll auch nicht eine Erklärung des Geheimnisses des Be- wufstseins sein, vielmehr eine einfache Beschreibung des Thatbestandes, wie ihn die innere Erfahrung zeigt.

Doch genug von diesem Versehen. Eingehendere Betrachtung for- dert ein zweiter Anlafs, der J. zu den obigen paradoxen Thesen gef&brt zu haben scheint. Wenn er nicht müde wird zu betonen, der ;,Ge danke*' brauche dem Objekt nicht ähnlich zu sein (während er es von der Empfin- dung gelten lassen will !), die „Idee" sei blofs ein Zeichen des Objekts und enthalte dasselbe nicht, so scheint ihm dabei auch die Thatsache vorzuschweben, dafs es un eigentliche Vorstellungen giebt. Bei ihnen gilt in der That, dafs sie dasjenige nicht zum Inhalt haben, wovon sie die Vorstellung genannt werden, und ihm auch in keiner Weise ähnlich zu sein brauchen, dafs sie es vielmehr blofs bezeichnen oder bedeuten. Es handelt sich um ein stellvertretendes Vorstellen, um ein Surrogat, und da kann man wirklich mit J. sagen, was der Gedanke sei und was er als Äquivalent vertrete, sei zweierlei, und es gilt in ganz besonderem Sinne : dafs the vehicle of the same-thing known nicht the same State of mind sei (I 481). Derselbe Gegenstand kann nämlich durch (in sich) ganz verschiedene uneigentliche Vorstellungen gedacht werden, wie auch umgekehrt dieselbe Vorstellung für das Denken von ganz verschiedenen Gegenständen in dieser Weise als Surrogat dienen kann.

Allein J. scheint mir über den Umfang dieses uneigentlichen Vor- stellens ganz irrige Anschauungen zu hegen, und schon die Fehler, die er darin begeht, zeigen, dafs er auch über die wahre Natur des Phäno- mens gar nicht im klaren ist. Als ein uneigentliches Vorstellen sieht ex offenbar soweit ihm überhaupt dieser Begriff deutlich geworden ist alles dasjenige an, was er eine psychische Franse nennt; wenigstens passen die Angaben, die er über diese eigentümliche Klasse macht, wenn überhaupt auf einen wirklichen psychischen Vorgang, alles in allem am ehesten auf das uneigentliche Vorstellen. Zum eigentlichen wären dagegen die Images zu rechnen, welche er den „Fransen^ als Gegensatz gegen- überstellt. Aber dadurch ist der Umfang des eigentlichen Vorstellens teils zu weit, teils auch wieder viel zu enge gefafst. Zu weit ; denn wenn J. imter Images neben den Empfindimgen (sensations *) auch die söge.

* Dafs sie die Folgerung involviere, unser Bewufstsein könne nur sich selbst zum Gegenstand haben (that an idea . . . can only know itself I. 471), kann nur derjenige glauben, welcher intentionales und wirkliches Objekt und wiederum intentionales Objekt und intentionale Beziehung nicht auseinander zu halten weifs.

* Wo er auch von einer Sensation of difference spricht, ist Sen- sation — da der Vorgang ganz ausdrücklich als eine Franse bezeichnet wird wohl uneigentlich zu deuten. Die wahrhaft sogenannten Sen- sationen aber (dieses anschauliche blau, jenes rot) sieht J. ohne Zweifel als eigentliche Vorstellungen an, und nur in diesem Sinne kann ich

Besprechungen, 327

nannten Phantasiebilder versteht, so hält er ein Vorstellen für eigentlich, das diesen Charakter nur teilweise besitzt, indem gerade von den soge- nannten Phantasievorstellungen die meisten dem nicht wahrhaft ähnlich sind, wovon sie die Vorstellung genannt werden, sondern es blofs be- zeichnen.* Aber auch zu eng. Denn J. scheint einerseits blofs die anschaulichen Vorstellungen physischer Phänomene im Auge zu haben (die Anschauungen unserer eigenen Bewufstseinszustände, woraus wir die Begriffe Vorstellen, Anerkennen, Verwerfen, Interesse, Wunsch, Wille u. s. w. abstrahieren, sind hier, wie fast tiberall bei ihm, ver- gessen), anderseits begeht er den Fehler, überhaupt nur die Anschau- ungen für eigentliche Vorstellimgen zu halten und das gesamte Gebiet der begrifflichen und Eelationsgedanken zum uneigentlichen Vorstellen (zu den „Fransen") zu rechnen. Und damit verrät er aufs deutlichste, dafs ihm die wahre Beschaffenheit des uneigentlichen Vorstellens verborgen geblieben ist. Wir nannten es eine Surrogatvorstellung. Es ist dies in dem Sinne, dafs es in Wahrheit einen ganz anderen Inhalt hat, als der Name seines sogenannten Objektes besagt, einen Inhalt, der zu dem durch den Namen bezeichneten blofs in irgend einer Beziehung steht. Dieser andere Inhalt aber wird nun voll und eigentlich vorgestellt. Es kann nicht ins Unendliche eine Vorstellungimmer wieder blofs durch ein Zeichen vertreten sein. Vielmehr ist sofort das Mittel, ein X imeigentlich vorzustellen, in sich selbst betrachtet eine eigent- licheVorstellung, d. h. sie stellt irgend etwas, was zu jenem X in Beziehung steht, nur nicht jenes X selbst, eigentlich vor, imd es gilt nach dieser Richtung ohne allen Zweifel von ihr, that it must be what it means. In dem Gesagten ist nun auch schon enthalten, dafs es durchaus nicht angeht, alle Beziehungsgedanken und allgemeinen Begriffe für uneigent- lich zu halten ; denn eben eigentliche Eelationsgedanken und eigentliche Begriff'e gehören zur Erklärung des ganzen Vorganges der uneigentlichen Vorstellungen, und aus diesen jene begreifen zu wollen, ist das offenkundigste Hysteronproteron. Inden Inhalten unserer eigentlichen Gedanken von Uni Versalien undEelationen liegen die Bausteine auch für all unser uneigentliches Vorstellen, und (da die Vorstellungen die Grundlage für alles Urteilen und Erkennen bilden) so hat schon Locke richtig gesehen, wenn er in der „Analyse der Ideen" eine der Grundlagen für jede Untersuchung nach der Tragweite unseres Erkenntnisvermögens erblickte. Ich sage : in der Analyse der Ideen. Denn die Inhalte jener eigentlichen Vorstellungen enthalten Teile, und ich sehe nicht, wie derjenige um dieses

es billigen, dafs er von ihnen im Gegensatz zu den Gedanken oder Ideen sagt, sie könnten den Objekten ähnlich genannt werden. Dafs ihrem Inhalt eine adäquate Wirklichkeit entspreche, wäre offenbar nicht richtig, und in diesem Sinne gilt von ihnen nicht, und weniger als von vielen Begriffen, dafs sie dem Objekt ähnlich sind. Gerade sie sind blofs Zeicnen des „Eeizes", den J. oft auch ungenau Objekt nennt. Da- gegen sind sie insofern nicht blofs symbolische Vorstellungen, als sie dasjenige, was ihr Name besagt (z. B. rot oder blau), wahrhaft zum Inhalt haben.

* Vgl. darüber unseren 6. Artikel „über Sprachreflex" u. s. w. a. a. O. XIV., S. 74 ff.

3 28 Besprechungen,

Zugeständnis herum kommen will, der wie J. zugiebt, dals die wirk- lichen Objekte Teile enthalten und dafs ihre „Ähnlichkeit" untereinander nicht in jeder Bichtung unanalysierbar sei, vielmehr in gewissen Fftllen partielle Identität bedeute. Sind doch, soweit diesen wirklichen Dingen eigentliche Vorstellungen entsprechen, diese letzteren eben intentional das, was jene wirklich sind und kommen wir nur mittelst der Analyse dieser intentionalen Inhalte auch zu einer Analyse des Wirklichen. Die Analyse der Inhalte unserer eigentlichen Vorstellungen aber ist wiederum die Grundlage für alles uneigentliche Vorstellen und für jede auf dieses gebaute Erkenntnis und Analyse des Wirklichen. Gäbe es keine „Analyse der Ideen", so würde dies mit dem Tode der Psychologie den Tod aller Wissenschaft überhaupt bedeuten. So wenig es angeht, bei den wirk- liehen Objekten überall und schlechtweg nur eine unanalysierbare Ähn- lichkeit anzunehmen, so wenig geht es im Gebiete der intentionalen Inhalte an. Die eine wie die andere Annahme hebt jede Möglichkeit fester Begriffe auf, und es ist also nicht blofs eine Täuschung durch die Sprache, „welche die Namen der Objekte auf die Vorstellungen überträgt", wenn man die „Ideen" für etwas Zusammengesetztes und einer wahren Analyse Fähiges hält. In manchen Fällen ist jene Gemeinsamkeit des Namens eine uneigentliche; aber nicht bei allen Gedanken, wie J. meint^ trifft dies zu, und wo der Inhalt eines Gedankens eigentlich ist, ist mit der Zusammensetzung seines wirklichen Objekts auch die des intentio- nalen („der Ideen") zugegeben. Diese eigentliche Gemeinsamkeit des Namens macht dann auch erst jene uneigentliche in anderen Fällen möglich.

So können wir denn im wesentlichsten imd wichtigsten J.s Oppo- sition gegen die bisherige Anschauung von der Analyse der Ideen nicht begründet finden. Wir wollen nicht leugnen, dafs die Lehre irrige Auswüchse mit sich geführt hat; aber bei alledem bleibt ihr ein richtiger und bedeutungsvoller Kern, der von keinem der J.schen Einwände berührt wird. Und man darf wohl sagen, dafs wenn die „LocKSSche Schule* nach einer Bichtung gefehlt, ihr neuester Kritiker in seiner Opposition gegen sie ebensoweit, wo nicht noch weiter, in der entgegengesetzten in die Irre gegangen ist.

a. Berechtigt ist, wir betonten es schon, sein Kampf gegen jeden Versuch, das Bewufstsein als ein Kollektiv von Bealitäten zu fassen. Doch reale Einheit ist nicht Einfachheit; sie schliefst nicht eine Mannigfaltigkeit von unterscheidbaren, ja auch von trennbaren Teilen und in diesem Sinne eine Vielheit distinkter Zustände aus. Nur diese Annahme aber bildet den Kern der Lehre von der Analyse der Ideen und der Associationspsychologie, und J. thut Unrecht, jene falsche „Atomistik" damit zu indentifizieren.

b. Bichtig ist ferner, dafs unser Vorstellen und das BewuDstsein überhaupt sein Objekt nicht real enthält. Doch dies ist seit der ersten Kindheit der Wissenschaft nie mehr die Meinung eines ernsten Forschers gewesen.

Es ist auch zuzugeben, dafs der psychische Zustand, der die Vor- stellung eines Gegenstandes genannt wird, nicht immer intentional

Besprechungen. 329

<las enthält, was der Name besagt, mit anderen Worten, dafs es uneigent- liche Vorstellungen giebt. Aber es wäre irrig zu glauben, dafs solche Vorstellungen gar keinen angebbaren Inhalt hätten oder etwas an und für sich Vages wären. Sie mögen oft schwer in ihrer eigentlichen BeschaflPenheit zu beschreiben sein ; schon darum, weil ihr Inhalt von un- sererAufmerksamkeit gewohnheitsmäfsig vernachlässigt wird über seiner Funktion als Surrogat und Zeichen für etwas Anderes. Aber daraus zu entnehmen, dafs die Vorgänge von vornherein unbeschreiblich und un- aualysierbar seien, das hiefse offenkundig in besonderer Form jenen Fehlschluls machen, den J. (I. S. 196) the psychologists fallacy nennt, und der in diesem Falle auf den beobachteten Gegenstand übertrüge, was blofs auf Bechnimg der unvollkommenen Beobachtung zu setzen ist.^ Niemals ist der Inhalt einer Vorstellung oder eines Bewufstseins über- haupt in sich selbst vag oder unbestimmbar; auch in diesem Sinne ist die bisherige Psychologie durchaus im Rechte, wenn sie überall di- stinkte psychische Zustände und definite ideas sehen will. Und weder wer in diesem, noch wer in dem unter a. angegebenen Sinne dar- auf ausgeht, das ganze psychische Leben in distinkte Zustände zu zer- gliedern, gefährdet dadurch, wie J. glaubt, die Kontinuität des Bewufst- seins. Diese erklärt sich in ganz anderer Weise und so, dafs, was er substantivische und was er transitive Zustände nennt, ganz in derselben Weise dazu beiträgt. Doch verbietet natürlich der Baum hier bei diesem Punkte zu verweilen.

c. Eichtig ist weiter an den Ausführungen des Autors, dais nicht alle unsere Vorstellungen Anschauungen sind, noch weniger (und dies tritt bei ihm selbst nicht klar und genügend hervor) alles Anschauungen von physischen Phänomenen. Neben „substantivischen Zuständen** (wenn man was ich aber nicht raten möchte die anschaulichen Vorstellungen von absoluten Inhalten so nennen will) besitzen wir Relationsvorstellungen und überhaupt begriffliche Gedanken. Und nicht blofs haben die „Sensationalisten" Unrecht, welche sie nicht als letzte Bestandteile des Bewufstseins anerkennen, vielmehr auf eine Kombi- nation von Anschauungen zurückführen wollen, sondern auch die von J. sogenannten „Spiritualisten", welche die Relationen für etwas a priori zu den Anschauungen Hinzugebrachtes und für Sache des reinen Verstände» erklären. Nein! die Relationen liegen so gut wie die absoluten Inhalte in den Anschauungen (nur nicht alle in den Anschauungen phy- sischer Phänomene, was auch J. vergifst!). Aber weder aus dem ersten, noch aus dem letzteren folgt, dafs die bezüglichen, Vor- stellungen sämtlich uneigentlich und in diesem Sinne „Fransen** sein müisten. Die Relationsgedanken und begrifflichen Vorstellungen sind

* Auch das ist nicht richtig, dafs die ,, Fransen" wenn damit die iineigentlichen Vorstellungen gemeint sind gar nicht, auch nicht in der Erinnerung, Gegenstand der Beobachtung sein könnten; ja! dafs sie über- haupt nie in ein nachträgliches Bewufstsein aufgenommen würden und nur physisch, nicht intellektuell zum übrigen Bewufstseinsstrom gehörten. (I. 644.) Alle diese Behauptungen sind so schief und übertrieben, dafs 3 selbst mit ihren Konsequenzen nicht Ernst zu machen vermochte.

330 Besprechungen,

zwar keine Anschauungen, und da sie doch nur in innigstem Kontakt mit den Anschauungen möglich sind, bilden sie relativ xmselbständige Teile des Bewufstseins;^ aber die elementaren unter ihnen enthalten wahrhaft das als intentionalen Inhalt, was ihr Name besagt, d.h. sie sind durch- aus eigentliche Vorstellungen, und nur auf Grund solcher eigent- licher Begriffe sind dann auch weiterhin noch die mannigfachen Ge- bilde der uneigentlichen Vorstellungen möglich.

d. Es war ein Irrtum gewisser „Associationspsychologen", wenn sie meinten, in der Empfindung vonWeifs die Empfindungen der verschie- denen Spektralfarben verschmolzen'* zu erkennen. Sie hielten da etwas für phänomenal zusammengesetzt, wovon ihnen in Wahrheit nur eine Zusammensetzung in den Ursachen bekannt war. Allein J. verirrt sich ins entgegengesetzte Extrem, wenn er bei keinem Empfindungs- oder „Wahrnehmungs"inhalt eine Mehrheit von Elementen in der Erscheinung anerkennen, sondern alle Zusammensetzung blofs in den Beizen suchen will. Bezüglich der Gefühle der Lust und Unlust mag es richtig sein, dais wir aus denjenigen, die an gewisse einfachere Eindrücke geknüpft sind, gar nicht die anderen abzuleiten vermögen, welche den ans jenen Elementen zusammengesetzten Eindruck begleiten werden, sondern darüber nur die spezifische Erfahrung in jedem Falle entscheiden kann. Aber etwas Anderes und J. hält dies nicht genug auseinander etwas Anderes sind Lust und Unlust, etwas Anderes die ihnen zu Gnmde liegenden Vorstellungen, z. B. die Empfindungen von Sinnesqualitäten. Bei den Empfindungsinhalten giebt es ohne Zweifel etwas wie eine meohanische Zusammensetzimg d. h. Composita, welche deskriptiv Elemente erkennen lassen und wahrhaft aus ihnen aufgebaut sind.

Dafs wir entsprechend einem allgemeinen Gesetze des Be- merkens — auch um ein solches Kompositum zu analysieren, d. h. auf seine Elemente im besonderen aufmerksam zu werden, diese Elemente gesondert oder als Teile anderer Kombinationen erfahren müssen, beweist blols, dafs eine kausale Scheidung oder eine Analyse der Heize Bedin- gung für die psychologische Analyse der phänomenalen Empfindongs- inhalte ist. Aber J. sollte deshalb nicht die letztere gänzlich leugnen und die erstere allein anerkennen wollen.

e. Wir billigen es natürlich auch nicht, wenn sog. Sensationalisten und Assoziationspsychologen sogar psychische Thätigkeiten, welche toto genere vom blofsen Vorstellen verschieden sind , aus einer Verbindung von Vorstellungen ableiten wollten. So sind wir z. B. mit J. ganz einver- standen, dafs zwei Ideen (m und n) haben noch gar nicht heilst: sie vergleichen oder unterscheiden. Die Vergleichung ist ein neuer Vorgang ganz anderer Art. Allein der Gesamtbewulstseinszustand, der die Ver-

^ Um dieser Unselbständigkeit willen ma^ man sie mit Fransen oder Säumen und mit dem Hof des Mondes vergleichen. Doch giebt es wohl noch bezeichnendere Bilder für ihr Verhältnis zur Anschauung. Dafs J. irrigerweise diesen Charakter von Unselbständigkeit nut einem ganz anderen verwechselt und so die Klasse : transitive states oder frine^es zu einer Herberge für Wesen ganz verschiedener Art und Herkunft macnt, wurde früher schon angedeutet.

Besprechungen. 331

gleichung und Unterscheidung von m und n vollzieht, involviert doch auch die Vorstellung von m und n und zwar die „reine" Vorstellung von beiden. In dem Sinne wenigstens, dafs wahrhaft m und n Inhalt imseres Vorstellens sein müssen. Ohne das wäre auch nicht wahrhaft ein Vergleich beider möglich. Bezeichnet einer mit J. (vgl. I. S. 498) eben das Verglichenwerden von m und n als ein nicht „rein" im Bewufstsein Bestehen derselben, dann ist selbstverständlich, dafs der Vergleichende m und n nicht rein vorstellt. Aber jene Ausdrucksweise scheint mir doch wenig glücklich, ja recht mifs- verständlich. Positiv unrichtig aber ist es, wenn der Verfasser an derselben Stelle sagt, das allgemeine Gesetz, dafs jeder Eindruck, den das Gehirn erfahren, eine Modifikation in ihm zurücklasse, welche als mitwirkender Faktor alle späteren Erfahrungen bestimme, bringe es mit sich, dafs wir unmöglich m und n unmittelbar nacheinander vor- stellen und sie „rein" d. h. (wie sofort gesagt wird) unverglichen (un- compaired) im Bewufstsein haben könnten. In Wahrheit können sich beide unmittelbar folgen, ohne dafs es zu einem Akt der Unter- scheidung kommt. In diesem Sinne mufs man auch gegen J. betonen, dafs zwei Ideen haben noch nicht heifst: sie unterscheiden!

Doch nicht genug! Indem der Verf. in der eben gehörten Weise die vermeintliche Unmöglichkeit, die „reine" Idee von m oder n zweimal zu erfahren, aus der bleibenden Modifikation erschliefst, die das Gehirn durch jeden Eindruck und jede Gleichgewichtsändenmg erleide, verweist er auch auf Ausführungen S. 232 236. Allein hier finde ich unter ähnlich klingenden Ausdrücken ganz andere Konsequenzen aus der beständigen Modifikation des Gehirns gezogen, von denen ich mich wundern mufs, dafs J. sie mit den vorhin erwähnten identifiziert. Es wird nämlich schlechtweg die Meinung vorgetragen: weil unsere Empfindungen und Gedanken nicht zweimal in einem völlig gleichen Gehirn (unmodified brain) stattfinden, vielmehr in jedem späteren Gehimzustand allle früheren nachwirkten, so folge, dafs in Wahrheit weder zwei gleiche Empfin- dungen noch zwei gleiche Gedanken jemals, früher und später, in uns auftreten könnten.

Wäre nun damit blofs gemeint, dafs unser psychischer Gesamt- zustand in einem beständigen Wechsel begriffen sei, so hätten wir nichts dagegen zu erinnern. Allein J. glaubt damit der sog. atomistischen Psychologie den Todesstofs zu versetzen, und so heifst bei ihm jeder Versuch, in dem unablässig wechselnden konkreten Gewebe unseres psy- chischen Lebens doch gewisse in gleicher Weise wiederkehrende Elemente zu entdecken. Eben dieser Versuch soll nun nach seiner Meinung schon durch die Grundthatsachen der Gehirnphysiologie ausgeschlossen sein, und in diesem Sinne soll die Thesis gelten, dafs es niemals etwas wie too successive copies of the same thought in uns gebe, vielmehr alles Spätere, was man einem Früheren für gleich halten möchte, in Wahr- heit ihm ungleich und irgendwie alteriert sei. Was aber diese Thesis betrifft, so mag man zwar als Thatsache zugeben, dafs nicht zweimal völlig dasselbe Gelb oder Bot und nicht zweimal ein Ton von absolut gleicher Tonhöhe in unserer Empfindung auftrete, und so im übrigen;

332 Besprechungen.

weil es sich dabei um Gebiete handelt, wo die Spezies in- finitesimal variieren. (Abgesehen davon, dafs wir auch wenn hier zweimal völlig dasselbe gegeben wäre es natürlich nicht zu konstatieren vermöchten.) Allein wenn jenes Nichtwiederkehren yOUig gleicher Empfindungsinhalte die notwendige Folge des Einflusses früherer Bewufstseinszustände und der Veränderung des Gehirns wäre, und aus den gleichen Gründen auch die Wiederkehr eines Gedankens vongeichem Inhalt eine Unmöglichkeit bildete, dann hätte dies doch für die Psychologie nicht blofs, sondern für die Wissenschaft überhaupt Folgen der bedenklichsten Art. J. findet selbst, wo er von den Begriffen handelt, the law of constancy in our meanings sei der wichtigste Zug unserer ganzen geistigen Organisation. Wohlan! Nach- dem sich uns oben gezeigt hat, dafs es eine Fiktion ist, wenn er glaubt, alle unsere begrifflichen Gedanken könnten etwas „meinen*' oder „be- deuten'', ohne es intentional zu enthalten, so folgt, dafs jener „wichtigste Zug unserer geistigen Organisation'^ eben darin besteht, dafs Gedanken von gleichem Inhalt wiederkehren und dafs wir wahrhaft und eigentlich mehrmal dasselbe denken können. Und diese Folgerung veranlafst ihn doch vielleicht zu einer Bevision seiner allzuzuversicht- lichen Schlüsse aus der Veränderung des Gehirns auf einen schlecht- hinig en Wechsel im Bewufstsein, wie er sie I. S. 230 37 gezogen und gegen die bisherige Psychologie gewendet hat!

f. Aber unserseits sei ein anderes und letztes Zugeständnis nicht verschwiegen. Die sog. Assoziationspsychologie hat manche Verknüpfung von Vorstellungsinhalten fälschlich für eine solche gehalten, wie sie zwischen den Inhalten assoziierter Vorstellungen besteht. Man hat die grofse Mannigfaltigkeit xmd verschiedene Eigenart der Teilverh&lt- nisse, die zwischen den Elementen unseres gleichzeitigen und wech- selnden Vorstellungsganzen bestehen , vielfach verkannt. So war es z. B. ein Irrtum, wenn Locke meinte, Baum und Farbe (ja sogar Ausdehnung und Gestalt) seien in derselben Weise ver- bunden wie (etwa in der Vorstellung des Zuckers) Farbe und Geschmack. Letztere bilden ein blofs äufserliches Kollektivum von Inhalten, und zwischen ihnen kann Assoziation, d. h. gewohnheitsmäisige Verknüpfungsich bilden. Wer dagegen bei den ersteren von Assoziation redete, der könnte es nur entweder vermöge gänzlicher Verkennung des wahren Sachverhaltes oder aber indem er mit Bewufstsein eine starke und aufs Entschiedenste zu mifsbilligende Äquivokation schüfe. Noch mehr haben diese Verschiedenheit der Verknüpfungsweisen in unseren Vorstellungs in halten Spätere verkannt, welche sogar Gattung und Spezies, z. B. Farbe und Böte, assoziert nannten, während in Wahrheit die letztere Vorstellung die erstere einschliefst. Kurz: Die Lehre von der Analyse der Ideen fällt nicht zusammen mit derjenigen von der Asso- ziation derselben. Aber nichtsdestoweniger bleibt die erstere eine der fundamentalsten Aufgaben des deskriptiven Teils der Psychologie, und die letztere eine der wertvollsten Leistungen, die der genetische Teil bisher aufzuweisen hat. Und ich kann mich, mit Bezug auf die zweit- genannte, auch nicht damit einverstanden erklären, wenn J. statt von

Besprechungen. 333

Ideenassoziation in Zukunft von Assoziation von Objekten (things thougt of) reden will. (Vgl I. S. 554 ff.) Die Opposition des Verfassers hängt mit schon bekannten Irrtümern zusammen, die er selbst begeht und mit anderen, die er Allgemein der ,, Assoziationspsychologie" unterschiebt. Eliminiert man sie, so fehlt jeder vernünftige Grund zu einer Einsprache gegen die bisherige Bezeichnung und zur Annahme der neuen. Dafs die Gesetze der Ideen- assoziation Gesetze der Verknüpfung der wirklichen Objekte seien, "Wäre offenkimdig unrichtig. Solche Gesetze sind z. B. die der Natur- wissenschaft. Es können also unter den things thought of blofs die intentionalen Objekte gemeint sei; und da eine der üblichen Be- deutungen des Wortes „Idee" eben auf die intentionalen Objekte unserer Vorstellungsthätigkeit geht, so hiefse es um Worte streiten, ja eine ganz brauchbare und bisher allgemein verstandene Ausdrucksweise ohne Not verlassen und mit einer mifsverständlichen vertauschen, wenn man dem Vorschlag von J. folgen wollte.

Wir sind ausführlicher geworden, als es bei Besprechungen wohl üblich ist. Doch konnten wir der grofsen Gelehrsamkeit und dem wirk- lichen Wert des besprochenen Werkes einerseits und der Sache der Wahrheit anderseits nicht gebührend gerecht werden, als indem wir, wo eine Mifsbilligung ausgesprochen werden mufste, sie eingehender begründeten. Der Verfasser stellt in der ehrlichsten Absicht, die Psychologie von Irrtümern zu befreien , und Hand in Hand mit Ausführungen, die Gründlichkeit und Exaktheit in gewisser Eichtung anstreben, Grundsätze auf, die diese Wissenschaft nach anderer Eichtung der Seichtigkeit überliefern und damit indirekt auch jene von ihm selbst angestrebte Exaktheit gefährden würden; ja Gnmdsätze, die kon- sequent durchgeführt die Möglichkeit jeglicher psychologischen Forschung in Frage stellen. Dies erheischte eine Verständigung, und ihr, nicht der Bemängelimg der Arbeit eines unermüdlichen und geist- vollen Forschers, sollten diese Zeilen dienen.

A. Maety (Prag).

Litteraturbericht,

Th. Floubnoy. (Priv.-Doc. de Philosopliie k rUniversit6 de Gen^ye). Mätaphysiane et Psychologie. Genf, H. Georg, 1890. 133 S. In lebhafter und anziehender Darstellung entwickelt der Verfasser seine Auffassung von der Aufgabe der wissenschaftlichen Psychologie, dem Wesen der Metaphysik und dem Verhältnis beider. Die wissen- schaftliche Psychologie fällt ihm mit der experimentellen und physio* logischen Psychologie zusammen. Erst durch Vermittelung der ent- sprechenden Gehimyorgänge sei es möglich geworden, die seelischen Vorgänge den Methoden der Beobachtung, des Experimentes und des Messens zu unterwerfen (S. 5 ff.). Die Psychologie müsse, um sich sn einer positiven Wissenschaft zu erheben, so sehr als möglich physio- logisch werden (S. 15). Die Metaphysik sei in jeder Form ein für alle- mal aus der Psychologie auszuschliefsen (S. 51). Allenthalben tritt der Gedanke zu Tage: wollte die Psychologie sich auf metaphysische Betrachtimgen einlassen, so würde sie gegen ihre Methode und ihre obersten Voraussetzungen verstofsen und so sich selbst aufgeben (S. 7, 11, 83). Der Verfasser fafst nicht die Frage ins Auge, ob nicht, wie u. a. auch Wundt annimmt, ein doppelter Betrieb der Psychologie unter- schieden werden müsse : erstlich der empirische, und zweitens der philo- sophische und letzten Endes metaphysische. Und es wäre für den Ver- fasser auch überflüssig, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dft für ihn alle Fragen, die über die Erscheinimgswelt hinausführen, ein Gebiet bedeuten, auf dem der wissenschaftliche Verstand schlechtweg versagt. Auf diesem Gebiet giebt es wohl ein rein privates Zustimmen oder Verwerfen, aber keine wissenschaftlichen Erörtenmgen (S. 50, 61 und oft). Der Verfasser geht so weit, zu behaupten, dafs alle Arten der Metaphysik vom Standpunkt der wissenschafblichen Erkenntnis aus gleich gut und gleich schlecht seien, dafs die Wissenschaft zu ihnen allen cUft gleiche Verhältnis der vollständigen Gleichgültigkeit habe (S. 60). Und man mufs ihm zugestehen, dafs er diesem metaphysischen Agnostizismus was sich wohl nur von wenigen Vertretern desselben rühmen läist durchweg treu bleibt.

Das vorliegende Buch scheint mir ein Beispiel von jener in unserer Zeit viel verbreiteten Haltung gegenüber allen metaphysischen Fragen zu bieten, die ich als Denkschwäche aus Grundsatz bezeichnen möchte.

Liiteraturhericht 335

Infolge von Mifsverständnissen und Vorurteilen setzt sich bei vielen der Grundsatz, dafs es auf metaphysischem Felde keine wissenschaftlichen Untersuchungen geben könne, mit solcher Hartnäckigkeit fest, dafs nun in der That die Logik ihres Denkens auch den dringendsten Aufforde- rungen gegenüber, sobald diese auf metaphysischem Gebiet an sie heran- treten, stumpf bleibt. Sie überlassen dieses Gebiet, auch wenn sie seine grofse Wichtigkeit für Gemütshaltung und Lebensführung zugestehen^ lieber dem Zufall des individuellen Fühlens und Glaubens (S. 82, 84), sie muten dem Verstände lieber zu, sich mit den unbegreiflichsten und unfertigsten Voraussetzungen zu begnügen und angesichts des Sound- nichtandersseins der Grundzüge der Erfahrungswelt das Fragebedürfnis gewaltsam zu unterdrücken, als dafs sie auch nur ein bescheidenes Auf- hellen des metaphysischen Gebietes durch Abwägen von Gründen und Gegengründen zugäben. Auch wird nicht bedacht, dafs dieser Igno- rantismus sehr leicht ich sage nicht, dafs dies bei dem Verfasser der Fall ist zum Obskurantismus führen kann. Die ganze supranatura- listische Dogmatik kann auf diesem Boden neu erblühen. Zu den Vor- urteilen aber, die zu einer so weitgehenden Verkürzung der Ansprüche des Denkens führen, gehört insbesondere die Meinung, dafs die Wissen- schaftlichkeit notwendig an das zwingende Beweisen und vor allem an die erfahrungsmäfsige Bestätigung gebunden sei. Hiergegen stelle ich die Behauptung auf, dafs die Wissenschaftlichkeit so weit reicht, als sich prinzipielle Fragen durch Aufstellung von Grtlnden und Gegengründen selbst wenn die Ergebnisse nur sehr hypothetisch bleiben sollten erörtern lassen. Ich habe mich hierüber zu wiederholten Malen aus- gesprochen {Über die Möglichkeit der Metaphysik, S. 17; Erfahrung und Denken, S. 435 ff.; Vorträge zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, S. 77).

Ihr eigentümliches Gepräge erhält die Stellung, in die der Verfasser Metaphysik und Psychologie rückt, erst durch die Grundvoraussetzung, die er aller Psychologie unterlegt. Er bezeichnet diese als das Prinzip des psychophysischen Parallelismus und Dualismus. Jedem seelischen Vorgang entspricht ein körperlicher Vorgang; und dieses Entsprechen ist lediglich in dem Sinne des Begleitens zu nehmen. Zwischen dem seelischen und dem entsprechenden Gehirn-Vorgang findet kein Herüber- und Hinüberwirken, kein infiuxus statt, sie sind schlechtweg andersartig, auf keine Einheit zurückführbar, ein unüberbrückbarer Abgrund gähnt zwischen ihnen (S. 5ff., 17 ff., 86, 115). Dieser vollständige Dualismus zwischen Seelischem und Körperlichem ist das letzte Wort der Psycho- logie, sowie der Wissenschaft überhaupt. Es wird damit der Psycho- logie allerdings etwas TJnerklärbares als letzte Voraussetzimg zu Grunde gelegt; allein nichtsdestoweniger hat sich die Psychologie, sowie die Wissenschaft überhaupt dabei zu beruhigen (S. 20).

Hier finde ich den angreifbarsten Pimkt in der Stellung des Ver- fassers. Zwar dafs er jedem Bewufstseinsvorgang einen Gehirnvorgang als parallellaufend annimmt, möchte wohl nicht zu bestreiten sein. Da« gegen wird der Widerspruch durch die beiden weiteren Annahmen herausgefordert, dafs dieser Parallelismus aufgefafst werden solle als-

336 Litterahirbericht

kausalitätslos dualistisches Verhältnis, als unerklärliche Simultaneität, und dafs ferner dieses schlechtweg gleichgültige Neheneinander nicht etwa nur als etwas vorläufiges Zugestandenes, sondern als endgültige Entscheidung der Wissenschaft zu betrachten sei. Ich kann diesem Standpunkt gegenüber nicht mit dem Urteil zurückhalten, dafs er der Psychologie zumutet, etwas Wunderbares und Widersinniges als letzte Grundlage aller ihrer Untersuchungen anzuerkennen.

Wir sollen uns einerseits ein ausnahmsloses Begleitetwerden der Glieder der seelischen Beihe von solchen der körperlichen vorstellen und andererseits doch jede Abhängigkeit zwischen beiden Reihen so- wohl jede unmittelbare, als auch jede durch das Medium eines Absoluten hindurch vermittelte als ausgeschlossen ansehen. Einerseits also strengste Simultaneität beider Beihen und andererseits doch weder ein unmittelbares, noch mittelbares kausales Verhältnis zwischen ihnen! Nur ein hartnäckiges Nichtdenkenwollen kann sich bei diesem TJngedanken beruhigen. Um nur ja nicht in die gefürchtete Metaphysik hinein- zugeraten, legt der Verfasser lieber dem vorwärtsdrängenden Kausa- litätsbedürfnis in der Gestalt eines aller Logik widerstreitenden Wunders ein unbedingtes Hindernis entgegen. Und dies ist um so auffallender, als er selbst eingesteht, dafs weder die Thatsachen als solche, noch ein strenger Vemunftschlufs zur Aufstellung jenes psychologischen Grund- prinzips nötigen. Der Verfasser erblickt in diesem ein unentbehrliches Hülfsprinzip, ein Prinzip, ohne das die Psychologie nicht fortschreiten kann, ein Prinzip, das in dem Erfolg des Forschens seine Bechtfeiügung findet. Nichtsdestoweniger schreibt er diesem Prinzip den Bfing eines fundamentalen, konstitutiven Axioms der Psychologie zu, das sogar höher als die Thatsachen selber stehe (S. 9—11). Ich will an den hierin enthaltenen erkenntnistheoretischen Unklarheiten vorübergehen, dagegen möchte ich hervorheben, dafs, selbst wenn man dem Verfasser zugiebt, dafs "der methodisch leitende Grundsatz einer Wissenschaft nicht streng bewiesen zu sein brauche, er doch keineswegs geradezu Widersinn ent- halten dürfe. Der Verfasser spricht öfters aus, dafs mit dem Preisgeben jenes parallelistischen und dualistischen Grundsatzes sich die Psycho- logie ihre Lebensbedingungen rauben, einen Selbstmord an sich voll- ziehen würde, und dafs darum an jenem Grundsatz nicht gezweifelt werden dürfe (S. 11 und sonst). Hier erscheint die experimentelle Psycho- logie wie ein Götze, der um jeden Preis angebetet werden müsse. Sollte wirklich was ich nicht glaube das Dasein der experimentellen Psychologie an dem Grundsatz jenes unüberbrückbaren Dualismus hängen, so müfste eben, wenn es sich zeigt, dafs dieser Grundsatz einen völligen Widersinn einschliefst, die Forschungsweise der Psychologie geändert werden. Wäre mir der Baum gegönnt, so würde ich noch auf zwei Punkte einzugehen haben: erstlich darauf, dafs, da der Verfasser keine unbewufst seelischen Vorgänge zugiebt (S. 87 ff.), und da er überhaupt nicht geneigt ist, jedem körperlichen Vorgang einen seelischen ent- sprechen zu lassen (S. 13), die seelische Beihe eine allenthalben unter- brochene, zusammenhangslose, für den Kausalitätsbegriff unzugängliche Succession darstellt; und zweitens darauf, dafs, da der Verfasser den

Liiteraturbericht 337

Phänoraenalismus zurückweist (S. 44 ff.), ihm also die körperlichen Vor- gänge für transsubjektiv gelten, er im Grunde mit seinem psychologischen Grundprinzip auf metaphysischem Boden steht.

Noch mufs ich eine wesentliche Ergänzung zur Sprache bringen, die der Verfasser seinem wissenschaftlichen Standpunkte auf dem Felde der persönlichen Überzeugung giebt. Derselbe Mangel an Einheits- und Zusammenhangsbedürfnis, der jenes psychologische Grundprinzip kenn- zeichnet, zeigt sich auch in dem Verhältnis, in das er Wissenschaft und persönlichen Glauben setzt. Es ist mit allem Nachdruck anzuerkennen, dafs er jenen Übereiltheiten nicht zustimmt, die aus der Einschränkung des exakt wissenschaftlichen Verfahrens auf das Erfahrungsgebiet sofort die Folgerung ziehen, dafs es überhaupt kein Reich des Übersinnlichen geben könne (S. 35 ff., 62 ff., 72 ff., 124 ff.). Die Wissenschaft bietet nach des Verfassers Überzeugung weder irgendwelche Grtlnde für, noch gegen die Annahme der übersinnlichen Gegenstände. Zu diesen rechnet er insbesondere die Willensfreiheit im streng indeterministischen Sinne und die Unsterblichkeit; und mit Nachdruck hebt er gerade mit Rücksicht auf diese beiden Fragen die völlige Ohnmacht der Wissenschaft im Be- jahen, wie im Verneinen hervor (S. 53, 82). So kommt er schliefslich auf den KANTSchen Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft, von wissenschaftlicher und moralischer Überzeugung hinaus (S. 72 ff.) ; nur dafs bei ihm all die Überschreitungen der prinzipiell gezogenen Schranken von selten der theoretischen Vernunft, die sich bei Kant reichlich finden, gänzlich vermieden sind und sonach die Kluft zwischen Erkennen und Glauben bei dem Verfasser als viel reiner und weiter erscheint. Und auch darin ist der Verfasser mit Kant derselben Meinung, dafs er sich gleich diesem entschieden auf die Seite des moralischen Glaubens stellt; nur dafs auch hier wieder die Versuche Kants, die mo- ralische Gewifsheit zu einer objektiven, unbedingten Gewifsheit empor- zusteigern, fehlen und das rein Private jener Entscheidung betont wird. So erscheint bei dem Verfasser noch mehr als bei Kant der menschliche Geist in zwei völlig getrennte Teile auseinandergerissen. Wenn man das uns beschäftigende Buch liest, so sollte man glauben, dafs Erkennen und moralisches Bewufstsein einander so fremd gegenüberstehen, wie etwa Farben- iind Tonempfindungen. Und doch ist unbestreitbar, dafs wir alle Äufserungen unseres moralischen Bewufstseins, um nur über- haupt von ihnen sprechen zu können, in die logischen Zusammenhänge des Verstandes bringen müssen. So wird wohl auch die Erkenntnis- thätigkeit des Menschen nicht mit einem Male dort abschnappen, wo das moralische Bedürfen und Glauben beginnt. Welche seltsame Zu- sammenkoppelung wäre auch der Mensch, wenn Erkennen und Wollen nichts, rein gar nichts miteinander zu thun hätten!

Noch eine Steigerung indessen erfährt die Unhaltbarkeit des vom Verfasser vertretenen Standpunktes. In der interessanten Betrachtung, die der Verfasser über die Willensfreiheit anstellt, kommt zu Tage, dafs nach seiner individuellen Überzeugung das moralische Bewufstsein mit seiner Forderung der streng indeterministischen Willensfreiheit die volle Wahrheit besitzt, dagegen das wissenschaftliche Erkennen mit seiner

Zeitschrin fOr Psycholo^fie in. 22

338 LitteraturherichU

Behauptung von der ausnahmslosen Notwendigkeit in Täuschung begriffen ist. Wenn die Wissenschaft alle Erscheinungen unerbittlich in ihr Kausalltätsnetz zieht, so ist dies eine unvermeidliche, aber im Grunde unangemessene und falsche Betrachtungsweise des wahren Wesens der Dinge. Dieses kann nicht erkannt, sondern nur gefühlt, gewollt, erlebt werden (S. 74 ff.)« Dieser Anschauungsweise gegenüber wird die Frage unabweisbar, warum denn noch Überhaupt Wissenschaft betrieben werden solle, wenn sie doch ein blofses Zerrbild der Wirklichkeit liefere? Wäre es nicht richtiger, den Erkenntnistrieb niederzuhalten, als ihn wie der Verfasser thut durch Aufbieten aller Mittel zu steigern und ihn. sich immer tiefer in seine doch im Grunde auf Spinnweben gerichtete und verkehrte Eigenart verrennen zu lassen? Zuerst konstruiert sich der Verfasser vom Erkennen ein künstliches, der Natur des menschlichen Geistes Gewalt anthuendes Bild, und sodann erklärt er das Erkennen für eine in Schein und Täuschung befangene Art, sich der Dinge zu be- mächtigen. So wird es denn wohl auch nur das vom Verfasser dem Erkennen willkürlich untergeschobene Gebilde sein, das sich durch das Endergebnis seiner Betrachtungen als gerichtet erweist.

Der Beobachter der gegenwärtigen philosophischen Bestrebungen macht oft die Wahrnehmung, dafs das Bemühen, alle Metaphysik fem zu halten, oder auch die allzu zaghafte Art, sie zu betreiben, die mannig- faltigsten Gezwungenheiten, Unklarheiten, Widersprüche im Gefolge hat. Ein lehrreiches Beispiel hierfür bietet der Verfasser dar. Sein meta- physischer Agnostizismus ist so folgerichtig und vorurteilsfrei, wie es wohl nur selten der Fall sein dürfte, durchgeführt; gerade daram aber tritt bei ihm besonders deutlich hervor, wie die gekünstelte, dem Denken Gewalt anthuende Grundlegung der Psychologie, indem die gewaltsam verbannte Metaphysik gleichsam Rache nimmt, sich selbst für unhaltbar und nichtig erklärt. J. Volkelt (Würzburg).

A. L. Kym (Zürich). Ober die mensclüiclie Seele, ihre Selbstrealität und Fortdauer. Eine psychologisch-prinzipielle Untersuchung. Berlin, Kurt Brachvogel 1890. 46 S.

Diese Abhandlung ein Abschnitt aus einem in Aussicht gestellten gröfseren Werke gehört dem Teil der Psychologie an, den man am besten als Metaphysik der Psychologie bezeichnen kann. Wer, wie ich, es für wissenschaftlich geboten hält, dafs die Psychologie in meta- physischen Erörterungen ihren Abschlufs finde, wird das vorliegende Schriftchen nicht schon darum, weil seine Art zu dem gegenwärtig vor- herrschenden Betriebe der Psychologie in schroffem Gegensatze steht, für imberechtigt und verfehlt ansehen.

Kym ist einer der wenigen, die sich gegenwärtig der älteren, speku- lativen Art, Metaphysik zu treiben, eng anschliefsen. So häufig er hervorhebt, dafs er nur auf Grund von Thatsachen metaphysische Sätze erschliefsen wolle (S. 33, 35, 43), so ist doch bei ihm noch vielfach das Philosophieren aus dem „Begriff" der Sache heraus zu finden. Und auch, wo er aus Thatsachen Schlüsse zieht, läfst er sich nicht genügend auf ihre Vielgestaltigkeit, Vielbezüglichkeit und Vieldeutigkeit ein. Seine meta-

Litteraturhericht. 339

physischen Ergebnisse scheinen sich mir nicht genug in Anpassung an die Relativitäten der Erfahrungswelt zu entwickeln, sie stehen in zu unbe- dingter, zu erhabener Haltung dem so erschreckend endlichen Erschei- nungsdasein des Menschen gegenüber. Die Seele ist Selbstbewegimg, Spontaneität, Freithätigkeit ; „sie ist von Anfang an Thätigkeit im höchsten Grade und in der Vollendung" (S. 6); sie besitzt dem Leibe gegenüber ein „Fürsichsein imd eine selbständige, auf sich selbst ruhende Realität" (S. 8) u. s. w. Auch wenn man zugiebt, dafs dies alles nicht ohne guten Sinn ist, so wird man diese Behauptungen doch nicht so ohne weiteres, ohne alle näheren Bestimmungen und Einschränkungen, hinstellen dürfen. Auch, wo der Verfasser seine Gründe für die Unsterblichkeit der Seele entwickelt, läfst er es nach meiner Überzeugung zu sehr an Wenn und Aber fehlen. Er gründet die Unsterblichkeit vor allem darauf, dafs die sittliche Anlage des Menschen, weil sie im irdischen Dasein nicht voll- ständig entwickelt werden könne, über dieses Dasein hinausweise (S. 41 ff.). Er giebt zwar zu, dafs hiermit die Unsterblichkeit nicht in adäquater und vollendeter Weise bewiesen sei ; doch hofft er, dalSs wir es zu einer solchen Erkenntnis einst bringen werden (S. 44).

Im besonderen nun scheinen mir die Erörterungen Kyms an zwei Mängeln zu leiden. Erstens führen fast alle seine Schlüsse in Wahrheit nur bis zur Immaterialität der seelischen Vorgänge, nicht aber bis zur Substantialität („Selbstrealität") der Seele. Die Thatsache der Empfindimg, ebenso die des Selbstbewufstseins, des Denkens u. s. w. zwingen zunächst nur zu der Annahme, dafs die seelischen Vorgänge etwas von allem Materiellen Grundverschiedenes sind, während für den Verfasser diese Eigenexistenz der seelischen Erscheinimgen sofort den metaphysischen Sinn eines besonderen einheitlichen Seelenwesens annimmt (S. 13, 15, 21, 25, 38). Und zweitens verlieren die Ergebnisse des Verfassers darum an Überzeugungskraft, weil er mit der Selbständigkeit des Seelenwesens immer auch schon dies Weitere bewiesen zu haben glaubt, dafs die Seele den Leib organisiert, ihn „aus den physikalisch-chemischen Stoffen aufbaut" (S. 5, 15, 18, 20 u. s. w.).

Kym gehört zu den Philosophen, denen die Metaphysik die innerste Angelegenheit des Kopfes und eine der wichtigsten auch des Herzens ist. Im vollen Bewufstsein davon, dafs er wider den Strom schwimme, stellt er seine psychologische Grundauffassimg in entschiedener und doch ruhig sachlicher Weise hin. J. Volkelt (Würzburg).

A. SzANA. Beitrag snr Lehre von der ünermttdllclikeit der Nerven.

Dubois Arch. 1891. S. 315—320. Nachdem die motorischen Nervenendigungen des Kaninchenherzens durch Atropin gelähmt waren, wurde der Vagus stundenlang gereizt, nach dem Aufhören der Giftwirkung trat die Vagpisverlangsamung auf. Die Erscheinimg, dafs die Verlangsamung des Herzschlages erst allmählich sich ausbildete, liefs sich auf die Thatsache zurückführen, dals das Gift allmählig die Nervenendigungen verläfst: denn verstärkte man beim ersten Auftreten der Verlangsamung die Reizstärke, so lieis sich sofort

22*

340 Litteraturbcricht.

die maximale Wirkung auslösen. Diese Versuche erbringen somit auch für die Hemmungsneryen den Beweis der ünermüdlichkeit.

AsHEB (Heidelberg).

H. H. DoKALDON. Oerebral-Locallsation Amer, Joum. of Tsychology. IV. (1891) 113—129. In übersichtlicher Weise werden die durch Golgi, Köllikeb, Flechsig u. a. erlangten neueren Anschauungen über den Aufbau des Oentralnervensystems dargelegt; eingehend wird in teilweiser Zustimmung die Theorie Gaules von den festen Verhältnissen, in denen die Zellen auftreten sollen, besprochen. In Bezug auf die motorischen Centren schliefst sich D. im wesentlichen den Ergebnissen Horslets an, während er in Bezug auf die yielumstrittenen sensorischen Centren mehr den Ansichten von Goltz zuneigt. Eine wertvolle Stütze dieser letzteren sieht D. in der Ungleichwertigkeit anatomisch homologer Teile in den verschiedenen Tierklassen, das Grundprinzip sei die Einteilung in „segmentale'' Bahnen (über die hintere Wurzel nach der vordem) und „lange", den IJmweg über das Hirn nehmende Bahnen; die Ausbildung beider findet sich nim stets im umgekehrten Verhältnisse. Die Wieder- herstellung von Funktionen, ein Hauptbestandteil der MuKKSchen Theorien, wird von D. gleichfalls nicht anerkannt, namentlich auf Grand der Kritik Wundts über die psychologische Seite dieser Frage und der Versuche von Goltz. Mit Rücksicht auf Ds. mitgeteilte Anschauungen ist es interessant, dafs er die Ausbildung der Assoziationen nicht an ein morphologisches Substrat geknüpft erachtet; ein nicht näher mit- geteilter klinischer Fall wird als Beispiel angeführt.

Asheb (Heidelberg).

A. V. KoBANTi und J. Lob. Ober Störungen der kompensatorisdien und spontanen Bewegungen nach Verletzung des Orofshims. Pflügen

Ärch. Bd. 48. (1891.) S. 423-430.

Die kompensatorischen nystaktischen Augenbewegungen wurden beim ICaninchen durch Verletzung des linken Hinterhauptlappens derart geändert, dals nach rotierenden Linksdrehungen eine verminderte Anzahl von nystaktischen Nachschwingungen, nach Bechtsdrehungen eine bedeutend vermehrte Anzahl beobachtet wurden. Die Grölse der Störunng erwies sich nicht proportional der Gröfse des exstirpierten Stückes. Die sonstigen Augenbewegungen waren nicht verändert. In den Muskeln derjenigen Tiere, welche eine Abschwächung ihrer kompensatorischen Bewegungen zeigten, fand sich eine stärkere Spannung der Antagonisten der Seite, welche sowohl kompensatorische als auch spontane Be- wegungen schwächer ausführte eine Erscheinung, ähnlich der von Ewald nach Verletzung des inneren Ohres beobachteten. Es wird die Vermutung ausgesprochen, dafs die Verletzung der Grofshirnhemisphäre entweder Spannungsabnahme bezw. geringere Arbeitsleistung der Muskeln herbeiführe, oder die Erregbarkeit des inneren Ohres herab- setze, vielleicht auch beides. [Es könnte, nach dieser Auffassung, auch an die in den Hintersträngen verlaufenden Gleichgewichtsfasern

Litteraturbericht. 341

Bechterews gedacht werden. Wir vermissen eine Angabe über Lokali- sation der verletzten Stellen. Ref.] Asher (Heidelberg).

LuciANi. n cenrelletto. Nuovi studi di fisiologia normale e pato- logica. Firenze, Le Monnier Succ, 1891. 320 S. 48 Figg.

Seit Flourbns epochemachenden Becherches exp^rimentales sur les fonctions du systfeme nerveux im Anfang der 40er Jahre ist keine Arbeit über das Kleinhirn erschienen, die eine so vielversprechende Be- deutimg wie die vorliegende hat, die an Eeichhaltigkeit und Güte des Materials alle früheren Leistungen auf diesem Gebiete übertrifft und ihnen an Feinheit der Beobachtung mindestens gleichsteht. Durch 8 Jahre hindurch unausgesetztes Experimentieren an einer Reihe von Hiinden und Affen, die er was bisher nie geglQckt war nach der Zerstörung des Kleinhirns jahrelang am Leben zu erhalten verstand, hat der Verfasser endlich Licht in das mysteriöse Dunkel dieses Organes gebracht, über dessen Bedeutung noch bis zur Stunde die widerspruchs- vollsten Meinungen herrschen. Vorurteilsfreie Beobachtung der operierten Tiere, an denen er die anomalen Bewegungen, die Assoziation und Koordination, den Muskeltonus u. s. w. bei den verschiedenen Gangarten, Stellungen und alles das, was die komplizierte sogenannte Ataxia cerebellaris betrifft, analysiert, überzeugte L,, dafs die Lehre, wonach das Kleinhirn, das Organ der Koordination der Ortsbewegung (Floi:r£N8) oder das der Erhaltung des Gleichgewichtes (Maoekdie) sei, durchaus unbegründet «ist.

Vor allem war es nötig, sich über die Natur der Erscheinungen zu verständigen und möglichst auseinanderzuhalten, was als Wirkung von Reizung, was als Ausfalls-, was als Kompensations-, als Degenerations-, endlich als Symptom von Dystrophie anzusehen ist. Diese für den Beobachter sehr schwierige Aufgabe, deren Nicht- erfüllung die meisten Irrungen in der Lehre vom Kleinhirn verschuldet hat, führt Verfasser bei der Betrachtung der Folgen nach den ver- schiedenartigen Kleinhimverstümmelungen gewissenhaft durch.

1. Die einfachste Verletzung ist die Trennung des Kleinhirns in seine zwei Seitenhälften. Reizerscheinungen fehlen dabei; deut- lich sind die Ausfalls-Symptome, als: verminderte Energie bei Aiis- führung der gewöhnlichen Willensakte (Asthenie), verminderte Muskel- spannung während der Ruhe (Atonie), Haltlosigkeit der Muskeln, daher Schwanken, Zittern u. s. w. (Astasie).

Diese Vorgänge treten auf jeder der beiden Körperhälften gleich- mäfsig auf, folglich sei das Kleinhirn in physiologischer wie in anatomi- scher Beziehung ein einheitliches Organ.

2. Nach Zerstörung des Mittellappens treten in der ersten Woche die Reizerscheinungen in den Vordergrund, und zwar als Kontraktion der Nackenmuskeln und der Vorderextremitäten, infolgedessen aktive Stönmg der Koordination der willkürlichen Bewegungen. Danach die Ausfallssymptome, besonders auf den hinteren Extremitäten. Um das infolgedessen gestörte Gleichgewicht wiederz^lgewinnen, macht das Tier ungewöhnliche Bewegungen (funktionelle Kompensation), dir

342 Litteraturhericht

nach längerem Bestehen so geringfügig werden können, dafs dem weniger aufmerksamen Beobachter jede Anomalie entgeht, daher latent erscheint Folgerung: Mittel- uud Seitenlappen sind für die Funktion des Klein- hirns gleichwertig.

3. Unvollständige Zerstörung einer Hälfte (der rechten, bei Erhaltung eines beträchtlichen Teils der rechten Wurmhälfte und gleichzeitiger Amputation des Schenkelbündels an der Basis bei 4 Hunden) und

4. Vollständige Zerstörung der einen Kleinhirnhälfte lieferte das an besonderen Erscheinungen reichhaltigste Bild. Reizongs- erscheinungen waren Krümmung der Wirbelsäule nach der operierten Seite (bei durchschnittenem Schenkelbündel), Streckung eines Vorderbeins (bei verschontem Schenkelbündel), Botation um die Längsaxe des Körpers und Schielen nach der gesunden Seite (bei vollständiger Amputation des Schenkelbündels). Ausfallsymptome besonders deutlich auf der operierten Seite. Bei der unvollständigen Exstir- pation deutliche Kompensation, bei der vollständigen Abtragung nur gering.

5. Nach Abtragung des Mittel- und eines Seitenlappens ver- hielten sich die Beizerscheinungen wie bei 3 und 4., nur dafs das Kotieren nach der gesunden Seite heftiger imd anhaltender war. Die Aus£Edl- Symptome betrafen vorzugsweise die operierte Seite und die hinteren Extremi- täten. Organische Kompensation machte sich kaum bemerklich.

6. Unvollständige imd vollständige Zerstörung beider Klein- hirnhälften unterschieden sich von der alleinigen Abtragung des Wurmes nur durch gröfsere Heftigkeit und Ausdehnung der Beizerscheinan- gen. Das Botieren fiel weg, weil beiderseits die Schenkelbündel durch- schnitten waren. Ausfallsymptome anhaltender als bei Exstirpation des Wurmes, aber auch reichhaltigere Kompensation, natürlich nicht organischer Art. Dafs die funktionelle Kompensation überhaupt nur auf dem Einflufs der motorischen Bezirke des Grofshims beruhe, weist Verfasser dadurch nach, dafs er

7. mit der Zerstörung des Kleinhirns die des Gyrus sigmoi- deus (dem Gyrus prae- und postcentralis beim Menschen entsprechend) verband. Die 4 Himde mit fehlendem Kleinhirn, an denen jene Partie des Grofshirns abgetragen wurde, vermochten nicht wieder zu stehen, zu gehen oder zu schwimmen.

Die darauf folgende Analyse klinischer Fälle, die grolsenteils auch in Nothnagels Topischer Diagnostik der Himkrankkeiten erwähnt sind, ergiebt die Ähnlichkeit der betr. Zustände beim Menschen mit denen der operierten Tiere. Selbstverständlich kommen für die ausschlieüslicho Funktion des Kleinhirns nur die Fälle von mehr oder minder be- schränkter Kleinhirnatrophie in Betracht, die der künstlichen Exstir- pation analog sind. Die bisher unerklärliche Erscheinung von Symptom- losigkeit (Latenz) bei fast gänzlichem Wegfall des Kleinhirns (durch Entwickelungshemmung im Fötalleben) beruht auf der kompensatorischen Anpassung der übrigen Himteile. Übrigens weist L. nach, dafs keines der Segmente des Kleinhirns, auch der Wurm nicht von dem Notrkackl

Litieraturbericht 343

es annehmen zu müssen glaubt mit einer besonderen Wirksamkeit ausge- stattet ist, sondern dafs sie sämtlich einerlei Funktion besitzen. Und zwar besteht dieselbe in dem kontinuierlichen ruhigen, die Muskelkraft und Spannung, sowie die Bewegung der Muskelgruppen verstärkenden Einflufs im Zusammenhang mit dem übrigen Centralsystem. Sein Ausfall bedingt nicht Paralyse gewisser Muskeln, wie das beim Grofshim der Fall ist, sondern nur Schwäche. Eigentümlich ist ihm, dafs es vorzugsweise in direkter, das Grofshirn aber in gekreuzter Beziehung zu jenen steht; eigentümlich auch sein hervorragender Einflufs auf die hinteren, resp. unteren Extremitäten, bei dessen Wegfall das Gleichgewicht in der Körperhaltung gestört wird, zu dessen Herstellung abnorm erscheinende Bewegungen erforderlich werden (der Gang des Trunkenen). Nebenher geht der trophische Einflufs des Kleinhirns, der bei der Zerstönmg des letzteren in den Experimenten an Tieren durch Glykosurie und Acetonurie sich äufsert.

Wie einfach auch diese neue Lehre Lucianis erscheint, so haben doch die sehr komplicierten Verhältnisse, aus denen sie erwachsen ist, frühere Forscher, denen nur ein flüchtiges Material zu Gebote stand, zu ein- seitigen Auffassungen Veranlassimg gegeben. Verfasser analysiert die- selben in einem eigenen Kapitel von seinem höheren Standpunkt aus und zeichnet in meisterhaft klarer und scharfsinniger Weise die Geschichte der Physiologie des Kleinhirns von Eolando, Floitrens und Magendie an bis in die neueste Zeit. Dafs der Entwickelungsgang der- selben noch nicht völlig abgeschlossen ist, erkennt er gleichwohl selbst an, indem er die Frage „offen^ läfst, ob das Kleinhirn, gegen die noch geltende Meinung, wirklich ganz unempfindlich sei für äufsere Eindrücke. Eine weitere Perspektive bietet sich ihm dar in der Ähnlichkeit zwischen dem Elleinhim und den Intervertebralganglien in Beziehung auf Degeneration der Nervenbahnen bei ihrer Verletzung, sowie dystrophi- scher Zustände auf der Cutis. Fränkel (Dessau).

A. BoROHBBiNi e G. Gallerani. Snll' attivitä fonzionale del Oenrelletto. Biv, di freniatr. XVH. 3. (1891). S. 231—262.

In einer frühem Arbeit hat Boroherini seine Ansicht niedergelegt, dafs das Kleinhirn einen entschiedenen Einflufs auf die willkürlichen Ortsbewegungon, auf Gehen, Stehen, Laufen, Springen und auf die Bewegungen des Kopfes und Halses ausübe. Experimente an 5 Hunden, die er längere Zeit nach gänzlicher oder teilweiser Abtragung des Kleinhirns am Leben erhielt (14h, 58, 221, 104, 105 Tage), dienen ihm dazu, seine Anschauungen zu bestätigen und zu erweitem. Die Ergeb- nisse ihrer Experimente und Beobachtungen fassen die Verfasser in folgenden Sätzen zusanmien.

Das Kleinhirn ist ein für die Koordination der Willkürakte notwendiges Organ. Jede tiefere Verletzimg desselben bewirkt Ataxie. Das allmähliche Verschwinden der letztem beruht auf den bei der Operation zurückgebliebenen Stücken (die fast nie ernstliche histo« logische Veränderungen zeigen sollen).

Oberflächliche Verletzung, die bei der Operation immer zuerst

344 Litteraturhericht

den oberen hintern Teil betrifft, bewirkt dauerndesZittern des Kopfes und Halses; vollständige Zerstörung bewirkt dauernde Ataxie sämtlicher Willkürbewegungen, vor allem des Kopfes und Halses. Die Intelligenz des Tieres bleibt unberührt und erscheint wirksamer bei dem verletzten als bei dem normalen Tiere unter Beihülfe des Gesichts- sinnes. Bei geschlossenen Augen rührt sich das Tier nicht, sondern verharrt in der Lage der ihm aufgezwungenen Verdrehungen der Glieder.

Die Kleinhirnläsion verursacht Ernährungsstörungen, aber damit weder Modifikation der Muskelkraft, noch Störung irgend- welcher Sinnesfunktion.

Die Cerebellarataxie trägt denselben Charakter, wie beim Menschen die Spinalataxie. Bei jungen Tieren wird auch die Assoziation der automatischen Bewegungen beeinträchtigt , obgleich die Bewegungs- fähigkeit nicht leidet.

In diesen Sätzen findet Bef. zwar Anklänge an die Ergebnisse der weit zahlreicheren Experimente und tiefer durchdachten Beobachtungen LuciANis (U CervellettOy s. oben), aber auch den sehr gewagten Wider- spruch gegen den Angelpunkt der LuciANischen Theorie vom Ausfall der Muskelkraft, des Muskeltonus. Fbänkel (Dessau).

H. E. Mausuall. The physical basis of pleasnre and pain. Mind. XVI.

(1891) Nr. 63, S. 327-355, Nr. 64, S. 470—498.

Mind Nr. 56 hatte Verf. nachzuweisen versucht, dafs Lust und Schmerz primitive Qualitäten sind, die unter geeigneten Bedingungen mit jedem BewuTstseinszustand^ was immer sein Inhalt sei, auftauchen können. Diese Theorie sucht er nun hier zu stützen durch eine Untersuchung der physischen Basis der Lust- und Schmerzerscheinungen.

Zuerst giebt er eine eingehende Kritik aller bis jetzt erschienenen Theorien, die er in 4 groLse Gruppen einteilt. Sie beruhen zwar alle auf wirklicher Erfahrung, sind aber einseitig, weil jede nur eine bestimmte Art von Lust und Schmerz ausschliefslich betont und zur Grundlage nimmt. Verf. sucht daher eine Theorie, die alle jene Erfahrungs- thatsachen erklärt und in Beziehung zu einander bringt, und zugleich mit der allgemeinen Überzeugung, dafs alle Lust im Grunde ein und dasselbe sei, wie auch aller Schmerz, und dafs beide in eine enge Bezie- hung zu einander gebracht werden müssen, übereinstimmt.

Verfasser nimmt seinen Ausgang von der alten aristotelischen Theorie, die er verbessert dahin ausdrückt, die Aktivität des Organs irgend eines geistigen Inhalts ist, wenn wirksam, lustvoll, wenn unwirk- sam, schmerzhaft. Indem er nun nachweist, wie hierin auch die aus der Beschränkung einer Aktivität entstehenden Schmerzen imd die mit der Buhe verbundenen Lustgefühle eingeschlossen sind, und indem er die Bedeutung des „wirksam" und „unwirksam" näher festzustellen sucht, wird er dazu geführt, sein Hauptaugenmerk auf die Emährungsbedingimgea der Organe, auf die die nervösen Beize wirken, zu lenken, und kommt auf diesen Weg zu folgenden Sätzen:

Litieraiurbericht 345

1. Lust wird erfahren, wenn immer die physische Thätigkeit, die den Bewufstseinsinhalt bestimmt, nur in dem Verbrauch aufgespeicherter Kraft besteht, in der Umsetzung von potentieller in aktuelle Energie^ oder anders wenn immer die in der Eeaktion auf den Reiz entwickelte Energie im Betrag gröfser ist als die Energie des Eeizes.

2. Schmerz wird erfahren, wenn immer die physische Thätigkeit die den Bewufstseinsinhalt bestimmt, in einem solchen Verhältnis zum Nahrungsvorrath steht, dafs die in der Eeaktion auf den Eeiz ent- wickelte Energie im Betrag geringer ist als die Energie des Eeizes.

3. Ganz allgemein gilt also: Lust und Schmerz sind primitive Qualitäten psychischer Zustände, die bestimmt werden durch die Be- ziehungen zwischen Aktivität und Kapazität in den Organen, deren Thätigkeiten den Bewufstseinszustand begleiten.

Der zweite Aufsatz hat nun wesentlich den Zweck, im Detail nach- zuweisen, wie diese Hypothese die verschiedenen Lust- und Schmerz- erscheinungen verdeutlicht. Er erklärt des nähern, warum die Lust bei Fortdauer eines hypernormalen Eeizes schnell zur Indifferenz und zum Schmerz wird, warum Euhe, indem sie Accumulation von potentieller Energie ermöglicht, die Lustfähigkeit steigert, warum Schmerz bei Fortdauer des Eeizes nicht jene Tendenz zum Indifferenzpunkt zu suchen hat, und viele andere Erscheinungen dieser Art. Den Schlufs bildet ein kurzer Hinweis auf die Bedeutung dieser Theorie für Ethik, Pädagogik und Ästhetik. Gaupp (Cannstatt).

Georg Hirth. Aufgaben der Eunstphy Biologie. München und Leipzig. G. Hirths Kunstverlag, 1891. VIII und 611 S.

Der Begriff der Kunstphysiologie ist in dem vorliegenden Werke viel enger gefafst, als es dem eigentlichen Wort sinn entspricht. Der Verfasser berücksichtigt in seinen Darlegungen gar nicht die Tonkunst, deren Be- ziehung zu der Sinnesphysiologie bei dem gegenwärtigen Standpunkt unserer Kenntnisse doch wohl noch weiter durchgeführt ist, als dieses hinsichtlich der Malerei und Zeichenkunst der Fall. Doch dieses ist nur etwas rein Äufserliches, w^elches sich durch eine blofse Ändenmg des Titels leicht beseitigen liefse. Andererseits geht das Buch weit über den durch den Titel angezeigten Eahmen hinaus und hebt überall die rein psychologischen Gesichtspunkte hervor; und gerade auf diesem Gebiete ist eine ungemeine Fülle feiner Beobachtungen mitgeteilt. Eühmend mag hervorgehoben sein, dafs der Verfasser sich stets als ein Gegner aller metaphysischen Spekulation bekennt. Die Gesetzlichkeit in dem künst- lerischen Sehen und Schaffen zu erweisen, ist das allen Anschauungen und Bestrebungen des Verfassers zu Grunde liegende Ziel. Kunst und Wissenschaft sind Bethätigungen desselben Menschengeistes, und so müssen sie sich schliefslich denn auch unter dieselben Formen der Begriffe fassen lassen. Das ist freilich eine schwere Aufgabe, deren Lösiing nur in An- griff genommen werden kann von solchen, welche die hier in Betracht kommenden naturwissenschaftlichen Kenntnisse mit reicher Erfahrung und feinem Verständnis auf künstlerischem Gebiete vereinigen, v. Helm- HOLTZ, v. Brücke und v. Bezold haben diesen Weg betreten; der Verfasser

346 Litteraturbericht

des vorliegenden Werkes folgt ihnen in diesen Bestrebungen, und zwar in einer den Anschauungen und Bezeichnimgsweisen der Künstler von Beruf manchmal vielleicht noch besser sich anpassenden Form der Darstellung, als seine Vorgänger.

Die Stellung, welche er als Endergebnis seiner Untersuchungen gegenüber der Kunst und den Aufgaben der Kunstphysiologie einnimmt, charakterisiert der Verfasser selbst am besten dadurch, dafs er dem ge- samten Werke den SsNECASchen Ausspruch: „Omnis ars naturae imitatio est" als Motto vorsetzt.

In Bezug auf manche Einzelheiten freilich kann der Referent mit dem Verfasser nicht übereinstimmen; vor allem aber möchte er wünschen, dafs die Bezeichnungen sich an vielen Stellen mehr dem allgemeinen Sprachgebrauche anschlössen; so wird z. B. niemand wissen, was er unter den Kapitelüberschriften „Das doppelte Lichtbad und die Lichtwage^' oder „Unterströmimgen im verborgenen Q-emerk" zu verstehen hat, bevor er nicht die betreffenden Abschnitte selbst gelesen. Das ist eine unnötige Erschwenmg für den Leser, welche bei den weniger tief Ein- dringenden leicht den Gesamteindruck des Werkes benachteiligen könnte.

Die Ausstattung des Buches ist mustergültig.

Arthur König.

€h. Henry. Harmonies de Formes et de Oonlenrs. Demonstrations

pratiques avec le rapporteur esth6tique et le cercle chromatique.

Paris, Librairie A. Hermann, 1891. 65 S. Verfasser ist ein Mann von mancherlei Kenntnissen und auch von mancherlei eigenen Gedanken, aber die beiden scheinen bei ihm nicht den richtigen Umgang miteinander zu pflegen, und so produziert er in zahlreichen Publikationen höchst seltsame Dinge. Behufs kurzer Orien- tierung über ihn greife ich das vorliegende Schriftchen, einen Vortrag, heraus. Darin werden neben vielem Allbekannten einige Erfindungen mitgeteilt, vermittelst deren die Auffindung wohlgefälliger Paare von Farben oder von Lichthelligkeiten, sowie von wohlgefälligen Formen ,,auf streng mathematischer Basis'^ ermöglicht werden soll. Das Verständnis des Einzelnen ist ohne die Demonstrationen, auf die sich der Vortrag bezieht, nicht leicht; über den Wert wird nach einem Beispiel niemandem ein Zweifel sein. Das Bezept für die Auffindung von angenehm wirkenden Helligkeitspaaren lautet so (falls ich es richtig verstehe, was nicht ganz sicher ist). Man erhebe •/• (oder '/«) auf eine Potenz, deren Exponent entweder selbst eine Potenz von 2 ist, oder eine Primzahl gleich 1 plus einer Potenz von 2, oder endlich ein Produkt einer Potenz von 2 mit einer der vorbeschriebenen „rhythmischen" Zahlen. Die gefundene Zahl dividiere man noch so oft durch 2 (oder multipliziere sie mit 2), bis das Resultat zwischen 1 und 2 fällt, dann wird ein Licht von der Intensität der zuletzt gewonnenen Zahl neben einem Licht von der Intensität 1 einen angenehmen Eindruck machen. Vermittelst der „rhythmischen Zahlen'' kann man dann auch gleich alle möglichen harmo- nischen Farbenpaare auffinden; man braucht dazu nur noch eine von Henry entsprechend konstruierte und auch bereits publizierte Farben-

Litteraturbericht 347

tufel, die ich natürlich durch eine Beschreibung nicht zu ersetzen vermag.

Selbstverständlich darf bei einer so exakten Methode der Annehm- lichkeits- oder Unannehmlichkeitsgrad der Farben- und Formenkombi- nationen nicht blofs nach dem ungenauen subjektiven Ermessen bestimmt werden, sondern auch hier ist numerische Präzision erforderlich. Henry liefert daher gleich noch die Grundlagen zu einer Wissenschaft der Messung der Geftthlszustände. Leider nur vermittelst einer höchst frag- würdigen Theorie. Jeder Lust korrespondiert eine Vermehrung, jeder Unlust eine Verminderung der motorischen Reaktionen des Organismus. Weiter aber stehen Motilität und Sensibilität in einem bekannten Anta- gonismus ; Hyperästhesie bedingt im allgemeinen eine gewisse Bewegungs- losigkeit und umgekehrt. Beides vereinigt ergiebt, dafs angenehme Em- pfindungen verbunden sein müssen mit einer gewissen Abstumpfung, unangenehme mit einer gewissen Schärfung der Sensibilität, und dadurch wird die numerische Dosierung des Gefühls eine einfache Sache. Man bestimmt irgendwie die gröfsere oder geringere Leichtigkeit, mit der man die in Betracht kommenden Eindrücke oder unter ihrem Einflüsse andere Eindrücke voneinander zu unterscheiden vermag; je gröfser diese Empfindlichkeit, desto geringer die Annehmlichkeit und umgekehrt.

Jeder Brauch hat seinen Mifsbrauch. Dafs das Experimentieren in der Psychologie keine Ausnahme macht, könnte man hier lernen, wenn man's sonst nicht schon wüfste. Ebbixohaüs.

Marie Manac^ine. Le Bumienage mental dans la civiliaatioii moderne. Eifets-causes-remedes. Traduit du russe par E. Jaitbbrt. Avec une preface par Charles Richet, Paris, 3. Massen-Ausg., 1890.

Die Verfasserin hat eine aufgehäufte Gelehrsamkeit in ihr ebenso ernsthaftes als unterhaltendes Büchlein versenkt. Man wird daher finden, dafs sie nicht immer streng zu ihrem Thema redet, welches freilich seine Begrenzung nicht in sich selber hat. Aus der „geistigen Über- reizung" so etwas wie eine besondere Krankheit zu konstruieren, mufs als eine irrtümliche Unternehmung bezeichnet werden; während es von selbst einleuchtet, dafs heftige Anstrengung eines Organes sowohl für dieses als auch für andere Organe schädliche Wirkung haben, mithin die Ursache von Erkrankungen werden kann. Dafs nun durch das gesamte moderne Leben, zumal das grofsstäd tische, Gehirn und Sinnesorgane vieler Menschen übermäfsig in Anspruch genonmien werden; dafs die Allgemeinheit des Schulunterrichts, der höhere Unterricht insbesondere, die unreifen und oft erblich belasteten Nervensysteme der aus solchem Leben entspringenden Kinder unter ein Joch spannt, das zu schwer auf ihnen ruht . . . hierüber und über vieles damit Verwandte herrscht ja wohl ziemlich verbreitetes Einverständnis» das jedoch die hier gesammelten Beobachtungen und Citate nicht überflüssig macht. Die Verfasserin hat jedoch unrecht, wenn sie in diesen That Sachen und Ursachen die haupt- sächliche Gefahr fUr die Qualitäten der Hasse erblickt. In Wahrheit treffen diese Übel doch nur eine beschränkte Schicht in ihrer ganzen Schwere, nämlich besonders die am Handel, an der Politik, an der Wissen-

348 LiUeraiurhericht

Schaft Beteiligten, und da diese zugleich die höhere und vermögende za sein pflegt, so stehen ihr wiederum viele günstige Bedingungen und auch Verfügung über Heilmittel (Badereisen u. s. w ) helfend zur Seite. Gleichwohl wird diese Schicht niemals auf die Dauer mehrerer Gene- rationen mit Glück sich aus sich selber ergänzen können aus anderen Ursachen und auch wegen des surmenage mental. Damit zu- sammenhängend, aber doch noch weit mannigfacher bedingt, ist die That- sache, dafs die gesamte städtische und industrielle Bevölkerung, je mehr sie als solche ausgeprägt ist, um so weniger die Erneuerung von aulsen her entbehren kann, dafs folglich ein ganzes Volk, indem es städtisch und industriell wird, zuletzt die Quellen seines Lebens von sich ab- schneidet. Gute Bemerkungen hierüber findet man in dem rasch bekannt gewordenen Buche von G. Hansen „Die 3 Bevölkerungsstufen" (München 1889). Es sind zwei verschiedene Phänomene, ein kleineres und ein gröXseres

die Verfasserin scheint mir beide zu vermischen, indem sie sie imter den 1. Gesichtspunkt zwingt, der für das kleine am meisten charak- teristisch ist. Denn viel schwerer wiegen diejenigen Ursachen der Degeneration, welche auf die Masse drücken, als ungesunde Beschäf- tigungen, Überarbeit, Nachtarbeit, miasmatische Wohnung, mangelhafte Ernährung imd das ganze Käfigleben der Strafse. Laster kommen dazu

aber diese wirken auch in der oberen Schicht, und zwar verh&Itnis- mäfsig bei weitem stärker. Im ganzen und grofsen ist aber mit Konstatierung aller solcher Thatsachen nicht viel Erspriefsliches gethan, ebensowenig mit dem Anpredigen von Heilmitteln und mit düsteren Be- trachtungen über die Erblichkeit, worin auch dieses Büchlein sich er- geht. An exakten Untersuchungen über Vererbung psychischer Eigen- schaften, erworbene Modifikationen, gesunde wie kranke, leiden wir trotz der Arbeiten Galtons und anderer noch sehr erheblichen Mangel.

Hecht hübsche psychologische Erörterungen wird man antreffen über das Lesen (157), besonders das Zeitunglesen und seine Wirkxmgen; interessante medizinische nach Meynebt, Peter, Chabpentier über die Bedeutung des Gefäfssystems (196); und so noch viele merkwürdige Dinge, aus der modernsten Litteratur angesammelt.

F. Tönnies (Kiel).

über ein optisches Paradoxon.

Von

Franz Brentano

in Wien.

1. Ein befreundeter Physiologe machte mich jüngst mit einem überraschenden Falle optischer Täuschung bekannt, der ich erfrug nicht durch wen erst kürzlich, ohne Beigabe eines Erklärungsgrundes, veröffentlicht worden war. Auf einem Bogen Papier zog er mir zwei gerade Linien. Sie liefen un- gefähr parallel nebeneinander; ihre Länge betrug etwa 3, ihr Abstand 6 cm; dafs sie nahezu gleich sein müTsten, war sehr sichtlich. Dann brachte er an ihren Endpunkten je zwei kleine gerade Linien an, bei der einen so, dafs sie spitze Winkel (von etwa 30^), bei der anderen so, dafs sie stumpfe (von etwa 150®) mit ihr büdeten. (Figg. 1 u. 2.)

/..

V

Fia. 7.

\ Fig. 2.

Sofort schien von den zuvor gleichgeschätzten Linien die erste beträchtlich kürzer als die zweite. Wie erklärt sich, frug der Gelehrte, diese höchst anfällige Täuschung?

Zeitschrift für Psycholoffie m. 23

360 Fram Brentano.

Meine Antwort war, das Phänomen sei eine Folge der be- kannten Thatsache der Überschätzung kleiner und der Unter- schätzung grofser Winkel. Ich erläuterte kurz den Zusammen- hang, vermochte aber den Physiologen, der sich bereits eine andere Hypothese gebildet hatte, nicht recht zu überzeugen. Will ich dem Leser gegenüber eines besseren Erfolges sicher sein, so werde ich also den Fall wohl etwas umständlicher erörtern müssen.

2. Wie hatte ihn denn der erwähnte Forscher seinerseits sich zurechtlegen wollen? Seine Auffassung war folgende: Wenn man die angefügten Linien sehe, meinte er, komme einem unwillkürlich der Gedanke, dafs sie wie gespannte Striche an den ursprünglich gegebenen Linien zögen. So assocüefe sich die Vorstellung eines Zusammengezogen- und Gedehnt- werdens, und diese habe dann die ungleiche Beurteilung zur Folge.

Zeigen wir zunächst, wie diese Auffassung wenigstens it wohl richtig sein kann.

Vor allem. Wenn etwas Dehnbares an entgegengesetzten Enden gezogen wird, so scheint es nicht blofs, sondern wird wirklich verlängert; wenn aber etwas Undehnbares in ähnlicher Weise gezogen wird, so ist es man mache nur den Versuch mit einem Bleistift oder längeren Stabe nicht richtig, dafs man einer Täuschung unterliegt, als sei es länger geworden. Offenbar sind die Fälle, wo Undehnbares gezogen wird, zu häufig, als dafs eine so energische Association der Vorstellung der Dehnung an die Vorstellung des Ziehens, wie sie für die vermutete Suggestion erforderlich wäre, sich bilden könnte.

Ferner. Damit, dafs etwas zusammengezogen und etwas anderes gedehnt wird, ist noch wenig wahrscheinlich gemacht, dafs das erstere das kleinere sei; es könnte ja ursprüngUch eine beträchtlich gröfsere Länge gehabt haben. Die Versuchung zur Täuschung könnte also nur etwa für den bestehen, der die Linien vorher gesehen hätte, während sich dies man blicke nur auf die oben gezeichneten Figuren als durchaus gleich- gültig erweist.

Endlich noch ein experimentum crucis. Man setze statt der angefügten geraden Linien, welche gespannten Strichen ähnlich genannt wurden, kleine flache Bogen mit der konvexen

Über ein optisdies Paradoxon.

351

Seite der Hauptlinie (respektive einer gedachten Verlängerung derselben) zugekehrt. (Figg. 3 und 4.)

\

Y

/

Fig. 3.

A

Fig. 4.

Die Täuschung müfste schwinden; sie besteht aber that- sächlich ungeschwächt fort.

3. Wenn nun dieser Erklärungsversuch nicht durchfuhrbar ist, in was anderem könnte man den Grund der Täuschung vermuten?

Ein Gedanke liegt nicht fem, und besonders die zuletzt betrachteten Figuren dürften manchen darauf führen. Wenn die zu vergleichenden geraden Linien in der Weise, wie es hier geschieht, an ihren Enden Ansätze erfahren, so ist ihre Grenze nicht mehr so scharf markiert wie sie es früher ge- wesen. Infolge davon, könnte einer sagen, mag es geschehen, dafs man beim Vergleichen unvermerkt etwas hinzunimmt, was nicht mehr dazu gehört. Und namentlich erscheint es denkbar, dafs die Linie, wo die Ansätze oben und unten unter stumpfen Winkeln stattfinden, überschätzt wird, während für die andere eher das Gegenteil eintreten dürfte.

Aber wer hierin den Anlafs der irrigen Schätzung sucht, ist leicht zu widerlegen; denn die Täuschung besteht fort, auch wenn wir die Linien, deren Längen zu vergleichen sind, löschen und die schiefen Ansätze allein in der Zeichnung bestehen lassen. Die Abstände der voneinander abgekehrten Winkel- spitzen scheinen auch dann noch kleiner als die der einander zugekehrten, und doch kann von dem Zurechnen eines Teiles der Ansätze zum Abstände unter diesen Umständen gewifs nicht mehr gesprochen werden. (Figg. 5 und 6.)

23*

352 Franz Brentano.

Nebenbei sei bemerkt, dafs der Fortbestand der Täuschung bei so verändertem Phänomen nicht blofs diese, sondern als ein viertes und recht schlagendes Argument auch die frühere Hypothese zu widerlegen dient. Von einem Zusammenziehen und Dehnen des blofsen Abstandes, dem keine gezeichnete Linie entspricht, an der die Ansätze wie Striche angebracht wären, kann ja offenbar keine Rede sein.

V

Flg. 5. F%g. 6.

4. Aber eine dritte Hypothese bedarf noch einer kurzen Würdigimg. Vielleicht denkt sich einer den Anlafs der Täuschung auf folgende Weise gegeben. Wenn wir die Linien ihrer Länge nach vergleichen, könnte er sagen, so bestreicht sie von einem Ende zum andern unser Blick, und die Muskel- gefühle bei diesen Augenbewegungen dienen unserer Grö&en- schätzung zum Anhalt. Wird nun die eine Linie in stumpfen Winkeln fortgesetzt, so geschieht es leicht, dafs man, indem die Ansätze die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, beim Beginn der Bewegung nicht genau den Anfangspunkt, sondern einen Punkt, der noch aufserhalb der Linie und zwischen den An- sätzen Hegt, fixiert, und ebenso, dafs man beim Aufhören der Bewegung nicht genau mit der Fixation des andern Endpunktes abschliefst, sondern bis zu einem Punkte fortgleitet, der schon aufserhalb der Linie zwischen den Ansätzen gelegen ist. Die Endpunkte der Linie mögen dabei den äufsersten Fixations- punkten immer noch nahe genug liegen, um gleichzeitig deutlich wahrgenommen zu werden, und so mag es uns voll- ständig entgehen, dafs unser erster und letzter Fixationspunkt nicht der eigentlich erste und letzte Punkt der Linie sind. Ahnliches wird da gelten, wo die Linie in spitzen Winkeln

über ein optisches Paradoxon. 353

Ansätze erfährt. Indem diese Ansätze unwillkürlich die Auf- merksamkeit auf sich lenken, macht man unvermerkt einen Punkt, der innerhalb der Linie, zwischen den beiden Schenkeln liegt, zum ersten und wieder einen solchen zum letzten Fixations- punkte.

m

Dal's aber auch diese Hypothese nicht aus- -^ ^

reicht, zeigt folgende einfache Variation des Ex- perimentes. Statt unter schiefen, setze man die kleinen Linien unter rechten Winkeln an und füge an die Ansätze selbst noch weitere kleine gerade Linien, ebenfalls unter rechten Winkeln, bei der einen Figur nach innen, bei der [_[J anderen gabelförmig nach auTsen gekehrt. | |

(Figg. 7 U. 8.) Figg. 7 «. 8.

Wäre der Grund der Täuschung derjenige, welchen die Hypothese vermutet, so müfste sie bei dieser Variation un- geschwächt sich erhalten. Aber das Gegenteil ist der Fall; die Versuchung zur Täuschung ist, wenn sie überhaupt noch besteht, jedenfalls wesentlich geringer, so zwar, dafs, wie ich fand, selbst wenig geübte Beobachter bei einiger Aufmerk- samkeit ihr nicht mehr erUegen, sondern alsbald für die Gleich- heit der Linien sich aussprechen. Der allgemeinere und haupt- sächliche Anlafs der Täuschung ist also jedenfalls ein anderer. Man sieht aus dieser Variation, dafs die schiefe Sichtung der Linien von Belang ist.

5. Dies führt auf das, was ich sogleich als den Erklärungs- grund der Täuschung bezeichnet hatte. Ich will nun den Ge- danken ein wenig erläutern. Zuvor aber verdient es wohl kurz bemerkt zu werden, dafs die optische Täuschung, um welche es sich handelt, auch in folgender, einfacherer Weise anschaulich gemacht werden kann. Man ziehe eine gerade Linie (am besten in einer Richtung, die weder horizontal noch vertikal ist), halbiere sie und bringe an dem einen Ende die kleinen gerad- linigen Ansätze in spitzen, an dem anderen parallel mit ihnen, also in stumpfen Winkeln an. In der Mitte endlich mache man ebenfaUs zwei kleine geradlinige Ansätze, unter denselben Winkeln, aber so, dafs keiner den ihm gleichseitigen Ansätzen parallel ist. (Figg. 9 u. 10.)

Sofort tritt die Versuchung der Täuschung auf und zeigt sich ebenso stark wie früher. Und auch jetzt ist es nicht von

354

Franz Brentano,

Belang ob man die Längen wirklich gezogener Linien oder nur die von leeren Abständen der Winkelspitzen zu vergleidien unternimmt.

1/

^

L

Fig. 10.

Doch mehr noch und wesentlicher können wir die Figur vereinfachen, wenn wir die Zahl der kleinen Ansätze unter schiefen Winkeln vermindern. Es ist interessant zu sehen, wie auch dann schon eine Versuchung zu gleichartiger Täuschung, aber in geringerer^ Kraft besteht. (Figg. 12 15.)

Flgg. 12—15.

Hiemach müssen wir erwarten, dafs in abermals vermin- derter Kraft die Versuchung zu ähnlicher Täuschung auch

* Diese Abschwächung ist etwas, was sich als ein besonderes Ar- gument gegen die unter Nr. 3 von uns widerlegte Hypothese verwenden liefse. Würden die Ansätze überall nur einseitig angebracht, so wären die Endpunkte der zu messenden Linien nicht mehr, sondern eher weniger markiert, als in dem Falle, wo sie auf beiden Seiten angefügt werden. Die Versuchung zur Täuschung müfste also auf Grund jener

tjber ein optisches Baradoxon.

355

schon bestehen werde, wenn wir nur zwei von den Punkten

nehmen und von dem einen aus eine kleine Linie ziehen, mit

welcher eine zwischen den beiden Punkten

gedachte Gerade einen spitzen oder stumpfen

Winkel bilden würde. Sobald die kleine Linie

gezogen ist, wird im ersten Fall der Abstand

der beiden Pimkte verkleinert, im zweiten y^

vergröisert scheinen müssen. Und diese ^'w- '^ •*• ^"•

Erwartung wird durch den Versuch bestätigt. (Figg. 16

u. 17.)

Aber die kleine gerade Linie hat zwei Endpunkte, und für jeden von ihnen hat der eben ausgesprochene Satz gleich- mäfsig Geltung. Somit besteht für den Abstand des einen wie anderen von dem isolierten Punkte eine Nei- gung, ihn anders zu schätzen, als wenn die beiden Punkte, um deren Abstand es sich handelt, allein gegeben wären. Bei dem einen ist man geneigt, seinen Abstand für kleiner, bei dem andern, seinen Abstand für gröfser zu halten als in jenem Falle.

Haben wir so das einfache Element, aus dessen Vervielfältigung die mächtige Versuchung zur Täuschung erwächst.

Fig. 18.

gefunden, so ist es

auch nicht mehr schwer, sie zu erklären imd deutlich zu

Hypothese bei einseitigen Ansätzen gröfser oder doch jedenfalls nicht

geringer sein. Auch folgende Abänderung des Versuches kann dagegen

verwertet werden. Man nehme drei Punkte, von welchen der zweite in

gerader Richtung mitten zwLschen dem ersten und dritten liegt, und

füge an jeden eine kleine gerade Linie, welche eben dieselbe Richtung

hat. Von den angefügten Linien sollen die erste und zweite zwischen

dem ersten und zweiten Punkte, die dritte aber über den dritten Punkt

hinaus liegen. (Fig. 11.) Nach der be- ^

treffenden Hypothese wäre zu erwarten,

dafs die Versuchung zur Täuschung hier ^^

ebenso wie bei dem Anfügen unter schiefen

Winkeln bestände, sie besteht aber that- ^

sächlich gar nicht, oder doch in viel ge- ^y- ^^•

ringerem Mafse. Selbst wenig geübte Beobachter sah ich leicht zu

einer richtigen Längenschätzung gelangen.

356

Franz Brentano.

\

\

\

\

A

\

\

/

I

/

Fig. 19.

machen, wie sie sich in der That als Folge des Gesetzes der Überschätzung kleiner und der ünterschätznng groiser Winkel erweist. Ich darf das Gesetz selbst beim Leser als bekannt voraussetzen, und auch das wird ihm erinnerlich sein, wie sich aus ihm schon verschiedene merkwürdige Fälle optischer Täuschung begreiflich machen lieJGsen. So scheint in der folgenden Figur (Fig. 18) wegen Überschätzung von ahg nicht sowohl, wie es wirklich der Fall ist, c dt, als vielmehr e f

in der geradlinigen Fortsetzung von ah zu liegen, und bei den sogen. ZöLLNBRschen Figuren (Fig. 19) schei- nen die durch kleine Linien schief- winkelig geschnittenen Parallelen nicht mehr paraUel zu sein, sondern abwechselnd nach der einen oder anderen Seite sich einander zu nähern; die veränderte Beurteilung der Sich- tungen findet ofi'enbar im Sinne der der Überschätzung der spitzen und Unterschätzung der stumpfen "Winkel, statt.

In unserem Falle, in seiner einfachsten Gestalt, wo (vgl. Fig. 17) ein isolierter Punkt und eine kleine Linie einander gegen- überstehen, und der Abstand eines ihrer Endpunkte von dem iso- lierten Punkte geschätzt wird, haben wir nun auch einen schiefen Winkel, welchen die kleine Linie mit derjenigen bildet, die wir, den Abstand schätzend, in Gedanken zwischen ihrem einen Endpunkte und dem isolierten Pimkte ziehen. Dieser "Winkel wird falsch geschätzt, und infolge davon scheint uns die Lage der kleinen Linie im Verhältnis zur Lage einer zwischen dem Endpunkte und dem isolierten Punkte zu ziehenden Geraden verändert.

Dies hat nun sehr natürlich einen Einflufs auf die Schätzung der Distanz selbst, denn, wo nicht zwei isolierte Punkte, sondern ein isolierter Punkt und der Endpunkt einer kleinen Linie in der Erscheinung vorliegen, hat nicht blofs die Lage der Punkte selbst, sondern alles, was, zur Erscheinung gehörig, irgendwie ein Anhalt zur Schätzung des Abstandes werden kann, unwillkürlich und so zu sagen instinktartig da- rauf einen Einflufs. Dies gilt also von der ganzen kleinen Linie bis zu ihrem anderen Endpunkte. Wenn nun die Bichtung

über ein optisches Faradoxcn, 357

der Linie falsch beurteilt wird, so mufs dieser Einflufs ein störender sein. Würde die Entfernung des einen End- punktes vom isoUerten Punkt richtig geschätzt werden, so müfste bei falscher Schätzung der Winkel die des anderen sogar noch unrichtiger geschätzt werden, als es jetzt der Fall ist; nun aber wirken dieselben Ursachen, welche uns die Entfernung des einen Endpunktes unrichtig schätzen lassen, auch zur un- richtigen Schätzung der Entfernung des anderen. Und so zerteilt sich die Kraft, die zur optischen Täuschung führt, indem sie die Entfernung des entfernteren Punkts als geringer, die Entfernung des näheren Punktes als gröfser beurteilen läfst, als wenn wir ihn nur isoUert mit dem isolierten in Vergleich ge- bracht hätten. Auf der folgenden Figur wird die Art der Wirkung der falschen Beurteilung der Lage der kleinen Linie durch die punktierte Linie angedeutet. (Fig. 20.)

Ist dies klar geworden, so ergiebt alles Weitere f

sich von selbst. Wir haben in der ursprüngUch vorgelegten Figur das gleiche täuschende Moment achtfach gegeben; natürlich wird dadurch die Wir- kung eine viel auffaUigere.

Fitj. 20

Zur Bestätigung unseres Nachweises, dafs die Täuschung aus der Überschätzung kleiner und Unterschätzung grofser Winkel entspringt, mögen auch noch folgende vier Variationen des Versuches dienen. (Fig. 21—24.)

< > <

Fig. 21, Fig. 22.

C ) C I] c Z]

Fig. 23. Fig. 24.

Die erste und zweite Figur zeigen die Täuschimg in be- sonders hohem Grade, weil die Zerlegung der kleinen Winkel in noch kleinere die Ursache, die zur Täuschung führt, ver- stärkt. Die dritte Figur zeigt, dafs kleine Kreisbogen recht- winkelig angesetzt, ungleich schwächer wirken als spitze Winkel, während die vierte mit ihren geradlinigen rechten Winkeln

358 Franz Brentano.

überhaupt kaum zu einer Täuschung Anlafs geben kann; wenn aber, so aus einem ganz anderen, nur bei wenig vorsichtigen Beobachtern gegebenen Grunde, der unter Nr. 4 in Vorschlag gebracht, aber von uns als zur Erklärung des Phänomens un- genügend befunden worden ist.

Das Ergebnis unserer Untersuchung zeigt also, dals der uns vorgelegte Fall optischer Täuschung nichts anderes ist, als was auf Grund eines schon bekannten Gesetzes konsequent erwartet werden mufste, so dafs man das neu beobachtete Phänomen, weit entfernt sich darüber zu verwundem, eigentlich mit logischer Sicherheit hätte voraussagen können.

Flatternde Herzen " .

Von

Adolf Szili

in Budapest.

(Vorgelegt und demonstriert in der mathem. und naturwissenschaftlichen Klasse der königl. ungarischen Akademie der Wissenschaften

am 14. März 1892.)

Als ich meinen ersten Erklärungsversuch der „flatternden Herzen" machte/ ist mir sofort eine Anzahl von eigentüm- liehen Erscheinungen aufgefallen, deren Studium ich erst in der Folge gesondert vorzunehmen gedachte. Meine diesbezüg- Uchen Untersuchungen haben mich zu einer Reihe von Beobach- tungen geführt, die in solchem Mafse das in meiner ersten Mitteilung Enthaltene ergänzen und zum Teil berichtigen, dafs ich glaube, mit ihrer Veröffentlichung nicht zögern zu müssen. Ich halte diese Beobachtungen allerdings noch immer nicht für abgeschlossen, denn die Versuchsobjekte sind so zahlreich, und die Versuchsumstände können so vielfach variiert werden, dafs die möglichen Kombinationen nahezu unerschöpf- lich sind. Aber ich sehe, was mich selbst betrifft, dafs ich vorläufig mit ihnen nicht weiter gelange, und aufserdem glaube ich, dasjenige, was ich hier angeben werde, mit dem bisher Erreichten schon genügend stützen zu können.

Ich habe meine ersten Versuche auf Rot und Orange gemacht, mit welchen Farben das sogenannte Flattern am

* A. Szili, Zur Erklärung der „flatternden Herzen." Du BoiS'Beymonds Archiv f, Physiologie. Jg. 1891. S. 157.

360 ^dolf Szili.

leichtesten zu erzielen ist, weil es aus gewissen Gründen, deren ich auch noch gedenken werde, bei ihnen den weitesten Spiel- raum hat. Ich bespreche sie hier wiederum an erster Stelle, weil ich hauptsächlich zur Analyse ihres Ergebnisses erst meine übrigen Versuche angestellt habe. Diese haben zum Teil ganz merkwürdige, bisher unbekannte Erscheinungen geliefert. Die wichtigsten unter ihnen sollen hier ausführlich beschrieben werden in einer Reihenfolge, die sich zugleich zur gewünschten Analyse dienlich erweisen wird. Ich habe aufser diesen noch eine Anzahl von Versuchen angestellt, welche, teüs die an sie geknüpf- ten negativen Erwartungen bestätigend, teüs gewisse positive Erwartungen täuschend, erfolglos geblieben sind. Blofs diejenigen, bei welchen diese Verneinung bezüglich des Gegenstandes nicht völlig belanglos ist, werde ich an geeigneter Stelle erwähnen.

Da die Erscheinungen, von welchen hier die Itede sein wird, in den meisten Fällen erst bei schwacher künstlicher Beleuchtung zu voller Geltung gelangen, werde ich sämtliche Versuche, die ich wohl wiederholt bei verschiedener Beleuch- tung angestellt habe, der Einheitlichkeit halber nur nach dem Ergebnis unter dem Lichte einer Kerze beschreiben.* Um die Einzelheiten der Erscheinung besser beurteilen zu können, habe ich es für ratsam gehalten, teils kreisrunde, teils viereckige Papierscheiben von wenigstens 1,5 cm Durchmesser als Objekte zu nehmen. Zu beiden Seiten dieser „flatternden Marke" befindet sich auf dem Grunde, auf welchem sie aufgeklebt ist, in etwa 2 3 cm horizontaler Entfernung, noch je eine kleinere „Gegenmarke", welche nicht flattern darf, sondern dadurch, dafs sie die Bewegungen des Grundes anzeigt, die scheinbare Labilität der mittleren um so auffallender macht. Diese Gegenmarken sind auf hellem Grunde am besten schwarz, auf dunklem Grunde weifs.

Zur Bezeichnung der bei den folgenden Versuchen ver- wendeten Farben beziehe ich mich zum Teil auf die Heidel- berger Kollektion HELMHOLTZscher Farbenpapiere vom Mechaniker Jung; hier werde ich zur Farbenniunmer die Quelle kurzweg

* Wer mit ähnlichen Untersuchungen vertraut ist, wird auch bei Lampenlicht die nötige Distanz für jeden einzelnen Versuch zu finden

wissen.

„Flatternde Herzen''. 361

„Blumenpapier" nennen. Da ich aber manches wichtige Ergebnis mit Farbennuancen erhielt, die in meiner Heidelberger Kollektion nicht enthalten sind, und mir Herr Jung auch für die zur Verwendung gelangten verschiedenen Nuancen des Grau keinen Index liefern konnte, werde ich diese übrigen gelegentlich mit der Nummer der Musterkollektionen von Umschlagpapieren, Buntpapieren und Einbandleinwanden bezeichnen, der die gebrauchte Farbe entspricht. Diese Kollektionen sind:

1. „Karl Louis Posnkrs Musterbuch von farbigen Umschlag- papieren der Leykam - Josephsthaler Papier - Industrie-Actien- gesellschaft". Diese Quelle werde ich kurz Umschlagpapier nennen.

2. „Musterbuch von Buntpapieren. Fabriksniederlage für Buchbinderartikel". Budapest V, Elisabethplatz 5. Kurz: Bunt- papier.

3. „Leinwandmusterkarte der ersten ungarischen Buchbinder- artikel - Fabriksniederlage " , (eb endaselbst) . Kurz : Einband- leinwand.

Jedermann, der die Versuche, die ich nun beschreiben werde, nachzumachen gedenkt, wird sich stets daran zu erinnern haben, dafs die verschiedenen Kombinationen zum Teil unter ungleicher Beteiligung der dem Flattern im allgemeinen gün- stigen Bedingungen ihre Wirksamkeit entfalten. Ich wollte bezüglich dessen stellenweise die an mir selbst gemachten Erfahrungen angeben;^ allein sie würden sich kaum immer als zutreffend bewähren, nicht so sehr wegen der etwa anzunehmen- den individuellen Verschiedenheit der Beobachter (wenn ich von Farbenblindheit und ähnlichen Störungen absehe), sondern mehr infolge der wechselnden Disposition des einzelnen. Ich selbst sehe die mit jeder besonderen Kombination zu erzielenden Er- scheinungen nicht stets unter völlig gleichen äufseren Bedingun- gen. Ich will gerade darum, weil ein flüchtiger Beobachter hier- durch leicht zu einem falschen Urteil verleitet werden könnte, schon jetzt zu Beginn ausdrücklich betonen, dafs keine der hier als wirksam angeführten Kombinationen jemals ver- sagen darf, wenn auch das Mafs der Bedingungen, welche zum Hervorrufen der ihr zugeschriebenen Erscheinung erforderlich sind, ab und zu schwankt.

* In der ersten Versuchsreihe habe ich es gethan.

362 Adolf Szili.

Erste Tersachsreihe.

Flattern auf rotem und orangefarbigem Grund.

1. Roter Grund (Blumenpapier, No. 1 I- Karmin), kreisrunde grüne Scheibe (Blumen- Versuch, papier, No. 7 Nachtgrün).

Wenn ich diese Tafel etwa in einem Meter Entfernung von der Kerzenflamme vor mir halte, indem ich meinen Blick auf die grüne Scheibe richte, so bemerke ich bald über der letzteren einen hellen glänz ähnlichen Schimmer, welcher mit den leichtesten Schwankungen meiner Hand oder meines Blickes erzittert. Bewege ich die Tafel in mäfsigem Tempo* und in kurzen Abweichungen in ihrer Ebene hin und her, dann bleibt dieser Schimmer als zusammenhängendes zweites BUd der Scheibe offenbar mit meinem nicht rasch genug folgenden Auge zurück. Am besten kann ich darum die Erscheinung beobachten, wenn ich bei dem Versuche womögUch die gleiche Blickrichtung beibehalte. Beim Hin- und Herbewegen des Blattes schiebt sich bald rechts, bald links von der wirklichen Scheibe ein sichelförmiges Stück dieses zweiten Bildes über den roten Grund, während am entgegengesetzten Bande immer ein ebensogrofses sichelförmiges Stück der Scheibe selbst von dem Schimmer frei wird. Wenn ich bei diesem Versuche meine Aufmerksamkeit auf die Vorgänge an immer demselben lUuide der Scheibe gerichtet halte, so erscheint mir das zurückbleibende sichelförmige Stück des zweiten Bildes ganz imtrüglich in der Farbe des roten Grundes, jedoch viel heller als dieser; hingegen sehe ich das Stück der Scheibe selbst, welches bei der Bewegung jenem zweiten Bude vorauseilt, in ihrer ursprüngUchen grünen Farbe, aber wesentlich dunkler, als der von dem Schimmer bedeckte Teil der Scheibe. Um mich von dem Gesagten zu über- zeugen, mufs ich meine Aufmerksamkeit gesondert eine Zeit lang bald blofs dem schwankenden Scheinbilde, bald blofs der Scheibe zuwenden.

2. Wenn auf demselben roten Grunde eine H. blaue Marke (Blumen papier, Nr. 1 1 Ultramarin III) Versuch, befestigt ist, kann ich dieses Hin- und Herschwanken des subjektiven zweiten Bildes noch besser beobachten, weil die

* Rasche Bewegung hindert die Beobachtung der Einzelheiten der Erscheinung.

„Flatternde Herzen''. 363

Marke in dieser Farbe sich kräftiger von ihm differenziert, als wenn sie grün ist.

3. Wenn ich auf demselben roten Grunde ni.

eine neutral graue Marke (Einbandleinwand Versuch. Nr. 69)^ benütze, so erhalte ich diese Erscheinung des Flattems ebenfalls ganz deutlich. Auf die Wichtigkeit dieses Resultates habe ich schon in meiner ersten Mitteilung auf- merksam gemacht und werde ich noch im Verlaufe dieser Abhandlung zurückkehren.

Völlig gleiche Beobachtimgen, wie die hier mitgeteilten, mache ich mutatis mutandis mit allen Helligkeitsgraden des Rot und mit jedem Orange als Farbe des Grundes, so dafs es unnötig erscheint, die einzelnen Versuche besonders anzu- führen.

Anstatt vieler nenne ich blofs ein Beispiel: Orange- IV. VI. farbiger Grund (Blumenpapier No. 18. V) 1. Grüne Versuch. Marke (Buntpapier G'. 2. Blaue Marke (Umschlagpapier 510. No. 10). 3. Graue Marke (Umschlagpapier 55, No. 19). (Entfernung von der Kerze ca. 1,5 Meter. 2 und 3 erfordert eine etwas gröfsere Entfernung als 1.)

Beines Q-elb habe ich weder als Grund noch später als Marke verwenden können. Es verhält sich wie Weifs, welches ebenfalls kein Flattern aufkommen läfst. Bei herabgesetzter Beleuchtung wird bei jeder Kombination des Gelb mit einer anderen Farbe der Helligkeitsuntersohied zwischen Grund und Marke dermafsen zu grofs, dafs schon aUein damit für die Er- scheinung ein unüberwindUches Hindernis gegeben ist.

Wer die oben angegebenen Versuche mit der Farbe des Grundes vom gesättigten Rot bis zum hellsten Orange durch- macht, macht bald die "Wahrnehmung, dafs zur Erzielung eines völlig gleichen Effektes mit der Helligkeit des Grundes auch diejenige der Objekte in stets gleichem Mafse zu- und abnehmen mufs. Damit steht es nicht im Widerspruch, dafs die Lichtstärke der Marke dennoch auch für einen und denselben Grund innerhalb bestimmter Grenzen verschieden sein kann, ohne dafs die Kombination

^ Zu allen Versuchen mit grauen Marken kann man diese noch besser dadurch herstellen, dafs man die gewünschten Formen aus rauhem weifsen Papier schneidet und, nachdem sie aufgeklebt sind, mit Bleistift und Wischer sorgfältig gleichmäfsig schattiert, bis die wirksame Nuance erreicht ist.

364 ^äolf SziU.

ihre Wirksamkeit verliert. Jedoch gestaltet sich dann die ent- sprechende Netzhautreaktion auf folgende Weise verschieden.

Es ergiebt sich, dafs dann, wenn die Marke dem G-ninde an Helligkeit möglichst nahesteht, der objektive Eindruck von der subjektiven Sreaktionsempfindung dermafsen übertönt wird, dafs fast ausschliefslich das schwankende Scheinbild zur Perzeption gelangt, und ich nur bei angestrengter Aufmerksamkeit das jeweilig in der Bewegungs- richtung des Blattes freiwerdende Segment der Marke ent- decken kann. Darum läfst sich auch mit solchen Objekten, deren Helligkeit dem des Grundes gleichkommt, die Erscheinung der tanzenden Figuren am täuschendsten erzielen: man erhält eine überraschend reine Scheinbewegung. Nimmt man die Marken merklich heller, als den Grund, dann ergiebt sich keine nennenswerte Beaktion, mithin auch keine Schein- bewegung. Sehr interessant gestaltet sich aber das Phä- nomen, wenn man die Marken gradweise dunkler nimmt. Erst dann entsteht die früher beschriebene Er- scheinung des Yorbeischwankens eines zweiten Bildes über dem sichtbar bleibenden wirklichen Objekt; erst jetzt läfst sich mit genügender Deutlichkeit bemerken, wie bei den mäfsig raschen Bewegungen in der Ebene das in der Be- wegungsrichtung von dem ScheinbUde freiwerdende Segment der Marke die eigene Farbe, das Segment des Scheinbildes, welches durch sein Zurückbleiben an dem der Bewegungs- richtung entgegengesetzten Bande der Marke erscheint, die Farbe des Grundes hat. Die sichere Beurteilung dieser Einzel- heiten der Erscheinung erfordert einige Umsicht: ungeübte Personen sehen zuweilen anfangs alles umgekehrt; sie lokali- sieren nicht blofs das jeweilig auftauchende helle und dunkle Segment falsch, sondern sie glauben auch, dafs die Schein- bewegung in einem Vorauseilen der Marke besteht.

Zu den bei diesen Versuchen beobachteten Erscheinungen gehören noch folgende:

Wenn die Marke in allmäliger Abstufung dunkler ver- wendet wird, dann rückt die Erscheinung des Flatterns in kreisförmigen Zonen immer mehr vom centralen Sehen ab, bis sie endlich auch für das exzentrische Sehen völlig aufhört. Die Grenze der Helligkeitsverminderung, bei welcher noch Flattern in der Peripherie erzielt werden kann,

„Flatternde Herzen"*. 365

scheint nicht für alle Farben gleich weit zu sein. Zugleich bemerke ich, dafs bei solchen Marken, die ob ihrer relativen Dunkelheit in der Nähe der Kerze nur im exzentrischen Sehen flattern, die Zone des Flattems mit der zunehmenden Ent- fernung von der Kerze (also mit der abnehmenden Be- leuchtung) sich dem centralen Sehen wieder nähert, bis die dunklere Marke bei einer gewissen Herabsetzung der Beleuchtung das gleiche Phänomen bietet, wie die relativ hellere Marke in stärkerem Lichte.^ Das hier Beobachtete steht wohl in Beziehung zu der bekannten Gleichartig- keit des Verhaltens der Farbenperzeption im exzentrischen Sehen mit demjenigen des centralen Sehens bei verminderter Beleuchtung.

Abgesehen von der Alteration, welche sich an jeder der hier verwendeten Marken auf rotem und orangefarbigem Grunde bezüglich ihres Aussehens schon im centralen Sehen bemerkbar macht, ergiebt sich noch eine weitere Abänderung im ex- zentrischen Sehen. Jede der 3 Marken (Grün, Blau und Grau) wird nämlich aufserhalb einer um den Fixationspunkt kon- zentrischen Zone sehr rasch auffallend hell. Die Aufhellungs- zone ist vielleicht nicht für jede Farbe der Marken gleich weit: ich konnte es aber nicht sicher entscheiden, weil ich kein sicheres Mals dafür habe, die verschiedenfarbigen Marken völlig gleich lichtstark auszuwählen oder herzustellen, und für relativ verschieden helle Marken von einer und derselben Farbe sind die Zonen der gleichwertigen Aufhellung wirklich verschieden weit; sie erfolgt um so weiter vom Centrum, je dunkler die Marke im Verhältnis zum roten oder orangefarbigen Grunde ist; hingegen tritt sie um so näher zum Centrm schon ein, je schwächer die Beleuch- tung ist. Die Weite der Aufhellungszone steht also im um- gekehrten Verhältnis zur relativen Helligkeit der Marke und im geraden Verhältnis zur Beleuchtung.

Das absolute Maximum der Aufhellung ist der objektiven Lichtstärke der verschiedenen Marken proportional, so dafs die dunklere unter mehreren Marken auch nach erfolgter maximaler Aufhellung, in derselben Entfernung vom Fixationspimkte, als die dunklere erscheint. Gleichwohl läfst sich mit verschieden

^ Das gleiche Ziel erreicht man durch Vorhalten rauchgrauer Gläser. Zeitschrift fOr Ptychologie m. 24

366 Adolf Szüi.

hellen Marken von gleicher Farbe auf rotem und orange- farbigem Q-rund durch eine passende räumliche Verteilung, bei welcher die hellste Marke dem Fixationspunkt am nächsten, die dunkelste sich am weitesten von ihm befindet, der Eindruck erzielen, dafs sämtliche Marken völlig gleich er- scheinen, und zwar nicht blofs bezüglich der Helligkeit und Färbung, sondern auch bezüglich des Grades jener Netzhaut- erregung, auf welcher die Erscheinung des Flatterns beruht: flattert eine Marke, so flattern alle, die nun im gleichen Hellig- keitsgrade erscheinen, mit gleicher Intensität. All das ändert sich aber sofort, wenn die Blickrichtung derart verändert wird, dafs die relative Entfernung der einzelnen Marken vom Fixa- tionspunkte nicht die gleiche bleibt.

Um ein wirksames Beispiel zu geben, empfehle ich YII.

auf dem orangefarbigen Grund (Blumenpapier No. 18) Versuch, die folgenden drei grünen kreisförmigen J^arken von ca. 2 cm Durch- messer: 1. Blumenpapier No. 23 Giftfreies Grün VI, 2. Bunt- (Gelatin)papier G. und 3. Blumenpapier No. 7 Nachtgrün senkrecht übereinander mit Intervallen von etwa 2 cm anzubringen. Im direkten Sehen flattert mit den charakteristischen Erscheinungen die unterste Marke in 0,5 m von der Kerzenflamme, die mittlere in 1,0 m, die oberste in 2 m Entfernung. Wenn ich in 1,5 m von der Kerze den Blick auf den oberen Hand der unteren (hellsten) Marke gerichtet halte, er- scheinen mir alle drei Marken an Farbe und Helligkeit völlig gleich, und wenn ich das Blatt in seiner Ebene hin- und herbewege, zeigen sie gleichmäfsige Scheinbewegungen. Ebensoleicht ist es, dasselbe Expe- riment mit blauen Marken anzustellen. Vollends mit grauen Marken, die man nicht aus vorhandenem Material aiiszuwählen gezwungen ist, sondern sich selbst m jedem Helligkeitsgrade anfertigen kann, läfst sich zu dem gleichen Zweck eine reichere Stufenleiter mit kürzeren Zwischen- räumen anbringen. Mit Berücksichtigung der schon einmal angegebenen Bedingungen läfst sich der gleiche Erfolg auf dem Grunde von Hot und Orange eines jeden beliebigen Helligkeitsgrades erzielen.

Aus den bisher beschriebenen Versuchen haben wir zu- nächst erfahren, dafs die Erscheinung des Flatterns durch Kombinationen von Farben zu erhalten ist, die im Spektrum sich ungleich weit voneinander befinden. Und dazu mufs jetzt noch erwähnt werden, dafs wir auch mit Hülfe von vio- letten Marken in dieser Gruppe sehr gut die Erscheinung hervorrufen können. Ich berichte hierüber erst nachträglich, weil das Verhalten des Violett, wie wir bald sehen werden, sich in wichtiger Hinsicht von demjenigen der bisher benutzten Farben unterscheidet.

„Flatternde Herzen''. 367

1. Auf Eot braun (Buntpapier 149 und 290) flattert VIII. eine Marke von Blumenpapier No. 14 Neuviolett VII Versuch, äufserst lebhaft in 1,5 m Entfernung von der Kerze.

2. Auf Orange (Blumenpapier No. 18, V.) flattert IX. eine hellviolette Marke (ümschlagpapier 57 No. 11) Versuch, ebensogut in gleicher Entfernung.

Es könnte sonach scheinen, dafs dann, wenn die Marke eine Farbe hat, diese der entgegengesetzten Hälfte des Spek- trums angehören muTs; aber ich kann schon hier ein Beispiel anführen, welches dem widerspricht. Auf dunklem Karmin (Buntpapier 149) flattern Blumenpapier y ' , No. 5 Braunrot 11 in 1 m von der Kerzen- flamme und No. 9 Braunrot V in 0,5 m.

Wenn wir hierzu nun noch die Erfolge rechnen, die wir auf dem Grunde von hellem Orange bis zum dunkeln Karmin mit den Marken von entsprechend hellem bis dunklem Grau erhalten (auf dem zuletzt benutzten Karmin flattert Blumen- papier No. 16 Schwarz I oder eine Marke aus schwarzem Karton, der in jeder Papierhandlung zu haben ist), so erscheint uns vor- läufig so viel sicher, dafs bei den bisher angestellten Versuchen die eigentümliche Netzhauterregung, welche zur optischen Täuschung des Flattems fährt, vorzugsweise durch die Einwirkung des farbigen Grundes entsteht. Die Marke hat blofs die Aufgabe, eine geeignete Unterbrechung des Grundes herzustellen, auf welcher jene Netzhhauterregung sich reaktiv äufsern kann. Wir werden später sehen, dafs unter geeigneten Umständen imigekehrt auch eine farbige Marke auf farblosem Grunde die gleiche Netzhauterregung hervorruft.

Unter den für das Auftreten des Flattems erforderlichen äufseren Umständen zeigen sämtliche bisher verwendeten Marken auf dem entsprechenden roten und orangefarbigen Grunde die unverkennbaren Erscheinungen des Farbenkon- trastes. Wie hinfällig der Eindruck der objektiven Farbe der Marke der subjektiven Kontrastempfindung gegenüber ist, er- fahrt man leicht, wenn man beispielsweise die bei den ersten drei Versuchen benutzten Marken: Blumenpapier No. 7 Grün, No. 11 Blau und Grau (Einband- ^ ' ,

' . Versuch,

leinwand No. 69) in einiger Entfernung voneinander

auf dem roten Gnmde (Blumenpapier No. 1) anbringt. Jede

der drei Marken erscheint dann in einer gewissen Entfernung

368 Adolf Szili.

von der Kerze graugrün, kaum durch einen Helligkeitsgrad voneinander unterschieden. Die gleiche Kontrastwirkung kann man im exzentrischen Sehen schon in geringerer Entfernung wahrnehmen. Bei beiden Versuchsarten erhält man die Seak* tion am frühesten mit der grauen Marke, offenbar weil ihr die farblose Unterbrechung des Grundes den freiesten Spielraum läfst, dann mit der grünen Marke, weil hier der objektive Eindruck der subjektiven Kontrastempfindung qualitativ näher steht, als bei der blauen Marke.

So wie hier können wir es bei sämtlichen bisher ver- suchten Kombinationen erfahren, dafs die subjektive Erregung der Netzhaut bei sinkender Beleuchtungsintensität, sowie durch Verschiebung des Netzhauteindruckes aus dem Bereich des centralen Sehens, bis zu einer gewissen Grenze, sich in steigendem Mafse geltend macht. Es ist nun die Frage: nimmt die Intensität dieser reaktiven Netzhauterregung durch eine solche Steigerung der ihr günstigen Bedingungen absolut zu, oder ist es ihr nur gestattet, besser hervorzutreten, etwa weil sie bei abnehmender Beleuchtung und im exzentrischen Sehen verhältnismäfsig langsamer abnimmt, als die objektive Wahrnehmung ?

Es ist nicht zu bezweifeln, dafs diese Beaktion der Netzhaut durch die geeigneten Kombinationen wohl unter allen umständen angeregt, jedoch für gewöhnlich in ihrem Geltendwerden da- durch behindert wird, dafs ihr die objektive Wahrnehmung noch genügend die Wage hält. Wir empfinden oft den eigentümlichen Konflikt zwischen beiden schon bei gutem Tageslicht. So zum Beispiel wird aus diesem Grunde das Verweilen des Blickes auf roten Flächen mit grünen und blauen Buchstaben, und umgekehrt auf grünen und blauen Flächen mit roten Buchstaben, welchen man oft genug begegnet, zuweilen höchst unleidlich. Ich selbst kann mit Hülfe dieser Empfindung schon bei voller Beleuchtung fast sämtliche zum Flattern geeigneten Kombinationen sofort auswählen. Nach den übereinstimmenden Erfahrungen bei den von uns bisher angestellten Versuchen bedaxf es wohl keines weiteren Be- weises, dafs diese durch gewisse Farbenkombinationen erzeugte subjektive Netzhautempfindung, die bei vollem Lichte von der objektiven Wahrnehmung unterdrückt wird, letztere bei genügend herabgesetzter Beleuchtung völlig übertönt. Bei

„Flatternde Herzen''. 369

dieser Intensitätsverschiebung der objectiven und subjektiven Empfindung müssen bei einem gewissen Grade beide gleich sein: dann haben wir zu gleicher Zeit die objektive Wahrnehmung der Marke und das schwankende Scheinbild der subjektiven Netzhauierregung, was wir bei jeder bisher benutzten Kombi- nation unter geeigneten Umständen erzielen konnten. Ich werde durch das, was ich dabei empfinde, stets sehr lebhaft an den stereoskopischen Glanz versuch von Dove erinnert. Wie bei diesem die Erscheinung aus dem binokularen Wett- streit hervorgeht, so, glaube ich, resultiert hier der glanzähn- liche Schimmer, der auf der Marke liegt, aus dem (monokularen) Wettstreit zwischen dem objektiven Eindruck der Marke und der subjektiven Erregung, welche an derselben Netzhautstelle durch die Umgebung der Marke verursacht wird.

Aber aus gewissen Beobachtungen ergab sich die Ver- mutung, dafs diese subjektive Netzhauterregung denn doch während der Dauer des Versuches auch noch an sich eine absolute Steigerung innerhalb gewisser Grenzen erfahren mufs. So konnte ich beispielsweise für die richtige Entfernung von der Lichtquelle und für den Ablenkungswinkel der Blick- richtung bei den Versuchen im exzentrischen Sehen keine ganz bestimmten Mafse finden, weil ich das Flattern nicht zu allen Versuchszeiten gleich prompt sehe. Ich bin entschieden besser geneigt, als wann immer sonst, die Erscheinung sofort zu sehen, wenn ich mich schon einige Zeit in mäfsiger künstUcher Be- leuchtung ohne Anstrengung der Augen aufgehalten habe. Die Versuche gelingen darum ungleich leichter am Abend, als wenn man aus dem vollen Tageslicht in einen künstlich beleuchteten Baum tritt; auch gelingen sie am besten erst nach einiger Fortsetzung. So kam es auch häufig, dafs andere, die ich zu den Versuchen rief, zuerst gar nichts bemerken wollten, als vor mir schon alle Erscheinungen höchst lebhaft waren, um sie etwas später ebensogut zu sehen. Daraus geht hervor, dafs, abgesehen von den äufseren Umständen, zur Beobachtung des Flattems eine gewisse Adaptation der Netzhaut erforderlich sei.

Ich habe diesbezüglich eine Eeihe von Versuchen ange- stellt, zunächst mit den bisher benutzten farbigen Objekten auf rotem und orangefarbigem Grunde. Die gewonnenen Aufzeich- nungen beziehen sich auf Beobachtungen, die ich stets von dem Augenblick angefangen gemacht habe, als ich aus dem

370 ^dolf Szili.

hellen Tageslichte in eine Kammer getreten war, die mit ganz, lichem AusschluTs des Tageslichtes nur durch eine Kerze be- leuchtet ist. Wenn sich auch bei verschiedenen Kombinationen gewisse zeitUche Verschiedenheiten ergaben, die im Verhältnis zur Helligkeitsdifferenz zwischen Grund und Marke stehen, so war doch das Ergebnis ein ziemlich gleiches ; bei wiederholten Versuchen mit denselben Kombinationen waren aber die Besnl- tate stets völlig übereinstimmend. Ich zweifle allerdings nicht, dafs die Versuche, von anderen ausgeführt, mancherlei indivi- duelle Abweichungen ergeben würden; so weit ich sehen konnte, werden sie aber nicht bedeutend sein. Eine völlig mafsgebende Beihe von solchen Versuchen an anderen steht mir derzeit allerdings noch nicht zur Verfügung. Sie sind sehr zeitraubend, da stets nur ein Versuch mit einer einzelnen Kombination immer erst nach genügend langem Aufenthalt im Tageslicht ausgeführt werden kann. Auch an mir selbst habe ich nicht mit allen Kombinationen gleich zahlreiche Versuche ausgeführt, um eine Mittelberechnung zu Hefern. Darum f&hre ich nur das Eesultat an, welches sich mir aus den Versuchen mit solchen Kombinationen ergab, bei welchen sich die HeUig- keitsdifferenz zwischen Grund und Marke so verhält, wie zwischen Orange (Blumenpapier No. 18 V.) und Grün(Bunt- papier G.).

Wenn ich, vom Betreten der Kammer an- gefangen in 1,5 m Entfernung von der Kerze, die ^ * Marke fixire, so erscheint mir dieselbe starr. Erst nach etwa 8 10 Minuten beginnt auf der Scheibe der gewisse Schimmer sich in auffallendem Mafse geltend zu machen, und das Flattern geht an (näher als in 1,5 m Kerzendistanz etwas später, in gröfserer Entfernung etwas früher). Ich kann aber fast unmittelbar nach dem Betreten der Kammer im exzentrischen Sehen, von jedem Punkte einer ring- förmigen Zone, deren Mittelpunkt die Marke bildet, und die einer Ablenkung der Blickrichtung etwa um 10® entspricht, die Marke in der charakteristischen Aufhellung flattern sehen. Nach etwa 2 Minuten hat sich die Zone allmählich bis auf ihren halben früheren Eadius verengt. Nach weiteren 3 Minuten bin ich so weit gelangt, dafs ich schon vom Bande der Marke aus das Flattern beobachten kann, jetzt schon mit genügend auf- fallender Absonderung des Scheinbildes vom Objekte; aber auch

„Flatternde Herzen*". 371

jetzt noch, wie bisher, zeigt sich die Marke, wenn ich den Blick direkt auf sie richte, völlig starr und ohne auffallenden Schimmer. Erst in der 8. bis 10. Minute vom Beginne des Versuches gerechnet, kann ich das Flattern beim Betrachten der Marke selbst beobachten. Je länger dann noch der Versuch fortge- setzt wird, um so kräftiger wird die Erscheinung, und um so überzeugender werden die an ihr zu machenden Beobachtungen. Ich sehe dann die Marke auf dem Blatte schon bei den leisesten imwülkürUchen Bewegrmgen meiner Hand wie GaUerte emttem, und immer leichter wird es mir, das zurückbleibende subjektive ScheinbUd von der (scheinbar hinter ihm) hin- und herbewegten objektiven Marke zu unterscheiden.

Ich glaube nicht, dafs man länger über die Natur der hier zur Geltung gelangenden Netzhauterregung im unklaren sein kann: es ist die des farbigen Kontrastes und damit im Zusammenhange stehend die Projektion eines negativen Nachbildes. Höchst eigentümlich erscheint es, dafs die Kontrasterregung um so intensiver ist, je näher zu einander Grund und Marke bezüglich des Helligkeitsgrades stehen; und dafs ihr gerade jene Beleuchtung am günstigsten ist, bei welcher sich die Konturen zu verwischen beginnen; desgleichen das exzentrische Sehen. Bei einem gewissen Grade der Zusammenwirkung dieser Umstände geschieht es, dafs die subjektive Netzhauterregung nicht blofs den Reiz überdauert und ein kräftiges Nachbild erzeugt, sondern dafs sie dem Eindrucke des Objektes der- mafsen entgegenwirkt, dafs seine direkte Wahr- nehmung aufhört.

Ich habe schon einmal erwähnt, dafs bei guter Wahl der Marke und bei günstiger Beleuchtung es schwer fällt, neben dem hin- und herschwankenden Scheinbild das dunkle Segment des wirklichen Objektes, welches in der Bichtung der Bewegung frei wird, wahrzunehmen. Bei einem gewissen Grade der Be- leuchtungsabnahme, sowie jenseits einer gewissen Grenze aufserhalb des centralen Sehens bleibt dieses Segment völlig unsichtbar. Ebensowenig unterscheidet man dann die wech- selnde verschiedenfarbige Zusammensetzung der subjektiven Erscheinung. Bei der gröfsten Aufmerksamkeit sieht man nichts als das ruhige Hin- und Herschwanken eines einfarbigen Scheinbildes, welches man nun für die wirkliche Marke zu

372 Adolf SzilL

halten geneigt ist: man hat nun thatsächUch den Eindruck, als wäre das Objekt von seiner Unterlage abgelöst und labil geworden.

Nachdem ich mir aber aus den Beobachtungen in dem für unser Urteil ungleich mafsgebenderen centralen Sehen auf jede Weise und stets von neuem die Überzeugung holen kann, dais jener Teil des Scheinbildes, welcher auTserhalb der Marke erscheint, die Farbe des G-rundes hat mit der Abänderung, welche dem Helligkeitsverhältnis des negativen Nachbildes entspricht, so mufs ich zunächst annehmen, dafs die völlige Einfarbigkeit des schwankenden Scheinbildes im exzentrischen Sehen eine Urteilstäuschung ist, die wohl in folgendem ihre Begründung findet. Das Scheinbild behauptet sich vor allem durch seinen Helligkeitsgrad als ganzes; aufserdem bleibt dasselbe stets nur so viel gegen die Bewegimg der Marke zurück, dafs ein verhältnismäfsig kleiner Teil auTser- halb derselben nachzieht; auch befindet es sich eben in dem Augenblick der Bewegungsumkehr, wo der Eindruck am kräftigsten wird, im ganzen ausschliefslich auf der Marke, was bestimmend sein mufs dafür, dafs ihm bei herabgesetzter Unterschiedsempfindlichkeit (schwaches Licht , exzentrisches Sehen) xmd bei der Flüchtigkeit des Netzhauteindruckes (be- wegtes Objekt) die einheitliche, aber durch die subjektive Thätigkeit der Netzhaut alterierte Farbe der Marke zu- geschrieben wird.

Was endlich unter diesen, dem Flattern günstigsten Um- ständen jenes Segment der Marke anbelangt, welches, der Bewegung zugekehrt, jeweilig vom hellen Kontrast befreit ist, haben mich mafsgebende Versuche, die ich weiter unten be- schreiben werde, belehrt, dafs es sich während der Bewegung, infolge seines geringen Helligkeitsunterschiedes vom Grunde, der Wahrnehmung entzieht.

Wenn diese Beobachtungen und die auf sie gestützten Annahmen richtig sind, dann mufs das Flattern überall zu erreichen sein, wo die gleichen Bedingungen erfüllt werden, wie bei den bisher angestellten Versuchen. Aber es ist nichts bekannt davon, dafs auch noch andere Kombinationen diese Täuschung bewirken können. Ich werde nun zeigen, dafs das Flattern in der That noch sehr viel weitree Q-renzen hat, als

„Flatternde Herzen". 373

wir schon bis jetzt erfahren haben. Bevor ich aber so weit gehe, will ich zuerst die in der ersten Versuchsreihe benutzten Kombinationen umkehren, um zu sehen, ob sich hier auch wirkUch, wie ich erwarte, die entgegengesetzte Kontrasterreguug an dem schwankenden Scheinbildf eLnnen läfst; denn dafs auf grünem und blauem Grunde ein rotes und orange- farbiges Objekt flattert, ist schon von früher bekannt.

Zweite Yersachsreihe.

Flattern auf grünem und blauem Grunde.

I. Farbige Marken.

Grüner Grund (Blumenpapier No. 8 , Grün ü), orangefarbige Marke (Blumenpapier ^ * No. 18, Orange V). ^''^'''' "

Wir finden hier im Gegensatz zu den Erscheinungen der ersten Versuchsreihe, dafs sich zunächst über die Marke ein dunkles Kontrastbild wie ein Schatten legt, der bei der geringsten Unruhe, gerade so wie dort der helle Schimmer, erzittert. Ganz so wie dieser erweist sich hier die Erscheinung des Schattens als Folge einer überdauernden subjektiven Netz- hauterregung, indem beim Hin- und Herbewegen des Blattes in seiner Ebene an dem der Bewegungsrichtung entgegen- gesetzten Bande der Marke auf den Grund das Segment eines Nachbüdes projiziert wird, welches die Farbe des Grundes hat, aber dunkler ist, und zu gleicher Zeit an dem der Be- wegungsrichtung zugekehrten Rande der Marke ein Segment derselben von dem Kontrast frei wird und eine Sichel in der eigenen Farbe der Marke bildet, welche heller ist, als der übrige vom Kontrast affizierte Teil derselben.

Die Gegensätzlichkeit im Vergleich zu den Erscheinungen der früheren Versuchsreihe spricht sich femer noch darin aus, dafs die Marken, die weiter in der Periphperie das Flattern zeigen sollen, heller als jene sein müssen, die schon im cen- tralen Sehen oder in dessen nächster Nachbarschaft die Er- scheinung bieten. Wie dort eine relativ zu helle Marke keine wirksame Reaktion, also nirgends Flattern hervorruft, so hier eine relativ zu dunkle, wie dort eine relativ sehr dunkle Marke bei stark herabgesetzer Beleuchtung und weit im ex- zentrischen Sehen sich noch zum Flattern anschickt, so erweist

374 Adolf Szüi.

sich hier unter den gleichen Umständen eine relativ sehr helle Marke noch wirksam. Und so wie bei der ersten Versuchsreihe die Marken im exzentrischen Sehen eine maximale Aufhellung erleiden (bei herabgesetzter Belenchtnng und hellere Marken in verhältnismäfsig geringerer Entfernung vom Netzhautcentrum), so erfahren die Marken in der vor- liegenden Versuchsreihe in der Peripherie eine maximale Verdunkelung (bei herabgesetzter Beleuchtung und dunklere Marken verhältnismäfsig näher zum Netzhautcentrum).

Das hier Gefundene wiederholt sich dem Wesen nach vöUig übereinstimmend bei sämtUchen geeigneten Kombinationen von orangefarbigen und roten Marken sowohl mit der grünen als auch mit der blauen Farbe des Grundes. Zur Erzielmig des gleichen Effektes mufs selbstverständlich auch hier das Verhältnis zwischen Grund und Marke bezüglich der Lichtstarke immer das gleiche bleiben.

Ebenso wie im Vll. Versuch der vorhergehenden Beihe kann man eine Anzahl von verschieden hellen roten oder orange- farbigen Marken auf grünem oder blauem Grund derartig an- bringen, dafs sämüiche von einem gewissen Punkte aus im exzentrischen Sehen von gleicher Helligkeit erscheinen. Natür- lich mufs jetzt umgekehrt die dunkelste Marke dem centralen Sehen am nächsten liegen. Wie dort der Ausgleich durch Auf- hellung der entfernteren Marken zu stände kommt, so hier durch Verdunkelung.

Um ein Beispiel zu haben, nehme man auf dem -v-ttt

blauen Grund (Blumenpapier No. 13. Ultramarin 11.) eine rote Marke (Buntpapier 290, Braunrot) eine andere Versuch. (Blumenpapier No. 1, Karmin) und eine dritte (Blumenpapier No. 20, Geranium I) ; wenn man diese Marken in etwa 3 cm Entfernung senkrecht übereinander auf die Tafel klebt und dieselbe in 1 m von der Kerzen- flamme etwas unterhalb der untersten braunrötlichen Marke fixiert, dann erscheinen sämtliche Marken in gleich dunklem Braunrot.

Ich mufs hier erwähnen, dafs auf grünem und blauem Grunde auch Marken von violetter Farbe flattern.

Beispielsweise auf Grün (Blumenpapier No. 23. Giftfreies Grün VI) Hell violett (Umschlagpapier 57 ^^•' ^^' ^^ No. 11; die violette Marke erscheint dabei graurosa- ÄVll,

färben. Von ganz gleicher vorzüglicher Wirkung erweist Versucn. sich Blumenpapier No. 14 Neuviolett Vn als Marke ebenso auf dem dunkelgrünen Grunde (Buntpapier 289), als auch auf dem dunkel- blauen Grunde. (Blumenpapier No. 12, Ultramarin I). Hier tritt das

„Flatternde Herzen**. 375

Flattern ein, indem sich ein kräftiger braunroter Schimmer über die Marke legt.

In der letzten K ombination sehen wir also zwei im Spektrum nebeneinanderliegende Farben, unter geeigneter Lichtverteilung jene eigentümliche subjektive Thätigkeit der Netzhaut anregen, auf welcher die Erscheinung des Flattems beruht.

n. Graue Marken.

In dem Mafse, als bei den Kombinationen von Grün oder Blau mit Grau die farbige Kontrasterscheinung viel diskreter ist, als bei jenen, wo Rot oder Orange als Grund oder als Marke eine BoUe spielt, zeigte sich auch das Flattern bei den zunächst angestellten Versuchen mit hellen Farbentafeln ver- hältnismäsig schwach; aber es ist immerhin vorhanden und bei genügend herabgesetzter Beleuchtung ganz leicht zu beob- achten.

Als Beispiel nenne ich folgende Kombinationen: ^-^^^ -erv 1. Grüner Grund (Buntpapier G), 2. Blauer Grand ^^^^- ^- '^^• (Mittelblaues Packpapier); beide mit der gleichen grauen ersucn.

Marke (Umschlagpapier 55, No. 19); auf dem blauen Grunde mufste ich die Marke noch ein wenig mit dem Wischer schattieren.

Um so überraschender wirkt das Auftreten einer sehr leb- haften Scheinbewegung der grauen Marken auf dem farbigen Grunde, sobald beide dunkler genommen werden. Zu gleich schönen Erfolgen gelangt man ebensowohl mit den grünen als auch mit den blauen Tafeln ; aber auf letzteren ist das Flattern doch noch leichter zu erreichen, wohl aus dem Q-runde, weil mit der abnehmenden Helligkeit der kombinierten Versuchs- objekte, wie wir bald sehen werden, noch eine zweite Ursache der Täuschung zur Geltung gelangt, und weil kein so schönes dunkles Grün zu beschaffen ist, das bezüglich der Lichtwirkung demjenigen Blau (Blumenpapier No. 12, I) entsprechen würde, auf welchem die Scheinbewegung thatsächlich am besten zu

beobachten ist.

Auf dem grünen Grund (Buntpapier 147) ist die

graue Einhandleinwand (No. 69) eine vorzügliche

Versuch Marke; auf dem dunkelgrünen Grunde (Blumenpapier

No. 7) mufste ich die Marke aus demselben Stoff mit dem Bleistift noch etwas nachdunkeln. Man erhält hier schon recht lebhaftes Flattern mit ausgesprochener Kontrastfarbe auf der Marke; bei einiger Aufmerksamkeit kann ich auf der Kombination all jene Er- scheinungen wahrnehmen, die ich von roten Marken auf grünem Grund

376 ^W Szili,

beschrieben habe. Ein noch minder helles Grün für den Grund bietet ein Tuchpapier (Buntpapier 189), auf welchem eine dunkelgraue Marke aus sogenanntem „schwarzen Karton^^ vorzüglich flattert.

Für den ultramarinblauen Grund habe ich -w-vt

die geeignetste Marke in dem schwarzen Papier der Heidelberger Kollektion gefunden, welches auf schwär- ersuc .

zem Sammet entschieden grau ist. Das Flattern mit dieser Kombination steht demjenigen von grauen Marken auf rotem Grunde kaum nach. Auch hier fällt es dem aufmerksamen Auge nicht schwer, die Kontrast- erscheinung in der gelblich braunen Färbung der Marke, und auf dem blauen Grunde das dunkle Segment des hin- und herschwankenden Scheinbildes wahrzunehmen.

Es ist interessant, lütramarinblaue Tafeln

miteinander zuvergleichen , auf welchen die «. *

® ' Versuch.

Marken: Blumenpapier No. 4 Braunrot I, No. 5 Braunrot 11, No. 9 Braunrot V und No. 16 Schwarz I flattern. Man merkt, wie von Tafel zu Tafel die rote Marke hinter dem Scheinbilde immer mehr latent wird. Während die Marke Braunrot I sich sehr lange von dem Scheinbilde noch sehr auffallend differenziert, verschwindet Schwarz I am frühesten fast vöUig hinter demselben. Wir sehen also die farblose Marke hier auf dem blauen Grunde von der ganz gleichen unübertrefflichen Wirksamkeit, wie m der ersten Versuchsreihe auf dem roten und orangefarbigen Grunde.

Auf diesem tiefblauen Grunde machen wir die sehr bemerkenswerte Wahrnehmung, dafs ^ * die Marke auch noch dunkler, beispielsweise mit chinesischer Tusche gemalt sein kann; und wenn die Beleuchtung genügend herabgesetzt ist , wird hier selbst eine Marke aus schwarzem Sammet beweglich. Wenn es auch unleugbar ist, dafs auf diesen schwarzen Marken die Kontrastwirkung der blauen Farbe des Gnmdes ebenfalls noch in gewissem Grade erkennbar ist, so ist sie doch so un- bedeutend, dafs ihr die Verursachung der Täuschung nicht zugeschrieben werden kann. Die Scheinbewegrmg hat auch in der That nichts mehr von dem eigentümlichen Flattern, das ich bisher noch bei allen helleren farbigen und farblosen Marken auf farbigem Grunde in verschiedener Abstufung beobachten konnte. Da wir ähnlichen Erscheinungen noch begegnen sollen, erlaube ich mir ihre Untersuchung, die ein wichtiges Moment des Flattems enthüllt, gesondert mitzuteilen.

„Flatternde Herzen"*. 377

Dritte Yersnchsreihe.

Flattern auf farblosem (grauemniid seh warzem)Grunde.

Nachdem ich durch sorgfaltige Beobachtung der Erschei- nungen auf farbigem Grunde zur Überzeugung gelangt war, dafs jenes Segment des Scheinbildes, welches an dem der Bewegungs- richtung abgekehrten Rande der Marke zurückbleibt, wirklich den Charakter eines negativen, auf den farbigen Grund proji- zierten Nachbildes hat, mufste ich daran denken, dafs farbige Marken auf farblosem (grauem) Grunde unter den gleich günstigen Bedingungen der absoluten und relativen Lichtver- teilung wohl ebenfalls kräftige negative Nachbilder geben und deshalb gleichfalls flattern werden. Die diesbezüg- lichen Untersuchungen bilden die erste Gruppe der folgenden Experimente.

Aus der anderen Erfahrung, dafs beim Flattern im exzen- trischen Sehen und bei genügend herabgesetzter Beleuchtung, das der Bewegungsrichtung zugekehrte, jeweihg von dem zurückbleibenden Erregungsbilde freiwerdende Segment der Marke sich der momentanen Wahrnehmung völlig entzieht, schlofs ich femer, dafs bei aneinander grenzenden Objekten von geringem Helligkeitsunterschied durch Herabsetzung der Beleuchtung der Netzhauteindruck dermafsen verzögert werden kann, dafs er langsamer zu stände kommt, als die in einer gewissen Ge- schwindigkeit erfolgende Bewegung. Die Folge hier- von mufs es nun sein, das unter solchen absoluten und relativen Lichtverhältnissen bewegte Objekte scheinbar zurückbleiben und vor angrenzenden hellen Objekten, welche die Netzhaut- empfindung rascher auslösen, zeitweilig völlig verschwinden. Die hierauf bezüglichen Untersuchungen sind in der zweiten Gruppe der folgenden Experimente zusammengefafst.

L Farbige Marken auf farblosem Grunde.

Rot und Orange erweist sich in ebenso weiter Aus- dehnung, wie bei den ersten Versuchen als Farbe des Grundes auch hier als Farbe der Marke wirksam. Vom hellsten Orange bis zum dunkelsten Karmin und Braunrot erhalten wir auf dem grauen Ghrunde des jeweilig entsprechenden Helligkeitsgrades gleich lebhaftes Flattern.

378 ^^V Szili.

Grüne und blaue Marken verhalten sich bezüglich ihrer Wirkungsintensität wiederum ähnlich den ebenfalls schon geprüften entgegengesetzten Kombinationen von grauen Marken auf grünem und blauem Grunde; die hellen Marken zeigen eine etwas diskrete Wirkung, während die dunkleren auf ent- sprechend Uchtschwachem Grau mit grofser Intensität wirken.

Unter den unzählbaren mögliclien Kombinationen erwäline ich blofs die folgenden, weil sie aus dem von uns bisher benutzten Material herstellbar sind: ,/' ,

1. Auf dem grauen Grund (TJmschlagpapier U 55,

No. 19) flattert Orange (Blumenpapier, No. lÖ, V) sehr lebhaft; minder lebhaft Grün (Blumenpapier, No. 23, VI) imd Blau (Buntpapier 158).

2. Auf dem grauen Grunde (Einbandleinwand No. 69) yvittt wty flattern Rot (Blumenpapier No. 6, Scharlach), Nacht- ^XVn.-XXTX. grün (Blumenpapier, No. 7) und Blau (Blumenpapier ©rsuc . No. 11) gleich ausgezeichnet.

3. Auf „schwarzem Karton** flattern ebenso yyv yyyh

lebhaft: Braunrot (Blumenpapier, No. 5, 11 imd No. 9, *'* ,

Versuch V) auch ein dunkles Karmin (Buntpapier 149), ferner

Blau (Blumenpapier, No. 12, I und 13, II) und Grün (Einband- leinwand 58).

Die roten und orangefarbigen Marken lassen ein dunkleres Scheinbild flattern, als dem eigentlichen Helligkeitsgrade ihrer Farbe entspricht, die grünen und blauen Marken ein helleres. Jene erfahren im exzentrischen Sehen eine Verdunkelung, diese eine Aufhellung. Bei jenen ist während der Beobachtung sehr leicht das grüne Segment wahrzunehmen, welches als negatives Nachbild an dem der Beobachtungsrichtung abgewendeten Eande der Marke auf dem grauen Q-runde zurückbleibt und dunkler ist als dieser; und ebensoleicht das helle Segment, welches sich an dem der Bewegungsrichtung zugekehrten Rande auf der Marke selbst zeigt, dort, wo diese von dem zurück- bleibenden Scheinbilde frei wird. Übrigens macht sich die Kontrastwirkung der roten Marken auf der grauen Fläche noch weit hinaus durch blaugrüne Färbung derselben bemerkbar, die um so intensiver wird, je mehr bei dem Versuche den allge- meinen Bedingungen des Flatterns entsprochen wird. Diese subjektive Alteration der Umgebung der Marke beeinflufst wiederum den der Marke entsprechenden Netzhauteindruck der- mafsen, dafs mit der vorhandenen Kombination nun all jene Erscheinungen zur Wahrnehmung gelangen, die wir mit roten Marken auf grünem Grunde erzielt haben. Etwas mehr Auf-

„Flatternde Herzen*". 379

merksamkeit erfordert es, bei der grünen und blauen Marke die rötKche Farbe des Nachbildes, welches der ersteren, und die gelblichgraue Farbe des Nachbildes, welches der letzteren nach- zieht, zu erkennen, femer das dunkle Segment der Marke an dem der Bewegungsrichtung zugekehrten Bande im Auge zu behalten. Im Verlaufe der fortgesetzten Untersuchungen habe ich femer die Erfahrung gemacht, dafs dunkelfarbige Marken auch noch aufgänzlich schwarzer Folie (schwarzem Sammet) Schwankun- gen zeigen, die auf einem scheinbaren Zurückbleiben der Marke sesen die Bewegung des Grundes beruhen. Von der blauen l.?b. habe ich S/schon u. mW ring.ng. er,«,nt,n ,r.Un Mitteilung angegeben. Der betreffende Versuch bestand darin, dafs mehrere senkrechte scharlachrote und ultramarinblaue Streifen miteinander abwelchselnd und in gleicher Distanz auf einer Tafel aus schwarzem Sammet bei mäfsig raschem Hin- und Herbewegen in der Ebene die Erscheinung bieten, als würden die blauen Streifen zwischen den roten hin- und her- schwanken. Ich habe die Täuschung dort auf die physiologische Thatsache zurückgeführt, welche Helmholtz vermutungsweise zur Erklärung der „flatternden Herzen" heranzog: „dafs der Lichteindruck im Auge für die verschiedenen Farben nicht gleich schnell zu stände kommt und deshalb das Blau in der von dem Blatte beschriebenen Bahn scheinbar etwas hinter dem Rot zurückbleibt".^ Aber nun sehe ich, dafs auch Braunrot (Blumenpapier No. 9, V) und Dunkelgrün (Buntpapier 289) und, wie ich später zeigen werde, jede andere genügend dunkle Marke auf dem schwarzen Grunde die gleiche Erscheinung in wechselndem Mafse bietet, namentUch wenn man sie zwischen wesenthch helleren Gegenmarken angebracht hat, selbst wenn diese der gleichen Farbe angehören. So schwankt das oben- bezeichnete Ultramarinblau auch zwischen hellblauen Streifen (Buntpapier 158).- Aber am besten zeigt sich das Schwanken der dunklen Marken zwischen weifsen Gegenmarken. Aus diesen Versuchen scheint hervorzugehen, dafs dem quantitativ geringeren Beiz, der von einer Unterbrechung des Grundes durch einen geringeren Helligkeitsunterschied ausgeht, im Ver- gleich zu jenem eines gröfseren Helligkeitsunterschiedes, eine relative Verzögerung des Netzhauteindruckes entspricht, die

* H. Helmholtz, Physiologische Optik. 1. Aufl., S. 383.

380 ^dolf SsilL

sich bei der Bewegung in einem scheinbaren Zurückbleiben des dunkleren Objektes äufsem wird. Zur Bekräftigung dieser wichtigen Annahme habe ich es für nötig erachtet, das Experir ment noch möglichst zu vereinfachen.

Jedoch, bevor ich über die betreffenden Untersuchungen berichte, mufs ich als hierhergehörig noch erwähnen, dals auf dem grauen Grunde sowohl Gelb als Violett unwirksam sind. Beines Gelb ist wie für jede andere Kombination auch hier zu hell. Die Unwirksamkeit des Violett bildet hingegen eine passende Ergänzung der mit dieser Farbe bei früheren Gelegen- heiten schon gemachten Erfahrungen. Wir haben nämlich das eine Mal Violett als Marke auf Eot und Orange (VUJL. und IX. Versuch), das andere Mal auf Grün und Blau (XV. Versuch) flattern gesehen, dort, indem es sich der Kontrastwirkung des Grundes fügend zur Entstehung eines grau-grünen Scheinbildes Gelegenheit bot, hier, indem es, der sozusagen entgegengesetzten Kontrastwirkung entsprechend, auf sich ein rötliches Schein, bild flattern läfst. Violett verhält sich demnach nahezu so indifferent, wie neutrales Grau ; seine eigene Kontrast erregende Fähigkeit ist zu schwach, um als Marke auf dem grauen Ghümde den Bedingungen des Flattems zu entsprechen. Sein dem Grau ähnliches Verhalten bekundet sich auch folgerichtig darin, dafs es ebenso wie jenes auf sich selbst als Grund einerseits Bot und Orange, andererseits Grün und Blau als Marken ihre entgegengesetzte Kontrastanregung ausüben läfst.

Unter den möglichen Kombinationen greife ich die yyyttt j folgenden heraus, die vorzügliches Flattern geben: yyytv

1. Auf dem Grunde helles Violett (Umschlag- ^ ' papier S/575, No. 11) die Marken: Orange (Blumenpapier

No. 18, V.) und Grün (Umschlagpapier A/5, No. 7).

2. Auf dem Grunde Neuviolett (Blumenpapier v-v-vv V No. 14, VII.) die Marken Braunrot (Blumenpapier -v-yirVTT No. 4, I), Grün (Buntpapier 289) und Blau (Blumen- y^ h papier No. 12, I. und No. 13, IIJ

n. Farblose Objekte auf farblosem Grunde.

leb habe schon weiter oben angedeutet, dafs ich auch von diesen Kombinationen eine Scheinbewegung erwarte. Die ganz dunkeln erweisen sich als die geeignetsten. Z. B.

1. Marke aus schwarzem Karton auf schwarzem glanzlosen Tuch als Q-rund (oder um- XXXVm. gekehrt Tuchmarke auf Kartongrund). Versuch.

„Flatternde Herzen", 381

2. Marke aus schwarzem Wollsammet auf schwarzem Tuch als Grund, oder auf der Bückseite des Sammetes (auch umgekehrt Tuchmarke auf Sammetgrund). überall weifse Gegenmarken.

Die Schwankungen, welche hier beim Hin- und Her- bewegen der Tafel an der dunkeln Marke beobachtet werden, sind durchaus jenen gleich, welche wir beispielsweise an der ultramarinblauen Marke auf schwarzem Sammet und ganz eben- sogut an der Marke aus schwarzem Sammet auf dem blauem Grunde wahrgenommen haben. Helle Kombinationen sind der Erscheinung viel weniger günstig, wenngleich ich sie auch auf solchen nicht gänzlich vermisse. Überall ist der geringe Helligkeitsunterschied zwischen Marke und Grund eine Haupt- bedingung des Erfolges. In dem scheinbaren Zurückbleiben des bewegten Objektes ist hier die Täuschung eine ähnliche wie bei den „flatternden Herzen". Allein nirgends hebt sich von dem Objekt ein besonderes Scheinbild ab, wie wir dies bei den wirklich flatternden Kombinationen auf Grund einer intensiven Kontrasterregung ganz zweifellos beobachten können. Demgemäfs zeigen auch die Schwankungen in der nun vor- liegenden Versuchsreihe bei weitem nicht die quecksilberne Unruhe des eigentlichen Flattems. Gleichwohl hat diese Art der Verzögerung des Netzhauteindruckes einen ganz wesentlichen Anteil an der Erscheinung der flatternden Herzen.

Wenn wir bei allen hierhergehörigen Versuchen recht grofse kreisrunde Marken verwenden, so gewahren wir bei einiger Aufmerksamkeit, dafs dieselben in der Richtung der Bewegung an dem ihr zugekehrten Rande eine Verkürzung erleiden, so dafs sie während der Bewegung mehr die Form eines aufrechten Ovales als einer Kreisscheibe zeigen. Wenn man hingegen den Versuch mit ganz kleinen Marken anstellt und die Bewegungen etwas rascher ausführt, so sieht man die Marken unterwegs auch gänzlich verschwinden; aber sowohl die Art dieses Verschwindens, wie die Art des plötzlichen Wieder- auftauchens im Augenblick der Bewegungsumkehr oder des Stillstandes genügt, um auch dann noch den Eindruck des scheinbaren Zurückbleibens zu machen.

Eine noch bessere Versuchsart, um den durch Verzögerung des Netzhauteindruckes bewirkten scheinbaren Schwund des

Zeitschrift fUr Psychologie HI. 25

382 Adolf &iU.

Objektes wahrnehmbar zu machen, ist die

folgende: Man benütze viereckige Marken von ^----^ ^ ^ , Versucn.

etwa 2 cm vertikaler und 1 cm horizontaler

Seitenlänge und versehe dieselben an dem einen vertikalen Rande mit einem weifsen 3 4 mm breiten Grenztreifen. Wenn man nun mit einer solchen Anordnung horizontale Bewegungen in der Ebene des Blattes ausführt, dann sieht man, für die ganze Dauer der Bewegung in der Sichtung des freien Bandes der Marke, diese von dem weifsen Grenzstreifen dermafsen überholt werden, dafs die Marke auf- fallend verschmälert erscheint, ja oft ganz verschwindet; bei der Bewegungsumkehr erscheint die dunkle Marke selbstver- ständlich wieder in ihrer vollen Breite für die ganze Dauer der Bückbewegung. Es bietet ein wirklich frappantes Schau- spiel, wie solchermafsen die Marke von dem viel schmäleren Grenzstreifen abwechselnd verschluckt wird und aus ihm wieder hervorzüngelt.

Ganz gleich, ja für manche Personen noch viel auf- ^-.

fallender gestaltet sich der Erfolg, wenn man derlei mit ^ ' , einem weifsen Grenzstreifen versehene , auf einem Kartonblättchen aufgeklebte Marken an der Spitze eines Stäbchens vor dem dunkeln Grunde in horizontaler Bichtung frei hin- und herbewegt. Diese Art der Beobachtung läfst sich selbstverständlich auf alle in dieser Abhandlung angeführten farbigen imd farblosen Kombinationen ausdehnen. Am wirkungsvollsten geben sich dann die Kombinationen des echten Flattems, weil bei diesen mit der schein- baren Yerschmälerung während der Bewegimg gegen den freien Band, bei der Umkehr eine, durch das nachziehende Nachbild gesteigerte. Verbreiterung der Marke abwechselt.

Was wir durch diese letzten Experimente zur Erscheinung gebracht haben, bestätigt vollauf, was wir schon bei der Beobachtung des Flattems für einen Teil der Erscheinung angenommen haben, dafs nämlich jenes Segment der bewegten Marke, welches an dem der Bewegungsrichtung zugekehrten Rande momentan von dem Scheinbilde der subjektiven Netz- hauterregung frei ist, aus dem Grunde völlig unsichtbar werden kann, weil unter gewissen Bedingungen (welche auch zu denen des Flattems gehören) der betreffende Netzhauteindruck lang- samer zu stände kommt, als die von der Marke ausgefiihrte Bewegung erfolgt. Bei den letzten farblosen Kombinationen haben wir diese Bedingimgen dermafsen isoliert, dafs die Ab- hängigkeit der Täuschung von der angedeuteten Unzulänglichkeit

„FlaUemde Herzen"*. 383

der Unterschiedsempfindliclikeit nnserer Netzhaut wohl nicht bezweifelt werden kann.

Da es unmöglich ist, die von mir beschriebenen Tafeln mit ^flatternden Kombinationen^ dieser Abhandlung im Druck beizufügen, bin ich dem Herausgeber dieser Zeitschrift Herrn Prof. König sehr dankbar für die Ermächtigung hier mit- zutheilen, dafs er mit von mir angefertigten Tafeln meine Versuche geprüft und alle bestätigt hat. Auch weil. Herr Prof. Aübbrt hat meine Versuche kennen gelernt. Die folgenden Zeilen von seiner Hand, die mir ein wertvolles Andenken an den heimgegangenen Forscher sind, bezeugen die Übereinstimmung seiner Beobachtungen mit den meinigen:

„Herr Dr. Szili wünschte, dafs ich die von ihm benutzten Tafeln auf ihre Wirksamkeit prüfte, und ich habe das für die sämtlichen Tafeln gethan, indem ich sie nach seiner Vorschrift im Dunkelzimmer etwa 1 bis 1,5 m von der Kerze entfernt bei indirektem Sehen beobachtete. Wirksam habe ich alle seine Kombinationen ge- funden, obwohl in verschiedener Intensität: für meine Augen tritt das Flattern in Verbindung mit Kontrastwirkung in den Kombinationen mit irgendwelchem Bot am schnellsten und stärksten ein weniger schnell und ergiebig für Blau und Grün; dagegen wirkt Schwarz auf schwarzem Sammet in Versuch XXXIX sehr frappant. Ich bemerke dazu, dafs unter den von Herrn Dr. Szili vorgeschriebenen Bedingimgen das Flattern am deutlichsten und sicher, aufserdem aber auch bei gewöhnlicher Tages- oder Lampenbeleuchtung für die meisten seiner Kombinationen eintritt.

Bostock, 16. Januar 1892. Aübert.^*

Ich glaube, nach dieser Reihenfolge von Versuchen die Erscheinung der „flatternden Herzen" auf ihre Elemente zerlegen und die Bedingungen ihres Zustandekommens angeben zu können.

Das eigentliche Flattern erscheint als das Resultat einer zweifachen Behinderung der direkten Gesichtswahmehmung : einerseits durch die Verzögerung des Netzhauteindruckes infolge Herabsetzung des quantitativen Lichtreizes, andererseits durch die überdauernde subjektive Erregung der Netzhaut in- folge des überwiegenden qualitativen Lichtreizes. Demgemäfs zeigt auch ganz folgerichtig jede Kombination das Flattern, die durch ihren Unterschied den Lichtsinn nur wenig, den Farbensinn aber kräftig anregt. Möglichste Ausgleichung des Helligkeitsunterschiedes der aufeinanderwirkenden £om-

25*

384 Adolf Szili.

bination, Verminderung der Beleuchtung, exzentrisches Sehen (Umstände, welche die objektive Wahrnehmung beeinträchtigen) wirken einzeln und zusammen zu Gunsten der subjektiven EJr- regung. Unter diesen Bedingungen sehen wir, namentlich an den Marken der ersten Versuchsreihe, wie selbst qualitativ höchst verschiedene objektive Netzhauteindrücke der gleichen Kontrastwirkung einer kräftig anregenden Farbe des Gfmndes zum Opfer fallen, und sehen wir die Kontrastwirkung ausgehend von einer kräftig anregenden Marke sich weit über den Grund hin ausbreiten. Alle Kombinationen mit Bot und Orange bieten hierfür lehrreiche Beispiele; die übrigen, die aufeinander eine minder kräftige Kontrastwirkung ausüben, stehen auch bezüg- lich der Intensität des Flattems jenen nach, bei welchen Bot oder Orange als Grund oder als Marke vertreten ist. Wo mit den Kombinationen von diskreter Kontrastwirkung wieder leb- haftes Flattern erzielt wird (Dunkelgrün und Dunkelblau mit Grau), hat die Verzögerung des Netzhauteindruckes den über- wiegenden Anteil an dem Zustandekommen der Erscheinung, was sich auch für den geübten Beobachter in dem veränderten Charakter der Scheinbewegung äufsert. Die höchste Intensität erreicht das Flattern darum bei den dunkleren Kombinationen mit Rot, weil hier beide Komponenten der Erscheinung am ausgiebigsten zusammenwirken.

Die Kombinationen mit Rot und Orange zeichnen sich übrigens noch dadurch vor anderen aus, dafs unter gewissen Bedingungen eine ziemlich bedeutende Helligkeitsdifferenz zwischen Grund und Marke das Flattern noch gestattet. ^ Der besondere Grund dieser Thatsache liegt, wenn ich mich so ausdrücken darf, in der Regulierbarkeit des Eindruckes beider Farben, einerseits durch das Mafs der Beleuchtung, andererseits durch das Mafs der Verlegung des Netzhauteindruckes in die Peripherie. Beide Farben werden sowohl mit der Verminderung der Beleuchtung, als mit der Entfernung des Eindruckes vom Centrum der Netzhaut allmälig dunkler. Rot verdunkelt sich zu Braunrot, Orange erscheint rot. Jede der zur Kombination mit Rot und Orange benutzten Farben (Grün, Blau, Violett und Grau) bleibt in der gleichzeitigen Verdunkelung wesentUch

* Die betreffenden Beobachtungen sind S. 365, 366 und 374 be- schrieben.

„Flatternde Herzen*', 385

zurück. So ist es nun möglich, gewisse Helligkeitsdifferenzen zwischen Grund und Marke, welche das Flattern beeinträchtigen, auszugleichen. Wenn wir also eine zum Flattern geeignete Kombination konstruieren wollen, werden wir nun wissen, dafs auf einem roten oder orangefarbigen Grunde die Marke, von der geringsten Helligkeitsdifferenz angefangen bis an eine ziemlich weite Grenze, dunkler sein kann, aber nicht heller sein darf, dafs hingegen eine rote oder orangefarbige Marke umge- kehrt, von der geringsten Helligkeitsdifferenz angefangen bis an eine ziemlich weite Grenze, heller sein kann, aber nicht dunkler sein darf, als der Grund, auf welchem sie flattern soll. Kurz, auf die angegebene Art ausgleichbar ist die Helligkeits- differenz nur in dem Falle, wenn das Rot oder Orange in der Kombination der hellere Teil ist.

Ich will hier noch darauf aufmerksam machen, dafs die Verän- derung des Aussehens der flatternden Marken im exzentrischen Sehen (S. 365, 373 und 374) nicht aus der daselbst erfahrungs- gemäfs allmälig abnehmenden Empfindlichkeit für Farben ab- geleitet werden kann, sondern dafs sie, ebenso wie das Flattern selbst, durch jene eigentümliche Wechselwirkung zwischen Grund und Marke bedingt ist, welche wie wir bei allen hier beschriebenen Versuchen erfahren haben nur unter ganz besonderen Umständen zur Geltung gelangt. Wir sehen merk- würdigerweise alle Marken, welche auf Rot flattern, im ex- zentrischen Sehen hell werden, obgleich sie thatsächlich relativ dunkler sind als der Grund, und jedes Rot (oder Orange) auf dem Grunde, auf welchem es flattert, im exzentrischen Sehen dunkel werden, obgleich es relativ heller ist, als dieser. Diese Wechselwirkung bekundet sich geradezu im Widerspruch mit den Regeln des Helligkeitskontrastes, wie diese beispielsweise für die Perzeption von farbigen Objekten auf schwarzem und weifsem Grunde von Aübert gewonnen wurden. Man ver- gleiche die Wahrnehmung im exzentrischen Sehen an den auf sogenanntem „schwarzen Karton^ flatternden roten Msurken mit dem Verhalten von Rot auf Schwarz in vollem Tageslichte, wie es von Aubert beschrieben wird. ^ Auf schwarzem Karton wird noch eine Msurke aus dem Karjmin (Blumen- papier No. 1), die um Wesentliches heller ist als der Grund,

* H. Aubert, Physiologie der Netzhaut, S. 160.

386 ^dolf Seilt.

unter den Bedingungen des Flattems im exzentrischen Sehen dunkel.

Jede Beleuchtung, bei welcher der hier in Bede stehende Helligkeitswechsel der Marke auftritt, eignet sich auch für das Flattern der betreflfenden Kombination. Für eine Anzahl genügt herabgesetzes Tageslicht; andere rufen die ßeaktion nur bei künstlicher Beleuchtung hervor: Kerzenlicht, Lampen- Ucht. Es scheint mir zweifeUos, dafs bei den letzteren au&er der quantitativen auch noch eine qualitative Beeinflussung des Farbeneindruckes durch die Beleuchtung zum Zustandekommen des Flattems nötig ist.

Diese und noch andere zahlreiche Wahrnehmungen bei den einzehien Versuchen wären würdig, in eingehendem Studium weiter verfolgt zu werden. Soweit ich selbst hierin gelangt bin, habe ich nichts gefunden, was mit meinen hier gemachten Angaben bezüglich der Bedingungen des Flattems im Widerspruch stände.

Man kann also für das Experiment Grund und Marke aus verschiedenen Farben kombinieren; sie müssen sich aber be- zügKch des Helligkeitsgrades ziemlich nahestehen, oder ihr Helligkeitsunterschied mufs durch nebenumständliche Modi- fikationen ausgleichbar sein, ohne dafs dadurch die qualitative Verschiedenheit zwischen Q-rund und Marke für das Auge beeinträchtigt wird (wie beispielsweise zwischen Rot und Orange einerseits und zwischen Grün und Blau andererseits, die auch darum aufeinander nicht flattern). Da bei solchen Kombinationen unter den für das Flattern günstigen äuiseren Bedingungen der Einflufs der kräftiger kontrasterregenden Farbe sich dermafsen dominierend erweist, dafs die entsprechende Kontrastempfindung den objektiven Eindruck der jeweilig vor- handenen anderen Farbe übertönt, so genügt es auch, eine einzige kontrasterregende Farbe, sei es als Grund oder als Marke, mit neutralem Grau zusammenzustellen, um unter der geeigneten Beleuchtung Flattern zu erzielen. Bei den kräftiger kontrast- erregenden Farben (Rot, Orange) sind noch sehr helle Kombina- tionen wirksam, bei den minder kräftig anregenden Farben (Grün und Blau) zeigen erst dunkle Kombinationen lebhaftes Plattem, weil dann die weitere Herabsetzung der objektiven Unterschieds- empfindlichkeit der Täuschung Vorschub leistet. Bei einer mit Berücksichtigung dieser Angaben getroff'enen Auswahl fiattem:

„Flatternde Herzen*', 387

Auf Bot \ Grün, Blau, fVersuch I bis m, Vm, X, XI. Orange/ Violett, Graul IV bis VH, IX, XH. Grünl Rot, Orange, rVersuchXm, XV, XVI, XVHI, XX, XXn,XXm. Blauj Violett, Grau V XTV, XVH, XIX, XXI. Violett 1 Rot, Orange, ( Versuch XXXUE bis XXXVII. Grau j Grün, Blau \ XXIV bis XXXH.

Das hier Mitgeteilte enthält das Ergebnis einer genauen Beobachtung der Erscheinung des Flattems und die möglichst präzise Feststellung der Umstände, unter welchen es zu stände kommt. Damit sind wohl die letzten Ursachen der Täuschung nicht aufgedeckt; allein so weit sind wir mit der Erklärung der meisten Erscheinimgen des subjektiven Sehens noch nicht. Für die physiologische Psychologie ist es aber schon von Be- deutung, die Gesetzmäfsigkeit und die Q-renzen der Fälschung einer Sinneswahrnehmung erkannt zu haben. Diese hier wurzelt durchaus in jener mangelhaften Überein- stimmung zwischen Netzhautreiz und Gesichtsempfindung, welcher Auberts treffender Ausspruch gilt : „Wir haben daher keine Yeranlassug, die Vollkommenheit unseres Q-esichtsorgans zu bewundem, wohl aber, die Unvollkommenheiten desselben zu untersuchen".

tTber Begründung einer Blindenpsychologie von einem Blinden.

Von

Friedrich Hitschmann

in Wien.

Nicht oline Zögern habe ich mich zu der vorliegenden Arbeit entschlossen, weil ich mir keineswegs verhehlte, welche Schwierigkeiten sich der befriedigenden Durchfuhmng einer Blindenpsychologie entgegenstellten.

Die philosophische Forschung hat bisher wenig gethan, dieses Gebiet urbar zu machen, ja die Fachmänner selbst scheinen von der Unmöglichkeit einer systematischen Darstellung der hierher gehörenden Materien überzeugt, wenigstens hat der erste internationale Blindenlehrerkongrefs, der 1873 in Wien tagte, von der ursprünglich geplanten Preisausschreibung für das beste Lehrbuch der Blindenpsychologie nach reiflicher Er- wägung der Frage Umgang zu nehmen beschlossen. Das Wenige, was an Vorarbeiten über meinen Gegenstand existiert^ findet sich verstreut in Zeitschriften, Vorträgen und Broschüren, so dafs es schwer zu überblicken und noch schwerer zu sichten und unter einheitliche Gesichtspunkte zusammenzufassen ist. Übrigens sind die meisten dieser Ausführungen im Hinblick auf die Tendenzen der Blindenpädagogik geschrieben, sie be- schäftigen sich mit den in Rede stehenden Fragen zunächst unter Berücksichtigung des praktischen Nutzens umd können daher für eine philosophische Behandlung derselben nicht viel mehr als fördernde Einzelheiten und anregende Winke ent- halten. Für die nachstehenden Untersuchungen sah ich mich demnach im wesentlichen auf die Daten angewiesen, welche

s.

Über Begründung einer BUndenpsychologie von einem Blinden. 389

mir ©in eifriges Selbststudium an die Hand gab und die ich durch Beobachtung an anderen Blinden nach Thunlichkeit zu ergänzen und zu berichtigen bestrebt war.

Will man meiner Arbeit daraufhin Mangel an wissen- schaftlicher Exaktheit und Allgemeingültigkeit der Resultate zum Vorwurf machen, so mufs ich es dulden, ja an der letzteren gebricht es ihr schon deshalb, weil ich nur den vollkommen und von Geburt aus Blinden zum Gegenstande meiner Betrach- tungen gewählt und all die mannigfachen Modifikationen von vornherein ausgeschlossen habe, welche durch das Erblinden in späteren Jahren, oder durch einen erheblichen Rest des Lichtsinns hervorgerufen zu werden pflegen. Zu meiner Ent- schuldigung will ich mich übrigens noch darauf berufen, dafs sich das Folgende keineswegs für mehr giebt, als für einen tastenden Versuch, dessen höchstes Ziel darin besteht, die Auf- merksamkeit bewährter Forscher auf das bisher so wenig be- achtete Gebiet der Blindenpsychologie zu lenken.

Von der Thatsache ausgehend, dafs uns die Erkenntnis der Aufsenwelt ausschliefslich durch die Sinne vermittelt wird, gliedert sich die vorliegende Arbeit von selbst in zwei Teile. In dem ersten habe ich die Hauptpunkte aufzuzeigen, in denen sich das Sinnenleben des Blinden von dem des Vollsinnigen unterscheidet, und sodann in dem zweiten zu untersuchen, welchen Einflufs die so veränderten Elemente der sinnlichen Wahrnehmung auf die Ausgestaltung der Denk- und Empfindungs- thätigkeit des Blinden ausüben müssen. Volle Zuverlässigkeit werden diese Ausführungen nach dem in der Einleitung Ge- sagten nur da für sich in Anspruch nehmen dürfen, wo ich in der glücklichen Lage bin, sie durch den Hinweis auf Erfahrungs- thatsachen zu verifizieren.

Den weit verbreiteten Irrtum, als ob bei dem Absterben eines Sinnes die anderen von selbst, gleichsam um einen Aus- gleich herbeizuführen, mit gesteigerter Schärfe funktionierten, brauche ich an dieser Stelle nicht ausführlich zu bekämpfen. Er entspringt aus der völlig unbegründeten Voraussetzung, dafs eine ganz bestimmte Summe geistiger Kraft in dem Menschen vorhanden sei, die, wenn ihr eine Quelle der Aufserung ver- schlossen wird, sich mit um so gröfserer Intensität an den Punkten kundgebe, welche ihrem Einflufs noch ausgesetzt ge- blieben. Ja, mit der gehörigen Folgerichtigkeit durchgeführt,

390 Friedrich Hitschmann,

leitete dieser Satz zu der absurden Konsequenz, dafs einem Wesen, dem von allen Sinnen etwa blofs der G-esclxmack erhalten wäre, durch diesen allein annähernd gleichviel Empfindungen vermittelt würden, als den andern durch all' ihre gesunden Sinne zu- sammen. Richtig ist nur, dafs infolge steter Übung und be- sonders durch ungewöhnliche Konzentrierung der Aufmerksam- keit auf sonst minder beachtete Objekte der sinnlichen Wahr- nehmung auch das Wahrnehmungsvermögen als solches be- trächtlich gesteigert werden kann.

Hier aber begegnen wir bereits dem ersten und, wie mir scheint, einem hochbedeutsamen Unterschied. Es handelt sich nämlich bei dem Blinden nicht blofs um eine Schärfung seiner gesunden Sinnesorgane schlechtweg, welche, um das G-ehÖr als das markanteste Beispiel herauszugreifen, ihm etwa die Mög- lichkeit gewährt, da noch etwas zu hören, wo der Sehende ein- fach nichts mehr hört, sondern er besitzt auch ein bisweilen un- glaublich verfeinertes Unterscheidungsvermögen im prägnanten Sinne des Wortes. Dafs der Q-rad von Unterscheidungsf&hig- keit für verschiedene Gehörsempfindungen auch in ein und dem- selben Gehör verschieden sein kann, dafür spricht unter anderem der Bencht eines Ohrenarztes, wonach einer seiner Patienten den Schlag der Uhr nur auf elf Centimeter Entfernung wahrnahm, während er geflüsterte Worte noch auf drei&ig Meter Distanz verstand. Dieses augenscheinliche Mifsverhältnis kann wohl nur durch die Annahme erklärt werden, daüs der Betreffende in der Apperzeption der einen Art von Schallempfindungen einen höheren Grad von Übung besafs. Ich selbst, obgleich die Schärfe meines Gehörs nicht einmal die normale ist, bin im stände, meinem Vorleser auch dann noch zu folgen, wenn Sehende von weit schärferem Gehör das Gelesene nicht mehr aufzufassen ver- mögen.

Wie wichtig eine solche Fähigkeit für den Orientierungs- sinn des Lichtlosen sein mufs, leuchtet ein. Dafs die mensch- liche Stimme in einem grofsen oder kleinen, in einem leeren oder mit Geräten überfüllten Räume verschieden klingt, darüber ist sich wohl auch der Vollsinnige ohne sonderliche Mühe klar, aber er dürfte nur selten dahin gelangen, diese und ähnliche Dinge als Gegenstand unmittelbarer Erfahrung wahrzunehmen, weil für ihn keine Nötigung vorliegt, seine Aufmerksamkeit auf dergleichen zu richten. Dem Blinden dagegen wird es

über Begründimg einer Blindenpsychologie von einem Blinden. 391

nur durch die Verwertung solcher Beobachtungen möglich, jene erstaunliche Sicherheit zu gewinnen, welche ihn etwa in den Stand setzt, weite Strecken in den belebten Stra&en einer Grofsstadt ohne Führer zurückzulegen.

Ich will, um die Beispiele für eine, wie mich dünkt, ziem- lich klare Sache nicht allzusehr zu häufen, nur noch auf eine Thatsache hinweisen, die man vielfach mit Mifstrauen und Zweifel betrachtet, für deren Richtigkeit ich mich jedoch ver- bürgen kann. Es handelt sich um ein Experiment, wobei man verschiedenartige Platten auf einen Tisch wirft und von Blinden hierauf bestimmen läfst, nicht blofs welche Form dieselben haben, sondern auch, aus welchem Metall oder welcher Holzart sie be- stehen. Dabei mag es nicht ohne Interesse sein zu erfahren, dafs die Zahl der richtigen Antworten mit davon abhängt, an welchem Tisch, ja sogar in welchem Zimmer der Versuch vor- genommen wird.

Weit weniger als durch das Gehör scheint mir das geistige Leben des Blinden durch den Tastsinn beeinfiufst, dessen Be- deutnng im allgemeinen und, wie ich glaube, auch von Fach- männem vielfach überschätzt wird. Der Grund dieses Irrtums liegt wohl in dem Umstände, dafs die Tendenz der Blinden- erziehunir gegenwärtig dahin geht, den Blinden dem Voll- d^Bigen'ALhst .£.üch zu Lch^n. Ich werde epäter .a zeigen suchen, dafs diese Bestrebungen verfehlt sind, da das Seelenleben des Blinden in seiner Entwickelung jenem des Vollsinnigen zwar analog, aber keineswegs mit ihm identisch ist. An dieser Stelle genige der Hinweis dafs, wenn man mit einem naheliegenden Bilde die Fingerspitzen als die Augen des Blinden bezeichnen will, diese doch als sehr kurzsichtige Augen angesehen werden müssen. In der That können nur Gegen- stände von einfacher Form und geringem Umfang durch das Tastgefühl unmittelbar von ihm wahrgenommen werden, während er alle komplizierten Figuren, so weit er sie sich überhaupt vorstellen kann, erst durch die Kombination der durch den Tastsinn vermittelten Elemente gewinnt. Darum kann z. B. die sogenannte Brailleschrift, die auf der verschiedenen Grup- pierung von sechs Punkten beruht, viel rascher und leichter gelesen werden, als das in tastbarem Beliefdruck hergestellte lateinische Alphabet.

Freilich ist auch der Taistsinn bei sorgfältiger Pflege eines

392 Friedrich Hitschmann,

hohen Grades von Vervollkommnung fähig, die dann meistens auch eine entsprechende Vergröfserung der manuellen Fertig- keiten im Gefolge hat. So lernen Blinde ziemlich rasch die verschiedenen Früchte und Blätter, wie auch mannigfache Gegenstände des täglichen Gebrauchs in Thon oder Wachs nach- zubilden; ja den Begabteren unter ihnen gelingt dies auch mit relativ kunstvoll verzierten Vasen und in Ausnahmefallen sogar mit Köpfen. Indessen liegt hier nach meinem Dafür- halten weit mehr technische Geschicklichkeit als künstlerische Anschauung und somit eine viel geringere Bereicherung des intellektuellen Lebens vor, als man auf den ersten Blick anzu- nehmen geneigt sein möchte.

Noch eklatanter zeigt sich dies bei dem kunstgerechtem Zerlegen von Blüten, das unter Zuhilfenahme von Lippen und Zunge von technisch besonders beanlagten Blinden oft mit er- staunlicher Präzision ausgeführt wird.

Dafs die Vorstellung des Raumes weit mehr von dem Gehör als von dem Tastsinn abhängt, habe ich schon oben angedeutet) abgesehen davon, dafs diese Vorstellung im Geistesleben des Blinden eine viel geringere Bolle spielt als in dem des Sehenden. Der Gedanke vollends, Blinde durch Betasten eines Ge- sichtes Menschen erkennen oder gar ihre Seelenzustände aus ihrem Mienenspiel erschliefsen zu lassen, ein Motiv, das zur Erzielung besonderer Effekte mehrfach in Theaterstücken verwendet wurde, ist einfach ein Unding. Der Blinde denkt, soviel mir bekannt ist, Personen überhaupt nicht, indem er sich ihre körperliche Erscheinung vergegenwärtigt, imd dies wäre auch völlig unnatürlich, da er sich dieselbe erst bewuTst und absichtlich aus den zufallig gegebenen Details seiner Erfahrung konstruieren müfste und auch dann wohl zu einem Abbild ge- langte, das dem Original sehr unähnlich wäre; er verknüpft vielmehr die geistige Persönlichkeit, um die es sich handelt, direkt mit dem sinnlichen Moment, das unmittelbar auf ihn einwirkt, also mit der Stimme.

So erklärt es sich, dafs der Blinde häufig und bisweilen sogar gegen seine bessere Einsicht in seiner Neigung oder Ab- neigung durch den angenehmen oder widerwärtigen Klang einer Stimme beeinflufst wird, ganz wie es dem Vollsinnigen mit häfs- lichen oder schönen Personen zu ergehen pflegt, und ich weifs in dieser Hinsicht keinen charakteristischeren Zug anzuführen

Über Begründung einer BUndenpsychologie von einem Blinden. 393

als den, welchen Anna Pötsch in ihrem feinsinnigen Aufsatz: Der Blinde und seine gesunden Sinne" berichtet. Ein blindes Mädchen, heifst es dort beläufig, das dem Gesang einer be- rühmten Künstlerin wiederholt in stiller Andacht gelauscht und sich^ ihrer Neigung folgend, die Persönlichkeit der letzteren aufs Schönste idealisiert hatte, rief, als ein Bekannter so grau- sam war, sie über den schlechten Wandel jener dann aufzu- klären, in naivem Schmerze aus: „Wenn diese Stimme lügen konnte, so ist alles Lüge."

Die gleichfalls in jenem Aufsatz betonte Eigentümlichkeit des Blinden, Personen nach ihrer Sprechweise beschreiben, ihre körperUche Erscheinung gleichsam aus dem Klang ihrer Stimme herausschälen zu wollen, habe auch ich beobachtet, doch muTs ich ausdrücklich hinzufügen, dafs die so gewonnenen Figuren für mich durchaus nichts Plastisches haben, sondern sich ver- flüchtigen, sobald ich aufhöre meine Aufinerksamkeit ange- strengt auf sie zu konzentrieren. Nur beim Erwachen des Q-e- schlechtstriebes sollen sich auch der Einbildungskraft des Blinden plastische Formen aufdrängen, indes dürfte ein genaueres Studium ergeben, dafs auch diese Phantasiegebilde sich von denen des Sehenden wesentlich unterscheiden.

Die letzten Erwägungen gehören bereits dem zweiten Teil meiner Untersuchung an, indem ich mich, wie oben gesagt, mit der Frage zu beschäftigen habe, in welcher Weise der Blinde die Elemente der sinnlichen Wahrnehmung in seinem Denk- und Gefühlsleben verarbeitet. Ich glaube, durch die vor- stehenden Ausführungen das Folgende genügend vorbereitet zu haben, um so mehr, als die von mir nicht besprochenen Sinne zwar gleichfalls der Verfeinerung in hohem Grade fähig, sonst aber, soviel ich weifs, bei dem Blinden nicht eigenartig ent- wickelt sind.

Dafs ich mich im Fortgang meiner Untersuchung, noch mehr, als dies bisher geschehen, auf blofse Andeutungen be- schränke, erscheint durch Plan und Zweck meiner Arbeit wohl hinreichend motiviert.

Wir haben gesehen, dafs die Menge des Materials, das dem Blinden durch seine Sinne vermittelt wird, unverhältnismäfsig geringer ist als jenes, das dem Vollsinnigen zu Gebote steht. Abgesehen von jenen Eindrücken, die wie die Farbe aus- schliefslich durch den Lichtsinn vermittelt werden können und

394 Friedrich Hitschmann,

dem Blinden darum völlig verschlossen bleiben müssen, ent- wickeln sich in seinem Geiste natnrgemäls auch jene Gbmppen psychischer Phänomene nur dürftig, welche, wenn auch nicht untrennbar mit dem Gesichte verbunden, doch von diesem in wesentlichen Punkten abhängig sind, so dais auf dem normalen Wege eine freie und reiche Entfaltung des intellektuellen Lebens für den Blinden ausgeschlossen scheint.

Wie verhält er sich nun aber gegen die Fülle von Ein- drücken, welche ihm durch Gespräch, Lektüre etc. vermittelt werden, und für deren Perzeption seine sinnliche Wahrnehmung ihn gar nicht oder doch nur in unzureichendem Mause vor- bereitet? Dafs er sich mit ihnen abfindet, beweist der umstand, dafs wir selten oder nie einem Blinden begegnen, der nicht für weit mehr Dinge Interesse und Verständnis besälse, ab wozu seine Sinne ihn zu befähigen scheinen. Diese Assimi- lation des wesentlich Fremden besteht in einem psychischen Vorgang, den ich kurz als das Bilden von Surrogatvorstellungen bezeichnen möchte. Im wesentlichen decken sich diese Surrogatvorstellimgen mit dem, was Professor MsiNONe in seinen Hume-Studien als indirekte Vorstellungen bezeichnet hat. Indessen ziehe ich es im Hinblick auf die Funktion, welche diesen Phänomenen im psychischen Organismus des Blinden zukommt, vor, an dem von mir gewählten und auch von Früheren öfter gebrauchten Terminus festzuhalten, und will versuchen, an einem Beispiel klar zu machen, was ich mir da- runter denke. Wenn man den Namen einer bestimmten Stadt, etwa London, aussprechen hört, denkt man, vorausgesetzt, dafs man London nicht vor sich liegen oder noch lebhaft in Er- innerung hat, nicht an die vielen Einzel Vorstellungen, aus denen logisch genommen dieser Vorstellungskomplex besteht, auch nicht an charakteristische Einzelheiten, wie etwa an die geographisch bestimmte Lage Londons, wie sie uns von der Karte her geläufig ist, sondern all' dies tritt erst hervor, wenn wir unsere Aufmerksamkeit besonders auf diese Gegenstände richten. Für gewöhnlich dagegen operieren wir mit dem Worte London, ohne uns ein auch nur insoweit anschauliches Bild der Stadt zu entwerfen, wobei übrigens diese Unterlassung für den Verlauf unseres Denkens keine nachteiligen Folgen hat. Die Zahl solcher Surrogatvorstellungen nun ist für den Lichtlosen unverhältnismäfsig gröfser als für den Vollsinnigen,

über Begründung einer BUndenpsychohgie von einem Blinden, 395

tmd er kommt weit häufiger als jener in die Lage, die so ge- wonnenen Begriffe gegebenenfalls nur mangelhaft realisieren, das heifst, auf eigentliche Vorstellungen zurückführen zu können. Wenn er, um bei dem früheren Beispiel zu bleiben, die Surrogatvorstellung Stadt in eine wirkliche zu verwandeln strebt, so wird ihm das nur unvollständig gelingen, denn dieser Komplex setzt sich zwar auch für ihn aus dem Geräusch der Wagen, dem Drängen der Passanten, der mit Staub und Bauch erfüllten Atmosphäre und einer Menge ähnlicher Eindrücke zusammen, die beim Durchwandern einer Stadt auf seine Sinne eindringen, und die Einzelheiten mögen ihm sogar mit gröfserer Lebhaftigkeit und schärfer gesondert entgegentreten als andern, aber das, was für den Sehenden den Kern des Bildes ausmacht, der zusammenfassende Gesichtseindruck fallt für ihn weg, und seine Vorstellung mufs daher notwendig unvollständig bleiben.

Nebenbei bemerkt, wäre hier der Punkt, an den der Pädagög anzuknüpfen hätte, um den Anforderungen gerecht zu werden, welche aus der eigentümUchen Disposition des Blinden ent- springen, denn gerade in den Surrogatvorstellungen liegt der Schwerpunkt seines geistigen Lebens, und von der Freiheit und Baschheit ihres Spieles weit mehr als von seiner Fertigkeit, die ihnen entsprechenden eigentlichen Vorstellungen aufzurufen, hängen die Fortschritte seiner Entwickelung ab. Kommt es doch gar nicht selten vor, dafs dem Blinden die Realisierung einer Vorstellung ganz unmöglich bleibt, während ihm ihr Surrogat völlig geläufig ist, so sind die Worte: Licht und Dunkel, Schwarz und Weifs etc. für ihn nicht, wie man viel- leicht anzunehmen geneigt wäre, leerer Schall, sondern er kommt ihnen sozusagen nur von der verkehrten Seite bei, indem er sich zunächst ihrer bildlichen Bedeutung bemächtigt, von den lichten Tagen der Kindheit oder von der schwarzen Seele eines Verbrechers spricht. Ja, ich erinnere mich, Blinde mehrfach von hellen und dunklen Tönen reden gehört zu haben, ähnlich wie ja auch in der Malerei von Farbentönen die Kede ist.

Dafs ein solches zum grofsen Teil nur mit Surrogat- vorstellungen operierendes Denken auf die Ausgestaltung der gesamten geistigen Persönlichkeit von gröfstem Einflufs sein mufs, leuchtet ein. Besonders läfst sich ein solcher Einflufs auf dem Gebiete der ästhetischen Phantasie voraussetzen, und

396 Friedrich Hitschmann.

in der That bestätigt die Erfahrung, dafs der Blinde zu den verscliiedenen Künsten in einem ganz eigenartigen YerliältmB steht. Blofs in dem Bereiche der Musik, welche ausschließlich auf Klangwirkung beruht, weshalb es zu ihrem Yerständnis für den Blinden keiner Surrogatvorstellungen bedarf, ist er so gut, ja unter sonst gleichen Bedingungen besser als andere zum Geniefsen und wohl auch zum Schaffen befähigt. Im Gegensatz hierzu ist ihm die Malerei natürlich vollständig und, was nach dem früher über den Tastsinn Gesagten nicht be- fremden kann, fast in gleichem Grade auch die Plastik ver- schlossen. Am eigentümlichsten gestaltet sich seine Beziehung zur Poesie; da ich mich jedoch an geeigneter Stelle ausführlicli über diesen Gegenstand auszusprechen gedenke, mögen hier wenige Andeutungen genügen. Der Blinde vermöchte nur solche Dichtungen ganz zu geniefsen, welche von Blinden und für Blinde geschrieben wären und die daher im Gegenstand wie in den Mitteln ihrer Darstellung auf seine Besonderheit Bücksicht nehmen. In der Litteratur, wie sie ist, begegneter auf Schritt und Tritt solchen Stellen, die er nicht klar aofisn- fassen oder doch nicht lebhaft nachzuempfinden vermag. Einen wie verschiedenen Eindruck müssen beispielsweise die folgenden Verse in dem Gemüt eines sehenden und eines blinden Lesers hervorrufen :

oder:

„Im Walde sah ich ein Blümchen steh'n, Wie Sternlein leuchtend, wie Äuglein schön."

„Füllest wieder Busch und Thal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz."

Auch auf die poetische Schöpferkraft des Blinden wirkt dieser Umstand lähmend ein, und es ist in dieser Hinsicht charakteristisch, dafs verschiedene Litteraturen zwar mehrere, spät erblindete, aber meines Wissens keinen einzigen von Geburt auf blinden Dichter aufzuweisen haben.

Dagegen sind dem Blinden die Wissenschaften, zumal die abstrakten, leicht zugänglich, wie überhaupt die Durchschnitts- intelligenz derjenigen Blinden, welche einer systematischen Ausbildung teilhaft geworden, als eine überraschend hohe be- zeichnet werden mufs.

über Begründung einer BUndenpsychologie von einem Blinden, 397

Höchlich gefördert wird dies nun auch durch ein vortreffliches Gedächtnis, und zwar ist die aufser ordentliche Leistungsfähigkeit des letzteren aufser der fortgesetzten Übung dieser Geistes- kraft wohl auch dem Umstände zuzuschreiben, dafs auf den Blinden weit weniger Eindrücke einstürmen, als auf den Sehenden, weshalb sie schärfer ausgeprägt und daher leichter zu reproduzieren sind. Hierbei mufs jedoch auch darauf hin- gewiesen werden, dafs die Entwickelung dieser Anlage meistens einseitig erfolgt; so habe ich z. B. selbst ohne sonderliche Mühe an 20000 Verse auswendig gelernt, während ich eine fremde Melodie, auch wenn sie noch so einfach ist, kaum 24 Stunden festzuhalten vermag. Auch habe ich Blinde gekannt, die mit grofser Sicherheit an 100 Ziffern aus dem Gedächtnis wieder- holen konnten, aber aufser stände waren, einen längeren Satz nach einmaligem Vorlesen fehlerlos nachzusprechen, ohne dafs als die entscheidende Ursache für dieses auffallige Mifsverhältnis Exklusivität des Interesses für ein bestimmtes Wissensgebiet angenommen werden könnte. Schliefslich sei noch bemerkt, dafs der Blinde mit den künstlichen Stützen, welche die so- genannte Mnemotechnik an die Hand gibt, in der Begel nicht viel anzufangen weifs, vermutlich darum, weil diese auf die psychischen Funktionen des Normalmenschen berechnet ist, von welchen, wie wir gesehen haben, das intellektuelle Leben des Blinden infolge seiner Sonderentwickelung in wesentlichen Punkten abweicht.

Ich glaube im Vorstehenden diejenigen Momente bezeichnetzu haben, von denen eine zu begründende Wissenschaft der BUnden- psychologie auszugehen hätte, und es erübrigt nur noch, meinen bescheidenen Versuch dem Urteil bewährter Forscher zur Be- richtigung und Weiterbildung zu empfehlen. Eine solche Weiter- bildung scheint mir um so wünschenswerter, als die Anknüpfung an einzelne der hier berührten Thatsachen, wie etwa der er- wähnten Surrogatvorstellungen, vielleicht zu allgemein inter- essanten, psychologischen Aufschlüssen führen könnte und jedes- falls die Beleuchtung einer Sonderentwickelung, wie sie der Blinde zweifellos durchmacht, für die Klärung der mannigfachen Vor- gänge im Menschengeist überhaupt nicht ohne Wert sein dürfte.

Zeittehrift für Psyeholoflrie m. 26

Bemerkungen über die von Lipps und CoRNELros besprochene Nachbilderscheinung.

Von

Dr. Otto Schwarz,

Privatdocent für Augenheilkunde in Leipzig.

In Band I dieser Zeitschrift, S. 60 ff., bespricht Lipps eine Nachbilderscheinung, die in der Hauptsache darin besteht, dab bei rascher Wegwendung des Blickes von einem sich vom Hintergrunde stark abhebenden Gegenstand dieser einen rasch verschwindenden Streifen in entgegengesetzter Bichtong aus- zusenden scheint. Lipps will diese im wesentlichen schon von Purkinje^ beobachtete Erscheinung durch die Annahme er- klären, dafs die G-röfse des Winkels, um den sich bei der raschen Blickwendung das Gesichtsfeld im Baume verschiebt, und damit auch die von diesem Winkel abhängige Länge des während der Blickbewegung entstehenden Nachbildstreifens überschätzt werde, weshalb dieser über den leuchtenden Gegen- stand nach rückwärts hinauszuschiefsen scheine, um dann in- folge der von der neuen Buhelage der Blicklinie aus wieder richtig lokalisierten Wahrnehmung des Gegenstandes sich in diesen zurückzuziehen.

Die Richtigkeit dieser Erklärung wird von Cornelius* be stritten. Letzterer ist der Ansicht, dafs beim Aufhören der Blickbewegung die Augen (oder der Kopf) eine kleine Eück- wärtsbewegung machen, durch die auch der ganze während der Bewegung entstandene normale Nachbildstreif eine kleine Ver-

* Beob, u. Verstiche z. Fhysiol d, Sinne II, S. 55 ff.

* S. diese Zeitschrift, Bd. 11, S. 164 ff.

Bemerkungen über die von Lipps u, ComeUus bespr, Nachbilderscheinung. 399

Schiebung nach rückwärts erfahren und somit um ein kleines Stück über den ursprünglich fixierten Punkt zurückschiefsen würde. Während dieser Rückwärtsbewegung würde ein kleiner Netzhautstreif in entgegengesetzter Bichtung noch einmal erregt, und dem Ablauf dieser Erregung würde die Auflösung des in Rede stehenden Nachbildstreifens von seinem peripheren Ende her sein scheinbares Zurückschiefsen in das leuchtende Objekt entsprechen.

Bei Nachahmung der LiPPSschen Versuche glaubte ich erst die Erscheinung ebenso erklären zu können, wie es Cor- nelius versucht ; diese Erklärung erscheint sehr natürlich. Eine genauere Prüfung derselben ergab mir aber ihre ünhaltbarkeit. Die Arbeit von Cornelius veranlafste mich, dem Gegenstand wieder näher zu treten und, da mir die Erklärung von Lipps trotz ihrer scharfsinnigen Begründung etwas gezwungen vor- kam, eine befriedigende Lösung der Frage zu suchen.

Zunächst erschien mir der „regelwidrige Nachbildstreif" wie die Erscheinung im folgenden bezeichnet werden möge meist viel zu grofs, um durch eine kleine Rückwärtsbewegung der Blicklinie erklärt werden zu können. Allerdings hatte ich bei rascher Kopfdrehung immer deutlich das Gefühl, als ob beim Aufhören der Bewegung der Kopf eine kleine Rück- wärtsbewegung machen würde; das beweist aber nicht, dafs auch die Blicklinie eine solche macht. Da die Erscheinung in gleicher Weise zu stände kommt, wenn bei stillstehendem Kopf nur die Augen bewegt werden, so müfste hier bei der verhältnismäsigen Gröfse des „regelwidrigen Nachbüdstreifens" die Rückwärtsbewegung der Blicklinie immerhin so ausgiebig sein, dafs von einem andern Beobachter eine entsprechende Augen bewegung leicht bemerkt werden könnte. Ich stellte daher bei verschiedenen Personen entsprechende Versuche an, um eine solche „Überschwingung" der Blicklinie, wie ich es kurz nennen möchte, nachzuweisen damals noch in der Hoffnung, sie zu finden. Es gelang mir aber bei normalen Verhältnissen nie, eine solche „Überschwingung" nachzuweisen, wenn der Punkt, nach welchem die Blicklinie sich hinbewegen sollte, vor Beginn der Bewegung indirekt gesehen wurde. Eine solche, mit unbewaffnetem Auge deutlich erkennbare Überschwingung kommt, wie mir scheint, nur in pathologischen Fällen vor und ist als ein Zeichen von Ataxie anzusehen.

26»

400 Otto Schwarz.

Auch bei Blickbewegung mittelst (ausschliefsliclier oder nur begleitender) Kopfdrehung scheint die Blicklinie nicht über den neuen Fixierpunkt hinauszuschiefsen, sondern rechtzeitig durch entsprechende Innervation der Augenmuskeln gehemmt zu werden, wenn auch der Kopf sich noch etwas weiterbewegt Folgender Versuch aber dürfte, wenn andere Beobachter ihn bestätigen, schlagend die ünzulässigkeit der Erklärung von Cornelius beweisen : Hält man beim Fixieren eines leuchtenden Punktes a etwas oberhalb der Blicklinie ein breites Lineal wagrecht vor seinem Gesicht und wendet die Augen dann mittelst Kopfdrehung rasch nach einem über dem Lineal weg sichtbaren Punkt 6, so erscheint auch hierbei der „regelwidrige Nachbildstreif" in voller Deutlich- keit, obwohl jetzt während des letzten Teils der Bewegung der Punkt a gar nicht mehr gesehen, sondern durch das Lineal verdeckt wurde. Bei ver- schiedenen Abänderungen dieses Versuchs war das Ergebnis dasselbe. (Am deutlichsten war mir die Erscheinung bei Verschlufs eines Auges und schiefer Blickbewegungsrichtung.) Nur wenn das Lineal so dicht über der Blicklinie gehalten wurde, dafs - bei Vermeidung einer selbständigen Augen- drehung überhaupt kein Nachbüdstreif zu stände kommen konnte, blieb auch der regelwidrige Nachbildstreif aus.

Während nun sonst der Nachbildstreif sich oft ununter- brochen bis zum Punkt h hin fortzusetzen, oder besser, von diesem aus zu entwickeln schien, wie es auch Lipps be- schrieb, — waren bei der eben angegebenen Yersuchsanord- nung gewöhnlich zwei durch einen dunklen Zwischen- raum getrennte Nachbildstreifen zu sehen, einmal der regelwidrige, ziemlich lichtstarke, und dann ein schwächerer von ungefähr gleicher oder etwas gröfserer Länge, der vom neuen Fixierpunkt h ausging und offenbar ein normales positives, in Bezug auf die neue Fixierpunktslage richtig lokalisiertes Nach- bild darstellte. Dieser letztere Nachbildstreif gelangte bei mir nicht immer zur Wahrnehmung, doch regelmäfsig bei genügender Helligkeit von a und dunklem Hintergrund. Zu- weilen schien er sogar fast bis zu dem Punkt a zurückzureichen, es konnte manchmal der dunkle Zwischenraum zwischen den beiden Streifen nicht bestimmt beobachtet werden. In diesen Fällen war vermutlich eine Bewegung der Augen der des

Bemerkungen über die von Lipps u. Cornelius bespr, Nachbilder scheinung, 401

Kopfes vorausgeeilt, so dafs die Blicklinie schon beinahe oder ganz den neuen Fixierpunkt erreicht hatte, ehe der Punkt a durch die Kopfdrehung dem Blick entschwand. (Dafs dieser zweite Nachbüdstreif etwa von dem Punkt b herrühren könnte, war dadurch ausgeschlossen, dafs er auch bei nur vorgestelltem Fixierpunkt h in gleicher Weise auftrat.)

Was die Erklärung von Lipps durch Überschätzung der Sehfeldverschiebung^ betriflFt, so wäre auch hierbei die Q-röfse des regelwidrigen Nachbildstreifens im Verhältnis zum ganzen Streifen auffallend grofs, denn sie beträgt sicher oft mehr als ein Drittel des ganzen Streifens. Unerklärlich bliebe femer, dafs der regelwidrige Streif wesentlich heller erscheint, als der ordnungsmäfsige, der Bahn zwischen a und b entsprechende Streif; letzterer kommt sogar oft bei hellem Hintergrund gar nicht zur Wahrnehmung, während ersterer ganz deutlich ist.

Schon dieser Umstand legt es nahe, die beiden Teile des ganzen Nachbildstreifens als zwei verschieden lokalisierte Empfindungen einer und derselben Netzhaut- erregung aufzufassen. Darauf weist auch das Auftreten zweier voneinander getrennten Nachbildstreifen bei dem obigen Versuch mit Verdeckung des ursprünglichen Fixierpunktes hin. Von verschiedenen Versuchen ähnlicher Art, die für diese Auf- fassung sprechen und mit der von Lipps, sowie der von Cornelius unvereinbar sind, möge wenigstens der folgende seiner An- schaulichkeit wegen mitgeteilt werden.

Wurde bei Verschlufs eines Auges mit dem anderen durch ein blaues Glas nach einer Flamme geblickt und das Glas so

* Die Voraussetzung, von welcher L. ausgeht, dafs nämlich Be- wegungsempfindungen des Auges und Kopfes mit der Einordnung der Gesichtseindrücke in das Sehfeld nichts zu thun hätten, sondern nur den Mafsstab für die Verschiebungen unseres ganzen Sehfeldes und jedes Punktes desselben innerhalb des als ruhend gedachten Gesamtraums abgeben, mufs ich mit Cornelius für unrichtig ansehen. Auch kann man nicht, wie L. will, das Sehfeld als eine (subjektiv) bestimmte Abgren- zung des Gesamtraumes ansehen; wir sind uns der Grenze unseres Sehfeldes gar nicht bewufst, dasselbe scheint uns stetig in den unsicht- baren Teil des Gesamtraumes überzugehen. Das beweist namentlich der Umstand, dafs oft grofse Gesichtsfeldbeschränkungen von den betr. Kranken gar nicht bemerkt werden; selbst beim Ausfall einer ganzen Hälfte des binokularen Gesichtsfelds sind sich Kranke, die wenig Beob- achtungsgabe besitzen, zuweilen der Art ihrer Sehstörung gar nicht bewufst. Vergl. übrigens auch Aubert, Physiol, d. Netzhaut, S. 260.

402 Otto Schwarz.

gehalten, dafs bei rascher Kopfdrehung nach einem erst indirekt gesehenen Punkt hin die Flamme nur während eines Bruch- teils dieser Drehimg durch das G-las gesehen wurde, weiterhin aber neben diesem vorbei, so erschien der regelwidrige Nach- bildstreif entweder ganz blau, oder in seinem Anfangs- teil blau und an seinem peripheren Ende in der natürlichen Farbe der Flamme. Der letztere Fall trat ein, wenn das blaue Glas nur einen sehr kleinen Teil der Blickbahn verdeckte; je mehr diese durch das G-las verdeckt wurde, desto kürzer wurde das helle Ende des Streifens. Auch bei still gehaltenem Kopf war die Erscheinung dieselbe, nur mufste, um bei blofser Augenbewegung die Pupille ganz aus dem Schatten des blauen Glases zu bringen, die Pupille stark verengert werden (was durch Pilokarpineinträuflung geschah). Der normale, entsprechend der Blickbahn lokalisierte Nach- bildstreif liefs keine deutliche Färbung erkennen, was sich durch seine geringe Helligkeit erklären läfst.

Dieser Versuch zeigt deutlich, dafs der regelwidrige Nach- bildstreif nicht etwa; wie für die Auffassung von Lipps, sowie für die von CoßNELius vorausgesetzt werden müTste, dem peripheren Ende des auf der Netzhaut entstehenden Er- regungsstreifens entspricht, sondern entweder diesem ganzen Erregungsstreifen, oder aber dessen Anfangs- teil (von der Fovea aus gerechnet) in gröfserer oder geringerer Ausdehnung.

Man hat sich also wohl vorzustellen, dafs die Empfindung des bei der raschen Blickbewegung in der Netzhaut entstehenden Erregungsstreifens während der Dauer der Bewegung oder mindestens während eines gröfseren Abschnitts derselben so lokalisiert wird, als ob die Blicklinie noch auf den ursprünglichen Fixierpunkt eingestellt wäre. Wenn dann die neue Ruhelage erreicht und die Erregung des Netzhautstreifens noch nicht ganz abgelaufen ist, so kommt diese noch einmal zur Empfindung, jetzt in Bezug auf die neue Lage der Blicklinie richtig lokalisiert. Bei genauer Aufmerksam- keit auf den zeitlichen Ablauf der beiden Nachbildstreifen sehe ich auch in der Regel den normalen Nachbildstreifen einen kleinen Augenblick später auftreten, als den regelwidrigen.

Durch diese Auffassung wird allerdings nicht erklärt,

Bemerkungen iiber die von Lippe u. ComeUua beapr. Nachbilder scheinung, 403

warum der regelwidrige Nachbildstreif sich wieder in das leuchtende Objekt zurückzuziehen scheint. Bei dem Versuch mit Verdeckung des leuchtenden Punktes a während des letzten Teils der Blickbewegung konnte ich indes dieses scheinbare Zurückziehen nicht bemerken, der Streifen blafste hierbei immer plötzlich ab und glich in seinem Ablauf ganz dem zweiten, dem ordnungsmäfsigen, Nachbildstreifen. Es liefse sich daher denken, dafs das gewöhnlich beobachtete scheinbare Zurück- schiefsen auf einer ürteilstäuschung beruht, indem der leuch- tende Gegenstand beim Aufhören der Blickbewegung wieder stark zur Empfindung kommt und dadurch den Eindruck hervorruft, als ob der Streifen sich wieder in denselben zurück- ziehe. Damit würde auch übereinstimmen, dafs das Zurück- schiefsen des Streifens im allgemeinen um so weniger deutlich erscheint, je gröfser der Blickbewegungswinkel und damit der regelwidrige Nachbildstreif ist.

Wenn die gegebene Erklärung des regelwidrigen Nach- bildstreifens richtig ist, so sollte man erwarten, dafs ein solcher auch bei rascher Wendung des Blicks nach einem leuchtenden Gegenstand hin auftreten müJGste. Unter gewissen Bedingungen ist das auch wirklich der Fall. Bei sehr rascher Blickwendung nach einem sehr kleinen hell leuchtenden Gegenstand vor ge- nügend dunklem Hintergrund gelingt es mir in der Begel, einen solchen, hier also der Blickrichtung entgegenkommenden, kurzen Nachbildstreifen zu sehen, der sich sehr rasch in den leuchtenden Gegenstand zurückzieht. Bei langsamerer Bewegung kommt dagegen nur der ordnungsmäfsige Nachbildstreifen zur Wahr- nehmung, den auch Cornelius erwähnt. Beide Streifen sind aber bei Blickbewegung nach einem leuchtenden Gegenstand hin im allgemeinen lichtschwächer, als der regelwidrige Streifen bei Wegwendung des Blicks. Man könnte sich immerhin vor- stellen, dafs die durch den neuen Beiz des Netzhäute ent rums bewirkte verhältnismäfsig starke Empfindung die schwachen, in die nächste Umgebung des neuen Fixierpunktes projizierten Em- pfindungen rasch auslöscht (überblendet). Dies soll indes keine Erklärung sein, sondern nur ein Hinweis auf die Möglichkeit einer solchen.

Sollten weitere Beobachtungen die Richtigkeit der für die Erscheinung des regelwidrigen Nachbildstreifens gegebenen Er- klärung bestätigen, so wäre jedenfalls der Umstand interessant.

404 Otto Schwarz.

dafs, wenn eine während einer raschen Blickbewegnng statt- findende Netzhauterregung zur Empfindung gelangt, die Lokali- sation dieser Empfindung von dem Bewegungsbewuistsein an sich noch nicht unmittelbar beeinflufst wird, auch wenn das Ziel der Bewegung bekannt ist. Der „Ortswechsel der Auf- merksamkeit^ (Hering)^ ist bei der Blickwendung nach einem bestimmten Punkt hin offenbar schon vollzogen, wenn der regel- widrige Nachbildstreif zur Wahrnehmung kommt. LäXst man auch mit Hering* den psychophysischen Prozeis, durch den . der Ortswechsel der Au&aerksamkeit bedingt ist, zugleich als das physische Moment gelten, welches die Innervation der Augenmuskeln auslöst, so müTste doch zwischen diesen psychophysischen Prozefs und die „Ändenmg der absoluten, d. h. auf den wirklichen Baum bezogenen Baumwerte der Netz- haut^ (Hering) ein besonderer Vorgang eingeschoben sein, der der Innervationsempfindung zu entsprechen hätte, wie von WuNDT^ u. a. angenommen wird, oder sie wenigstens in sich begreifen würde. Dieser Vorgang dürfte ziemlich ver- wickelter Natur sein, da er erst nach Ablauf der Blickbewegung die Lokalisierung der Empfindung in Bezug auf die neue Lage der Blicklinie bewirkt, also so viel Zeit in Anspruch nimmt, wie die motorische Innervation, die centrifugale Leitung und die Muskelbewegung zusammengenommen. Vielleicht könnten messende Untersuchungen über den zeitlichen Ablauf der Er- scheinungen mittelst der Methoden der experimentellenPsy chologie einigen Aufschlufs darüber geben. Es ist übrigens ratsam, so rasche BHckbewegungen, wie sie bei derartigen Versuchen er- forderlich sind, nicht oft hintereinander auszuführen. Kurz- sichtigen mit ophthalmoskopisch nachweisbaren Dehnungser- scheinungen im Augenhintergrund ist wegen Gefahr einer Netz- hautablösung überhaupt von solchen Versuchen abzuraten.

* Hermann, Handb, d. FhysioL III, 1, Physiol d. GesichtssinnSy S. 534 f.

« Ebenda S. 547 f.

» Physiol Ps^y chologie, 2. Aufl. I, S. 375 ff., 3. Aufl. I, S. 400 ff.

Litteraturbericilt.

A. Heoleb, (Eepetent am ev.-theol. Seminar in Tübingen). Die Psycho- logie in Kants Ethik. Freiburg i./B., Mohr, 1891. Xu und 332 S. tw. 8. . Die Schrift enthält eine genaue Untersuchung der Psychologie Kants, soweit sie mit seiner Ethik zusammenhängt; auch die zur theo- retischen Philosophie gehörigen Schriften und die psychologischen An- sichten der englischen Moralisten und deutschen Popularphilosophen sind zur Vergleichung herangezogen; besonders aber wird das Verhältnis der KANTSchen Psychologie zur WoLFFSchen und BAüMOARTENschen ein- gehend berücksichtigt. Da die Abhängigkeit der ersteren von der letz- teren eine sehr starke ist, zumal hinsichtlich der Terminologie, so hätte sich vielleicht geradezu eine Bichtung der Untersuchung empfohlen, die von WoLFF ausgegangen wäre und die Modifikation der WoLFFSchen Begriffe durch Kant verfolgt hätte. Indessen auch in der vorliegenden Fassung ist das Werk verdienstlich.

Der Eeferent hat den Abschnitt „Der Wille und die Willensbe- stimmung" (S. 148 209) genauer durchgesehen. Die Trennung von „Wille", „Willkür", „Begehrxmgsvermögen" und die Differenzierung derselben ist der KANTSchen entsprechend und so exakt, als es Kants Ausdrucksweise zuläfst. Für das Schwanken derselben hätte noch als besonders bezeich- nend angeführt werden können, aus der „Kr. d, pr. Vernunft" {Kehrh., S.44): „Was nach dem Prinzip der Autonomie der Willkür zu thun sei", während Kant sonst sehr bestimmt Autonomie des Willens und Heteronomie der Willkür unterscheidet. Auch ist in richtiger Weise der Widerspruch hervorgehoben, in den Kant gerät, indem er zuerst jedes „materiale Prinzip", jedes „Gefühl", von der Bestimmung des sittlichen Willens ausschliefst, dann aber dennoch ein „Interesse" an der Unterwerfung der Handlung unter das rein formale Sittengesetz und ein damit identisches „Geftlhl der Achtung" vor demselben auch beim sittlichen Handeln zuläfst, und dafs dieser Widerspruch zwischen Psychologie und Ethik bei ihm ein unauflöslicher ist (S. 206), wie sehr er auch eine erkenntnistheoretische Lösung versucht, die eben keine psychologische ist, weil bei ihm „die Klarheit Über das grundsätzliche Verhältnis transcendentaler und psychologischer Bedingungen und dem-

406 Litteraturhericht

gemäfs kritischer und psychologischer Aufgaben nicht durchweg vor- handen ist" (S. 327) xmd hätte H. hinzufügen können die psycho- logische Beobachtung wenig entwickelt ist, so dafs er ein „intellektuelles Gefahl" für einen Widerspruch hält. (Kr. der pr. Vern. ed. Kehrb. S. 141).

Besonders wichtig ist auch das Kapitel : »Zur Genesis der KANTSchen Ethik" (S. 305—26). Es wird darin bewiesen, dafs Kakt bis 1770 mit HuTCHEsoN das Sittliche nicht in der Erkenntnis, sondern in einem Ge- fühl findet, die „Inauguraldissertation*' aber von 1770 eine scharfe Wendung zur Gründung desselben auf „intellectus purus" macht, eine Wendung, die ihn zuletzt fast zur Ausschliefsung der Psychologie aus der Ethik führte (327/28).

Ein gutes Namen- und Sachreg^ter erleichtert den Gebrauch des Werkes. P. Barth (Leipzig.)

L. Edinoer. Bericht über die Leistnngen auf dem Gebiete der Anatomie des Oentralnenrensystems im Laufe des Jahres 1890. Schmidts Jahr- bücJier. Bd. CCXXXII. (Selbstanzeige.) Das Jahr 1890 war für die Himanatomie ein ungewöhnlich fracht- bares. Der Jahresbericht verzeichnet nicht weniger als 144 Arbeiten. Die gröfsten Fortschritte hat die Lehre vom feineren Aufbau der Elemente gemacht. Dank den Untersuchungen Golois, Ramo5 t Cajals, Köllikbbs und anderer fügt sich als neues Element in das Bekannte die Thatsache ein, dafs aus den Nervenfasern feine Kollateralzweige entspringen, dals diese, an vielen Stellen um Zellen der grauen Substanz sich verästelnd, so durch Kontakt die Verbindung ihrer ürsprungszelle mit einem weiteren Oentrum herstellen. Mit immer gröfserer Sicherheit stellt es sich heraus, dafs jede Zelle des Centralnervensystems eine grofse Anzahl verzweigter Ausläufer besitzt, von denen einer, der Stammfortsatz oder Axency linder, in bald längerem, bald kttrzerem Verlaufe sich nach der Endst.ätte be- giebt, wo er wieder in eine feine, meist pinselförmige Verzweigung sich aufsplittert. Aus diesem Stammfortsatz kommen seitlich hie und da die Kollateralen. Die Verzweigungen des Axencylinders oder der Kollateralen legen sich entweder an eine neue Zelle bezw. an die Ausläufer einer solchen an, oder sie enden auch in der Peripherie, wie z. B. die Axen- cylinder der Vorderhornzellen in den Muskelfasern. Es giebt keinen direkten Zusammenhang zweier Zellen, nur ein Aneinanderlegen der Aus- läufer. Die centralen Nervenzellen mit ihren Ausläufern sind selbständige Individuen, sie verbinden sich nirgendwo mit anderen Zellen fest.

Sehr wahrscheinlich wird es auch, dafs mindestens in vielen sen- sorischen Bahnen Züge verlaufen, die entgegengesetztem Wachstum ent- springen. Eine Faser stammt aus der peripher liegenden Endzelle (z. B. Retinazelle, Riechzelle) und splittert sich im Centralorgan um die Aus- läufer von dort liegenden Zellen auf, eine andere stammt aus dem Central- organ, zieht in die Peripherie und verzweigt sich dort.

Wir sind nahe daran, endlich zu wissen, was längst ein Postulat ist, wie nämlich die Einschaltung von grauen Massen zwischen die Leitungen geschieht, wie sich de facto der Ursprung der Nervenfaser

Litteraturbericht 407

gestaltet, kurz wir nähern uns rasch der lange gesuchten Erkenntnis vom feineren Zusammenhange der Nervengebilde in den Centralorganen.

Nach Nennung einer Anzahl von Gesamt-Darstellungen,^ ' nach Erwähnung einer Arbeit von Gaskell* über Befunde im Gehirn, welche für die Abstammung der Vertebraten von einem krebsähnlichen Ahnen sprechen, und einer reichen Litteratur über technische Methoden wird zunächst über die Fortschritte in der Entwickelungsgeschichte und Histologie berichtet.

Eabl-Bücehard * hat die Hypothese aufgestellt, dafs die Ganglien- zellen amöboid seien, dafs man viele Phänomene der Hirnthätigkeit besser verstehe, wenn man ein unausgesetztes Spiel der Protoplasma- fortsätze, ein fortwährendes Knüpfen und Lösen von feinen Verbindungen annehme.

In der That hat Wiedersheim* amöboide Bewegungen an Zellen ge- sehen, welche im Gehirn eines kleinen Süfswasserkrebses (Leptodora hyalina) liegen. Es ist aber nicht sicher nachgewiesen, dafs es sich hier um Ganglienzellen handelt, und es ist nicht unmöglich, dafs parasitäre Wesen hier einmal ihren Sitz im Gehirn aufgeschlagen.

Betzius ^ hat die einfachen Formverhältnisse bei Wirbellosen benutzt, um wichtige Fragen zur Klärung zu bringen. Er hat das lebende Nerven- gewebe von Krebsen mit Methylenblau gefärbt und dabei ungewöhnlich klare Bilder erhalten. Auf diese BETziussche Arbeit, die mit prachtvollen Tafeln geschmückt ist, soll auch wegen der reichen und genauen Litteratur- nachweise ausdrücklich hingewiesen werden. Bei den Krebsen entspringt vom Zellkörper fast aller Ganglienzellen nur ein Fortsatz, welcher direkt in eine Nervenfaser übergeht. Aus ihm entspringen aber zahlreiche Nebenfortsätze, welche sich zu den Ganglien zurückbiegen und dort in mehr oder weniger reicher Verzweigung und mit knotigen, perlschnur- ähnlichen Astchen frei enden. Zellanastomosen existieren nicht. Die feine Substanz zwischen den Ganglienzellen, die Punktsubstanz, be- steht wesentlich aus diesen Nebenfortsätzen. Auch hier kommt zweifellos die Verbindung von zwei Zellen nur durch Kontakt zu stände. In dem EETZiusschen Werk werden die einzelnen Thorakalganglien der Krebse auf das genaueste nach ihrem ganzen Bau anatomisch geschildert, und

* FkRt, Ch. Traiti eUmentaire de V-Änat. nUdicale du Systeme nerveux. 2. Edition avec 242 fig. dans le texte. Paris 1890. Lecrosnier et Bab^.

* EoiNOEB, L. !hvelve lectures on Uie slructure of the central nervous System. 2. Edition, translated by Willis Hall Vittüm, edited by C. Eugen Rioos. Philadelphia 1890. F. A. Davis.

* Obersteiner, Heinrich. The anatomy of the central nervous organ in health and disease. Translated with annotations and additions by Alex. Hill. London 1890. Charles Griffier & Co.

* Gaseell. On the origin of vertebrates from a crustacean-life acestor. Quart Journ. of mikr. science, Aue. 1890.

' Babl-Bückhard. Sind die Ganglienzellen amöboid? Eine Hypothese zur Mechanik psychischer Vorgänge. Neurolog, Centralblatt. IX. 7. 1890.

* WiEDERSHEuc, Bcwegungserscheinungeu im Gehirn von Leptodora hyalina. Anatom. Anzeiger. V. 23. 1890.

^ Retzius, Gustav. Zur Kenntnis des Nervensystems der Crustaceen. Mit U Tafeln. Leipzig 1890. F. C. W. Vogel.

408 Litteraturbericht

es wird über gleiche üntersuchimgen berichtet , welche sich auf das periphere und centrale Nervensystem einiger Würmer, sowie eines Cyklo- stomen erstrecken. Die Arbeit ist nicht nur durch den Reichtum von Fakten, die sie neu bringt, wichtig, sondern auch dadurch, dais ihre Er- gebnisse an lebendem Material gewonnen sind.

His/ der in der anatomischen Sektion des internationalen medi- zinischen Kongresses ein zusammenfassendes Beferat über Histogenese und Zusammenhang der Nervenelemente erstattet hat, berichtet darin über entwickelungsgeschichtliche Untersuchungen, deren im vorigen Be- richt bereits gedacht ist. Er ist aber vielfach weiter gekommen. Die jungen Ganglienzellen sind beweglich und wandern, ja sie wandern in die Peripherie, und aus solchen ausgewanderten Zellen bilden sich er- heblich später als die spinalen die sympathischen Ganglien. In allen Sinnesorganen lassen sich die Epithelzellen von Keimzellen scheiden, gerade wie im Gehirn. In betreff des Zusammenhangs der Nervenelemente steht Hi8 auch auf dem Standpunkt, dafs in der grauen Substanz keine Nervennetze vorkommen, dafs die Zellen und ihre Ausläufer nie ana- stomosieren. Aus entwickelungsgeschichtlichen Gründen kann man die Nervenkeme unterscheiden in Ursprungskerne, Kerne, aus deren Zellen Fasern hinauswachsen, motorischer Typus, und in Endkeme, Kerne, um deren Zellen sich eine von der Peripherie kommende Faser au£Eweigt, sensibler Typus. In gleicher Weise haben sich schon früher His selbst, Beferent und neuerdings auch Kölliker ausgesprochen.

Endlich ist es auch gelungen, eine Färbemethode zu finden, welche nur das Stützgewebe zwischen den Nervenfasern färbt, während alles Übrige Nervengew^ebe fast imgefärbt bleibt. Wir erfahren durch Wkioiet,' dem wir diese Methode verdanken, zum ersten Male Sicheres über die Ausbreitung der Neuroglia. DieNeuroglia besteht aus einem auiserordentlich feinen Faserwerk, die Zellen liegen diesen Fasern nur an, ganz ebenso wie die Bindegewebezellen den Bindegewebefasem. In die peripheren Nerven setzt sich die Glia nur eine ganz kurze Strecke weit fort. Di® neue Färbung hat einen ganz überraschenden Beichtum von Stützgewebe- fasem kennen gelehrt, welche trotz aller anscheinenden Unregelmäfsig- keiten für jede Stelle des Centralnervensystems einen entsprechenden, immer feststehenden Typus aufweisen. Alle Oberflächen sind mit einem dichten Netz von Gliafasern überzogen, sehr reich ist auch die graue Substanz, ebenso die Olive und die Kerne der Oblongata, am ärmsten im Bückenmark ist die Substantia gelatinosa Bolandi. Die Verteilung der Glia in der Kleinhirnrinde läfst es als wahrscheinlich erscheinen, dals wir da vieles bisher als Nervenfasern aufgefafst haben, das zum Stütz- gewebe gehört.

Eine ganze Anzahl neuerer Arbeiten beschäftigt sich mit der Anatomie des Vorderhirns. Turner' hat eine ausgezeichnete Übersicht über

* His, W. Histogenese und Zusammenhang der Nervenelemente. Arch. für Änat. u. FhysioL (anat. Abt.). Suppl.-Bd. 1890.

* Weigert, Carl. Bemerkungen über das Neurogliagerüst des mensch- lichen Centralnervensystems. Anat. Anzeiger. V. 19. 1890.

* TüRNKR, W. The convolutions of de brain. A study in comparative anatomy. Journ. of Anat. and Fhysiol N. S. V. 1. p. ICfe. Okt. 1890.

Litteraturbericht. 409

das gegeben, was wir von der vergleichenden Anatomie der Windungen wissen. Dann sind Arbeiten von Schnopphaoen/ Flesch,* Ziehen,' CuNNiNOHAM* Und anderen über die Entstehung der Windungen und tlber einzelne Furchen erschienen. Babl-Eückhard ^ hat im Edentatengehirn ein neues Bündel in der vorderen Kommissur entdeckt, das auch bei den übrigen Wirbeltieren wahrscheinlich vorhanden ist. Jeloersma^ und Blumenau® beschreiben die Entwickelung des Balkens und den Einflufs, den diese auf die Gestaltimg der Windungen ausübt. Honeooeb" ver- dankt man eine ausführliche vergleichende anatomische Studie über den Fornix und die zu ihm in Beziehung gebrachten Gebilde im Gehirn des Menschen and der Säugetiere.

Sehr wichtig sind die neuen Arbeiten über den Ursprung und den Bau des Biechapparats. Kölliker^^ hat wie His (siehe vorigen Bericht) nachweisen können, dafs die Eiechnerven nicht aus dem Gehirn heraus, sondern umgekehrt von dem Epithel der Riechplatte in den Bulbus olfac- torius hineinwachsen. Bamon y Cajal^' hat in Übereinstimmung damit die interessante Thatsache gefunden, dafs die Ausläufer der Biechepithelien in der Nasenschleimhaut sich als Fila olfactoria durch die Siebplatte be- geben, und dafs sich jede Faser im Bulbus olfactorius zu einem feinen Astwerk aufzweigt. In dieses Astwerk taucht ein zweites, viel dickeres ein; es stammt aus den langen Protoplasmafortsätzen von Zellen des

* ScHNOPFHAOEN, F. Die Entstehung der Windungen des Grofshims, Wien 1890. Franz Deuticke. 122 S. Mit 18 Abbildungen.

* Flesch. Max. Die Bedeutung der sekundären Furchen für die Er- kenntnis der Ursachen der Himfurchung. Anat. Am. V. 16. 17. 1890.

* Ziehen, Th. Zur vergleichenden Anatomie der Hirnwindungen mit spezieller Berücksichtigung der Gehirne von Ursus maritimus und Trichechus rosmarus. Anat. Anz. V. 24. 1890.

* CuNRiNGHAM. The complete fissures of the human cerebrum and their significance in connection with the growth of the hemisphere and the appearance of the occipital lobe. Joum. of Anat, and Physiol. XXIV. p. 320. 1890.

^ CuKNiNOHAM. Thc fissurc of Bolando. Joum, of Anat. and PhysioL XXV. p. 1. Okt. 1890.

* CuKNiNGHAM. An adress on cerebral anatomy. Med. Press. No. 2675. p. 131. 1890.

^ Eabl-Eückhard, H. Einiges über das Gehirn der Edentata. Mit 1 Tafel. Arch. für miJcrosk. Anat. XXXV. 2. p. 165. 1890.

* Jblgbrsma. G. Het ontbreken van het corpus callosum in de her- senen, eene bijarage tot de theorie van de vorming der windingen. Psych. Bl. Vni. p. 32. Dordrecht. Neurolog. Centr.-BL fiC. 11. 1890.

' Blumenau, L. Zur Entwickelung des Balkens. Abhandl. der physiolog. Ges. in Berlin. XVm. Sitzimg am 18 Juli 1890. Arch. für Anat. und Physiol. (physiol Abt.). 5 u. 6. p. 586. 1890.

*• HoNEOGER, Jacob. Vergleichend anatomische Untersuchungen über den Fornix und die zu ihm in Beziehung gebrachten Gebilde im Gehirn des Menschen und der Säugetiere. Becueil de Zoolog. Suisse. V. 2. p. 201. 1890 und separat.

** KöLLiKER, A. Über die erste Efitwickelung der Nervi olfactorii, Würz- burg 1890. Stahel. 8. 6 S.

*• Eamok t Cajal. Origen y terminacion de las fibras nerviosas ol- factorias. Con 6 granados. Gaceta Sanitaria Municipial de 10 de Biciembre de 1890.

410 Litteraturhericht

Biechlappens. Der Axencylinder dieser Zellen zieht weiter himwftrts. In der Vereinigung der beiden Aufzweigungen, die ein kugelförmiges Körperchen, Glomerulus olfactorius, darstellt, Ist ein schönes Paradigma dafür gegeben, dafs im Centralnervensystem die Verbindung zwischen zwei Zellen dadurch hergestellt wird, dafs der Axencylinder der einen (hier Biechzelle) sich um die Proto- plasmaausläufer einer anderen aufzweigt.

Eine Arbeit von P. Bamon y Caj al ^ beschäftigt sich mit dem feineren Bau der Hirnrinde. Es handelt sich um eine vorläufige Mittheilung; über die Hauptarbeit soll im nächsten Jahr berichtet werden.

Sehr viele Förderung haben unsere Kenntnisse vom Bau des Seh- nervenursprungs xmd des Mittelhirns überhaupt erfahren. Ein grofses, reich mit Tafeln ausgeschmücktes Werk von HsKSCHsir* giebt in musterhafter Weise und mit nachahmungswerter Genauigkeit die Kranken- geschichten und namentlich die anatomischen Befimde bei einer Anzahl von Erkrankungen des Gehirnes wieder. Die genauen Schilderangen sekundärer Degenerationen, besonders im Bereich der optischen Bahnen und Centren, geben dem klinisch wichtigen Werke auch fOr die Anatomie eine Bedeutimg. Interessant ist, dafs auch diese neue gründliche Nach- untersuchung im wesentlichen xms die gleichen Verhältnisse kennen lehrt, welche wir bisher als richtig, allerdings auf Grund geringeren Materials, angenommen haben : Endigimg des Tractus opticus wesentlich im Corpus genic. lateral., im Pulvinar xmd zum TeU vielleicht im vorderen Hügel; distinkte Bündel aus dem Hinterhauptlappen ziehen zu jedem einzelnen dieser Ganglien. (Sehstrahlung).

Die Untersuchungen P. Bamon t Cajals,' welche sich auf Vertreter aller Wirbeltierklassen erstrecken, haben nun gezeigt, dafs viele Seh- nervenfasem frei durch Verzweigungen in den optischen Centren endigen. Sie stammen wahrscheinlich aus Zellen der Betina. Da, wo sie endigen, liegen andere Ganglienzellen. So empfängt die von Monakow (siehe vorigen Bericht) aufgestellte Hypothese, dafs der Sehnerv aus Fasern bestehe, die in Hirncentren entspringen und zur Betina ziehen, und aus solchen, welche im Auge ihren Ursprung haben; um in den Centren zu endigen, eine Stütze durch rein histo- logische Forschungen. Es ist uns auch neuerdings aus der Entwickelungs- geschichte eine Angabe gekommen, welche mindestens einen Teil der MoNAKowschen Ansicht gut stützt. Nach neueren Untersuchungen von His * entstammen nämlich die zuerst gebildeten Optikusfasem den Neuro- blasten der Retinazellen und wachsen centralwärts.

* Bamon y Cajal. Textura de las circonvoluciones cerebrales de los mamiferos inferiores. Con 2 granados en el texto. Gaceta Med. CatalaM del 15 de Diciembre de 1890.

' Hensohen, Salomon Eberhard. Klinische und anatomische Beiträge zur Fatlwlogie des Gehirns. Bd. I. Upsala. 1890. Almquist u. Wiksells. 215 S. mit 36 Tafeln und 3 Karten.

' Bamon t Cajal, P. Terminacion de nervo optico en los cuerpos geniculados y tuberculis cuadrigeminos. Gac. San, Municwal, Sept. iSSO.

* His. W. Histogenese und Zusammenhang der Nervenelemente. Arch. für Anat. u, Fhysiol, {anat. Abi.) Suppl.-Bd. 1890.

Litteraturbericht 411

In einer vorläufigen Mitteilung über vergleichend anatomische Studien zur Kenntnis des Mittelhims teilt der Beferent ^ mit, dafs alle Wirbeltiere eine Commissura posterior besitzen. Die Kommissur gehört zu den Pasersystemen, welche nicht nur überall markhaltig sind, sondern auch sich früher als die anderen nut Mark umgeben. Das sind wahrscheinlich die ältesten Fasersysteme des Vertebratengehims. Im Mittelhirn aller Wirbeltiere entspringen immer zwei Fasersysteme, dorsal der Sehnerv und ventral die Fasern der Schleife oder des tiefen Marks. Bei allen Wirbel- tieren ist das tiefe Mark eines der ersten Fasersysteme, welches über- haupt markhaltig wird. Es setzt sich teils gekreuzt, teils ungekreuzt in die Oblongata fort. Mehrere Ganglien des Mittelhims werden in der Arbeit beschrieben. Zu ähnlichen Besultaten wie Beferent ist Held' für die Fasersysteme des tiefen Markes gekommen, als er sie entwickelungs- geschichtlich untersuchte. Auch Held fand eine gekreuzte und eine un- gekreuzte Fortsetzung kaudalwärts. Wichtige Besultate über die Fasenmg im Mittelhirn hat wieder die Verfolgung von Degenerationen ergeben. So konnte Monakow ' den Zusammenhang von Fasern aus dem Schläfenlappen mit dem Corpus geniculatum internum, Zacher^ die Abkunft der einzelnen im Fufse vertretenen Fasersysteme aus verschiedenen Gebieten des Vorder- hims ermitteln.

Nach langer Pause ist auch endlich wieder eine Anzahl Arbeiten erschienen, welche sich mit dem Kleinhirn befassen. In seiner Faserung ist noch viel zu klären. Aber die Kenntnis vom Aufbau der Binde hat infolge neuerer Untersuchungen von Kölliker* imd S. Bahon y Cajal* * viele Förderung erfahren. Wir wissen jetzt, dafs die PuRKiNJEschen Zellen einen Fortsatz peripherwärts schicken, aus dem sich einzelne Kollateralen abzweigen, wir wissen, dafs Fasern in das Kleinhirn eintreten, welche sich um die Protoplasmaausläufer jener Zellen aufsplittern, sie umfassen, wir haben erfahren, dafs in der Molekularschicht des Kleinhirns vielgestaltete Zellen liegen, aus deren Axency linder Fasern entspringen, die im Büschel

^ Edinger, L. Über einige Fasersysteme des Mittelhims. Arch. für Psychiatrie XXH. 1890. Vgl. Neurolog, Centr.-Bl IX. 13.

' Held, H. Der Ursprimg des tiefen Markes der Vierhügelregion. Neurolog, Centr.-Bl IX. 16. 1890.

* V. Monakow. Über früh erworbene Gehimdefekte. Corr.-Bl für Schweizer Ärzte XX. 7. p. 211. 1890.

* Zacher. Über die Fasersysteme des Pes pedunculi, sowie über die kortikalen Beziehungen des Corpus genicul. intern. Arch. für Pfiychiairie XXII. 3. p. 654. 1891.

* KöLUKER, A. VON. Zur feineren Anatomie des centralen Nerven- systems. 1. Beitrag. Das Kleinhirn. Mit 4 Tafeln. Zeitschr. für toissensch. Zool. XLIX. 4. p. 663. 1890.

* Bahon y Cajal, S. A propos de certains el6ments bipölairs du cervelet avec quelques details nouveaux sur Tevolution des nbres c6r6- belleuses. Intern. Mon.-Schr. für Anat. u, Physiol, VII. 11. 1890.

^ Derselbe. Sobre ciertos elementos bipolares del cerebelo joven. etc. Extr. d. l. Gac. Sanitaria (10. Febr. 1890). Barcelona 1890. 20 pp.

* Derselbe. Sur les fibres nerveuses da la couche granuleuse du cervelet et sur Tevolution des 616mentes c6r6belleux. Avec 1 planche. Intern. Mon.'Sch. für Anat. VII. 1. p. 12. 1890.

412 LitteriUurberichL

die PuRKiNJEschen Zellen umgeben. Solche Zellen sind wohl geeignet, die Verbindung zweier Zellen untereinander zu vermitteln, während die umschlingenden Fasern, welche vorher genannt wurden, die Yerbindong der PüRKiNJ Eschen Zelle mit einer irgendwo anders als in der Kleinhim- rinde liegenden Zelle vermitteln. Dazu käme noch der Axencylinder aus der Zelle selbst, welcher nach der Peripherie hinzieht. Was wir früher Körnerschicht des Kleinhirns genannt haben, ist zusammengesetzt aus sehr verschiedenartigen Gebilden. Aus der Mehrzahl erheben sich die Axencylinder in der Molekularschicht, wo sie sich teilen. Die Proto- plasmaausläufer sind spärlich. Bei einigen verzweigt sich der Axen- cylinder zu einem unendlich feinen Flechtwerk. Es muTs aber gerade fUrJ die Kleinhimrinde auf den Bericht selbst eindringlich verwiesen werden. Anastomosen unter zwei Zellen kommen aach dort nicht vor.

Auch über die Oblongata, namentlich über ihre Entwickelung und über die Ursprünge einzelner Hirnnerven, liegt Wichtiges vor. Speziell haben wir von His ^ eine Arbeit empfangen, welche sich mit der Entwickelung des Bautenhirns beschäftigt. Der Schlüssel zum Verständnis seiner Entwickelung liegt in dem Prinzip enthalten, dals die Nervenzellen und die Nervenbündel von bestimmten Ausgangspunkten und Seiten sich ausbreiten. Die zuerst vorhandenen Komplexe werden von später kommenden überlagert oder durchwachsen. Die innersten Gebilde sind also die, welche in der Oblongata zuerst vorhanden waren. Viele Teile des verlängerten Markes empfangen durch die Hissche Arbeit interessante Beleuchtung.

Eine Anzahl Untersuchungen beschäftigen sich wieder mit den Hira- nervenkemen. Flechsig' imd Bagiksky* berichten über entwickelungi- geschichtliche resp. operative Untersuchungen über den Ursprung des Hörnerven. Mivgazzini^ hat den Abducenskem und den Hypoglossuskexn' neu untersucht, Schäffer* hat ebenfalls dem letzteren Kern an Kaninchen, bei denen der Nerv früh ausgerissen war, seine Studien gewidmet. Im allgemeinen bestätigen diese mit allen Mitteln der neueren Technik vor- genommenen Untersuchungen unsere älteren Anschauungen. Das gib auch von Untersuchungen von Koch,^ welche sich mit dem 9., 10. und

^ His, Wilhelm. Die Entwickelung des menschlichen Bautenhina vom Ende des 1. bis zum Beginn des 3. Monats. I. Verlängertes UmA XVII. Bd. der Abhandlungen der tnathemat.-phys. Klasse d. k. sächs, Ges. i Wiss. No. Imit 4 Taf. u. 18 Holzschnitten. Leipzig 1890. S. Hirzel. 74 a

* Flechsig, Paul. Weitere Mitteilungen über die Beziehungen dei unteren Vierhtigels zum Hörnerven. Neurolog. Centr.-BL IX. 4. 1890.

* Baginsky, Benno. Über den Ursprung und den centralen Verlauf des N. acusticus des Kaninchens und der Katze. Virchows Ärch, CXH. 1. p. 81. 1890.

* MiNGAZziNi, G. Intorno all' origine reale del nervus abducensed ai suoi rapporti con il nervo facialis nell' uomo. Gaz. med, di Borna XVL p. 49. 1890.

* Derselbe, Intorno alle origini del N. hypoglossus. Ann. di JFVw. n. 4. 1890.

* ScHÄFFEE, Otto. Über die ürsprungsverMltnisse des Nervus hypo^ßßSSXL Inaug.-Diss. Erlangen. 1889. 8. 18 S.

^ Koch, P. D. Nogle Bemärkninger om Udspringet af 9, 10, og 11 Hyärnenerve. Nord. med. ark. XXII. 11. 1889.

Litteraturbericht 41 3

11. Gehinmerven beschäftigen, nur ist auffallend, dafs Koch den vorderen Vaguskem nicht als zum Nerv gehörig anerkennen will. Den Glossopha- ryngeus leitet er fast ganz aus dem solitären Bündel ab. Schlielslich sei noch auf zwei Arbeiten hingewiesen, welche sich mit den langen Bahnen beschäftigen. Bechterew* * schildert die Ungleichheiten, welche bei verschiedenen Kindern in der Ausdehnung und Lage der Pyramiden- bahnen vorkommen, und die gleichen Verhältnisse bei verschiedenen Tieren. Er schliefst sich Spitzka an, welcher glaubt, dafs die Entwickelung der Pyramidenbahnen mehr oder weniger abhängig sei von der Aus- bildung der Extremitäten für feinere Bewegungen. Flechsig * ist an einem porencephalischen Defekt der Nachweis gelimgen, dafs die Fasern der Rindenschleife ohne Unterbrechung aus dem Vorderhim bis zu den Kernen des gekreuzten Hinterstranges gelangen. Flechsig vermutet aber, dafs in diesen Kernen auch Fasern entspringen, welche aufsteigend, also him- w&rts entarten. Nach des Beferenten Ansicht endigt dieser Anteil der Schleife in den Vierhügeln. Dafür sprechen entwickelungsgeschichtliche Erfahrungen imd Besultate neuerer Experimente.

Noch in keinem Berichtsjahre haben wir über das Hückenmark so viel Neues und Wichtiges erfahren, wie in dem jetzigen. Die Golgi- OAJALsche Methode, die auf die WEiGERTSche Färbung gegründete, von Gaule exakt durchgebildete Faserzählung, die Verbesserung des Degene- rationsverfahrens durch Marchi, sie alle haben glänzende Besultate er- geben. Über die wichtigen Arbeiten von Bahok y OajalV und von KöLLiKER^ •, die erst im Berichtsjahre erschienen sind, ist schon vor einem Jahre an dieser Stelle referiert worden. Die Anschauungen, zu welchen diese Autoren gekommen sind, bereiten vielfach eine Umwälzung vor. Das Wichtigste ist der Nachweis von Kollateralen, welche von den

^ Bechterew, W. Über die relative Ausbildung und verschiedene Lage der Pyramidenstränge beim Menschen und bei den Tieren und über das Vorhandensein in diesen Strängen von Fasern, die sich durch ihre frühere Entwickelung auszeichnen. Med. Aboar, Moskwa 1890. No. 13 14. (Russisch.)

' Derselbe. Über die verschiedenen Lagen und Dimensionen der Pyramidenbahnen beim Menschen und den üeren und das Vorkommen von Fasern in denselben, welche sich durch eine frühere Entwickelung auszeichnen. Neurolog. Cenir.-Bl IX. 24. 1890.

' Flechbio, P., und 0. Hösbl. Die Centralwindungen ein Central- organ der Hinter stränge. Neurohg, Centr,-Bl IX. 14. 18w.

^ Bahon y Cajal, S. Sohre la existencia de terminacionea nerviosas peri- eduksres en los gcmglios nerviosas raquidianos, Sonderabdr. ohne Angabe des Druckortes, datiert 20. Dez. 1890.

' Derselbe. Nuevas observaciones sobre la estructura de la m6dula espinal de los mamiferos. Trabt^os del LaborcUorio Änatomico de la Faeultad de Mededna. April 1890.

* KöLLiKJKR, A. V. Über den feineren Bau des Rückenmarks. (Vor- l&ufige Mitteilung.) Sitz.-Ber, d. Würzh, phys.-med, Ges, März 8. 1890.

' Derselbe. Über den feineren Bau des Rückenmarks menschlicher Embrvonen. Sitz.-Ber, d. phys.-med. Ges. Juli 12. 1890.

' Derselbe. Zur feineren Anatomie des centralen Nervensystems. S. Beitrag. Das Rückenmark. Mit Tafeln I— VI. Zeitachr. f. toissensch, Zod. LI. p. 1.

Zeitsehrifl für Psychologie m. 27

414 Litteraturberichi.

Fasern aller Stränge abgehen und in die graue Substanz eintreten, der Nachweis, dafs alle Hinterwurzelfasem sich teilen, zum Teil in den Hintersträngen aufsteigen, zum Teil in die graue Substanz eintreten, wo sie um dort liegende Zellen herum sich aufsplittern, sowie endlich der Nachweis von sogenannten Strangzellen, deren Axencylinder in die weilse Substanz eintritt, wo er sich in einen auf- und einen abwftrtsgehenden Ast teilt. Durch diese Zellen ist die Möglichkeit gegeben, dais yerschie- dene Höhen der grauen Substanz funktionell untereinander yerbunden werden. Die Zusammensetztmg der Kommissuren und der grauen Substanz, der Ursprung und Verlauf der Wurzelfasem, all das ist durch die genannten Autoren gefördert worden. Die Kollateralen der Stränge sind übrigens schon von Goloi^ entdeckt worden. Singer imd Münzeb' haben Durch- schneidungen einzelner Stränge und Wurzeln vorgenonmien und schlieisen aus den eintretenden Degenerationen, dafs die Hinterstränge sich wesent* lieh aus eintretenden Wurzelfasern aufbauen, dafs ein Teil der Hinter- wurzeln in die VorderhÖmer zieht, und dafs ein anderer in die graue Substanz eintritt. Ein Teil der in den Hintersträngen aufsteigenden Fasern endigt in den Hinterstrangkernen der Oblongata.

Gaule' hat aufserordentlich sorgfältige Zählungen der Nervenfasern im Froschrückenmark vorgenommen. Nach seiner Ansicht dürfen wir immer erwarten, dafs in dem Organismus einer bestimmten Anzahl Ganglienzellen durch feste Gesetze bestimmte Zahlen der Nerven, der Muskelfasern, der Blutzellen u. s. w. gegenüberstehen. Dieses für die Gattimg und Art charakteristische Verhältnis beruht auf der Natur der im Keim erhaltenen Stoffe. Gaule hat nun eine Anzahl Sätze aus seinen Zahlen deduzieren können, welche für das Verhältnis von Ganglienzelle zur Nervenfaser gelten z. B. den Satz, dafs zu den langen Bahnen das centrale Ende jeder Wurzelfaser je eine gleichseitige und eine ge- kreuzte Verbindung abordnet; den Satz, dafs jede Faser der weifsen Substanz dem centralen Ende einer Wurzelfaser irgendwie funktionell zugeordnet ist, und andere. Wie viel Wurzelfasem in einer Wurzel vo^ banden sind, war ihm bekannt. Wenn er nun unter Zugrundelegung dieser Zahl auf Grund seiner Sätze die Zahl der Fasern auf dem Quer- schnitt der betreffenden Höhe berechnete, so erhielt er Zahlen, welche von denen wirklich gezählter Querschnitte nur wenig abwichen. Hierin liegt ein Beweis für die Wichtigkeit und Eichtigkeit der von Gaule ein- geschlagenen Methode. Die Hypothese wird durch die Zählung so genaa bestätigt, dafs Gavle nicht mehr zweifelt, hier das Gesetz gefunden zu haben, welches die Zahlenbeziehungen zwischen den Fasern der peripheren

* GoLOi, Camillo. Über den feineren Bau des Rückenmarkes. Anatm' Anzeiger V. 13 und 14. 1890.

^ Singer und Münzer. Beitrag zur Anatomie des Centralnerven- systems, insbesondere des Rückenmarkes. Abh. d, mathem.'tiatuno. KL d. k. k. Akademie d. Wi^s. Wien 1890. Mit 3 Taf.

^ Gaule, J. Zahl und Verteilung der markhaltigen Fasern im Frosch- rückenmark. Mit 9 Taf. Abh. d. mathem.'phys. Klasse d. kgl. aächs. Ges. ä. Wiss. XV. 9. p. 739. 1889. Auch einzeln : Leipzig 1889. Hirzel. KL i'- 44. S. mit 10 Tafeln.

Litteraturhericht. 415

Nerven and denen des Bückenmarkes reguliert. Beferent^ hat seine im vorigen Bericht erwähnten Arbeiten über den Verlauf der Gefühlsfasern nochmals zusammenhängend dargestellt. Flechsig' hat entwickelungs- geschichtliche Studien über die Zusammensetzung der Hinterstränge ver- öffentlicht. Auch er hat gefunden, dafs einige Hinterwurzelfasem direkt in das Vorderhom hineinziehen. Diese wichtige Thatsache, welche uns möglicherweise den Beflexbogen kennen lehrt, ist eben im Berichtsjahre von vier verschiedenen Forschem unabhängig voneinander gefunden w^orden.

Schliefslich sind noch Arbeiten von AübrbachM über aufsteigende Entartung nach Bückenmarksdurchschneidung kurz zu erwähnen.

£s soll noch am Schlufs dieses Berichtes auf einen Aufsatz von Waldeyeb^ hingewiesen werden, welcher allerdings nach dem Berichtsjahr erschienen ist. Es ist derselbe aber besonders denjenigen zu empfehlen, welche sich orientieren wollen über den augenblicklichen Stand unserer Kenntnisse vom feineren Zusammenhang der Teile im Centralnerven- System, so wie er sich durch die oben citierten Arbeiten gestaltet.

E. JoüRDAK. Die Sinne und Sinnesorgane der niederen Tiere. Aus dem

Französischen übersetzt von W. Marshall. Leipzig, 1891. J. J.

Weber. Vm und 330 S. mit 48 Textillustrationen. Das vorliegende Werkchen bildet den dritten Band von „Webers fuUurwissenschaftlicher Bibliothek^, von der nach der Ankündigung des Verlegers jeder einzelne Band ein in sich geschlossenes Gebiet in klarer, leicht fafslicher Form, aber doch unter Wahrimg des wissenschaftlichen Standpunktes behandeln soll. Es ist dieses Ziel von dem Verfasser im wesentlichen hier erreicht worden, doch glauben wir, dafs eine Ver- mehrung der Abbildungen noch ungemein viel zur Verständlichkeit des Gebotenen beigetragen hätte. Man darf eben nie vergessen, dafs die Kenntnis über den feineren Bau der wirbellosen Tiere (diese versteht der Verfasser unter den niederen Tieren) auch in denjenigen Kreisen sehr wenig verbreitet ist, welche sich für die Lehre von den Sinnesempfin- dungen, besonders wenn sie so vortrefflich und klar vorgetragen wird, wie es hier der Fall ist, lebhaft interessieren.

Das Buch zerfallt in 7 Hauptstücke, von denen die beiden ersten allgemeinen Betrachtungen gewidmet sind, während die übrigen sich mit je einem Sinne beschäftigen. In jedem dieser letzten fünf Hauptstücke

^ Edinger, L. Einiges vom Verlauf der Gefählsbahnen im centralen Nervensystem. Deutsche med, Wochenschr, XVI. 20. 1890.

' Flechsig, P. Ist die Tabes dorsalis eine Systemerkrankung? Neurolog, Centr.-Bl. IX. 2. 3. 1890.

* Auerbach, L. Zur Anatomie der aufsteigend degenerierenden Systeme des Bückenmarks. Anatom, Anzeiger, V. 7. 1890.

* Derselbe. Zur Anatomie der Vorderseitenstrangreste. Virchows Arch, CXXI. 2. p. 199. 1890.

* Waldbyer, W. Über einige neuere Forschimgen im Gebiete der Anatomie des Centralnervensystems. Leipzig, G. Thieme. Sep,'Ahdr. a, d, D, med, Wochenschrift 1891. No. 44 ff.

27*

416 Litteraturbericht

wird zunächst ein kurzer Überblick über die betreffenden Verhältnisse bei den Wirbeltieren gegeben, und dann werden die niederen Tiere in mehr oder minder eingehender Weise besprochen. Wenn sich hierbei viele Lücken ergeben, so liegt dieses meistens an dem zeitigen Stande unserer Kenntnisse ; so hat man z. B. die Mollusken ja ungemein bei der Einzelforschimg vernachlässigt. Ein reiches G-ebiet liegt hier beinahe noch unbetreten vor ims.

Besonders mag hervorgehoben sein, dafs der Verfasser überall, wo es angängig, höhere, den Rahmen der Anatomie und Physiologie über- schreitende Betrachtungen einflicht. Er weist eindringlich daraufhin, dals wir über die wirkliche Beschaffenheit der Empfindungen bei niederen Tieren kein endgültiges urteil fällen dürfen, und dafs wir berechtigte Veranlassungen haben, bei ihnen auch solche Empfindungen anzunehmen, zu denen bei uns keine Analogien vorhanden sind.

Arthur Köirio.

Gbrhard Krüss und Hugo Krüss. Kolorimetrie und quantitatlTe Spek- tralanalyse. Hamburg und Leipzig, 1891. Leopold Voss. VIII and 291 S. Mit 34 Textabbildungen und 6 Tafehi. Von dem ungemein reichhaltigen Inhalte des Buches, welches sich durch eine klare Darstellung auszeichnet, haben wir hier in erster Linie den auf die Spektralphotometrie bezüglichen Abschnitt zu erwähnen. Die von ViBRORDT, Glan, Hüfker, Glazebrook, Oroya, Wild und den Verfassern konstruierten Apparate sind ausführlich beschrieben, durch Abbildungen zur Anschauung gebracht imd in ihrer Anwendung besprochen. £s wäre sehr wünschenswert, dafs dieser Abschnitt in derselben Art der Aus- führung später zu einem vollständigen kurzen Handbuch der Spektral- photometrie erweitert würde. Wir wollen aber den Verfassern schon dank- bar sein für das, was sie bringen; ist es doch die einzige auch nur annähernd umfassende Darstellung dieses Gebietes. Wer sich jetzt mit irgend welchen Untersuchungen beschäftigen will, in denen er Messungen von spektralen Lichtern vorzunehmen hat, darf das Studium des vor- liegenden Buches nicht unterlassen. In dem Anhange sind beachtens- werte Untersuchimgen über den Lichtverlust durch Beflexion und Ab- sorption, sowie über den EinfluXs der Temperatur auf spektrometrische Beobachtungen mitgeteilt.

Der gröfste Teil des Buches beschäftigt sich mit Dingen, die das Gebiet unserer Zeitschrift nicht berühren, die aber durchweg in muster- gültiger Weise behandelt sind. Arthur König.

£. Jatal. Mömoires d'ophthalmomötrie annot^s et pröcödös d'une intro-

duction. Paris, 1890. G. Massen. XL VIII et 628 pages; avec 135

figures dans le texte.

Die vielfache Einführung, welche das Ophthalmometer von Jatal

und ScHiÖTz in die augenärztliche Praxis gefunden hat, läüist den Mangel

einer ausführlichen Anleitung zur Benutzung dieses Instrumentes, sowie

einer vollständigen Darstellung der Theorie desselben unangenehm

Litteraturbericht 417

empfinden. J. hat diesem Übelstande, da er augenblicklich zu sehr mit anderen Untersuchungen beschäftigt ist, durch den Abdruck von 44 Abhandlungen (darunter 10 von J. selbst), die sich mit dem Instrumente und den vermittelst desselben erlangten Beobachtungsergebnissen beschäf- tigten, vorläufig bereits einigermafsen abgeholfen. Da sämtliche Abhand- lungen (französische, deutsche, englische und italienische) unverkürzt aufgenommen sind, so ist natürlich das Wichtigste in dem Buche in oftmaliger Wiederholung enthalten, was bei der Lektüre desselben einen etwas ermüdenden Eindruck macht; aber man braucht solche Werke ja nicht in einem Zuge zu lesen. Wer Belehrtmg über das Instrument sucht, wird hier alles finden, was er bedarf.

Um dem Ganzen aber doch einen äufseren Zusammenhang zu geben und das Buch auch zur Einführung in das Studium der Ophthalmometrie geeignet zu machen, hat Javal demselben eine, wenigstens alle wichtigen Punkte enthaltende Einleitung vorangeschickt, die in weiterer Ausführung sich später wohl zu dem gewünschten, den Inhalt aller dieser Abhand* lungen enthaltenden selbständigen Werke entwickeln wird.

Die 45. Abhandlung ist von Tschebnino für das vorliegende Buch eigens verfafst und enthält eine mathematische Theorie der Ophthal- mometrie der Cornea, sowie zugleich eine Darlegung der Gesichtspimkte, welche bei der Konstruktion des jAVALschen Ophthalmometers berück- sichtigt sind.

Den Schlufs bildet eine Geschichte imd Bibliographie der Ophthal- mometrie. Arthur König.

K. HooR. Gemeinfafsliche Darstellung der Befiraktions-Anomalien.

Wien. 1891. Alfred Holder. 86 S. mit 21 Holzschnitten. {Sammlung med. Schriften d. Wiener klin, Wochenschrift No. XXm— XXIV).

Was der Verfasser angestrebt hat, ist vollständig von ihm erreicht worden. Nicht nur der Militärarzt, für den das vortrefflich ausgestattete Werkchen in erster Linie bestimmt ist, sondern jeder praktische Arzt, der sich eingehender mit den Itefraktions-Anomalien befassen will, wird hier Belehrung finden. Die Darstellung ist knapp und doch überall leicht verständlich. In dem Abschnitt über die Skioskopie möchte der Referent für eine hoffentlich bald folgende zweite Auflage dem Verfasser eine eingehendere Besprechung des Strahlen ganges empfehlen.

Arthur König.

Schneller. Sehproben zur Bestimmimg der Befraktion, Sehschärfe und Accomodation. Danzig, A. W. Kafemann (ohne Jahreszahl), 24 S. Dem noch immer nicht völlig befriedigten Bedürfnis der Augenärzte nach einer allen Anforderungen entsprechenden Sammlung von Sehproben sucht der Verfasser durch dieses kleine Büchlein in Taschenbuchformat nachzukommen. Die Prinzipien, welche den Verfasser leiteten, sind im allgemeinen richtig; die Ausführung aber ist unbrauchbar: die kleinen Buchstaben, Zahlen und Haken erinnern in ihrer Unscharfe an den schlechtesten Zeitungsdruck, die gröfseren Haken entsprechen in ihren Dimensionsverhältnissen nicht der SxELLExschen Vorschrift.

Arthur König.

418 Litteraturbericht.

C. Dahlfeld. Bilder für stereoskopische Übungen sum Ghebranch Ar Schielende. 7 S. und 20 lithogr. Tafeln. Stuttgart 1891. F. Enke. Die Bilder stellen leicht aufzufassende Gegenstände im Format der Stereoskopbilder, aber ohne stereoskopische Parallaxe gezeichnet, vor. In beiden Halbbildern sind nur die vorherrschenden umrisse vertreten, um der Vereinigung einen Halt zu geben. Es fehlen aber in jedem Bilde kleinere, leicht zu beschreibende Einzelheiten, die in dem anderen Halb- bilde sich finden. Bei richtiger zweiäugiger Betrachtung kann kein Wettstreit entstehen, weil die entsprechenden Stellen im anderen Halb- bilde weifs gelassen sind. Der Bildabstand beträgt 60 mm. Verfasser empfiehlt, ein von ihm angegebenes Stereoskop zu benutzen, in dem der Abstand, während die Bilder betrachtet werden, verändert werden kann. Es ist leicht, mit Hülfe dieser Bilder, selbst bei Kindern und Un- gebildeten, zu ermitteln, ob z. B. nach Schieloperationen noch Exklusion eines Auges besteht oder nicht, und sie dürften auch recht brauchbar sein, um unter ärztlicher Anleitung die richtige Fusion zu üben und zu befestigen. Nach Ansicht des Referenten fehlen in der kleinen Sammlung einige wirklich stereoskopische Bilder von ähnlicher einfacher Ausfüh- rung, um bei Gebesserten die wiedergewonnene Tiefenanschauung er- kennen und üben zu können. (Vergl. Emil du Bois-Reymond : Über eine orthopädische Heilmethode des Schielens. Ärch- f. Anat u. Physiol, 1852. S. 541.) C. DU Bois-Rbtmokd.

R. Fischer. Gröfsensch&tznngen im Oesichtsfeld. Graefes Ärch. f. Ophth.

Bd. 37, Abtl. 1, S. 97—136. 1891. R. Fischer. Weitere Gröfsenschätzongen im Oesichtsfeld. Graefes

Ärch, f, Ophth. Bd. 37, Abtl. 3, S. 55—85. Verfasser giebt Beobachtungen heraus, die er schon vor einigen Jahren über Fehler des Augenmafses gemacht hat. Er stellte Schätzungen von Längengröfsen im zweiäugigen Blickfelde und im rechten Sehfelde an, auf einer 20 cm entfernten schwarzen Tafel, die der Frontalebene parallel stand. Die Längen waren Strecken der Arme eines rechtwinke- ligen, senkrecht stehenden Kreuzes und wurden durch bewegliche Zeiger- spitzen, von denen nur ein Punkt sichtbar war, abgeteilt. Die Mitte des Kreuzes wurde vor dem rechten Auge oder in der Medianebene in Augenhöhe an die Tafel gehalten. Die einzustellende Gröfse wurde durch Verschiebung einer Zeigerspitze bezeichnet, dann genau nach Zehntelmillimeter gemessen und dies immer viele Male wiederholt. Um den Einflufs der unmittelbaren Wiederholung auszuschliefsen, wurde umschichtig mit der Richtung des Kreuzarmes und auch mit der Ein- stellrichtung abgewechselt, so dafs erst die neunte Einstellungsaufgabe der ersten ganz gleich wurde. Aus den Einzelwerten (je 40, 80 oder 120) hat Verfasser dann den mittleren konstanten und mittleren variablen Fehler berechnet.

Die Versuche bestanden aus Vergleichungen und Halbierungen, d. h., es wurde der gegebenen Strecke eine zweite anstofsende oder getrennte, gleich oder anders gerichtete möglichst gleichgemacht, oder es wurde

Litteraturbericht 419

eine gegebene Strecke in zwei gleiche geteilt. Da8 Endergebnis des sehr umfangreichen Materials war folgendes: Nur Vergleichungen der wage- rechten Kreuzarme im Blickfelde beider Augen wurden nahezu richtig ausgeführt, alle anderen zeigten konstante, im Blickfelde und Sehfelde übereinstimmende Fehler. Es worden regelmäfsig zu grofs geschätzt der untere Arm gegen den oberen, der äufsere gegen den inneren, die senkrechten gegen die wagerechten, ein centrales Stück des Armes gegen ein peripherisches. Die Gröfse des variablen Fehlers erwies sich als dem psychophysischen Gesetz unterworfen. Zwei wagerechte oder senk- rechte Arme wurden etwa gleich sicher, ein wagerechter mit einem senkrechten aber um die Hälfte unsicherer verglichen. Stücke eines Armes, am richtigsten innen und unten, schlechter aufsen, am unrich- tigsten oben im Sehfelde. In der daran geknüpften theoretischen Deutung leitet Verfasser die Fehler aus einer scheinbaren Zusammenziehung des Sehfeldes ab, die von der Mitte zum Bande hin stetig, aber in verschie- denen Eichtungen ungleich schnell anwächst. Der Netzhautmafsstab bestünde in der Kenntnis der relativen Lage der Punkte eines Sehfeld- radius, und seine Fehler wären durch die Natur der Augenbewegungen erworben und durch das Gedächtnis aus dem Blickfelde ins Sehfeld übertragen.

Ebenfalls an der schwarzen Tafel führte Verfasser Schätzungen von Winkelgröfsen, und zwar mit Hülfe eines geteilten Kreises von 36 cm Durchmesser imd darüber gespannter Fäden, aus. Der Mittelpunkt und Scheitel der verglichenen Winkel war vor dem Auge oder vor der Mittel- linie in 18 cm Abstand angebracht. Die Aufgabe bestand im Halbieren gegebener Winkel, bei verschiedener Richtung des halbierenden Durch- messers. Zuerst wurden kleinere Winkel, dann aber besonders Winkel von 180^ halbiert, wobei jedoch die Aufmerksamkeit nur darauf gerichtet wurde, Gleichheit der Nebenwinkel herzustellen. Die Verteilung des konstanten Fehlers im Kreise konnte Verfasser auch hier aus der oben erwähnten scheinbaren Gesichtsfeldzusammenziehung sich erklären. Die mit beiden Augen oder im linken Gesichtsfelde angestellten Messungen zeigen eine Neigung, sich nach denen des rechten Auges zu richten, was Verfasser als eine durch vorwiegenden Gebrauch des rechten er- worbene Bevorzugung deutet. Was den variablen Fehler betrifft, so zeichneten sich die senkrechte und wagerechte Richtung bei Halbierungen von 180® durch grofse Bestimmtheit aus. Im Sehfeld war die Unsicher- heit weit gröfser als im Blickfelde. Es zeigten sich starke Abweichungen vom psychophysischen Gesetz.

Verfasser machte auch einige Versuche über die scheinbar geraden Linien in seinem rechten Sehfelde, indem er im indirekten Sehen einen Punkt in die geradlinige Verbindimg zweier gegebener Punkte zu bringen suchte. Der Punkt wurde im Mittel zu nah an den Fixierpunkt heran- geschoben, wie es nach der scheinbaren Sehfeldzusammenziehung zu er- warten war. C. DU Bois-Retmond.

420 Litteraturbericht

BouRDoy. Les rösnltats des th^ries contamporaines sur rassoeiatioii des iddes. Bevue philosaphique. Bd.* 31, 6 (Juni 1891) S. 561—610. Der Verfasser kritisiert zunäclist die Ansichten von James Mill, Spencer, Baik, Meryoyer, Wundt, M. Paulhan nnd William Jamks Über den vorliegenden Gegenstand. Er wirft ihnen vor, dafs sie immer nur von Assoziation von Vorstellungen sprechen, nicht aber von Assoziationen von Empfindungen, Wahrnehmungen und Objekten, dafs sie femer immer nur die Ähnlichkeit in Bezug auf die Zeit ins Auge fassen, nicht aber die Ähnlichkeit in Bezug auf den Baum. Auch sei in vorliegendem Falle die scharfe Unterscheidung von Vorstellung, Empfindung und Ob- jekt nicht zu billigen. Im Gegensatz zu den erwähnten Psychologen will BoüRDON Assoziationsgesetze aufstellen nicht nur für die Vorstellungen, sondern auch für die Empfindungen und Objekte. Er nennt sie Gesetze von der Gesellschaft der Erscheinungen (lois de la soci6t4 des ph6no m^nes), richtiger hätte er sie nennen sollen lois des soci^t^s des phSno- m^nes). Die Idee der Gesellschaft fällt bei ihm zusammen mit der Idee der Ähnlichkeit. Unter den verschiedenen Arten von Ähnlichkeiten, welche das Entstehen einer Gesellschaft von Erscheinungen zur Folge haben können, nennt er die Ähnlichkeiten in Bezug auf:

/ Intensität Vermuten

Quantität j Ausdehnung ; Qualität ; Affektivität | g^j^^^.^ » ( Dauer

Stellimg ) . p ) Zahl ; Anordnung.

Zwischen einzelnen Arten von Ähnlichkeiten bestehen Wechsel- wirkungen, nämlich :

1. Die Ähnlichkeit in Bezug auf die Intensität fällt im allgemeinen zusammen mit der Ähnlichkeit in Bezug auf Ausdehnung und Dauer. So z. B. besitzen gröfsere Buchstaben und lange Silben gröfsere Intensität als kleine Buchstaben und kurze Silben.

2. Ähnlichkeit in Bezug auf Intensität begleitet im allgemeinen Ähnlichkeit in Bezug auf Zeit und Kaum. So müssen z. B. zwei gleich intensive Töne auch zu gleicher Zeit existieren. Denn wenn der eine nur eine Minute später aufträte als der andere, würde ersterer schon der Vergangenheit anheimgefallen sein und, in der Erinnerung wieder- kehrend, nicht dieselbe Intensität besitzen wie letzterer. Auch werden zwei ausgedehnte Objekte nur, wenn sie dieselbe räumliche Stellung be- wahren, dem Beschauer mit derselben Intensität oder Klarheit erscheinen.

3. Ebenso giebt es auch eine ähnliche Beziehung zwischen der An- ordnung der Intensitäten einerseits und der zeitlichen und räumlichen Anordnung andererseits.

4. Ähnlichkeit in Bezug auf die Eigenschaft zieht in hohem Grade Ähnlichkeit in Bezug auf die Zeit nach sich. So z. B. kann man eine JReihe gleicher Buchstaben rascher übersehen als eine Reihe ungleicher.

5. Ebenso macht sich eine Beeinflussung der Ähnlicheit in Bezug auf die Qualität durch die Ähnlichkeit in Bezug auf die Zeit geltend. So z. B. identifizieren sich die Dinge und ihre Beziehungen. Gleichzeitig zusammenlebende Wesen streben danach, einander ähnlich zu werden.

Litieraturbericht, 421

Am letzten £nde ist eine vollständige Gleichzeitigkeit von Erscheinungen unvereinbar mit der qualitativen Differenz derselben.

6. Der Einflufs desselben räumlichen Mediums macht die Objekte und Wesen ähnlich an Qualität.

7. In noch höherem Grade zieht die Ähnlichkeit in Bezug auf die Qualität die räumliche Ähnlichkeit nach sich.

8. Wir streben danach, zu derselben Zeit Vorstellungen zu haben, welche ähnlich sind hinsichtlich ihrer Affektivität.

9. Es herrscht Ähnlichkeit zwischen Affektivität und Qualität.

10. Je gröfser die Zahl der Individuen von ähnlicher Qualität ist, um so gröfser ist die Intensität eines jeden von ihnen.

Die vorliegende Abhandlung ist als ein neuer Versuch zu begrüfsen, das Assoziationsproblem aus einem einheitlichen Grunde, nämlich von dem der Ähnlichkeit aus, zu erklären. Leider fehlt hin und wieder der nötige Kommentar zu den Behauptungen, z. B. in 5., 6., 7. Je paradoxer es auf den ersten Augenblick erscheint, dafs zwei durchaus verschiedene Objekte oder Ereignisse durch häufig sich wiederholendes zeitliches oder räumliches Beisammensein einander ähnlich werden sollen, um so er- wtlnschter wäre es gewesen, wenn der Verfasser den von menschlichen Verhältnissen her entlehnten Beispielen, welche ohne weiteres einleuchten, auch einige auf Objekte oder Ereignisse bezügliche zugleich mit der Er- klärung beigefügt hätte. Meiner Ansicht nach bewirkt jedes erneute gleichzeitige Denken an zwei oder mehrere einander nicht ähnliche Vor- stellungen oder Vorstellnngskomplexe, welche entweder durch die Aufsen- welt dem Geiste gleichzeitig nahe gelegt werden, oder in der Erinnerung sich zusammenfinden, dadurch eine gewisse Ähnlichkeit unter denselben, dafs die Zahl der direkt und indirekt hergestellten Beziehungen, sowie der möglichen und unmöglichen Beziehungs versuche bei jedem neuen Zusammentreffen sich vergröfsert, und die Beziehungspunkte selbst gegen das Netz von Beziehungen mehr und mehr zurücktreten. Die Schroffheit des Überganges von einem Beziehungspunkte zum andern wird dadurch wesentlich gemildert, die Umstimmung der psychischen Thätigkeit auf ein Unmerkliches herabgesezt. Auf diese Weise scheinen die beiden Phä- nomene ähnliche Qualitäten zu besitzen. In eigentümlicher Weise setzt sich dieses Streben, gegenseitige Ausgleiche zwischen Objekten und Wesen herbeizuführen, im Traumzustande fort, wo sogar sichtbare Über- tragungen von Eigenschaften, Merkmalen, Funktionen, Erlebnissen u. s. w. stattfinden. (Vergl. darüber mein Buch : ^y-^us den Tiefen des Traumkbens^\ Halle 1890, Kap. 8.)

Wenn Bgürdon behauptet, dafs durch häufiges zeitliches \md räum- liches Beisammensein sich eine gewisse Ähnlichkeit unter ursprünglich verschiedenen Phänomenen herausbildet, so folgt daraus, dafs anfangs diese Ähnlichkeit noch nicht existiert, dafs sich vielmehr ihr Auftreten je nach der Zahl der gleich beim ersten Zusammentreffen oder erst später geknüpften Beziehungen mehr oder weniger verzögert. Sie wirkt also in vielen Fällen ursprünglich nicht als Assoziationsprinzip.

Im übrigen ist die Theorie von der Ähnlichkeit als Assoziations- prinzip sehr wohl durchführbar. Insofern bezeichnet die Arbeit von

422 Litteraturbericht.

BouRDON einen bemerkenswerten Fortschritt auf dem Gebiete der Asso- ziation der Vorstellungen. M. Giessler (Erfurt).

J. Patot. Comment la Sensation devient idöe. Revue phüosapMque, Bd. 31, (6. Juni 1891) S. 611—633.

Das Problem wird zuerst im allgemeinen, sodann in spezieller Weise behandelt.

Die Empfindung ist zuerst affektiver Natur. Sie erfüllt das Bewulst- sein vollständig und nimmt die ganze Aufmerksamkeit für sich in An- spruch. Aber allmählich werden die Beaktionen, welche die häufigsten Empfindungen begleiten, in eins zusammengefafst , sie vollziehen sich rascher, so rasch, dafs sie einem einfachen Zustande gleichkommen. Die Erregungen geschehen von jetzt an plötzlich, so dafs das Bewufstsein keine Zeit findet zu erscheinen, es entsteht der Beflez. Zwischen beiden Extremen liegen solche Beaktionen, welche zu ihrer Entwickelung einige Zeit in Anspruch nehmen, so dafs sie bewufst werden, ohne jedoch das Bewufstsein ganz zu erfüllen. Diese Zustände des Bewufstseins sind weniger umfassend, unbestimmt und durch das Gefühl gefärbt als viel- mehr gefühlsarm, bestimmt und deutlich abgegrenzt. Dadurch wird es uns möglich, Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen ihnen zu be- merken.

Da die gewohnten Eindrücke weder Freude noch Schmerz in uns hervorrufen, so dient die Empfindung nur als Zeichen für etwas aulser uns. Infolgedessen wendet sich die Aufmerksamkeit nicht dem Gefühls- element zu, welches mit jeder Empfindung verknüpft ist, sondern sie richtet sich nach aufsen. Die Empfindungen werden aber sofort wieder affektiver Natur, sobald die durch sie veranlaXsten Wahrnehmungen in Unordnung geraten.

Die blitzartig im Bewufstsein erscheinende und sogleich wieder ver- schwindende Empfindung ruft zahlreiche Empfindungen von Unterschieden und Ähnlichkeiten mit früheren Empfindungen hervor. Diesen Beziehungen wendet sich die Aufmerksamkeit zu. Der Geist gerät nämlich durch das Auftauchen der verschiedenartigsten heterogenen Empfindungen in Verwirrung und sucht die entstandene Unordnung dadurch zu beseitigen, dafs er Beziehungen au&ucht, namentlich Beziehungen von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen den Empfindungen, und endlich zwischen den Beziehungen selbst. Er klassifiziert sie und organisiert sie. (Diese Beziehimgen aber sind die Vorstellungen.) Von dem Grade der Erfassung von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten hängt der Grad der Abstraktion ab, wie er sich in den sprachlichen Bezeichnungen der einzelnen Völker kundgiebt.

Tausendfache Eindrücke stürmen auf das neugeborene Kind ein. Erst allmählich erlangen die sich wiederholenden Eindrücke Bestand. Das Kind formt sie zu kleinen Komplexen. Es erfaüst die Beziehungen zwischen diesen Komplexen, welche durch die Gewohnheit handlicher geworden sind. Es erkennt die Personen und Gegenstände seiner Um- gebung. Schon hier tritt die aktive Empfindung in den Hintergrund und zwar um so mehr, je gröfsere Gruppen von Beziehungen das Kind

Litteraturbericht. 423

erfassen lernt. Dauernden Kalt aber gewinnen die Beziehungen erst durch die Sprache. An der Hand der Sprache gelangen die Vorstellungen zu immer gröDserer Abstraktion. Dabei werden verschiedene Bilder, in denen ein und derselbe Gegenstand sich darbietet, durch ein typisches Bild repräsentiert, hierauf werden die ähnlichen typischen Bilder zu einer Klasse zusammengefafst, denen wiederum ein typisches Bild bei- gegeben wird. Die typischen Bilder treten jedoch zurück gegen die Worte, durch welche sie bezeichnet werden.

Der Schlufsgedanke ist folgender: In der affektiven Seite unserer Natur mufs diejenige Wirklichkeit gesucht werden, welche der äufseren Wirklichkeit am meisten angenähert ist. Die Intelligenz hat nicht die Wahrheit als Ziel, sondern die Verteidigung gegenüber der feindseligen Einwirkimgen der Aufsenwelt.

Die geistvoll geschriebene Abhandlung liefert zur Bearbeitung de& vorliegenden Problems eine ganze Reihe neuer Beobachtungen, zu deren Verflechtung bereits vorhandene Gedanken geschickt verwendet werden. Die Gedankenentwickelung würde stellenweise noch klarer geworden sein, wenn der Verfasser die Zeitpunkte, wo die Vorstellungen sich bilden, jedesmal durch den Gebrauch des Wortes id^e bestimmter gekennzeichnet hätte, statt nur immer von Beziehungen zwischen Empfindungen zu sprechen. Die Entstehung der Vorstellungen kann man sich in der geschilderten Weise sehr wohl denken. Überhaupt zeugt die Arbeit von tiefer psychologischer Einsicht. M. Giessleb (Erfurt).

F. De-Sarlo. L'attivitä psichica incosciente in Patologia mentale. Biv, di freniatria, XVII, (1891) No. 1 u. 3 S. 97-124 u. 201—230.

Verf. geht davon aus, dafs man in der alten Psychiatrie wohl von Ideen, Delirien u. s. w. spreche, die vom Unbewufsten herkommen, über dieses selbst aber keine klare Vorstellung habe. Die neue Behand- lungsart der Psychologie mit Hilfe der aus dem Hypnotismus gewonne- nen Aufschlüsse und des Atavismus, der vorzugsweise die Grundlage der unbewufsten psychischen Thätigkeit bilde, müsse oder solle dazu ver- helfen. — Unbegreifliche d. h. unmotivierte Handlungen, von Menschen begangen, die übrigens im Vollbesitz ihres Selbstbewufstseins sind, haben nicht blofs Philosophen (M. v. Hartmakn), sondern auch Kriminalisten und Bomanschreiber (Zola, la bete humaine) zur Analyse solchen Geschehens, und letzteren, wie es scheint, mit besonderem Geschick veranlafst. „Der dunkle tierische Untergrund, die ursprüngliche Sünde", daraus unser bewufstes Leben hervorspriefst, „die Welle, die aus den Eingeweiden zum Kopf aufsteigt, ihn betäubt und die Überlegung hindert" „der instink- tive Impuls zum Morden, ohne den die Vernunft den Mord nicht zulassen würde", Zolas Worte, bezeichnen eine eigenmächtige Seelenthätigkeit, die, von den höhern Elementen (Intelligenz, Wille) entsprungen, von diesen und von dem gewöhnlichen Selbstbewufstsein unabhängig handelt. Charakteristisch für derartige Zustände ist das triebartig Unbe- zwingliche, das sich in den auf der Grenze des Pathologischen stehen- den Zwangs-Empfindungen, -Vorstellungen und -Handlungen äufsert.

424 Litteraiurbericht

Die krankhafte Grübelsucht, der Fragetrieb, die arithmetischen ZwaDgsYorstellungen, noch mehr die Angstzustände, die Furcht vor Be- rührung, vor gewissen Tieren, vor Ansteckung von Krankheiten, die Agarophobie, Klaustrophobie, die Furcht vor der Furcht (Lborakd Saulle) die unzähligen selbstquälerischen, bizarren, thörichten, ja so- gar grausamen Vornahmen, die Morel unter dem Namen d61ire 6motif zusammenfafst, imd endlich die sogenannten Monomanien, Dipso-, Pyro-, Klepto-, Nympho-Manie, die Mord- und Selbstmordsucht, sind psychische Defekte degenerativer Art mehr oder minder erblich belasteter Indi- viduen, in der Konstitution der letztem begründet oder auf Neur- asthenie (MoBSELLi) beruhend, die durch Krankheiten erworben und wohl auch anerzogen werden kann.

Tahbürini erklärt die Entstehungsweise der Zwangs -Ideen, Em- pfindungen und Bewegungen, die er in eine und dieselbe Kategorie stellt, damit, dafs er einerseits eine abnorm starke \md begrenzte Ideen- bildung, andererseits eine Schwächung der Will ensthätigkeit (Mangel an Aufmerksamkeit) annimmt. In den einfachen Fällen, wo die krankhafte Hirnthätigkeit auf das Bewufstsein beschränkt bleibt, ohne durch Handlungen sich zu äufsem, gehe neben der fixen Idee ein Willensdefekt in Form von mangelnder willkürlicher innerer Aufmerksamkeit einher; wo sich zu der fixen Idee eine Gemüts- empfindung gesellt und in entsprechenden Handlungen sich äufsert, zeigt der Willensdefekt sich als äufsere Willensschwäche; in den schwersten Fällen von impulsiven Ideen als Willens lähm ung. Ob die starke und begrenzte Ideenbildung oder der Willensdefekt das Pri- märe und Mafsgebende sei, lasse sich nicht feststellen. Beides seien ver- mutlich die gleichzeitigen und gleich mächtigen Seiten eines und des- selben Vorganges der Ernährungsstörung der Hirncentren für psychische Thätigkeit.

Demgegenüber fragt De-Carlo, wie man sich eine gleichzeitig erhöhete Thätigkeit der Centren für Ideenbildimg neben einer vermin- derten des Willens vorstellen solle? Seiner Meinung nach handelt es sich da, wo das vollkommen erhaltene Bewufstsein gleichsam Zuschauer, also ein Doppel-Ich vorhanden ist, um Dissoziation der psychischen Elemente infolge Erschöpfung des Nervensystems, wobei sich kleinere Kreise verschiedener Mächtigkeit (Synthesen) bilden, von denen der stärkste als individuelles Selbstbewufstse in auftritt, während die andern unbewufst, automatisch, wie eine Art von Befiexen auf dem Bewufstseinsfelde agieren.

In normalen Verhältnissen bilde der Geist aus den konstituierenden psychischen Elementen: Tast-, Gesichts-, Muskel-Empfindungen u. s. w., die isoliert nebeneinander bestehen, einen einheitlichen Bewufstseins- inhalt, der nach den Assoziationsgesetzen, Ähnlichkeit, Kontrast, Zeit- folge. Raum u. a. m. sich ordnet; in pathologischen Verhältnissen sammeln sich die psychischen Elemente nicht an einem bestimmten Punkte, sondern gehen auseinander, entzweien sich, finden sich nicht zurecht.

Zweifel, Furcht und blinder Impuls sind so zu sagen die Urbilder der psycliopathischen Zustände. Das periodische Auftreten der letztem,

Litteraturbericht 425

die Wahmelimung innerer Suggestion geringfügigster Art, wie sie be- sonders bei Hysterischen, Epileptischen u. s. w. sich zeigen, stellen sie auf eine Linie mit dem psychischen Automatismns (Hypnose).

In einem zweiten Abschnitt seiner gehaltvollen Arbeit behandelt Verf. die eigentlichen Geisteskrankheiten die degenerative Paranoia, periodische and cirkuläre Manie, ferner Hysterie, Epilepsie, Hypochondrie von obigem Gesichtspunkte aus. Bei ihnen tritt die unbewufste Geistes- thätigkeit als zweite Persönlichkeit neben der ersten in den Vordergrund oder verdrängt diese ganz und gar. Bei den Psychoneurosen (Melan- cholie, reinen Manie) gruppieren sich die psychischen Elemente nicht zu einer neuen Persönlichkeit, sondern es ist die normale unbewufste Thätigkeit, die, infolge der Krankheitserreger (Erschöpfung Intoxi- kation) gesteigert und verkehrt, entweder als Depression oder als Exaltation sich äufsert, d. h. der Schmerz, der jedes leibliche imd seelische Unbehagen, und das Wohlgefühl, das jede lebhaftere Bewegung begleitet, ist ein dem gesunden Zustande analoger Vorgang, der sich blofs in Übertreibungen Luft macht.

Die als Beläge beigegebenen Krankheitsgeschichten interessiren mehr den Psychiater. Von gröfserem psychologischen Interesse würde die Vorführung und Analyse einfachster Fälle von vorübergehender Geistes- abwesenheit, Willensstörung und konträrer Empfindung sein, die bei im übrigen Gesunden unter allerlei Umständen vorkommen, aber freilich nur selten ans Licht gezogen werden. Frabnkel (DessauV

Otto Skell. Hexenprozesse und Oeistesstönmg. Psychiatrische Unter- suchungen. München, Lehmann 1891. 130 S. A4.—.

Von jeher haben die Hexenprozesse die Aufmerksamkeit der Ge- lehrten auf sich gezogen, und dieses Interesse hat im Laufe der Jahre kaum abgenommen, im Gegenteil, ihre Geschichte verzeichnet gerade aus der jüngsten Zeit mehrere dankenswerte Beiträge. Eine solche Bereicherung unserer Litteratur bildet die vorliegende Schrift.

Dafs eine so gewaltige und furchtbare Erscheinung, wie sie das plötzliche Anschwellen der Hexenprozesse im 15. und 16. Jahrhundert darstellt, zu Erklärungsversuchen anregen mulste, ist natürlich, und ebenso natürlich war es, dafs man diese Erklärung in einer Geistes- störung und zwar in der epidemischen Ausbreitung einer bestimmten Form von Geistesstörung suchte. Die Hexen waren Geisteskranke, für deren Krankheit das Mittelalter kein Verständnis besafs, und die es als vom Teufel Besessene verbrannte. Diese Erklärung war ebenso einfach, als wie sie anscheinend über jede Schwierigkeit hinweghalf. Auch Skell gesteht ein, virie er von vornherein die Erwartung gehegt habe, den Nachweis führen zu können, dafs ein sehr grofser Teil der Verurteilten geisteskrank war. Im Verlaufe seiner Untersuchung sei er jedoch zu der Einsicht gelangt, dafs seine Voraussetzung eine irrige gewesen. Vielmehr seien verhältnismäfsig nur wenige Geisteskranke den Hexenprozessen zum Opfer gefallen, dagegen hätten sie und besonders die Hysterischen dadurch Veranlassung zu Hexenverfolgungen gegeben, dafs man sie für besessen hielt und den Zauberer zu strafen suchte, der ihre Besessenheit verursacht haben soUte.

426 Litteraiurberichi.

Neben diesem mehr psycliiatrisclien Teile geht Shell auch auf die historische Entwickelung näher ein, und er sucht die Frage, wie es möglich gewesen, dais sich der Hexenglaube, der doch zu allen Zeiten bestanden, zu einer bestimmten Zeit zu den Prozessen steigern konnte, deren Opfer in Europa nach Millionen zählten, durch das zielbewuXste Vorgehen der Kirche zu erklären, jede ihr entgegentretende Macht und Blchtung zu unterdrücken.

Bis zum Christentum hatte man mehr den durch Zauberei ange- richteten Schaden, als diese selber bestraft, und auch die Kirche verharrte zxmächst, trotz einzelner gegen die Zauberei erlassener Gesetze, im ganzen bei der gleichen Ansicht.

Erst mit dem Siege der Kirche über die weltliche Macht (im 13. Jahrhundert) änderte sich die Sache, man drehte nun den Spiels um und ging zimächst gegen die Ketzer vor, denen man allerlei Ver- brechen vorwarf, insbesondere Zauberei und Teufelsanbetung.

Ketzerei aber war jede Opposition gegen den Klerus.

Mit gewaltiger Tragik tritt diese Auslegung der BegrifPe in dem Untergange der Stedinger zu Tage. Die Stedinger hatten sich gegen die in nichts berechtigten Ansprüche des Erzbischofs von Bremen aufgelehnt und dieser den Beistand des Papstes angerufen. Gregor IX. erlieüs darauf 1232 jene berüchtigte Bulle^ worin er die Stedinger als Ketzer und dem Teufelskultus ergeben darstellt und die Christenheit zu ihrer Vernichtung auffordert, ein Geistesprodukt von einem so entsetzlichen Aberglauben, dafs es geradezu unfafsbar ist, wie Gregor an solchen Unsinn glauben konnte. Jedenfalls aber war der Unsinn von nun an kanonische Satzung, und jeder Christ zu dem Glauben verpflichtet, dais alle Ketzerei, d. h. jeder Widerstand gegen kirchlichen Orthodoxismus und geistlichen Übermut aus einem mit dem Satan geschlossenen Pakt entstehe, und für die grundsätzliche Vermengung des Beligiösen und Politischen wurde dadurch Sorge getragen, dafs noch in demselben Jahre die Beichsacht über alle Ketzer in Deutschland ausgesprochen wurde.

Gleichzeitig übergab Gregor die Inquisition den Dominikanern und that damit auch den entscheidenden Schritt gegen die Zauberer, die man bisher im ganzen unbehelligt gelassen und mehr als Opfer des Bösen angesehen hatte.

Von nun an war der Aberglaube für das Bechtsinstitut der Inqui- sition die unentbehrlichste Bedingrmg seines Bestehens. An die Stelle der Anklage trat die Denunziation, an die Stelle des Beweises die Folter, als Strafe Tod und Einziehung der Güter.

Im Jahre 1274 loderten in Toulouse die ersten Scheiterhaufen auf, und die Dominikaner begannen ihre grausige Thätigkeit mit dem Ver- brennen einer Anzahl Weiber, weil sie den Hexensabbath besucht hatten.

Aufser in den Sekten erwuchs der päpstlichen Macht ein anderer, nicht minder gefährlicher Gegner in dem Erwachen der wissenschaft- lichen Forschung, wie sie sich namentlich unter dem Einflüsse der arabischen Hochschulen verbreitete. Grund genug zum Einschreiten auch nach dieser Seite. Innocenz VII. bedroht^, in seiner Bulle vom

Litteraturhericht, 427

5. Dez. 1484 jeden, der den Hexenglsuben als Aberglauben erklärte, als Ketzer mit Bann und Interdikt.

Schon 1209 waren die Schriften des Aristoteles auf Befehl des Konzils von Paris verbrannt worden, Kogeb Baoo (1214 94) wurde zweimal eingekerkert, und der Prozefs gegen die Templer 1308 lieferte den Beweis, wie weit die Kirche gewillt war, weltlicher Kachsucht und Habgier ihre Unterstützung zu gewähren.

So war der Boden Torbereitet, und der famose Hexenhammer konnte 1487 in die Welt treten, ein Machwerk von einer so unglaublichen Nichtswürdigkeit, von solcher Verblendung und Thorheit, dafs wir ihm verständnislos gegenüberstehen. Von nun an war schon der einfache Zweifel an der Wahrheit des Hexentums Ketzerei und ein Beweis, dafs der Zweifler mit dem Satan in Verbindung stehe. Besonders gefährliche Individuen waren die Hebammen, da sie die neugeborenen Kinder dem Teufel gelobten, und wir sehen, wie 8 10jährige Kinder dem Peuer- tode überantwortet werden. Nahm sich das verzweifelnde Opfer das Leben, so war dies nur ein neuer Beweis seiner Verruchtheit und für die Macht, die der Böse über dasselbe ausgeübt. Der Gipfel der Nieder- tracht aber wird in dem Satze erreicht, dafs man einem Geständigen mit gutem Gewissen Gnade versprechen könne, wenn man nur dabei an Gnade gegen sich oder den Staat denke, zu dessen Erhaltung alles, was geschehe, gnädig sei.

Die Beformation änderte an diesem Treiben nichts, den Teufel wagte kein Reformator anzutasten. Höchstens nannten die Katholiken Luther ein Kind des Teufels, was ihnen dieser mit gleicher Münze an die Päpste heimzahlte, verbrannt aber wurde hüben und drüben mit demselben Eifer.

Nur hin und wieder erhob sich eine vereinzelte Stimme dagegen, aber sie verhallte wie die Weiers (1563) ungehört, und erst mit Spek (1631) wird der Widerspruch heftiger, und die Prozesse werden gegen Ende des XVII. Jahrhunderts seltener, um dann allmählich abzuklingen.

Diesem geradezu wahnsinnigen Treiben gegenüber fragen wir uns beute, ob es denn überhaupt mit der Annahme geistiger Gesundheit vereinbar, und wer von beiden, Henker oder Opfer, geisteskrank gewesen sei.

Dafs die Mehrzahl der Hexenrichter aus Überzeugung und in dem guten Glauben gehandelt habe, ein gottwohlgefälliges Werk zu thun, kann gar nicht bezweifelt werden, xmd ebensowenig ist ihnen ein Vorwurf daraus zu machen, dafs sie als Kinder ihrer Zeit in den Ideen derselben befangen waren. Ein wissenschaftlicher Irrtum ist noch lange keine Wahnidee, und geisteskrank waren sie nicht. Das Gleiche gilt für die Hexen. Aus den Prozefsakten ergiebt sich nichts, was auf eine wirkliche Geistesstörung schliefsen liefse, die 200 Verurteilten Spees beteuerten ihre Unschuld, und wenn hin und wieder eine melancholische Kranke durch ihre Selbstanklagen Veranlassung zur Einleitung eines Prozesses gegeben hat, so kann dieser Bruchteil der ganzen grofsen Masse gegenüber doch nur sehr gering sein.

Anders verhält .es sich mit den Besessenen.

428 Litteraturbericht

Der Glaube an die Besessenheit ist seines biblischen Ursprunges halber schwer zu bezweifeln und findet ja noch bis auf den heutigen Tag seine Verteidiger (Vilmar, Baumoabten). Bei den meisten Besessenen aber, von denen uns genauere Nachrichten erhalten sind, wird die hysterische Natur der Krampfanfälle durch die Beschreibung auTser Zweifel gesetzt.

Es waren demnach Hysterische, die in den meisten Fällen den Ausgangspunkt der Prozesse bildeten, und da man sie fär besessen hielt, suchte man stets nach der Ursache der Besessenheit, d. h. nach denjenigen, die diesen Zustand durch Zauberei hervorgerufen hatten. Die Opfer waren durchweg Geistesgesunde. Wir sehen, wie die frömmsten und harmlosesten Menschen verfolgt werden, nicht nur Weiber, und oft genügte irgend eine Abweichung von dem Gewöhnlichen, sogar besondere Schönheit, um den Verdacht auf sich zu lenken. Schon der Verdacht war tötlich, und das ge&ngstigte Volk hatte jähr* hundertelang nur die Wahl, von den einen behext oder von den andeni verbrannt zu werden.

Dafs die Angeklagten gestanden, was man von ihnen verlangte, dafür sorgte die Folter, und die Übereinstimmung ihrer Aussagen erklärt sich auf einfache Weise durch die Übereinstimmung der ihnen vorgelegten Fragen.

Der Richter handelte im Sinne seiner Zeit, zuerst mehr bewuist im Dienste der Kirche gegen Ketzer und Widerspenstige, und später instinktiv im Banne seines Aberglaubens. Niemand zweifelte an der Besessenheit und an der Existenz des Teufels, und da diese Besessenen als mit dem Teufel im Bunde den Feuertod verdienten, so fand man ein verdienstliches Werk darin, sie diesem Tode zu übergeben.

Wenn demnach auch nur ein geringer Teil der Hexen geisteskrank war, so ist doch alles, was damals geisteskrank und hysterisch war, als Hexe verbrannt worden.

Dies ist im wesentlichen der Inhalt des SvBLLSchen Buches, und der Verfasser hat auf kleinem Baume ein grofses Material angehäuft. Eine besondere Beachtung verdient seine Zergliederung des Malleus maleficorum, „eines der merkwürdigsten Werke, die je aus Menschen- händen hervorgegangen sind. Kein vorweltliches Tier, keine Keilschrift, kein Gerät des unbekanntesten Volksstammes mutet uns heute so fremdartig an, bleibt uns so gänzlich unverständlich, wie dieses Buch. Es ist gar nicht zu begreifen, dafs es vor 400 Jahren hier in unserem Deutschland Menschen geben konnte, die in der Verblendung, Urteils- losigkeit imd Hoheit so tief standen, wie es der Hexenhammer auf jeder Seite bezeugt.*"

Aber auch die übrigen Kapitel geben Kunde davon, wie eingehend Shell auf die Quellen zurückgegangen ist, so dafs selbst die, denen die gröfseren Werke von Boskoff, Soldaü u. a. nicht unbekannt sind, in der kleinen Schrift Skells, ganz abgesehen von der psychiatrischen Beweisführung, auch an historischen Angaben manches Neue und Interessante finden werden. Pelman (Bonn).

Beiträge zur Dioptrik des Auges.

Von

M. TSCHEBNING, Directeur adjoint du l&boratoire d'ophtalmologie k la Sorbonne, Paris.

Einleitmig.

Dringt ein Lichtstrahl ans einem durchsiclitigen Medium in «in anderes, so wird er bekanntlich an der Trennungsfläohe dieser Medien zum Teil reflektiert. Die reflektierten Strahlen, welche auf diese Weise in jedem optischen Instrumente entstehen imd wieder rückwärts entweichen, werde ich, zum Unterschiede von dem zur Hervorrufung des Bildes dienenden nützlichen Lichte, als nutzloses oder verlorenes Licht bezeichnen. Ein Teil des Lichtes dieser verlorenen Strahlen wird aber, bevor dasselbe das Listrument verlassen kann, von den Trennungsflächen der verschiedenen Medien, die ^68 auf seinem Wege trifft, von neuem reflektiert und kann so durch das Okular in das Auge des Beobachters gelangen. Da diese Strahlen nicht zur Entstehung des „nützlichen^ Bildes beitragen, sondern vielmehr die genaue Beobachtung desselben stören, so will ich diesen Teil des Lichtes als schädliches Licht bezeichnen. Bei jedem dioptrischen Listrumente, selbst «iner einfachen Linse, lassen sich daher neben dem „nütz- lichen'', durch einfache Brechung entstandenen Bilde des Gegenstandes, z. B. einer in einiger Entfernung aufgestellten Flamme, noch eine Beihe von Bildern beobachten, von welchen ein Teil den verlorenen, ein anderer Teil den schädlichen Strahlen seinen Ursprung verdankt. So sieht man z. B. an einer Konvexlinse aus dem verlorenen Lichte an der der Flamme zugewandten Seite zwei Spiegelbilder entstehen, während aus dem schädlichen Lichte an der von der Flamme

Zeitschrift Ar Ptjreholoffie m. 28

430 -Af. Tscheming.

abgewandten Seite, folglich neben dem eigentlichen („nütz- lichen^) Bilde, ein kleines lichtschwaches Bild hervorgeht, welches von Strahlen erzengt wird, die zuerst an der hinteren und dann an der vorderen Fläche der Linse reflektiert worden sind.

Die Helligkeit dieser verschiedenen Bilder ist natürlich eine sehr ungleiche. Im allgemeinen läfst sich dieselbe für das nützliche Bild als Helligkeit erster Ordnung, f&r die verlorenen Bilder als Helligkeit zweiter Ordnung und für die schädlichen Bilder als Helligkeit dritter Ordnimg bezeichnen.

Mit Hülfe der Theorie von Frbsnbl läfst sich die Hellig- keit der Bilder leicht berechnen. Ist die Intensität des ein- fallenden Strahles gleich 1 und sein Einfallswinkel genügend klein, um vernachlässigt werden zu können, so ist die Intensität Ä des an der Trennungsfläche zweier Medien reflektierten Strahle» in dem Ausdruck

n— 1^«

-(n + l)

enthalten, wobei unter n der relative Brechungskoefflzient der beiden Medien zu verstehen ist. Hiemaoh bewahrt das nütz* liehe Bild einer einfachen Linse, wenn wir als Brechungs- koe£ßzient des Grlases 1,5 annehmen, noch 92 7o des einfallenden Lichtes, während das verlorene Licht nur 8% und das schäd- liche sogar nur ^/6% des einfallenden beträgt. In zusammen- gesetzten Instrumenten ist der Verlust an Licht viel gröfser und kann selbst ein Drittel des einfallenden Lichtes erreichen.

Die Bilder, welche man aufserdem noch, besonders an schwachen Konvexlinsen, beobachtet, und welche ihre Ent- stehung einer wiederholten Reflexion verdanken, will ich hier nicht näher berücksichtigen, weil im menschlichen Auge der- gleichen nicht vorkommt. Ich will hier nur bemerken, dals eine Kerzenflamme noch nach vier Reflexionen an Glasflächen wahrnehmbar ist. Dieses läfst sich experimentell leicht fest- stellen. Wenn man eine Flamme mit einem sehr schwachen Prisma betrachtet, so erblickt man zwei sekundäre Bilder, von denen das letztere von Strahlen gebildet wird, welche nur (0,04)* = 0,00000256 von der Lichtstärke der einfallenden Strahlen besitzen und für ein nicht an völlige Dunkelheit adaptiertes Auge wohl an der Grenze des Wahrnehmbaren liegt.

Beiträge sur Diopfrik des Äugt». 431

Die Betrachtungen, welche wir soeben über die ia dioptri- schen Instrumenten wahrnehmbaren Bilder angestellt haben, lassen sich aach auf das menschHohe Äoge übertragen. Doch sind selbstverständlich die Bilder, die von den verlorenen tind von den schädlichen Strahlen gebildet werden, nur sichtbar, wenn der beobachtete Gegenstand eine bedeutende Lichtstärke besitzt. In Fig. 1, habe ich den Verlauf der Strahlen dargestellt, deren Intensität die soeben erwähnte Grenze des Sichtbaren nicht überschreitet.

Man sieht, dals der einiallende Lichtstrahl sich allmählich in 7 Strahlen auflöst, von denen 4 das Ange wieder verlassen und nur 3 die Betina erreichen. Diesen 7 Strahlen entsprechend haben wir im menschlichen Ange 7 Bilder näher kennen zu lernen, nämlich:

1. Vier Bilder, welche von den verlorenen Strahlen (Fig. 1-, I. n. m. IV.) gebildet werden, und als PuBKiNJESche BUder bekannt sind. Sie sind das Besultat der Beflexionen, welche an den Grenz- flächen der Cornea und der Linse stattfinden. Ich werde in der Folge die beiden Comealbilder als erstes und zweites PuBEiNJEsches und die beiden Lins^ibilder als drittes und viertes FiniKiNJEsches Bild bezeichnen.

2. Zwei Bilder, welche von den schädlichen Strahlen v mid VI herstammen. Das eine, von mir als fünftes Bild bezeichnet, wird aus Strahlen gebildet, die zuerst von der vorderen Fläche der Linse und darauf von der Eonkavität der Yorderfläche der Hornhaut reflektiert worden sind; das andere, sechste Bild geht in gleicher Weise ans den Strahlen hervor, weldie zuerst eine Beflexion an der hinteren Fläche der Linse and dann an der vorderen Fläche der Cornea erhtten haben.

432 ^' Tscheming.

3. Das eigentliclie oder nützliche Bild, durch Brechung aus den Strahlen yii Fig. 1 entstanden.

Man kann die Intensität der verschiedenen Strahlen in der oben angefahrten Weise berechnen, indem man die Intensität des einfallenden Strahles mit dem Faktor J. für jede Seflezioii und dem Faktor 1 Ä fär jede Befraktion, der er nnterliegi, multipliziert. Leicht ersichtlich ist es aber, dafs die Helligkeit aller dieser Bilder eine so geringe ist und Ä so klein wird, dalis man 1 Ä = 1 setzen kann. Es ist also die Intensität des einfallenden Strahles, welche wir gleich 1 setzen, mit dem Faktor Ä für jede Beflexion, welcher der Strahl unterworfen ist, zu multiplizieren, wobei jedoch zu bemerken ist, dafs dieser Faktor für die verschiedenen Flächen verschiedene Werte an- nimmt, weil n eine variable Grröfse ist. Bezeichnet man den Wert von Ä für die Vorderfläche der Cornea mit a, fär die Hinterfläche der Cornea mit b und für die Linsenflächen mit e, und setzt man den Brechimgskoeffizienten der Cornea gleich 1,377, denjenigen des Kammerwassers und des Glaskörpers gleich 1,3365 und endlich denjenigen der äufsersten Schichten der Linse gleich 1,397, so ist

a = 0,0251650

b = 0,0002213

c = 0,0004885

Die Intensität der Strahlen, aus welchen die verschiedenen Bilder hervorgehen, wird dann:

Erstes Bild a = 0,0251650

Zweites BUd h = 0,0002213

Drittes BUd c = 0,0004885

Viertes BUd c = 0,0004885

Verlorenes Licht, im Ganzen .... 0,0263533

Fünftes BUd ac = 0,0000123

Sechstes BUd ac = 0,0000123

Schädliches Licht, im Ganzen . . . 0,0000246

Nützliches Licht (Siebentes BUd) . . . 0,9736221

Man entnimmt aus diesen Zahlen, dafs das Auge, was die Verteilung des Lichtes anlangt, allen diop- trischen Instrumenten und selbst einer einfachen Linse überlegen ist, indem nur etwas mehr als 2,5% des einfallenden Lichtes verloren geht, und das

Beiträge zur Dioptrik des Auges. 433

schädliclie Licht ebenfalls auf ein Minimum reduziert ist. So schwach dieses letztere auch ist, so überschreitet es doch, wie wir weiter sehen werden, die Ghrenze des Sichtbaren.^ Theoretisch müfsten aulser den bereits angefahrten noch vier Büder zweiter Ordnung oder, wie ich sie nenne, vier schädliche Bilder vorhanden sein. Zwei derselben, zu licht- schwach um wahrgenommen zu werden, müssen durch eine doppelte Beflexion an einer der Linsenflächen und an der hinteren Fläche der Cornea entstehen. Das dritte dieser Bilder würde aus zwei einander folgenden Reflexionen an den beiden Comealflächen und das vierte aus zwei gleichen Reflexionen an den beiden Linsenflächen hervorgehen. Die Intensität der diese Bilder erzeugenden Strahlen würde sein

ab = 0,0000053 und = 0,0000002.

Die Lichtstärke des zweiten Bildes ist also zu schwach, als daiSs dasselbe gesehen werden könne; das erste Bild sollte aber noch sichtbar sein und ist es auch in einem künstlichen Auge. Ich habe jedoch keine Spur dieses Bildes im menschlichen Auge auffinden können, wahrscheinlich aus dem Grrunde, weil es von dem lichtstarken nützlichen Bilde verdeckt wird.

Alle diese verschiedenen Bilder können sehr gut sm einem künstlichen Auge zur Anschauung gebracht werden. Ein solches kann man sich leicht aus einem im Innern geschwärzten Hohl- cylinder, der vorne von einem Uhrglase undhinten von einerflachen Glasplatte abgeschlossen wird, herstellen. Im Innern dieses Hohlcylinders, der mit ausgekochtem destillierten Wasser ge- killt wird, ist eine bikonvexe Glaslinse angebracht. Die Dimensionen aller dieser Teile des künstlichen Auges müssen die Dimensionen der denselben entsprechenden Teile des natür- lichen menschlichen Auges mehrfach übertreffen, weil man sonst sich einer Lupe bedienen müGste, um die licht- schwachen und kleinen schädlichen Bilder sehen zu können. Stellt man eine Flamme nicht allzuweit von einem solchen künstlichen Auge auf, so ist es leicht, in demselben die sieben

^ Wenn man eine Kerzenflsmme oder eine noch stärkere Lichtquelle als Objekt benutzt.

434 ^' Tscheming.

oben angefiihrten Bilder zu erblicken, um die schädlichen Bilder deutlicher sehen zu können, ist es vorteilhaft, die Flamme etwas seitlich von der Axe des Auges aufzustellen, so dals das nützliche Bild desselben nicht auf der planen Grlasplatte, welche die Eetina ersetzen soll, sondern auf den Wänden des Cylinders erscheint. Abgesehen davon, dafe bei einer solchen Anordnung das helle nützliche Bild nicht die Beobachtung der lichtschwachen schädlichen Bilder stört, erscheinen auch diese viel leuchtender, indem die Lichtstärke des zurückgeworfenen Strahles mit dem Einfallswinkel wächst.

unter den Bildern, welche von einem dioptrisohen Instra- mente erzeugt werden, hat für den Beobachter natürlich nur das nützliche Bild ein Interesse. Die übrigen Bilder sind der Beobachtung eher hinderlich. Für den Optiker aber sind die verlorenen Bilder bei der Konstruktion von Instrumenten von grofsem Nutzen. Er bedient sich derselben zur Centrierung der Linsensysteme, imi den Grad des Schleifens zu beurteilen etc. Auch die schädlichen Bilder können zu ähnlichen Zwecken benutzt werden.*

Dieselben Betrachtungen können auch am menschlichen Auge gemacht werden. Für den Besitzer selbst ist nur das nützliche Bild von Bedeutung, die übrigen sind als nutzlose oder selbst schädliche anzusehen ; für die Physiologie des Auges sind sie aber bekanntlich von grofser Wichtigkeit. Man hat sich nur die Arbeiten von v. Helmholtz über die Ghestalt der brechenden Flächen und die von Crameb und v. Helmholtz über die im Auge während der Accommodation stattfindenden Veränderungen ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich habe mich nun bemüht, durch neue eingehendere Untersuchungen dieser Bilder unsere Kenntnis der Dioptrik des Auges zu fördern.

^ Ich will nur ein Beispiel anfuhren. Wenn man durch ein schwaches Prisma, wie es die Augenärzte brauchen, eine Flamme an- blickt, sieht man, wie ich schon bemerkt habe, aufser der Flamme selbst zwei sekimdäre Bilder. Alle drei befinden sich in einer G-eraden, die mit grölster Genauigkeit die Richtung der Ablenkung des Prismas angiebt. Man kann sich in dieser Weise oft dayon überzeugen, dafs der Strich, durch welchen der Optiker diese Richtung andeutet, falsch ange- bracht ist. Ich habe durch diesen Versuch Fehler von mehr als 20^ aufgefunden. Ebenso läfst sich die Ausführung von planparallelen Gläsern, von Doppelprismen, von doppelbrechenden Prismen etc. beur- teilen.

Beiträge zur Dicptrik des Auges. 435

JBevor ich jedoch zur Beschreibung meiner Versuche übergehe, glaube ich zunächst in Abschnitt I die Theorie dieser Bilder aus- einandersetzen zu müssen, indem ich das neue schematische Auge T. Helmholtz' zu Grunde lege. Daselbst findet sich dann auch die Beschreibung der besten Methoden, diese Bilder zu beobachten. Der Abschnitt 11 wird die Beschreibung und die Anwendungsweise des Instruments enthalten, dessen ich mich bei dieser Untersuchung bedient habe. In Abschnitt m will ich meine Beobachtungen und die aus denselben gezogenen Schlüsse geben. Abschnitt IV enthält dann eine vollständige Zusammenstellung der Besultate, während Abschnitt V einer besonderen eigentümlichen Beobachtimg gewidmet ist.

I. Theorie der im Auge entstehenden optischen Bilder.

Mit Ausnahme des ersten PuBEiNJEschen Bildes sind alle übrigen Bilder, welche man im Auge beobachtet, das Resultat wiederholter Befraktionen oder Beflexionen. Mehrere derselben sind selbst von sehr komplizierten optischen Systemen gebildet. Bekanntlich ist es zur Erleichterung des Studiums ratsam, zu- :sammengesetzte optische Systeme durch einfache, den ersteren äquivalente, brechende oder zurückwerfende Systeme zu ersetzen. Diese Systeme kann man nach bekannten Formeln^ berechnen. Auf diese Weise erhält man für die sieben Bilder des Auges sieben optische Systeme. Die Tabelle I. giebt u. a. die örter der Kardinalpunkte dieser Systeme, d. h. ihre Entfemxmg von dem Homhautscheitel, sowie ihre Brennweiten an.

Nachdem wir nunmehr im allgemeinen die Lage und Natur der verschiedenen Bilder kennen gelernt haben, wollen wir uns mit einem jeden derselben eingehender beschäftigen.

Das erste Pubein jssche Bild kommt durch einfache Be- üektion zu stände und ist so lichtstark, dais es selbst von sehr schwach leuchtenden Gegenständen noch ohne Schwierigkeit beobachtet werden kann.

Die drei folgenden Bilder entstehen sämtlich durch Befle- sion von einer Fläche, vor der sich ein System von brechen- den Medien befindet, welche die Strahlen ein Mal vor und ein

^ Helmholtz, Fhysiöl. Optik, % 9. Formel 11 d, 11 e und 11/*. Erste Aufl. 8. 57 und 58 zweite Aufl. S. 79.

436

Jf« Tscheming.

anderes Mal nach ihrer Zorückwerfung dorohlanfen müsseiu Ein so beschaffenes optisches System ist einer einzigen spie- gehiden Fläche gleichwertig, welche wir zum unterschied tob der in Wahrheit reflektierenden Fläche als die scheinbar reflek- tierende bezeichnen wollen. Letztere ist das Bild der in Wahr- heit reflektierenden und durch das brechende System gesehenen Fläche. Ebenso ist das Centrum der scheinbar reflektierenden Fläche das Bild des Centrums der in Wahrheit reflektierenden.^

Tj

Ekbelle

I.

PuRKTifjBsehe Bilder

SchldUehe Bilder

MttCslidMe Bild

I II in 1 IV

V

VI

1 VU

Erster Hauptpunkt ....

0 mm

3,06 mm

632 mm

6,481mm

—1634 mm

1«758m

Zweiter Hauptpunkt...

0 n

8,06.

632«

9A80.

+ 36,61

24O6.

Erster Knotenpunkt . . .

7329 n

18,09,

Ml«

7.687,

+ 19,48 ,

6368.

Zweiter Knotenpunkt .

7^29,

18,09 .

Ml«

8306 ,

+ 8237,

7321

Vorderer Brennpunkt .

W4.

10^7

836

8,046,

+ 638«

-18,746,

Hinterer Brennpunkt . .

8,914

10,57

8,96.

6,741,

+22,06,

+22319»

Vordere Brennweite . . .

- 3,914

- 7,52,

+ 236n

+8,485 ,

-1031 .

163»»

Hintere Brennweite

+ 8,914 ,

+ 7,52 ,

- 236«

+4391«

-14,46«

20,718.

RIehtung des Bildes...

aufrecht

Mfreeht

aufrecht

umgekehrt

umgekehrt

aufrecht

nmcekalat

BelatiTO lineare Orofte

des Bildes*

3,914

7,62

?35

8,485

1031

15,496

BelatiTer Flächeninhalt

des Bildes

15,82

56,56 0/)004787

8,122 0,0004787

1130 03000119

1163 0,0000119

2403

Intensität der Strahlen*

0,0261650

03786626

Helligkeit des BUdes..

16420

84

688

10

1

40640

^ Ich bediene mich des Ausdruckes Centrum, um die Knotenpunkte zu bezeichnen, welche in diesem Falle zusammenfallen. Da die scheinbar brechende Fläche im allgemeinen keine sphärische Form besitzt, so sollte man hier eigentlich nicht von einem Centrum derselben sprechen. Der in Bede stehende Punkt ist vielmehr das Centrum des der Axe benach- barten Teiles dieser Fläche.

' Die lineare Gröfse des Bildes ist der vorderen Brennweite des Systemes proportional, wenn das Objekt sich in unendlicher Entfernung befindet, was wir hier annehmen.

' Der wenn auch geringe Unterschied in den hier und auf S. 432 für die Intensität der Lichtstrahlen angegebenen Zahlen hat seinen Grund darin, das der gleichfalls geringe Unterschied im Brechungskoeffizienten der Cornea und des Kammerwassers von Helmholtz in seinem schema- tischen Auge, welches wir hier zu Grunde gelegt haben, vernachlässigt worden ist.

Beiträge zur Dioptrik des Auges, 437

Dieses ist eine Folge der Theorie der konjugierten Punkte. Ein Lichtstralil, welcher in der Luft auf das Bild eines Punktes gerichtet ist, ist nach der Brechung auf den Punkt selbst gerichtet, und umgekehrt. Ein Lichtstrahl, welcher in der Lufb auf das Centrum der scheinbar reflek- tierenden Fläche gerichtet ist, ist folglich nach der Brechung auch auf das Centrum der wirklich reflektierenden Fläche ge- richtet. Auf diese letztere stofsend, wird er in sich selbst zu- rückgeworfen und verläfst das System auf demselben Wege, auf welchem er in dasselbe gelangt ist. Der Punkt, welchen wir als das scheinbare Centrum bezeichnet haben, hat mithin ebenso wie das Centrum einer spiegelnde Fläche die Eigenschaft, dafs Strahlen, welche gegen dasselbe gerichtet sind, das System in sich selbst zurückgeworfen, wieder ver- lassen.

Auf ähnliche Weise läfst sich zeigen, dafjs ein Strahl, welcher in der Luft auf einen Punkt der scheinbar reflektieren- den Fläche gerichtet ist, das System so verläfst, als käme er von diesem Punkte selbst, mithin ganz so, als ob er eine wirk- lich reflektierende Fläche auf seinem Wege angetroffen hätte. Die scheinbar reflektierende Fläche vereinigt also in sich die beiden Hauptflächen, ebenso wie das Centrum derselben die beiden Knotenpunkte in sich vereinigt. Es ist femer bekannt, dafs man sich die Beflexion als eine Befraktion vorstellen kann, wenn man den Brechungskoef&zienten gleich 1 setzt. Da das Verhältnis der Fokaldistancen gleich sein mufs dem der Befraktionskoefßzienten, so müssen auch diese stets unter einander gleich sein und stets dieselbe Bichtung haben. Es giebt daher nur einen Brennpunkt, der sich in der Mitte zwischen der scheinbar reflektierenden Fläche und ihrem Centrum be- finden muss, weil der Abstand des ersten Hauptpunktes vom ersten Brennpunkte gleich sein mufs dem Abstände des zweiten Knotenpunktes vom zweiten Brennpunkte. Die schein- bar reflektierende Fläche wirkt also ganz so wie eine wirkUch reflektierende Fläche.

um sich Bechenschaft von der Wirkung unseres kombinier- ten Systemes zu geben, hat man nur nötig, die Bilder des Scheitels und des Centrums der spiegelnden Fläche zu be- stimmen, welche durch die im brechenden System stattfindende Brechung zu stände kommen. Man kann zu diesem Zwecke

438 M, Tschemmg.

F F

sich des aUgemeinen Ausdruckes -7r + "^"l bedienen, in

welchem F^xmäF^ die Brennweite des brechenden Systems, f| den Abstand des Scheitels (oder Centrums) der spiegelnden Flftohe von der zweiten Hauptebene des brechenden Systems und /j den Abstand des Bildes von der ersten Hauptebene bezeichnet Auf diesem Wege wollen wir hier die Stellung der Bilder im schematischen Auge bestimmen, in Abschnitt m hingegen den entgegengesetzten Weg einschlagen, d. h. zunächst auf experi- mentellem Wege die scheinbaren Flächen bestimmen und mtt Hülfe der gefundenen Zahlen alsdann die wirklichen Flächen berechnen.

Treten wir nunmehr in die nähere Betrachtung eines jeden dieser drei Bilder ein.

Das zweite Pubein JEsche Bild ist nur wenig bekannt Ich habe dasselbe von Purkinje ^ selbst erwähnt und zusammen mit den drei anderen Bildern gezeichnet gefunden. Derselbe giebt daselbst folgende treffende Beschreibung: yflmago flanmat ab externa simul et interna superfide (corneae) reflexa dwpUodk apparebit"' Ebenso spricht Blix^ von diesem Bilde.

Dasselbe ist leicht zu sehen, wenn man sich der zu beob- achtenden Peirson gegenübersetzt imd die Spiegelung einer seitwärts aufgestellten Flamme beobachtet. Prüft man ein- gehend das Comealbild der Flamme mit Hülfe einer Lupe von ungefähr 10 Dioptrien, so sieht man, sobald dieses Bild sich dem Irisrande nähert, und noch besser, wenn dasselbe diesen Band überschreitet, dafs es von einem anderen kleinen, sehr lichtschwachen Bilde begleitet wird, welches stet»

^ J. E. Purkinje, Commentatio de examme physiologico orgam visus et syatematis cuianei. Vratislaviae 1823. pag. 21 und Figur 1.

> M. Blix, Oftabnometriska Studier, üpsala 1880. Seite 63. Blix liat ein sehr sinnreiches Ophthalmometer konstruiert, dessen Handhabung aber, wie diejenige aller Instrumente, welche auf der Benutztmg von Mikroskopen zu Messungen am lebenden Auge beruhen, sehr schwer t^ sein scheint. Das Prinzip des Apparates ist das folgende :

Denken wir uns, dafs man die Hornhaut vermittelst eines Mikro- skopes mit Fadenkreuz und positivem Okular betrachtet; nehmen wir ferner an, dafs das Fadenkreuz leuchtend sei, so wird von diesem ein Bild A an dem Orte entstehen, auf welchen das Mikroskop eingestellt ist; hiervon wird durch Spiegelung an der Hornhaut ein zweites Bild B erzeugt, welches, durch das Mikroskop betrachtet, aber nur dann scharf

Beiträge zur Diqptrik des Auges. 439

zwischen dem grösseren Bilde und der Pupillenmitte liegt. Je mehr sich die beiden Bilder dem Homhantrande nähern, desto mehr entfernen sie sich voneinander, so dafs sie um einen Millimeter oder mehr voneinander abstehen können. Das kleine Bild ist häufig noch sichtbar, wenn das gröfsere, dem unregel- mäfsigenBeflex auf der SkleraPlatz machend, bereits verschwunden ist. Das Bild kann, wie wir weiter unten sehen werden, noch besser mit dem Ophthalmophakometer beobachtet werden. Im sche- matischen Auge von B!elmholtz ist die hintere Fläche der Cornea wegen des geringen Einflusses, welchen diese Membran auf die Befraktion des Auges ausübt, nicht berücksichtigt.

Der Badius der hinteren Homhautfläche ist nach meinen Messungen (siehe S. 467) 6,22 mm und die Dicke der Hornhaut 1,15 mm. Setzt man den Brechungskoefßzienten der Cornea = 1,377, so findet man 0,87 mm für den Ort der scheinbaren Fläche und 6,30 mm für den Badius derselben. Ihr Brennpunkt befindet sich folglich bei 4,02 mm und fallt fast mit dem Brenn- punkte der vorderen Comealfläche zusammen. Es ist daher verständlich, weshalb es unmöglich ist, die beiden Bilder voneinander zu trennen, so lange dieselben sich in der Mitte der Pupille befinden.

Das dritte PuREiKJEsche Bild entsteht aus Strahlen, welche auTser der Beflexion an der vorderen Fläche der Linse noch zwei Befraktionen an der vorderen Fläche der Cornea erfahren haben. (Dem Beispiele von Helmholtz folgend, wollen wir hier und im folgenden die Differenz der Brechnngs- koeffizienten der Cornea imd des Humor aq. vernach- lässigen.)

ist, wenn es mit Ä zusammenfällt; das ist aber nur der Fall, wenn das Mikroskop auf die spiegelnde Fläche oder auf deren Krümmungsmittel- punkt eingestellt Ist. Die Verschiebimg zwischen den beiden Einstellungen, in denen man das Bild deutlich sieht, giebt also die Gröise des Krüm- mungsradius an. In Wirklichkeit benutzt nun Blix nicht ein leuch- tendes Fadenkreuz, sondern nimmt zwei Mikroskope, deren Axen einen sehr spitzen Winkel mit einander bilden und welche auf denselben Punkt eingestellt sind. In einem der Mikroskope ist das Okular ent- fernt und das Fadenkreuz durch einen beleuchteten Spalt ersetzt.

Mit diesem Instrument konnte Blix das zweite PuBxnrjESche Bild beobachten und Messimgen über die Dicke der Hornhaut ausfCQiren; die Werte, welche er dafür erhält, sind sehr geriar! wa awisohen

0,482 und 0,668 mm.

440 -3f* Tscheming,

Der vordere Scheitel der E[rystalliiise, welcher 3,6 mm hinter dem Scheitel der Cornea gelegen ist^ erscheint anf 3,05 mm vor- gerückt, das Centrum dieser Fläche hingegen von 13,6 anf 18,09 TTiTn zurückgeschoben zu sein. Der scheinbare Ejrümmungs- radius ist also anderthalb Mal gröfser als der wahre (16,01 anstatt 10.)^

Der Brennpunkt befindet sich ungefähr 10 mm hinter dem Scheitel der Cornea oder 7 mm hinter der Pupille. Dieses Bild ist mithin viel weiter nach hinten gelegen als die drei anderen PuBKiNJEschen Bilder, welche annähernd in der Papilla^ ebene erscheinen.

Wegen seiner tiefen Lage muTs dieses Bild auch leicht hinter dem Pupillarrande verschwinden, sobald der Beobachtete die Blickrichtung ändert. Damit es sichtbar bleibe, mufs die Pupille des Beobachters in der Verlängerung des £egels liegen, der das Bild zur Spitze und die Pupille des Beobachteten cor Basis hat.

Die Lichtstärke des Bildes ist übrigens, wie ans unserer Tabelle hervorgeht, selbst wenn man sehr starke Lichtquellen gebraucht, immer noch recht schwach. Man kann das Bild jedoch recht leuchtend machen, wenn man den Einfallswinkel vergröfsert. Befindet sich eine sehr peripherisch gestellte Lichtquelle auf der einen und das Auge des Beobachters in gleicher Entfernung auf der entgegengesetzten Seite, so wird das Bild zwar sehr leuchtend, behält jedoch immer noch diffuse Konturen. Es nimmt unter diesen umständen eine längliche Form an und wird sehr grofs. Ich will noch hinzu- fügen, dafs die Veränderungen der GröJbe des Bildes während der Accommodation sich hier sehr gut beobachten lassen. Das Bild wird um ein Drittel seiner Gröfse oder auch mehr kleiner.

Das dritte Bild ist das gröfste der katoptrischen Bilder. Man überzeugt sich leicht davon, wenn man 2 Lichtquellen anwendet und den zwischen diesen liegenden Kaum als Objekt gebraucht, um sich über die Lage der Bilder [Rechenschaft zu geben, ist es übrigens vorteilhaft, 2 Lichtquellen zu ge-

* Ist die Cornea astigmatisch, so ist diese Vergröfserung stärker in dem am stärksten brechenden Meridian. Die scheinbare Fl&che wird in diesem Falle astigmatisch« selbst wenn die wirkliche sphärisch ist; ihr Astigmatismus ist dem der Cornea entgegengesetzt.

Beiträge eur Dioptrik des Auges. 441

brauchen, welche eine bestimmte Lage zu einander besitzen, z. B. sich auf derselben Horizontalen befinden.

Das Bild ist nie sehr scharf, was wohl daran liegt, dafs man mehrere Bilder übereinander sieht, die durch Beflexion an den verschiedenen Schichten der Linse entstanden sind. Das vierte Bild läfst jedoch nichts an Schärfe zu wünschen übrig, obgleich es ebenfalls aus mehreren übereinander liegenden Bildern bestehen mufs. Diese sind aber auch mehr auf einen Punkt zusammengedrängt, da der scheinbare Krümmungsradius der hinteren Fläche viel kleiner ist als derjenige der vorderen Fläche.

Wenn das leuchtende Objekt eine runde Form besitzt, so ist das Bild ebenfalls rund, und zwar besonders dann, wenn es sich in der Mitte der Pupille befindet. Nähert es sich aber dem Bande der Linse, was natürlich eine stark erweiterte Pupille voraussetzt, so verlängert es sich in der radiären Bichtung, was andeutet, dafs die Krümmung der reflektierenden Fläche in dieser Bichtung geringer ist als in der darauf senkrechten. Dieses könnte auf eine Abflachung der vorderen Linsenfläche gegen die Peripherie hin deuten. Es ist aber wahrscheinlich, dafs diese Abflachung, wenigstens zum Teil, nur eine schein- bare ist.

Wir werden weiter unten erfahren, wie man dieses Bild zur Bestimmung der Lage der scheinbaren Fläche und ihres Centrums benutzen kann. Um sich dieser Werte zur Be- stimmung der wahren Fläche zu bedienen, mufs man das vor derselben gelegene Brechungssystem kennen. Hierzu hat man nur den Krümmungsradius der Hornhaut und den Brechungskoeffizienten des Humor aqueus nöthig. Der erstere ist vermittelst eines Ophthalmometers zu messen und der letz- tere ist mehrfach und mit so geringen Abweichungen bestimmt worden, dals man denselben als hinreichend bekannt betrachten kann.

Das vierte, durch Beflexion an der hinteren Linsenfläche entstandene PuBEiNJEsche Bild ist im Gegensatz zu den drei anderen ein umgekehrtes.

Wir wollen mit Hblmholtz annehmen, dafs die hintere Linsenfläche von der Linse durch eine feine Schicht von Glaskörper getrennt wird. Das Brechungssystem, welches mit der reflektierenden Fläche vereinigt wird, ist folglich

442 ^- Tscheming.

nichts anderes als das ganze optische System des Anges. Die Bechnung zeigt, dafs das Centmm der scheinbaren Fl&che nur mn 0,10 nun (von 1,20 mm auf 1,10 mm), die Fläche Beühi aber um 0,38 mm vorgerückt erscheint (von 7,20 mm auf 6,82 mm). Der Badins ist mithin nur um 0,28 (von 6 mm auf 5,72 mm) verkürzt. Die Veränderung ist also sdir klein. Dieser umstand erleichtert die Messung der hinteren Fläche. Man müTste eigentlich, um die reelle Fläche aus den Werten der scheinbaren Fläche zu berechnen, alle optische Konstanten des Auges kennen. Da indessen der Unterschied zwischen der reellen und scheinbaren Fläche kein groCser ist, so begeht man keinen groisen Fehler, wenn man dieselben als identisch betrachtet.

um eine gröfsere Genauigkeit zu erzielen, kann man die gewonnenen scheinbaren Gröfsen mit Hülfe der optischen Konstanten des schematischen Auges reduzieren. So erhüt man Werte, welche nur wenig von der Wahrheit abweichen und welche auf dem Wege der aUmählichen Annäherung nooh genauer berechnet werden können. Wir werden uns aber im folgenden einer etwas abweichenden Methode bedienen.

Das in Frage stehende Bild ist klein aber scharf; seme Helligkeit ist gröfser als die des dritten Bildes. Fast in der Pupillarebene gelegen, ist es gewöhnlich leicht zu beob- achten. Strahlen, welche von einem entfernten Objekte aus- gehen, treffen auf der hinteren Fläche einen Fleck von der Ausdehnung der Pupille. Die hiervon zurückgeworfenen Strahlea kommen im Brennpunkt zur Vereinigung und bilden, indem sie aus dem Auge treten, einen Kegel, in welchem das Auge des Beobachters sich befinden muTs, um das Bild wahrnehmen zu können. Da der Brennpunkt sich nahe der PupiUenebene befindet, so ist die Öffnung des Kegels (das Feld der Sicht- barkeit des Bildes) auch viel gröfser als die des dritten Bildes. Bewegt man das leuchtende Objekt, so sieht man häufig das vierte Bild verschwinden, ehe es den Irisrand erreicht hat, wenn der Lichtkegel nämlich seine Lage derart verändert hat, dafs in ihn nicht mehr die Pupille des Beobachters hineinfallt.

Das fünfte und das sechste Bild entstehen durch zwei aufeinander folgende Zurückwerf ungen. Die Strahlen, an einer der Linsenflächen reflektiert, werden darauf von neuem

Beiträge eur Dioptrik des Auges, 443

von der konkaven Seite der vorderen Homhautfläclie zurück- geworfen. Die Strahlen, welche das sechste Bild erzeugen, durchdringen auf diese Weise zweimal das brechende System des Auges. Die optischen Systeme, welche diesen Bildern entsprechen, sind recht zusammengesetzt. Man kann sie jedoch durch einfachere ersetzen.^

Da die Berechnung durchaus keine Schwierigkeit hat, so will ich mich der Kürze wegen darauf beschränken, hier nur die Endresultate derselben, wie sie sich in der Tabelle I angegeben finden, anzuführen. Es zeigt sich, dafs man auf diese Weise vollständige Brechungssysteme entdeckt, in welchen die zu einander gehörenden Kardinalpunkte sich nicht in einem Punkte vereinigen.

Aus der Tabelle geht hervor, dafs der hintere Brennpunkt des fünften Systems sich 6,7 mm hinter dem Scheitel der Cornea, d. h. nahe der hinteren Linsenfläche,^ befindet, diese letztere liegt aber noch weit von der Betina entfernt. Das mufs auch der Grund sein, weshalb sich dieses Bild an einem künstlichen Auge sehr gut beobachten läfst, während es am lebenden Auge unsichtbar bleibt. Es ist mir wenigstens nicht gelungen, dasselbe zu erblicken.^

Freilich müssen auch die Strahlen, welche von einem in dieser Gegend gelegenen Bilde kommen, bevor sie die Betina erreichen, so sehr zerstreut werden, dafs es unmög- lich ist, dasselbe noch wahrzunehmen. Bewegt man in einem dunkeln Zimmer, nicht weit vom Auge entfernt, eine Kerze von aufsen nach innen, so sieht man sogleich, wenn dieselbe in das Gesichtsfeld tritt, dieses sich in der Weise

^ Die Formel dazu findet sich in Helmholtz, Physiol Optik. 2. Aufl. S. 78—79.

' Heüse bemerkt in seiner Mitteilung über das sechste Bild (Gräfes Arch, Bd. 18. (2)), dafs er einen Schein neben dem nützlichen Bilde gesehen zu haben glaubt. Ähnliches hat Herr Hjalmab Schjötz bei Wiederholung des Experimentes beobachtet, als er auf meine Ver- anlassung den eben beschriebenen Versuch ausführte. Ein mir be- kanntes myopisches Auge von sechs Dioptrien erblickt in der Nähe des Fixationspunktes einen recht scharf begrenzten Lichtschein, wenn sich eine Kerzenflamme in etwa 80 cm Abstand und stark nasalwftrts be- findet. Ändert man die Stellung der "Wlaoo^ r Xiichtschein in derselben RichtuBg. ^ unser fünftes Bild sein?

444 -V* Tscheming,

verdunkeln, daTs die Gegenstände, welche sich im Grande des Zimmers befinden und nur sohwacli von der Kerze belenohiet werden, wahrscheinlicli infolge der Blendung des Auges ver- schwinden. Indem man nun fortfährt die Kerze gegen die Gesichtslinie zu bewegen, bemerkt man, wie sich in einem be- bestimmten Augenblicke das Gesichtsfeld mit einem leuchten- den, leicht rötlich gefärbten Nebel erfüllt, in welchem das sechste sogleich zur Sprache kommende ßild erscheint. Der leuchtende Nebel hat verschiedene Ursachen. Er ist zum Teil Licht, welches, von dem BetinabUde kommend, diffus zurück- geworfen, die übrigen Teile der Betina trifft. Aufserdem ist es aber auch Licht, welches, von demselben Bilde kommend, von der Cornea aufs neue zur Betina reflektiert wird. Das diffuse Licht des fünfben Bildes wird diesem leuchtenden Nebel hinzugefügt. Ich habe auf verschiedene Weise, aber ver- geblich versucht, dieses Bild trotzdem sichtbar zu machen. Durch Bechnung weifs man, das von einem leuchtenden Punkte, welcher sich in geringer Entfernung hinter der Cornea befindet, das fünfte Bild auf der Betina entsteht. Versucht man aber, auf optischem Wege einen leuchtenden Punkt in dieser Gegend zu entwerfen, so erscheint sein nützliches Bild in Zerstreuungs- kreisen von solcher Gröfse, dafs es unmöglich wird, andere Dinge zu unterscheiden. Auch der Versuch, das Bild dadurch sichtbar zu machen, dafs ich auf eine sehr stark leuchtende Lichtquelle durch ein kleines Diaphragma blickte, war von dem- selben Mifserfolge begleitet. Es ist zu berücksichtigen, dafs es in der Nachbarschaft des nützlichen Bildes erscheinen mülste, was die Beobachtung noch schwieriger macht als sie ohne- dies ist.

Der Brennpunkt des sechsten Systems befindet sich dagegen nahe der Betina, wodurch das Bild leicht zu beobachten ist Ungeachtet dessen ist es immer noch wenig bekannt. Ich habe es als neu entdeckt vor Kurzem beschrieben.^ Von Herrn Prof. König bin ich aber auf eine frühere Abhandlung von 0. Bbckbr* aufmerksam gemacht worden, aus der hervor- geht, dafs Coccius zuerst dieses Bild beobachtet hat. Dieser

^ M. TscHBRKiNo, Theorie des Images de Purkinje et d6scription d'une nouvelle Image. Ärch. de Physiologie, avril. 1891. p. 357.

' 0. Becker, Über Wahrnehmung eines Beflexbildes im eigenen Auge. Wiener med. Wochenschrift 1860. S. 670—672 und 684—688.

Beiträge zur Dioptrik des Auges, 445

fährte es auf eine Doppelreflexlon an der Hyaloidea zurück. Das würde also das Betinalbild selbst sein, welches sich in der Hyaloidea widerspiegelt und so auf einem anderen Punkt der Betina sichtbar wird. Becker zeigte in seiner Arbeit die ünhaltbarkeit dieser Erklärung und giebt die richtige and ausfuhrliche Theorie des Phänomens. Heuse^ beschreibt «s 1872 von neuem und giebt eine der Coociusschen ähnliche Erklärung von demselben, sowie die leichteste Methode, dasselbe zu beobachten.

Entfernt man nach diesem Autor in einem dunklen Zimmer eine Kerze von der Sehlinie, so sieht man ein lichtschwaches Bild der Plamme erscheinen, das stets eine in Bezug auf die Sehlinie zur Kerzenflamme annähernd symmetrische SteUung einnimmt. Es ist hinreichend lichtstark, um sich davon überzeugen zu können, dafs es ein umgekehrtes Bild der Flamme darzustellen 6cheint. (Durch Projektion nach auisen erscheint das Bild umge- kehrt, ist aber in Wirklichkeit ein aufrechtes.) Nicht allen Beobachtern erscheint dieses Bild in derselben Schärfe. Es giebt selbst sehr erfahrene Beobachter, welche dasselbe nicht sehen können, wobei wahrscheinlich Unterschiede in der Tiefe der vorderen Kammer sowie in der Befraktion des Auges eine Holle spielen.

Zum genaueren Studium dieses Bildes ist es vorteilhafter, «ich meines Ophthalmophakometers zu bedienen, durch welches ich dasselbe auch entdeckt habe. Wir werden weiter unten näher darauf eingehen; hier will ich nur die Aufmerksamkeit auf die verschiedene Form lenken, welche das Bild je nach der seitlichen Entfernung der Lichtquelle vom fixierten Punkte annimmt. Bei einer Entfernung von ungefähr 10^ ist das von einem runden Objekt z. B. einer Glühlampe, die sich im Brennpunkte einer starken Linse befindet, herrührende Bild Tund. Vergröfsert man diese Entfernung, so wird das Bild sehr scharf und nimmt die Gestalt eines vertikalen Bandes an, wenn die Lampe sich in derselben Horizontalebene wie der Fixationspunkt befindet; durch eine Accommo- dationsanstrengung wird es in ein horizontales Band ver- wandelt. Befindet sich die Lampe noch näher der Peri-

^ Heüse, Über die Beobachtung einer neuen entoptischen Erschei* nung. Gräfes Archiv. Bd. 18. Abtl. 2. S. 236.

Zeitsehiüt fOr Psychologie m. 29

446 ^* Tseheming.

plierie, 80 erscheint das Bild in Gestalt eines horizontalen diffusen Bandes, welches durch eine Accomodationsanstrengniig schärfer gemacht werden kann. Diese verschiedenen Formen hängen wahrscheinlich von der astigmatischen Deformation ab, welche die Strahlenbündel infolge der verschiedenen Befirak- tionen und [Reflexionen mit sehr schrägem Einfallswinkel er- leiden« Sie sind auch zu beobachten, wenn man sich der Sonne als Lichtquelle bedient.

Man kann das Bild auch mit Hülfe der Methode zu Gesicht bekommen, welcher man sich bei Beobachtung entoptischer Er- scheinungen bedient. Konzentriert man vermittels einer Linse das Licht einer Lampe auf eine kleine Öffnung und nähert das Auge derselben, so erscheint sie in Gestalt einer leuchtenden Scheibe. Fixiert man den Sand dieser Scheibe, so sieht man das sechste Bild auf schwarzem Ghrunde erscheinen, um es scharf sehen zu können, mufs man eine bedeutende Accommodations- anstrengung machen.^

Wir haben anfangs bemerkt, das Auge sei darin allen dioptrischen Instrumenten überlegen, dais der Betrag des ver- lorenen und des schädUchen Lichtes so ungemein gering sei. Würde das sechste Bild nicht eine so schwache Leuchtkraft besitzen, so könnte es der Nähe der Betina wegen leicht eine Störung verursachen.

Auf die Eigenschaften des siebenten (nützlichen) Bildes gehen wir nicht ein, weil dieselben für die Fragen, welche wir in dieser Abhandlung besprechen nur von nebensächlichem Interesse sind.

^ Bei Anstellung dieser Experimente war ich erstaunt, mit welcher Schärfe man die Processus ciliares iridis zu Gesicht bekonmit. Man sieht die leuchtende Scheibe umgeben von einem Kranz schwarzer Stäbe, deren Anzahl 60 bis 80 zu sein scheint und welche voneinander durch leuch- tende Zwischenräume von bräunlicher Farbe getrennt werden. Die Teile der Iris, welche den zwischen den Ciliarfortsätzen liegenden Bäumen ent- sprechen, lassen nämlich einen Teil des Lichtes durch. Dieses Phä- nomen kann vielleicht auch, wenn man der sphärischen Aberration des Auges Bechnung trägt, das unter dem Namen „Haarstrahlenkranz" von Helmholtz beschriebene Phänomen erklären. Wenn die kleine leuch- tende Öffnung soweit entfernt wird, dafs die Scheibe zu einem Punkte sich zusammenzieht, nähern sich die Zwischenräume einander so sehr, dafs das Licht interferieren kann. Bierdurch entsteht die unendliche Anzahl von sehr feinen Strahlen, welche man im Haarstrahlenkranz beobachtet.

Beiträge zur Diopirik des Auges*

447

Die nebenstehende Fig. 2 zeigt die Lage dieser sieben be- sprochenen Bilder im menschlichen Auge, und zwar von einem Objekte, welches sich in der Unendlichkeit 20^ nach unten von der Augenaxe entfernt befindet.

Fig. 2,

n.

Beschreibung und Gebrauch des Ophthalmophakometers.

Ich habe dem Instrument, welches mir zu der vorliegenden Untersuchung gedient hat, den Namen Ophthalmophako- meter gegeben, weil es zur Messung der Krümmungsradien der Linsenfiächen bestimmt ist. Das Instrument (Fig. 3) besteht aus einem DreifuTs, der ein kleines Femrohr trägt. An diesem Femrohr ist ein um seine Axe beweglicher Messingbogen von 86 cm Badius befestigt. Das' Centrum des Bogens ist zu gleicher Zeit der Ort für das zu untersuchende Auge und der Punkt, auf welchen das Femrohr eingestellt werden mufs. Diese sinnreiche Einrichtung ist dem Ophthalmometer von Javal und ScHJÖTz entlehnt. Der Kopf der zu beobachtenden Person wird von einem Kopfhalter getragen, dessen Kinnteil derart gehoben und gesenkt werden kann, dafs man stets im Stande ist, dem beobachteten Auge die geeignete Stellung zu geben. Die Schraube des Dreifufses erlaubt, die Femrohraxe genau auf das Auge zu richten, so dafs dieses in der Mitte des Gesichtsfeldes erscheint.

29*

448

1 Tacheming.

Der Bogen ist 30 diagerichtet, dafa man anf ihm tuub- hängig Toneinander drei Schieber gleiten lassen kann, tind swu:

1. einen Schieber Ä, welcher eine elektriaohe G-lflhlBmpe trägt,

2. einen Schieber JS, welcher einen senkrecht znr Ebene des Bogens gerichteten Stab trägt, an dessen beiden Enden je eine Olühlampe angebracht ist,

3. einen Schieber C, welcher gleichfalls einen senkreohteii Stab trägt, auf welchem eine ala Fixationsmarke dienende glänzende kleine Kugel gleitet. Mitunter ist es der Blendung de« beobachteten Auges wegen notwendig, diese Kttgel durch eioe kleine Glühlampe zu ersetzen.

i!^*

Jede Lampe ist in eine kleine, an einem Ende verschlossene messingene Bohre eingeschlossen. Die nach vom gekehrte Öff- nung enthält eine plankonvexe Linse, deren plane Fläche gegen die Lampe gekehrt ist. Indem man dieselbe vor- oder zurfick- schiebt, kann man die austretenden Strahlen nach Wunsch parallel oder konvergierend machen. Die Lampen, welcher ich mich bediene, sind recht klein, bedürfen 6 oder 8 Volt Spanuiug

Beiträge zur Diaptrik des Auges. 449

und eine Stromstärke von ein oder zwei Ampere. Durch Ein- und Aussclialten von Widerständen ist es möglich, ihre Leucht- kraft zu verändern.

Jedem dieser Schieber kann man jede beliebige Stellung an dem Bogen geben. Letzterer ist in Zehntel-Grade geteilt, deren Nullpunkt der Axe des Femrohres entspricht. Jeder Grad hat eine lineare Länge von 15 mm.

Man beoachtet vermittelst des kleinen astronomischen Femrohres. Das Fadenkreuz hat die Gestalt eines rechtwink- ligen Doppelkreuzes. Die Arme werden gebildet von je zwei parallelen Fäden, von denen das eine Paar dem Bogen parallel, das andere aber senkrecht zu dieser Sichtung gestellt ist. Das Objektiv hat eine ÖflFhung von 22 mm (1*^,5 vom beobachteten Auge). Die Vergröfserung ist eine ungefähr 12malige. Das Gesichtsfeld beträgt 35 mm (2^,35), enthält mithin ungefähr 3 mal den Durchmesser der Cornea.

Ich habe, wie man sieht, die Entfernung des Instrumentes vom beobachteten Auge aus zwei Gründen recht grofs gewählt. Wir haben zunächst gesehen, dafs das dritte Bild bedeutend hinter den drei übrigen zurücksteht, welche annähernd in der Pupillarebene gelegen sind. Ist das Femrohr in geringer Ent- fernung vom untersuchten Auge aufgestellt, so kann man nicht alle drei Bilder auf einmal scharf einstellen, ein Übelstand, welchen man fa>st vollständig dadurch beseitigen kann, dafs man sich weiter ab setzt. Die grofse Entfernung hat aber auch noch einen anderen Vorteil. Die Messungen, welche ich mit dem In- strumente mache, sind in erster Linie Winkelmessungen. Bei hinreichend grofsem Abstände, kann man das ganze Auge als Centrum des Bogens ansehen und hat sich nicht um den Ort zu kümmern, wo sich die verschiedenen Linien im Auge be- gegnen. Die Scheitel der verschiedenen Winkel sind auf diese Weise in einem Punkte vereinigt. Das ist um so wichtiger, als die Gesichtslinie als Ausgangspunkt für die meisten Mes- sungen dient, und die Bichtung dieser sich nicht genau be- stimmen läfst. Sie wird gewöhnlich als die Gerade bezeichnet, welche den Fixationspunkt mit dem ersten Knotenpunkt ver- bindet. Letzterer kann aber experimentell nicht bestimmt werden.

Obgleich die Methoden, deren wir uns bedienen, unter- einander mehr oder weniger di£Ferieren, so haben sie doch einige gemeinsame Prinzipien, welche wir beständig anwenden.

450 ^' Tscheming.

Um unsere späteren Auseinandersetzungen abzukürzen, wollen wir sie hier beschreiben.^

A. Methode, um die Normale zu einer Fläche

zu suchen.

Angenommen, wir beobachten die Fläche durch ein Fern- rohr, dessen Objektivmittelpunkt leuchtend sei, die Fläche erzeuge ein katoptrisches Bild; dieses letztere erzeugt dann wiederum ein anderes in der Ebene des Fadenkreuzes, welches wir durch das Okular beobachten. Die Gerade, welche dieses letztere BUd mit dem Mittelpunkt des Objektivs verbindet, iit senkrecht auf der Fläche. Indem man auf geeignete Weise so lange die Stellung des Femrohrs oder der Fläche verändert, bis man das Bild in der Mitte des Gesichtsfeldes erblickt, gelangt man dazu, die Femrohraxe zur Fläche senkrecht zu stellen. Es irt nun nicht praktisch, einen leuchtenden Punkt in der Mitte des Objektivs zu befestigen, aber man kann, wenn man die Methode ein wenig verändert, sehr gut die Normale bestimmen. Zu- nächst gebe ich an unserem Instrument dem Bogen eine hori- zontale Lage. Nachdem der Schieber A auf Null gestellt und die Lampe angezündet worden ist, verändere ich die Stellung des Instrumentes so lange, bis ich das Bild im vertikalen Meridian des Gesichtsfeldes zu sehen bekomme. Das Einfallslot befindet sich jetzt mit der Axe des Femrohres in derselben Ebene und bildet mit ihr einen sehr kleinen Winkel (1^ bis 2^), da die Lampe sich nahe am Femrohr befindet. Will man die beiden Linien genau zusammenfallen lassen, so muls man den Bogen um 90^ drehen und das Femrohr so lange in der vertikalen Ebene verrücken, bis das Bild der Lampe im horizontalen Meridian des Gesichtsfeldes erscheint. Die Axe des Femrohrs ist nunmehr senkrecht auf der Fläche.

B. Methode zur Bestimmung des gemeinsamen Lotes zweier hintereinander liegenden durchsichtigen und

reflektierenden Flächen.

Wir bezeichnen die erste Fläche mit S^, die zweite mit S*. ihre Badien mit R^ und R^ und nehmen an, die erste Fläche

^ Ich werde im Folgenden annehmen, dafs die Flächen sphärische seien, oder dals wenigstens die Teile derselben, mit denen man arbeitet, als solche betrachtet werden können. Wenn die Cornea astigmatisch ist, mufs man die Mafse in den Hauptmeridianen nehmen.

Beiträge zur Diaptrik des Auges, 451

habe keinen Einfluls auf die durchgehenden Strahlen oder, wie wir uns ausdrücken, die zweite Fläche sei eine schein- bare.

Wird vorausgesetzt, dals die Mitte des Fernrohrobjektivs leuchtend ist, so hat die Lösung der Aufgabe, wie aus dem be- reits Gesagten hervorgeht, keine Schwierigkeiten. Man würde nur die beiden katoptrischen Bilder des leuchtenden Punktes in der Mitte des Feldes miteinander zusammenfallen lassen müssen, um der Axe des Femrohres die Bichtung der auf beiden Flächen senkrechten Linie zu geben.

Die Methode sei angewandt auf zwei beliebige optisch wirksame Flächen des Auges. Ich mache dann die Bestimmung, indem ich die rechtwinkligen Koordinaten des Fixationspunktes im Verhältnis zur gemeinsamen Senkrechten feststelle. Nachdem der Schieber B auf Null gestellt und die Lampen angezündet worden sind, stelle ich den Bogen horizontal. Hierauf wird der Schieber C, welchen der Beobachtete fixieren muls, so lange ver- schoben, bis man die vier Bilder untereinander im vertikalen Meridian erblickt. Die Winkelentfemung rr, von C bis Null, be- zeichnet dann den Winkel zwischen der Gesichtslinie und einer vertikalen Ebene, die das gemeinsame Lot enthält. Dann wird der Bogen vertikal gestellt, und ich verschiebe aufs neue den Schieber C, bis die vier Bilder in einer Linie erscheinen. Durch eine geringe Verschiebung im vertikalen Meridian komme ich dazu, dieselben in den horizontalen Meridian des Gesichtsfeldes zu verlegen, wenn sie sich nicht schon in demselben befinden sollten. Die Winkelentfemung y, von C bis Null, bezeichnet den Winkel, den die Gesiohtslinie mit der horizontalen Ebene bildet, in welcher das gemeinsame Lot liegt. Wenn man die beob- achtete Person einen Punkt fixieren lälst, welcher vom Bogen unabhängig ist, und welcher so gelegen ist, dals seine Koordi- naten, bezogen auf den Nullpunkt des Instrumentes, x und y sind, so fallt die Axe des Femrohres mit dem gemeinsamen Lote zusammen, und die vier katoptrischen BUder verbleiben in einer Linie, welche Stellung man auch dem Bogen giebt.

C. Zweite Methode, das gemeinsame Lot auf zwei

Flächen zu bestimmen.

Es giebt noch eine andere Methode, auf indirektem Wege die Bichtung des zweien Flächen gemeinsamen Lotes zu bestimmen,

452 -2lf. Tscheming.

die aber voraussetzt, dafs die Bilder der zwei Pläclieii^ wenigstens annähernd in demselben Abstand vom Scheitel der ersten Fläche sich befinden^ wie es zum Beispiel mit den Bildern der beiden Homhautflächen det Fall ist. Ange- nommen die Ebene, welche die Gesichtslinie und das beiden Flächen gemeinsame Lot enthält, sei bekannt; ich stelle dann den Bogen in diese Ebene, den Beobachteten ersuchend, in die Sfitte des Femrohr-Objektivs zu blicken. Der Schieber Ä befindet sich in einer gewissen Entfernung von dem Femrohr. Sein Ort sei mit Ä^y seine Entfernung vom Nullpunkte mit a^ bezeichnet. Nachdem die Lampen angezündet worden sind, wird der Schieber B so lange verschoben, bis die Bilder von B^ welche von der Fläche S^ gebildet werden, sich auf derselben Geraden mit dem Bilde von -4, welches von der Fläche S^ entsteht, befinden. Ich bezeichne diesen Ort von B mit B^ und seine Winkelentfemung vom Nullpunkt mit b^. Ich wiederhole nunmehr dasselbe Experiment, die Schieber auf die andere Seite stellend. Ihre neuen Orte seien mit A^ und B^ und ihre Winkelentfemungen vom Nullpunkt mit a^ und b^ bezeichnet. Nimmt man den Baum zwischen den beiden Orten eines jeden Schiebers als Objekt, so sieht man, dafs das Bild von Ä^ Ä^y von der Fläche 8^ gebildet, gleich ist dem Bilde von B^ B^^ von der Fläche 8^ gebildet. Die Badien der beiden Flächen müssen folglich umgekehrt proportional den Objekten sein, und man wird erhalten :

Ä, JB^JB, 6, + 6, ^'^

Bezeichnen wir nunmehr mit X die Stelle, wo das gemeinsame Lot den Bogen trifft, und mit x seine Winkelentfemung vom Null- punkt, so ist es klar, dafs, wenn man eine Lampe in X auf- stellt, die beiden Bilder zusammenfallen werden. Man kann daher A^X als Objekt für die Fläche iSgUnd JB^Xals Objekt für die Fläche 8^ betrachten. Da die beiden Bilder gleich sind, so hat man:

Il^_A^X_a^+x B^~B,X~b,+x ^ ^'

Diese beiden Gleichungen, miteinander vereinigt, geben

Beiträge zur Dioptrik des Auges. 453

^^ «1 *2 «2 \

«1 + «2 (*1 + 62)'

Im allgemeinen kann man die der Gesichtslinie und der gesuchten Linie gemeinsame Ebene nicht als bekannt annehmen. Ist dieses nicht der Fall, so mnfs man auf die angedeutete Weise noch eine andere Ebene, z. B. die horizontale, bestimmen, welche ebenfalls die gesuchte Linie enthält.

Die Methode empfiehlt sich als Kontrolle der ersten Methode und ist besonders da wichtig, wo aus irgend einem Grunde die erste Methode schwer oder unmöglich anzuwenden ist. Weiter unten werden wir übrigens (S. 479) eine andere Anwendung des- selben Prinzipes kennen lernen.

D. Bestimmung des Einfallswinkels, welchen ein Strahl mit einer der Flächen bildet, wenn derselbe

auf der anderen senkrecht ist.

Nehmen wir zunächst wiederum an, dafs der Mittelpunkt des Objektivs leuchtend sei, so entstehen zwei katoptrische Bilder. Wir wollen aber nur das von der Fläche S^ erzeugte berück- sichtigen und dasselbe in die Mitte des Gesichtsfeldes bringen. Wenn ich nun einen zweiten leuchtenden Punkt so lange be- wegOj bis sein von der Fläche S^ erzeugtes Bild mit dem von Sg erzeugten Bilde des Centrums des Objektivs zusammen- fallt, so ist die Winkelentfemung zwischen den beiden leuch- tenden Punkten gleich dem Doppelten des gesuchten Winkels.

Man führt das Experiment so aus, dafs man den Schieber A auf Null stellt und den Schieber B so lange verrückt, bis das von Sg erzeugte Bild von Ä in einer Linie mit den von 8^ erzeugten Bildern der Lampen des Schiebers B erscheint.

um ein möglichst genaues Besultat zu erzielen, würde es natürlich notwendig sein, der Fixationsmarke eine solche Stellung zu geben, dafs die gemeinsame Senkrechte sich in der Ebene des Bogens befindet. Ebenso mufs die Axe des Femrohrs nach der Methode Ä senkrecht auf S, gestellt werden. Im all- gemeinen begeht man nur einen geringen Fehler, wenn man diese Bedingungen vernachlässigt.

454

Tscheming.

E. Bestimmung des Krümmungsmittelpunktes einer

Fläche. Alle Mafse, welche wir mit einem Instrumente wie dem Ophthalmophakometer erhalten, sind stets Winkelmalse. Sie reichen aus zur Feststellung einer gewissen Anzahl von Zahlen, welche notwendig sind, um eine richtige Vor- stellung von der Dioptrik des Auges zu erhalten, wie z. B. die Bichtung der Centrierungslinie im Verhältnis zur G-esiohtslinie,

Fig. 4.

die Öfihungswinkel der brechenden Flächen u. s. w. um aber die Lage und die Krümmimg der Flächen bestimmen zu können, mufs uns wenigstens eine lineare Gröfse bekannt sein. Dieses gut auch fiir die Ophthalmometrie der Cornea, bei welcher die lineare Gröüse der Verdoppelung zum Ausgangspunkte dient. Für unsere Messungen wollen wir hierzu den Ejiimmungs- radius der vorderen Fläche der Cornea benutzen, welchen wir mit Hülfe eines Ophthalmometers messen wollen. Will man nicht sehr genaue Messungen vornehmen, so kann man sich, besonders wenn es sich nicht um sehr grofse Ö£Fhung8winkel handelt, auf den Ejrümmimgsradius im Mittelpunkt der Cornea

Beiträge gur Dioptrik des Auges. 455

beschränken. Verlangt man aber möglichst genaue Messungen, so muüs man diese Badien von 5^ zu 5^ auf der ganzen Länge des Meridians bestimmen, in welchem mem arbeitet.

Man bestimmt zunächst nach den Methoden B oder C die zugleich auf der vorderen Homhautfläche und der in Frage stehenden Fläche Senkrechten, verstellt darauf die Fixations- marke C, bis die gemeinsame Senkrechte sich in der Ebene des Bogens befindet und einen willkürlichen Winkel a mit der Femrohraxe bildet. Die Lage des Bogens ist je nach dem Meridian, den man zu messen wünscht, ebenfalls willkürlich. Man stellt A auf Null ein, zündet die Lampen an und bestimmt nach der Methode D den Einfallswinkel der Femrohraxe b. Wir kennen nunmehr im Dreieck C^ 0 C^ (Fig. 4) die Winkel a und b und die Seite C^O^=B^. Dieses erlaubt uns, die anderen Teile des Dreiecks zu finden.

* " ^ sm a ' * * sm a

F. Die Bestimmung der Lage des Scheitels

einer Fläche.

Nachdem wir die gemeinsame Senkrechte in die Ebene des Bogens gebracht haben, stellen wir die Fixationsmarke so, dafs sie (Fig. 5) einen willkürlichen Winkel c mit der Femrohraxe bildet. Der Schieber A wird auf der anderen Seite ebenfalls um c von der gemeinsamen Normalen entfernt. Hierauf bringt man das von S^ ausgehende Bild von A in die Mitte des Gesichtsfeldes und bestimmt nach der Methode D den Einfalls- winkel der Femrohraxe d.

Wir erhalten also die Gleichungen:

C,0, = jB,?^und

Diese beiden soeben ausgeführl^en Bestimmungen reichen hin, um die Fläche kennen zu lernen, wenn dieselbe als sphärisch

456

M. Tscheming.

betrachtet werden kann. Würde die Fläche astigmatisch sein, so hätte man die unter E beschriebene Messung in anderen Meridianen zu wiederholen.

Fernrohr

Fig, 5,

G. Bestimmung der Lage des katoptrischen Brenn- punktes einer Fläche.

Zuweilen erscheint es nützlich, zur Eontrolle der von uns ausgeführten Messungen die Lage des Brennpunktes zu be- stimmen. Zu diesem Zwecke mufs man der Lampe des Schiebers A eine solche Lage geben, dafs die heraustretenden Strahlen untereinander parallel sind, wobei die Lampe sich in der ver- längerten gemeinsamen Normalen und in einer willkürlichen Winkelentfemung e (Fig. 6) von der Femrohraxe befinden muis. Man richtet das Femrohr auf das von S^ gebildete katoptnsche Bild der Lampe von Ä und bestimmt nach der Methode P den Einfallswinkel der Femrohraxe auf die Cornea. Man erhält ebenso wie vorher die Gleichungen:

OF=R,'^[' + ^,

sm e

Beiträge gur IHoptrik des Auges, 457

^ * Sin e

Diese letzten Messungen sind zuweilen ein wenig schwierig zu machen, weil die Fixationsmarke sich häufig so nahe der Lampe von Ä befindet, dafs es dem Beobachteten der Blendung wegen schwer fallt, die Fixationsmarke zu sehen.

c.

Fernrohr

Fig, 6.

Mit Hülfe der hier beschriebenen Methoden ist es, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, möglich, alle opti- schen Konstanten des Auges mit Ausnahme der Indices zu be- stimmen.

in.

Beobachtungsergebnisse.

Ich werde in diesem Abschnitt die Ergebnisse einer gewissen Anzahl von Messungen geben, welche ich nach den soeben er- wähnten Grundsätzen angestellt habe. Da die Zahl der von mir nntersuchten Augen keine sehr grofse ist, so will ich hier nur die Mafse eines einzigen, und zwar des rechten Auges meines Gehülfen, anführen. Wenn daher auch diese Ergebnisse keine all- gemeine Geltung haben können, so bestätigen oder verbessern

468 ^' Tsehemmg.

sie doch die auf anderem Wege gefundenen Zahlen und enthalten eine Anzahl von Messungen, welche bisher am lebenden Auge nicht ausgeführt worden sind, wie z. B. die Bestimmimg der der Form der hinteren Fläche der Hornhaut, Centrienmgs- fehler etc. In Fällen von gröfserem Interesse werde ich auch Malse anderer Augen geben.

Im Folgenden werden die Eadien der vier brechenden Flächen des Auges in ihrer natürlichen Beihenfolge mit IZ^, JR^, iis, und J?^, die Krümmungmittelpunkte mit C^, (7„ C, und C, und die Scheitel mit S^j S^j 8^ und S^ bezeichnet werden. Zur Bezeichnung der Eadien, Krümmungmittelpunkte und Scheitel der scheinbaren Flächen wollen wir uns derselben Buchstaben bedienen, dieselben aber zum unterschiede mit der Marke ^ versehen, so bezeichnet z. B. C^' den Krümmungsmittelpunkt der scheinbaren Vorderfläche der Linse.

Man erhält als direktes Ergebnis der Beobachtung die den scheinbaren Flächen entsprechenden Werte. Um die wahrenWerte zu finden, bediene ich mich des folgenden Verfahrens: Nach- dem ich zunächst mit irgend einem Ophthalmometer den Krüm- mungsradius der vorderen Homhautfläche gemessen habe, be rechne ich die Brennweite dieser Fläche.^ Hierauf folgt die experimentelle Bestimmung der zweiten Homhautfläche nach einer später anzugebenden Methode. Die auf diese Weise ge- fundenen scheinbaren Werte werden darauf durch die Formel'

jF F

-^ + -^ = 1, in der F^ und F^ die Brennweiten der ersten

Fläche, durch welche die zweite gesehen wird, bezeichnen, reduziert. Nachdem ich so die wahren Werte der zweiten Fläche gefanden habe, berechne ich das brechende System derselben» und verbinde dieses System mit demjenigen der vorderen Fläche.* Auf diese Weise erhalte ich das brechende System, durch welches die dritte Fläche gesehen wird und welches mir zur Beduktion der scheinbaren Werte dieser diei^**» und so weiter.

* Mit Hülfe der Formeln 3a und 3b in § 9 des Handb, d. phß^^ Optik von Helmholtz.

' Helmholtz, Handb, d, physiol Optik. § 9. Formel 3c.

' Helmholtz, Handb, d. physiol Optik. § 9. Formel 3a and 8b.

* Helmholtz, Handb. d. physiol Optik, § 9. Formel lld, e u. f *

Beiträgt tvr DioptrA ät» Äugt».

459

A. Die Hornhaat. a. Die vordere Flftohe. Wenngleich manche Fragen besonders über die Form der peripherischen Teile der vorderen Homhantfläche noch nicht hin- reichend aufgeklärt sind, so soll doch aof die Form dieser Fläche hier nicht näher eingegangen werden. Wir werden uns daher darauf beschräjiken, in der folgenden Tabelle 11 die MaTse des rechten Aages meines GtehiUfen anzoiUhren. Sie enthält die Krümmungsradien in Millimetern, mit dem Ophthal- mometer von Javal und Schjötz von 6" zu ö" gemessen. Das Femrohr des neuen Modells dieses Ophthalmometers trägt eine grofse Scheibe, anf der sich Teilstriche befinden, welche in Ghraden die Entfernung vom Fernrohr angeben. Der Beobachtete fixierte der Beihe nach diese Teilstriche, während der Beob- achter sich bemühte, immer die Homhautbilder, welche zur Messung dienten, genan in die Mitte des Gesichtsfeldes zu ver- legen, so dafs die OphthiUmometeraxe stets senkrecht zur Fläche gestellt war.

T

abelle

n.

Winkel, den dcrKrlimniQaB.r«diu. inll der G<«lch»llDle bildete

dem HorDhutruido

0' 1 B" 1 10" i 15" 1 20"

25" 30-

MM*ler TslI

7,98

:.98

8,13

'"h

9,45

9,67

43°

'■'T.r"

7,98

7,92

7,98

8,07

8,27

B,59

13.2

44°

VmikBler

lUrldiu

Oberer Teil Unterer Teil

7,60

7,60

',81

r,60

7,96

8,25 7,79

9,27 8,07

9,98

9.27

Die starken schwarzen Linien bezeichnen den Ort des Fnpillen- nudes, nnd zwar die erste unter gewöhnlichen Umständen, die zveite hingegen nach Einträufelung von Atropin; sie sind, wie '*nr später sehen werden, mit dem Ophthalmophakometer gemessen 'forden. Die letzte Kolonne bezeichnet den Winkel, welchen *Ue auf der Cornea Senkrechte bei ihrem Durchtritt durch den Hombantrand mit der G-esichtslinie bildet. Diesdbe wird auf Ähnliche Weise wie die Pnpilleuweite gefunden (S. 468). Han

460

M. Tscheming.

sieht, die vollständige Öffnung der Hornhaut ist beinahe 90*, und die Gesichtslinie trifft diese fast in der Mitte.

Wenn wir nur den centralen Teil der Hornhaut berück- sichtigen und als Index 1 .377 annehmen, so finden wir f&r diese Fläche folgende Brennweiten:

Tabelle TTT.

Vordere Brennweite

Hintere Brennweite

Vordere Brennweite in Dioptrioi«

Horisontaler Meridian Vertikaler

21,17 mm 20,16

29,16 mm 27,76

47,24 49,60

b. Die Centrierlinie der beiden Hornhautflächen.

um den Ausdruck Axe zu vermeiden, welchen man in der physiologischen Optik häufig gebraucht, um die Axe des EUip- soids zu bezeichnen, mit dem man die vordere Fläche dieser Membran vergleicht, bediene ich mich zur Bezeichnung der den beiden Homhautflächen gemeinsamen Normalen des Ausdruckes Centrierlinie. Die Sichtung der Centrierlinie läfst sich direkt durch die Methode B bestimmen. Diese Bestimmung ist übrigens weniger sicher als in anderen Fällen, bei welchen ich diese Methode benutze; und man muTs die Ausführung etwas ver- ändern. Da das Bild der hinteren Homhautfläche in den centralen Teilen der Cornea unsichtbar bleibt, so ist der Abstand der beiden Lampen des Schiebers B voneinander nicht grofs genug. Ich stelle daher in gleicher Höhe mit dem Femrohr an beiden Enden des Bogens je eine Lampe auf. Zuweilen mufs man den Bogen selbst ein wenig verlängern, um den beiden Lampen eine hinreichend peripherische Lage geben zu können, was notwendig ist, um durch die Broflexion an der hinteren Homhautfläche ein scharfes Bild zu erhalten. Griebt man nunmehr dem Bogen eine horizontale Lage und

* Wir haben hier in Frankreich die Gewohnheit, die Brechkraft der Cornea (vordere Fläche) in Dioptrieen durch den reziproken Wert der vorderen Fokaldistanz auszudrücken. Ich bediene mich im Folgenden für die anderen Oberflächen eines ähnlichen Ausdruckes, welcher eine bessere obwohl nur annähernde Vorstellung von dem Anteil einer jeden derselben an der Eefraktion des Auges giebt.

Beiträge eur Dvgttrik des Auges.

461

ersaoht den Beobachteten, die Mitte des Objektivs zu fixieren, so siebt man an der inneren Seite eines jeden der grofeen von der vorderen Fläche herrührenden Bilder ein kleines blasses Bild erscheinen, welches seinen Ursprung einer Reflexion an der hinteren Fläche verdankt. In den Augen, welche ich unter- sucht habe, lagen diese kleineren Bilder immer näher dem Centram der Pupille als die gröfseren und befanden sich mit letzteren gewöhnlich auch nicht auf derselben Horizon- talen. Im rechten Auge meines G-ehülfen waren dieselben augenscheinlich ein wenig nach unten gelegen (Fig. 7), und

BeobU»^A(^|^kl>ie Lvnpen bsflndan ilah mll dam Femrehr anT daioelbCD Baiinatid^^Kk BeobuhteU ÜKiart die Ultte des Feinrohnbjektlvi. tH« (UeiDBD) Bj^^^dsi Untetcn Hamhftutfllcbo IlcKen atwH nntar don Isrobao) Bildern d^KrdBrsn Hornluiataiche. Die CeolrianuiKalinie du Homhuit ^^Rlt tlM TOD der Oelichnllnle naeb nnUn terlohlet.

es muTste der Blick um S.^Ö gehoben werden, mn die vier Bilder auf derselben Horizontalen zu vereinigen. Diese Er- fahrung zeigt also, dafs die Centrierünie mehr nach unten als die Öesichtslinie gerichtet ist, und dafs dieselbe mit letz- terer oder vielmehr mit ihrer Projektion auf die durch die Centrierünie gehende vertikale Ebene einen Winkel von S.^ö bildet.

Um die vier Bilder bei vertikal stehendem Bogen auf einer vertikalen Geraden zu vereinigen, muTs man den Blick b.^G nasalwärts vom Mittelpunkt des Femrohrobjektives richten. (Fig. 8.)

ZelUebrUI (Di Pircholoffie QI. 30

462 -V- Tteheming.

Die Centrierlinie der Cornea ist also in diesem Auge Ö.'ö nach aufsen und S.^ö nach anten von der Ge- sicbtslinie gelegen.

Da diese Bestinininng wegen der sehr peripheren Lage der Bilder nicht sehr genau ist, so wollen wir dieselbe sogleich nach der Methode C wiederholen.

BechtM Aue«. Dis LampeD beflsden ifeh mit dem TtauDia » Vntlkileii. Dir Baobaebtete Azlrat dl« Hitu dM FetnrohrebJakUTi. Dl« iMga der (klglnen) Bildet d«t blnlaran Homhuitfliilie Mlft an, dalk dl« CeiilTl«mii^lJiila der Hoinhaiit van dar G«iieIiUllDie nach aoOen gerichtet Ut.

c. Die hintere Hornhantfl&che.

Man kann mit HüKe der Methode E die Lage des Krflmmanga- centroms der peripheren Teile dieser Fläche bestimmen. In der folgenden Tabelle IT gebe ich einige im horizontalen Meri- dian gemachte Messungen.

Die Bedeutnng dieser Tabelle ist leicht zu verstehen. Bei dem Experimente I z. B. war der Schieber Ä auf Null gestellt, und der Blick war 20" nasalwärts gegen den Schieber C gerichtet. Sogleich konnte man mit Leichtigkeit die beiden Homhaut- bilder der Lampe bei A outersoheiden, und es war notwendig, den Schieber B auf 3'',42 nasal einzustellen, damit das an der hinteren Fläche entstandene Bild von A mit den an der vorderen Fläche entstandenen Bildern der Lampen von B in einer Linie stand. In dem Mafse, als der Blick eine immer mehr peripherieche Sichtung annahm, mniste auch der Schieber B

Beiträge zur Diopirik des Auges,

463

iiamer mehr zur Peripherie verschoben werden. Bei einer Blickrichtung von 42^ nach aufsen und 48 nach innen ver- schwand das Bild der hinteren Fläche. Vergleicht man diese Zahlen mit den letzten der Tabelle 11 (S. 459), so bemerkt man, dafs dieses vor dem Bilde der vorderen Fläche verschwindet, wenn der Blick sich mehr und mehr nach aufsen richtet, während dasselbe bei der Blickrichtung nach innen noch einige Zeit nach Verschwinden des Bildes der vorderen Fläche vorhanden ist.

Tabelle IV.

n

B

C

B

C

1.

0<»

2.

3.

4.

0<>

5.

6.

7.

C^

3°,42 naaalwärts 3»,90 , 5»,10 , 6«,70 , 9»,58 , 13»,54 ,

Grenae der Sichtbarkeit

des Bildes der hinteren

Fliehe

20^ nasalwärts

25^

300

36«

40«

(f

45«

48«

5°,41 temporalw, 6»,50 ,

8»,26 9»,47

Dm Bild der hinteren PUohe bildet ein horlsontales Bend

Gren^ der Siehtberkeit

des Bildee der hinteren

Fläche

20« temporalw. 25«

30« 35« 40«

42«

n

n

n

»

»

Die Zahlen der Tabelle IV gestatten zunächst mit Hülfe der Methode C die Sichtung der den beiden Flächen gemeinsamen Normalen zu bestimmen und so die soeben gemachte direkte Bestimmung zu kontrollieren. Verbinden wir z. B. die Messungen I. 1. und n. 1., so haben wir in die Formel

«1 + «2 (*i + ^2)

folgende Werte einzusetzen

a, = 20^ h, = 20« 3 V2 = 16^58 a^ = 20^ 6, = 20« - 5«,41 = 14«,59 ;

daraus ergiebt sich a; = 4«,5.

30*

464

3f. Tscheming,

Verbindet man in ähnlicher Weise die drei übrigen Paare von entsprechenden Messungen, welche in beiden Serien vor- kommen, und nimmt aus allen das Mittel, so erhält man

X = 6,<>2

Der Wert ist ein wenig gröfser als derjenige, welchen wir auf direktem Wege gefunden haben (5®,6). Wir wollen den Wert für die folgenden Bechnungen zu 6^ annehmen.^

Man kann nunmehr mit Hülfe der Formel (S. 455.)

^^,^^8ip(a + &)^^

sina

den Mittelpunkt der Krümmung der hinteren scheinbaren Fläche bestimmen.

In dem Versuch I. 1. z. B. hat man

a = 20^ = 14^ 6 = ^ = 1,71 und nach der Tabelle H

22^ = 8,27 mm, woraus folgt, dafs C/0=7,27mm ist.

Die Tabelle V giebt die Resultate für die drei ersten Messungen jeder Serie; der anderen konnte ich mich nicht be- dienen, da ich die Krümmungsradien der vorderen Fläche für die betreffenden peripheren Teile nicht bestimmt hatte.

Tabelle V.

Winkelentfernnng der Oefliohtslinie

a

b

i^i

C^'O

( 20"

14«

1«71

8,27 mm

7,27 mm

Temporaler Teil 1 oeo der Come» \ ^^

19«

1«95

8,59

7,74

[ 30^

24«

55

13,18

11,85 ,

( 20^

26«

70

8,47

7,64

Nasaler Teil der Cornea J 25^

31«

25

9,45

8,54 ,.

i 30«

36«

12

9,67

8,69

^ Zu bemerken ist, dafs die Bichtung des Blickes sich bei jedem Versuche änderte, während die benutzte Methode ünbeweglichkeit des Auges fordert. Da aber die katoptrischen Bilder der beiden Flächen sich an- nähernd in gleicher Entfernung vom Scheitel befinden, so ist diese Än- derung von keinem Einflüsse auf die Besultate der Versuche.

Beiträge zur Diopirik des Auges, 465

um den scheinbaren Erümmungsradius der in Frage stehen- den Fläche zu bestimmen, wäre es nötig, anfser dem Orte des Krümmnngscentrums den scheinbaren Ort der Fläche selbst, mit anderen Worten die scheinbare Dicke der Cornea zu kennen. Es war mir nicht möglich, diesen Wert mit Hülfe der Methode F zu bestimmen, weil das Bild der hinteren Fläche in der Mitte der Pupille nicht sichtbar war. Ich versuchte dasselbe, jedoch ohne Erfolg, sichtbar zu machen, indem ich die Lampe auf der einen, das Fernrohr auf der anderen Seite der Gesichtslinie, und zwar beide in grofser Winkelentfemung, aufstellte. Es giebt aber ein anderes Mittel, den Ort der in Frage stehenden Fläche zu bestimmen. Bekanntlich sind die Krümmungsradien zweier katoptrischen Flächen, welche von zwei verschiedenen Gegenständen Bilder derselben Gröfse erzeugen, den Gegen- ständen umgekehrt proportional. Dieses findet nun in unserem letzten Versuche statt. Stellen wir uns in der That im Versuch I. 1. eine Lampe L 6^ nach auTsen von der Fixationsmarke auf- gestellt vor, d. h. da, wo die gemeinsame Normale den Bogen trifß}, so müssen die beiden Bilder der Lampe notwendigerweise zusammenfallen. Das durch die hintere Fläche von A hervor- gebrachte Bild fällt mit dem durch die vordere Fläche von B erzeugten Bilde zusammen. Es ist daher, wenn man LA und LB als Gegenstände betrachtet, das Bild von LÄj welches von der hinteren Fläche erzeugt wird, gleich dem Bilde von XjB, das von der vorderen Fläche herrührt. Da aber LA = 14° und XjB= 10^,68, so erhält man folgende Gleichungen:

Man kann so den scheinbaren Itadius der hinteren Fläche finden und erhält durch Kombination seines Wertes mit dem von 0^2 ö, der in Tabelle V angegeben ist, die scheinbare Dicke der Cornea. Diese Eesultate sind in den drei ersten Kolonnen der Tabelle VI verzeichnet.

Die 4. und 5. Kolonne geben die wahren Werte für den Badius der hinteren Fläche und für die Dicke der Cornea, nach

F F

den scheinbaren Werten mit Hülfe der Formel ^ -f- ^ = 1

/i

ausgerechnet. Die beiden letzten Kolonnen geben die Lage des

466

3f. Tscheming.

Brennpunktes^ um die Orte der Bilder weit entfernter Ghegen- stände anzudeuten.

Tabelle VI.

Winkelentfernanfir der Oeiichtolinie

B\

Seheinbmie

Dieka der

Come»

B,

Wirklleha

DIeka der

Come»

F^

Ft

(20"

0,76

6,26 mm

1,02 mm

6,18 mm

1,34 mm

418—

4.14-

Temporaler Teil 1 ^^« der Cornea { 25*

0,79

6,83

0,91

6,76

1,21

4,30

4,32

Iso»

0,79

10,38

1,47

10,25

1,94

6,59

6,66 n

r2o»

0,79

6,71

0,93 ,

6,62

1,23 ,

4,23

4,28

Kaf aler Teil j oro der Cornea \ ^"

0,79

7,47

1,07

7,36

1,41

4,72

4,80,

iao*

0,77

7.« n

1,24

7,32

1,63

4,83

4,96

Man sieht, dafs der Radius der hinteren Fläche un- gefähr 2 Millimeter kleiner ist als derjenige der vor- deren Fläche, und dafs erstere in ähnlicher Weise wie die letztere sich gegen die Peripherie hin abplattet. Die von uns gefundenen Werte fi[lr die Dicke der Cornea stehen den von EEslmholtz für tote Augen gefundenen (1,37 mm in der Mitte, 1,39 mm in gleicher Entfernung von der Mitte und der Peripherie und 1,58 mm am Bande) um ein Geringes nach. Wenn anderweitige Messungen meine Zahlen bestätigen, so wird man die Ursache wohl in einer postmortalen Imbibition der Membran suchen müssen. Die beiden letzten Kolonnen zeigen, dafs die Bilder der beiden Flächen sich beinahe in derselben Entfernung hinter der vorderen Fläche befinden.

Da das Bild für die Mitte der Cornea, wenigstens an den von mir untersuchten Augen, nicht sichtbar ist, so sind wir genötigt, uns mit Schlüssen zu begnügen, welche wir aus unseren Messungen an den peripheren Teilen ableiten können, wie man es übrigens auch für die vordere Homhautfläche thut. Wir wissen ja durch die Messungen von Helmholtz, dafs die Dicke des centralen Teiles der Cornea sich gegen die Mitte hin wenig ändert. Setzen wir also als wahre Dicke 1,15 mm, so wird die scheinbare 0,87 mm sein.

Die Tabelle VI zeigt aufserdem, dafs das Verhältnis des scheinbaren Badius der hinteren Fläche zu dem Badius der

Beiträge sur Dioptrik des Auges. 467

vorderen Fläche beinahe konstant gleich 0,79 ist. Nehmen wir dasselbe für die Mitte der Cornea an, so wird der scheinbare Badius hier 6,30 mm und der wahre 6,22 mm sein. Der scheinbare Brennpunkt wird sich in 3,1 & mm + 0,87 mm = 4,02 mm befinden, während derjenige der vorderen Fläche sich in 3,99 mm befinden wird. Diese Werte erklären hinreichend die Unmöglichkeit, die beiden Bilder voneinander zu sondern.

Indem ich mich nunmehr nur mit dem centralen Teile beschäftige, finde ich für die hintere Fläche, die also zwischen Homhautsubstanz und Humor aqueus liegt, folgende Werte:

Ort des Scheitels 1,15 mm

Badius 6,22

Vordere Brennweite = 211,47 (— 4,73 Dioptr.)

Hintere Brennweite = 205,25

Kombiniert man die beiden Homhautflächen, so erhält man ein System, dessen Eardinalpunkte folgende sind:

Ort des ersten Hauptpunktes 0,1327 mm

Ort des zweiten Hauptpunktes 0,1366

Vordere Brennweite =24,40 (40,99 Dioptr.)

Hintere Brennweite =32,61

Vernachlässigt man die Verschiedenheit, welche zwischen den Indices der Homhautsubstanz und dem Humor aqueus be- steht, so fallen die beiden Hauptpunkte im Scheitel der Cornea zusammen, und die Brennweiten werden unter dieser Bedingung 23,71 mm (42,11 Dioptrieen) und 31,69 mm sein. Durch diese Vereinfachung begeht man daher nur einen sehr kleinen Fehler.

B. Die Pupille.

um ein dioptrisches Instrument beurteilen zu können, mulB man die Form und die Stellung der brechenden Flächen, sowie die Indices der brechenden Medien kennen. Es ist aber aulBer- dem notwendig, die Gröfse der Öffnung des Instrumentes zu kennen und ihre Lage zur Axe desselben. Da bekanntlich die Pupillaröffnung sehr veränderlich ist, so haben die folgenden Werte nur eine sehr relative Bedeutung. Im allgemeinen mufs man den umstand in Betracht ziehen, dafs das Auge während der Messung immer stark beleuchtet ist, um die mittlere Pupillenweite nicht, wie das gewöhnlich zu ge* schehen pflegt, kleiner zu nehmen» als sie in Wirklichkeit ist. Die von mir geAmdenen Zahlen sind bedeutend kleiner als die-

468 ^' Tscheming,

jenigen, welche man unter gewöhnlichen Lebensbedingungen für die Weite der Pupille anzutreffen pflegt.

Zur Bestimmung des horizontalen Durchmessers der PupUle stelle ich den Schieber A bei horizontal gestelltem Bogen auf Null und verändere die Lage des Schiebers C, welchen der Beob- achtete zu fixieren hat, so lange, bis das Homhautbild von A mit dem inneren Pupillarrande zusammenfallt. Die Winkelentfemung ^C zeigt den Winkel zwischen Gesichtslinie und der Linie an, welche auf der Cornea senkrecht steht und den Pupillarrand berührt. Da die Axe des Femrohres auf der Cornea senkrecht steht, so fallt der scheinbare Pupillarrand mit dem wahren zusammen. Ich wiederhole darauf den Versuch für den äulseren Pupillarrand und bei vertikal gestelltem Bogen auch tflr den oberen und unteren Pupillarrand. Die Ergebnisse dieser Mes- sungen sind folgende:

Äufserer Band 19^,6 nach Kokaineinträufelung 28^,3 Innerer 17o,8 26^2

Oberer _ ^ 28^4

Unterer - 28^1

Die Tiefe der vorderen Kammer war, wie wir weiterhin sehen werden, 3,53 mm, der Abstand der Pupillarebene von dem Erümmungsmittelpunkt der Hornhaut war also im horizontalen Durchmesser 7,98 mm 3,53 mm = 4,45 mm und im vertikalen 4,07 mm, was für die Pupillenweite folgende Werte ergiebt.

Horizontal 1,49 mm + 1)36 mm = 2,85 mm

Horizontal bei erweiterter Pupille 2,11 +1}9'<^ » =4,08 Vertikal bei erweiterter Pupille 2,20 +2,17 =4,37

Die auf der Cornea Senkrechte, welche durch die Mitte der Pupille geht, war mit der Gesichtslinie in einer Horizontal- ebene, aber ein wenig nach aufsen von jener, gelegen. Die Gesichtslinie bildet also mit dieser Senkrechten einen Winkel von ungefähr 1^, wobei zu bemerken ist, dafs die Richtung der letzteren bei Erweiterung der Pupille keine Yeränderong erleidet.

Die Pupillaröffhung, vom Bjümmungsmittelpunkt der Cornea aus gesehen, war 37^,4 (54*^,5) im horizontalen und (56^5) im vertikalen Meridian.

Ich habe endlich diese Versuche genau in derselben Weise wiederholt, indem ich mich dabei aber anstatt des Homhaut- bildes des vorderen Linsenbildes von A bediente, und gefunden:

Beiträge zur Dioptrik des Auges. 469

Aufserer Band 9^,5 bei erweiterter Pupille 12*^,9 Innerer 2^5 5^8

Oberer n 4^

Unterer n n t) n 10^,36.

Die Pupillaröffnnng ist daher, vom Krümmnngsmittelpunkt der vorderen Linsenfläche aus gesehen, nur 12**. Dieser letz- tere mufs sich folglich ungefähr 3 mal weiter nach hinten von der Pupillarebene als der Krümmungsmittelpunkt der Cornea befinden, d. h. ungefähr 17 mm hinter dem Homhaut- scheitel. Die Linie, welche auf der vorderen Linsenfläche senk- recht steht und durch die Mitte der Pupille geht, verläuft 3^,5 nach aulsen und 3^,2 nach unten von der Gesichtslinie. Diese Zahlen geben uns schon annähernd eine Vorstellung von der Krümmung und der Lage der vorderen Linsenfläche.

C. Die Linse, a. Sichtung der Axe.^

Ich verstehe unter Axe der Linse die den beiden Ober- flächen derselben gemeinsame Senkrechte, welche aber nicht senkrecht auf der Cornea zu stehen braucht. Ein Lichtstrahl^ welcher im Innern des Auges der Linsenaxe folgt, wird also, sobald er die Cornea trifll, gebrochen werden. Diesen ge- brochenen, nach hinten verlängerten Strahl bezeichne ich als scheinbare Linsenaxe, denn jeder Punkt dieser Linie ist das durch Brechung in der Cornea entstandene Bild eines Punktes der wahren Axe. Die Lage des Bildes eines solchen Punktes läfist sich bestimmen, wenn man die Linie, welche ihn mit dem Krümmungsmittelpunkt der Cornea verbindet, zieht. Da, wo sich diese Linie mit der scheinbaren Axe schneidet, befindet sich der gesuchte Punkt. Wir wollen nunmehr an die Bestimmung der Sichtung der scheinbaren Axe einerseits, im Verhältnis zu der Gesichtslinie (siehe den Abschnitt über die Schiefstellung der Linse), andererseits zum Centrum der Cornea (siehe den Abschnitt über die Centrierung des Auges) gehen. In letzterem wollen wir auch die Mittel angeben, mit welchen es gelingt, die wahre Axe der Linse zu bestimmen. Hier wollen wir übrigens gleich bemerken, dafs der Unterschied zwischen dieser und der

^ Ich vernachlässige hier und im Folgenden den unterschied zwischen den Indices der Cornea und des Humor aqueus.

470 ^- Tscheming,

scheinbaren Aze so gering ist, dafs er ohne erheblichen Fehler vernachlässigt werden kann.

1. Die Schiefstellung der Linse gegen die

Gesichtslinie.

Th. Touno sagt in seiner berühmten Abhandlang ,,0n the mecanism of the eye^^, dafs seine Linse schief gegen die Ge- sichtslinie gestellt wäre. Er schätzt diese Schiefstellung an der vorderen Fläche auf 10^ und glaubt, dafs diejenige der hinteren Fläche noch bedeutender sei (13^.*

ToüNa glaubte, die Schiefstellung der Linse wäre die Ursache seines Astigmatismus. Es ist bekannt, dafs er zuerst diesen verbreiteten Fehler des menschlichen Auges gefunden und nachgewiesen hat, dafs derselbe seinen Sitz nicht in der Cornea haben könne, indem der Grad seines Astigmatismus sich dann nicht änderte, wenn er sein Auge in Wasser tauchte. Obgleich auch Helüholtz auf den Winkel, welchen die optische Axe des Auges mit der Gesichtslinie bildet, hin- gewiesen hat, wird doch die Schiefstellung der Linse oft über- sehen. Es genügt ein Blick in das Ophthalmophakometer, um dieselbe aufser Zweifel zu setzen. Gewöhnlich richtet man mehr seine Aufmerksamkeit auf den Winkel a, d. h. den Winkel, welchen die Gesichtslinie mit der Axe desjenigen Ellipsoids bildet, welches sich am besten der vorderen Hom- hautfläche anpafst. Dieser Winkel verdient indessen weniger Aufmerksamkeit, da der centrale Teil der Cornea sich nur sehr wenig von der sphärischen Form entfernt, wie bereits AuBERT nachgewiesen hat, und wie auch aus der Tabelle 11 hervorgeht. Ich bestimme die Schiefstellung nach der Me- thode B; zu diesem Zwecke stelle ich zunächst den Bogen des Ophthalmophakometers horizontal und zünde die in Null fixierten Lampen des Schiebers B an. Der Beobachtete blickt

^ Th. Youno, Phiha, Trans, for 1801.

* Die Zahlen zeigen die Einfallswinkel der Gesichtslinie an den Linsenflächen an. Nach den von Helmholtz für das schematische Auge angegehenen Daten würde eine Schiefstellung der vorderen Fläche von 10^ einer solchen der hinteren Fläche von ungefähr 14^ entsprechen. Der Winkel zwischen Gesichtslinie und Linsenaxe würde ungefähr 15* betragen. Ich habe aber nie so hohe Grade der Schiefstellung beob- achtet.

Stüräge sur Biopbrik de» Augts.

471

anf die Mitte des FemrohrobjektiTs. Wenn die drei Flächen znr Gesichtslinie oentriert wilreu, so müiste m&n die seclis Bilder anf derselben Vertikalen erblicken. Dieses ist jedoch nicht der Fall, wie ans der Lage der Bilder in Fig. 9 ersichtlich

B«GhtM Aoce (nkch EakiünelnlrftoMniic). Der Beobachtete Itxlerl die Mitte dei FemrohrolOsktiv'i. Dl« beiden Lunpen beAnden fioh In einer dnrsli die Aza dfli Femnihree gehenden Vertikalen, lind ftber nleht irmmetiiKb (•(en dleie Aie ■«•teilt, well lonil eini^ toii den Bildern hinter der Itii. TenchirlDden wBrdeD.

mm

S«ehla> Aof* (nM^h EokalnelDtrinbliuiK). Der BeobMbtete bUekt G°,T nenlwbtt. Die Llnlenmie tUlt In die Fcrnrohnue. Die beiden Lampen befinden ileb in einer dorcb die Aie dw l^rnrobree habenden VertlkkleD. Du obere Btld tod der Hlnletfliobe der Llnee iit dunh du abers Bild vw

472

Jlf. Tschemitig.

ist. Dieses Bild ist nach dem rechten Auge meines Geholfen gezeichnet worden und zeigt in der Mitte die Comeabüder in einer Vertikalen gelegen, diejenigen der Tordereu Linsen- fläche ebenfalls in einer Vertikalen, aber nach rechts nnd endlich diejenigen der hinteren Linsenfläche auf einer anderen Verti- kalen, aber nach links. Ich lasse jetzt den Beobachteten den Schieber C fixieren nnd verstelle diesen so lange, bis loh die vier Linsenbilder anf derselben Vertikalen erblicke. (Fig. 10.) Die Winkeldistanz x von C bis Nnll zeigt die seitliche Ab- weichnng der Linsenaze von der G^sichtsünie an. Für das in Frage stehende Auge war xssb",!.

Ein ähnlicher Versnch im vertikalen Meridian ragab die vertikale Abweichung y, in unserem Falle ^eich -{- 3,6 (die Aze nach unten abgewichen). (Fig. 11 und 12.) Bei Anstellung dieses letzteren Versuches bemerkte ich, dafe die Homhantbilder unter der horizontalen Linie gelegen sind, anf welcher sich die Linsenbüder befinden. "Weiter unten werden wir die Bedentong dieses Phänomens kennen lernen.

Reebtw Aus« (nuh Ki>kaiiiBlntränftliiiiB). Oa Beobachtete Axleit Ua

HIHe de* Fernraliroldekllr». Die beiden Lunpen beflnden ilefa Aul einer

doreh die Femrofaiase gehenden BorUonUIvi.

Man prüft dieses Besultat, indem man eine Fixationsmarke ein wenig nach vorne vom Bogen und unabhängig von diesem aufstellt: Die Lage dieser Marke muTs eine solche sein, dafs ihre Koordinaten im Verhältnis zur Mitte des Objektivs gleich

Seiträge tur Dioptrik des Auges. 473

X und y sind; wenn der Beobachtete die Marke Axiert, müsaen die Linaenbilder bei jeder Stellung des Bogens auf einer Linie bleiben.

Die Messungen können mit grofser Genauigkeit gemacht werden. Man irrt sich nicht leicht um mehr als ein oder zwei Zehntel Grad.

Rechte* iuge (nMfa Kakalnelnträiifelniig). Der Beobachtete blickt Vfi mwta eben. Die beldgn Luopen befinden >lcb aaf einer doich die Parnrohr- mxe Kehenden HarliontBlen. Die Linienvce fiUlt mit der Fernrohnu« in- ■BBincn. Die L*«e der Comekbilder nntei den Unnnblldgni nlgt u, dafk itt Cenlrnm dar Comen idch unter dar Linteiuue befindet.

Einen viel bequemeren Ausdruck erhält man für die SteUung der Linse bei Anwendung von Folarkoordinaten, indem man erstens die Neigung v einer durch die Linsenaxe and die Gesichtslioie gelegten Ebene gfigen den Horizont und zweitens den Winkel z, welchen diese beiden Linien mit- einander bilden, anwendet. Kennt man x und y, so kann man die Winkel v und s nach den Formeln

cotg V ^ sin X. cotg y

cos s = cos X. cos y berechnen.

Man kann übrigens diese Winkel auch direkt finden, indem man den Schieber B anf Null stellt und den Beobachteten ersucht, auf die Mitte des Objektivs zu blicken. Dreht man nun den Bogen bis die vier Linsenbilder in einer Linie erscheinen, ao be-

474

M. Tscheming,

finden sich die Lampen des Schiebers B in einer Ebene mit der Gesichtslinie und der Linsenaxe, wodurch der Winkel v bestimmt werden kann. Hierauf dreht man den Bogen um 90^ und verrückt die Fixationsmarke C so lange, bis man von neuem die Linseubüder in einer Linie sieht. Die Lage von C giebt uns den Winkel js.

In der Tabelle YII sind die Besultate einiger von mir an verschiedenen Personen gemachten Messungen verzeichnet.

Tabelle VH.

Name

Alter

X

y

z

V

Mein Gehülfe

24 Jahre l

Bechtes Auge Linkes Ange

+20,6 + 20,9

60,8

20'

M. B.

40

BechteB Auge

+ 3^8

+20,9

40,8

27«

M N

17 1

Rechtes Auge

+ 3«,7

00

30,7

Qo

iu. Xi .

^* n \

Linkes Ange

+ 4^3

00

40,3

(>•

M. M.

w 1

Rechtes Ange Linkes Ange

+ 7»,-

00 00

70,- 5^-

Qo 0*

M. B.

16

Rechtes Ange

+ 4^-

-1^5

40,3

21*

M M

43 1

Rechtes Ange

+ 4^6

+ 00,5

40,6

MM.» Jll »

Linkes Ange

+ 4^3

00

40,3

0*

Die Linsen waren also ohne Ausnahme schief gegen die Gesichtslinie gestellt. Die hauptsäch- lichste Abweichung in der Stellung der Linse macht den Eindruck, als wenn diese sich um eine ver- tikale Axe mit ihrer äufseren Kante nach hintes gedreht hätte. In den von mir untersuchten Augen variierte diese Abweichung zwischen und 7®. Häufig aber befindet sich die Linsenaxe auch nicht in derselben Horizontalebene mit der Gesichts- linie, und es macht den Eindruck, als ob sich die Linse um eine horizontale und transversale Axe zugleich gedreht hätte. Am häufigsten ist es der obere Teil, welcher nach vorne gekehrt ist. Diese Abweichung ist geringer als die zuerst beschriebene und variiert zwischen 0^ und 3^ Nur einmal habe ich

Beiträge zur Bioptrik des Auges. 475

eine Drehung der Linse im entgegengesetzten Sinne angetroffen.

Die Schiefstellung der Linse mnTs Astigmatismus hervor- bringen; es sei denn, dals dieselbe durch ihre Struktur voll- kommen periskopisch sei, was kaum anzunehmen ist. Der am stärksten brechende Meridian ist derjenige, welcher die Axe imd die Gesichtslinie enthält und daher wenigstens an- nähernd horizontal sein muTs. Unsere Beobachtungen bestätigen somit zwei durch die klinische Erfahrung festgestellte That- sachen: Dondbrs fand vor längerer Zeit bereits, dafs Astig- matismus der Linse häufig denjenigen der Cornea, deren ver- tikaler Meridian in der Begel der am stärksten brechende ist, aufhebe. Javal hat andererseits die Beobachtung gemacht, dafs Augen, welche frei von Homhautastigmatismus sind, häufig einen Astigmatismus gegen die !Regel besitzen. Der Grad des von der Schiefstellung der Linse bedingten Astig- matismus ist nur ein sehr geringer. Ein "Winkel von 7^, der grölste, den ich beobachtet habe, würde 0,25 Dioptrien Astig- matismus entsprechen, wenn die Linse unendlich dünn wäre. Dire Dicke jedoch und die ihr eigene Struktur müssen hier einen Einflufs ausüben, welcher schwer zu bestimmen ist.^

2. Die Centrierung des Auges.

In seiner physiologischen Optik giebt v. Hblmholtz bereits einen Versuch an, durch den man sich davon überzeugen kann, dafs das menschliche Auge nicht vollkommen centriert ist.

Eine vollkommene Centrierung verlangt nämlich, dafs die Linsenaxe senkrecht auf der Fläche der Hornhaut steht, was

^ Die Wirkung der Schiefstellung der Linse ist in der That viel zu schwach, um die klinische Beobachtung vollkommen zu erklären. Ich habe aber gefunden, dafs die hintere Fläche der Cornea häufig eine Asymmetrie aufweist, welche, ähnlich wie die ihrer vorderen Fläche, darin besteht, dafs der vertikale Meridian der am stärksten brechende ist. Da diese Fläche die Wirkung einer Konkavlinse hat imd diese Asym- metrie also einen Astigmatismus gegen die Kegel nach sich ziehen muTs, so sind die im Text aufgeführten Bemerkungen der Autoren leicht ver- ständlich. Ungeachtet des geringen Unterschiedes der Brechungskc^effi- zienten der Cornea und des Humor aqueus kann dieser Astigmatismus wegen der starken Krümmung der Fläche Grade erreichen, welche doch nicht ganz vernachlässigt werden sollten.

476 ^* Tscherning.

gewöhnlich nicht der Fall ist. Diesen Mangel an Centrienmg messe ich, indem ich zunächst den Winkel €j welchen eine durch die Axe der Linse und den Krümmungsmittelpunkt der Cornea gelegte Ebene mit dem Horizont büdet, und dann den Winkel (J, der durch die Linsenaxe und der in ihrem Schnitt- punkte mit der Cornea auf dieser errichteten Normalen gebildet wird, bestimme.

Die Messung wird in folgender Weise angestellt: Ich nehme den letzthin beschriebenen Versuch wieder auf. Der Schieber B steht auf Null, während der Beobachtete auf eine vom Instrumente unabhängige Fixationsmarke blickt, welche so aufgestellt ist, dafs die scheinbare Axe der Linse mit der Axe des Fernrohrs zusammenfallt. Wie be- merkt, bleiben unter solchen Bedingungen die vier Linsenbilder der Lampen von B in einer Linie, welches auch die Stellung des Bogens sei. Es kann nun der Fall eintreten, dafs die Homhautbilder ebenfalls bei jeder Stellung des Bogens auf dieser Linie sichtbar werden. Alsdann ist das Auge centriert, weil die Linsenaxe senkrecht auf der Cornea steht. Es giebt indessen eine Bogenstellung, welche auch im entgegen- gesetzten Falle alle sechs Bilder auf einer Geraden erscheinen läfst; nämlich, wenn die beiden Lampen des Schiebers B sich in derjenigen Ebene befinden, welche die Linsenaxe und das Hom- hautcentrum enthält. Die Neigung dieser letzteren gegen den Horizont ist der Winkel «. Ist diese Stellung gefunden, so dreht man den Bogen um 90®. Die vier Linsenbilder bleiben stets auf einer Geraden, während die Hornhautbilder auf eine andere dieser Geraden parallele Linie verlegt sind. Nachdem ich nunmehr die Lampe des Schiebers Ä, welche f&r diesen Versuch nur sehr schwach leuchten darf, ange- zündet habe, verrücke ich diesen Schieber so lange, bis sein Hom- hautbüd sich mit den vier Linsenbildem in einer Linie be- findet. Die Winkelentfernung von Ä bis Null ist dann also das Doppelte des Winkels d', welcher bei Kreuzung der schein- baren Linsenaxe mit der im Kreuzimgspunkte auf der Cornea

errichteten Senkrechten entsteht. Der Winkel d kann aus d'

»/

vermittelst der Formel sin d = berechnet werden, wo fi

den Brechungskoeffizienten des Kammerwassers bezeichnet. (Fig. 13.)

Beiträge eur Dioptrik des Auges.

477

Im rechten Auge meiues Gehülfen war die Ebene, welche die Linsenaxe und den Krümmungsmittelpunkt der Hornhaut enthält, fast vertikal, der Winkel e also gleich 90®, der "Winkel i' = 2^,2 und der Winkel d = P,65. Der Krümmungsmittel- punkt der Hornhaut befand sich unter der Linsenaxe.

Fig. 23.

Der Winkel d d' = 0^,55 ist der von der scheinbaren und wahren Axe der Linse gebildete sehr kleine Winkel. Wie wir vorhin bereits gefunden haben, war die vertikale Abweichung der scheinbaren Linsenaxe von der Gesichtslinie 2^,67, woraus der Winkel, welchen letztere mit der wahren Linsenaxe bildet, sich auf 2^,12 bestimmen läfst.

Gleich Helmholtz habe ich das menschliche Auge niemals völlig centriert gefunden, wenn auch der Fehler oft ein sehr geringer war. Unter der kleinen Zahl von Augen, welche ich zu untersuchen Gelegenheit hatte, befanden sich mehrere, die dem Typus des Auges meines Gehülfen annähernd gleich kamen: d. h., der Krümmungsmittelpunkt der Hornhaut lag in derselben vertikalen Ebene mit der Linsenaxe, jedoch unter dieser; derWinkel d' variierte zwischen und 3®, so dafs die Entfernung des Krümmungs- mittelpunktes der Hornhaut von der Linsenaxe unge- fähr ein Viertel Millimeter betrug. In anderen Augen befand sich der Krümmungsmittelpunkt der Hornhaut

Zeiticlirift fOr Psychologie UI. 31

478 -W. Tscheming,

in derselben Horizontalebene mit der G^esiclitslinie, nur ein wenig nach aufsen oder innen von dieser.*

b. Die Gestalt der Linse.

Zu den folgenden Bestimmungen haben wir den Bre- chungskoeffizienten der Linse nötig, diejenige Konstante des Auges, welche am wenigsten bekannt ist. Wir wissen, dals derselbe gegen den Kern der Linse sich allmählig vergrölsert. Da es schwierig ist, mit dem variablen Lidex zu rechnen, ersetzt man die menschliche Linse gewöhnlich in der Secfantmg durch eine imaginäre, aber gleichmafsige Linse von gleicher Gestalt und derselben Brennweite wie jene. Obgleich diese Methode notwendigerweise kleine Fehler nach sich zieht, so haben wir uns hier derselben doch in Ermangelung einer besseren bedient. Yoüng bestimmte diesen totalen Brechungs- koeffizienten der Linse zu 1,4359, Listing zu 1,4545 (=Jf); V. Hblmholtz entschied sich nach seinen an toten Augen an- gestellten Messungen zunächst für die letztere Zahl, änderte diese aber später auf 1,4371 ab, also eine Zahl, welche sich derjenigen Youngs nähert, und welche jetzt für das schematische Auge üblich ist. Wie Mauthner und mehrere andere Augenärzte bemerkt haben, ist auch diese Zahl noch zu hoch gegriffen, da ein emmetropisches Auge nach Entfernung der Linse ein Kor* rekturglas von 12 oder 13 Dioptrieen nötig hätte, während in der Praxis nur 10 oder 11 Dioptrieen gefordert werden. Ln folgenden wollen wir uns daher der Zahl 1,42 für den Totalindex der Linse bedienen.

In letzter Zeit haben Aubert und Matthibssen * die Indices der verschiedenen Linsenschichten bestimmt, wonach

^ Die hier aufgeführten Messungen wurden angestellt, bevor ich die Möglichkeit erkannt hatte, .die Eichtung der Centrieningslinie der Cornea zu bestimmen. Will man die hintere Homhautfläche nicht übersehen, so fordert eine exakte Centrierung, dafs die Centrieningslinie der Hornhaut mit der Linsenaxe zusammenfalle. Das war aber nicht der Fall. Die beiden Linien befanden sich in einer vertikalen Ebene, welche ungefähr einen Winkel von 6* mit der Gesichtslinie bildete, wobei die Centrierungslinie der Cornea jedoch um 1^,5 mehr nach unten ge- richtet war als die Linsenaxe, welche ihrerseits wieder um 2^ nach unten von der Gesichtslinie verlief. Man kann übrigens das Instrument mit Vorteil zur Prüfung der Centrierung kleiner optischer Instrumente und ihrer Teile, wie zusammengesetzter Objektive, Okulare etc., verwenden.

' V. Helmholtz, Fhysiol. Optik. 2. Aufl. S. 99.

Beiträge sur Bioptrik des Auges.

479

Matthiessen eine empirische Formel aufgestellt hat, nach welcher man annähernd den Totalindex der Linse finden soll, indem man znm Index der oberflächlichen Schichten das Doppelte des Unterschiedes zwischen diesem und dem Index des Linsen- kems hinzufügt. Berechnet man nach dieser Begel den Total- index der Linse für die beiden Augen, an denen Aubert und Matthiessen ihre Messungen ausgeführt haben, so findet man die Zahlen 1,4285 und 1,4219, welche sich der von uns an- genommenen Zahl nähern. Wenn gleich diese Messungen mit grofser Sorgfalt und den besten Instrumenten ausgeführt worden sind, scheinen dieselben doch nicht hinreichend sicher zu sein, weshalb es vielleicht vorzuziehen wäre, die Brenn- weite einiger Linsen von toten Augen direkt zu messen.

1. Die vordere Fläche der Linse.

Ich beginne mit der Bestimmung der Kichtung der auf der vorderen Fläche der Linse und der vorderen Fläche der Cornea zugleich senkrecht stehenden Linie, indem ich den Bogen horizontal, den Schieber B aber auf Null stelle und nun die Stellung der Fixationsmarke C suche, welche die Hom- hautbilder und die Bilder der vorderen Linsenfläche auf einer Verticalen vereinigt. Die dreimal wiederholte Messung ergab jedesmal eine Abweichung von 5^,1 nach aufsen von der Gesichtslinie.

Ich bestimme hierauf den Ort des Krümmungsmittel- punktes der vorderen scheinbaren Fläche durch die Methode E, indem ich den Schieber A auf Null stelle, der Fixationsmarke C eine beliebige Stellung gebe, die aber noch das an der vorderen Linsenfläche entstehende BUd von Ä scharf zu unterscheiden erlaubt, und endlich den Schieber B so lange verschiebe, bis man die Homhautbilder von B mit dem Linsenbilde von A in einer Linie stehen sieht. Die Pupille war durch Cocain erweitert.

A

B

C

a

b

Cm Bt ,

* ' * sin a

I

12^,4 temporal

9^9 nasal

4",8

6^2

10,30 mm

TL

0*

16«,8

11^2

6^l

8^4

10,97

m

(y»

19^1 nasal

3^7 temporal

8^8

9^55

8,65

Mittel 9,97 mm

480

3f. Tscheming.

Der Krümmungsmittelptinkt der scheinbaren vorderen Linsenfläche befindet sich also 9,97 mm hinter demjenigen der Cornea, oder 17,95 mm hinter ihrem Scheitel.

Es folgt jetzt die Bestimmung des Ortes des Scheitels der scheinbaren Fläche nach der Methode F. Nachdem das Femrohr und der Schieber Ä in eine zur gemeinsamen Normalen symmetri- sche Stellung gebracht sind, verändere ich die Lage des Schiebers JB, bis die drei Bilder auf einer Linie erscheinen.

Ä

B

C

c

d

Vt öj = 2*1 .

I

28<^ nasal

160,8 nasal

190,1 nasal

140

80,4

4,82 mm

II

240 ^^

15^ «

17^1

120

70,5

5,01 ,

in

28^ temporal

180,6 temp.

80,9 temp.

140

90,3

5,33 ,

IV

240 ^^

14^6

6^9

120

70,3

4,88

Mittel 5)01 mm

Der Scheitel der scheinbaren Fläche befindet sich also 5,01 mm vor dem Krümmungsmittelpunkt der Cornea oder 2,97 mm hinter dem Scheitel derselben.

Kombiniert man diese Mafse mit den vorhergehenden, so finden wir den scheinbaren Radius

ü'3 = 14,98 mm. Da wir die optischen Konstanten der Cornea kennen (S. 467) so lassen sich die scheinbaren Werte leicht auf die wahren zurückfiihren.^

Diese Reduktion giebt folgende Werte:

Ort des Scheitels 3,54 mm

Eadius 10,20 mm

Vordere Brennweite 163,26 mm (6,13 Dioptr.) Hintere Brennweite Für die Kardinalpunkte des Cornea und der vorderen Linsenfläche findet man: Ort des ersten Hauptpunktes 0,33 Tnni

Ort des zweiten Hauptpunktes 0,22 mm Vordere Brennweite 20,72 mm (48,25 D.)

Hintere Brennweite 29,43 mm.

173,46 mm. kombinierten Systems der

^ Helmholtz, Physiol Optik. § 9. Formel 3.

Beiträge zur Dioptrik des Auges,

481

2. Hintere Fläche der Linse.

In gleicher Weise wie die vordere wird auch die hintere Linsenfläche gemessen. Zunächst wird der Winkel bestimmt, den die der Cornea und der hinteren Linsenfläche gemeinsame Normale mit der Gesichtslinie bildet. Derselbe war 5^,9, mit- hin ein wenig gröfser als derselbe Winkel an der vorderen Fläche, was darauf hindeutet, dafs der Krümmungsmittelpunkt der Cornea sich nicht genau in derselben vertikalen Ebene mit der Linsenaxe befand, sondern ein wenig naaalwärts.

Vier Bestimmungen des Krümmungsmittel- punktes gaben die folgenden Besultate:

Ä

B

C

a

h

C,C,'

I

00

19^,05 temporal

17^3 temporal

110,4

90,52

6,68 mm

II

0*

28^1 ,

22«,8 ,

16^,9

14»,05

6,66

III

(f'

21^5 nasal

6*,8 nasal

12^,7

100,75

6,77

IV

25«,8

9',01

140,91

120,9

6,92 ,

Mittel 6,76 mm

Der Krümmungsmittelpunkt der scheinbaren hinteren Linsenfläche liegt also 6,76 mm vor dem Krümmungsmittel- punkte der Hornhaut und 1,22 mm hinter dem Scheitel der- selben.

Die Bestimmung des Ortes des Scheitels ergab folgende Besultate:

Ä

B

C

c

d

Cx5/

I

240 temporal

20,9 temporal

60,1 temporal

120

10,45

0,97 mm

II

280

3*

80 1

14»

i\m

0,86

111

28* nasal

1*,9 nasal

19,9 nasal

140

00,95

0,56

IV

24«^

1,33 ,

17,9

120

0«,67

0,45

Mittel 0,71 mm

Der Scheitel der hinteren Linsenfläche befindet sich also 0,71 mm vor dem Krümmungsmittelpunkt der Hornhaut oder

482 ^' Tscheming,

7,27 mm hinter ihrem Scheitel. Ihr scheinbarer Krümmungs- radius war 6,05 mm.

Diese "Werte, auf die wahre Fläche reduziert, ergeben: Ort des Scheitels 7,60 mm

Krümmungsradius 6,17 mm

Vordere Brennweite 104,98 mm (9,53 D.)

Hintere Brennweite 98,81 mm.

Diese Werte, kombiniert mit denjenigen des oben ge- fundenen Systems ergeben die Kardinalpunkte des vollständigen Systems des Auges.

Ort des ersten Hauptpunktes 1,54 mm

Ort des zweiten Hauptpunktes 1,86 mm Vordere Brennweite 17,13 mm (58,40 D.)

Hintere Brennweite 22,89 mm.

IV. Zusammenstellung der Resultate und Prfifang der Messungen.

Wir wollen nunmehr einen ÜberbUck über die erhaltenen Resultate geben. In Tabelle Vlil finden sich die Winkel- messungen. Ich bezeichne den Winkel als positiv, sobald die erste der beiden Linien aulserhalb des Auges nach innen (oben) gerichtet ist.

Wir ziehen demnach für den horizontalen Meridian fol- gende Schlüsse. Das Auge ist fast centriert und zwar gleich- viel, ob man die hintere Fläche der Cornea vernachlässigt oder nicht. Die Axe ist nach aufsen von der Q-esichtslinie gerichtet und durchdringt die Cornea am Orte der stärksten Krümmung. Die Gesichtslinie verläuft annähernd durch die Mitte der Cornea und der Pupille, fallt also fast mit der Visierlinie zusammen.

Im vertikalen Meridian ist das Auge lange nicht voll- ständig centriert. Die Linsenaxe befindet sich über dem Kxüm- mungsmittelpunkte der vorderen Fläche der Cornea und bildet mit der Centrierungslinie der Cornea einen Winkel von 1^,5. Die Gesichtslinie ist um nach oben von der Linsenaxe gerichtet imd 3®,5 höher als die Centrierungslinie der Cornea.

Ich habe nach der von Leroy und Güllstrand empfohlenen Methode den Einfallswinkel der Gesichtslinie an der Hornhaut zu bestimmen versucht; infolge der kleinen Kopfbewegungen des Beobachteten konnte ich jedoch mit dieser Methode zu

Beiträge zur Dioptrik des Auges.

483

keinem Erfolge gelangen. Man kann diesen Winkel aber auch auf indirektem Wegebestimmen. Wir wissen, dafs die Gesichtslinie durch den ersten Knotenpunkt geht, dessen Lage uns bekannt ist (siehe die folgende Tabelle IX). Ebenso kennen wir den Winkel, der von der öesichtslinie und der Augenaxe gebüdet wird, sowie den KrfimTnungsradius der vorderen Fläche der Cornea. Daraus läfst sich der in Frage stehende Winkel leicht i)erechnen. Er übersteigt kaum einen halben Grad.

Tabelle Vin.

Horizontaler Meridian

Vertikaler Meridian

Winkel gebildet von:

Öesichtslinie und Centrieriingslinie der Cornea

Öesichtslinie and Linsenaxe

Oentrierungslinie der Cornea und Linsen- axe

Gesichtslinie und Gerade, welche auf der Cornea senkrecht steht und durch die Mitte der Pupille geht

Derselbe Winkel bei erweiterter Pupille . .

Öesichtslinie und Gerade, welche auf der Cornea senkrecht steht und durch den Pupillenrand geht }

Derselbe Winkel bei erweiterter Pupille . . I

Öesichtslinie und Senkrechte, welche auf der vorderen Corneafläche am Eande errichtet ist I

Öesichtslinie und Senkrechte, die auf der hinteren Corneafläche am Eande errichtet ist /

Lfinsenaxe und Senkrechte, welche in dem Punkte, wo diese die vordere Cornea- fläche durchschneidet , auf letzterer er- richtet ist

+ 5^7 + o^3

+ 3^5

+ 20,1 1^3

+ 0«,9

+ i»,o

00,1

17»,8

_^_

+ 19^6

+ 280,3

-f 280,1

260,2

280,4

430

.„.^

+ 440

-f 430

OB—

420

.^

0^

10,6

Beiträge zur JDiopirik des Auges.

485

Tabelle IX.

SohematischeB Aage

Beobachtetes Auge

Brechungskoeffizient der Cornea

der wässerigen Feuchtig-

keit und des Glaskörpers Totaler Brechungskoeffizient der Linse

fiadius der vorderen Homhautfläche . . . hinteren ...

,, vorderen Linsenfläche

,, hinteren ,,

Ort der vorderen Hornhautfläche

hinteren

j, vorderen Linsenfläche

hinteren

Vordere Brennweite der Cornea

Hintere

Ort des vorderen Hauptpunktes der Cornea . hinteren .

Brennweite der Linse

Entfernung des ersten Hauptpunktes der Linse

von der vorderen Linsenfläche

Entfernung des zweiten Hauptpunktes der

Linse von der hinteren Linsenfläche . . Abstand der beiden Hauptpunkte

Hintere Brennweite des Auges

Vordere

Ort des ersten Hauptpunktes

r, zweiten ,,

ersten Knotenpunktes

,, zweiten

^ vorderen Brennpunktes

hinteren

Fempunkt des aphakischen Auges ....

Korrektionsglas des aphakischen Auges, 15 mm

vor der Cornea

1,3365 1,4371

7,829 mm

10,- 6,-

0

3,6 7,2

23,266 31,095

0

0

1,753 2,106 6,968 7,321 ■13,745 22,819

71

n

50,617

2,126

1,276

0,198

20,713 15,498

n n ?> n n n

—63,49 12,74 Diop.

1,377

1,3365 1,42

7,98 mm 6,22 10,20 6,17

0

1,15 3,54 7,60

24,40 32,61

- 0,1327

- 0,1365

62,46 2,42

1,46 0,18

22,89 17,13

1,54 1,86 7,30 7,62 -15,59 24,75

n n n

V

n n rr

»T

rr ff

?r n

»7

n jr rr n rr

-73,94 11, 24 Diop.

484 -^- TschervUng.

Unter den gegebenen Bedingungen war die Gröfse der Pupille 2,85 mm und ihre scheinbare Gröfse 3,12 mm.

Die folgende Tabelle enthält die optischen Konstanten des untersuchten Auges, verglichen mit denen des schematischen Auges.

Überblickt man diese Tabelle, so ist man erstaxmt, eine so gröfse Übereinstimmung zwischen beiden Augen anzutreffen. Aufser den Unterschieden, welche vom Index der Linse her- rühren, giebt es nur zwei Unterschiede von einiger Bedeutung ; der eine betrifft die von mir hinzugefügten Konstanten der hinteren Fläche der Cornea, der andere die Dicke der Linse, welche nach Helmholtz 3,6 mm beträgt, während wir für die- selbe in dem von uns beobachteten Auge 4,05 mm gefunden haben. Obgleich man aus dem Mafse eines Auges keineallgemeinen Schlüsse ziehen kann, so möchte ich doch die Aufinerksamkeit auf den Umstand lenken, dafs diese Mafse mit denjenigen von Helmholtz für tote Augen angegebenen überreinstinmien, während sie erheblich von den Mafsen sich unterscheiden, welche derselbe Autor für das lebende Auge angiebt.

Es haben einige Autoren aus diesen Messungen toter Linsen einen Beweis für die von Bjilmholtz aufgestellte Accommodationshypothese ableiten wollen. Mir scheinen diese Messungen vielmehr gegen diese Hypothese zu sprechen. Nach Helmholtz müfsten aus dem Auge entfernte tote Linsen sich im Maximum der Accommodation befinden, da dieselben doch keinem Zuge mehr ausgesetzt sein können. Wenn man jedoch von der Dicke der Linse absieht, stimmt die Gestalt der toten Linse^ wie Helmholtz selbst bemerkt, sehr wohl mit der- jenigen der lebenden Linse im Zustande der Buhe überein. Der Eadius der vorderen Linsenfläche betrug an zwei toten Augen 10,162 mm und 8,805 mm und an drei lebenden 11,9 mm, 8,8 mm und 10,4 mm.

Setzt man für die Brechkraft des Auges den umgekehrten "Wert der vorderen Brennweite ein, so ist aus der vorher- gehenden Tabelle ersichtlich, dals dieser Wert sich auf 58 Dioptrieen stellt, von welchen 47 Dioptrieen auf die Cornea kommen. Benutzt man einen ähnlichen Ausdruck für die übrigen Flächen des Auges, was übrigens nur dazu dienen kann, sich eine annähernde Vorstellung zu bilden, so hat die untere Linsenfläche einen Wert von 10 Dioptrieen, die vordere

Beiträge swr Biopirik des Äugen.

4B&

Tabelle IX.

SchemaÜBches

Beobachtetes

Aage

Auge

Brechungskoeffizient der Cornea

1,377

der wässerigen Feuchtig-

keit und des Glaskörpers

1,3365

1,3365

Totaler Brechungskoeffizient der Linse . .

1,4371 7,829 mm

1,42 7,98 I

Badius der vorderen Homhautfläche . . .

um

hinteren ...

6,22

•»

vorderen Linsenfläche

10,-

n

10,20

n

yj hinteren ,,

6~ 0

6,17 0

n

Ort der vorderen Homhautfläche

TT

hinteren

1,15

IT

vorderen Linsenfläche

3,6

?j

3,54

n

hinteren

7,2 23,266

7,60 24,40

n

Vordere Brennweite der Cornea

fr

Hintere

31,095

.•»

32,61

♦»

Ort des vorderen Hauptpunktes der Cornea .

0

»

0,1327

rr

hinteren » » .

0 50,617

n

n

0,1365 62,46

rr

Brennweite der Linse

Entfernung des ersten Hauptpunktes der Linse

TT

von der vorderen Linsenfläche

2,126

»

2,42

TT

Entfernung des zweiten Hauptpunktes der

Linse von der hinteren Linsenfläche . .

- 1,276

n

1,46

?r

Abstand der beiden Hauptpunkte

0,198 20,713

0,18 22,89

?>

Hintere Brennweite des Auges

>T

Vordere

15,498

«

17,13

n

Ort des ersten Hauptpunktes

zweiten

ersten Knotenpunktes

^ zweiten

^ vorderen Brennp\inktes

hinteren

Fempunkt des aphakischen Auges ....

Korrektionsglas des aphakischen Auges, 15 mm

vor der Cornea

12,74 Diop.

1,753

n

1,54

77

2,106

n

1,86

n

6,968

)^

7,30

n

7,321

n

7,62

?r

13,745

n

-15,59

?r

22,819

»

24,75

rt

63,49

n

—73,94

ir

11, 24 Diop.

4^^ It TuAermmß

t^-Lh -rrjZi vLig^fütr 5 DioptziaL Die Wniamgen der beiden hr^zx^rffz. TlicLer. gleicLen seh also bpmahe mas.

Zvei Mittel l>€rsiTzeii wir. die von uns gefnndenen Habe df7 optifcben KoziSULZSen des Auges m präfen. Dms eine ist o<^ Vergleich mit aphaki«chen Augen, ^n Mittel, dessen wir nxjf zTir Correcdon des Brecimngsindex der linse bedient haben; da« andere Mittel ist uns durch das Ton mir als sechstes be- zeichüet^E; Bild gegeben. Dieses ist jedoch nur brauchbar in Augen, in welchen es scharf erscheint, was in dem Ton mis beobacLt4E;ten Auge nicht der Fall war. Mein Gehülfe, Myop von circa 6 Dioptrieen. sah dieses Bild nur mit Muhe und sehr verschwommen. Berechnet man das System des sechsten Bildes nach den von uns für sein Auge gefundenen Werten, so findet man, dals das Bild eines in der Unendlichkeit ge- legenen Gegenstandes sich 20,5 mm hinter der Cornea befindet Da aber die Betina ungefähr 25 mm hinter der Cornea liegt, so ist es kaum zu verwundem, wenn auf derselben ein sehr un- scharfes Bild zu Stande kommt.

Die Rechnung weist allerdings darauf hin, dals das sechste Bild auf der Betina entworfen werden muJs, wenn der Gegen- stand ungefähr 2 cm vor der Cornea gelegen ist. Mein Gehülfe sah das Bild in der That scharf, wenn man das Licht auf einen nahe am Auge gelegenen Punkt konvergieren liels. Das Phänomen ist aber nicht hinreichend scharf ausgesprochen, um durch einen exakten Versuch den Ort bestimmen zu können, an welchem das Bild scharf wird. Deswegen muis man sich hier einer anderen Methode bedienen, welche indes ohne Schwierigkeiten nur bei Augen anzuwenden ist, die das sechste Bild eines in grofser Entfernung befindlichen Gegen- standes scharf zu sehen im stände sind. Da dieses mit meinen Augen möglich ist, so will ich sogleich auseinander setzen, wie ich diese Messungen an meinem rechten Auge an- gestellt habe.

Ich nahm an Stelle des Beobachteten Platz, so dals sich mein rechtes Auge im Centrum des Bogens befand, imd fixierte die Mitte des Objektivs (Null). Nachdem mein Gehülfe die Lampe des Schiebers A angezündet und diesen in eine bestimmte Kntfernung von Null gebracht hatte, verschob er den Schieber //, bis ich diesen mit dem sechsten Bilde zusammenfallen sah.

Beiträge zur Dioptrik des Aitges.

487

Ich irrte mich kaum um einen, höchstens zwei Grad. Die von mir bei horizontal gestelltem Bogen gefundenen Mafse sind folgende:

35® temporal 15®

>?

25® nasal

19®

13®

V

25® nasal

20"

15®

V

24® temporal 20® , 15®

Man kann aus diesen Mafsen mindestens zwei Werte ab- leiten, welche für die Optik des Auges von Bedeutung sind: den Winkel, welchen die Gesichtslinie mit der Augenaxe bildet, und das Gröfsenverhältnis zwischen dem nützlichen (siebenten) und dem sechsten Bilde. Den ersteren findet man nach Me- thode C. Die Axe meines rechten Auges würde diesem Mafse zufolge auf 1^,67 nach aufsen von der G-esichtslinie gerichtet sein.^

Zur Bestimmung des G-röfsenverhältnisses beider Bilder mufs man sich zwei dieser Versuche zu gleicher Zeit ange- stellt vorstellen. Man kann dann die Entfernung, welche die beiden Stellungen der Lampe A voneinander trennen, als Objekt (oder als Projektion seines nützlichen Bildes) betrachten. Die Entfernung zwischen den beobachteten Büdern würde das sechste Bild dieses Objektes sein. Indem man in dieser Weise die ersten Messungen der beiden Serien kombiniert, findet man

das Verhältnis 25 + 24 ^'^^^^'

Die Gröfse eines Retinalbildes hängt bei unendlich ent- ferntem Objekte allein von der Entfernung des hinteren Knoten-

* Es ist hierbei angenommen, dafs es, was freilich nicht immer der Fall ist, eine wahre optische Axe gebe. Man würde also die Bichtiing der Geraden finden, welche sich derselben am meisten nähert. Der Winkel ist viel kleiner, als man ihn durch direkte Messungen findet, was wohl daran liegt, dafs der nasale und temporale Teil der Cornea nicht die- selbe Krümmung haben. Übrigens scheint die Schiefstellung meiner Linse nicht bedeutend zu sein.

488 -31f. Tscheming.

punktes seines Systems von der Ketina ab. Hat man einmal die Konstanten des beobachteten Auges festgestellt, so kann man die Lage des Knotenpunktes der beiden in Frage kommenden Systeme berechnen. Da femer die Lage der Betina durch die Befraktion des Auges gegeben ist, so läfst sich leicht das Gröfsenverhältnis bestimmen, welches zwischen den beiden Bildern besteht. Die so gefundenen Zahlen müssen denen ent- sprechen, welche wir auf dem oben erwähnten Wege gefunden haben. Da die Konstanteil meines Auges nicht bestimmt waren, so konnte die Prüfung nicht vorgenommen werden. Wir können nur sagen, dafs es anders gebaut ist, als das sche- matische Auge, weü in demselben das in Frage kommende Ver-

15 50 hältnis ^= 1,54 oder 1,55 ist, wenn man meiner Myopie

von 0,5 Dioptrieen Rechnung tragen will.

V. Über eine bisher unbekannte Yerändenmg der Linse

bei der Accommodation.

Man kann das accommodierte Auge in derselben Art messen, wie das in Kühe befindliche. Da ich noch nicht Gelegenheit hatte, diese Messungen auszuführen, so will ich mich darauf beschränken, einige Phänomene zu erwähnen, welche man während der Accommodation beobachten kann und welche, wie ich glaube, bisher unbemerkt geblieben sind.

Stelle ich den Bogen horizontal und den Schieber A auf Null, während der Beobachtete die Mitte des Objectivs fixiert, so sind die drei Bilder wie auf Fig. 14 verteilt.^ In dem Augenblicke, in welchem der Beobachtete eine Accommodations- anstrengung macht, sinkt mit einer recht schnellen Bewegung das grofse Bild der vorderen Linsenfläche, indem es kleiner wird, herab und verschwindet hinter dem Comeabilde. Das Auge hat jetzt das Aussehen wie in Fig. 15. Die Zusammen- ziehung der Pupille beginnt gegen Ende dieser Phase.

Das Bild der hinteren Fläche beginnt seinerseits jetzt mit langsamen und ruckweisen Bewegungen zu sinken, um die in Fig. 16 angedeutete Lage einzunehmen. Während dieser Phase vollzieht die Pupille ihre Kontraktion.

' In meinem Fernrohr erscheint natürlich die Anordnung der Bilder und die Richtung der sogleich beschriebenen Bewegungen umgekehrt.

Beiträgt lur Dioptrik des Auges.

489

Wenn der Beobachtete seine Accontmodation entspannt, sieht man das kleine Bild mit einer schnellen Bewegung herauf- schnellen. Erst wenn ee seinen früheren Platz wieder ein- genommen (Fig. 15), sieht man das Bild der vorderen Fläche mit einer langsamen Bewegung seinerseits heraufsteigen.

Die OrtsTerändemng des kleinen Bildes ist erst sichtbar, wenn die Accommodationsanstr engung eine gewisse Grölse erreicht. Wenn die Anstrengung sehr schwach ist, sieht man nur die Ortsveränderung des grofsen Bildes.

490

M. Tachtming.

Der Weg, den dieses letztere durchläuft, ist geradlinig, derjenige des kleineu Bildes zeigt dagegen eine leichte Kon- kavität nach links.

Die Abbildtmgen sind nach dem rechten Aoge meines Oehülfen ausgeführt. Ich füge noch hinzu, daüs Herr Dr. An- TOHELLi ohne sie vorher gesehen zu haben, andere nach meinem rechten Auge gezeichnet hat, welche ihnen völlig gleich waren.

Gieht der Beobachtete seinem Blick eine andere Sich- tang, so ändert die Verschiehnng des kleinen Bildes ihren Charakter und scheint sich aus zwei Verschiebungen znsanunen* zusetzen: ein er gegen die Mitte der Pupille hin, und einer zweiten, welche immer absteigend ist, welches auch die Sichtung des Blickes sei. Bhckt der Beobachtete nach unten, so sieht man während der Accommodation das kleine Bild anfangs etwas heraufsteigen, darauf aber wieder herabsteigen. Beim Blick nach oben vereinigen sich die beiden Verschiebungen zu einer ISn- geren, stets nach unten gerichteten Verschiebung. Für die Seiten- lage schlägt das Bild zuerst eine horizontale Bichtung gegen die Pnpillenmitte ein, um später herabzusteigen.

Es ist klar, dafs die Ortsveränderung des groisen Bildea von der Vergröfserung der Krümmung der vorderen Fläche herrührt, wie bereits Gramer und Helhholtz nachgewiesen haben. Was bedeutet aber die Ortsveränderung des kleinen Bildes,

Beiträge zur Dioptrik des Auges, 491

die fast ebenso grofs scheint, wie die des grofsen Bildes und die dieser folgt?

Die Analyse dieser Phänomene ist recht schwierig, und es hat mir viel Mühe gemacht, dieselben aufzuklären. Die Schwierig- keit liegt darin, dafs man nicht leicht dazu gelangt, die beiden Linsenbilder während der ganzen Dauer der Accommodation zu beobachten. Wenn der Beobachter auf die Mitte des Objektivs blickt, so ist das grofse Bild von dem Homhautbilde verdeckt, während das kleine seinen Ort verändert. In anderen Fällen hindert die Pupillarzusammenziehung.

Es ist zunächst klar, dafs eine Ortsveränderung des Bildes, die immer in derselben Eichtung erfolgt, welches auch die Blickrichtung., sei, weder von einer Änderung der Krümmung, noch von einer Verschiebung der ganzen Linse nach hinten oder nach vorne verursacht sein kann, weil hierbei stets eine Lageveränderung des Bildes entweder in centripetaler oder centrifagaler Richtung eintreten müfste.

Es bleibt daher nur die Möglichkeit von zwei Verände- rungen: eine Neigung der Linse, welche, um die beobachtete Erscheinung erklären zu können, in ihrem oberen Teile nach vorne statthaben müfste, oder eine Verschiebung nach unten.

Die Lageveränderungen des grofsen Bildes während der Accommodation lassen sich nach Helmholtz in der Art beobachten, dafs die Winkelentfemung zwischen Femrohr und Lampe durch die öesichtslinie halbiert wird. Ge- wöhnlich verschwindet aber das kleine Bild unter diesen Umständen während der Accommodation infolge der Pupillar- kontraktion. Um es beobachten zu können, ist es hingegen vor- teilhaft, die Lampe nahe an das Fernrohr zu stellen. Nützlich ist es daher, zwei Lampen, für jedes Bild eine, zu benutzen. Ich gab dem Bogen eine vertikale Stellung und stellte den Schieber A auf Null, wodurch die eine Lampe 4 bis 5^ nasalwärts in die Höhe des Femrohres zu hegen kam; eine zweite Lampe brachte ich ebenfalls in gleiche Höhe mit dem Femrohr und zwar etwa 45^ temporalwärts, während die Fixationsmarke sich 4 bis höher als das Femrohr, 20® temporalwärts befand. Bei dieser Lage sah man das grofse Linsenbild der zweiten Lampe genau in der Höhe der Comeabilder. Während der Accommo- dation verschob sich das grofse Linsenbild zunächst in hori- zontaler Sichtung gegen das Comeabild, wandte sich aber,

492 -2lf. Tscheming.

ehe es letzteres erreicht hatte, plötzlich nach unten. Während dieser Zeit rückte das kleine Linsenbild der zweiten Lampe ein wenig in horizontaler Richtung gegen die Mitte der Pupille vor, um darauf eine absteigende Sichtung ebenso wie das grofse einzuschlagen. Hieraus ergiebt sich, dafs die Linse gegen Ende der Accommodation sich nach unten verschiebt. Der horizontale Teil des vom kleinen Bilde zurückgelegten Weges entspricht einer wahren Vergröfserung der Krümmung der Fläche.

Ich stelle jetzt die Fixationsmarke 2,5 Grad über dem Horizont des Femrohres auf, eine Lage, in welcher sich die Linsenaxe in einer der Femrohraxe parallelen Ebene befindet. Man hat dann die vier Linsenbilder (angenommen, sie seien alle sichtbar) auf derselben Horizontalen und die beiden Hom- hautbilder auf einer anderen niedriger gelegenen Geraden. (Fig. 12.) Während der Accommodation senken sich die Linsen- bilder, um auf die Horizontale zu gelangen, auf der sich die Homhautbilder befinden. Wie wir gesehen haben, befindet sich im Buhezustande die Linsenaxe 0,25—0,50 mm über dem Krümmungsmittelpunkt der Hornhaut; während der Accom- modation steigt nun die Linse derart herab, dafs der Elrünmiungs- mittelpunkt der Cornea auf ihre Axe zu liegen kommt. Gegen Ende der Accommodation war also das Auge nahezu centriert, die Gesichtslinie aber bildete immer noch einen Winkel von ungefähr zwei Grad mit der Axe.

Optische Streitfragen.

Von

Th. Lipps.

I.

Zu Dr. Otto Schwarz' „Bemerkungen über die von Lipps und Cornelius besprochene Nachbilderscheinung".

Ich deute ssuerst noch einmal an, um welche Nachbild- erscheinung es sich hier handelt, natürlich ohne die im Band I. dieser Zeitschrift, S. 60 ff., gegebene genauere Beschreibung zu wiederholen. Wenn ich meinen Blick von einem leuchtenden Objekte rasch wegwende, so scheint ein heller Lichtstreif aus dem Objekte nach entgegengesetzter Sichtung herauszu- schiefsen; wenn ich dem Objekt den Blick rasch wieder zu- wende, so scheint ein ebensolcher Lichtstreif in umgekehrter Bichtung in das Objekt hineinzuschiefsen.

Meine Erklärung dieser Nachbilderscheinung und ebenso die von Cornelius gegebene meint Schwarz durch seine „Be- merkungen" im vorigen Hefte dieser Zeitschrift widerlegt zu haben. Lassen wir dahingestellt, wie es mit der Widerlegung Cornelius' bestellt ist. Meine Erklärung kann Schwarz schon darum nicht widerlegt haben, weil er da, wo er sich gegen mich wendet, der Hauptsache nach gar nicht von mir redet, sondern von einem mir Unbekannten, dem er nur meinen Namen leiht. Dafs Schwarz die Erklärung dieses Unbekannten gezwungen findet, wundert mich nicht; dafs er sie scharfsinnig nennt, wundert mich sehr. Ich finde sie gedankenlos.

Der Unbekannte erklärt die fragliche Erscheinung: durch die Annahme, „dafs die Gröfse des Winkels, um die sich bei der raschen BUckbewegung das Gesichtsfeld im Baume ver- schiebt xmd damit auch die von diesem Winkel abhängige

Zeitfehrift fUr Psychologie m. 32

494 Th. Lipps.

Länge des während der Blickbewegung entstandenen Nachbild- streifens überschätzt werde^ etc. Ich erkläre, wie jeder Leser meines Aufsatzes weifs, die Erscheinung aus einer nicht an- genommenen, sondern thatsächlichen Unter Schätzung jenes Winkels, und von einer Schätzung der Länge des Streifens, sei sie Über- oder ünterschätzung, ist bei mir mit keiner SUbe die Bede.

Dies dürfte zur Charakteristik meines Gegners genügen. Um der Sache willen folge ich Schwabz' Gedankengängen noch etwas weiter. Schwarz nennt jenen Streifen einen regel- widrigen und meint, es sei nach meiner Auffassung unerklärUch, warum er wesentUch heller erscheine, als der ordnungsgemäise, d. h., als das positive Nachbild, das ihm nach einiger Zeit nachzufolgen pflegt. Darin zeigt sich eine völlige Unklarheit über das, worum es sich in der ganzen Sache handelt.

Was ist der Streifen, von dem ich rede? Nichts als ein höchst einfaches und selbstverständliches Beispiel der jedermann bekannten und bei allen Lichteindrücken unvermeidlichen un* mittelbaren Nachdauer eben dieser Lichteindrücke. Jeder weifs, dafs die vor dem ruhenden Auge rasch vorbeibewegte glühende £ohle das Bild eines leuchtenden Streifens ergiebt. Genau dasselbe Bild mufs sich ergeben, wenn die glühende Kohle ruht und statt ihrer der Blick sich bewegt. Solche Streifen sind es, von denen ich in meiner Abhandlxmg einzig rede. Das positive Nachbild, das ihnen nach einiger Zeit folgt, und das allerdings viel lichtschwächer ist, kommt für das ganze Problem in keiner Weise in Betracht. Auch jene unmittelbare Nachdauer ist freilich ein „Nachbild*', und zwar ein positives Nachbild, und ich habe es in meiner Abhandlung gelegentlich ausdrücklich so genannt. Zugleich aber habe ich es als „un- mittelbare Beiznach Wirkung^, als „Nachbild in diesem Sinne^ von allen sonstigen Nachbildern genügend deutlich unter- schieden.

Es ist also der „regelwidrige" Lichtstreifen die ordnungs- gemäfseste Sache von der Welt und gar keiner Erklärung be- dürftig. Eine Erklärung fordert einzig die Lokalisation des- selben. Meine Erklänmg dieser Lokalisation beruht, wie gesagt im Gegensatz zu der des „Unbekannten" auf der That- sache der Unterschätzung rascher Blickbewegungen. Mit solcher Unterschätzung geht allemal notwendig die Vorstellung einer

Optische Sireitfragen. 495

in entgegengesetzter Bichtung geschehenden eigenen Bewegung der im Gesichtsfeld befindlichen Objekte Hand in Hand, umge- kehrt wird durch den Schein dieser eigenen Bewegung die Unterschätzung der Blickbewegung bewiesen. Was ich un- mittelbar wahrnehme, wenn sich die Entfernung zwischen meinem Blickpunkt und irgend welchen Objekten vergröfsert oder verringert, ist ja jedesmal nur eben diese absolute Ver- gröfserung oder Verringerung. Sie fasse oder deute ich dann als Bewegung des Blickpunktes vom bezw. zum Objekt oder als Bewegung des Objektes vom bezw. zum Blickpunkt, je nach- dem mich Erfahrungen zur einen oder anderen Deutung veran- lassen; und ich deute sie jedesmal im einen Sinne, in dem MaTse, als ich sie nicht im anderen Sinne deuten kann oder meine deuten zu können. Dafs wir insbesondere bei raschen Blickbewegungen von Objekten weg oder nach Objekten hin einen Teil der Bewegung auf die Objekte tibertragen, ist keine eigens dem Nachbildstreifen zuliebe aufgestellte Hypothese, sondern eine Thatsache, die jederzeit völlig unabhängig von jenem Streifen beobachtet werden kann.

Aus diesen beiden Thatsachen, jener Nachdauer aller Ge- sichtseindrücke und diesem Schein einer eigenen Bewegung von Objekten ergiebt sich das Wesentliche an der hier in Sede stehenden Nachbilderscheinung von selbst. Indem ich sie darauf zurückführe, ziehe ich nur die Konsequenz aus be- kannten Thatsachen. Es leuchtet ein, dafs gegen eine solche Erklärung blofse Meinungen, es könne auch anders sein, nicht verfangen.

Aber Schwarz führt eine Thatsache an, die mich direkt widerlegen soll. Nämlich folgende. Man richte bei der raschen Bliokbewegung von einem leuchtenden Punkte hinweg die Sache so ein, dafs der Punkt im Anfang der Bewegung durch ein blaues Glas verdeckt ist, im weiteren Verlauf derselben frei hervortritt; es erscheint dann der Streifen in seinem An- fangsteil blau, dann in seiner eigenen Farbe. Schwarz meint, nach meiner Erklärung müfste es sich umgekehrt verhalten.

Wiederum brauche ich keinem Leser meiner kleinen Ab- handlung zu sagen, dafs es sich nach meiner Erklärung nicht umgekehrt, sondern genau so verhalten mufs, wie Schwarz an- giebt. Nehmen wir der Einfachheit des Ausdrucks halber im folgenden immer an, die rasche Blickbewegung geschehe nach

32*

496 Th, Lippa.

oben. Das Licht sei an sich weifses Licht. Ln Anfangs- moment der Bewegung , d. h. dem Moment der Fixation des Lichtes gewinne ich das Bild eines blauen Punktes. Derselbe gehört meinem Blickpunkt an, wird also, wenn ich den Blick- punkt nach oben verschiebe, nach oben mitgenommen. Auch im zweiten, dritten, vierten Moment etc. der Bewegung ge- winne ich jedesmal das Bild eines blauen Punktes. Auch diese Bilder werden, nachdem sie entstanden sind, nach oben mitge- nommen. Diese Bilder gehören aber immer weiter unterhalb des Blickpunktes gelegenen Punkten des Sehfeldes an; sie bilden mit jenem ersten Punkte zusammen einen von dem nach oben rückenden Blickpunkt aus nach unten zu sich entwickelnden blauen Streifen. Von einem bestimmten Momente an treten an die Stelle der blauen weisse Lichteindrücke. Natürlich gehören diese noch weiter nach unten liegenden Punkten des Sehfeldes an; d. h., der Streifen, der in seinem zuerst entstehenden oberen Teile blau ist, erscheint in seinem später entstehenden unteren Teile weifs. Das ist doch wohl genau das, was Schwarz sagen will.

Vervollständigen wir das Bild. Der Streifen, so sagte ich, entstehe vom Blickpunkt aus nach unten. Andererseits entsteht er, während der Blickpunkt nach oben rückt. Jetzt erhebt sich die Frage, wie weit das obere Ende oder der Kopf des Streifens und damit der ganze Streifen nach oben mitgenonunen wird. Es fragt sich andererseits, um wieviel die Bewegung nach oben unterschätzt wird. Je weiter der Kopf des Streifens mitgenommen wird, um so länger wird der Streifen. Er wird aber, wenn wir von der Litensität des Lichtpunktes absehen, um so weiter mitgenommen, je rascher die Bewegung ist. Zu- gleich wächst aber auch mit der Baschheit der Bewegung die ünterschätzung der Bewegungsgröfse und damit der Zwang? den Kopf des Streifens und mit ihm den ganzen Streifen al^ nach unten sich bewegend vorzustellen. Setzen wir den be- sonderen Fall, das Stück, um welches der Kopf des Streifens mitgenommen wird, und das Stück, um welches die Blick- bewegung unterschätzt wird, seien sich gleich, dann müssen wir den Eindruck gewinnen, der Kopf des Streifens beweg© sich gar nicht, der Streifen entstehe also von einem ruhenden Punkte aus nach unten. Dieser ruhende Punkt ist nun keiii anderer, als derjenige, an dem sich das leuchtende Objekt

Optische Streitfragen, 497

nicht nur thatsächlich die ganze Zeit über befanden hat, sondern an dem es auch vor der Blickbewegung in aller Bestinuntheit und Deutlichkeit wahrgenommen wurde. Der Streifen scheint demgemäfs aus dem ruhenden Objekte selbst nach unten her- auszuschiefsen.

Diesen Thatbestand könnten wir auch, obgleich nicht eben sehr klar, in dem ScHWAAZschen Satze ausdrücken, der Streifen werde so lokalisiert, „als ob die Blicklinie noch auf den ursprünglichen Fixierpunkt eingestellt wäre". Schwabz meint in dem Satze eine eigene, von der meinigen abweichende Er- klärung des Phänomens zu geben. In der That giebt er nur den unter den bezeichneten Voraussetzungen stattfindenden und in meiner Abhandlung zur Genüge festgestellten Thatbestand. Der Unterschied zwischen Schwarz und mir besteht in Wirk- lichkeit darin, dafs Schwarz nichts erklärt. Denn auch die später 2ur Stütze seiner Erklärung hinzugefügten, völlig un- begründeten und unpsychologischen Vermutungen haben mit Erklärung nichts gemein.

Zudem übersieht Schwarz völlig die Modifikationen der Nach- bilderscheinung, die unter anderen Voraussetzungen sich ein- stellen. Er erklärt also auf Grund einer halben Kenntnis des Sachverhaltes, obgleich er ihn aus meiner Abhandlung ganz kennen mülste. Ist die Bewegung des Auges eine sehr rasche und weite und das Objekt nicht allzu leuchtend, so geschieht es, und mufs es meiner Erklärung zufolge ge- schehen, dafs der Streifen aus dem Objekt herauszuschiefsen und zugleich das Objekt selbst mit dem Streifen sich nach unten zu bewegen scheint. Hier ist eben das Stück, um welches die Bewegung imtersohätiet wird, gröfser, als das Stück, um das die Lichteindrüoko mitgenommen werden. Das Umgekehrte geschieht, d. h., wir haben tlen Eindruck, dafs der Lichtstreifen zugleich nach obon über das Objekt hinaus schiefst, wenn daH louohtondt^ Objekt sehr grofse Leuchtkraft besitzt, und darum dio l4iohtt^indrüoke weiter als sonst mitgenommen werden. Ht^i dor ItMiohttaul untergehenden Sonne ist es mir gelungen, auoh bei rt^lativ weiten Bowc^gungen den Streifen bis zum Endpunkte dt^r Howt^gnng mitzunehmen. Li diesem Falle war alno von tnnov talnohen LokaliHation des Streifens keine Rode nu»hr. - Alle ilieue BeHonderheiten ergeben sich von selbst auH nieinor Krklänmgi sind also eben-

498 ^ ^PPS'

soviele Bestätigungen derselben. Dagegen ist zu bedauern, da(s ScHWABZ nicht daran gedacht hat, sie aus seinen Hypothesen verständlich werden zu lassen.

Im Gegensatz zum ^herausschiefsenden^ Streifen erUärl Schwarz den ^hineinschiefsenden^ Streifen aus ürteilstäuschnng, also in meiner Weise. Der Gedanke, dafs beide Ersoheinungen zwei Seiten derselben Sache sind, also prinzipiell die gleiche Erklärung fordern, scheint ihm fem zu liegen.

Damit sind die IJnverständlichkeiten der ScHWARZsohen Arbeit nicht erschöpft. Was soll es heifsen, wenn Schwabs meint, die gelegentlich so auffallend grofse Länge des reiznlr widrigen Streifet spreche gegen meine At^assn^? Waa Ut überhaupt die Länge des Streifens mit meiner Auffassung za thun? Dafs der regelwidrige Streifen nicht nur oft, wie Schwabs meint, ^mehr als ein Drittel des ganzen Streifens^, das soll doch wohl heifsen : mehr als ein Drittel des ihm nachfolgenden positiven Nachbildes beträgt, sondern genau so grofs sein kann, wie dieses, haben wir eben gesehen.

Oder welchen Sinn hat es, wenn mir Schwabz zur WidOT- legung meiner Überzeugung, dafs Augenbewegungen nur über die Lage des Sehfeldes im Blickfeld orientieren, mitteilt, das Sehfeld sei nicht, wie ich annehme, eine subjektiv bostimmte Abgrenzung des Gesamtraumes. Wo nehme ich dergleichen an? Oder was hat die Bestimmtheit der Abgrenzung mit jener Überzeugung zu thun? Ln übrigen muis ich mirs eben ge- fallen lassen, dais Schwarz und Cornelius jene meine Ein- schränkung der Bedeutung der Augenbewegungen unrichtig finden, da ja keiner von beiden meine Gründe entkräftet und seine Gegengründe anführt.

Es ist Schwarz in seiner Abhandlung gelungen, mich in allen wesentlichen Punkten sagen zu lassen, was ich nicht sage, oder wovon ich das Gegenteil sage, und überall gegen mich geltend zu machen, was unmittelbar zu meiner Anschauung gehört, oder gar keinen Bezug darauf hat.

n.

Zu Franz Brentanos „Über ein optisches Paradoxon*^.

Brentano erklärt im vorigen Heft dieser Zeitschrift ge- wisse Überschätzungen und IJnterschätzungen von Distanzen

Optische Sireitfragen, 499

aus der überscliätzung kleiner und der ünterschätzung grofser Winkel. Ich finde die thatsächliclien Mitteilungen und die Art der Anordnung der Fälle sehr dankenswert. Hinsichtlich der vorgeschlagenen Erklärung aber erlaube ich mir folgendes zu bemerken.

1. Angenommen, es habe mit der Über- oder Unterschätzung der Winkel in jedem der von Bbentamo mitgeteilten Fälle seine Dichtigkeit, so folgt daraus doch nicht die von Brentano daraus abgeleitete Überschätzung oder ünterschätzung von Distanzen. Eine scheinbare Verkürzung der vertikalen Linie in Brentanos Fig. 1 etwa ergiebt sich nicht dann, wenn ich die Schenkel der oben und unten angefügten spitzen Winkel irgendwie in Gedanken auseinanderbiege, sondern nur, wenn ich dies so thue, dals zugleich der Scheitel des oberen Winkels nach unten, der des unteren nach oben rückt. Und dies geschieht, wenn ich etwa die Schenkel um einen als unbeweglich vorgestellten Punkt ihre Mitte sich drehen lasse. In der That macht Bren- tano diese Annahme. Man sehe S. 357 und insbesondere Fig. 20 seines Aufsatzes. Diese Annahme beruht aber auf einer falschen Voraussetzung.

Ein richtiger Gedanke freiUch büdet den Ausgangspunkt. Überschätzung eines Winkels ist Überschätzung der Divergenz der Winkelschenkel; und diese wiederum ist zunächst nichts anderes, als immer stärkere Überschätzung der Distanzen zwischen den aufeinanderfolgenden Punkten der Winkel- schenkel. Angenommen nun, es hätte dabei überall sein Bewenden, so wäre von einer scheinbaren Verkürzung der vertikalen Linie in Fig. 1 nach Brentano natürlich keine Sede. In der That aber hat Brentano völlig Becht mit der Annahme, dals wir den Abstand weiter vom Scheitel entfernter Punkte der Winkelschenkel nicht in dem Malse überschätzen, wie es bei einer konsequenten Divergenzüber- schätzung der Fall sein müTste. Die Überschätzung hört vielmehr, wie von vornherein erwartet werden mufs, auf in dem Mafse, als wir, eben wegen der gröfseren Entfernung vom Winkelscheitel, dem Einflufs der Wahrnehmung des Winkels entrückt sind. Aber, so frage ich, was heifst dies anderes, als dafs wir an die Divergenz der Winkelschenkel im weiteren Verlauf derselben nicht mehr glauben, dafs diese Divergenz mit der Entfernung der Winkelschenkel vom Scheitel allmählich

500 Th. Upps.

sich zu vermindern, also in relative Konvergenz nmzusclilagen scheint? In der That verhält es sich so. Wir entgehen dem Widerspruch zwischen der Überschätzung der Divergenz und der von der Wahrnehmung des Winkels immer weniger beein- flufsten, also immer richtigeren Schätzung der Abstände zwischen den vom Scheitel entfernteren Schenkelpunkten durch die Vorstellung einer Krümmung der Winkelschenkel. Das ZOllneb- sehe Muster zeigt dieselbe deutlich. Damit ist die BfiENTANOsche Hypothese, die auf der Voraussetzung beruht, dais die Winkel- schenkel fortfahren, als gerade Linien zu erscheinen, hinfaUig. 2. Es ist, wie ich in meinen „Ästhetischen Faktoren der Baumanschauung^ gezeigt habe, ein Irrtum, zu meinen, spitze Winkel würden als solche überschätzt, stumpfe unterschätzt. Vielmehr haben solche Über- oder ünterschätzungen jedesmal,

wenn sie stattfinden, besondere Gründe. Und diese Gründe sind so geartet, dals sie Brentanos Versuch, aus Winkel- schätzungen die Distanzschätzungen un- mittelbar abzuleiten, unmögUch machen. 3. Es befinden sich aber auch unter den BBBNTANOschen Fällen solche, bei denen zweifellos nicht die von Brentano vorausgesetzte, sondern die entgegen- gesetzte Winkelschätzung stattfindet und da Brentano mit Becht alle an- geführten Fälle unter den gleichen Gesichtspunkt stellt, so ist damit über- haupt seine Erklärung hinfällig. Man vergl. etwa mit Brentanos Figg. 12 14 nebenstehende Fig. I. Nach Brentano müfsten die stumpfen Winkel unter- schätzt werden. Die Neigung aber, welche die einander parallelen Mittel- stücke der 5 Liniensysteme zu einander zu haben scheinen, beweist vielmehr eine Überschätzung derselben. Oder man vergleiche speziell Brentanos Fig. 13 mit unserer Fig. II. In dieser Figur sind die mittleren Linien, d. h., alle ^..,.7. aufser den frei endigenden, einander

optische Streitfragen.

501

gleich. Die Winkel, welche die Schrägen miteinander ein- schliefsen, sind rechte, die Winkel, welche die mittlere Ver- tikale mit den Schrägen einschliefst, danach Winkel von 135^ Die rechten Winkel werden nicht überschätzt, sondern ziemlich erheblich unterschätzt, die stumpfen Winkel also entsprechend überschätzt. Trotz dieser Überschätzung der stumpfen Winkel werden die rechten Schrägen im Vergleich zu den linken bei denen zu einer falschen Schätzung, in jedem Falle zu einer unter- Schätzung kein Grund vorliegt über- schätzt, während sie nach Brentano unter- schätzt werden müfsten. und trotz der erheblichen ünterschätzung der Bechten bleibt es bei der Überschätzung der mitt- leren Vertikalen, die Brentano in seiner Fig. 2 auf Überschätzung der spitzen Winkel zurückführt, die also, zufolge seiner Theorie, hier in Unterschätzung umschlagen müfste. Dafs der Eindruck der Täuschung in unserer Fig. H wesentUch geringer ist, als in den BRBNTANOschen Figuren, wird natürlich niemand verwundern. Die Be- dingungen der Täuschung sind hier, auch abgesehen davon, dafs den Überschätzungen der Linien keine ünterschätzungen gegenüberstehen, wesent- lich ungünstiger, weil die Bedingungen des Vergleichs wesent- lieh günstiger. Aber es genügt, dafs die Täuschungen trotzdem nicht, fehlen, übrigens thut man gut, die Figur von verschiedenen Seiten zu betrachten und ihre Teile in ver- schiedener Weise zu vergleichen. Der Eindruck wird dann, obgleich die Gröfsenverhältnifse sich scheinbar verschieben, deutlicher. Die Täuschung hinsichtlich des Ghröfsenverhält- nisses der rechten und linken Schrägen wird natürlich stärker, wenn man nicht die unmittelbar nebeneinander befindlichen Schrägen, sondern mit der unteren rechten die obere linke, mit der unteren linken die obere rechte Schräge vergleicht. Unmittelbare Nachbarschaft korrigiert überall die falschen Schätzungen.

4. Brentano widerlegt sich selbst durch seine Figg. 7, 8, 23,

JPig, IL

502 Th. lApps.

24; auch durcli Fig. 4, wenn man hier die Bogen so zeichnet, dals die vertikale Linie zur gemeinsamen Tangente derselben wird, also von einem Winkel keine Bede ist. Oder haben wir hier doch den Eindruck eines Winkels? Dann bleiben wenigstens die anderen Figuren als Gegeninstanzen bestehen. Brentano findet bei ihnen die Täuschung wesentlich geringer. Ich finde sie deutlich genug. In jedem Falle fordert die Täuschung hier ein eigenes von dem BRENTAKOschen abweichendes Erklärungs- prinzip. Und dies Erklärungsprinzip könnte so geartet sein, dafs daraus auch die Täuschung in den anderen Fällen und zugleich die gröfsere Stärke dieser Täuschung notwendig folgte. In der That ist es so.

5. Es ist leicht, BRENTANOsche Fälle so zu modifizieren, dafs die Täuschung bleibt, Brentanos Erklärungsprinzip aber ganz abgesehen von seiner Richtigkeit unanwendbar wird. Man vergröfsere in Brentanos Fig. 6 die beiden Winkel allmähhch, bis sie zu rechten werden. Dann bleibt, wie wir schon gesehen haben, die Täuschung bestehen. Bechte Winkel können aber im Grunde nach Brentano, da nach ihm spitze überschätzt, stumpfe unterschätzt werden, nur richtig geschätzt werden. Oder sollte ich darin irren, so treibe man die Vergrölserung der Winkel weiter, bis zu 120®. Auch jetzt noch bleibt die Überschätzung der vertikalen Distanz bestehen, sie schlägt nicht etwa in ünterschätzung um. und die Überschätzung besteht, mag man die Figur mit der in gleicher Weise modifizierten Fig. 5 ver- gleichen oder eine einfache Punktdistanz zum Vergleich da- neben stellen. Natürlich ist im letzteren Falle die Täuschung geringer. Ganz genau dasselbe gilt von Figg. 1 und 2. In Fig. 2 sind, wenn der Winkel zwischen den Schrägen 120** be- trägt, alle Winkel einander gleich, es kann also von einer ver- schiedenen Schätzung gröfserer und kleinerer Winkel keine Bede sein; die vertikale Linie wird aber auch unter dieser Voraussetzung überschätzt, und zwar, wie ich ausdrücklich be- tone, auch im Vergleich mit einer gleich grofsen einfachen Linie.

6. Angenommen, Brentanos ganze Auseinandersetzung wäre überall unwiderlegbar, so giebt es doch zweifellos andere Gründe optischer Täuschungen, und unter diesen einen der alle Brsn- TANOschen Fälle miterklärt, also Brentanos Erklärungsprinzip gegenstandslos macht. Man verlängere zwei parallele Seiten

Optische Streitfragen, 503

eines Quadrats über die Ecken hinaus. Diese Seiten scheinen

dann länger; das ganze Quadrat scheint in der betreffenden

Sichtung gestreckt. Das Erklärungsprinzip' ist das in den

^Ästhetischen Faktoren der Baumanschauung^ entwickelte.

Obgleich ich dasselbe bei den Lesern dieser Zeitschrift etwa

aus der Selbstanzeige, S. 219 ff. dieses Bandes als bekannt vor-

änssetzen darf, deute ich es doch, soweit es hier in Betracht

kommt, an. Die Quadratseiten „verlaufen^, „strecken sich^,

kurz, repräsentieren eine Bewegung. Diese Bewegung erscheint

in dem reinen Quadrat an den Ecken abgeschnitten, angehalten,

gehemmt. Sie scheint von solcher Hemmung frei und frei aus

sich herausstrebend, wenn die Seiten sich fortsetzen. Solche

frei, „siegreich"' aus sich herausgehende Bewegung nun wird

überall in ihrem Erfolg, d. h., hinsichtlich der Weite des Weges,

der durch sie durchmessen wird, überschätzt, die gehemmte

fiberall unterschätzt. Wir glauben, allgemein gesagt, an den

Erfolg einer Bewegung in dem Mafse, als wir dem Eindruck

der Bewegung ohne den Gedanken an eine Hemmung oder

Gegenbewegung unterliegen. In allen von Brentai^o angeführten

Beispielen der Überschätzung unterliegen wir aber, und zwar

aus hier nicht auszuführenden Gründen in besonderem

Malse dem Eindruck einer frei aus sich heraus oder in die

Weite gehenden, von einer Mitte fortstrebenden, in allen Fällen

der Unterschätzung dem Eindruck einer in sich zurückkehrenden,

einer Mitte zustrebenden Bewegung; und in dem Malse, als

jenes oder dieses der Fall ist, besteht die Über- oder ünter-

schätzung.

7. Diese Erklärung ist nicht mit der von Brentano unter No. 2 seines Aufsatzes zurückgewiesenen identisch. Bei seiner Fig. 2 etwa an „gespannte Stricke^ zu denken, geht gewifs nicht an. Vielmehr ist hier, wie überall, nur dies in Frage welche Vorstellung einer Bewegung bei Betrachtung der Linien uns beherrscht. Eben dieser herrschenden Bewegungsvorstellung, oder eben dieser in unserer Vorstellung herrschenden Bewegung geben wir in unserer Vorstellung oder unserer Schätzung nach und modifizieren danach das Gröfsenurteil, das wir abgesehen davon, also aus der blofsen Wahrnehmung gewinnen würden. Auch die falschen Schätzungen von Winkeln die aber, wie wir gesehen haben, weit entfernt sind, dem von Brentano geglaubten „Gesetz^ zu gehorchen erklären sich erst aus dieser Anschauung.

504 Th. Lipps.

8. Es mufs schliefslicli allgemein als ein gefährliclies üntor* nehmen bezeichnet werden, wenn man versucht, einzelne optische Täuschungen oder Gruppen von solchen für sich zu erklären, statt die grofse Mannigfaltigkeit der Fälle im Zusammenhang zu betrachten. Optische Täuschungen sind ja nicht Ausnahmen, sondern finden überall statt. Vor allem besteht überall hA unseren räumlichen Gröfsenurteilen der Einflufs der Faktoren, die ich mit Absicht, obgleich für manchen vielleicht paradox, als „ästhetische Faktoren der Saumanschauung" bezeichnet habe.

Litteraturbericht.

GivsBFPB Fasoul. Solle variazioni tenniche ceüeJiche dnraate 11 llngnag- tXo parlAtO. Arch. per U Scienee med. XV. (1890) No. 4. S, 51—88.

Fasola hat auf thermogalvanometrischem Wege den EinfluTs des Sprechens auf die Temperatur der der BaocAschen Hegion entsprechenden Stelle des Schädels hei sich festzustellen versucht. Die Versuchs- anordnung ist im Original nachzulesen. F. findet, dals in der g^olsen Mehrzahl der Fälle heim lauten Sprechen eine Ahlenkung der Galvano- metemadel stattfindet, und zwar hald nach der einen, hald nach der anderen Bichtung. Die Temperaturerhöhung (his zu 0,07^ findet also hald rechts, hald links statt, im ganzen allerdings vorwiegend links, zu- weilen auch auf heiden Seiten. Ein asymmetrisches Sinken der Tem- peratur, worauf ja an sich die Nadelahlenkung ehensogut deuten könnte, glauht F., auf Grund hesonderer Kontroll versuche ausschlielsen zu können. Weiterhin ergahen Gegenversuche, däfs Veränderungen der Bespiration, Aussprechen einfacher Vokale und Zungen- und Lippen- bewegungen ohne Aussprechen von Worten keine Nadelahlenkung he- wirken. Bei unhörhar^ leisem Hersagen auswendiggelemter Verse zeig^te sich nur geringe Ahlenkung. Danach scheint das Hören der ge- sprochenen Worte von wesentlichem EinfluTs auf die Temperaturver- änderung. Die Ahlenkung der Nadel hegann 10—30 Sekunden nach Anfang des Sprechens und vollzog sich langsam und kontinuierlich Innerhalh 20—60 und mehr Sekunden. Hörte das Sprechen auf, so kehrte die Nadel erst nach 5 10 Sekunden wieder langsam zurück.

Ührigens fand F., dafs überhaupt die beiden Kopfhälften so namentlich stets nach geistiger oder körperlicher Arbeit meist un- gleiche Temperatur haben, imd zwar ist häufiger die linke Schädelhälfte die wärmere. Die Differenzen betragen bis zu 0,12^.

Nicht unwesentlich war es auch, ob das Sprechen mit intensiver geistiger Arbeit verknüpft war oder nicht. Im ersteren Fall war die Ablenkung im allgemeinen gröfser und dauerte länger, die Bückkehr war langsamer und nicht so vollständig. Geistige Anstrengung ohne Sprechen führte, wenn auch noch so intensiv und anhaltend, nie zu einer erheblichen Nadelablenkung. Geistige Arbeit vermag nur die

^ Die Ohren wurden aufserdem verschlossen.

506 LiUeraturhericht

durch das Sprechen herbeigeführte Temperatardifferenz zu verstärken und anhaltender zu machen. Die Nachwirkung des mit geistiger An- strengung verbundenen Sprechens, welche sich aus der erw&hnten unvollständigen Rückkehr der Nadel ergiebt, ist über dem ganzen Stiin- him zu konstatieren, während die augenblickliche bei j edem Sprechen eintretende Nadelablenkung nur in einem Bezirk von 3 cm Durchmesser über der BaocASchen Stelle deutlich nachweisbar ist.

In einer SchluTserörterung glaubt F. folgern zu können, dais die beobachteten Temperaturerhöhungen auf entsprechende Temperature^ höhungen des Sprachcentrums an der BsocAschen Stelle links und eines „subsidiären'* Sprachcentrums an der entsprechenden Stelle rechts zurück- zuführen sind. ZiEHER (Jena).

M. TscHBRNiNG. fiecherches aar la qnatiitoe Image de Pubkxhjb. Ar<k de Physiol 5. s6r. T. HI. (1891), p. 96—107.

Theorie des Images de Pübxinjb et döscription d'nne noimlli Image. Ärch, de Physiol 5. s6r. T. m., p. 357—372. (1891.)

Snr nne Image ä la fois catoptiique et dioptrigue de Toeil humain et une nouvelle möthode ponr döterminer la direetion de Tai» optique de l'oeil. Buü, de la Soc, FrauQoise d'ophtfuUmologie. 1891, p. 203.

Note snr nn changement jnsqa'ä prteent Inoonnii, qae snUt to cristallin pendant raccommodation. Arch. de JPhysiol 5. s6r* T. IT., pag. 168—163. (1892.)

Die in diesen Abhandlungen mitgeteilten Beobachtungen bringen uns eine schätzenswerte Erweiterung unserer Kenntnisse über die Dioptrik des menschlichen Auges. Bezüglich der Einzelheiten sei anf eine S. 429 dieses Bandes abgedruckte Originalabhandlung des Verfassers verwiesen. Abthub Kövig,

E.HsBiNG. Zur Diagnostik der Farbenblindheit. Gräfes ArcK XXXVI (1), S. 217—233. (1890.) Nach einer eingehenden Kritik der bisher praktisch zur Diag- nose der Farbenblindheit hauptsächlich benutzten Methoden be- schreibt der Verfasser einen kleinen transportablen Apparat, der zwar dem Untersuchenden nicht gestattet, die Entstehung der Farben- gleichungen mit zu beobachten, aber viele anderen Vorteile der bisher vor- geschlagenen Methoden in sich vereinigt und daher, auch nach Ansicht des Referenten, der den Apparat aus eigener Prüfung kennt, in jeder Hinsicht zu empfehlen ist.

Von den sechs Wänden eines kubischen Kästchens aus geschwärztem Messingblech sind drei (die beiden seitlichen a und 5 , und die untere c) zur Hälfte entfernt, so dafs das Kästchen drei rechteckige Öffnungen hat. Von den beiden seitlichen Offnungen ist die eine a auf der vorderen, die andere h auf der hinteren Hälfte der Wand. Die dritte Öffnung c entspricht der vorderen Hälfte der Unterseite. Jede dieser drei Öffnungen ist durch farbiges Glas verschlossen und wird von weifsem Lichte beleuchtet, welches von matt geschliffenen Milchglas-

LittercOurhericht, 507

platten ausgeht und durch das farbige Glas entsprechend gefärbt ins Innere des Kästchens gelangt. Hier sind zwei Glasplatten von der halben Breite des Kästchens kreuzweise in den beiden diagonalen Bichtungen (d. h. schräg von oben nach unten) angebracht. Die nach vorne liegende trägt keinen Belag, wohl aber die hintere. Ist nun die untere Offiiung c z. B. mit rotem Glase verschlossen, so gelangt das von der Milch- glasplatte kommende weifse Licht rot gefärbt in das Kästchen und weiterhin durch das unbelegte Spiegelglas hindurch in ein senk- recht stehendes Rohr, durch dessen obere Öffnung der Beobachter in das Kästchen blickt. Diesem roten Lichte mischt sich ein Teil des von der Seite her durch die mit blauem Glase verschlossene Offhimg a in das Kästchen tretenden Lichtes bei, weil dasselbe von den beiden Flächen der imbelegten Spiegelglasplatte zum Teil reflektiert wird. Des- halb erscheint dem Beobachter die entsprechende vordere Hälfte der unteren kreisförmigen Öffnung der Bohre in derjenigen Farbe, welche durch die Mischung des blauen mit dem roten Lichte entsteht. Die andere Hälfte der unteren Bohre erscheint aber in der Farbe des Lichtes, welches durch die mit einem grünen Glase belegte Öffnung 5 in das Kästchen dringt und von der belegten Spiegelglasplatte nach oben reflektiert wird. Der farbentüchtige Beobachter sieht nun eine kleine runde Fläche (scheinbarer Durchmesser = S% deren vordere Hälfte bläu- lich rot, deren hintere grün erscheint. Es gilt nun, dieses Bot und Grün nach Farbe und Helligkeit so zu regulieren, dafs beide Farben dem untersuchten „Botgrünblinden*' ganz gleich erscheinen. Zu diesem Zwecke sind die Milchglasplatten derart drehbar, dafs man durch verschiedene Neigung zur Bichtung des (vom Fenster) einfallenden Lichtes die Menge des in das Kästchen gelangenden Lichtes verändern kann.

Die Konstruktion des Apparates beruht also auf der Thatsache, dafs man bei jedem dichromatischen Systeme aus den Endfarben (Bot und Blau) des Spektrums der Nuance nach jede beliebige zwischen liegende Farbe des Spektrums (hier ist aus praktischen Gründen Grün gewählt) mischen kann und bei geeigneter Intensitätsabstufung völlige Gleichheit herzustellen vermag.

Aufserdem kann noch durch eine dritte, imbelegte Spiegelglasplatte beiden Gesichtsfeldhälften gleichmäfsig weifses Licht zugemischt werden.

Der Beferent steht keinen Augenblick an, zu erklären, dafs der Apparat dem von ihm zu gleichem Zwecke empfohlenen Ophthalmo-Leu- koskope so sehr überlegen ist, dafs letzteres zur Diagnose der Farben- blindheit gar nicht mehr in Frage kommen kann.

Arthur König.

£. Hering. Die üntersnchnng einseitiger Störungen des Farbensinnes

mittelst binokularer Farbengleichungen. Gräfes Arch. Bd. XXXVI

(3), S. 1-23. (1890.)

Für die Farbentheorie sind diejenigen Fälle von Farbensinn-Störungen

besonders lehrreich, bei denen auf einem Auge der normale Farbensinn

vorhanden, während das andere Auge anomal ist. Solche Zustände

508 LUteraiurberieht

kommen angeboren (von Becker, t. Hippel , Holmorbv beobachtet) vor und entstehen anch infolge pathologischer Voi^änge. H. ist nun in der glück- lichen Lage gewesen, einen dieser seltenen Fälle erworbener einseitiger Farbenblindheit imtersnchen zu können, und benutzte hierzu folgende von ihm ersonnene Vorrichtung. In einen schwarzen Karton sind zwei runde Löcher von 15 mm Durchmesser und 95 mm Abstand ihrer Mittel- punkte geschlagen. In einiger Entfernung können hinter diesem Karton weiise, g^aue oder farbige Papiere angebracht werden, so dafs einem Auge, welches aus ca. dOcm auf den Karton blickt, die beiden Löcher in der betreffenden Farbe des dahinter befindlichen Papieres erscheinen. Die Papiere können geneigt werden und erscheinen dadurch mehr oder weniger hell. AuXserdem sind zwischen jedem der beiden Löcher und dem betreffenden Papier je zwei unbelegte Spiegelglasplatten angebracht, durch welche andersfarbiges Licht (farbig, wenn das Papier weils, und weifs, wenn das Papier farbig ist) zugemischt werden kann.

Fixiert man nun mit beiden Augen eine in der Mitte zwischen beiden Öffnungen auf dem Karton angebrachte Marke und schiebt zwischen Kopf und Öffnung eine Blende von geeigneter Form ein, so daüs das rechte Auge nur die linke und das linke Auge nur die rechte öffirang sehen kann, so erscheinen im binokularen Gesichtsfelde beide öffiinngen, jede aber wird durch ein anderes Auge wahrgenommen. Indem man nun in der beschriebenen Weise geeignete Lichtmischimgen ausführt, kann man zwischen beiden Augen Farbengleichungen herstellen. Sind beide Augen mit demselben Farbensystem behaftet, so sind natürlich lach dieselben Mischungen ffir beide Öffnungen erforderlich; sind die Farheo- systeme aber ungleich, so ist dieses nicht der Fall. Lälst man nun etwi rotes Licht durch die dem anomalen Auge sichtbare ö&ung durch- treten, so giebt die für das normale Auge in der anderen Offiiung erforderliche Mischung an, welche Empfindung (bezogen auf ein normales Auge) in dem anomalen Auge durch das rote Licht erzeugt wird.

Die vom Verfasser angestellten Versuche ergaben folgende B^ sultate :

1. Alle benutzten Farben erschienen dem kranken Auge minder ge- sättigt, d. h. viel weifslicher bezw. graulicher als dem gründen.

2. Gelb und Blau erschienen gelb und blau, erlitten also keine merkliche Änderung ihres Tones, wurden aber viel weniger geÄttigt gesehen.

3. Ein dem Urgrün und TJrrot nahestehendes, nicht allzuges&tUgtes Grün und Rot erschienen dem kranken Auge farblos.

4. Die benutzten Zwischenfarben Spektralrot, Orange, Gelbgrttn und nicht zu sehr gesättigtes Violett verloren für das kranke Auge voll- ständig ihre Böte bezw. Grüne, erschienen daher gelb bezw. blau und zwar sehr weifslich oder graulich.

5. Weifs, Grau und Schwarz wurden vom kranken Auge ebenso ge- sehen wie vom gesunden, also auch völlig farblos.

Eine Untersuchimg am Spektralapparat ergab, dafs das kranke Auge gegenüber den homogenen Farben sich ganz analog verhielt wie gegen- über den Pigmentfarben.

lAUertUurberieht 509

£s wurden schliefdlich noch zwei Farbengleichungen mit homogenen Lichtem (678 fjifi -f 549 ^^ = Spektralgelb + etwas Weifs und 569 fif* + 433 fÄfi, = Weifs) ffir das gesunde Auge hergestellt, und es fand sich, dafs dieselben auch fär das kranke Auge gtlltig blieben.

Im Sinne der HEBiNOSchen Theorie der Gegenfarben muTs das kranke Auge als nahezu rotgrünblind und mit einem sehr geschwächten Blau- gelbsinne behaftet angesehen werden.

Die YouNG-HELMHOLTZsche Farbentheorie erklärt (wie der Referent hier hinzufügt) die Entstehung der Anomalie des kranken Auges in der- selben Weise, wie sie bisher schon die angeborene Farbenblindheit und die partielle und totale Farbenblindheit in den peripheren Teilen der Netzhaut erklärt hat. Arthur König.

C. Hess, üntersachnng eines Falles von halbseitiger Farbensinnstdmng am linken Auge. Gräfes Arch, Bd. 36. (3), S. 24--36. (1890.)

Das Ergebnis der an einem 31jährigen Patienten zahlreich und sorgfältig angestellten Versuche, über welche der Verfasser hier berichtet, besteht darin, dafs die nasale Netzhauthälfte des linken Auges sich in Bezug auf den Farbensinn ebenso verhielt wie eine ziemlich weit exzen- trisch gelegene Stelle eines normalen Auges.

Hinsichtlich der theoretischen Folgerungen, welche sich aus diesen wertvollen Beobachtungen ziehen lassen, verweist der Referent daher auf das, was er bei der Besprechung einer früheren Arbeit desselben Verfassers (auf S. 211 des vorliegenden Bandes dieser Zeitschrift) über den peripherischen Farbensinn gesagt hat. Arthur König.

A. E. FicK und A. Gürber. Über Erholimg der Netshant. Gräfes Archiv.

Bd, 36. (2.) S. 245—301. (1890.) £. Hering. Über Ermüdung und Erholung des Sehorgans. Gräfes Archio. Bd. 37. (3.) S. 1—36. (1891.)

Indem die Verfasser der ersten Abhandlung unter geeigneten Vor- sichtsmaisregeln die Sehschärfe, den Farbensinn und den Lichtsinn während des Verlaufs eines ganzen Tages, den sie in einem künstlich stets gleichmäfsig erleuchteten Baume verbringen, untersuchen, gelangen sie in Bezug auf die Frage, ob es eine Tagesermüdung des Auges gebe, zu folgender Antwort:

Unmittelbar nach dem Erwachen ist die Empfindlichkeit des Auges g^öfser als zu irgend einem anderen Zeitpunkte des Tages. Mit dem Gebrauch des Auges ist also eine Abnahme der Empfindlichkeit ver- bunden. Die Gröfse dieser Abnahme hängt wenigstens bezüglich des Lichtsinnes von der gerade herrschenden Beleuchtung ab imd hat in kurzer Zeit, längstens in Stunden, ihren g^öDsten Wert erreicht. Bleibt jetzt die Beleuchtung gleich, so erfolgt im Laufe des Tages keine weitere Abnahme der Empfindlichkeit. In diesem Sinne also darf man sagen, dafs es keine merkliche Tagesermüdimg giebt.

Es müssen also Einrichtungen vorhanden sein, welche die Netzhaut erholen, ohne dafs diese ihre Thätigkeit zu unterbrechen brauchte. Die Ursachen dieser Erholung finden die beiden Verfasser nun in den Augen«

Zeittchrift fOr Psychologie m. 33

510 LUteraiurbericht,

bewegungen, dem Lidschlag und der Accommodation. Die gemeinsame Eigentümlichkeit dieser drei Vorgänge besteht darin, dafs sie eine zeit- weise Druckerhöhnng im Innern des Auges bewirken und dadurch den Säftestrom in der Netzhaut befördern.

Hering wendet sich gegen diese Erklärung und fährt zur Stütze seiner Anschauungen eine Anzahl beweiskräftiger Experimente an. F. und Q. geben an, dafs gewisse Ermüdungserscheinungen sofort ver- schwinden, wenn das Auge bewegt wird; H. findet nun, dafs dasselbe Ergebnis sich einstellt, wenn das Auge ruhig gehalten, der fixierte Gegenstand aber bewegt wird. Dafs auch der Lidschlag das Entstehen der Nachbilder auf die Dauer nicht beseitigen kann, wird von H. durch leicht zu wiederholende Experimente dargelegt. Die auf die Acconmio- dation bezüglichen Widerlegungsversuche sind schwieriger, da nicht jeder willkürlich seine Accommodation anzuspannen und zu erschlaffen vermag.

Vom Standpunkt der HERiKoschen Theorie des Lichtsinnes kann eine Ermüdung und entsprechende Abnahme der Erregbarkeit für Licht an denjenigen Stellen des somatischen Sehfeldes, welche uns ein dunk- leres Grau, ein Grau-Schwarz oder Schwarz empfinden lassen, gar nicht in Frage kommen; vielmehr sind eben diese Empfindungen ein Zeichen dafür, dafs die bezüglichen Teile in der Erholung begriffen sind, und dafs ihre Erregbarkeit für Licht im Wachsen ist.

Die ermüdende (absteigende) Änderung des Sehorgans mindert die Disposition zur Dissimilierung, setzt demgemäfs die Erregbarkeit herah und erzeugt ein Streben nach aufsteigender (erholender) Änderung. Mit wachsender Dauer eines gleichmäfsig fortdauernden Lichtreizes, welcher zunächst eine hellgraue oder weiTse Empfindung hervorruft, nimmt deshalb die Geschwindigkeit der absteigenden Änderung ab und sinkt schliefslich auf Null, sobald der durch das Licht bedingte Anreiz zur absteigenden Änderung soweit abgenommen und das Streben nach auf- steigender Änderung soweit zugenommen hat, dais beide sich das Gleich- gewicht halten. Nunmehr verharrt der betroffene Teil auf der bis dahin erreichten Stufe der „TJnterwertigkeit** imd ändert sich nicht weiter trotz der Fortdauer des Lichtreizes. So schützt sich das Auge selbst vor Erschöpfung. Es wird dann noch darauf hingewiesen, dafs nach dieser Auffassung negative Nachbilder zu einem grofsen Teile als Er- holungserscheinungen aufzufassen sind. Arthur König.

0. Hess. Über die Tonändenmgen der Spektralfarben durch Errnttdong Her Netzhaut mit homogenem Lichte. Gräfes Arch, XXXVI (1), S. 1-32. (1890.) Der Verfasser untersucht die Tonändenmgen, welche Spektral- farben in ihrem Aussehen dadurch erleiden, dafs das Auge unmittelbar vorher mit spektralem Lichte von anderer Wellenlänge gereizt worden ist, Ausfer 9 Hegionen des Spektrums werden noch zwei Mischungen von Rot und Violett benutzt. Mit jedem dieser elf Lichter wird das Auge ermüdet und dann auf die anderen Lichter gerichtet, so dafs ein voll- ständiger Überblick über die Erscheinungen gewonnen wird.

lAÜeraturhencht 511

Mit dem Verfasser ist der Eeferent der Ansicht, dafs die beob- achteten Tonänderungen in vollem Einklang mit der HsRiNGschen Farben- theorie stehen, kann ihm aber nicht beipflichten, wenn er glaubt, einen Widerspruch mit der YoüNO-HELMHOLTzschen Farbentheorie zu finden. Die nähere Besprechung eines einzelnen Beispieles wird hoffentlich ge- nügen, die Sache auch ffir aUe anderen Fälle ins klare zu stellen. Wir wollen uns auf die Verhältnisse des vom Beferenten gemeinsam mit C. DiETEBici aufgestellten Farbendreiecks beziehen. Wenn das Auge für gelbes Licht von 575 fjifi ermüdet worden ist, so erscheint un- mittelbar nachher rotes Licht von 700 fÄfi „bläulich rot". Hess argu. mentiert mm in folgender Weise: Da durch Licht von 575 fi/n die Bot- und Grünfasem in gleicher Weise gereizt, also auch in gleicher Weise er- müdet werden, so mufs Licht von 700^^, welches nur die Bot- und Grünfasem reizt, seinen Ton unverändert beibehalten. Dieses wäre nach Ansicht des Beferenten zwar möglich , ist aber nicht notwendig , ja nicht einmal wahrscheinlich. Wenn nämlich Bot- und Grünfasem gleich stark ermüdet, also schwerer reizbar als gewöhnlich sind, so wird der im Vergleich zum Grünwert starke Botwert des Lichtes von lOOfi/n viel mehr zur Geltung kommen als bei unermüdetem Auge. Da mm aber die Gnmdempfindung Bot einen bläulicheren Ton hat als das Licht von 700 fifi unter normalen Verhältnissen, so ist damit das Hinüberrücken der Em- pfindimg nach dieser Bichtung erklärt. Der sich in der Netzhaut nach voraufgegangener Ermüdung vollziehende Vorgang ist demjenigen gleich, der im unermüdeten Auge bei geringerer Intensität des einfallenden Lichtes sich abspielt. Nun erscheint aber Licht vom roten Spektrum- ende um so gelblicher je gröfser, und um so bläulicher je kleiner seine Intensität ist.

Aufserdem hat der Verfasser fünf, gewissermaüsen quantitative, Be- stimmungen über den Einflufs der Ermüdung gemacht, d. h. er bestimmte die Wellenlänge desjenigen Lichtes, dem ein gewisses betrachtetes spektrales Licht in der Nuance gleich wird, nachdem das Auge unmittel- bar vorher durch eine andere Spektralfarbe ermüdet war. Wenn die Ergebnisse nicht völlig mit der Konfiguration der König -DnsTERiGischen Farbentafel in Einklang zu bringen sind, so ist hierbei sowohl an in- dividuelle Verschiedenheiten, als auch an (besonders im kurzwelligen Teile des Spektrums) bereitwilligst zugestandene Unsicherheit der ge- nannten Farbentafel zu denken. Arthur König.

H. WiLBRAND. Die hemianopischen Gesichtsfeld-Formen und das optische Wahmehmungszentriun. Xn. und 157 S. mit 34 Text -Eignen imd 22 Tafeln. Wiesbaden. J. F. Bergmann. 1890.

Der Verfasser hat sich der dankenswerten Mühe imterzogen, sämt- liche bisher genauer untersuchten Fälle hemianopischer Gesichtsfeldformen zusammenzustellen und ihre Bedeutung fUr die Erkenntnis des Verlaufes und der Funktionen der optischen Bahnen von den Retinalzapfen an bis zu den Zellkomplexen des optischen Wahmehmungszentrums in der Kinde zu prüfen. Er geht von der berechtigten (freilich nicht überall anerkannten) Ansicht aus, dafs sorgfältig aufgenommene Gesichtsfelder

38*

512 lAUeraiurberichi,

hierfür die Bedeutung physiologischer Experimente heanspruchen und mit den mikroskopisch-anatomischen Befunden gleichwertig sind, und gelangt schliefslich zu der Auffassung, „dafs unter Festhaltung der Partialkreuzung (im Chiasma) im allgemeinen die innere Ordnung des optischen Wahmehmungszentrums , soweit sie aus dem Nebeneinander- liegen von Faszikelfeldem des gekreuzten und ungekreuzten Bündels be- steht, zahlreichen individuellen Varianten unterworfen ist. Der Ver- such, mathematisch kongruente homonyme hemianopische Gesichtsfeld- defekte neben hochgradig unähnlichen Defekten von ein und dem- selben Schema ableiten zu wollen, ist bis jetzt von keinem Erfolge gekrönt gewesen und wird auch wohl niemals dies Ziel erreichen. Wenn die mikroskopischen Befunde gewissenhafter Forscher teils überein- stimmen, teils weit auseinandergehen, warum sollen wir da nicht unbefangen aus dem individuellen Variieren der anatomischen Anlage den Wechsel der pathologischen TJntersuchungsresultate erklären, zu- mal wenn uns die klinische Beobachtung nach eben derselben Richtung weist?"

Möchten noch viele andere ebenso strittige und dunkle Gebiete eine gleich umfassende und doch übersichtliche Darstellung finden, wie es hier durch Wilbrand geschehen ist! Arthur König.

H. HöFFDiNG. Psychische nnd physische Aktiyitftt Vierte^ahndtr- f. wi88, PhHos. XV. 3. S. 233—250 (1891).

H. verteidigt seine Hypothese, dals Körperliches tmd Seelisches auiser Wechselbeziehung stehende Äufserungen ein und desselben innersten Wesens seien, gegen Kroman („Logik und Psychologie^) in näherer Aus- fahrung folgender Sätze.

Die Naturwissenschaft fordert, alle Gehimvorgänge auf körper- liche Ursachen zurückzufahren. Das Beharrungsgesetz Galileis und Newtons spricht ausdrücklich von äufseren Ursachen und ist nicht, wie K. meint, als Corollar des Kausalgesetzes einfach dahin zu fassen, dafs jede Bewegungsändemng „einer Kraft** (also gleichgültig, ob äufserer oder innerer) zuzuschreiben sei. Um zu begreifen, wie auf einer ge- wissen Stufe des Materiellen Bewufstsein entsteht, mufs man annehmen, dafs schon den niederen Stufen ein Analogen des Bewufstseins beiwohnt Ein Heiz a, der eine Gehirnthätigkeit b erzeug^, mufs mit einem x zu- sammenbestehen, welches den mit b identischem BewuTstseinszustand ß hervorruft.

Damit erledigt sich auch K.'s Frage, wie denn ohne Wechselwirkung ein Wissen der Seele von der Körperwelt entstehen könne. Wenn b dem Reiz a entspricht, „mufs das seinem innersten Wesen zufolge mit b identische oder zusammengehörende ß ebenfalls demselben entsprechen.** Übrigens läfst jene Frage die erkenntnistheoretische Einsicht vermissen, dafs wir die Körperwelt nur aus unseren Empfindungen keimen und daher nicht wieder für deren Ursache erklären können.

Die Schwierigkeit, welche Kroman darin findet, dafs die innere

lAtteraturbericht, 513

Einheit mit der äufseren Vielheit identisch sei, besteht allerdings. Aber sie besteht in einer oder der anderen Form für jede Theorie, anch für diejenige, welche zwischen beiden einen Kausalzusammenhang an- nimmt. LiEFicAKN (Berlin).

1. yuLx MüLLKR. On thought and langnage. The Monist I. No.4. S. 572—589.

(1891).

2. G. J. BoMJiKEs. Thought and langnage. Ebenda, n. No. 1. S. 56—69.

3. P. Cabüs. The continnity of erolntion. Ebenda. S. 70—94.

In diesen drei Aufsätzen wird ein interessanter StrauXs gefochten zwischen Biologie imd Sprachwissenschaft.

Unser bekannter Landsmann M. Müller bestreitet die Lehre, dafs die ältesten Worte das Besondere bezeichnet, und dals erst im Laufe der Zeit sieb die Ausdrücke für das Allgemeine gebildet hätten. Dieser Generalisationsprozefs gehöre einer späteren Periode an. Ihm ging der umgekehrte Prozefs voraus. Die Wurzeln der arischen Sprachen be- zeichnen durchweg Thätigkeiten, haben also allgemeine begriff- liche Bedeutung.

Zu dieser Thatsache passe trefflich Noir^es Hypothese, dafs die Wurzeln aus den Lauten hervorgegangen seien, welche die Urmenschen hei gemeinsamen Verrichtungen ausgestolsen hätten. (Synergastik- Theorie.) Dagegen sei ihre Zurückführung auf Nachahmung f„Bau-Bau-

Theorie"), sowie auf unwillkürlichen QefQ.hlsausdruck(,,Puh-Puh-Theorie*0 durch die Forschimg widerlegt. Die Sprache sei also anfänglich „konzeptual", nicht „interjektional** gewesen. Diese Thatsache bilde aber einen Protest gegen die Annahme einer ununterbrochenen Entwickelung von Tier zu Mensch. Dies habe Bomjlnes in seinem Buch : „Mental Evolution in Man** einer bloXsen Forderung zuliebe vernach- lässigt. Desgleichen wirft ihm M. eine Reihe in diesem Buche be- gangener Irrtümer vor.

BoMAVBS erwidert, unter Zurückweisung der ihm gemachten Vor- würfe, dafs dieselben in keinem Falle die wesentliche Frage nach der Her- kunft des Menschen, sondern nur philologische Nebensächlichkeiten be- träfen. Da M. von der Sprache der hochentwickelten Vorfahren der arischen Basse, zugestandenermafsen gar nicht von der des Urmenschen rede, da M.8 und Nonu^ES Ableitung der Wurzeln, die übrigens nur eine Besondemng der Nachahmungstheorie sei, im Verein mit anderen Faktoren voll be- stehen können, ohne eine imüberschreitbare Elluft zwischen Mensch und Tier zu setzen, so bilde alles von M. Angeführte gar keine Widerlegimg der Evolutionstheorie.

Einen eingehenden Nachweis der Vereinbarkeit der M.'schen Ansicht mit der DASwiNschen Lehre erspart sich R. leider an dieser Stelle, jedenfals mit Rücksicht auf schon gegebene Auseinandersetzungen in seinem erwähnten Buche.

Cjlrxts schlägt sich im ganzen auf R.'s Seite, geht insofern noch weiter, als R., als er der Evolutionstheorie, als notwendigem Postulat, sogar apriorische Geltung vindiziert. Von seinen aUgemeiner gehaltenen Betrachtungen sei hier nur noch die treffende Bemerkung erwähnt, dafs

514 LiUeraturbericlU.

die Sprache nicht als ein Alleinstehendes, sondern als eine Art unter mehreren möglichen und wirklichen Zeichensystemen behandelt werden müsse. LiEPMANK (Berlin).

G, SoREL. Oontribation8 psychopliyBiqaeB k l'ötade östhötiaae. Bevue phi- losophique. 1890. No. 6 u. 7. 39 S.

Die Arbeit ist keine Untersuchung, sondern eine Beihe von Ein- fällen mit gelegentlich schwer verständlicher Gedankenfolge. Einige der Einfälle sind nicht unzutreffend oder haben einen wahren Kern. Insoweit aber geben sie nichts Neues.

Psychophysisch heifisen die Beiträge vermutlich den einleitenden psychophysischen Bemerkungen zuliebe, die aber im Qnmde mit dem Thema nichts zu thun haben. Die psychophysischen Formeln sind ver- schieden für die verschiedenen Sinne. Daraus soll folgen, dais es eine science unique des sentiments permettant de rattacher Tid^e du beau k quelques th6ories g6n6rales nicht giebt. Vor allem ist die Musik gan^ eigener Art. Ihre Wirkung beruht darauf, dafs sie den ganzen Baum des Bewufstseihs ausfällt \ind so die intellektuelle Thätigkeit aufhebt. Sie ist gefährlich , weil die Unterdrückung des Intellekts tend k se tra- duire par ime singuli&re surexcitation des instincts sexuelles. Diese Ge- fahr wird vermieden bei der OFFENBAOHSchen Musik. Aber auch sie hat keinen ästhetischen Wert. Denn die Ästhetik Verfasser will sagen das ästhetisch Schöne hat immer einen moralischen Endzweck. Wag VERS Versuch, die Musik moralisch zu machen, ist als gescheitert za betrachten.

Die ästhetische Wirkung der Farben erklärt sich höchst einfach aus der Bläue des Himmels, der gelben Farbe des absterbenden pflanzlichen Lebens und ähnlichen Assoziationen. Die Baukunst ist die vollkommenste Kunst; sie ist „chaste^. Bestimmte einfache Zahlenverhältnisse, die Gebelles, sind nicht Gründe der Schönheit, sondern ästhetisch gleichg^tige Gewohnheiten, Fingerzeige fOr den Handwerker. Die Wirkung der Bau- kunst beruht auf ihrer intelligibilit^ vitale. In den hierauf bezüglichen Bemerkungen Sobbls liegt Bichtiges. Kennte der Verfasser neben Viollet- le-Duc den genialeren Semfeb, so würde er die intelligibilit^ vitale etwas verständlicher haben machen können. Lipps (Breslau).

H. K. Wolfe. On the Oolor-Vocabolary of Ohildren. üniversity Studies (Nebraska). 1890. Vol. I. Nr. 3, p. 205—234. Mehr als zweitausend Kindern beiderlei Geschlechts im Alter von 5 bis über 17 Jahren wurden farbige Tafeln von ungefähr 5 cm im Quadrat mit der Aufforderimg vorgelegt, die Farben derselben zu benennen. Die erste Antwort wurde ausschliefslich berücksichtigt, so dais also bei der Berechnung der Durchschnittswerte Unsicherheit in der Benennung völliger Unwissenheit gleichgesetzt ist. Andererseits wurden die Antworten derjenigen Kinder nicht weiter berücksichtigt, von denen sich ergab, dafs sie wirklich farbenblind waren. Im ganzen wurden über 23000 Fragen gestellt. Neben den Hauptfarben waren auch

LiUeraiurbericht 515

einzelne Übergangs- und Mischfarben vertreten, so dais auch die feinere Entwickelung der Fertigkeit in der Farbenbezeichnung verfolgt werden konnte. Es zeigte sich, dais bei Mädchen der Prozentsatz der richtigen Antworten vom elften Jahre an nicht mehr zunahm, während bei Knaben bis zur höchsten der untersuchten Altersklassen ein steter, wenn auch geringer Fortschritt konstatiert wurde; trotzdem war in jeder Altersklasse der Prozentsatz der richtigen Antworten bei den Mädchen gröfser als bei den Knaben. Auffallend war die Sicherheit, mit der Braun benannt wurde. Wegen sonstiger Einzelheiten mufs auf die interessante Abhandlung selbst verwiesen werden.

_ Abthitr König.

A. Bbbtrakd. ün pröcnrsenr de Thypnotisme. Revut philosoph, Bd. 32. S. 192—206. (Aug. 1891). Als Vorläufer des Hypnotismus bezeichnet Verf. einen gewissen Dr. PtTÄrnr aus Lyon. Derselbe veröffentlichte 1787 ein Buch „Mhnoire*', in dem gleich wie in einem zweiten „FJ^lectricite animaW Versuche über hypnotische und verwandte Zustände niedergelegt sind. Zu demselben wurde er durch die zufällige Beobachtung einer Kranken angeregt, die im hysterischen Anfalle nur dann seine Stimme hörte und ihm antwortete, wenn er gegen ihre Hände sprach, oder die seinigen auf ihren Unterleib in die Magengegend legte. An diese erste Beobachtung schlössen sich weitere, mit wissenschaftlicher Strenge und vielem Scharfsinn angestellte, welche die negative Suggestion durch welche den Patienten z. B. ge- wisse Gegenstände oder Personen unsichtbar gemacht werden , die eigenartige Erscheinung der „doppelten Persönlichkeit^, die willenlose Fahrung Hypnotisierter mittelst der vom Hypnotiseur ihnen in einiger Entfernung vorgehaltenen Hand u. a. m. zum Gegenstande hatten. Die Erklärungsversuche PI^ti^tins enthalten, obwohl verwebt mit den wissenschaftlichen Irrtümern der damaligen Zeit, viel physiologisch Bich- tiges; doch vermochte P. als Gegner Mesmebs und seiner Schüler gegen den überlegenen EinfluTs letzterer nicht aufzukommen, so dafs seine Ent- deckungen in unverdiente Vergessenheit gerieten. Schaefer.

W. Preter. Der HypnottBrnns. Vorlesungen, gehalten an der K. Fried.- Wilh.-Universität zu Berlin. Wien, 1890, Urban & Schwarzenberg. 217 S. Die Veröffentlichung der PRETERschen Vorlesungen wird viel dazu beitragen, zu zeigen, wie sehr der von Vielen immer noch abf^lig be- urteilte Gegenstand einer wissenschaftlichen Behandlung fähig und würdig ist. Natürlich ist es hier, bei dem Physiologen, vorwiegend die Physiologie der Hypnose, die sorgfältige Bearbeitung gefunden hat.

Ausführlich besprochen wird die Beeinflussung der Eigenwärme durch Suggestion, wie sie y. Kbafft-Ebino bei einer hypnotisierten Hysterischen gelungen ist, sowie andere somatische Wirkungen, welche die enge Abhängigkeit der physischen Vorgänge von den psychischen

516 LiUeraturherieht,

erweisen. Stoffwechsel, Motilität, Sensibilität während der Hypnose haben nach eigenen und fremden Untersuchungen eine genaue Schilde- rung erfahren.

Sehr interessant ist das Kapitel über die der Hypnose verwandten Zustände, welches jedem, der's verstehen will, die Augen darüber öffiiet, dafs der hypnotische Zustand kein so wimderbarer und rätselhafter ist, und dafs er sich mit den Erscheinungen des Lebens sehr wohl in Ein- klang bringen läfst, wenn auch auf eine Erklärung desselben noch bis auf weiteres verzichtet werden muGs.

Die Theorie der Hypnose wird naturgemäfs von einem doppelten Standpunkt betrachtet: dem physiologischen imd dem psychologischen. Vom ersteren aus gilt sie dem Verfasser als eine Veränderung der Er- nährung einzelner Himbezirke wegen „Anhäufung von Ermüdungsstoffen''; vom letztem aus weist Verfasser jeden Versuch, die Hypnose als eine Teilung des BewuTstseins aufzufassen, bei welcher das aktive Bewnfist- sein einem passiven Bewufstsein das Feld räumt, wie es u. a. Max Desioib will, zurück.

Ebenso wie die Analogie der Hypnose mit dem natürlichen Schlaf eine ausführliche Besprechung erfährt, so wird auch der Vergleich der Hyp- nose und der Hysterie eingehend durchgeführt.

Unzweifelhaft hat Preter recht zu sagen, dafs die Symptome bei einer schweren Hysterika mit den mannigfachsten sensiblen Beschwerden, Sinnestäuschungen u. s. w. denjenigen Zuständen auf ein Haar gleichen, welche man bei einer in tiefer Hypnose versetzten Person hervormfen kann. Hypnotisierte Personen sind im allgemeinen inaktiv; sie äufsem Beschwerden oder haben Hallucinationen nur dann, wenn man dieselben s^gei'iert; sie werden also nur durch den Willen des Arztes oder des Experimentators hypnotisch-hysterisch von Hause aus sind sie es nicht. Deshalb muTs es bezweifelt werden, ob eine Person durch eine noch so grofse Anzahl sachgemäfser Hypnotisierungen, welche nur dem therapeutischen Zweck dienen, hysterisch werden kann ich glaube es nicht; dagegen, experimentiert man an ihr viel, läfst man suggerierte Lähmungen bestehen und hat nicht die Vorsicht, suggerierte Parästhe- sieen oder Hallucinationen durch Suggestion vollkommen zu tilgen, so wird freilich eine Krankheit die Folge sein, die der Hysterie aufser- ordentlich ähnlich sieht. Betrachtet man die Sache von dieser Seite, und so mufs sie betrachtet werden , dann schwindet die übergrofse Furcht vor der Gefahr der Hypnose.

Noch eins möge aus dem reichen Stoff des PREYERSchen Buches erwähnt werden.

Verfasser hat schon in früheren Schriften dem englischen Arzt Braid, dem Vater des Hypnotismus, ein wohlverdientes Denkmal gesetzt. In diesem Buche hat der Verfasser noch einmal Braids Verdienste um den Hypnotismus gewürdigt und aus seinem Nachlafse eine Untersuchung „Über die Unterschiede des nervösen und des gewöhnlichen Schlafes*^ aus dem Jahre 1845 in deutscher Übersetzung beigefügt.

Sperlikg (Berlin).

Von

H. YOK HSLMHOLTZ.

In meiner in dem vorliegenden Bande dieser Zeitschrift enthaltenen Abhandlung über die Anwendung des psychophysischen Gesetzes auf Farbenunterschiede trichromatischer Augen ist auf Seite 19 ein Ver- sehen vorgekommen in den Rechnungen, welche sich auf die mögliche Erweitenmg der Theorie der Dichromasie beziehen. Es handelt sich dort darum, zu ermitteln, ob die von den Herren A. Kökio und C. Distbbici mit 9i und % bezeichneten Farben, welche nach ihren Ermittelimgen diejenigen sind, die den beiden Hauptklassen der dichromatischen Augen fehlen, aulserhalb oder innerhalb des nach den Unterschiedsempfindlich- keiten berechneten neuen Farbendreiecks liegen, dessen Qrundfarbenwerthe dort mit x, y, z bezeichnet sind. Es sind dazu Gleichungen benutzt worden, welche die Werthe von 9i und ® ausgedrückt ia x, y, z ergaben; und ist aus dem Umstände^ dafs die dabei gefundenen Coeffi- zienten in beiden Werthen zum Theil negativ sind , geschlossen worden, dafs die Farben !R imd ®, wie es die Theorie verlangte, beide aulserhalb des Farbendreiecks [x, y, z] liegen. Nach dem Sinne aber, den die genannten Autoren ihren Zeichen fR, (&, 9b untergelegt haben, und in dem auch die x, y, z genommen werden müssen, ist dies ein Irrthum. Man mufs vielmehr, um die bezeichnete Frage zu entscheiden, die Werthe der x, y, z als Functionen der % (9, IB ausdrücken. Wenn man zwei von diesen letzteren Gröfsen gleich Null setzt, und die dritte übrig bleibende dann negative Werthe einer der x, y, z ergiebt, so liegt die betreffende Farbe aulserhalb des Dreiecks [x, y, z]. Diese Umrech- nung ergiebt folgende Werthe:

X = 0,810 m 0,280 . ® -1- 0,470 ö y = 0,159 . m + 0,466 + 0,376 » z = 0,200 . fR -1- 0,196 . -{- 0,604 »

Daraus geht hervor, dais, wenn 81 = © = 0 ist und nur die Farbe (B übrig bleibt, diese in der That einen negativen Werth des x hat, und außerhalb des Farbendreiecks [x, y, z], jenseits seiner grünblauen Seite liegt, während die anderen beiden Grundfarben der genannten Autoren 9i xmd 9 im Innern des Dreiecks liegen. Das Both indessen liegt der Grundfarbe x nahe genug, dafs bei kleinen Änderungen der zu Grunde lie- genden Beobachtungszahlen es leicht an den Band des Dreiecks oder in seine rothe Ecke rücken könnte, wie es die dort vorgetragene Theorie fordert. Ich kann in dieser Beziehung nur meine Bitte wiederholen, den glänzen Aufsatz nur als einen ersten Versuch zu betrachten, um zu sehen, wie weit das vorhandene, zu anderen Zwecken gesammelte Beobachtungs- material sich in die vorgetragene Theorie einfügt.

Namenregister.

Fettgedruckte Seitensahlen belieben sich auf den Yerfiksser einer Originalmitteilongf Seiten- sahlen mit f aof den Verfluser eines referierten Bnohes oder einer referierten AbbAndluf, Seitensablen mit * auf den Verfosser eines Befermtes, Seitensahlen mit t* Aof oine Selbst- anzeige und die tlbrigen Seitenzalilen auf das Vorkommen im Text.

A.

Mix, E. 218. t Antonelli 490. Appim 269. Aristoteles 222. 225. 302

310. 427. Arndt, E. 76. Asciier 232.* 236.* 340.*

341.* Aubert 172. 216. 256.

291. 383 ff. 401. 470.

478 f. Auerbach, L. 415.

B.

Baco, Boger 427. Baginsky, B. 69. 412. Bain, A. 55. f 78 f. 88. 228. 420.

Baldwin, J.Mark 228 tf.

232. t Ball, W., Platt 58 ff. Ballet 48 ff. Barth, P. 406 * Baumgarten 405. 428. Beaunis 88.

Bechterew, W. 341. 413. Becker, F. 210. t Becker, O. 444 f. 508. Beevor, Ch. E. 235. t Berkeley 301 ff. Berlin 41. 286.

Bernard 48. Bertrand, A. 515. f v.Bezold,W. 119.208.345. Binet 50 ff. 88. Bins wanger 57. Blaschko 62. Blix 217. 438 f. Bloch 175 ff. Blumenau, L. 409. Boedecker, J. 252. f du Bois-Eeymond, C.

418.* 419.* duBoiS'Beymond, E.72.

418. Bonaventura 202. Borgherini, A. 343 t f. Bourdon 420 t f. Bradley 55. Braid 516. Breisacher 207. t Brentano, Fr. 299 ff.

849 ff. 498 ff. Brie, P. 240. 243. Broca 505 f. Brockmann 294. Brodhun, E. 3 ff. 97 ff.

121. 216. V. Brücke, E. 22. 119.

208. 345. Bruns 53. Burckhardt 59.* Burdian 202 f.

0.

Cajal, S. Itamon y 406 ff. Carl, A. 209. t Carpenter 231. Carus, P. 513. t Cattell, J. Mck. 233 tf- Ceraski 214. Charcot 48 ff. Charpentier, A. 70 t f.

348. Chevreul 208. Coccius 444 f. Cornelius 398 ff. 493 ff. Corradi 69. t Cramer 434. 490. Cramer, A. 249. Crova 416. Cunningham 409. Czermak 209.

D.

Dahlfeld, C. 418. t Damsch, O. 236 1 f. Darwin 59. 233. 306. 513. Daudet 81. Delage, Y 229 t f. Delbrück 81 1 f. Dem^ny, H. 235. De-Sarlo, F. 423 t ff. Dess6 23.

Dessoir, M. 57 t f. 88. 247. 516.

Namenregister.

519

van Deventer 232 1 f. Dieterici, C. 4 ff. 98 ff.

212 f. 215. 511. 517. Dobrowolsky, W. 97 f. Döring, A. 240.* Donald, A. Mac 253. f Donaldson, H. H. 88.

340. t Donders 23 ff. 52. 210.

215. 475. Donovan, J. 227 f. van Doremaul 41. Dove 369. Duboc, J. 239 1 f. Dubos 234. Duchenne 235. Dumas, G. 221 ff. Duns 202. Duthiers de Lacaze, W.

75. t

E.

Ebbinghaus 109. 198.* 201.* 202.* 204.* 214.* 218.* 233.* 252.* 347.*

Eckbart 202 f.

Edinger, L. 218. f 206.

406 t* ff. Ehrenfels 276. Emmerich 84. Espinas 254. Eulenburg 217. Ewald 340.

P.

Fasola, G. 505 t f. Fechner 1 ff. 109 ff. 301. F6r6, Ch. 255. 407. Ferg^on, J.' 64. t Fick, A. 211t ff. Fick, A. E. 509 t f. Fischer, E. 211. t Fischer, R. 418 t f. Flechsig, P. 340. 412 ff. V. Fleischl 278. Flesch, M. 409. Flourens 341 ff.

Floumoy, Th. 334 t ff. Flügel, 0. 193 ff. Forel 81. Fränkel 72.* 76.* 246.*

247.* 255.*i 343.* 344.

425.* von Frankl- Hoch wart

230t f. Franz, E. 273. Fraunhofer 13. 97. 119. Fresnel 430. Friedenreich 247. Fukala, V. 210. t

G.

Galilei 512. Gallerani, G. 343 tf Galton 49. 69. 348. Gaskell 407. Gaule, J. 204. t 340.

413 f Gaupp 55.* 75.* 78.*

200.* 201.* 221.* 227.*

228.* 229.* 234* 239.*

253.* 345.* Gauls 296. Geigel 64 ff. Gerloff, 0. 209. t Giessler, M. 230.* 238.*

422.* 423.* Glan 416. Glazebrook 416. Göthe 81. 203. Goldscheider, A. 71.*

77t f. 85* 88. 207.*

218.* 219.* 236. t Golgi, C. 340. 406. 413 f. Goltz 62. 340. Gonnesiat 201. t Gräfe 46. Grashey 53. Greeff, E. 21 ff. 66 t* f.

207.* 210.* 211.* 216.* Gregor IX. 426. Grofse, E. 234. t Grot 88. Gudden 62. Gürber, A. 509 t f

Gullstrand 482. Gutzmann, H. 76 t ^•

Habermann 69. Hall, Stanley 72. 88. Hall Vittum, W. 407. Hamilton 223. Hansen, G. 348. Harris, W. T. 201. t V. Hartmann, M. 423. Hegler, A. 405 t f. Held, H. 411. V. Helmholtz, H. 1 ff .

60. 69. 97. 108 ff. 123.

148. 164 ff. 179 f. 208.

209. 212 f. 216. 219.

280 ff. 345. 360. 379.

434 ff. 509. 511. 517. Henry, Ch. 346 tf Henschen, S. E. 410. Hensel, K. 207 f. Hering, E. 2 ff. 21 ff. 67.

88. 120. 123. 209.

211t ff. 214. 215. 302 f

404. 506. t 507 t ff..

509 t f. 511. Hermann 277. 404. Hefig, C. 211t ff. 509. t

510 tf Heuse 443. 445. Hill, A. 407.

V. Hippel 508. Hirth, G. 345 tf His, W. 408 ff. Hitschmann, F. 888 ff. Hodgson, Sh. H. 239. t Höffding, H. 20O.t 512.t Hösel, 0. 413. Holmgren 508. Holst 245 t f Honegger, J. 409. Hoor, K. 417.t Horsley 88. 340. HtL&er 416.

Hume, D. 300. 304. 310. Hutcheson 406. Hyrtl 65.

520

Namenregister,

J.

Jaeger 210.

James, W. 88. 135 f.

297t ff. i20. Janet, P. 67. 82 ff. 88. Jastrow, J. 200. t Jaubert, E. 347. Javal, E. 416t f. 447.

459. 475. Jelgersma, G. 409. Jnnocenz VII. 426. Joachim 263. Johansson 204. Jonrdan, E. 415t f. Jung 360 f.

Kahlbaum 249.

Kant 197. 198. 300 ff.

337. 405 f. Keller, G. 81. Kiefselbach 68.

Kirchhoff 207 t f.

Klingberg 286.

Klinke, 0. 249. t

Knapp 217.

Knies, M. 204 t ff.

Koch, J. L. A. 78 t ff.

Koch, P. D. 412 f.

V. Kölliker, A. 340. 406 ff.

König, A. 3 ff. 29. 47. 98 ff. 111. 121. 208.* 209.* 210.* 211.* 213.* 215.* 216.* 346* 383. 416.* 417.* 444. 506.* 507.* 509.* 509* f. 510.* 511. 511.* 512.* 515.* 517,

König, R. 176 f.

V. Kordnyi, A. 340. t

Koschel 286.

V. Krafft-Ebing 515.

Kraus, A. 237..t

V. Kries, J. 267 ff.

Kroman 200. 512.

Kronthal, P. 203 t* f.

Krüf«, G. 416. t

Krüfs, H. 416. t Kym, A. L. 338 t f.

L.

de Lacaze-Duthiers, H.

75. t Lambert 108. Landolt, E. 52. 215. t Lange, N. 88. Langendorff 71. Lantermann 204. Lasson, A. 203.* Leegaard, Chr. 217 t f. Legrand du Saulle 248.

424. Lehmann 88. 265. Leppmann, A. 86 1* 88.* Leroy 482. Levillain 245t f. Levy, B. 64 t f. Liebmann 249.* Liepmann 200.* 225.*

513.* 514.* Liesegang, B. E. 211. t Lindemann, E. 214.* Linnemann 26.

Lipps,Th.l28ff.219t*ff.

398 ff. 498 ff. 514.* Listing 478. Locke 310. 332. Lob, J. 340. t Lombroso 71t f. 75 t f.

88. Luciani 341 1 ff. 344. Luys 203.

M.

Mac Donald, A. 253. t Mach 186.

Macpherson, J. 249 ff. Maddon 216. Magawly 209. Magendie 341 ff. Magnan, V. 243 t f. Mallery, G. 252. t Malpighi 65 f. Manac^ine, M. 347 t f. Mandelstamm, E. 97 f.

Manouvrier, L. 201. t Marbe, K 222.* Marchi 413. Marey 77. 175. MarkBaldwin, J. 228 t f.

232. t Marshall, H. B. 344tf- Marshall, W. 415. Martius 128 f. Marty, A. 333.* Masson 215. Matthiessen, L. 280 ff.

478 f. Mauthner 207. 478. Meinong 394. Mendel 87. 87. t 211. Mercier 88. Mercklin 247 1 ü Mervoyer 420. Mesmer 515. van der Meulen 23 ff. Meyerbeer 258. Meynert, Th. 57. 59 t f.

348. Michelson. P. 71. t Mill, James 301. 310.

420. MUl, J. Stuart 901.

310. Mingazzini, G. 412. Möbius, P. J. 243. y. Monakow, C. 206.*

410 f. Monoyer 209. Moor 69. Morel 247. 424. Morselli 424. Mozart 261. 273. Müller, G. E. 70. 88.

286.* 237.* MtQler, Job. 45. Müller, M. 54. 513. t Münsterberg 56 t f. 88.

163 ff. Münzer 414. Munk, H. 61t ff. 204 ff.

340. Myers 88.

Namenregialer,

521

N.

Newton 2 ff. 108 ff. 512. Nichols, H. 72. t Noir6e 613. INoiszewski 67 t f.

213 t f. Nothnagel 218. 342.

Obersteiner, H. 407. Obregia 204 f. Occam 202. Offenbach 514. Oliver, Ch. A. 207. t Oppenheim 211.

P.

Paganini 263. Paulhan, M. 420. Payot, J. 422 t f. P. B. (anonym.) 233.t Peirce, B. 0. 98. Pelman 244.» 245.* 246.*

252.* 428.* Peretti 57.» 68.* 81.*

82.* 84.* 214.* 232.*

233.* Perez, B. 200. 238. t Perlia 206. Peter 348. Petetin 515. Pflüger 246. Pick, A. 48 ff. Pickmann 76. Pikler 228. Pitte 256. Planck 198. Platt Ball, W. 68 t f. Pötsch, Anna 393. Poetter, F. Ch. 198. t PoUak 231. Posner, K. L. 361. Potoni6, H. 73. t Preyer, W. 50. 88. 200.

515 1 f. Pugliese 255. Purkinje 280 ff. 398.

411 f. 431 ff.

Querenghi, F. 215. t

Babl-Bückhard, H.

407 ff. Bamon y Cajal, S.406 ff. Bayleigh 214. Eehmke, J. 198 ff. Betzius, G. 407. Bibot, Th. 88. 226 t ff.

231. Bichet, Ch. 76. 88. 179.

184. 347. Biemann 108. Biggs, C. E. 407. Böntgen 258 ff. Bolando 343. Bomanes, G. J. 88. 513. t Boskoff 428. Bumpf 184.

S.

Salkowski 207. De-Sarlo, F. 423 t ff. Saulle, Legrand du 248.

424. Savage, G. C. 216. t Schäfer, K. L. 64. 69.*

70.* 73.* 76.* 77.* 78.*

186ff.201.*204ff.515.* Schäffer, 0. 412. Schiötz 416. 443. 447.

459. Schirmer, 0. 215t f. Schmidt 204. Schneller 417. t Schnopfhagen, F. 409. Schopenhauer 307. v.Schrenck-Notzing 85.t

88. V. Schröder, Th. 210. t Schultze, E. 211. 249.* Schumann, F. 70. 71.*

73.* 201.* Schwaner 184. Schwarz, 0. 898 ff. 493ff. Schweigger 22. 42 ff. 211.

Scripture, E. W. 200. t

221.t 222t ff. Seellgmaller 211. Seil 4. Semper 514. Seneca 346.

Sergi, G. 176 ff. 198 t f. Sidgwick, H. 88. Siebeck, H. 202t f. Siegert, G. 245. Sighele 263 t ff- Sikorski 200. Singer 414. Skwortzoff 61. SneU, 0. 425 t ff. Snellen 210. 417. Soldan 428. Sollier, P. 240 t ^ Sommer 48 ff. 66.* 86.* Sorel, G. 514. t Spamer 53. Spee 427. Spencer, H. 59. 228.

233 t f. 250. 253. 299.

420. Sperling 516.* Spitzka 413. Stanley Hall 72. 88. Starr, A. 206. Stefani, U. 247. t Stern, L. 84 t f. Stockhausen 257. 261. Stölting 53. Stout, G. F. 55. 73 t f.

228t f. Stricker 49. 231 f. Stroobant, P. 201t f. Stumpf, C. 197 t* f. 257 ff.

303. Sully, J. 88. Szana, A. 339. t Szili, A. 859 ff.

T.

Tamburini 424. Tanzi 246. t 247. Tarde 254. Tetens, N. 198.

522

Namenregister,

Thomas 202. Tönnies, F. 348.* Treitel, L. 217. f Tscherning 417. 4S9 ff.

506. t Tiiczek 248. Turner, W. 408.

U.

Überweg 203. Uchermann, V. 69 t ^* Ufer, Chr. 244 t f. Uhthoff, W. 6. 105 £P.

211. Ulrici 198. Umpfenbach 243.* Urbantschitsch 69.*

217.*

V.

Valentin 257. Vierordt 416. Vümar 428.

V. Vintschgaii,M. 214 t f.

Violletrle-Dac 514.

Vitium, W. Hall 407.

Vogel, A. 198.

Voit 50 ff.

Volkelt, J. 338.* 339.*

W.

Wagner 514. Waldeyer, W. 415. Wallaschek, R. 233 t f.

276. Weber, E. H. 55. 109.

181. 183. 215 f. 301. Weier 427. Weigert, C. 408. 413. WeUand, A. 207. Wemicke 53. 207. Wertheim, Th. 172 ff. Westphal 86. 206. 237.

247. Wheatstone 22. Wiedersheim 407.

Wilbrand,H. 211.511 tf Wild 416. Wlassak, R. 64.*

Wolfe, H.K. 259. 514 t f.

Wolff 405.

V. Wouvermans, A. 208.t

Wundt 88. 124 ff. 198. 223. 259. 265. 300 ff 334. 340. 404. 420.

Y.

Young, Th. 2 ff. 209. 212 f. 470. 478. 509. 511.

Z.

Zacher 411.

Ziehen, Th. 58.* 61.* 64.*

409. 506.* zollner 123. 356. 500. Zola 423. ZOlzer 207. Zwaardemaker, H. 69. t

^^

F

:i

w

pfF^F^^

FEB 1 - 1838