^■■•■■ä'^v k ^^^^ i- ■/^:. T-' .^i.:4i/^■5- ^^i■^% ,:^-:^^'^- /.Jf'^ / :'^f^v Medical Library 8 THE FENWAY Digitized by the Internet Archive in 2011 with funding from Open Knowledge Commons and Harvard Medical School http://www.archive.org/details/zieleundwegederhOOhaec ZIELE UND WEGE DER HEUTIGEN ENTWICKELÜMSGESCHICHTE. VON ERNST HAECKEL. JENA, VERLAG YOK HERMANN DUFFT. 1875. ^ ^o^ ÖL 2 01923 DEM ALLVEEEHETEN ALTMEISTER DER ENTWICKELÜNGSGESCHICHTE CAEL EENST BAEß, DEE VOR FÜNFZIG JAHREN DER MORPHOLOGIE DIE GENETISCHE GRUNDLAGE GAB, WIDJIET DIESE KRITISCHEN BLÄTTER IN VORZtOLICHER HOCHACHTUNG DER VERFASSER. Jena, im Octobek 1875. ^^- ^UL 2 0 1923 Die Ent\Yickekingsgeschiclite der Organismen nimmt in der Gegenwart eine Stellung ein, welche von derjenigen in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts sehr verschieden ist. Obgleich die jüngste unter ihren Schwestern, hat sich diese Naturwissenschaft in kürzester Zeit zu einem Eang emporgeschwungen, welcher nicht bloss als hervorragender, sondern bereits als beherrschender sich geltend macht. Vor wenigen Decennien noch ein ziemlich isolirtes Specialfach einzelner Naturforscher, hat sich die Entwickelungs- geschichte mit beispiellosem Aufschwünge rasch zu einer univer- salen Wissenschaft gestaltet, und zu einer geistigen Bewegung den Anstoss gegeben, die ihre unberechenbaren Wellenschwingungen bereits bis zu den entferntesten Gebieten menschlicher Wissen- schaft entsendet. Ist es ja doch vor Allem die Wissenschaft von unserem eigenen Menschenwesen , welche dadurch in einem völlig neuen Lichte erscheint; und da ist es wohl natürlich, dass das allgemeine Interesse nicht nur der Gelehrten, sondern aller Gebil- deten sich der jugendlichen Entwickelungsgeschichte im höchsten Maasse zuwendet. Aber nicht nur die Stellung der Entwickelungsgeschichte un- ter den übrigen Wissenschaften, sondern auch Begriff und Aufgabe, Inhalt und Umfang derselben haben sich so sehr umgestaltet, dass es wohl gestattet und gerathen ist, inmitten des athemlosen Wett- laufes der zahlreichen damit beschäftigten Forscher einen Augen- blick stille zu halten, und Ziele und W^ege der heutigen Entwicke- lungsgeschichte scharf in's Auge zu fassen. Wenn wir mit dem heute noch lebenden Nestor unserer Wis- senschaft, mit Carl Ernst Bäer, „Beobachtung und Reflexion" als die beiden gleich wichtigen und gleich berechtigten Hauptwege 1 I betrachten, die uns zu dem Ziele einer wahrhaft wissenschaftlichen Entwickelungsgeschichte hinführen, so überzeugen wir uns wohl leicht, dass beide Hauptwege im Laufe der letzten Decennien eine ausserordentliche Erweiterung und Umgestaltung erfaliren haben. Ja, diese quantitative und qualitative Veränderung ist sowohl in .der empirisch-beobachtenden , als in der philosophisch -reflectiren- den Entwickelungsgeschichte so gewaltig geworden und beide Wege sind dabei so weit aus einander gegangen, dass nicht selten das eigentliche Ziel derselben darüber aus den Augen verloren wurde. In der That sehen wir, dass nicht nur in ferner stehenden Kreisen die verschiedensten Ansichten über die Bedeutung der Entwicke- lungsgeschichte sich geltend machen, sondern dass selbst vielen, speciell damit beschäftigten Naturforschern der klare Blick auf das gemeinsame Endziel getrübt oder selbst ganz verdeckt wor- den ist. Was zunächst den empirischen Weg unserer Wissenschaft betrifft, die Beobachtung der Entwickelungserscheinungen , so brauchen wir uns hier nicht lange mit einer üebersicht der ge- waltigen Veränderungen aufzuhalten, welche derselbe sowohl nach Inhalt als nach Umfang des Objectes erlitten hat. Noch vor dreis- sig Jahren war fast ausschliesslich die Entwickelungsgeschichte der uns zunächst stehenden Wirbelthiere durch umfassendere und zusammenhängende Untersuchungsreihen genauer bekannt. Die bahnbrechenden Arbeiten von Caspäe Feiedrich Wolff und Cael Ernst Baee hatten hier den sicheren Grund gelegt, auf welchem Heineich Rathke, Johannes Müller, Wilhelm Bischoff und zahlreiche andere Forscher in kurzer Zeit (namentlich im dritten und vierten Decennium unseres Jahrhunderts) eine gewaltige Masse des wichtigsten Materials zusammenführten und ordnend aufbauten. Dagegen hatte die individuelle Entwickelungsgeschichte der wirbellosen Thiere bis vor dreissig Jahren eigentlich kaum ein Werk aufzuweisen, welches sich jenen zahlreichen und ausführlichen Untersuchungen über die Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere hätte an die Seite stellen können. Namenthch hatte die Lehre von den Keimblättern, welche in der Ontogenie der Vertebraten als sicherstes Fundament die grösste Rolle spielte, auf die Inverte- braten noch keine Anwendung gefunden. Wenn wir von Heineich Rathke absehen, der schon 1829 seine Untersuchungen über die Entwickelung des Flusskrebses veröffentlicht hatte, so erschien erst 4844 Köllikee's Entwickelungsgeschichte der Cephalopoden, die erste grössere Arbeit, in der die Keimesgeschichte einer wir- bellosen Thierform von Anfang bis zu Ende zusammenliängend ver- folgt und bezüglich der elementaren Verhältnisse eingehend erörtert war. Dann kamen in den Jahren 1846 — 1854 Johannes Müller's glänzende Entdeckungen über die Ontogenie der Echinodermen, denen sich rasch eine grosse Anzahl von anderen Arbeiten über die verschiedensten Classen der Wirbellosen anschlössen. Doch erst verhältnissmässig spät wurde auch die Keimblätter -Theorie auf die letzteren ausgedehnt und der Nachweis geführt, dass im gesammten Thierreiche (mit Ausschluss der Protozoen) zwei pri- märe Keimblätter die Grundlage liefern , auf der sich der Thier- körper aufbaut. Zwar hatte der weitblickende Huxley schon 1849 bei den Medusen Ectoderm und Entoderm unterschieden und den fundamentalen Gedanken ausgesprochen , dass dieselben dem ani- malen und vegetativen Keimblatte der Wirbelthiere zu vergleichen seien. Aber der empirische Nachweis für die Richtigkeit dieses Vergleiches und seine allgemeine Gültigkeit fehlte; und erst vor zehn Jahren begann A. Kowalevsky in einer Reihe von ausge- zeichneten Arbeiten denselben zu liefern. Wie dann die ausge- dehnten Untersuchungen zahlreicher Beobachter in den letzten Jahren die Erkenntniss der beiden primären Keimblätter fast über das "ganze Thierreich ausdehnten, ist bekannt. Indem ich selbst diesen Nachweis endlich auch für die niedersten Metazoen, für die Spongien führte und dann in der Gastraea- Theorie die Homologie der beiden primären Keimblätter bei sämmtlichen Metazoen fest- stellte, wurde die einheitliche Bahn für die weitere vergleichende Keimesgeschichte der Metazoen endgültig geebnet. Mit dieser umfassenden Ausdehnung des empirischen For- schungsgebietes der Entwickelungsgechichte ging die Vervollkomm- nung der erforderlichen technischen Üntersuchungs-Methoden Hand in Hand. Vor Allen war es hier die höchst fruchtbare Methode der successiven Querschnitte, welche für die Erkenntniss der frühe- sten und wichtigsten Keimungsvorgänge zu einer neuen, früher ungeahnten Lichtquelle sich gestaltete. Nachdem zuerst Remak in seinen vorzüglichen und für die Histogenie bahnbrechenden ,, Untersuchungen über die Entwickelung der Wirbelthiere" (1850 — 1855) die Querschnitts-Methode mit dem glänzendsten Erfolge durchgehends angewendet hatte, wurde sie durch Kowalevsky und Andere auch auf die Keimesgeschichte der Wirbellosen aus- gedehnt. Mit ihrer Hülfe wurden die weitreichendsten Resultate erzielt, besonders seitdem die Technik dieser Methode durch die verschiedenen Arten der Einbettung der Präparate vervollkommnet und mit der im letzten Decennium zu allgemeiner Anwendung ge- laugten Tinctions-Methode in glücklichster Weise combinirt wurde. Wie sehr durch diese vervollkommneten technischen Methoden und durch die gleichzeitigen Fortschritte in dem Gebrauche der vervollkommneten Mikroskope der empirische Weg der Entwicke- lungsgeschichte geebnet und mit welchem glänzenden Erfolge der- selbe von zahlreichen Beobachtern betreten wurde, geht aus der ungeheuren Masse neuen Materials hervor, welches mittelst dersel- ben in kurzer Zeit zu Tage gefördert wurde, üeber den hohen Werth jener neuen Beobachtungs-Methoden und über deren allge- meine Anwendung bestehen auch unter den zahlreichen, gegen-, wärtig damit beschäftigten Forschern keine wesentlichen Differen- zen. Ebenso sind wir Alle über die nächsten Ziele einig, die wir auf diesen Wegen zu erreichen streben: die genaueste und gründlichste Erforschung der Thatsachen - Complexe , welche sich in der Keimesgeschichte der Thiere offenbaren. Dass es hier gilt, jede einzelne — und auch die scheinbar unbedeutendste — Form- erscheinung möglichst scharf zu beobachten, möglichst allseitig zu untersuchen, durch möglichst genaue und naturgetreue Abbil- dungen wiederzugeben — und dass diese möglichst exacte Beob- achtung und Darstellung ebenso auf die Entwickelung der Gewebe, wie auf diejenige der Organe in ununterbrochenem Zusammenhange sich erstrecken muss, darüber existirt unter den sämmtlichen damit beschäftigten Forschern wohl heutzutage kein Meinungsunter- schied. Ganz anders steht es aber mit dem zweiten Hauptwege der wissenschaftlichen Entwickelungsgeschichte, mit der philosophischen Erkenntnissbahn der Keflexion. Wenn wir uns jetzt zu dieser wenden, so tritt uns zunächst die nicht geringe Zahl jener angeb- lich „exacten", in der That aber beschränkten Handarbeiter ent- gegen, welche in der nackten Beobachtung und Beschreibung der Thatsachen allein das Ziel der Entwickelungsgeschichte finden und welche jede Frage nach deren Causalnexus, jede philosophische Reflexion überhaupt von unserer Wissenschaft fern halten wollen. Eine ernstliche Widerlegung dieser engen Ansicht ist überflüssig. Denn wer noch heute die Entwickelungsgeschichte als eine rein „descriptive Wissenschaft" betrachtet ( — eine Contradictio in ad- jecto — ), wer noch heute den Unterschied zwischen Wissen und Wissenschaft, zwischen Kenntniss und Erkenntniss nicht kennt, der hat überhaupt unter den Vertretern wahrer Wissenschaft nicht mitzureden; und der verfolgt auch in der Entwickelungsgeschichte nur eine unterhaltende „Gemüths- und Augen -Ergötzung", aber keine wahrhaft wissenschaftlichen Ziele. Wenn wir aber hier auch ganz von diesen unwissenschaftlichen Handarbeitern absehen und nur jene Richtungen in's Auge fassen, welche hinter den Erscheinungen der Entwickelung die bewirken- den Ursachen erkennen wollen, und welche demnach in der Ent- wickelungsgeschichte wirklich höhere, wahrhaft wissenschaftliche Ziele anstreben, so stossen wir auf die gewaltigsten Differenzen und die unvereinbarsten Gegensätze gerade unter den neuesten darauf gerichteten Bestrebungen. Nur das Eine haben alle diese ver- schiedenen Richtungen gemeinsam, dass sie sich nicht mit den beobachteten That Sachen der Entwickelung begnügen, sondern diese auf ihre wahren Ursachen zurückführen und so erklären wollen. Aber welcher Natur jene Ursachen sind, auf welchen Wegen dieses Ziel der Erklärung erreicht werden soll und was dieses Ziel selbst eigentlich ist , darüber gehen die Ansichten merk- würdig aus einander. Halten wir daran fest, dass die Erkenntniss der bioge- netischen Ursachen das gemeinsame Ziel aller derjenigen Forscher ist, welche sich nicht mit der blossen Kenntniss der keimesgeschichtlichen Thatsachen begnügen wollen, so können wir zunächst die Gesammtheit aller dieser Forscher in zwei gegen- überstehende Gruppen bringen. Diese beiden Gruppen entsprechen den beiden uralten feindlichen Heerlagern der Philosophie, die seit mehr als zwei Jahrtausenden im Kampf um die Wahrheit sich mehr oder minder schroff gegenüber stehen, und die unter den Naturforschern Johannes MtJLLER so treffend charakterisirt hat im sechsten Buche seiner unübertroffenen Physiologie („Vom See- lenleben", S. 510 — 513). Auf der einen Seite stehen die Duali- sten und Teleologen, welche die wahre Ursache des Seelenlebens wie der organischen Entwickelung in den „bewegenden, den orga- nischen Körpern eingebildeten Ideen" suchen, also in zweckthätigen , ,E n d u r s a c h e n" ( Causae finales). Von dem grossen Denker Pl ato bis auf MiCHELis, den altkatholischen Philosophen, der kürzlich in der „Haeckelogonie" die platonische Ideenlehre so unübertrefflich mit den missverstandenen Thatsachen der Wirbelthierentwicke- luug zusammenreimte, finden wir diese dualistische Ansicht in zahllosen Abstufungen vertreten. Sie ist seit Jahrtausenden in der denkenden Menschheit die herrschende geblieben. Denn sie wird äusserlich auf das mächtigste unterstützt durch die grosse Mehrzahl der Kirchenreligionen, die bei dieser Weltanschauung 6 und bei dem damit verknüpften Glauben an eine vom physiscben Leibe getrennte Seele ihre vortheilhafteste Rechnung finden. In- nerlich aber findet sie ihre kräftigste Stütze in dem menschlichen Egoismus. Denn , wie Johannes Müller treffend bemerkt „leiht das Interesse des selbstigen Ichs an seinem persönlichen Fortbe- stehen jenem Glauben Stärke und Zuversicht, und prätendirt die Fortdauer seiner Person auch über das Grab hinaus." Gegenüber diesem mächtigen und von jeher herrschenden Dua- listenheer finden wir auf der anderen Seite die kleine Schaar der Monisten und Pantheisten, welche in streng einheitlicher Weltbetrachtung einen fundamentalen Unterschied zwischen orga- nischer und anorganischer Natur nicht anerkennen, vielmehr alle Materie als belebt, alles Leben als gebunden an die Materie be- trachten. Die wahren Ursachen der organischen Entwickelung und des Seelenlebens sind nach ihrer Auffassung werkthätige Ursachen oder „Grundursachen" (Causae efficientes). Auch diese Welt- anschauung ist von Heeaklit und Anaxagoras an bis auf Spinoza und GiORDANO Bruno, bis auf Lamarck und Goethe durch zahl- lose Abschattirungen vertreten, die einestheils in nacktem Materia- lismus, anderntheils in reinstem Spiritualismus sich zu extremen Gegensätzen ausbildeten. So schroff aber auch diese Gegensätze sich gegenüber zu treten scheinen, so lösen sie sich doch bei con- sequenter Naturbetrachtung völlig auf und versöhnen sich in dem grossartigen pantheistischen Grundgedanken der Einheit der Natur und der sie beherrschenden Gesetze. In der Entwickelungsgeschichte der Organismen , wie in der Psychologie, ist die ältere und mächtigere dualistische Auffassung noch heute, wie seit Jahrtausenden, die herrschende geblieben; und das ist ganz natürlich. Denn je wunderbarer und verwickel- ter die Naturerscheinungen dem Menschen gegenüber treten, desto eher verzweifelt er an der Aufgabe, ihre natürlichen Grundursachen, die wahren „Causae efficientes" zu finden ; desto leichter entschliesst er sich, an ihre Stelle die Hypothese von den übernatürlichen End- ursachen, den falschen „Causae finales", treten zu lassen. Nun gehören aber die Erscheinungen, die uns in der Entwickelungsge- schichte der Organismen entgegentreten, zu den allerwunderbarsten und verwickeltsten, und es war daher ganz natürlich, dass hier nicht weniger als in der Psychologie die dualistische und teleolo- gische Weltanschauung ihre festesten Stützen fand. Das war um so nothwendiger, als man bis zum Beginn unseres Jahrhunderts fast ausschliesslich die individuelle Entwickelungsgeschichte, die wir kurz „Keimesgeschiclite oder Ontogenie" nennen, als die „eigentliche" Entwickelungsgeschiclite betrachtete und unter- suchte. Die wahren bewirkenden Ursachen der individuellen Ent- wickelung aller Organismen liegen aber verborgen in der histo- rischen Entwickelung ihrer Vorfahrenkette, und nur die paläon- tologische Entwickelungsgeschiclite dieser letzteren, unsere „Stammesgeschichte oder Phylogenie", vermag uns in der Wech- selwirkung der Vererbungs- und Anpassungs - Gesetze die wahren Grundursachen jener ersteren zu enthüllen. Bekanntlich war es die ältere Naturphilosophie im Anfange unseres Jahrhunderts, welche diesen innigen Causalnexus zwischen Keimes- und Stammesgeschichte, zwischen Ontogenie und Phylo- genie ahnungsvoll zu erfassen begann. Freilich war sie damals nicht im Stande ihn scharf zu formuliren und gehörig empirisch zu begründen. Im Gegentheil rief sie bald den lebhaftesten Wi- derspruch der strengeren Empirie dadurch hervor, dass sie dar- aus den falschen Satz ableitete, jeder höhere Organismus durch- laufe während seiner individuellen Entwickelung die Formenreihe aller niederen. Allein die Ahnung des biogenetischen Grundge- setzes lag darin als Keim versteckt. Auch legte Jean Lamaeck in seiner bewunderungswürdigen „Philosophie zoologique" schon 1809 den ersten Grund zu einer „Natürlichen Schöpfungsgeschichte", über welche bereits Kant und Goethe, Oken und Treviranus so viele treffende Gedanken entwickelt hatten. Aber jene ältere Naturphilosophie, an deren Spitze in Deutschland Schelling, in Frankreich Geoffroy S. Hilaire traten, entfernte sich rasch allzu- sehr von den empirischen Grundlagen und erhob sich mit allzu- kühnem Fluge in unbekannte Sphären, in welche ihr die vorsichtige empirische Naturwissenschaft zu folgen nicht im Stande war. Es trat daher bald als natürlicher Kückschlag gegen jene „Ueberspe- culation" die nüchterne, streng an die bekannten Thatsachen sich bindende Richtung ein, die von 1830 — 1860 die herrschende blieb. Erst Charles Darwin vermochte den auf der Naturphilosophie liegenden Bann zu lösen. Er verstand es, mit Hülfe des massen- haften, inzwischen angesammelten Materials die schon von Lamarck systematisch begründete Abstammungslehre zu allgemeiner Geltung zu bringen und ihr durch seine Selections- Theorie eine neue phy- siologische Basis zu geben. Darwin's epochemachendes, 1859 erschienenes Werk „über die Entstehung der Arten'-' ist in Aller Händen; aber dennoch wird seine Bedeutung für die Entwickelungsgeschichte der Orga- nismen vielfach verkannt, und sowohl seine Anhänger wie seine Gegner vertreten bis auf den heutigen Tag die verschiedensten An- sichten über die Folgerungen , welche aus der Descendenz-Theorie für die Entwickelungsgeschichte der organischen Individuen und für deren Ursachen zu ziehen sind. Das liegt vorzüghch daran, dass Darwin selbst in seinem Hauptwerke der individuellen Ent- wickelungsgeschichte nur einen ganz kurzen Abschnitt (nur 10 Seiten des XIII. Capitels) widmete und auch in seinen übrigen Schriften nicht weiter auf dieselbe einging. Dagegen zeigte als- bald Fritz Müller in der ideenreichen Schrift „Für Darwin" (1864) an dem Beispiele der Crustaceen, welche völlige Umwand- lung Ziele und Wege der individuellen Entwickelungsgeschichte durch die Reform und Neubegründung der Descendenz - Theorie nothwendig erfahren mussten. Er behauptete nicht allein, dass „die Urgeschichte der Art" in ihrer individuellen Entwickelungs- geschichte mehr oder minder vollständig sich abspiegele und wie- derhole; sondern er wies auch auf die wichtigen Fälschungen und Abkürzungen hin, welche diese Wiederholung im Laufe der Zeit erleide. Die kleine, aber bedeutungsvolle Schrift Fritz Müller's war die erste, welche nach Darwin's reformatorischem Auftreten die neuen Aufgaben der Entwickelungsgeschichte scharf beleuchtete. Aber seine glänzende Beweisführung vermochte keinen durchgrei- fenden Erfolg zu erringen. Seit Beginn meiner naturwissenschaftlichen Studien von dem lebhaftesten Interesse für Entwickelungsgeschichte beseelt, und eben- so wie Fritz Müller von der unumstösslichen Ueberzeugung durch- drungen, dass mit Darwin's Reform der LAMARCK'schen Descen- denz-Theorie eine neue Epoche für jene Wissenschaft beginne, ver- suchte ich im zweiten Bande meiner 1866 erschienenen „Generellen Morphologie" die Bedeutung der letzteren für die erstere ausführ- lich zu entwickeln. Ich stellte als zwei coordinirte und gleichbe- rechtigte Hauptzweige der organischen Entwickelungsgeschichte einerseits die Ontogenie als die Entwickelungsgeschichte der or- ganischen Individuen (Embryologie und Metamorphologie) , an- derseits die Phylogenie als die Entwickelungsgeschichte der or- ganischen Stämme (Genealogie und Palaeontologie) neben einan- der. Ich versuchte ferner die bisher so wenig untersuchten und sowohl von der Morphologie als von der Physiologie völlig ver- nachlässigten Erscheinungen der Vererbung und Anpassung — • die wahren Ursachen aller organischen Stammesentwickelung — schärfer in's Auge zu fassen, als physiologische Functionen nachzuweisen und ihre maunichfachen "Wirkungsweisen unter vor- läufige Giäsetze zu formuliren. Ich machte endlich den ersten Ver- such, in consequenter Anwendung der Descendenz-Theorie auf das natürliche Sj^stem der Organismen dieses in phylogenetischem Sinne umzugestalten und als wahren Stammbaum der Organismen zu entwickeln. Die Wirkung dieser ernstgemeinten Versuche war zunächst sehr schwach. Während die meisten Fachgenossen, für die ich geschrie- ben hatte, die „Generelle Morphologie" einfach ignorirten, wurde sie von Anderen als ein Conglomerat naturphilosophischer Träu- mereien verspottet und von noch Anderen als bedauernswerthe Ver- irrung bemitleidet. Gleich anderen ähnlichen Reform versuchen würde sie einfach todtgeschwiegen worden sein, wenn ich nicht in der „Xatürlichen Schöpfungsgeschichte" und später in der „An- thropogenie" einen Theil der neuen, in der „Generellen Morpholo- gie" niedergelegten Ideen in populärer Form dargestellt und so einem grösseren Theile des gebildeten Publicums zugänglich ge- macht hätte. Das dadurch erzielte Interesse eines weiteren Krei- ses nöthigte auch die zunächst berührten Fachgenossen, meine neue Auffassung und Darstellung der Entwickelungsgeschichte in Betracht zu ziehen, und ich erfreue mich jetzt, wo noch nicht zehn Jahre seit dem Erscheinen der „Generellen Morphologie" verflossen sind, der Genugthuung, viele ihrer einflussreichsten Vorstellungen bereits in Fleisch und Blut unserer Wissenschaft aufgenommen zu sehen. Dieselben Morpholugen, die zuerst die „Phylogenie" für ein leeres Luftgebilde erklärten, bedienen sich jetzt des Wortes Phy- logenie und der damit verknüpften Begrifi'sreihen, als ob es alther- gebrachtes Erbgut der Wissenschaft wäre; und dieselben Systema- tiker, die meine phylogenetische Umgestaltung des Systems für überflüssig oder verfehlt erklärten, haben bereits viele der darin vorgeschlagenen Veränderungen thatsächlich adoptirt. Je mehr so einerseits meine morphologischen Eeformversuche in neuester Zeit Anklang und Wirkung fanden, desto lebhafter musste sich natürlich anderseits auch die OiDposition gegen diesel- ben erheben. Insbesondere gestaltete sich das „sogenannte" bio- genetische Grundgesetz, in welchem ich den Causalnexus zwischen Ontogenie und Phylogenie bestimmt formulirt hatte, zum wichtigsten Angriffspunkte sovfohl der Empiriker als der Philoso- phen. Während die letzteren dasselbe als eine feste Stütze der monistischen Weltanschauung zu zerstören suchten, bemühten sich die ersteren namentlich, dessen thatsächliche Begründung zu be- 10 kämpfen. Besonders lebhaft wurde dieser Kampf in den letzten Jahren, nachdem ich in meiner Monographie der Kalksehwämme (1872) einen Versuch zur analytischen Lösung des Problems von der Entstehung der Arten gemacht und dabei die „Gastraea-Theo- rie" aufgestellt hatte. Diese vielgescholtene Gastraea-Theorie, welche den Metazoen- Stammbaum bis zur Wurzel verfolgt, und welche ich später in mehreren besonderen Aufsätzen näher aus- führte^), bietet allerdings eine vorzüglich günstige Veranlassung, die Berechtigung des biogenetischen Grundgesetzes zu prüfen und seine Bedeutung nachzuweisen. Es war daher ganz natürlich, dass meine empirischen Gegner, voran Carl Claus, Cael Sempee, Alexandee Agassiz, Elias Metschnikoff und viele Andere, nicht zögerten, dieselbe auf das Heftigste anzugreifen. Da die Widerlegung dieser Angriffe ein näheres Eingehen auf viele spe- cielle Verhältnisse erfordert, verzichte ich hier auf dieselbe und verspare sie mir auf die Nachträge, welche ich demnächst zur Gastraea-Theorie zu geben beabsichtige. Dagegen scheint es mir geboten, hier auf das Entschiedenste meine generelle Auffassung der Entwickelungsgeschichte zu vertheidigen und die W^ege zu rechtfertigen, welche nach meiner üeberzeugung allein zu deren Ziele hinführen. Unter der grossen Anzahl von Schriften, welche neuerdings gegen meine generelle Darstellung unserer Wissenschaft gerichtet worden sind, scheinen mir weder die „Haeckelogonie" von Profes- sor Michelis, noch die ähnlichen Angriffe anderer Theologen und theologischen Philosophen (z. B. Hubee) besonderer Widerlegung zu bedürfen. Denn die darin hervortretende ünkenntniss oder mangelhafte Kenntniss der wichtigsten Erscheinungs-Complexe, auf die sich meine Anschauungen stützen, macht von vornherein eine Verständigung unmöglich. Dagegen scheint es mir um so dringen- der nöthig, die Angriffe derjenigen Gegner zu widerlegen, welche mit dem empirischen Materiale der Entwickelungsgeschichte genau vertraut sind, daraus aber völlig entgegengesetzte allgemeine Schlüsse ziehen. Unter diesen nehmen einen hervorragenden Eang diejeni- gen beiden Ontogenisten ein, welche im letzten Decennium die um- fangreichsten und ausgedehntesten Untersuchungen über die spe- cielle Keimesgeschichte der Wirbelthiere veröffentlicht und sich dadurch besondere Anerkennung erworben haben. Obgleich diese 1) Die Gastraea-Theorie, die phylogenetische Classification des Thierreichs und die Homologie der Keimblätter. (Jenaische Zeitschr. für Naturwiss. 1874. Bd. VIII, S, 1). Die Gastrula und die Eifurchung der Thiere. (Ibid. 1875. Bd. IX, S. 402.) 11 beiden Beobachter, Wilhelm His und Alexander Goette, ganz verschiedene Wege der Ontogenie verfolgen und unter sich in den ^Yichtigsten principiellen Fragen ganz entgegengesetzter Ansicht sind, stimmen sie doch beide in der unbedingten Opposition gegen meine Auffassung der EntAvickelungsgeschichte und speciell gegen das biogenetische Grundgesetz überein. Der allgemeine Theil ihrer Arbeiten verfolgt vorzüglich den Zweck, dieses Grundgesetz zu wi- derlegen und die Phylogenie als gar nicht zur Ontogenie gehörig darzuthun. Ich habe daher hier ganz besondere Veranlassung, unzweideutig auf die Angrifle von His und Goette zu antworten, und muss zu zeigen versuchen, dass ihre beiderseitigen Auffas- sungen der Entwickelungsgeschichte falsch sind. Wenn ich dabei klar und unverhüllt die Gedanken ausspreche, welche ich in die- sem heftig entbrannten „Kampfe um die Wahrheit" für richtig halte, und wenn ich dabei die Schwächen meiner beiden Gegner rücksichtslos enthülle, so wird mir dies Niemand verargen, der die starken, von His und Goette gegen mich gerichteten Angriffe kennt. Auch halte ich es in diesem Falle, wo völlig verschiedene Principien sich unversöhnlich gegenüber stehen, für beide Parteien und für die Ermittelung der Wahrheit nur vortheilhaft, dass kei- nerlei Vermittelung und Vertuschung versucht, vielmehr Satz gegen Satz, Ziel gegen Ziel voll und ganz eingesetzt wird. Um Missverständnisse zu vermeiden, schicke ich voraus, dass ich durch die Bekämpfung und Widerlegung der generellen Ansichten meiner beiden Gegner keineswegs die mannichfachen speciellen Verdienste verkennen und leugnen will, welche sich Beide um die Keimesgeschichte der Wirbelthiere, ihr eigentliches Specialobject, erworben haben. Sowohl His als Goette haben viele Jahre hindurch mit unermüdlichem Fleisse und aner- kennenswerther Ausdauer die specielle Ontogenie eines einzigen Wirbelthieres von Anfang bis zu Ende verfolgt. His hat sich das Hühnchen, Goette die Unke als Hauptobject erwählt. Beide ha- ben daneben auch noch theilweise die Keimesgeschichte einzelner anderer Wirbelthiere verfolgt, leider nur gerade nicht derjenigen, welche die grössten Aufschlüsse über die Morphologie der Verte- braten geben (Amphioxus, Cyclostomen, Selachier, Pcrennibranchien). In Bezug auf den rein empirischen und specieU den techni- schen Theil der Untersuchung erscheinen sowohl die Arbeiten von His als von Goette ausgezeichnet. Eine Unmasse von Präparaten und namentlich von feinen Querschnitten nach allen Richtungen sind mit grossem Geschick angefertigt, nach den raffinirten Me- 12 thoden der neuesten Zeit sorgfältig gehärtet, gefärbt und conser- virt. Zahlreiche Zeichnungen sind nach den auserwähltesten dieser Präparate mit möglichster Genauigkeit angefertigt und grössten- theils in vorzüglicher Weise wiedergegeben. Es müsste seltsam zugehen, wenn in solchen Arbeiten nicht eine Masse von werthvol- len neuen Einzelheiten mitgetheilt würden, welche gehörig beur- theilt als nützliche Bausteine dem grossen Gebäude der wissen- schaftlichen Entwickelungsgeschichte eingefügt werden könnten. Aber mit diesem Verdienste der fleissigen Handlanger, welch&s jeder billig Denkende gern und voll sowohl His als Goette zu- sprechen wird, geben sich Beide nicht zufrieden. Beide erheben viel- mehr weit höhere Ansprüche; Beide wollen geniale Baumeister sein, die den gewaltigen Bau der thierischen Entwickelungsgeschichte auf ganz neuen Grundlagen aufrichten; Beide legen das Hauptgewicht nicht auf ihre zahlreichen werthvollen Specialbeiträge, sondern auf die allgemeinen Resultate, auf die philosophischen Reflexionen und Schlüsse, die sie uns als reife Frucht der ersteren geben wol- len. His glaubt „ein verhältnissmässig einfaches Wachsthums- gesetz" entdeckt zu haben, welches „das einzig Wesentliche bei der ersten Entwickelung ist. Alle Formung, bestehe sie in Blätterspaltung, in Faltenbildung oder in vollständiger Abgliede- rung, geht als eine Folge aus jenem Grundgesetz hervor" (Hühnchen , S. 55). His will ferner dieses Wachsthum als „eine Function von Raum und Zeit" nachweisen, mathematisch berechnen und so eine physiologische Erklärung der Formbildung aus mechanischen Ursachen geben. Anderseits sagt Goette: „Ich habe dieses Buch nicht in der Absicht verfasst, um lediglich die Erscheinungsthatsachen in der Entwickelungsgeschichte der Wirbel- thiere festzustellen; sondern mein Ziel war, an der Hand jener Thatsachen und auf Grund des beobachteten Ueberganges der For- men in einander zu einer Vorstellung über den Gaus al Zusam- menhang derselben zu gelangen." Also die wirkliche Erklä- rung der ontogenetischen Erscheinungswelt durch ihren Causal- nexus, die Erkenntniss der wahren Ursachen, die ihnen zu Grunde liegen, ist bei His wie bei Goette das löbliche Endziel, auf welches sie ihr Streben richten. Gerade hierbei aber treten Beide meinen eigenen Bestrebungen auf das Schroffste entgegen, und gerade in diesem Punkte werde ich mich bemühen, das Verfehlte ihrer Wege und Ziele darzuthun. Unter den ontogenetischen Arbeiten von Wilhelm His haben wir als Hauptwerk die „Untersuchungen über die erste Anlage 13 des "Wirbelthierleibes" hervorzuheben, und unter diesen als wich- tigsten den ersten Theil: „Die erste Entwickehmg des Hühnchens im Ei" (Leipzig 1868. 224 S. 4» mit 12 Tafehi). Bedeutungslos erscheint dagegen der dürftige zweite Theil: „Ueber das Ei und die Eientwickelung bei Knochenfischen." (Leipzig 1873, 54 S. 4^^ mit 4 Tafeln.) Die allgemeinen Principien, die ihn bei dieser Ar- beit leiteten, entwickelte His 1869 in einer akademischen Kecto- ratsrede: „Ueber die Bedeutung der Entwickelungsgeschichte für die Auffassung der organischen Natur" (Leipzig 1 870). Endlich hat derselbe, veranlasst durch meine „Natürliche Schöpfungsgeschichte" und „Anthropogenie", 1875 eine allgemeine Darstellung derselben gegeben in der Schrift: „Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung", deren wichtigster Theil speciell gegen mich gerichtet ist^). Unter den ontogenetischen Arbeiten von Alexander Goette präsentirt sich als Hauptwerk vor allen die grossartige „Entwicke- lungsgeschichte der Unke (Bombinator igneus) als Grundlage einer vergleichenden Morphologie der Wirbelthiere" (Leipzig 1875, 964 S. gr. 8° mit einem Atlas von 22 Tafeln Folio). Wir werden dieses Hauptwerk hier ausschliesslich in Betracht ziehen, da die zahlrei- chen kleineren, früher von Goette gegebenen Mittheilungen über Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere in ihren wesentlichen Picsultaten auch in das Hauptwerk aufgenommen sind und ausser- dem keine allgemeine Betrachtung enthalten, v/elche nicht in dem Hauptwerke über die Unke ausführlicher entvdckelt wäre ^). Bei der völligen Verschiedenheit der positiven Ansichten, wel- che His und Goette über Ziele und Wege der Entwickelungsge- schichte vertreten, müssen wir unsere beiden Gegner getrennt zu schlagen versuchen, vorher aber den Nachweis führen, dass Beide 1) Auf dem Titelblatt von „Unsere Körperform" steht die Jahreszahl 1874. Die Schrift ist aber, wie schon das (vom Januar 1875 datirte) Vorwort zeigt, erst im folgenden Jahre wirklich erschienen. Ich werde das Hauptwerk kurz als ,,Hühn- chen" citiren , die Rectoratsrede als ,,Ilede" und das dritte genannte Werk als ,,Kö r p er form". 2) Unter den kleineren Arbeiten von Goette sind hervorzuheben die ,, Beiträge zur Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere" in Mas Schultze's Archiv für mi- krosk. Anatomie. I. „Der Keim des ForeUen-Eies" (Bd. IX, 1873, p. 679 — 708; Taf. XXVII). II. ,,Die Bildung der Keimblätter und des Blutes im Hühner -Ei." (Bd. X, 1874, p. 145 — 199; Taf. X — XII). Auch mehrere kleine Mittheilungen im Bei-liner medicin. Centralblatte enthalten einzelne wichtige Bemerkungen. Für die allgemeinen Ansichten und den dualistischen Standpunkt von Goette ist sehr be- zeichnend die Besprechung, welche derselbe von meiner ,, Anthropogenie" in der ,, Jenaischen Literatur-Zeitung" gegeben hat (Nr. 23 vom 5. Juni 1875). 14 in einem negativen Hauptpunkte zusammenstimmen, nämlich in der völligen Verwerfung der Descendenz-Theorie, des Dar- winismus und der Pliylogenie. Dieser Nachweis ist um so noth-- wendiger, als Beide der Descendenz-Theorie und der daraus er- wachsenen Phylogenie scheinbare Concessionen machen und gele- gentlich nicht versäumen, Dakv^in mit einigen tagesüblichen Com- plimenten zu beschenken. Das sind Schwachheiten, über die Beide bei ehrlicher und consequenter Vertretung ihrer eigenen Entwicke- lungs- Theorien erröthen müssen. Denn die letzteren sind mit den ersteren völlig unvereinbar, und es geschieht daher lediglich aus Rücksicht auf die Darwinistische Strömung der Gegenwart und auf die „öffentliche Meinung" der Biologie, wenn sie hie und da sich als Verehrer Darwin's geberden. His hat sein Verhältniss zur Descendenz-Theorie am richtig- sten selbst in folgenden Worten treffend charakterisirt: „Die neuere Forschung strebt auf das Entschiedenste dahin, die einzelnen Le- bensformen unter einander in historischen Verband zu bringen, und die stufenweise Entwickelung höherer Formen aus niedrigeren zu erweisen. Bei dieser, in unsere Naturauffassung so tief eingreifen- den Frage ein Urtheil abzugeben, erlaubt mir der Gang meiner eigenen Studien nicht (!). Einzelne von den Erfah- rungen, welche der Aufnahme von Darwin's Lehre einen so gün- stigen Boden geschaffen haben, wie z. B. der Parallehsmus zwischen systematischer und embryologischer Entwickelung, lassen sich aus den früher dargelegten Principien der Formbildung erklären, ohne dass die Aufstellung, eines historischen Verbandes zwischen den ähnlichen Formen nothwendig wird. Da- gegen bleibt die geologische Entwickelung der For- men ein Räthsel" u. s. w. (Hühnchen, S. 223). Ebenso sagt His in der citirten Rede (1869, S, 35): „Wenn ich mich genöthigt sehe, die Ansprüche der individuellen Entwickelungsgeschichte gegenüber der überwallenden Macht DARwiN'scher Anschauungen zu wahren, so geschieht dies nicht ohne bedeutendes inneres Widerstreben. Gerade in den Hauptpunkten fühle ich mich für die Beurtheilung derselben incompetent." Diese aufrichtig und in richtiger Selbsterkenntniss eingestan- dene Incompetenz hindert jedoch His nicht, die Descendenz-Theorie zu bekämpfen und zu behaupten, dass „die sämmtlichen, der Mor- phologie oder der Entwickelungsgeschichte entnommenen Argumente desshalb nicht von beweisender Kraft seien, weil sie als die un- mittelbaren Folgen physiologischer Entwickelungsprincipien 15 der Erklärung auf dem weiten Umwege genealogischer Verwandtschaft gar nicht bedürfen." (Rede S. 36). In der That ist auch His nur consequent, wenn er hier und an anderen Orten die Descendenz- Theorie als unvereinbar mit seiner eigenen Entwickelungs-Theorie bekämpft; und ganz dasselbe gilt von Goette. Wie allgemein bekannt, beruht die Descendenz-Theorie in erster Linie auf der fundamentalen und höchst wichtigen Thatsache, dass sich die durch Anpassung erworbenen Verände- rungen vererben, einer Thatsache, deren mannichfaltige Erschei- nungsformen ich in der „Generellen Morphologie" (Bd. II, S. 186 — 196) als „Gesetze der progressiven Vererbung" formu- lirt habe. Ohne die Anerkennung dieser Thatsache ist jede Ab- stammungs-Theorie, jede Vorstellung, dass verschiedene Species von gemeinsamen Stammformen abstammen, überhaupt undenkbar. Nun ist es gewiss höchst charakteristisch, dass sowohl His als Goette diese fundamentale Thatsache völlig leugnen. Hören wir darüber zunächst His (Körperform, S. 157): „Erfahrungen der ausge- dehntesten Art erlauben uns die Entscheidung über diesen Punkt: Seit Jahrtausenden stehen und gehen wir in derselben Wei- se^); seit Jahrhunderten sprechen unsere Vorfahren dieselbe Sprache^) und schreiben dieselbe Schrift^); und doch mussten wir selbst und müssen unsere Kinder diese Fähigkeiten jedes wieder einzeln lernen^). Seit Jahrtausenden üben ferner ge- wisse Völkerschaften die Circumcision, ohne dass der, immer wieder von Neuem abgetragene Theil durch Vererbung verschwunden wäre ^). Solchen Erfahrungen gegenüber kann die Handvoll Anecdo- 1) Was werden die Tanzmeister, welche die Jugend der höheren GeseUschafts- kreise „mit Anstand" gehen und stehen lehren, was werden die Unterofficiere, welche die Recruten einexerciren, zu dieser Unveränderlichkeit der Gangart sagen ? 2) Was werden die Historiker, die Philologen und die vergleichenden S^Jrach- forscher zu dieser Unveränderlichkeit der Sprache sagen? 3) Was werden die Calligraphen, die das „Schönschreiben" lehren, und die Ar- chaeologen, die alte Manuscripte enträthseln, zu dieser Unveränderlichkeit der Schrift- weisen sagen? 4) His zieht hier offenbar aus der Annahme der Verei'bung von Anpassungen die Folgerung, dass neugeborne Kinder gehen und stehen, sprechen und schreiben müssen ! 5) Diese oft wiederholte Behauptung ist falsch! Das Praeputium ist bei vie- len semitischen Völkern, die seit Jahrtausenden die Beschneidung üben (so nament- lich bei den Arabern und den Mauren) meist mehr oder minder rückgebildet, wenn auch nur selten ganz verschwunden. Warum in den einen Fällen diese Wirkung der Beschneidung gewöhnlich eintritt, in den anderen dagegen (z. B. bei den Juden) gewöhnlich ausbleibt, wissen wir allerdings nicht. 16 teil (!), welche man zu Gunsten der Vererbung individuell erwor- bener Eigenschaften angeführt hat, nicht auflcomnien. Ohnedem erinnert ihre Beglaubigung lebhaft an die Beweise für das Verse- hen Schwangerer (! !) , und auf wissenschaftliche Beachtung dürfen sie zum Mindesten keinen Anspruch machen (sie ! ! !) Bis zum Ein- tritt besserer Beweise halten wir an dem Satze fest, dass die im individuellen Leben erworbenen Eigenschaften sich nicht vererben" ^). Eben so klar und unzweideutig äussert sich über dieses fun- damentale Princip Goette in seiner Entwickelungsgeschichte der Unke: „Die Vererbung erworbener Veränderungen kann unmög- lich angenommen werden (Unke, S. 900). Die gemeine Erfahrung spricht nicht für, sondern gegen die Vererbung erworbener Verän- derungen (S. 896)2). Die Einsicht in den Causalzusaramenhang der individuellen Entwickelung verbietet uns also die Annahme, dass irgendwelche Entwickelungsveränderungen im physiologi- schen (!) Leben 3) erworben würden" (Sic! Unke, S. 901). „Die Vererbung erklärt Nichts! — • Damit ist auch die Vererbungs- fähigkeit erworbener Veränderungen der Organisation, also grade die physiologische Anpassung lebender Individuen an äussere Einflüsse von der Begründung der Phylogenese ausgeschlossen." (Unke, S. 898.) Freilich werden uns diese erstaunlichen und die Descendenz- Theorie vernichtenden Stellen begreiflicher, wenn wir durch Goette 1) Die inhaltreichen zwei Bände, welche Darwin „über das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication" geschrieben hat, und die zahllosen Thatsachen, die wir sonst noch über die Vererbung von Anpassungen kennen, sind also ,,eine Handvoll werthloser Anecdoten!" Armer Darwin! 2) Dass eine künstliche Züchtung existirt, scheint hiernach sowohl Goette wie His völlig unbelcannt zu sein. Beide wissei^ nicht oder wollen nicht wissen, dass der Mensch durch seine Züchtungskunst zahllose neue Formen hervorgebracht hat, die von ihren Stammformen in viel höherem Maasse abweichen, als sogenannte ,,gute Arten" (bonae species) im Naturzustande unter sich verschieden sind. Weder His noch Goette scheinen jemals eine Blumenausstellung oder eine Viehausstellung besucht zu haben, wo sie die erstaunlichen Veränderungen der gesammten äusseren Körperform und des inneren Baues hätten beobachten können, die wir durch die Züch- tungskunst an den Culturpflanzen und Hausthieren hervorgebracht haben. Und doch beruht diese Züclitungskunst im Grunde nur auf der Auslese oder Selection, welche die Vererbung erworbener Veränderungen benutzt. Ohne letztere wäre erstere ganz unmöglich. Oder gehören diese allbekannten, jeden Augenblick durch ,,die gemeine Erfahrung" zu constatirenden Thatsachen alle auch zu jener ,, Hand- voll Anecdoten" , die mit dem Versehen Schwangerer auf einer Linie stehen ? 3) Leider hat Goette uns nicht näher darüber aufgeklärt , in welchen Fällen das Leben ,, physiologisch" und in welchen dasselbe ,, unphysiologisch" ist. 17 erfahren, dass die Anpassuugs- und Vererbungs-Erschei- nuugen „übernatürliche Vorgänge" sind! (Unke, S. 903.) Wenn aber Anpassung und Vererbung „übernatürlich" sind, dann fürchteich, -wird auch das grosse „Formgesetz", auf das Goette alle Entwickelung zurückführt, wohl „übernatürlich" sein; denn: „die Vererbung bedeutet nicht eine Continuität der aufeinander folgenden Generationen, sondern lediglich eine wiederholte Neu- bildung desselben Formgesetzes" (sie! Unke, S. 901). Allerdings darf ich eigentlich über Vererbung und Anpassung nicht mitsprechen. Zwar habe ich in meiner „Generellen Morpho- logie" den ersten (und bis jetzt einzigen) Versuch gemacht, die Gesetze der Vererbung und Anpassung strenger zu formuliren und die dunkle physiologische Natur dieser beiden wichtigsten formbil- denden Functionen durch Anschluss an die Functionen der Fort- pflanzung und Ernährung ein wenig aufzuhellen, sowie ihre Bedeu- tung für die Entwickelungsgeschichte näher zu erläutern. Allein dieser ernstgemeinte Versuch musste wohl kläglich scheitern; denn „das Ergebniss" von Goette's Untersuchung ist, „dass Haeckel weder eine klare Vorstellung vom Begriff der Vererbung hat, noch diese Erscheinung irgendwie zu erklären vermag" (Unke, S. 894). Auch hat Goette fernerhin „gezeigt, dass die von Haeckel miss- verstandenen Begriffe der Vererbung und Anpassung zur Begrün- dung der Phy logen ie gar Nichts beitragen!" (Unke, S. 904.) Was kann ich nach solchen fundamentalen „Missver- ständnissen" noch weiter in der Wissenschaft anfangen?^) Erwägen wir recht den Sinn dieser Sätze, so werden wir es nur als eine nothwendige Consequenz zu betrachten haben, dass Goette auch- das biogenetische Grundgesetz und die Phylogenie 1) Sollte der geneigte Leser wegen dieser Vernichtung meiner wissenschaft- lichen Competenz durch Goette vielleicht eine Anwandlung von Mitleid empfinden, so ersuche ich ihn freundlichst, sich dasselbe für später aufzubewahren. Es wird sich dann Gelegenheit ergeben , dasselbe Mitleid auch noch einer grossen Anzahl von anderen Naturforschern zu spenden, unter denen ich vorläufig nur Carl Eenst Baer, Carl Gegenbauk und Charles Darwin hervorheben will. Diese Alle und noch viele Andere haben gleich mir trotz vieljähriger Bemühungen kein richtiges Verständuiss der Entwickelung erlangen können. Wir Alle haben nämlich das grosse, erst von Goette entdeckte ,,F ormges e t z" nicht gekannt, und daher war Nichts natürlicher, als dass wir Alle unser ,,Ziel verfehlt" haben. Die einzige Entschul- digung , die wir dafür haben , die aber hoffentlich auch Goette gelten lässt , liegt in der fehlerhaften und unvollkommenen Beschaifenheit der ,,F o rm g e s e t z e" , nach denen unsere Gehirne gebildet sind. Freilich wird sich späterhin leider zei- gen, dass diese mangelhafte Gehirn-Entwickelung eigentlich allgemein, und dass nur Goette's Gehirn davon ausgeschlossen ist. 2 18 überhaupt nicht anerkennt. Während ich geglaubt hatte, in die- sem Grundgesetze der organischen Entwicklung den wahren Cau- sahiexus der Ontogenie und Phylogenie auszudrücken, ist dagegen nach GoETTE „das biogenetische Grundgesetz eine Verleugnung nicht nur jedes ontogenetischen Causalzusammenhanges, sondern selbst der Erscheinungsthatsachen der individuellen Entwickelungs- geschichte" (sie! Unke, S. 903). Ferner sagt derselbe: „Ich glaube nun allerdings in diesem ganzen Buche bis zu dieser Stelle den Beweis geliefert zu haben, dass die Ontogenese in ununterbrochenem, ursächlichem Zusammenhange auf den allereinfachsten, nicht leben- den Ausgangspunkt sich zurückführen lasse, ohne dass die Phy- logenie auch nur erwähnt zu werden brauchte." (Unke, S. 887.) Und um die Phylogenie ausdrücklich von jeder Erklärung morphologischer Erscheinungen auszuschliessen, wiederholt er noch am Schlüsse seines Buches den Hauptsatz: „Die individuelle En twickelungsgeschichte der Organismen begründet und erklärt allein die gesammte Morphologie dersel- ben" (Unke, S. 904). Angesichts dieser oft wiederholten und unzweideutigen Erklä- rungen, durch welche die Phylogenie und die Descendenz- Theorie überhaupt in Bausch und Bogen verworfen und als ein schwerer Irr- thum hingestellt wird, muss es im höchsten Maasse befremden, dass GoETTE selbst trotzdem wiederholt von starken phylogeneti- schen Anwandlungen befallen wird. Namentlich im IX. Abschnitt, beim Kopf, spricht derselbe so oft und ernstlich von dessen „phy- logenetischer Entwickelung", dass wir fast einen überzeugten Dar- winisten zu hören glauben i). Allerdings wird niemals irgendwie ein ernsthcher Versuch gemacht, nach phylogenetischer Methode ein Problem zu behandeln; aber schon die blosse Anerkennung, dass es trotzdem eine Phylogenie giebt, erscheint hier völlig un- motivirt und in directem Gegensatz zu der sonst verfolgten Rich- tung. Wo bleibt da die Logik? Ebenso unmotivirt und inconsequent ist auch die lobende An- erkennung, die GoETTE hie und da Darwin und der Descendenz- 1) „Die vergleichende Entwickelungsgeschichte der verschiedenen Primordial- schädel vermag allein uns den Weg ihrer phylogenetischen Entwickelung an- zudeuten" (Unke, S. 717). „Dies sind die Thatsachen, welche uns die individuelle Entwickelungsgeschichte als Richtschnur hei phylogenetischen Untersuchungen überliefert" (S. 741). Später lesen wir sogar zu unserer grössten Ueberraschung, dass „die Phylogenese für jeden einzelnen Organismus eine Noth- wendigkeit" ist, und dass „ein Theil der Anpassungen" bei der Phylogenese in Betracht komme" (! Unke, S. 902). 19 Theorie (wenn auch in spärlichstem Maasse) spendet. So lesen wir auf S. 848 zu unserer Ueberraschung plötzlich von der „logisch begründbaren Nothwendigkeit der Descendenz- Theorie". Freilich wird unsere Freude darüber stark getrübt, wenn wir nirgendwo in dieser „Grundlage der vergleichenden Morphologie" eine Erörterung oder eingehende Anwendung derselben finden, und wenn wir wei- terhin auf folgenden Satz stossen: „Dadurch, dass auch Darwin ein rrrthum nachgewiesen wird, sehe ich seine grossen Verdienste nicht wesentlich geschmälert, sondern nur in einer anderen Richtung, als in der mechanischen Begründung der gesammten Descendenz - Theorie" (Unke, S. 891). Worin diese grossen Verdienste nun aber beruhen, hat Goette uns bedauerlicher Weise verschwiegen^). Viel freigebiger als Goette ist dagegen His mit Lobeserhe- bungen Darwin's und der Descendenz-Theorie. Er erkennt sogar an, dass „uns durch Darwin's schöpferische Arbeiten die Augen geöffnet worden sind für die unter unseren Augen fortwährend vor sich gehenden Neubildungen organischer Formen, und dass wir im Princip der natürlichen Züchtung einen weitgreifenden Schlüssel in die Hand bekommen haben zum Verständniss der Ausbildung und Fixirung besonderer Formen." (Körperform, S. 160.) Ja zu un- serem grössten Erstaunen finden wir in diesem neuesten Werke von His (1875) die Erklärung, dass die Descendenz-Theorie ebenso be- rechtigt ist, wie seine eigene (mit dieser völlig unvereinbare!) mechanische Entwickelungstheorie; und dass die von der ersteren befolgte phylogenetische Methode der Erklärung mit seiner eigenen „physiologischen" Methode Hand in Hand gehen müsse. „Die phy- siologische Ableitung der thierischen Körperformen und die Auf- suchung ihrer phylogenetischen Geschichte sind zwei Aufgaben, deren Wege für die nächste Zeit getrennt neben einander herlau- fen. Soweit die an das Descendenz - Princip sich anlehnende phy- logenetische Forschung in den Grenzen sich hält, innerhalb deren auch sie an der Hand zuverlässiger Methoden fortzuschreiten ver- mag, ist ein Conflict mit physiologischer Forschung kaum jemals zu befürchten.^' (Körperform, S. 213)2). 1) Es wird neuerdings bei den Gegnern der Descendenz-Theorie Mode, Darwin als grossen Naturforscher zu feiern und gleichzeitig seine Theorie als ganz haltlos und verwerflich hinzustellen. Ausgezeichnetes darin hat z. B. Adolf Bastian gelei- stet (vergl. das Vorwort zur III. Aufl. der „Natürl. Schöpfungsg."). Wenn auch bei so unklaren Köpfen wie Bastian und Goette diese oifenkundige Inconsequenz sich durch ihre logische Unfähigkeit erklären lässt, so liegt doch in vielen anderen Fäl- len diesem Verfahren bewusste Heuchelei zu Grunde. 2) Noch merkwürdiger klingt im Munde von His folgender Dithyrambus : „Es 9 * Wir würden uns dieser überraschenden Bekehrung von His zum Darwinismus nur im Interesse der Sache freuen können, wenn dieselbe aufrichtig und wahr wäre. Das ist aber durchaus nicht der Fall; und jene schwungvolle!! Sätze der Anerkennung sind ebenso, wie bei Goette, leere Redensarten, Concessionen an die herrschende Darwinistische Strömung der Gegenwart. In derselben Schrift, über „unsere Körperform", welche die angeführten Lob- preisungen der Descendenz-Theorie enthält, finden wir nicht eine ein- zige Anwendung derselben ; dagegen die ausdrückliche Wiederholung und Betonung der damit völlig unverträglichen „mechanischen" Entwickelungs-Theorie, welche His in seinem früheren Hauptwerke (1868) aufgestellt und damals in richtiger Consequenz als unver- einbar mit der Abstammungslehre bezeichnet hatte. Obwohl ich nun schon bei verschiedenen Gelegenheiten i) auf das völlig Verfehlte der His'schen Entwickelungs-Theorie hinge- wiesen und ihren unvereinbaren Gegensatz zur Descendenz-Theorie nachgewiesen habe, bin ich doch durch diese neueste Wendung von His gezwungen, abermals darauf zurückzukommen. Als Haupt- ziel stellt sich His die mechanische Erklärung der Ontogenese, und diese sucht er (mit principiellem Ausschluss der Phylogenese) einzig und allein auf physiologischem Wege dadurch zu er- reichen, dass er „ein allgemeines Grundgesetz des Wachsthums" aufstellt. Dagegen wäre nun an und für sich nicht das Geringste einzuwenden und ich speciell könnte mich damit vollkommen ein- verstanden erklären. Auch ich verfolge ja in allen meinen Arbei- ten über Entwickelungsgeschichte das Hauptziel, sämmtliche Er- scheinungen der Ontogenesis mechanisch zu erklären, freilich nicht mit Ausschluss, sondern mit Hülfe der Phylogenese; aber ebenfalls auf physiologischem Wege. Ist doch das ganze neunzehnte Capitel der generellen Morphologie bemüht, die beiden formbildenden Erscheinungen der Vererbung und Anpassung (mit denen die bisherige Schul -Physiologie sich so gut wie gar nicht beschäftigt hat!) als physiologische Functionen der Orga- bedarf meiner Stimme nicht , um den Aufschwung zu schildern , welchen die orga- nische Naturforschung durch die Einführung der Darwin'schen Principien gewonnen hat , noch um die Grossartigkeit und die Menge der neuen Gesichtspunkte zu prei- sen, die wir denselben verdanken"' (Köperform, S. 176). „Mächtig hat die Descen- denz-Theorie eingegriffen in unser gesammtes V\^issen und Denken von der organi- schen Natur. Unser Geist ist befreit worden von Schranken , die ihn durch Jahr- hunderte behemmt hatten, unser Gesichtskreis auf das Umfänglichste erweitert , un- sere Einsicht in den Zusammenhang der Dinge erheblich vermehrt" (S. 214). 1) Anthropogenie, S. 52, 627. Gastraea-Thcorie, S. 7. 21 nismen nachzuweisen, auf die Functionen der Fortpflanzung und Ernährung zurückzuführen, und als solche mechanisch, d. h. durch chemisch-physikalische Ursachen zu erklären. Mag ich nun dieses Ziel erreicht haben oder nicht, jedenfalls habe ich dasselbe klar und unzweideutig oft genug ausgesprochen. Ich befinde mich also bei Stellung meiner Hauptaufgabe zunächst ganz auf demselben Boden, wie His, auf dem Boden des Monis- mus, und erkenne als den auf unser gemeinsames Ziel hinfüh- renden Weg allein den mechanischen, im Gegensatz zum teleo- logischen an. Denn ich theile die Ansicht Kant's, dass der Me- chanismus allein eine wirkliche Erklärung einschliesse, und dass es „ohne das Princip des Mechanismus keine Naturwissenschaft ge- ben kann" i). Auch darin, dass das Wachs th um als nächstes formgestal- tendes Princip die gesammte individueHe Entwicklung beherrscht, stimme ich ganz mit His überein. Wir beide erkennen ja damit im Grunde nur den Satz an, welchen Baer schon vor 47 Jahren als das allgemeinste Resultat seiner Forschungen verkündete: „Die Ent- wickelungsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wach- senden Individualität in jeglicher Beziehung." Aber wie kömmt denn das Wachsthum dazu, in allen den ungezählten Tausenden von orga- nischen Formen überall verschiedene und ewig wechselnde Formen anzunehmen ? Hier scheidet sich der Erklärungsweg von His fun- damental von dem meinigen; ich wende mich zur Phylogenie, um die historische Entstehung der verschiedenen Wachsthumsformen zu erklären, und suche in der Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung den völlig genügenden Erklärungsgrund. His hält diesen „weiten Umweg" für ganz überflüssig und sucht direct die Ontogenie aus sich selbst zu erklären. Er schlägt dabei das be- kannte Verfahren von Münchhausen ein, der sich selbst an sei- nem Zopfe aus dem Sumpfe zieht. Den empirischen Ausgangspunkt und die constante Basis sei- ner gesammten, auf dieses Ziel gerichteten Untersuchungen bildete für His (wie für die meisten früheren Ontogenisten) das befruch- tete, unbebrütete Hühner-Ei; und dieser Umstand wurde (wie ich schon früher in der Anthropogenie ausgeführt habe), höchst ver- häugnissvolk Denn die flache kreisrunde Keimscheibe des Hühner -Eies, der Discus blastodermicus oder „Blastodiscus", der auf der Oberfläche des unverhältnissmässig grossen kugeligen Nah- 1) Yergl. meine „Natürliche Schöpfungsgeschichte", S. 91, 92. 22 rmigsdotters ruht, ist keine primäre, sondern eine sehr stark modificirte secundäre Keim form. Ich habe in der Gastraea- Theorie (speciell in dem Abschnitt über „die Gastrula und die Ei- furchung der Thiere") den Beweis geführt, dass die ursprüngliche, palingeuetische Form des zweiblätterigen Keimes bei sämmt- lichen Metazoen die einfachste Gastrula - Form , die Archiga- strula ist, und dass alle übrigen Formen desselben, die Amphi- gastrula, die Perigastrula und die Discogastrula , modificirte ce- no genetische Formen sind, durch eine lange Reihe von em- bryonalen Anpassungen aus jener palingenetischen Urform der Ar- chigastrula entstanden. Was speciell die Discogastrula (oder den zweiblätterigen Blastodiscus) des Hühnchens betrifft, so ist sie, gleich den ähnlichen Keimformen aller anderen discoblastischen Wirbelthiere, auf die Gastrula des Amphioxus als unverän- derte Urform der ursprüßglich den Acraniern zukommenden Ar- chigastrula zurückzuführen i). 1) Dass die Keimscheibe des Hühnchens der erste Ausgangspunkt und die vermeintliche Basis für die meisten und ausgedehntesten embryologi- schen Untersuchungen wurde, kann nicht genug beklagt werden. Denn indem diese stark veränderte cenogenetische Discogastrula für die ursprüngliche , massgebende Form des Wirbelthier-Keims gehalten und daraus die weitreichendsten Folgerungen gezogen wurden , gestaltete sie sich zu einer Quelle der gefährlichsten, und folgen- schwersten Irrthümer. Sehr treffend hat dieses Verhältniss kürzlich A. Raubek (der frühere Prosector von His !) mit folgenden Worten bezeichnet : „So oft auch schon das Hühnchen Gegenstand embryologischer Untersuchungen war , so sind dennoch die ersten Anfänge der Eutwickelung nur sehr selten in das Bereich derselben ge- . zogen worden. Gleichwohl unterliegt es ja gar keinem Zweifel , dass gerade diese von fundamentaler Wichtigkeit sein müssen. Nicht weniger fällt es für die Beur- theilung des Werthes der Mehrzahl hühnerembryologischer Arbeiten , insofern sie ontogenetische Ziele verfolgten, in das Gewicht, dass sich dieselben, in einseitiger Richtung erstarrend, gänzlich jener grossen Gesichtspunkte entschlugen, welche durch die bewunderungswürdigen, auf dem Gebiete der Eutwickelung niederster Wirbelthiere, insbesondere aber der Wirbellosen gewonnenen Errungenschaften ermöglicht Avorden sind. In ursächlicher Beziehung macht sich hierbei sehr fühlbar die auch in die Wissenschaft hineinragende Gewalt alter Tradition. Die grössere Reihe vorüberge- zogener Jahre und die stattliche Zahl der Beobachter vermag auch dem Halbunter- suchten eine unerschütterlich scheinende Festigkeit zu verleihen ; sie beirrt allmäh- lich den späteren Forscher und zwingt den Unbewussten in Geleise, die der Nächste nur um so schwieriger durchbrechen wird. So konnte es nicht fehlen, dass in der auf Remak folgenden Periode der Hühnerembryologie strebsame Geister dazu ge- langten , die alte Tradition mit mancherlei , theils erfreulicher theils unerfreulicher Zuthat zu bereichern , sie herauszuschmücken , histogenetisch abzuweichen ; ja zur Krönung des Werkes den verwegenen Versuch zu machen, mit dem alten wohlge- rundeten Hühnerschild ein neu anfluthendes Lichtmeer zu beschwören, zu bekämpfen und zurückzuwerfen. Es war aber immer nur die alte Tradition geblie- 23 Ganz unbekannt mit diesem liöclist wichtigen Verhältniss und die Archigastrula des Amphioxus völlig ignorirend ^ ) , ging nun His von der Thatsache aus, dass der Discoblastus des Hülm- chens eine flach ausgebreitete runde Scheibe ist, nahm ganz will- kührlich und im schärfsten Widerspruch mit den Thatsachen an, dass das auch bei allen übrigen Wirbelthieren der Fall sei, und glaubte nun das grosse Problem einer „mechanischen" Erklärung ihrer Ontogenie zu lösen, indem er einfach durch ungleiches Wachs- thum und Bildung verschiedenartiger Falten jene Scheibe die ver- schiedensten Formen annehmen Hess. Höchst bezeichnend für diese Stellung und Durchführung seiner Aufgabe ist die zusammenfas- sende kurze Darstellung, welche er selbst davon in seiner Rede (1870) giebt: „Der Keim des Wirbelthier-Eies ist ein flaches, blattförmiges Gebilde 2). Dies Gebilde wächst von dem Eintritte der Entwicklung ab fort und fort, es nimmt da- bei an Flächenausdehnung und an Dicke zu. Das Wachsthum aber erfolgt nicht überall mit gleicher Energie, es schreitet in den cen- ben." Eauber , Die Gastrula des Hühnerkeims. Beiiin. medicin. Centralblatt, 1875. No. 4. 1) Dass His bis vor Kurzem mit der Anatomie und Ontogenie des wichtigsten und lehrreichsten aUer Wirbelthiere, des Amphioxus, völlig unbekannt war, geht aus seinem Hauptwerk und den früheren Arbeiten unzweideutig hervor. Denn nir- gends wird der Amphioxus mit einem Worte erwähnt , nirgends die fundamentale Bedeutung desselben für die Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere hervorgeho- ben. Nachdem ich dies mehrfach gerügt und darauf hingewiesen hatte , dass die Gastrula des Amphioxus ,,für sich allein schon die ganze künstliche Theorie von His über den Haufen werfe" (Anthropogenie, S. 629) , hielt His es für zweckmäs- sig, in seiner neuesten Schrift (1875) das Wichtigste von der Keimesgeschichte des Amphioxus und der Cyclostomen einzuschalten und auch hier den Versuch einer grob-mechanischen Erklärung (im Gegensatze zur phylogenetischen Erklärung) zu wagen (Körperform, S. 178 f. f.). Schwerlich konnte er seinem Buche einen schlech- teren Dienst erweisen. Denn damit hat er seine eigensten Ideen auf das Schla- gendste widerlegt. Diese gefährlichen Amphioxus - Betrachtungen sind wahre Ich- neumon-Eier, und die aus ihnen hervorgehenden Ichneumon-Larven fressen die ganze lange Raupe, die His ,, Unsere Körperform" nennt, von innen her auf! 2) Der Keim der Wirbelthiere ist wirklich flach und blattförmig nur bei den discoblastischen Abtheilungen dieses Stammes, bei den Vögeln, Reptilien und den meisten Fischen. Nur hier existirt die scharfe Trennung des Nahrungsdotters vom Bilduugsdotter , und nur hier liegt der letztere als eine ,, flache blattförmige Scheibe" auf dem ersteren oberflächlich auf. Dagegen bei den amphibi as ti- sch e n Amphibien , Cyclostomen u. s. w. ist das nicht der Fall , und am wenig- sten bei den archiblas tis chen Acraniern. Die letzteren (Amphioxus) besitzen noch heute die ursprüngliche glockenförmige Archigastrula, aus welcher jene scheibenförmige Discogastrula erst secuudär durch Ansammlung des NahrungS' dotters im Urdarm hervorgegangen ist. 24 tralen Theilen rascher voran als in den peripherisclien. Die noth- wendige Folge hiervon muss die Entstehung von Faltungen sein, da eine sich dehnende Platte nur dann flach bleiben kann, wenn ihre Dehnung an allen Punkten dieselbe ist. Solche Falten treten nun, wie oben erwähnt, in der That ein, und mit ihnen die ersten fundamentalen Gliederungen der Keimscheibe. Nicht nur die Ab- grenzung von Kopf und Rumpf, von Rechts und Links, von Stamm und Peripherie, nein auch die Anlage der Gliedmaassen, sowie die Gliederung des Gehirns, der Sinnesorgane, der primitiven Wirbel- säule, des Herzens und der zuerst auftretenden Eingeweide lassen sich mit zwingender Nothwendigkeit als mechanische Folgen der ersten Faltenent Wickelung demonstrireu." (Rede, S. 31.) Diese Faltenbildung der Keimscheibe gestaltet sich bei His zu der Grundursache der Wirbelthierbildung, die das höchst complicirte Problem ihrer Jahrtausende alten Entwickelung in der einfachsten Weise „mechanisch" erklären soll. Wodurch aber diese Faltenbildung und das sie zunächst verursachende unglei- che Wachsthum der einzelnen Keimscheiben -Theile eigentlich be- wirkt wird, davon erfahren wir bei His kein Wort. Wie ich schon in der Anthropogenie (S. 627) bemerkte, lässt sich daraus nur das entnehmen, dass in der Vorstellung von His „die bildende Mutter Natur weiter Nichts als eine geschickte Kleidermacherin ist. Durch verschiedenartiges Zuschneiden der Keimblätter, Krümmen und Falten, Zerren und Spalten derselben, gelingt es der genialen Schneiderin leicht, alle die mannichfaltigen Formen der Thierarten durch Entwickelung zu Stande zu bringen." Wenn uns His noch so genau alle einzelnen Falten, Hauptfalten und Nebenfalten be- schreibt und als wesentliche Veränderungen der entstehenden Kör- perform nachweist, so ist damit nicht das Mindeste erklärt. Denn jeder dieser einfachen ontogenetischen Faltungs- Processe ist ein höchst verwickeltes historisches Re- sultat, das durch tausende von phylogenetischen Ver- änderungen, von Vererbungs- und Anpassungs-Pro- cessen ursächlich bedingt ist, welche die Vorfahren des be- trefienden Organismus während Millionen von Jahren durchlaufen haben. Freilich wird Jeder, der mit His und mit mir den monisti- schen Standpunkt theilt, für die Entwickelungsgeschichte, wie für alle anderen Wissenschaften, im Princip den Anspruch einer me- chanischen Erklärung stellen, welche die letzten Ursachen der Er- scheinungen in den Bewegungen der Molekeln und Atome findet. 25 Für die Astronomie, für die Physik, für einen kleinen Theil der Physiologie und für einen sehr kleinen Theil der Morphologie, der Anatomie und der Eiitwickelungsgeschichte , ist diese metho- dische Forderung auch in Wirklichkeit (wenigstens annähernd) durchzuführen ; und diese Wissenszweige gestalten sich so wirklich zu exacten Wissenschaften. Für den bei weitem grössten Theil der Entwickelungsgeschichte und der Morphologie überhaupt, für einen sehr grossen Theil der Physiologie (z, B. die Psycholo- gie, Gonologie, Chorologie, Oekologie), für die Sprachwissenschaft und überhaupt für die gesammten Wissenschaften „der histo- risch-philosophischen Classe" schwebt jener Anspruch an exacte (oder an mechanische) Behandlung insofern in der Luft, als uns stets die empirischen Materialien , nämlich die ausgestorbenen Organismen fehlen werden, mit deren Hülfe wir allein jene im Prin- cip ganz berechtigte mechanische Erklärung wirklich ausführen könnten. Die Entwickelungsgeschichte ist eben ihrem ganzen Wesen nach eine historische Wissenschaft, wie schon ihr Xame sagt, und wir werden die Ontogenie keines ein- zigen Organismus jemals vollständig mechanisch erklären können, weil uns stets die empirischen Materialien der Phylogenie dazu fehlen werden. Niemand ruft uns die vergangenen Geschlechter zurück, deren heutige Epigonen allein einer unmittelbaren natur- wissenschaftlichen Erforschung zugänglich sind; und doch haben die ersteren „mechanisch", nämlich durch „Anpassung", im Laufe von Jahrmilliouen Eigenschaften erworben, welche die letzteren ebenfalls „mechanisch", nämlich durch Vererbung, von ihnen über- kommen haben. Weil His ebenso wie Goette, und leider die Mehrzahl der jetzigen Ontogenisten, die ungeheure historische Perspective nicht kennen, welche wir nur durch Erhebung auf den phylogene- tischen Standpunkt erhalten, weil sie keine Ahnung davon haben, wie unendlich verwickelt die historischen Vorbedingungen, die phy- logenetischen Ursachen der scheinbar einfachsten ontogenetischen Phaenomene sind, desshalb glauben sie, durch die genaueste phy- siologische Untersuchung der ontogenetischen Processe allein diese aus sich selbst heraus erklären zu können. So kommt His zu dem naiven Ausspruch : „Die Mechanik der Gestaltung lässt sich wirklich auf ein einfaches Problem zurückführen, auf das Problem nämlich von den Formveränderungen einer ungleich sich dehnen- den 'elastischen Platte" (Hühnchen, S. 52). So gelangt derselbe zu der kindlichen Vorstellung, dass sein „Princip des ungleichen 26 Wachsthiims" (Körperform, S. 19), dass sein „Princip der durch- gehenden Grenzmarken" (S. 46), dass sein „Princip der organbil- denden Keimbezirke" (S. 19) zu einer wirklichen Erklärung der ontogenetischen Vorgänge führe. So glaubt derselbe, diese „me- chanische" Erklärung „exact" in mathematische Formeln gebracht zu haben, indem er durch einen Mathematiker die „Gestaltsver- änderung einer unvollkommen-elastischen dünnen Platte, deren ver- schiedene Theile ein ungleiches Wachsthum haben", genau berech- nen lässt! (Hühnchen, S. 191— 194) i). Was His im Grunde erstrebt, das ist eine Physiologie des Wachsthums, also ein Theil der Physiontogenie oder der „Keimesgeschichte der Functionen" (Anthropogenie , S. 18). Da dieser ganze Zweig der Entwickelungsgeschichte fast noch gar nicht bearbeitet ist, kann His Anspruch darauf machen, diesen Specialzweig der Physiologie der Keimung zuerst ernstlich in Angriff genommen zu haben; auch werden sicherlich dabei mit der Zeit manche werthvolle Resultate erzielt werden. Nur soll His sich nicht dem Wahne hingeben, damit die Morphologie der Keimung erklärt zu haben. Das Verständniss dieser letz- teren kann eben nur durch die Phylogenie erworben werden ^). Wie völlig unvereinbar die von His erhobenen Ansprüche aber mit der letzteren sind, habe ich schon früher wiederholt an ver- schiedenen Beispielen dargethan. Mchts ist vielleicht geeigneter, diesen diametralen Gegensatz in das hellste Licht zu setzen, als seine berühmte „Höllenlappen-Theorie", die eine mechani- 1) Es wäre ganz analog, wenn Moltke die Flugbahn sämmtlicher Geschosse, die die Schlacht von Sedan entschieden, genau berechnen Hesse, und dann glaubte, diesen welthistorischen Vorgang mechanisch erklärt zu haben ! Wir müssen bei die- ser Gelegenheit entschieden gegen den Missbrauch der Mathematik prote- stiren, der mit solchen, angeblich ,,exacten" Berechnungen in der Biologie nur all- zuviel getrieben wird. Viele Naturforscher — und namentlich Physiologen — glauben eine Erscheinung ,, mechanisch zu erklären", wenn sie irgend eine (womög- lich recht complicirte !) mathematische Formel dafür aufstellen ! Ob diese äusser- lich zutrefifende Formel innerlich berechtigt ist, ob überhaupt die fragliche Erschei- nung durch eine solche mathematische Formel zu erklären ist, darüber denken diese ,,exacten Forscher" nicht nach ! Besonders reich an solchen pseudo-exacten Erklä- riingsvei-suchen ist die Morphologie und Physiologie des Wirbelthier-Skelets , die ,, Mechanik des Knochengerüstes". 2) Wenn His behauptet, dass ,,die Entwickelungsgeschichte ihrem Wesen nach eine physiologische Wissenschaft sei" (Körperform, S. 2), so ist das höchst einseitig; mit viel mehr Recht Hesse sich das Gegentheil behaupten, dass sie eigent- lich eine morphologische Wissenschaft sei! Bisher wenigstens ist sie fast bloss das letztere gewesen ! 27 sehe Erklärung der rudimentären Organe geben soll. Während die Phylogenie in diesen merkwürdigen Orgauen die verkümmer- ten und rückgebildeten Beste uralter, längst ausser Dienst getre- tener Körpertheile erblickt, die bei den älteren Vorfahren wirk- liche Functionen ausübten, betrachtet His sie als „embryologische Residuen, den Abfällen vergleichbar, welche beim Zuschneiden eines Kleides, auch bei der sparsamsten Verwendung des Stoffes, sich nicht völlig vermeiden lassen"! (Hühnchen, S. 56.) Höllen- lappen also, welche die schlaue Schneiderin „Natur" bei Seite steckt und hinter den Ofen, in die „Hölle" wirft! Nicht minder komisch ist die „Br ief c ouv er t- Theorie", wonach die vier Ex- tremitäten der Wirbelthiere , „den vier Ecken eines Briefes ähn- lich, durch die Kreuzung von vier, den Körper umgrenzenden Fal- ten" entstehen! (Rede, S. 34). Noch roher womöglich, und in noch stärkerem Contrast zu der höchst verwickelten Natur des vor- liegenden Problems ist die „Gummi schlauch -Theorie", wo- nach die specielle Form des Gehirns und Rückenmarks der Wir- belthiere durch denselben Vorgang entstehen soll, wie die entfernt ähnliche Gestalt eines Gummischlauchs , welcher gebogen, einge- knickt, aufgeschlitzt, ausgeschnitten und abermals gebogen wird. His giebt uns (nach Art eines Kochbuchs) ganz genau das Recept, wie wir auf diese Weise, durch fünf einfache mechanische Acte, aus einem Gummischlauch uns ein Markrohr mit den verschiede- nen Hirnblasen und Hirnkrümmungen anfertigen können (Körper- form, S. 96, 97). Sogar für die Entstehung der Gastrula wird uns neuestens eine ähnliche „mechanische Erklärung" aufgetischt! Die Discogastrula der Knochenfische soll durch „Gewölbespan- nung" entstehen: „Den Grund für die so rasch eintretende Ab- flachung des Keimgewölbes möchte ich in dem zunehmenden Wachs- thum der äquatorialen und subäquatorialen Zone suchen, welche für das Gewölbe die Stelle des Widerlagers vertreten, und mit de- ren Ausweitung eine ähnliche Folge eintreten muss, wie beim Wei- chen der Widerlager eines Steingewölbes" (sie ! Körperform, S. 186). Es ist wohl nicht nöthig, besonders darauf hinzuweisen, in welchem ungeheuren Missverhältniss bei diesen wie bei anderen Erklärungs-Versuchen von His die rohe und grob-mechanische Er- fassung und Behandlung der Aufgabe zu der unendlich feinen und verwickelten Natur des mechanischen Problems steht. Natürlich tritt dies Missverhältniss um so auffälliger hervor, je verwickelter sich im Einzelnen die Aufgabe gestaltet; so z. B. wenn His „die Entwickelung des Vogelschnabels als eine directe Folge von der 28 Entwickelung der Vogelaugen" darthut (Körperform, S. 206). Wa- rum nicht umgekehrt? Oder darf man bei den unendlich ver- wickelten Beziehungen, welche uns die historisch entstandene C o r - relation der Theile in jedem höher entwickelten Organismus darbietet, beliebig einen einzelnen Theil herausgreifen und seine Formbildung als die directe „mechanische Ursache" der Entwicke- lung anderer Theile betrachten? Unnöthig ist es ferner auch wohl, noch besonders hervorzu- heben, dass die angeführten und alle ähnlichen Erklärungsversuche mit der Descendenz-Theorie und der aus dieser erwachsenden Phy- logeuie völlig unvereinbar sind. Unmöglich können Beide freund- schaftlich Hand in Hand gehen, wie His in seinem letzten Buche wünscht. Hier heisstes: Entweder — Oder! Entweder ist jedes Organ (nach unserer Auffassung) ein verwickeltes historisches Pro- duct, welches im Laufe ungezählter Jahrtausende durch die Wech- selwirkung unzähliger Vererbungs- und Anpassungs-Processe end- lich zu seiner heutigen Form gelangt ist — Oder dasselbe ist das unmittelbare Resultat von Krümmungs- und Faltungs-Processen, welche nicht phylogenetisch bedingt, sondern der unmittelbare Ausfluss eines, für jedes einzelne Individuum anders beschaffenen „Wachsthums - Gesetzes" sind. Auch hier wieder liefern uns die rudimentären Orgaue vorzügliche Beispiele zur Erläuterung. Neh- men wir z. B. die menschliche Ohrmuschel! Die Descendenz-Theorie erklärt die Entwickelung und Formbildung dieses höchst variabeln Organs dadurch, dass sie es als den rückgebildeten und grössten- theils oder ganz ausser Dienst getretenen Rest der viel vollkomm- neren und höher entwickelten Ohrmuschel betrachtet , welche unsere affenartigen und beutelthierartigen Vorfahren — gleich der Mehr- zahl der übrigen Säugethiere — besassen und als wichtiges Organ zum Auffangen der Schallwellen vielfach gebrauchten. Indem die Verwendung und Uebung derselben allmählich abnahm, und — besonders beim Culturmenschen — die freien und mannichfaltigen Bewegungen der Ohrmuschel und ihrer einzelnen Theile allmählich ausser Gebrauch kamen , wurde das Organ durch „Anpassung" (nämlich Nichtgebrauch) langsam rückgebildet, trotzdem aber durch „Vererbung" immer noch von Generation zu Generation übertragen. Zahllose einzelne und höchst verwickelte „mechanische" Processe der Ernährung und Fortpflanzung, des Wachsthums, und der Be- wegung — über die wir aber beim Mangel der paläontologischen Urkunden nur Vermuthungen aussprechen können — müssen na- türlich bei diesem complicirten historischen Rückbildungs-Process 29 mitgewirkt haben. Die vergleichende Anatomie der Ohr- muschel nuiss diese Auffassung lediglich bestätigen, und wir werden mit jener Erklärung zufrieden sein, weil sie uns die Existenz und Beschaffenheit dieses nutzlosen rudimentären Organes an unserem Körper begreiflich macht. Glücklicherweise besitzen wir auch ge- rade in diesem Falle eine directe — wir dürfen fast sagen — experimentelle — Bestätigung unserer phylogenetischen Er- klärung an jenen Hausthieren, bei denen die Ohrmuschel unter dem Einflüsse der künstlichen Züchtung rückgebildet ist. Denn alle diejenigen Rassen von Kaninchen, von Hunden, von Wieder- käuern, welche schlaff herabhängende Ohrmuscheln mit rückgebil- deten Muskeln besitzen, stammen erwiesener Maassen von domesticir- ten, ursprünglich wilden Thieren derselben Species ab, welche aufrechte, stark entwickelte und lebhaft bewegliche Ohrmuscheln besassen. Wenn nun His die Entwickelung der menschlichen Ohrmuschel von seinem Standpunkte aus „physiologisch" zu erklären hätte, so würde er eine Anzahl von Beobachtern anstellen, welche dieses Organ (das bekanntlich bei jedem Individuum andere Formen und Grös- senverhältnisse zeigt) auf das Genaueste im Ganzen und in den einzelnen Theilen von Anbeginn seiner ontogenetischen Bildung an verfolgten und durch „Wägung und Messung" eine möglichst „exacte" Darstellung desselben gäben. Darauf würde er eine An- zahl von Mathematikern engagiren, welche die höchst complicir- ten Curven und Krümmungsflächen der Ohrmuschel, ihrer Knorpel und ihrer Muskeln, ihrer Leisten und Gegenleisten, berechneten. Diese hätten dann nachzuweisen, wie jene höchst verwickelten Form- verhältnisse nach einem complicirten „Wachsthumsgesetz" durch „ungleiche Flächenausdehnung einer elastischen Platte", durch Knik- kungen und Faltungen, Zerrungen und Spaltungen entstanden. Bei der endlosen individuellen Variabilität, welche die menschliche Ohrmuschel mit den übrigen „rudimentären Organen" theilt, würde natürlich jenes „Wachsthumsgesetz" bei jedem einzelnen Menschen, (wie bei jedem einzelnen Thiere) ein besonderes sein; ja die meis- ten Menschen würden am rechten Ohre ein ganz anderes Wachs- thumsgesetz zeigen, als am linken. Auch fordert ja His ausdrück- lich für sein „Wachsthumsgesetz", dass „dessen Kenntniss für jedes Geschöpf besonders anzustreben ist." (Körperform S. 120.) Wäre nun mit dieser „mechanischen" Erklärung von His (ihre Durchführbarkeit vorausgesetzt!) irgend Etwas für das wirkliche morphologische Verständniss unserer Ohrmuschel und ihrer Onto- genese gewonnen? Ganz ebenso wenig, als wenn His dieselbe 30 als rudimentäres Organ anerkennen, aber mit Ausschluss der Phy- logenese durch seine „Höllenlappen-Theorie" erklären wollte. Hin- gegen wird die phylogenetische Erklärung, welche die Descendenz- Theorie mit Hülfe der vergleichenden Anatomie von der stufen- weisen Entstehung, Fortbildung, Umbildung und Rückbildung der Ohrmuschel giebt, uns deren Ontogenese und Formbildung beim Menschen vollständig erklären, trotzdem wir natürlich (bei Mangel des paläontologischen Materials und aller anderen directen Ui'- kunden über die vieltausendjährige Stammesgeschichte der Ohr- muschel) niemals im Stande sein werden. Schritt für Schritt unsere Erklärung „exact" zu beweisen, oder gar in mathematische Formeln zu bringen. Ein weit einfacheres Beispiel für den Werth und Unterschied unserer beiderseitigen Erklärungsversuche liefert die Entstehung der beiden primären Keimblätter. Ich erkläre dieselbe phyloge- netisch dadurch, dass ursprünglich bei der P 1 a n a e a (der Stamm- form, welche der Blastula entspricht) eine Arbeitstheilung der Zellen eintrat, welche in einfacher Schicht die Wand der Hohlkugel (Blastosphaera) bildeten. Die vegetativen Zellen (die Stammeltern des Entoderms) übernahmen die Function der Er- nährung, die animalen Zellen (die Stammeltern des Exoderms) dagegen die Functionen der Bewegung und Bedeckung. Durch die Invagination des Entoderms in das Exoderm entstand die Ga- st raea. (Vergl. „die Gastrula und die Eifurchung der Thiere." 12. Abschnitt.) Durch Vererbung wurde dann dieser ganze phylogenetische Anpassungs-Process auf die Nachkommen der Gastraea, auf sämmtliche Metazoen übertragen; und bei allen ar- chiblastischen Metazoen wird er noch heute täglich getreu wieder- holt, indem zunächst aus der Eifurchung die Blastula hervor- geht und aus dieser durch Invagination die Gastrula entsteht. Die Discogastrula der discoblastischen Metazoen und ihre Entste- hung aus der Discoblastula ist nur zu verstehen, wenn man an- nimmt, dass diese Keimformen durch cenogenetische Anpassungen aus den ursprünglich erblichen (palingenetischen) Keimformen der Archiblastula und Archigastrula entstanden sind. His dagegen glaubt die Entstehung der zweiblätterigen Discogastrula ganz ein- fach und direct mechanisch erklären zu können : „Die Ungleichheit in der Flächenausdehnung der verschiedenen Keimscheibenschichten ist der Grund der Blätterspaltung." (Körperform, S. 56). Diese falsche Deutung wird schon dadurch widerlegt , dass die primären Keimblätter überhaupt ursprünglich nicht durch Spaltung (Dela- 31 mination), sondern durch Einstülpung (Invagination) des Blasto- derms sich bilden i). Die neuen Ziele und Wege, welche His in die „physiologische" Entwickelungsgeschichte einführen wollte, sollten nach seiner eigenen Erklärung in der Feststellung von zwei fundamentalen Principien gipfeln: „das Vorhandensein zweier Keime, und die Zurückführ- barkeit aller Gestaltung auf ein allgemeines Grundgesetz des Wachs- thums" (Hühnchen, S. VI.) Das Letztere ist in seinem wichtigsten und werthvollsten Theile nur eine weitere Ausführung der Ansichten Baee's. Als Versuch einer „Physiologie des Wachsthums" ver- dienen die bezüglichen Bestrebungen von His, wie schon gesagt, alle Anerkennung. Hingegen erweisen sie sich zur wirldichen Erklärung der morphologischen Entwickelungs- Erscheinungen völlig unzurei- chend; diese kann eben nur durch die Phylogenie gewonnen werden. Wo His sein Wachsthumsgesetz „dessen Kenntniss für jedes Geschöpf besonders anzustreben ist", direct an die Stelle der letzteren setzen will, da wird es zu einem leeren Wort, gleich dem Formgesetz von Goette. Das zweite neue Princip von His, die Annahme von zwei gänzlich verschiedenen Keimen in dem sich entwickelnden Eie, bildet seine „Parablasteu-Theorie." Diese steht in so grel- lem Widerspruche zu den wichtigsten Thatsachen der verglei- chenden Ontogenie (und besonders der Histogenie), dass ein einfacher Hinweis auf letztere zur Widerlegung genügen sollte. Nur dadurch, dass His sich jahrelang ausschhesslich mit der On- togenie des Hühnchens beschäftigte und die Keimesgeschichte der übrigen Wirbelthiere (vor allen des Amphioxus) völlig ignorirte, lässt sich die Aufstellung jener wundedichen Hypothese überhaupt begreifen. Da dieselbe aber trotzdem als grosse Entdeckung be- wundert wurde und selbst heute noch bei Vielen als solche gilt, müssen wir sie hier doch mit einigen Worten beleuchten. Die Parablasten- Theorie von His behauptet, dass aus den beiden primären Keimblättern nur das Nervengewebe, das Muskelgewebe und das Epithelial- und Drüsengewebe hervorgehen. Diese Theile nennt er Hauptkeim- oder archiblastische An- lagen und stellt ihnen als fundamental verschieden die Neben- keim- oder par ablas tischen Anlagen gegenüber: die Innen- wand der sämmtlichen Gefässräume, die Blutzellen, das Bindege- 1) Vergl. meinen Aufsatz über „die Gastrula und die Eifurchung der Thiere." Jenaische Zeitschrift für Naturwiss. 1875. Bd. IX, S. 402—508. 32 webe mit seinen verschiedenartigen Modificationen, das Knorpelge- webe und das Knochengewebe. Diese parablastischen Theile sollen nicht aus den beiden primären Keimblättern, sondern unabhängig von letzteren aus dem „weissen Dotter" des Eies entstehen, und die angeblichen „Zellen" des letzteren sollen direct von den Granulosa- Zellen der Ei-Follikel abstammen. Ich habe schon wiederholt her- vorgehoben, dass die einfache, von Kowalevsky entdeckte Ga- strula desAmphioxus für sich allein schon genügt, die ganze Parablasten - Theorie über den Haufen zu werfen. „Denn diese Gastrula lehrt uns, dass alle verschiedenen Organe und Gewebe des ausgebildeten Wirbelthieres ursprünglich sich einzig und allein aus den beiden primären Keimblättern entwickelt haben. Der entwickelte Amphioxus besitzt ein differenzirtes Gefässsystem und ein im ganzen Körper ausgebreitetes Gerüste von Geweben der Bindesubstanz, so gut wie alle anderen Wirbel thiere; und doch ist ein „Nebenkeim", aus dem diese Gewebe im Gegensatze zu den übrigen hervorgehen sollen, hier überhaupt gar nicht vorhan- den!" (Anthropogenie, S. 629.) Trotzdem nun His diesen Ein- wurf kennt, und trotzdem er in seiner neuesten Schrift über „Un- sere Körperform" (1875) selbst die Gastrula des Amphioxus be- schreibt und abbildet (S. 178), entblödet er sich nicht, gleichzeitig in derselben Schrift die Parablasten - Theorie als eine seiner wich- tigsten Entdeckungen einem weiteren Kreise ausführlich vorzu- tragen und zu versichern, dass er „weniger als je Grund habe, von seiner bisherigen Ueberzeugung abzulassen!" (S. 43.) Ich frage, wie verhält sich dies Verfahren zu der „Zuverlässigkeit und unbedingten Achtung vor der thatsächlichen Wahrheit," welche His mir abspricht und „unter allen Qualificationen eines Naturforschers für die einzige erklärt, welche nicht entbehrt wer- den kann?" (S. 171.) His begeht hier wissentlich eine starke und den nicht eingeweihten Leser absichtlich irre führende Unwahrheit! Besonders hervorzuheben ist übrigens, wie His selbst seine beiden höchsten Principien in Collision bringt und wie er die allgemeine Gültigkeit seines „allumfassenden Wachsthums- gesctzes" durch die Parablasten -Theorie selbst vernichtet. Dar- über lässt folgender Satz keinen Zweifel: „In der That lässt sich nur für die Bildungen archiblastischen Ursprungs (Nerven, Mus- keln, Epithelien) von einem eigenthümlichen Gesetze des Wachs- thums reden. Alle parablastischen Gewebe: Gefässröhren , Binde- gewebe, Knorpel, Knochen, sind in ihrer Entwickelung abhängig von den archiblastischen." (Körperform, S. 127.) Also die Wir- 33 belsäule, der Schädel, das Gliedmaassen-Skelet, das Herz, die Blutgefässe ii. s. w. haben kein eigenthümliches Gesetz des Wachs- thiims, während jedes Haar, jede Drüse, jeder Nerv, jeder Muskel sich eines solchen erfreut? In der That, diese wichtige Entde- ckung vernichtet die Hälfte der vergleichenden Anatomie! Denn da alle jene parablastischen Theile wild und gesetzlos aufwach- sen, bloss von den archiblastischen Epithelien, Nerven und Mus- keln abhängig, so ist alle die unendliche Mühe und Arbeit, welche CuviER, Johannes Müller, Gegenbaue, Huxley und Andere auf die vergleichende Osteologie und Angiologie verwendet haben, vergeblich gewesen ! Zu welchen unglaublichen Folgerungen übrigens His selbst durch seine Parablasten- Theorie gedrängt wird, zeigt am besten wohl der folgende erstaunliche Satz : „Während Du nicht im Stande sein wirst. Dir einen lebenden Thierkörper zu denken ohne Ner- vensystem, ohne Muskeln und ohne Drüsen, kannst Du Dir gar wohl einen solchen vorstellen, in welchem Bindegewebe, Knochen und Knorpel durch anderes Material von gleichen physikalischen Eigenschaften (durch Leder, Holz, Leinwand u. s. w.) ersetzt sind, und in dem selbst an Stelle des Blutes eine Lösung bestimmter chemischer Stoffe kreist." (Körperform, S. 43.) Beim ersten Le- sen dieses beispiellosen Satzes weiss man nicht, ob man mehr über die in der These sich entblössende Unwissenheit oder über die in der Antithese kundgegebene Kühnheit erstaunen soll! His weiss also nicht einmal, dass ganze grosse Thierclassen : die Infu- sorien, die Rhizopoden, die Spongien, zahlreiche Acalephen (Hydra u. s. w.) „ohne Nervensystem, ohne Muskeln und ohne Drüsen als lebende Thierkörper" existiren? Ja, er kann sich diese Thierkör- per, deren ihm völlig unbekannte Organisation jeder Anfänger in der Zoologie kennt, nicht einmal als möglich vorstellen? Nach seinem eigenen Geständniss ist er dazu nicht im Stande! Eine ganze grosse Gruppe also von höchst wichtigen Organisationser- scheiuungen, die nicht nur für die Anatomie, sondern auch für die Physiologie , und vor allen für die Entwickelungsgeschichte , das höchste Interesse besitzen, kennt er nicht und erklärt er a priori für undenkbar ! Dagegen wird es ihm leicht, sich einen lebenden Fisch, einen lebenden Vogel, einen lebenden Menschen vorzustellen, in welchem das Knochengerüst durch ein ebenso geformtes Holz - gerüst vertreten wird; in welchem die Bänder und Blutgefässröh- ren aus Leder, die Fascien aus Leinwand bestehen; und in welchem das Blut durch rothe Tinte ersetzt ist!! 3 B4 Wir würden diese unglaubliche Rohheit physiologischer und morphologischer Vorstellungen für unbegreiflich halten ( — be- sonders bei einem Anatomen, der die Vorlesungen von Johannes Müller, Robert Remak, Rudolph Virchow und Albert Köllh^er gehört hat! — ) wenn wir sie uns nicht hinreichend durch den be- herrschenden Einfluss des „hochverehrten" Carl Ludwig erklären könnten. Dieser „grosse" Physiologe, welchem Wilhelm His „Un- sere Körperform" gewidmet hat ^), zeichnet sich bekanntlich ebenso sehr durch feine Technik in der Kunst des Experimentirens und durch sinnreiche Erfindung physiologischer Apparate, wie durch die naive Rohheit seiner allgemeinen biologischen Anschauungen und durch seine sprichwörtliche Unbekanntschaft mit dem Gesammtge- biete der Morphologie aus. Allerdings ist diese oft angestaunte Unwissenheit, die Carl Ludwig in der eigentlichen Natur- Ge- schichte, in der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsge- schichte zur Schau trägt , insofern vollkommen berechtigt , als nach seiner Ansicht „die Morphologie ohne alle wissenschaft- liche Berechtigung, höchstens eine künstlerische Spie- lerei ist!" Da nun aber ausser der systematischen Zoologie und Bo- tanik, ausser der vergleichenden Anatomie, ausser dem vergleichend morphologischen Theile der Histologie auch fast die gesammte Ent- wickelungsgeschichte (soweit sie bis jetzt cultivirt ist!) zur Mor- phologie gehört, so ist auch die Entwickelungsgeschichte ohne alle wissenschaftliche Berechtigung, eine leere Spielerei! „Solche Lehren von Carl Ludwig sind falsch und ver- werflich, blosse Uebergriffe, die mit aller Entschiedenheit zu- rückgewiesen werden müssen. Man braucht nicht einmal hervor- zuheben, wie an maassend es ist, in solcher Weise die grossar- tigen wissenschaftlichen Leistungen eines Cuvier, Johannes Müller, Rathke, Richard Owen, Milne Edwards u. v. A., die ja alle auf dem morphologischen Standpunkte standen, in Frage zu stel- len, wie engherzig und egoistisch es erscheint, einer schon 1) „Was der Freund dem Freunde schrieb, widmen Beide ihrem hochverehrten Carl Ludwig zur Feier des 25jährigen Lehramts den 15. October 1874." His ahnte dabei wohl nicht die grausame Selbstironie, die er beging. Dann was bedeutet ein Buch über unsere ,, Körperform" für einen ,,exacten" Physiologen, der überhaupt die Körperform für völlig bedeutungslos und für gar kein Object wissenschaftlicher Forschung erklärt? Oder sollte nur das beruhigende Gefühl ihn zu dieser Widmung veranlasst haben, dass Ludwig in der That noch viel unwissender und unerfahrener in der Morphologie ist, als His selbst? 35 nach ihren Kesultaten so wohlberechtigten Eichtung der Natur- forschiing den Werth abzusprechen! ■ — Wie eine andere Untersu- chung, als eine morphologische, die Aufgabe (die Gesetze des Baues nachzuweisen) ihrer endlichen Lösung zuführen könne, kann gewiss Niemand begreifen. Mag dieselbe auch nicht die Exactheit der physikalischen Untersuchung theilen, mag in ihr die Gefahr eines Irrthums auch immerhin weit grösser sein, als dort — wir können ihrer nicht entbehren, weil siedle einzig-e ist, die hier zum Ziele führt!" Wer wagt es solche Worte gegen den „hochverehrten", hoch- berühmten Carl Ludwig zu schleudern? Niemand anders, als KuDOLF Leuckart, der gegenwärtig an derselben Universität Leip- zig die wissenschaftliche Zoologie vertritt, an welcher Carl Ludv^ig die einseitigste und beschränkteste Richtung der Physiologie, und Wilhelm His eine entsprechende „physiologische" Richtung der Anatomie vertreten. Zwar sind Jahre verflossen, seitdem Leuckart, durch einen starken Angriff Ludwig's provocirt, die Rechte der Morphologie so energisch wahrte i). Aber Ludwig's Verhältniss zur Morphologie,- seine Unkenntniss ihrer wichtigsten Thatsachen 1) Rudolf Leuckart hatte 1848 eine kleine , auch heute noch lesenswerthe Schrift „Ueber die Morphologie der wirbellosen Thiere, ein Beitrag zur Classifica- tion und Charakteristik der thierischen Formen" veröffentlicht. Diese Schrift , die icli persönlich unter den zahlreichen werthvollen Arbeiten Leuckart's für die be- deutendste und weitsehendste halte , wurde von Carl Ludwig in Schmidt's „Jahr- büchern der Medicin" (1849, Bd. 62, S. 341) in einer Weise kritisirt, die des letz- teren einseitigen und beschränkten Standpunkt in charakteristischer Weise biossiegte. Leuckart antwortete hierauf in einem geharnischten Artikel, betitelt: ,,Ist die Mor- phologie denn wirklich so ganz unberechtigt ?" (Zeitschr. für wiss. Zool. 1850, Bd. II, S. 271). Zugleich fügte derselbe einen, in dieser Angelegenheit au ihn gerichteten, trefflichen Brief des würdigen Heinrich R.athke bei, der in bescheiden- ster Form die ganze Leerheit der wissenschaftlichen Anmaassung und die. inneren Widersprüche des Ideen-Ganges von Ludwig kennzeichnet und zu seiner Entschul- digung nur seine Unwissenheit in der Literatur der Zoologie anführt; seine Uu- bekanntsehaft mit den Wegen und Zielen dieser Wissenschaft , von der ja auch die Physiologie nur ein kleiner Theil ist. Die Entwickelung der Wissen- schaft selbst seit jenem Streite hat entschieden , auf welcher Seite das Recht war. Die Morphologie hat sich an Inhalt und Umfang unendlich erweitert ; und indem sie sich der Descendenz-Theorie bemächtigte, uns den tiefsten Blick in die Geheim- nisse des Lebens erschlossen. Die Physiologie , die sich von letzterer abwendete, jst innerhalb eines engen und beschränkten Forschungsgebietes stehen geblieben (Vergl. Anthropogenie, S. 14, 131). Ich erinnere mich hierbei noch mit Vergnügen eines Gespräches mit Johannes Müller, das ich kurze Zeit vor seinem Tode mit ihm hatte , und worin er die bevorstehende Ueberflügelung der Physiologie durch die Morphologie prophetisch vorhersagte. 3* 36 und seine Geringschätzung ihrer höchsten Ziele sind dieselben ge- blieben, und offenbaren sich noch heute in seiner gesammten Wirk- samkeit. „Unsere Körperform" von His ist nur ein neues Zeug- niss dafür! Nach meiner Auffassung ist die Entwickelungsgeschichte der organischen Körperformen ebenso wie die vergleichende Anatomie eine morphologische Wissenschaft, keine physiologische, wie His will. Ich werde darauf noch einmal später zurückkommen. Im Uebrigen erscheint mir bei diesem schroffen Gegensatze unserer beiderseitigen Standpunkte eine weitere Erörterung unserer Differen- zen nutzlos, und ich hätte schliesslich nur noch ein Wort der Ver- theidigung gegen die schweren Vorwürfe der Unwahrheit und der Fälschung zu sagen, die mir His nach dem Vorgange seines Freun- des RüTiMEYER macht. Ich soll diese schwere „Versündigung ge- gen wissenschaftliche Wahrheit" in meiner „Natürlichen Schöpfungs- geschichte" durch zweierlei Acte begangen haben, durch Behauptung von Deductions - Schlüssen und durch Mittheilung schematischer Zeichnungen. Was zunächst die Deductions-Schlüsse betrifft, so weiss ich sehr wohl, dass die sogenannten exacten Physiologen dieselben überhaupt für unstatthaft erklären ; obgleich sie dieselben unbewusst in der Wissenschaft wie im Leben tagtäglich anwenden. Wenn His die Schriften Immanuel Kant's oder auch nur einmal die inductive Logik von Stuart Mill gelesen hätte, (was ihn überhaupt vor vielen Fehlern bewahrt haben würde), so würde er auch richtigere Ansichten über den Werth der Inductions- und Deductions-Schlüsse besitzen. Da ihm jedoch das Verständniss für philosophische Verstandes-Operationen überhaupt fehlt, so er- scheint auch darüber eine weitere Auseinandersetzung überflüssig. Man lese nur die wunderbaren Erörterungen , die His über „Raum und Zeit", über den Begriff der Entwickelung , über den Begriff der Erklärung u. s. w. giebt. Als eines der schwersten Verbrechen wirft mir His die Ab- bildung zweier menschlicher Embryonen vor (Anthropogenie , S. 272), „bei welchen eine Allantois (beim Menschen bekanntlich nie in Blasenform sichtbar!) als ansehnliches Bläschen nicht allein abgebildet, sondern ausdrücklich beschrieben wird" (Körperform, S. 170). Ich hatte mir hier folgenden Inductions- und Deductions- Schluss erlaubt: Die Allantois, ein sehr wichtiges, embryonales Organ, ist allen Wirbelthieren der drei höheren Classen, Reptilien, Vögeln und Säugethieren gemeinsam. Beim Menschen und bei allen höheren Säugethieren entwickelt sich aus dieser Allantois die 37 bedeutungsvolle „Placenta", wesshalb man diese ganze Gruppe „Placentalien" nennt, üeberall, wo man die Entwickelung der Al- lantois genau verfolgt hat, tritt sie zuerst als eine birnförmige, mit Flüssigkeit gefällte Blase auf, und die vergleichende Ana- tomie belehrt uns überdies, dass sie phylogenetisch aus der Harn- blase der Amphibien entstanden ist. Einzig und allein beim Men- schen war die blasen förmige Anlage der Allan tois bisher noch nicht beobachtet, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Blasenform hier rasch vorüber geht, und weil überdies mensch- liche Embryonen aus so früher Zeit der Entwickelung selten un- tersucht und stets mehr oder minder beschädigt waren. Dass trotzdem auch beim Menschen die erste Anlage der Allantois bla- senförmig sein muss, ergiebt sich aus der vollständigen Ueberein- stimmung, welche seine Placenta mit derjenigen der nächstver- wandten Säugethiere, der Affen, besitzt. Hierauf stützte sich meine Darstellung in der Anthropogenie. Erst ein Jahr später wurde die blasenförmige Allantois des Menschen, ganz entsprechend meiner Darstellung, wirklich beobachtet (von Professor Krause in Göt- tingen) und somit mein Deductions-Schluss nachträglich bestätigt.^) Was zweitens die Mittheilung seh em atischer (und zum Theil schlechter) Abbildungen in der Natürlichen Schöpf- ungsgeschichte und der Anthropogenie betrifft, so behalte ich mir eine nähere Erörterung dieser schweren (von meinen Gegnern mit grosser Vorliebe breit getretenen) Versündigung für eine an- dere Gelegenheit ausdrücklich vor und bemerke hier nur, dass ich für didaktische Zwecke (besonders einem grösseren Publicum gegenüber) einfache schematische Figuren für weit brauchbarer und lehrreicher halte, als möglichst naturgetreue und sorgfältigst ausgeführte Bilder. Denn erstere geben das Wesentliche der durch die Figur zu erläuternden Vorstellungsreihe wieder, und lassen alles Unwesentliche bei Seite , während die letzteren dem Leser die klare (und oft sehr schwere) Unterscheidung des Wichtigen und Un- wichtigen im Bilde allein überlassen. Aus den wenigen und einfachen schematischen Figuren, welche Baer in seiner classischen „Entwicke- lungsgeschichte der Thiere" gab, hat die Morphologie unendlich mehr Belehrung und Erkenntniss geschöpft, als sie aus allen den zahlrei- chen und höchst sorgfältig ausgeführten Bildern von His und Goette zusammengenommen jemals schöpfen wird ! Auch finden ja in allen 1) Krause, lieber die Allantois des Menschen. Arch. für Anat. und Physiol. 1875. p. 215, Taf. VI. Hand- und Lehrbüchern schematische Abbildungen allgemein die aus- gedehnteste Anwendung, und wenn es mir His als schwerstes Verbre- chen vorwirft, dass meine schematischen Figuren erfunden sind, so gilt dieser Vorwurf für jene alle in ganz gleicherweise. Alle schematischen Abbildungen sind als solche erfunden; auch diejenigen, welche Hrs bisweilen (wenn auch selten) verwendet. Sie alle versinnlichen eine ideale Abstraction auf Kosten der con- creten Thatsachen, die dabei nothwendig mehr oder minder ent- stellt werden ^). Ich gestehe gern ein, dass ich in dem Gebrauche schemati- scher Figuren dann und wann zu weit gegangen bin und bedaure auch sehr, dass viele davon (theils durch meine eigene Schuld, theils durch die Schuld des Holzschneiders) recht schlecht ausge- fallen sind. Wenn ich darin aber auch noch so sehr gefehlt hätte, so folgt daraus doch nicht das Geringste für die Falschheit der Vorstellungen, die durch jene Abbildungen erläutert werden sollen. Ich bestreite His und meinen übrigen Gegnern entschieden das Recht, jene schlechten Abbildungen zum Angelpunkte ihrer ganzen Polemik zu machen und behaupte, dass dadurch meine allgemei- nen Ansichten über „Ziele und Wege der Entwickelungsgeschichte" nicht im Mindesten berührt werden. Es ist ein kläglicher und verächtlicher Kunstgriff, in einer wissenschaftlichen Polemik, in der es sich um die wichtigsten principiellen Gegensätze, ja um das Sein oder Nichtsein der ganzen Natur- anschauung handelt, durch solche nebensächliche Schwächen, wie es schlechte Abbildungen sind, den Gegner widerlegen zu wollen und durch deren Darlegung ihn für überwunden zu erklä- ren. His geht in den seitenlangen Erörterungen hierüber so weit, dass er schliesslich mich darauf hin aus dem Kreise „ernsthafter Forscher" geradezu ausschhesst: „Mögen Andere in Herrn Haeckel den thätigen und rücksichtslosen Parteiführer verehren , nach mei- nem ürtheil hat er durch die Art seiner Kampfführung selbst auf das Recht verzichtet, im Kreise ernsthafter Forscher als Eben- bürtiger mitzuzählen (Körperform S. 171). Dieses vernichtende ürtheil von His ist allerdings für mich 1) Dies gilt insbesondere auch von den schematischen Figuren , welche Rüti- MEYEB auf das Heftigste angegriffen hat. Diese veranschaulichen bildlich eine That- sache , die schon Baer mit klaren Worten behauptete : nämlich die formale Identi- tät verschiedener Wirbelthier- Embryonen in sehr frühen Entwickelungs - Stadien. Vergl. meine Antwort darauf im Vorwort zur III. Auflage der ,, Natürlichen Schöpf- ungsgeschichte". 39 fürchterlich! Nim, wenn ich aus dem Kreise ernsthafter For- scher durch diesen Rhadamauthys-Spruch ausgeschlossen bin, dann wird mir wohl Nichts übrig bleiben, als der Uebergang in das Lager der scherzhaften Forscher, und der Versuch, der Naturwissen- schaft auf meine Weise mit Humor zu dienen! „Ein Jeder dient ihr auf besondre Weise"! Warum auch nicht? Kann der ernsteste Forscher beim Nachdenken über die tiefsinnigen Theorien von His, die ich als Höllenlappen-, Briefcouvert-, Gummischlauch -Theorie u. s. w. bezeichnet habe , ernst bleiben ? Oder kann ein kenntniss- reicter und urtheilsfähiger Forscher ernst bleiben angesichts des er- heiternden Unsinns, der jetzt tagtäglich unter der Firma ernster Wissenschaft zur Widerlegung der Entwickelungs - Theorie auf den Markt gebracht wird? Man lese nur den neuen „Schöpfungsplan", den uns Louis Agässiz noch nach seinem Tode in einem kürzlich erschienenen, von Giebel übersetzten und eingeführten Buche of- fenbart hat! Man lese das geistreiche neueste Werk von Adolf Bastian über „Schöpfung oder Entstehung" ; oder die halsbrechen- den Evolutionen von Michelis in seiner heiteren „Haeckelogonie" ; oder den gehäuften Unsinn in dem dicken Buche von Wigand: „Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Cuviers." Welche reiche Quelle der Erheiterung und der vergleichend-psy- chologischen Gemüths-Ergötzung ! Ich meinestheils gestehe hier offen, dass ich diese und viele ähnliche Erzeugnisse der heutigen Tages - Literatur als dankbare Quellen „ungeheurer Heiterkeit" benütze. Wozu sollen wir uns auch in diesem irdischen Jammerthale, das ja Noth und Plage genug bietet, noch über all' den Unsinn und die Bornirtheit är- gern, die in der Wissenschaft mit so viel Anmaassung und Eitel- keit sich breit machen? Viel besser und vortheilhafter ist es, diese mit Humor zu ertragen und auf den später stets eintretenden Sieg der Vernunft zu hoffen! Wenn der Dichter sagt: „Ernst ist das Leben, Heiter ist die Kunst", so behaupte ich, dass das letztere auch für die Wissenschaft theilweise gilt, wenigstens für die Zoolo- gie im heutigen Zustande, sogar mit Inbegriff der „exacten" Phy- siologie! Besser ist es fürwahr, mit Demokeit über die Thor- heiten der Menschen (und der Professoren insbesondere!) zu lachen, als mit Heeaklit darüber zu weinen ! Ja ich schmeichle mir so- gar mit der Hoffnung, selbst Wilhelm His aus der Reihe der ernsthaften zu derjenigen der scherzhaften Forscher herüber zu ziehen , wenn ich mich jetzt zur näheren Beleuchtung meines zwei- ten Hauptgegners, Alexandee Goette wende. 40 Die Auseinandersetzung mit Goette wird uns allerdings zu- nächst etwas schwieriger werden , als mit His. Denn während bei His sich ein klares und bestimmtes Ziel überall erkennen lässt, auf das derselbe mit stetiger Beharrlichkeit und consequenter Lo- gik hinarbeitet, während seine Darstellung im Ganzen klar und verständlich, die Gliederung der Aufgabe sorgfältig durchgeführt ist, finden wir bei Goette von dem Allen das Gegentheil: als Ziel ein leeres Wort in nebelhafter Verschwommenheit; die Wege zum Ziele widerspruchsvoll, unbestimmt; die Darstellung im höch- sten Grade unklar, verworren und zum grossen Theile geradezu unverständlich. His hält im Allgemeinen den von mir getheilten Standpunkt des Monismus streng fest; Goette hingegen bekennt sich durchweg zum Dualismus und zwar zu einem Dualismus der gröbsten Sorte! Wie wir schon früher zeigten, sind zwar His und Goette in dem negativen Hauptpunkte einverstanden, dass die Descendenz-Theorie und mit ihr die Phylogenie ganz zu ver- werfen sind; aber ihre positiven Ziele und Wege sind völlig ver- schieden.- His sucht dieselben im Gebiete der Physiologie, Goette hingegen in dem der Morphologie; kündigt doch der Letztere sein grosses Reformwerk geradezu als die neue „Grund- lage einer vergleichenden Morphologie der Wirbelthiere" an. Was es mit dieser „Grundlage" für eine Bewandtniss hat, werden wir nachher sehen. Zunächst scheint es mir das Zweckmässigste , aus der ungeheuer voluminösen, schön gefärbten, aber schwammigen und geschmacklosen Wassermelone, die uns Goette als reife Frucht seines vieljährigen Fleisses zu kosten giebt, die winzigen, schalen und flachen Kerne herauszuschälen, an denen sich die wahre Na- tur dieses monströsen Treibhausgewächses erkennen lässt. Als ersten und wichtigsten Angriffspunkt müssen wir zunächst den groben Dualismus hervorheben, in welchem Goette's ge- sammte Naturanschauung befangen ist. Er selbst stellt diese dua- listische Weltanschauung der von mir vertretenen monistischen schroff gegenüber , und der wichtigste Theil seiner gegen mich ge- richteten Polemik sucht den Monismus zu widerlegen, wie ich ihn in der „Generellen Morphologie" als Grundlage der naturwis- senschaftlichen Weltanschauung hingestellt und besonders zur me- chanischen Begründung der organischen Formenwissenschaft ver- wendet habe. Daher wird von ihm vor Allen zunächst das zweite Buch der Generellen Morphologie bekämpft, und in diesem na- mentlich das fünfte Capitel: „Organismen und Anorgane". Nach Goette's Anschauung ist die organische Natur von der 41 anorganischen grundverschieden. Nur in der letzteren sind die phy- sikahschen und chemischen Eigenschaften der Materie die alleinige Ursache der Bewegungen und Formerscheinungen, die wir wahr- nehmen. In den organischen Naturkörpern hingegen bilden die physikalischen und chemischen Eigenschaften nur den einen Haupt- factor, der ihre Formerscheinung bedingt; zu diesem kommt noch „von aussen hinzu" ein zweiter Hauptfactor, der im Gegensatz zu dem ersteren thätig ist, und diesen nennt er das „Formgesetz". Mit der Erfindung dieses merkwürdigen „Formgesetzes" ist Goette's Weisheit erschöpft. Auf dieses Formgesetz wird die gesammte Entwickelung der Organismen zurückgeführt; durch die- ses Formgesetz sollen alle Wunder der organischen Natur erklärt werden; dieses Formgesetz soll von jetzt an die Grundlage der Entwickelungsgeschichte bilden. Sehen wir uns daher vor Allem die Natur dieses allmächtigen und allweisen „Formgesetzes" etwas näher an. Goette selbst giebt uns darüber folgende Aufklärung: „Das Formgesetz ist die eigentliche und wesentliche Grundursache der organischen Entwickelung". (Unke, S. 573.) „Die Individualität ist der physiologische Ausdruck des Formgesetzes" (S. 575). „Das Formgesetz ist niemals in- härente Eigenschaft des Stoffes" (S. 899). „Das Formge- setz ist der Inbegriff der rein mechanischen Momente, welche die lebendigen Kräfte der sich lösenden Dottersubstanz zu den einheitlichen Formleistungen der Entwicklung zwingen und dadurch mittelbar in derselben die einzelnen Lebensthätigkeiten erzeugen und zur individuellen Einheit verbinden." (! S. 844.) „Das Form- gesetz wird mit jedem Verbrauch eines Formtheils durchbrochen" (S. 848). „Das Wesen der Entwickelung besteht in der vollständigen, aber ganz allmählichen Einführung eines neuen, von aussen bedingten Momentes, eben des Form- gesetzes, in die Existenz gewisser Naturkörper." (S. 604.) Die vorstehenden, wörtlich angeführten Sätze sind nur eine kleine Blu- menlese aus den mystischen Offenbarungen , die uns der grosse Erfinder des „Formgesetzes" über dessen Natur spendet. Aber sie genügen, (zumal Goette selbst sie durch gesperrte Schrift als Hauptsätze hervorhebt) unsere ketzerischen Zweifel an der Neu- heit, wie an der Unfehlbarkeit dieses neuen Dogma zu begründen. Eines geht nämlich aus obigen Sätzen zunächst klar und unzwei- felhaft hervor: Goettes Formgesetz ist Nichts Anders, als das alte und längst aufgegebene Dogma der Le- benskraft. 42 Allerdings behauptet Goette ausdrücklich, dass in seinem Formgesetze „kein irgendwie ausserempirischer , etwa teleologi- scher Eingriff in die natürlichen , d. h. naturnothwendigen Wirkun- gen des Dotterstoffes enthalten sei" (S. 572). Ja, mit unglaubli- cher Naivetät polemisirt er selbst gegen die Lebenskraft und nennt sie eine „krasse Negation jeder Empirie". Und doch brauchen wir in der That nur in seiner eigenen Darstellung der Lebenskraft statt deren das Wort „Formgesetz" zu stellen, um dessen eigen- stes Wesen zu kennzeichnen^). Halten wir vor Allem daran fest, dass das Formgesetz ein immaterielles Princip ist, „niemals inhärente Eigenschaft des Stoffes"; und heben wir zweitens her- vor, dass dieses immaterielle Princip als ein neues, von aussen bedingtes Moment in die Existenz des nicht lebenden Orga- nismus eingeführt wird. Man kann kaum deutlicher das meta- physische Princip bezeichnen , welches früher als „Lebenskraft" in der Naturwissenschaft eine so mächtige Kolle spielte , und welches in der duahstischen Vorstellung des täglichen Lebens als „Seele" den Körper belebt. In der That brauchen wir bloss statt „Form- gesetz" das Wort „Seele" zu setzen, um jedem Laien begreiflich zu machen, was Goette unter ersterem versteht. Dadurch , dass Goette sich gegen das berüchtigte Wort „Le- 1) Den Gegensatz der dualistisclien und monistischen Naturanschauung , zwi- schen welchen Goktte — obgleich Dualist vom reinsten Wasser — mitten inne zu stehen meint, bezeichnet er selbst mit folgenden Worten: „Noch immer machen sich bei der Betrachtung des Lebens und bei der Untersuchung seiner Ursachen und Bedingungen zwei entgegengesetzte Auffassungen unter den Naturforschern geltend. Die ältere hält daran fest, dass für die Entstehung und Erhaltung des Lebens die blossen Stoffe und ihre Kräfte nicht genügen und dass dazu noch ein besonderes Moment hinzukomme. Dieses Moment bezeichnete man früher als Le- benskraft und stand nicht an, derselben nicht nur ein nicht empirisches , ausser- natürliches Wesen zuzuschreiben , sondern sie auch in derselben Weise in den na- türlichen empirisch-fassbaren Verlauf der Erscheinungen eingreifen zu lassen. Nach- dem die Unhaltbarkeit dieser krassen Negation jeder Empirie erkannt war, suchte man das Princip in der Weise zu ■wahren , dass man im gesetzlichen Zusammen- hange der Erscheinungen ein auf deren Substrat nicht zurückführbares Moment, den „Zweck" anzuerkennen fortfuhr. Der gediegenste Fürsprecher dieser Lehre, Baee, hat jüngst dafür den Ausdruck ,,Zi eis tre bigk ei t" vorgeschlagen. Gegen die Annahme einer unnatürlichen Lebenskraft oder des Endzweckes überhaupt entwickelte sich mit der Lebhaftigkeit eines Extrems die Lehre , dass die Lebens- erscheinungen gerade ebenso wie die Vorgänge in der anorganischen Natur ledig- lich aus den besonderen Stoffen und ihren Eigenschaften zu erklären seien. Der hervorragendste Kämpfer dieser Richtung in unsrer Zeit und Wissenschaft ist Haeckel. Aus meinen bisherigen Erörterungen wird wohl bereits erhellen , dass ich keiner von den beiden genannten Auffassungen beistimme" (Unke, S. 575). 43 benskraft" sträubt und deren Identität mit seinem Formgesetz ein- fach leugnet , vermag er diese unzweifelhafte Identität nicht aufzu- heben. Denn zwischen Einheit und Zweiheit , zwischen Monismus und Dualismus, zwischen materiellen und immateriellen Principien giebt es kein Drittes. Freilich erklärt er an der unten angeführten Stelle, in welcher er meinen Monismus der (angeblichen) Teleolo- gie Baer's gegenüber stellt, dass er keiner von beiden „extremen" Auffassungen beistimme, sondern in der Mitte zwischen beiden eine höhere neutrale Ansicht vertrete. Was diese aber will und soll, wird nirgends klar gesagt, und sobald er sich auf philoso- phische Erörterungen darüber einlässt , wird uns immer wieder nur das inhaltleere Formgesetz als letzter Grund des organischen Le- bens vorgeführt. Dieses Formgesetz ist und bleibt aber ein rein teleologisches, unfassbares, immaterielles Princip, im Wesentlichen völhg gleich der „Lebenskraft". Um uns hiervon klar zu überzeugen , brauchen wir bloss noch näher auf die Vorstellungen einzugehen, welche sich Goette vom Leben und der Ent Wickelung macht. Zunächst sind hier folgende charakteristische Sätze hervorzuheben: „Die chemischen und physikalischen Eigenschaften des Protoplasma stellen bloss die eine Hälfte der Lebensursachen dar, welche ohne die andere, näm- lich das durch die Entwickelung erworbene Formgesetz, nicht zum Leben, sondern gerade zur Auflösung des etwa schon bestandenen Lebens führt. Unter „Leben" kann man daher füglich nicht bloss den einen der beiderlei Ursachen-Complexe, sondern nur die Gesammtheit ihrer gemeinsamen Leistungen verstehen." (Unke, S. 846.) „Die morphologische und physiologische Entwickelung der Thiere setzt wohl einen bestimmten und besonderen Stoff, den protoplasmatischen Dotter, nothwendig voraus; ist aber durchaus nicht eine blosse Folge seiner materiellen Zusammensetzung und der davon abhängigen Wechselwirkung mit dem umgebenden Me- dium; sondern die daraus hervorgehenden Elementar - Actionen werden nur durch das von aussen bedingte Formgesetz zu den Leistungen jener Entwickelung und des Lebens befähigt." (Unke, S. 583.) „Die Entwickelung ist die nothwendige Entstehungsform des Lebens und kann anderseits nur an einem Tiicht lebenden , mit Spannkräften erfüllten Substrat begin- nen." (! Unke, S. 843.) Zunächst geht aus diesen und ähnlichen Sätzen Goette's hervor, dass die Entwickelung überhaupt nur eine Eigenschaft der Organismen ist, und dass die anorganischen Naturkörper durchaus keiner Entwickelung unter- 44 worfen sind. Unzweideutig formulirt er diese merkwürdige, spe- ciell gegen das fünfte Capitel der Generellen Morphologie gerich- tete Behauptung in folgendem (durch gesperrte Schrift hervorge- hobenem) Satze: „In der Entwickelung liegt das Wesen der or- ganischen Morphologie (sie!) und des Lebens überhaupt; die Entwickelung scheidet die Organismen von den Anorga- neu." (Unke, S. 588.) Also die Krystalle, die Gesteine, die Gebirge, die Planeten entwickeln sich nicht? Also das Wachsthum, welches die Entwickelung der Krystalle, wie die Entwickelung der Organismen als wesentlichste Function ein- leitet und begleitet, ist keine Entwickelung? Fürwahr, dieser geistreiche Satz verdient die volle Beachtung sowohl aller Philosophen, als aller Naturforscher! Vor Allen sind gewiss Kant, Laplace und alle übrigen Philosophen zu bedauern, die sich mit dem unnützen Gedanken abplagten, dass die Gesammtheit der Dinge nicht fertig geschaifen , sondern durch Entwickelung entstan- den sei und die eine gesetzliche Entwickelung für die ganze Na- tur annahmen. Aber auch die Geologen, welche die Entwicke- lung der Erde , die Mineralogen , welche die Entwickelung der Gesteine und der darin enthaltenen Krystalle untersuchten, haben sich vergebliche Mühe gemacht! Alle diese „todten" anorgani- schen Naturkörper sind nach Goette nicht entwickelt! Der Leser wird aus jenen merkwürdigen Erklärungen Goette's nunmehr zunächst den Schluss ziehen, dass die beiden Begriffe Leben und Entwickelung in seiner Anschauung sich decken, und dass organisches Leben ohne Entwickelung nicht gedacht wer- den könne, und umgekehrt. Aber weit gefehlt! Denn später überrascht uns Goette durch folgende, noch merkwürdigeren Aus- sprüche: „Nach meiner Ansicht macht ein vollkommenes Leben die Entwickelung unmöglich, sowie eine solche und folglich ein Formgesetz im ersten Anfange der individuellen Exi- stenz unbedingt nöthig sind, um das Leben in seiner individuellen Einheit zu erzeugen." (Unke, S. 590.) „Die Entstehung des Le- bens ist noth wendig an eine gewisse Entwickelung seines Sub- strates, also an das dieselbe beherrschende Formgesetz gebun- den." (S. 574.) „Die Entwickelungsfähigkeit des reifen Eies schliesst ein wirkliches Leben desselben aus (sic!)i). Bei der Befruchtung „bringen die Samen- Elemente die 1) Dass das Ei todt sein miiss, um sich entwickeln zu können, ge- hört jedenfalls zu den merkwürdigsten Entdeckungen Goette's; gewiss wird diese allein für sich hinreichen, eine vollständige Reform der Entwickelungsgeschichte herbeizuführen ! 45 gleichsam ruhende Entwickekingsfähigkeit des Eies zur Thätigkeit, ohne die Zusammensetzung der Dotterkugel irgend- wie zu verändern" (sie! S. 49). „Das Ei kann unmöglich einen besonderen Zustand des fortdauernden individuellen Lebens dar- stellen, weil alsdann die durch das Ei ausgeführte Fortpflanzung mit der einfachen Theilung zusammenfiele und alle daraus gezo- genen Consequenzen mit sich brächte, welche eben mit der De- scendenz - Theorie (!) in Widerspruch stehen"^). (S. 848). „Die Theilung des lebenden Thieres ist eine Lebenserschei- nung, diejenige des Eies ein nicht lebendiger Entwik- kelungsvorgang!" (sie!! Unke, S. 847). Ich denke , der Leser wird an diesen wenigen Proben Goette- scher Naturphilosophie genug haben ! Sollte er noch weiteren Ap- petit verspüren, so findet er eine reiche Fülle in den weitschwei- figen, speciell gegen mich gerichteten „Schlussbetrachtungen" (S. 841 — 904); sowie in den wunderbaren allgemeinen Betrachtungen, welche mitten in die „Segmente des Rumpfes" hineingeschneit sind (S. 550 — 605) , und in denen ich die Ehre geniesse , neben und mit Cael Eenst Baer, Robert Remak, Max Schultze u. A. wegen mangelnden Verständnisses der Entwickelungsgeschichte gründlich verarbeitet zu werden. Auch die beiden ersten Ab- schnitte, in denen Goette zeigt, dass das Ei todt sein muss, um sich entwickeln zu können , sind recht lehrreich , letztere besonders desshalb , weil damit die Continuität des Lebens absolut geleugnet wird, trotz der gelegentlich zu Hülfe gerufenen Descendenz-Theorie! Welcher bodenlose Unsinn, welche unbegreiflichen Widersprüche in den angeführten und vielen ähnlichen Sätzen angehäuft sind, brauche ich wohl kaum ausdrücklich hervorzuhe- ben. Erst versichert uns Goette , dass „in der Entwickelung das Wesen des Lebens überhaupt liegt" und dass „die Entwickelung die nothwendige Entstehungsform des Lebens" ist ; darauf erfahren wir, dass „ein vollkommenes Leben die Entwickelung unmöglich macht"; und endlich werden wir durch die Entdeckung überrascht, dass „die Entwickelungsfähigkeit des reifen Eies ein wirkliches Leben ausschliesst" ; ja, dass die Eifurchung „ein nicht lebendiger Entwickelungsvorgang" ist!! Verstehe Das, wer's kann! Mir ste- hen die Haare zu Berge, und ich kann nur ausrufen: „Erkläre mir, Graf Oerindur, diesen Zwiespalt der Natur!" 1) Man lese diesen Satz dreimal aufmerksam und versuche dann , den darin niedergelegten vollkommenen Unsinn sich auf irgend eine Art klar zu ma- chen! Was die Descendenz-Theorie hier plötzlich thun soll, weiss der Himmel! 46 Nach dieser erstaunliche« allgemeinen Erörterung über Leben, Organisation, Entwickelung und Formgesetz werden wir uns nicht wundern, dass Goette auch die Zellen theorie in ihren wich- tigsten und einflussreichsten Theilen vollständig verwirft und sie durch das geheimnissvolle „Formgesetz" glücklich ersetzt. Be- kanntlich gipfelt die Zellentheorie, wie sie Schleiden und Schwann zu £inem der stärksten Grundpfeiler der gesammten Biologie er- hoben, und wie sie später namentlich durch Virchow, Kölliker, Leydig, Remak, Brücke und Max Schultze ausgebaut wurde, in der fundamentalen Vorstellung, dass jede Zelle ein „Elemen- tar - 0 r g a n i s m u s" (BRtrcKE) oder ein „Lebensheerd" (Virchow) ist; ein „Individuum erster Ordnung", aus dem die vielzelligen „Individuen zweiter und höherer Ordnung" nach den Gesetzen der Vermehrung, Aggregation und Arbeitstheilung secundär entstan- den sind (Generelle Morphologie, III. Buch, Tectologie). Nur da- durch, dass wir jeden höheren, vielzelligen Organismus als einen „Zellenstaat", als einen organisirten Verband von zahlreichen, in- nig verbundenen und vielfach differenzirten „Elementar -Organis- men" erkennen, lernen wir die höchst complicirten Form - und Le- benserscheinungen desselben verstehen. In der gesammten Biolo- gie der Gegenwart, in der Zoologie wie in der Botanik, in der Morphologie wie in der Physiologie, hat dieser tectologische Grundgedanke der Zellentheorie so allgemeinen Eingang gefun- den , dass ich darüber wohl kein Wort weiter zu verlieren brauche. Aber 0 Weh! Die gesammte Biologie hat sich auch hier wieder auf einem argen Holzwege befunden ! Denn der grosse Re- formator derselben, Alexander Goette, belehrt uns (mit ge- sperrter Schrift!): „Die Zellen als Gewebstheile sind keine Organismen, keine organischen Individua"! (S. 598). „Diese Zellen können als wirkliche Organismen (Elementar- Organismen) nicht angesprochen werden, da ihnen ein selbststän- diges Formgesetz, eine vollkommene Individualität fehlt" (sie! S. 598). Auch das wichtige Problem der organischen Individua- lität, mit dem ich mich (gleich vielen Anderen) ganz vergeblich abgequält habe (— vergl. die Generelle Tectologie — ) erhält bei dieser Gelegenheit durch Goette seine endgültige Lösung, durch folgenden Zauberspruch: „Die Individualität eines Orga- nismus ist nur ein besonderer Ausdruck seines Ent- wickelungszieles, entwickelt sich also während seiner Entste- hung ebenfalls allmählich und parallel der Gliederung des Form- 47 gesetzes" (S. 597). „Die Individualität ist der physiolo- gische A usdruck des Formgesetzes" (S. 575; Hört! Hört!) ^). Arme, bedauernswerthe Histologie! Auch Du musst nun Deinen Eiesenbau von vorn anfangen ! Denn es fehlt Dir ja die erste und wichtigste Grundlage der Erkenntniss, Goette's „Formgesetz" ! ViECHOW kann seine „Cellular- Pathologie" nur getrost in den Papierkorb werfen und auf der neuen Basis des Formge- setzes eine andere versuchen! Dass demnach auch Max Sciiultze's Protoplasma -Theorie, die ich mit vielen Anderen für die wichtigste und einflussreichste Reform der Zellentheorie hielt, zu den Todten geworfen wird, erscheint nach dem Vorhergegangenen nur selbstverständlich (S. 592). Das Protoplasma ist für die ge- sammte Entwickelung , und namentlich für die F o r m b i 1 d u n g der Zellen, ohne alle Bedeutung, bloss ein indifferentes Substrat. Die von mir behauptete „formbildende Function des Protoplasma" existirt nicht! (S. 589). Wir müssen also auch in der Histologie unsere bisherigen Erkenntnisse verlassen und ganz a b o v o anfangen ! Ab ovo? Nein, bewahre! Die jetzt allgemein zur Geltung gelangte Ansicht, dass das Ei eine Zelle sei und demnach für die Histogeuie den natürlichen Ausgangspunkt abgebe, ist grundfalsch! Denn nach Goette ist das Ei überhaupt keine Zelle!! Mit gesperrter Schrift verkündet derselbe folgenden Grundsatz: „Das befruchtungsfähige Ei ist weder im Ganzen, noch zum Theil, weder nach der Entstehung, noch nach der fer- tigen Erscheinung eine Zelle, sondern bloss eine we- sentlich homogene, in eine äusserlich angebildete Hülle eingeschlossene organische Masse"!! (Unke, S. 35). Hiernach werden wir zunächst auf den Gedanken kommen, dass das Ei der Thiere am meisten Aehnlichkeit mit einem Knall- bonbon hat. Denn auch das Letztere ist „eine wesentlich ho- mogene , in eine äusserlich angebildete Hülle eingeschlossene orga- nische Masse!" 2). 1) W^ahrscheinlich sind demnach auch die Krystalle keine Individuen, wie man bisher allgemein annahm. Denn wie uns Goette belehi't , entwickeln sich die Krystalle nicht! Natürlich, denn sie haben ja kein „Formgesetz!" 2) Wer noch Näheres über „die organische , aber in keinem Theile organisirte Masse" des thierischen Eies zu erfahren wünscht , erhält darüber folgende Auskunft : „So kann ich denn die Betrachtung des reifen Eies mit dem Ergebnisse schliessen, dass alle seine Veränderungen im Eierstocke und Eileiter nur die unmittelbare Fortsetzung und den Abschluss jenes schon im ersten Anfange der Eibilduug ein- geleiteten Processes bilden , dessen Bedeutung in der Zerstörung der Zellenreste innerhalb des Ovarial - Follikels und in der Herstellung eines Keimes beruht, welcher aus einer gleichartigen und in keinem Theile organisir- ten Masse besteht!" (sie! Unke, S, 26). 48 Wir wissen also nunmehr durch Goette, dass das reife ent- wickelungsfähige Ei eine todte organische Masse ist, dass durch die Befruchtung die Zusammensetzung der todten Dotterkugel in keiner Weise verändert wird und dass auch die darauf folgende Eifurchung ein nicht lebendiger Entwickelungsvorgang ist (während doch in der Entwickelung allein nach Goette das Wesen des Le- bens liegt!). Wir werden nunmehr äusserst gespannt darauf wer- den, wann, wie und wo denn nun eigentlich das Formgesetz, diese „eigentliche und wesentliche Grundursache der organischen Ent- wickelung", in die todte, aber sich trotzdem entwickelnde Masse des befruchteten Eies hineinkömmt. Leider hat es Goette unter- lassen, über diesen Cardinalpunkt der Entwickelungsgeschichte uns aufzuklären; zwar giebt er an, dass an dem befruchteten Ei nach der Auflösung des Keimbläschens ein neuer „Dotterkern" ent- steht und dass „in seinem Inneren sich ein zartes rundes Kör- perchen bildet — der erste Lebenskeim, welcher die weitere Entwickelung des Eies hervorruft"^) (S. 51). Wie aber dieser ma- terielle „Lebenskeim" mit dem immateriellen „Formgesetz" zusam- menhängt, darüber erfahren wir leider gar Nichts, und es bleibt uns daher Nichts weiter übrig, als die Annahme, dass das Form- gesetz in das todte, aber trotzdem sich theilende Ei ebenso „von aussen" hineinfährt, wie der böse Geist des Evangeliums in die Heerde Säue! Nun bitte ich einerseits die fundamentale Bedeutung zu er- wägen, welche gerade die Lehre vom Ei, von der Befruchtung, von der Eifurchung und von den daran sich anknüpfenden frühe- sten Entwickelungs- Vorgängen anerkanntermaasseu für die gesammte Entwickelungsgeschichte besitzt. Anderseits bitte ich nochmals auf- merksam über die vorstehend angeführten Sätze Goette's nach- zudenken, welche für die letztere eine ganz neue Basis legen wol- len. Ich bin überzeugt, dass schon hieraus jeder urtheilsfähige Leser sich eine richtige Vorstellung von dem wahren Werthe des grossen GoETTE'schen Reformwerkes bilden wird. Wenn schon die ersten, wichtigsten und einfachsten Probleme der Entwickelungs- geschichte so überaus verworren und unklar, zusammenhangslos und widerspruchsvoll behandelt werden, was soll man dann von der weiteren Verfolgung derselben erwarten? Was soll man von 1) Was Goette hier „D o tt er kern" nennt, ist Nichts anderes, als der Nu- cleus der Cytula, der ersten Furchungszelle" (oder sogenannten ,, ersten Pur- chungskugel") und der mystische ,,L ehe nske im" ist der Nucleolus derselben. (Vergl. meinen Aufsatz über „Gastrula und Eifurchung".) 49 der complicirten Entwickeluiigsgeschichte der Gewebe, Organe und Systeme hoffen, wo Schritt für Schritt die Aufgabe schwieriger und verwickelter wird, wo die Complicationen in Stoff und Form sich häufen und vor Allen ein klares Ziel und ein zusammenhängender Weg erfordert wird? In der That können wir uns denn auch in jedem einzelnen Capitel, bei der speciellen Entwickelungsgeschichte jedes einzelnen Organes der Unke, davon überzeugen, wie wenig GoETTE der grossen, von ihm übernommenen Aufgabe gewachsen ist, und wie dieselben beispiellosen Widersprüche, Unklarheiten und Missverständnisse, die wir im generellen Theile des Werkes finden, auch im speciellen überall massenhaft wiederkehren; und zwar in erhöhtem Maasse! Wie GoETTE die entgegengesetzten Anschauungen anderer Forscher versteht, wiedergiebt und bekämpft, das hat Gegenbaur in seiner treffenden Kritik bereits eingehend gezeigt. Ich will hier aus der Fülle gegen mich gerichteter Sätze nur folgende Beispiele anführen. Nachdem er gesagt hat, dass „jeder Organismus ein be- ständiges Formgesetz in nothwendig ununterbrochenem Wechsel der Erscheinungen offenbart" i), fährt er fort: „Der Grundirrthum Haeckel's besteht darin, dass er die Morphologie der Orga- nismen ebenso wie diejenige der Anorgane auf eine unveränder- liche äussere Form-Erscheinung bezieht." (Unke, S. 587.) Wo in aller Welt habe ich jemals solchen Unsinn gesagt? Wo habe ich jemals die Unveränderlichkeit einer organischen Form behauptet? Ist nicht mein ganzes Streben und Wirken seit mehr als zehn Jahren darauf gerichtet, die Veränderlich- keit aller organischen Formen im gesetzlichen Flusse der Ent- w icke hing darzuthun? Oder wo habe ich gar die Morphologie irgend eines Organismus auf eine „unveränderliche äussere Form- Erscheinung" bezogen? Wo nimmt Goette das Recht her, mir solchen Unsinn in die Schuhe zu schieben? Es kömmt aber noch besser! Bei den unglaublich confusen allgemeinen Erörterungen über das unfassbare Formgesetz im Gegensatz zum Descendenz- Princip werde ich mit folgender Ueberraschung bedacht: „Wer die ersten Organismen geschaffen oder überhaupt mit einem Schlage fertig aus anorganischenElementen entstehen lässt, wie Häeckel, der kann eine Antwort auf die Frage nach dem 1) Wie stimmt dieser merkwürdige Satz zu der anderen , uns von Goette ge- spendeten Offenbarung, dass das „Formgesetz mit jedem Verbrauche eines Form- theils durchbrochen werde?" 4 ^o' 50 'ormgesetz natürlich nicht erhalten." (Unke, S. 899). Ich 1^ SfrageV,VWo habe ich jemals eine „Erschaffung der ersten Or- ^:ganisr^|n" behauptet? Hat nicht das ganze sechste Capitel der „Genfiwlen Morphologie" die Aufgabe, den übernatürlichen Begriff :r:der :,S/chöpfung" aus der Wissenschaft zu verbannen und durch '^ßen natürlichen Begriff der „Ent Wickelung" zu ersetzen? Oder wo l]!4be ich jemals „die ersten Organismen mit einem Schlage Uj&rtig aus anorganischen Elementen entstehen lassen? Die Begriffe der chemischen Verbindung und des chemischen Ele- mentes scheinen für Goette gleichbedeutend zu sein! Bei den sonstigen Proben, die er von seiner allgemeinen naturwissenschaft- lichen Bildung giebt, dürfen wir uns allerdings nicht wundern, wenn er Protoplasma für ein Element und Kohlenstoff für eine Verbindung erklärt! Doch ich verlasse diese widerwärtigen Erörterungen, zu denen ich durch das unverantwortlich verkehrte und oberflächliche Ver- fahren Goette's gezwungen bin ^), und wende mich schliesslich zu der Frage: Wie erfüllt der Embryograph der Unke den grossar- tigen, auf dem Titel seines Werkes angekündigten Anspruch, mit der Ontogenie dieses einzigen Amphibiums uns die „Grundlage einer vergleichenden Morphologie der Wirbelthiere" zu geben? Da ist denn zunächst die eigenthümliche Vorstellung zu beleuchten, die der Verfasser vom Begriffe und der Aufgabe der organischen Morphologie selbst besitzt. Bekanntlich hat sich die Aufgabe dieser Wissenschaft in den letzten Decennien immer mehr dahin erweitert, die Erkenntniss der gesammten (in- neren und äusseren) Formverhält nisse der Organismen zu er- streben , im Gegensatze zur Physiologie , welche deren Lebenser- scheinungen verfolgt 2), Die Morphologie selbst aber zerfällt in zwei gleich wichtige und gleich berechtigte Hauptzweige: Die Ana- tomie als die Wissenschaft von den entwickelten und die Ent- wickelungsgeschichte als die Wissenschaft von den entstehen- den Formen. Für erstere habe ich die allgemeinen Principien im ersten, für letztere im zweiten Bande der „Generellen Morphologie" festzustellen versucht. Dass beide Hauptzweige gleich wichtig und gleich berechtigt sind, davon sind heutzutage die urtheilsfähigen Morphologen allgemein überzeugt; und seitdem die Descendenz- 1) Weitere bemerkeuswerthe Beispiele hat Gegenbaur in seiner Kritik des Unkenbuches gründlich erörtert. 2) lieber „Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen" vergl. das erste Capitel meiner Generellen Morphologie. 51 Theorie eine überraschende Lichtfülle auf das Gesammtgebiet der Formwissenschaft gegossen und in der Vererbung und Anpassung uns die wahren Ursachen der Formbildungen enthüllt hat, ist jene Ueberzeugung erst recht allgemein und lebendig geworden. Denn das nunmehr klar hingestellte" Endziel einer wissenschaftlichen Phylogenie ist nur durch das innigste Zusammenwirken und die beständige Ergänzung der vergleichenden Anatomie und Ontogenie zu erreichen. Weder der eine noch der andere Hauptzweig ist dazu für sich allein ausreichend. Wo der eine uns keine Auskunft giebt, da tritt sehr oft der andere ergänzend ein, und wo die Ma- terialien des einen fehlen, da werden sie häufig durch diejenigen des anderen glücklich ersetzt. So erhalten wir z. B. über die Phylo- genie des Schädels, der Gliedmaassen der Wirbelthiere, der Thyre- oidea u. s. w. durch die Ontogenie gar keine genügende Auskunft, während uns die vergleichende Anatomie diese vollständig liefert. Anderseits belehrt uns die letztere z. B. über die Phylogenie des Darmcanals, der Darmdrüsen u. s. w. nur unvollkommen, während die Ontogenie uns darüber sehr wichtige Aufschlüsse ertheilt. Wie aus der Geschichte unserer Wissenschaft bekannt ist, hat sich naturgemäss von jenen beiden Hauptzweigen die Anatomie viel früher entwickelt und ist bis jetzt zu viel umfassenderen Resultaten gelangt, als die Entwickelungsgeschichte. Die Anatomie des Menschen, als die älteste und wichtigste Grundlage der orga- nischen Morphologie, ist durch das Bedürfniss der practischen Me- dicin schon vor mehr als zwei Jahrtausenden in das Dasein gerufen worden, wenn sie auch erst seit drei Jahrhunderten sich zu einem äusserst reichhaltigen Wissenszweige gestaltet hat. Die ersten rohen Anfänge der Entwickelungsgeschichte hingegen reichen (wenn wir von Aristoteles absehen) kaum über zwei Jahrhunderte hin- auf und noch ist kein halbes Jahrhundert verflossen , seitdem sie durch Carl Ernst Baer zu allgemeiner Anerkennung gelangt und in kurzer Zeit zu glänzender Blüthe emporgewachsen ist. Aber auch noch heute, auch nach den reichen Früchten, welche die Ent- wickelungsgeschichte in den letzten Decennien gereift hat, beruht der bei weitem grösste und sicherste Theil unseres morphologischen Wissens nicht auf der letzteren, sondern auf der vergleichenden Anatomie. Wie verhält sich nun Goette, der uns eine neue Grundlage für die Morphologie liefern will, zu jenen beiden Hauptzweigen derselben? Er verwirft den einen »ganz und lässt den anderen aus- schliesslich gelten! „Die individuelle Entwickelungsgeschichte der 4* 52 Organismen begründet und erklärt allein die gesammte Morphologie derselben" (Unke, S. 904). Das ist der Schlusssatz seiner Resultate, mit Avelchem die vergleichende Anatomie von jeder Theilnahme an der wissenschaftlichen Morphologie ausgeschlossen wird. Ueberall wird gegen die letztere polemisirt, und ihr jede entscheidende Competenz bestritten. Freilich sind zahlreiche vergleichend - ana- tomische Betrachtungen in die rein embryographischen Darstellun- gen (die den bei weitem grössten Theil des Werkes bilden) einge- streut. Aber wo die vergleichend - anatomischen und die ontoge- netischen Erscheinungen sich nicht decken, da wird stets auf die letzteren, als die einzig entscheidenden, das Hauptgewicht gelegt, und die ersteren werden entweder ignorirt oder für werthlos er- klärt. Wer allerdings allein aus Goette's vergleichend -anatomi- schen Betrachtungen sich einen Begriff vom Wesen, von der Auf- gabe und den Leistungen der vergleichenden Anatomie bilden wollte, der würde wohl bald zu der Ueberzeugung gelangen, dass diese Wissenschaft keinen Werth besitzt! Nach den Ursachen dieser exclusiven Einseitigkeit brauchen wir freilich nicht lange zu suchen! Der überall vortretende Mangel an Kenntnissen in der vergleichenden Anatomie (den GoETTE übrigens auch mit His, Metschnikoff und vielen anderen Embryographen der Gegenwart theilt), erklärt uns hinlänglich die Abneigung, die er allenthalben gegen diese Wissenschaft bezeigt und die Verachtung, mit der er sie in die Ecke stellt. Wie unwissend der Unkenforscher auf diesem ausgedehnten Gebiete ist, wie unbekannt mit vielen wichtigen anatomischen Thatsachen, und mit der dieselbe behandelnden Literatur, wie unfähig zur thatsächlichen Begründung seiner Aufstellungen und zu einer logischen Vergleichung und Schlussbildung, das hat bereits Gegenbaur in seiner trefflichen Kri- tik der „Unke" an mehreren schlagenden Beispielen nachgewiesen, i) Ich füge als sehr bezeichnendes Curiosum nur noch hinzu, dass George Cuvier, der bekanntlich die erste feste „Grundlage einer vergleichenden Morphologie der Wirbelthiere" legte, und Richard Owen, der so werth volle Beiträge dazu lieferte, in dem ganzen grossen Werk von Goette nicht ein einziges Mal nur erwähnt werden! In dem langen, 170 Nummern umfassenden Literatur- Verzeichnisse (in welchem viele ganz unbedeutende und armselige 1) Carl Gegenbaue, Einige Bemerkungen zu Goette's Entwickelungsgeschiclite der Unke, als Grundlage einer vergleiche-nden Morphologie der Wirbelthiere. Mor- pholog. 'jahrb. 1875. Bd. I, S. 299—345. 53 Autoren, (wie z. B. Dönitz, Metschnikofp, Schneider u. A.) er- wälint werden, fehlen unter Anderen die Namen von Cuvier und Owen vollständig!^) Wenn nun auch der sehr fühlbare Mangel an Kenntniss und an Verständniss der vergleichenden Anatomie hinreichend die auf- fallende Scheu erklärt, mit welcher Goette sich diesen unheim- lichen Gast vom Leibe zu halten sucht, so ist damit doch noch lange nicht die radicale Einseitigkeit gerechtfertigt, mit der er dieselbe priucipiell von der Morphologie ausschliesst. Die ein- fachste Ueberlegung über den natürlichen Gang dieser Wissen- schaft und über seinen eigenen Studiengang hätte Goette darüber belehren können, dass die Ontogenie selbst auf den Schultern der Anatomie steht und dass die Kenntniss der letzteren nothwendig derjenigen der ersteren vorausgehen muss. Man versuche doch, einen Anfänger, der noch keine gründlichen Kenntnisse in der Ana- tomie hat, in die Entwickelungsgeschichte einzuführen. Unmöglich kann er Ziele und Wege der letzteren verstehen! Und ist nicht jeder Forscher im Gebiete der Entwickelungsgeschichte gezwungen gewesen, sich zunächst über den anatomischen Bau des entwickel- ten Organismus gründlich zu orientiren, ehe er dessen Entwicke- lungsgeschichte in Angriff nehmen konnte? Wie kann man den richtigen Weg zu einem Ziele einschlagen, wenn man dasselbe über- haupt nicht kennt? Sehr zu beherzigen sind in dieser Beziehung die folgenden Sätze des würdigen Alexander Braun, eines der ersten Morphologen unter den lebenden Botanikern: „Die morpho- logische Vergleichung der vollendeten Zustände muss naturgemäss der Erforschung der frühesten Zustände vorausgehen. Nur dadurch erhält die Erforschung der Entwickelungsgeschichte eine bestimmte Orientiruug; es wird ihr gleichsam das vorausschauende Auge ge- geben, durch welches sie jeden Schritt des Bildungsganges in Be- ziehung setzen kann zu dem letzten, der erreicht werden soll. Die unvorbereitete Handhabung der Entwickelungsge- schichte tappt allzuleicht im Blinden und führt nicht selten zu den kläglichsten Resultaten, welche weit hinter dem zurückbleiben, was schon vor aller entwickelungsgeschichtlichen Untersuchung unzweifelhaft festgestellt werden konnte. Gewiss mit vollem Rechte bezeichnet Schleiden die Entwickelungsgeschichte 1) Gegenbaur (1. c. p. 310) maclit in dieser Beziehung folgende Bemerkung: „Goette scheint von früheren Arbeiten in einer Art Umgang zu nehmen , die auf einen gänzlichen Mangel an Beziehungen zur älteren Literatur schliessen lassen könnte." 54 als die hauptsächlichste Grundlage der Morphologie ; aber es ist dabei nicht zu vergessen, dass die Entwickelungsgeschichte alle Stadien der Entwickelung umfasst und dass in einer lebendigen Entwickelung nicht bloss der Anfang die nachfolgenden Schritte, sondern auch umgekehrt das Ziel die vorausgehenden beleuchtet." ^) Diese goldenen Worte von Alexander Braun sollte jeder Arbeiter im Gebiete der Morphologie beständig im Sinne behalten. Sie verdienen doppelte Beachtung im Munde eines Botanikers, v^^eil die „vergleichende Anatomie" der Pflanzen bei weitem noch nicht so selbständig entwickelt ist als die „vergleichende Anatomie" der Thiere; und doch muss sie hier wie dort die Entwickelungs- geschichte auf das Vielfältigste ergänzen und unterstützen, wenn eine wirklich wissenschaftliche Morphologie entstehen soll. Sehr gut zeigt Braun an dem Beispiele der „Metamorphose der Pflan- zen", wie Wolfgang Goethe, bloss durch die vergleichende Ana- tomie der Pflanzen 2) „trotz der Mangelhaftigkeit seiner Methode zu einer tieferen Einsicht in den Stufengang der Pflanzen -Ent- wickelung gelangte, als Wolff, dem das Verdienst zukommt, der Entwickelung durch directe Beobachtung auf den Grund gegangen zu sein" (1. c. p. 10). Ebenso hat Gegenbaur das von Wolfgang Goethe aufgestellte schwierige Schädel-Problem durch die verglei- chende Anatomie auf das Glänzendste gelöst, während Alexander GoETTE, der später dasselbe Problem mit Ausschluss der letzteren bloss durch directe Beobachtung der embryonalen Schädel -Ent- wickelung lösen wollte, nur „zu den kläglichsten Kesultaten ge- langte." 2) 1) Alexander Braun, Ueber die Bedeutung der Entwickelung in der Na- turgeschichte. Berlin 1872. S. 9. Vergl. auch ferner desselben Morphologen Rede „Ueber die Bedeutung der Morphologie" (Berlin 1862). In diesen, wie in anderen Schriften Braun's finden sich viele ganz vortreffliche Bemerkungen über allgemeine Morphologie und über das Vei'hältniss der vergleichenden Anatomie zur Entwicke- lungsgeschichte. Ich möchte dieselben hier um so mehr hervorheben, als Braun's hohe Verdienste in der so eben erschienenen ,, Geschichte der Botanik" von Julius Sachs keineswegs gebührend gewürdigt werden. Sachs ist eben (ähnlich wie Carl Ludwig) ein sehr einseitiger Physiologe und besitzt über viele der wichtigsten morphologischen Fragen kein umfassendes Urtheil. 2) Da hier die Namen Goethe und Goette in einem Satze genannt werden, bemerke ich für etwaige ausländische Leser dieses Aufsatzes ( — namentlich Fran- zosen! — ) dass beide Persönlichkeiten (trotzdem sich ihr Name nur durch einen Buchstaben unterscheidet) in keinerlei äusserem und innerem Zusammen- hange stehen. Unser grosser Dichter und Naturphilosoph entwickelte schon vor hundert Jahren ein viel tieferes und klareres Verständniss der Morphologie, als der Unkenforscher, der heute eine neue Grundlage derselben liefern will. 55 Nachdem wir so gezeigt haben, class Goette vom Begriffe und der Aufgabe der Morphologie selbst eine höchst einseitige und beschränkte Auffassung hat, wird es uns nicht mehr wundern, dass er auch die auf dem Titel angekündigte ,, vergleich ende" Me- thode in ganz ungenügender Weise handhabt. So lange eine wis- senschaftliche Morphologie besteht, sind die denkenden Vertreter derselben darüber einig, dass nur auf dem Wege der methodischen Vergleichung deren höchste Ziele erreicht werden können. Aber es ist nicht einerlei. Was, Wie und Wo verglichen wird. In den ersten Anfängen der vergleichenden Morphologie suchte man zu- nächst bei verschiedenen Organismen diejenigen Organe auf, die entweder durch äussere Formähulichkeit oder durch die Gleichar- tigkeit ihrer Function Anhaltspunkte für eine Vergleichung darboten. So verglich man z. B. das gegliederte Scelet der Seestern -Arme mit der Wirbelsäule der Vertebraten, das Bauchmark der Glieder- thiere mit dem Rückenmark der Wirbelthiere , das dorsale Herz der ersteren mit dem ventralen Herzen der letzteren. Diese fal- schen Vergleiche, welche wir in der älteren Naturphilosophie (z. B. bei Oken, Lamarck) u. A. sehr häufig finden, wurden verlassen, seitdem man anfing, die morphologische und die physiologische Bedeutung der verglichenen Körpertheile, Homologie und Ana- logie zu unterscheiden, in welcher Beziehung namentlich Heineich Rathke und Richard Owen sich grosse Verdienste erwarben. Man schloss dadurch z. B. so falsche Vergleiche aus, wie die Zu- sammenstellung der Flügel bei Vögeln und Insecten, der Lungen bei den luftathmenden Wirbelthieren und Lungenschnecken. ^ ) Eine weitere unschätzbare Vervollkommnung erfuhr endlich die vergleichende Methode dadurch, dass die von Darwin reformirte Desceudenz-Theorie in den Functionen der Vererbung und Anpassung die wahren Grundursachen der Formbildung enthüllte. Es wurde nun möglich, die Homologie, die wahre Formverwandtschaft, auf die Vererbung von gemeinsamer Stammform, die Analogie, die falsche Formverwandtschaft, auf gleichartige Anpassung an ähnliche Lebensbedingungen zurückzuführen (Vergl. Gegenbaur's „Vergleichende Anatomie" und meine „Generelle Morphologie"). Welche glänzende Resultate durch diesen ungeheuren Fortschritt 1) Auf diesen letzteren, ganz oberflächlichen, physiologischen Vergleich, der die ganz verschiedene Natur und unabhängige Entstehung der Lungen bei den Wirbel- thieren und Schnecken ignorirt, ist kürzlich wieder Michelis verfallen. Er macht es mir in seiner ,,Haeckelogonie" (S. 18) zum schweren Vorwurf, dass ich die Lun- genschnecken in der Anthropogenie nicht berücksichtigt habe ! 56 der vergleichenden Methode erzielt wurden, liegt in zahlreichen kleineren Arbeiten der jüngsten Zeit klar zu Tage, vor Allen in den grossen, das Gesammtgebiet der vergleichenden Morphologie der Thiere erhellenden Werken von Carl Gegenbaue. Diese höchst fruchtbare Erweiterung der vergleichenden Me- thode findet zunächst freilich im Gebiete der Anatomie viel aus- gedehntere Anwendung als in demjenigen der Entwickelungsge- schichte. Die „vergleichende Morphologie" war eben bisher fast ausschliesslich „vergleichende Anatomie" und eine eigentliche „ver- gleichende Entwickelungsgeschichte", die sich selbst- ständig und ebenbürtig der ersteren an die Seite stellen könnte, existirt noch nicht bis auf den heutigen Tag. Allerdings hat kürzlich S. Schenk in Wien ein „Lehrbuch der vergleichenden Em- bryologie der Wirbelthiere" veröffenthcht (Wien, 1874). Allein dieses niedliche, 198 Seiten lange Opusculum ist das Gegentheil von dem, was sein Titel verspricht. Erstens kann dasselbe in keiner Weise als ein „Lehrbuch" bezeichnet werden, und zwei- tens ist die „Vergleichung" aus dieser „vergleichenden Embryo- logie" mit rührender Sorgfalt ausgeschlossen. ^) Dagegen erhebt allerdings Goette's Unkenwerk den Anspruch, eine „vergleichende Embryologie" zu sein. Ich sage: „Embryologie." Denn da Goette 1) Das „Lehrbuch der vergleichenden Embryologie der M^irbelthiere" von Schenk ist bereits von F. Beüggemann in der Jenaer Literatur-Zeitung (Nr. 23 ; vom 5. Juni 1875) treffend beurtheilt worden. Ich entnehme daraus folgende Sätze: „Unverantwortlicher V^eise hat weder die vergleichende Anatomie, noch die Ent- wickelungsgeschichte der W^irbellosen — also zwei Disciplinen , ohne die ein Verständniss derVertebraten-Embryologie nicht möglich ist — auch nur im Entferntesten Berücksichtigung gefunden. Für das Verhältniss des Verfassers zur vergleichenden Anatomie ist es bezeichnend genug , dass er längst überwundene Ausdi-ücke, wie „Knorpelfische, Säugethiere und Mensch", durchweg anwendet. Jedoch auch den Anforderungen , die man vor etwa zwanzig Jahren an eine „vergleichende Embryologie" gestellt hätte, und welche freilich zur Zeit noch einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Naturforschern genügen, entspricht das Werk keineswegs. Das Vergleichen involvirt doch vor Allem ein übersichtliches Zusam- menfassen der gleichartigen Thatsachen , und von einem solchen scheint der Ver- fasser keinen Begriff zu haben. Das Werk ist vielmehr eine so wüste Compilation, wie man sie sich nur denken kann. Bald wird über Sachen von fundamentaler Bedeutung mit wenigen Worten oder auch ganz mit Stillschwei- gen hinweggegangen; dann sind wieder ganz nebensächliche Erscheinungen, zumal wenn sie der Verfasser selbst studirt hat, mit umständlichster Breite beschrieben." Mit Recht hebt es Bküggemänn als eine kaum glaubliche Thatsache her- vor, dass Schenk in seinem ,, Lehrbuche" mit keiner Sylbe der höchst bedeu- tungsvollen Entwickelungsgeschichte des Amphioxus gedenkt, die uns doch erst den wahren Schlüssel für diejenige der übrigen Wii'belthiere liefert. 57 die vergleichende Anatomie und die Phylogenie von der Morpho- logie ausdrücklich ausschliesst, und da er selbst von der Ontogenie nur den embryologischen Theil (nicht die Metamorphologie , die spätere „Metamorphosenlehre") als „eigentliche Entwickelungsge- schichte gelten" lässt, so will eben seine „vergleichende Morphologie" im Grunde nur eine „vergleichende Embryologie" sein. Wie handhabt aber nun Goette die „vergleichende" Me- thode? Unsere Antwort kann nur lauten: „In einer Weise, dass er zum Vortheil der Wissenschaft und zu seinem eigenen Vortheil sich besser jeder Vergleichung enthalten und einfach auf die sorg- fältige Beschreib ung seiner Beobachtungen beschränkt hätte." Gegenbaur hat dies in seiner einschneidenden Kritik so klar und objectiv nachgewiesen, dass ich mich hier darauf beschränken kann, sein daraus erschlossenes Endurtheil wiederzugeben : „Wir begegnen zunächst einem auffallenden Mangel sicherer Begriffsbe- stimmungen, und damit fehlt es an den ersten wissenschaft- lichen Fundamenten. Ein zweiter Grundfehler ist die grenzen- lose Willkühr der Vergleichungen. Diese werden durch alle Abtheilungen der Wirbelthiere bunt durch einander geführt, anstatt von dem innerhalb einer niederen Abtheilung durch die Vergleichung Sichergestellten auszugehen und von da zu den höhe- ren emporzusteigen. Bei solch' unmethodischen Vergleichungen können die Resultate nicht befremden, und es wird begreiflich, wie selbst manche gute Beobachtung nicht zur Verwerthung gelangt. Wenn das Streben nach einheitlichen Gesichtspunkten zu den we- sentlichsten Aufgaben wissenschaftlicher Forschung gehört, so fin- den wir uns fast überall da, wo im Anschlüsse an die Entwicke- luug der Unke „die vergleichend-morphologische Grundlage" gelegt werden soll, weit von jenem Ziele entfernt. Wir sehen also die vergleichend-anatomischen Abschnitte des Werkes zu den embryo- graphischen in lebhaftem Gegensatze stehen, und werden auch nicht behaupten können, dass die mit vieler Prätension geäusserten, absprechenden Urtheile in der grossen Bescheidenheit des kundge- gebenen Maasses anatomischer Kenntnisse eine richtige Compen- sation finden. Das Alles aber wird Dem nicht wunderbar erschei- nen, welcher sich der Einsicht nicht verschliesst , dass die Er- werbung technischer Fertigkeiten und in Folge des- sen die Herstellung und bildliche Darstellung von Prä- paraten, sowie deren sorgfältige Beschreibung etwas ganz Anderes ist, als combinatorisches, auf einen grös- seren Erfahrungskreis sich stützendes, von wissen- 58 schaftlicher Methode geleitetes Urtheil, und dass Erste- res, wie es die Anwendung des Letzteren auch fördern mag, doch keineswegs dasselbe nothwendig in sich begreift." ^) Wenn wir freilich erwägen, dass die morphologische „Verglei- chung" eine philosophische Verstandesoperation ist, die um so mehr Urtheil, Vorsicht und allgemeine morphologische Bildung er- fordert, je verwickelter die zu vergleichenden Objecto sind; und wenn wir uns dann wieder der oben mitgetheilten göttlichen Pro- ben GoETTE'scher Philosophie erinnern , dann werden wir uns über keine „Vergleichung" desselben mehr wundern. In der That haben viele Vergleichungen von Goette einen ähnlichen Werth, wie der oben von mir angezogene Vergleich des Thier-Eies mit einem Knallbonbon. Viele seiner Vergleichungen lassen sich , wie Gegen- baue richtig bemerkt, nur dann begreifen, „wenn man alle Ver- wand tschaftsbeziehungen der Wirbelthiere so gründlich ignorirt sieht, wie es in Goette's Buche überall, man möchte sagen grundsätzlich geschieht." Ich frage aber: Was kann denn überhaupt für denjenigen, der jene Verwandtschaftsbeziehungen nicht würdigt, sondern grundsätzlich ignorirt, die Vergleichung noch bedeuten? Welches Interesse, welchen Werth kann sie für ihn haben? Diese Frage ist selbstverständlich jetzt mehr als je berechtigt. Denn während die frühere Morphologie die „Verwandtschaftsbezie- hungen" der organischen Formen nur bildlich auffasste und ideal deutete, als Ausfluss einer in der Organisation des Lebendigen sich offenbarenden „Idee", eines schöpferischen „Bauplanes", sind wir jetzt durch Daewin's reformatorische That in die glückliche Lage versetzt, sie wörtlich als „genealogische" Verwandtschaft 1) Gegenbaur, Morphologisches Jahrbuch, 1875, Bd. I, S. 345. Als bezeich- nendes Beispiel der GoETTE'schen Methode der Vergleichung und Schlussfolgerung hebt Gegenbaur Folgendes hervor (S. 313): ,,Bei Amphibien und den Amnioten gehen die Kippen nie von unteren Bogen aus , also können sie es auch nicht bei den Fischen ; folglich können die bei den letzteren von unteren Bogen entstehenden Gebilde auch keine Kippen sein ; oder , wenn ihr Verhalten als Rippen (wie bei den Selachiern) in keiner Weise in Abrede gestellt werden kann, so ist es nur die Lage der unteren Bogenbasen an der horizontalen Muskelscheidewand, welche die un- teren Bogen zu jenen Rippen entsenden lässt ! Die unteren Bogen übernehmen also da ein Geschäft , zu dem sie eigentlich nicht berechtigt sind , und das ihnen durch ihre günstige Situation nur so nebenher zufällt ! Diesen merkwürdigen Argumen- tationen liegt die irrige Voraussetzung zu Grunde, dass bei allen Wirbelthieren alle Organe genau in den völlig gleichen Verhältnissen ihrer Anlage sich befinden müss- ten, und dass in der Ontogenie keine Modificationen auch in der Anlage der Theile stattfänden, für einen „Embryologen" eine wunderbare Ansicht!" Ö9 aufzufassen, demgemäss real zu deuten und als die nothwendige Wirkung der Wechselwirkung von Anpassung und Vererbung zu erklären. Damit hat aber auch das System der organischen Formen, welches jene verwickelten Verwandtschaftsbeziehungen der Organismen im Lapidarstyl ausdrücken soll, eine unendlich erhöhte Bedeutung gewonnen; das natürliche System der Organis- men ist dadurch zu ihrem Stammbaum geworden, und indem vergleichende Anatomie und Ontogenie zum Ausbau der Phyloge- nie zusammenwirken, schwebt ihnen als höchstes Ziel der letzte- ren die annähernde Erkenntniss jenes realen Stammbaumes vor. Nun kann freilich bei Goette, der die Phylogenie überhaupt ver- Avirft^ und der uns die gesammte Morphologie durch die Ontoge- nie erklärt, „ohne dass die Phylogenie auch nur erwähnt zu wer- den brauchte", von einem Stammbaum der Organismen gar keine Eede sein. Aber gleichviel, ob Goette das System der Thiere mo- nistisch als ihren Stammbaum anerkennt, oder ob er es dualistisch von einem „Schöpfungsgedanken Gottes" oder ( — was auf dasselbe hinauskommt — ) von einem über den Sternen schwebenden obersten „Formgesetz" ableitet, jedenfalls bestand für ihn die Verpflichtung, dasselbe in den Kreis seiner Erörterungen zu ziehen. Diese Ver- pflichtung war für ihn gar nicht zu umgehen. Denn wenn nicht min- destens die wichtigsten Beziehungen der zahlreichen, im Wirbel- thier-Stamme vereinigten Classen und Ordnungen zu einander erläu- tert werden , wenn nicht wenigstens die Grundzüge ihrer systema- tischen Gruppirung in irgend einer Form gegeben werden , so fehlt für eine „vergleichende Morphologie der Wirbelthiere" jeder An- griffspunkt, jede Handhabe. Da uns ferner Goette zu diesen erst die „Grundlage" schenken will, so dürfen wir mit doppeltem Rechte erwarten, dass er uns auch das wahre Verst'ändniss für das System der Wirbelthiere erschliessen und dieses auf neuer „Grundlage" aufrichten werde. Finden wir ja doch bei allen an- deren Naturforschern, die bisher werth volle Beiträge zur Morpho- logie der Wirbelthiere lieferten, dass sie mittelbar oder unmittel- bar von bestimmendem Eiufluss auch auf das System waren. Ich brauche wohl bloss an die systematischen Verdienste von George Cl'vier, Carl Ernst Baer , Johannes Müller, Richard Owen, Thomas Huxley und Carl Gegenbaur zu erinnern. Was bietet uns nun Goette auf seinen 964 Grossoctav-Seiten für das System der Wirbelthiere ? Nichts, gar Nichts! Nicht allein vermissen wir jede vorausgeschickte oder in den Text ein- geflochtene Erörterung über seine eigene Auffassung des Wirbel- 60 thier- Systems, (das bekanntlich sehr verschiedenen Deutungen un- terliegt^), sondern wir erhalten auch nicht einen einzigen neuen Gedanken über das Verwandtschafts -Verhältniss der Verteb raten. Doch halt! Hier hätte ich beinahe eine sträfliche Unwahrheit und Ungerechtigkeit begangen! Freilich wirft uns Goette (wenn auch nur nebenbei) ein paar neue Gedanken unter den Tisch, und was für welche! „Nicht der Primordialschädel unterscheidet die Craniota vom Amphioxus , sondern der Besitz eines dem letzte- ren fehlenden Kopfes ; nach der Entwickelung desselben stehen aber dem Amphioxus ganz unbedingt die Cyclostomen am näch- sten 2), und auf sie folgen nicht etwa die Selachier, sondern die Batrachier, vor allen die Anuren!" (Unke, S. 744.) Uebersetzen wir uns diesen letzteren Gedanken (der allerdings neu ist und den gewiss kein anderer Zoologe dem Embryographen der Unke streitig machen wird!) in eine klare phylogenetische Vor- stellung, so ergiebt sich, dass die Amphibien (und unter diesen zunächst die rückgebildeten Schwanzlosen!) sich direct aus den Cyclostomen entwickelt haben, mit Ueberspringung der Fische (und speciell der Selachier!) Und doch bilden bekanntlich die Fische fast in jeder Beziehung eine zusammenhängende Reihe von ver- mittelnden Zwischenstufen zwischen den Cyclostomen und den Am- phibien! Oder kann etwa der Schädel, das Gebiss, das Gehirn, das Gehörorgan , der Darm, der Kiemenbogen- Apparat der Frösche und Kröten direct von den Neunaugen abgeleitet werden, ohne dass sich die Fische (namentlich die Selachier) und auch die älte- ren kiementragenden Amphibien (Sozobranchien) überall dazwi- schen drängen? Oder kann man sich etwa vorstellen, dass der pentadactyle Fuss der Frösche und Kröten eines schönen Tages plötzlich einmal herausgewachsen ist, und dass er gar keine ge- netischen Beziehungen zu der polydactylen Flosse der Fische (und speciell der Selachier) besitzt? Nach GoETTE bestehen solche Beziehungen freilich nicht, und die armen Fische bleiben als „Schmerzenskinder" des Wir- bel thier-Stammes von jeder Stammesgemeinschaft mit den 1) Um sich zu überzeugen , wie verschieden die höchst wichtigen Verwandt- schafts-Beziehungen der W^irbelthier-Classen und Ordnungen noch bis auf den heuti- gen Tag aufgefasst werden, vergleiche man nur z. B. meine phylogenetische Darstel- lung derselben in der „Generellen Morphologie" (Bd. II , S. CXVI — CLX) und die- jenige von HuxLEY in seinem trefflichen „Handbuch der Anatomie der Wirbel- thiere" (1873). 2) Dass unter allen bekannten Wirbelthieren die Cyclostomen dem Amphioxus am Nächsten stehen , hat noch kein Mensch in Zweifel gezogen. 61 übrigen Vertebraten ausgeschlossen, gleichwie weiland die Schles- wig-Holsteiner aus Deutschland und die Lombardo-Venetianer aus Italien. Indessen dürfte es vielleicht nicht allzulange währen, bis auch die Fische bleibend ihren natürlichen Platz zwischen Cyclo- stomen und Amphibien wieder einnehmen. Es ist gewiss eine bemerkenswerthe Thatsache, dass diejeni- gen Morphologen , die bisher als die gründlichsten und geistreich- sten Vertreter der vergleichenden Anatomie galten, ganz besonde- ren Wer th auf die Erkenntniss des Fisch -Organismus legten und diesem die eingehendsten Studien widmeten. Die „Histoire natu- relle des poissons" von Cuvier, die vergleichende Anatomie der Myxinoiden, sowie die Arbeiten über die Grenzen der Ganoiden und über das System der Fische von Johannes Müller, die Ar- beiten über Süsswasserfische von Siebold, über den Schädel der Fische von Huxley, über Flossenskelet und Kopfskelet der Sela- chier von Gegenbaur u. s, w. legen dafür ein beredtes Zeugniss ab. Alle diese vortrefflichen Untersuchungen werden von Goette entweder einfach ignorirt oder mit der in allen Tonarten variirten Bemerkung abgefertigt, dass sie „wegen mangelnden Verständnis- ses ihr Ziel verfehlt" haben. Auf die Fische selbst aber geht un- ser Unkenforscher nirgends gründlich ein! Am meisten ist unter so be wandten Umständen gewiss der arme Carl Gegenbaur zu bedauern! Bekanntlich hat dieser Moi"phologe, der in der vergleichenden Anatomie der Gegenwart die erste Stelle einnimmt, nicht allein das Gesammtgebiet dieser Wissenschaft durch geistreiche und kritische Anwendung der phy- logenetischen Methode reformirt , sondern auch in einer Reihe von speciellen „Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wir- belthiere" ein bisher unübertroffenes Muster phylogenetischer Be- handlung von höchst complicirten morphologischen Problemen ge- liefert. Den Ausgangspunkt dieser Untersuchungen bilden die Fische, und unter diesen die Selachier. Die gründlichste Sorgfalt der anatomischen Untersuchung, die scharfsinnigste Be- handluDg der Objecte verbinden sich in diesen classischen Arbei- ten mit der ausgedehntesten Beherrschung des Gesammtgebietes, der grössten Umsicht in der Schlussfolgerung und der glücklich- sten Erkenntniss der verwickelten, oft so versteckten Beziehungen. Insbesondere sind es zwei Untersuchungsreihen , welche Gegenbaur die allgemeine Bewunderung der Fachgenossen eingetragen haben: die Forschungen über die Gliedmaassen und über den Schädel der Wirbelthiere ; beides zwei Haupt-Probleme, an denen bereits die geistreichsten Morphologen ihre Kräfte erprobt hatten. In den Untersuchungen über die Gliedmaassen (den Schultergürtel, Carpus und Tarsus, die Fischflosse) zeigt er uns, dass die vielzehige Flosse der Fische (und speciell jene der Selachier, der Haifische und Rochen) mit ihrem ursprünglich gefiederten, später halbge- fiederten Skelet die Grundlage des Wirbelthier-Fusses bildet; aus jener Urform hat sich erst später der fünfzehige Fuss entwickelt, den wir zuerst bei den Amphibien finden und der sich von diesen auf alle höheren "Wirbel thiere, bis zum Menschen hinauf, vererbt hat. In den „Untersuchungen über das Kopfskelet der Selachier, als Grundlage zur Beurtheilung der Genese des Kopfskelets der Wir- belthiere" weist Gegenbaur nach, dass der Urschädel der Fische (und wiederum zunächst derjenige der Selachier) die Urform des Schädels bilde, aus welcher derjenige aller höheren Wirbelthiere bis zum Menschen hinauf durch eine zusammenhängende Reihe der merkwürdigsten Umbildungen hervorgegangen sei. Diese neue „Schädel - Theorie" verdient um so mehr Bewunderung, als seit Goethe und Oken eine Reihe von hervorragenden Morphologen das schwierige Problem vergeblich zu lösen versucht hatten. Wie verhält sich nun Goette zu diesen wahrhaft „grund- legenden" Untersuchungen? Jedenfalls mussten sie ihm höchst unbequem sein, da er sie weder verstehen, noch ganz ignoriren, noch aus dem Wege räumen konnte. Nachdem er also herablassend Gegenbaur das Zeugniss ausgestellt hat, dass seine „Versuche in formeller Hinsicht ein Muster vergleichend -anatomischer Dar- stellung und in der Durchführung ein glänzendes Zeugniss anato- mischen Scharfsinns" seien , belehrt er ihn unmittelbar darauf wohlwollend, dass seine Ziele verfehlt , seine Deutungen irrig , seine Vergleiche unglücklich seien (Unke, S. 706 u. a. a. 0.). Auf die Gliedmaassen lässt sich Goette in seinem „grundlegenden" Werke gar nicht ein , weil diese keine morphologische Bedeutung haben (!) und „aus der Reihe allgemein typischer Theile zu streichen seien" (! ! Unke, S. 469). Dabei verwechselt er (wie es ihm sehr oft pas- sirt) Ursache und Wirkung! Gegenbaur hat ihm dies mit grausamer Logik vorgerechnet und dabei das Absurdum nachge- wiesen, „dass Goette Etwas als Ursache gelten lässt, wel- ches, wenn es bestünde, das gerade Gegentheil entstehen lassen müsste"^). Während so die unbequemen Gliedmaassen durch die 1) Gegenbaur, Morpholog. Jahrb. Bd. I, S. 323, 324. Auf Goette's Be- merkung, dass das Extremitäten - Skelet der W^irbelthiere keine morphologische Be- deutung habe, antwortet Gegenbaur: ,,Es sind also typisch unwichtige Dinge! 63 einfache Erklärung ihrer Bedeutungslosigkeit aus der Welt ge- schafft werden, finden wir dagegen über die Schädeltheorie eine sehr ausführliche, 61 Seiten lange Erörterung (S. 683 — 744), aus- gezeichnet durch völligen Mangel an Verständniss des höchst schwierigen Objectes, ungenügende Kenntniss der Thatsachen , Un- fähigkeit zu ihrer Beurtheilung, Verworrenheit und Unklarheit in der Darstellung. Das Resultat derselben lässt sich in dem ein- fachen Satze zusammenfassen: „Die von Gegenbaur auf die ver- gleichende Untersuchung des Selachier-Kopfes gegründete Schädel- Theorie ist desshalb falsch , weil in der Ontogenie der Unke Nichts von den Formenverhältnissen zu finden ist , auf welche der erstere jene Theorie gründet!" Wer über diese wunderbare Logik etwa erstaunen sollte, der wird bei näherem Studium des Unkenwerkes finden, dass sie die leitende Methode seiner Schlussfolgernngen bildet. Dieselbe Logik würde es sein, wenn ein Histologe den Satz aufstellen wollte: „Die ganze Zellentheorie ist falsch, und der Zellenkern hat keine Bedeutung, weil in den cerebrospinalen Nervenprimitivfasern der Wirbelthiere keine Zellenkerne vorkom- men. Dieselbe Logik habe ich kürzlich wiederholt von den Geg- nern meiner Gastraea - Theorie hören müssen : „Weil bei den höhe- ren Wirbelthieren nicht dieselbe ursprüngliche Gastrula-Form, wie beim Amphioxus und den niederen Wirbellosen sich findet, des- halb ist die ganze Gastraea - Theorie falsch!" Freilich ist solche „morphologische" Logik in der heutigen Biologie sehr beliebt. In Fast könnte ich nach solchem Urtheilsspruche mit einiger Wehmuth und Reue auf die Bemühungen blicken , die ich Jahre hindurch zur Herstellung eines Verständ- nisses des Gliedmaassen-Skelets aufgewendet habe ! Doch sehen wir uns die elimi- nirenden Gründe etwas näher an ! Zuerst muss bemerkt werden , dass noch Nie- mand die Gliedmaassen als allgemein typische Theile aller Wirbelthiere bezeich- net hat , seit man die Cyclostomen und Amphioxus zu den Wirbelthieren zählt. Aber den Guathostomen (von den Fischen bis zum Menschen aufwärts !) kom- men sie als „allgemein typische Theile" zu, und zwar ebenso gut wie die Kiemenbogen, die doch auch Goette als typische Theile betrachtet , obschon sie den Cyclostomen wie Amphioxus fehlen! Dass die Gliedmaassen ausser Gebrauch gesetzt sich rückbilden , und in einzelnen engeren Abtheilungen völlig schwinden können , ist doch kein Grund , sie vom typischen Skelet der Gua- thostomen auszuschliessen. Reducirt sich doch der mächtige Kiemenbogen-Apparat der Fische auf einige kümmerliche Skelettheile bei den Säugethieren , und Niemand fällt es ein , den Schwanz der Wirbelthiere aus den typischen Theilen zu streichen, weil er sehr wechselvolle Ausbildungen und Rückbildungen aufweist, oder vielleicht von der Wirbelsäule nur die Anzahl von Wirbeln für typische zu erklären, die der Minimalzahl entspricht , so dass auch darin die Unke zum mustergülti- gen Paradigma würde" (1. c. S. 323). 64 den zoologischen Schriften von Claus, Semper, Metschnikoff, DöNiTz u. A. finden sich dafür zahh^eiche Beispiele, deren Kritik wir den Philosophen überlassen. Wenn Jemand aber eine neue „Grundlage" für eine ganze Wissenschaft geben will, wie Goette, so ist es doch wohl gerathen , diejenige Logik anzuwenden , die in allen übrigen Wissenschaften als solche allgemein gültigen Curs hat. Da Gegenbaue bereits seine Schädeltheorie kräftig in Schutz genommen und das völlig Unhaltbare und Grundlose der von Goette dagegen aufgestellten „Theorie" klar dargelegt hat (1. c. p. 325 — 340), so brauche ich hier nicht weiter darauf einzugehen. Ich will nur noch kurz den gewaltigen, auch von Gegenbaur schon ge- rügten Missgriff beleuchten, den Goette in der Wahl seines Haupt- objectes, der Unke beging. Wie der erstere mit Recht betont, ist bei der „vergleichenden Morphologie" einer grösseren oder kleine- ren Thiergruppe die Wahl des Ausgangspunktes Nichts weniger als gleichgültig (1. c. p. 300, 301). Wenn man die Morphologie des gesammten Wirbelthierstammes vergleichend behandeln will, so kann man entweder von oben oder von unten anfangen : Man kann entweder von Menschen, als dem höchst entwickelten und am genauesten untersuchten Wirbelthier ausgehen, und das ist der hi- storische Gang der Erkenn tniss, den die „vergleichende Morpho- logie der Wirbelthiere" , durch die menschliche Anatomie geleitet, thatsächlich zuerst genommen hat. Oder man kann den ratio- nellen und natürlich weit besseren Weg wählen, der von unten nach oben aufsteigt, der von den einfachsten, niedersten Wirbel- thieren, von dem Amphioxus, den Cyclostomen, den Fischen aus- geht, in deren primitiver Organisation den Schlüssel des Verständ- nisses sucht und uns dann stufenweise aufsteigend in die verwickei- teren und schwierigeren Verhältnisse der höheren Wirbelthiere ein- führt ; und das ist der Weg , den mit glänzendstem Erfolge die Co- ryphaeen unserer Wissenschaft, Cuvier, Johannes MIJller, Rath- ke, Owen, Huxley, Gegenbaur eingeschlagen haben. Was thut aber Goette ? Er greift ohne Grund ein beliebiges Wirbelthier von mittlerer Organisationstufe (welches man ebenso gut durch ein blindes Loos aus einem Topfe hätte ziehen können !) mit- ten aus der reichen Masse der Wirbelthierformen heraus und stellt dieses ohne Weiteres als massgebenden Typus des ganzen Stammes hin. Gelegentlich versichert er uns, „dass die Batrachier, weil sie, wie in den meisten embryologischen Beziehungen (!) , so auch in der Bildungsgeschichte des Kopfes die einzigen klaren und 65 vollständigen Befunde liefern (ü)^) und ferner die Ueber- gänge von niederen zu höheren Formzuständen uns lebendig vor die Augen führen, desshalb die einzig sichere Grundlage für jede vergleichende Betrachtung der Wirbelthiere bieten"! (sie! Unke, S. 706). Die eingehenden Beweise für diesen erstaunlichen Satz, die nirgends zu finden sind , ist uns natürlich auch Goette schul- dig geblieben und wir müssen das falsche, darin ausgesprochene Dogma auf Treu und Glauben hinnehmen ! Dieses Dogma, das zu allen uns bekannten Verwandtschaftsbeziehungen der Wirbelthiere in klarem Widerspruche steht, ist aber die Grundlage, auf wel- cher sich das ganze, grosse, künstliche Gebäude von Goette erhebt — „eine umgekehrte Pyramide", wie Gegenbaur treffend bemerkt. Warum gerade die Unke, der Bombinator igneus? Ebenso gut wie die Unke, hätte Goette den Aal oder die Schlange^), den Pinguin oder den Wallfisch als „Typus der Wirbelthiere" bezeichnen und zum Ausgangspunkte ihrer „vergleichenden Morphologie" wählen können ! Es wäre dasselbe, wenn Jemand die Culturgeschichte des Deutschen Volkes schreiben und dafür die heutigen Zustände in Mecklenburg oder in Lippe-Bückeburg als „Typus" bezeichnen und zur Basis wählen würde! Selbst wenn man von der Amphibien- Classe ausgehen wollte ( — wofür sich ja Gründe anführen lassen ! — ) sind doch jedenfalls die schwanzlosen Batrachier, die Frösche, Krötenfrösche (wozu die Unke gehört) und die Kröten diejenige Gruppe, die am wenigsten als typischer Ausgangspunkt gewählt werden dürfte ! Denn alle diese schwanzlosen Amphibien sind theil- weise (besonders durch Reduction der Wirbelsäule) stark rück- gebildet, theilweise (z.B. in Betreff des eigenthümlichen Schädels) einseitig ausgebildet, also entfernte, modificirte Seiten- zweige des Vertebraten - Stammbaums , aus deren Beschaffenheit wir uns (auch bei genauester Kenntniss) keine richtige Vorstel- lung von der Gestalt und Verzweigung des ganzen Stammes bilden können ! 1) Der wahre Grund , warum nach Goette's Ansicht „die Batrachier die ein- zigen klaren und vollständigen Befunde liefern", ist der, dass er sich Jahre lang mit den Batrachiern ganz vorwiegend beschäftigt hat und diese allein genau kennt, während er von den übrigen Wirbelthieren nur oberflächliche Kenntnisse hat und deren Organisation zu würdigen überhaupt nicht im Stande ist. Sehr be- zeichnend dafür ist der Umstand , dass der A m p h i o x u s nur selten gelegentlich erwähnt und auf seine primitive Bildung gar kein besonderes Gewicht gelegt wird. 2) Da diese Thiere ihre Gliedmaassen verloren haben und da die Gliedmaas- sen keine typischen Theile sein sollen, würden sie sich ganz besonders als ,, Typus" den Vertebraten empfehlen ! 5 66 Icli denke, der Leser wird aus unserer bisherigen Analyse des grossen Unkenbuches sich zur Genüge überzeugt haben, wie das- selbe den gewaltigen, schon auf dem Titel angekündigten Ansprü- chen gerecht wird, die „Grundlage einer vergleichenden Morpho- logie der Wirbelthiere" zu werden. Weder kann diese umfang- reiche Embryographie ( — und mehr ist sie nicht! — ) als „Mor- phologie" bezeichnet werden, noch kann sie in wirklich wissenschaft- lichem Sinne „vergleichend" genannt werden. Da sie ferner in ih- ren brauchbaren und werthvollen Theilen lediglich eine höchst de- taillirte und sorgfältige Beschreibung und Abbildung der Kei- mesgeschichte eines einzigen Wirbelthieres ist, und noch dazu eines eigenthümlichen, theils rückgebildeten, theils einseitig verbil- deten A m p h i b i u m s , so kann sie auch nicht für die Morphologie der sämmtlichen übrigen Wirbelthiere maassgebend sein, um so weniger, als ja eine brauchbare und kritische Vergleichung nir- gends durchgeführt ist ! Es bleibt uns aber schliesslich doch noch einer und zwar der grösste Anspruch zu erörtern, derjenige, dass GoETTE eine Grundlage für unsere Wissenschaft liefern will. Die „Grundlage einer vergleichenden Morphologie der Wir- belthiere"! Also hat diese „Grundlage" bisher gefehlt? Also schwe- ben alle die zahlreichen, ausführlichen und werthvollen Arbeiten, die wir gerade über die Morphologie der Wirbelthiere besitzen , in der Luft und entbehren der Grundlage? Die bisher in unserer Wis- senschaft herrschende „öifentliche Meinung", die jetzt erst durch Alexander Goette aufgeklärt wird, war allerdings anderer An- sicht, und ich bekenne, dass auch ich dieser verkehrten Ansicht bis auf den heutigen Tag gehuldigt habe! Wir Alle befanden uns in dem grossen Irrthume, dass ( — abgesehen von den werthvollen Vor- arbeiten, die schon im vorigen Jahrhundert Petee Campee, Petee Pallas und Alexandee Moneo lieferten — ) die erste tiefe, um- fassende und bleibende „Grundlage einer vergleichenden Morpholo- gie der Wirbelthiere" im Anfange dieses Jahrhunderts durch George CuviER gelegt worden sei, durch seine berühmten „Legons d'ana- tomie comparee" und die vollständige dadurch bewirkte Eeform des Thier-Systems. Diesen armseligen Cuviee kennt Goette entwe- der nicht oder er hält seine „Irrthümer" nicht der Widerlegung werth ; denn , wie bereits bemerkt , wird der Name Cuvier in dem ganzen, 964 Seiten langen Unkenwerke nicht einmal genannt ! Wir Alle theilten ferner den Irrthum, dass schon vor einem Jahrhundert durch Caspar Friedrich Wolff in seiner „Theoria generationis" und vor einem halben Jahrhundert durch Baer in seinen unübertrof- 67 fenen Untersuchungen „lieber Entwickelungsgeschichte der Thiere" eine unerschütterliche Grundlage für den ontogenetischen Theil der Vertebraten-Morphologie ebenso gegeben sei, wie durch Cuvieu für den vergleichend-anatomischen Theil ! Wir Alle waren ferner in dem Irrthum befangen, dass J. F. Meckel durch sein „System der ver- gleichenden Anatomie" (1821 — 1833), dass Johannes Müller durch seine classische „Vergleichende Anatomie der Myxinoiden" (1835 — 1845) wie Robert Remak durch seine „Untersuchungen über die Ent- wickelung der Wirbelthiere" (1850 — 1855) die Morphologie dieses Stammes ausserordentlich vervollkommnet habe. Wir huldigten fer- ner dem Irrthum , dass Geoffroy S. Hilaire, Blainville, Owen, Rathke, Bischoff, Leydig, Koelliker und viele Andere jene „Grundlagen" wesentlich erweitert haben ; und wir können endlich auch den Irrthum nicht leugnen, dass Thomas Huxley und vor Allen Carl Gegenbaur durch die Anwendung phylogenetischer Methoden jene „Grundlagen" mächtig vertieft und befestigt haben. Alle diese Männer befanden sich im „Irrthum", weil sie „wegen mangelnden Verständnisses ihr Ziel verfehlten" und weil sie Goet- te's „Formgesetz" nicht kannten ! Von allen jenen Irrthümern wer- den wir nun mit einem Male durch den grossen Unkenforscher be- freit, und wie Alexander der Grosse eine neue „Grundlage" für die gesammte politische und nationale Gestaltung der alten W^elt legte , so empfangen wir durch Alexander Goette anstatt jener veralteten und unbrauchbaren Fundamente die neue „Grundlage einer vergleichenden Morphologie der Wirbelthiere" ! Diesen maasslosen Ansprüchen Goette's gegenüber müssen wir constatiren , dass in Wahrheit schon seit mehr als einem Jahrhun- dert die Arbeiten der genannten Coryphaeen uns die wichtigsten Grundsteine für die Morphologie der Wirbelthiere geliefert haben, und — wie Gegenbaur sehr gut bemerkt — „sie werden es blei- ben , wie hoch auch der W^ eiterbau der Wissenschaften sich später einmal darauf erheben mag. Wie in der Ontogenie ein Fortschrei- ten vom Einfacheren zum Complicirteren , vom Niederen zum Hö- heren stattfindet , so zeigt auch die Entwickelung der Wissenschaft einen ähnlichen Gang; und die Bedeutung der Vorgänger für die Nachfolger ist eben so w^enig zu unterschätzen , als der Werth der Anlage für den entwickelten Organismus. Für die, welche die Wis- senschaft weiter zu bilden versuchen , ist es somit am Meisten zu beherzigen , wie einmal der Standpunkt , von dem aus sie ihre Ar- beit beginnen, einzig durch die Arbeit der Vorgänger zu erreichen w^ar, und wie Alles, was sie Neues an Erfahrungen und Anschauun- 5 •• gen der Wissenschaft zuführen , mit seinen Anfängen weit zurück in längst vergangene Zeiten reicht!" (Morpholog. Jahrbuch, 1875, S. 300). Für Alexander Goette freilich, den Grossen, sind solche historische Anschauungen ein überwundener Standpunkt! Seine neue Entwickelungs -„Geschichte" ist ja eben dadurch ausge- zeichnet, dass sie nicht geschichtlich, nicht historisch ist! Damit beginnt natürlich eine ganz neue Epoche für unsere ge- sammte Wissenschaft! Die Wissenschaft muss umkehren! Sagt es uns nicht ihr Reformator Goette selbst ausdrücklich, in seiner vernichtenden Polemik gegen Carl Ernst Baer? Hören wir selbst seine Worte: „Die voranstehende Erörterung erscheint ganz natürlich zunächst nur als eine gegen Baer gerichtete Kri- tik. Hinter diesem Namen steht aber auch unsere gegenwär- tige Wissenschaft, und ich will nicht leugnen, dass mein Wi- derspruch mehr dieser gilt, als Demjenigen, dessen Namen sie decken soll!" (Unke, S. 255). Der arme alte Baer! Er hat also nicht nur selbst sich im tiefsten Irrthum befunden, sondern auch noch die schwere Schuld auf sich geladen, unsere ganze gegen- wärtige Wissenschaft in den Sumpf zu locken. Das ist freilich schlimm. Sehen wir uns aber doch etwas näher die Gründe sei- ner Verschuldung an! „Bei Baer überwog die rein anatomische Vorstellung in der Entwickelungsgeschichte. BaersuchteimEntwickelungs- verlaufe gar nicht nach allgemein gültigen Normen, welche erst die anatomische Auffassung bestimmen sollten" (sie!) — „Baer war eben Anatom, bevor es noch eine Entwickelungs- geschichte gab (!) — Die BAER'schen Schemata stellen noch immer die Dogmen vor, nach denen die Anatomie ihre Urtheile abwägt." (Unke, 306, 307.) Fassen wir diese und ähnliche Ur- theile, wie sie in der langen, gegen Baer gerichteten Polemik (S. 252—255, S. 299—308, S. 575-579 u. a. a. 0.) vielfach wieder- kehren , in einem Satze zusammen , so ergiebt sich als Hauptvor- wurf die Schuld, dass Baer Morpholog war, dass er beide Hauptzweige der Morphologie, vergleichende Anatomie und Ent- wickelungsgeschichte, gleichmässig cultivirte und die Mängel des einen durch die Vorzüge des andern zu ergänzen und auszuglei- chen suchte. Wenn Baer die GoETTE'sche Methode gekannt hätte, wenn er die vergleichende Anatomie und Systematik gründlich ig- norirt und sich auf die Beschreibung der blossen Entwickelung (am besten eines einzigen Wirbelthieres , z. B. der Unke) beschränkt 69 hätte, daun wäre ihm vielleicht auch das Licht des mystischen „Formgesetzes" aufgegangen und er wäre vor jenen „Irrthümern" bewahrt geblieben. Nicht wenig bezeichnend für sein Verständniss Baer's ist es, dass GoETTE, dieser Vertreter des crassesten Duahsmus, die Grund- anschauung Baee's als „Teleologie" bezeichnet und bekämpft. Al- lerdings hat Baer in späteren Schriften einen „Zweck" in der Natur vertheidigt und unter dem Begriffe der „Zielstrebigkeit" ein teleologisches Princip in die Entwickelungsgeschichte hineingezogen. Allein diese Art von Teleologie, über die sich noch reden Hesse, ist weit entfernt von der groben und rohen, äusserlichen Zweck- mässigkeitslehre, wie sie in der dualistischen Theologie und Theo- sophie so sorgfältig gepflegt wird. Baer's Hauptwerk aber ist entschieden monistisch. Am Schlüsse von dessen Vorrede sagt er ausdrücklich: „Noch Manchem wird ein Preis zu Theil werden. Die Palme aber wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten ist, die bildenden Kräfte des thierischen Körpers auf die allgemeinen Kräfte und Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen." Und am Schlüsse des Wer- kes selbst giebt er seiner monistischen Ueberzeugung folgenden herrhchen Ausdruck: „Ein Grundgedanke ist es, der durch alle Formen und Stufen der thierischen Entwickelung geht und alle einzelnen Verhältnisse beherrscht. Derselbe Gedanke ist es, der im Weltraum die vertheilte Masse in Sphären sammelte und diese zu Sonnensystemen verband; derselbe, 'der den verwitterten Staub an der Oberfläche des metallischen Planeten in lebendige Formen hervorwachsen Hess. Dieser Gedanke ist aber Nichts als das Leben selbst, und die Worte und Sylben, in welchen er sich ausspricht, sind die verschiedenen Formen des Lebendigen." Das ist aber der grosse Grundgedanke des Monismus, der all- umfassende Grundgedanke einer einheitlichen, lebendigen Entwickelung der Gesammtnatur, den ich selbst stets als die Eichtschnur wahrer Wissenschaft vertreten und hervorgehoben habe. Nur ein so confuser Kopf, wie Goette, kann darin duali- stische Teleologie erblicken. Sein eigener, durch und durch dua- listischer Standpunkt ist freilich ganz entgegengesetzt, wie schon daraus hervorgeht, dass er nur für die Organismen eine Entwicke- lung zulässt, nicht für die Anorgane. Goette's Polemik gegen Baee gipfelt in den merkwürdigen Erörterungen über den Begriff des Typus (Unke, S. 252 — 255). Bekanntlich war es ein Hauptverdienst Baee's, dass er in seinem 70 Hauptwerke zuerst klar und scharf die individuelle Entwickelung jedes Organismus auf zwei verschiedene und gewissermaassen ent- gegengesetzte Verhältnisse zurückführte, auf den Grad der Aus- bildung und den Typus der Organisation. i) „Der Grad der Ausbildung des thierischen Körpers besteht in der grösseren histologischen und morphologischen Sonderung (Differenzirung.) Je gleichmässiger die ganze Masse des Leibes ist, desto geringer die Stufe der Ausbildung. Je verschiedener sie ist, desto entwickelter das thierische Leben in seinen verschiedenen Richtungen. Der Typus dagegen ist das Lagerungsverhältniss der organischen Ele- mente und der Organe. Dieses Lagerungsverhältniss ist der Aus- druck von gewissen Grundverhältnissen in der Richtung der ein- zelnen Beziehungen des Lebens. DerTypusist von der Stufe der Ausbildung durchaus verschieden, so dass derselbe Typus in mehreren Stufen der Ausbildung bestehen kann, und umgekehrt dieselbe Stufe der Ausbildung in mehreren Typen er- reicht wird." Die klare Unterscheidung dieser beiden verschiede- nen, in Gegensatz und in Wechselwirkung zu einander siehenden Verhältnisse, die ich ihrem Entdecker zu Ehren das BAEß'sche Gesetz genannt habe (Anthropogenie , S. 47), hat die grösste Bedeutung für die Entwickelungsgeschichte gewonnen. Erstens wurde damit ein klares Ziel und ein neuer Weg für die Erkennt- niss des Causalzusammenhanges der Entwickelung gegeben, und zweitens stehen jene beiden Grundverhältnisse in der innigsten Be- ziehung zu den beiden „formbildenden Functionen" der Descendenz- Theorie. Denn, wie ich in der Generellen Morphologie (Bd. 11, S. 11) ausgeführt habe, ist Baee's Typus der Entwickelung (oder der morphologische Charakter der Organisation) weiter Nichts als die Folge der Vererbung, und Bäer's Grad der Ausbildung (oder die morphologische Höhe der Organisation) weiter Nichts als die Folge der Anpassung. Was sagt nun Goette zu diesem höchst wichtigen und einfluss- reichen BAER'schen Gesetze? „Indem Baer zunächst vom Stand- punkte der vergleichenden Anatomie aus nach realen Werthen suchte (!), entging ihm die ganze Bedeutung jenes Grund- satzes (Hört! Hört!) Von einer hervorragenden Erscheinung ge- fesselt 2), vermochte er denselben weder im Ganzen noch im Ein- 1) Carl Ernst Baer, Ueber Entwickelungsgeschichte der Thiere. Königsberg 1828. Bd. I, S. 207, 208, 231. 2) War diese ,, hervorragende Erscheinung" vielleicht die Göttin Vernunft, die Adolf Bastian in seinem ,, offenen Briefe" an mich als ,,eine unreife Früh- 71 zelneü folgerecht durchzuführen" (sie! Uiike, S. 253). Natürlich! Denn, wie wir in der darauf folgenden, höchst unklaren und con- fusen Erörterung über Typus, Grad, Schema, Variation, Causalge- setz, Formbedingungen u. s. w. erfahren, verfuhr Baer bei Auf- stellung jenes Gesetzes „ganz willkührlich", inconsequent und einseitig. Erst dem grossen Goette war es vorbehalten, ein hal- bes Jahrhundert nachdem das BAER'sche Gesetz seine unheil- volle "Wirksamkeit überall und reichlich entfaltet, die wahre und „ganze Bedeutung jenes Grundgesetzes" zu erkennen. Denn, wie uns GoETTE belehrt — Hört! Hört! jetzt wird das grösste Ge- heimniss der Entwickelungsgeschichte otfenbar: „Der Typus ist die Höhe der morphologischen Ent Wickelung"!! (sie! Unke, S. 255.) Hier versagt mir die Feder! Ich hoflfe, dem Leser reisst mit mir der Faden der Geduld, und er stimmt mir bei, wenn ich er- kläre, dass eine gleich anspruchsvolle und sinnlose An- maassung in der Wissenschaft unerhört ist und die härteste Züchtigung vor deren öffentlichem Forum verdient! Ein völlig unklarer und unreifer Handlanger der Wissenschaft, dem jedes tiefere Verständniss für deren Ziele und Wege abgeht, wagt es, den anerkannt grössten Meister derselben, auf dessen Schultern wir Alle stehen, darüber zu belehren, dass er seine eigenen wichtigsten, von ihm selbst erst festgestellten Grundbegriffe nicht verstehe, und dass sie eigen thch ihr Gegentheil bedeuten!! Baee, der genetische Begründer der Typen-Theorie, zeigt uns, dass der Typus von der Stufe oder Höhe der morphologischen Entwicke- luug durchaus verschieden ist ! Goette versichert uns dagegen, dass der Typus selbst die Höhe oder Stufe der morphologischen Eut- wickelung ist ! Es ist genau dasselbe, wie wenn etwa Michelis oder WiGAND herablassend Darwin darüber belehren wollten, dass die Vererbung eigentlich die Anpassung sei, oder auch umgekehrt! Wenn unter den heute noch lebenden Naturforschern Eine Persönlichkeit sich mit Recht der allgemeinsten Verehrung und Hochachtung erfreut, so ist es Carl Ernst Baer; und wenn die classischen, im besten Sinne natu r philosophischen Schriften eines Coryphaeen noch heute als unübertroffene Muster von exacter Beobachtung und philosophischer Reflexion allgemein bewundert Averden, so ist es die Entwickelungsgeschichte dieses Altmeisters geburt" bezeichnet hat, „gegen deren Inthrouisirung auf das Enistlichste prote- stirt werden muss?" 72 unserer Wissenschaft. Und diesen Baek wagt ein Goette so zu schulmeistern! Es wäre dasselbe, wenn ein Steinmetzgeselle, der ein paar neue zierliche Arabesken für eine zerstörte Fensternische des Strassburger Münsters gemeisselt hat, darauf hin sich erdreis- ten wollte, Erwin von Steinbach's unsterblichen Dom für ein verfehltes Machwerk zu erklären, dessen gothische Fensterbogen eigentlich mit der Spitze nach unten sehen müssten! Nach diesen stärksten Proben GoETTE'scher Naturphilosophie verzichte ich auf eine weitere Kritik seines Unkenwerkes, abschon dasselbe noch reiches Material für viele ähnliche Betrachtungen bietet. Was Hesse sich z. B. nicht Alles über seine unglaublichen Vorstellungen vom Causalgesetze , vom Polymorphismus, von der Individualität, von den „Protozoen-Eiern" u. s. w. sagen? Indes- sen mag einstweilen das Angeführte genügen. Man wird vielleicht finden, dass es nicht nöthig gewesen sei, ein Werk, das sich selbst so kläglich blosstelle, einer so schonungslosen Kritik zu unter- ziehen. Wenn ich aber auch ganz davon absehe, dass die unauf- hörlichen, den ganzen allgemeinen Theil des Werkes durchziehen- den Angrifife gegen meine morphologischen Arbeiten mir eine ener- gische Vertheidigung geradezu abnöthigen und mich zum Angriff meines Gegners zwingen, so hielt ich eine eingehende Kritik des Werkes aus zwei Gründen für dringend geboten. Erstens ist vor- auszusehen, dass das bestechende Aeussere des Unkenbuches ihm eine grosse Anzahl von Bewunderern zuführen wird. Der gewal- tige Umfang allein schon, der alle bisher im Gebiete der Ent- wickelungsgeschichte erschienenen Schriften übertrifft, muss jeden- falls imponiren! Sodann verdient der beigefügte Atlas, der uns auf 22 lithographischen Tafeln 382 Figuren giebt, das höchste Lob. Denn die prachtvollen Abbildungen, welche offenbar nach einer grossen Auswahl vorzüglicher Präparate angefertigt sind, zeichnen sich eben so wohl durch die grösste Sorgfalt und gewis- senhafte Naturtreue, wie durch künstlerische Ausführung und ele- gante Lithographie aus^). Diese glänzende Aussenseite muss schon auf den ersten Blick gewiss das günstigste Vorurtheil für das grosse Werk erwecken ; und selbst der schöne Druck und das gute Papier ( — bekanntlich für viele Leser ein sehr bedeutendes Argu- ment der Kritik — ) werden demselben sehr zu gute kommen. Auch ist gar nicht zu zweifeln, dass in dem sehr reichen, darin nieder- 1) Die Klarheit dei- Abbildungen steht in merkwürdigem Contraste zu der Un- klarheit des Textes. 73 gelegten Beobaclitungsmaterial, der Frucht vieljährigen, unermüd- lichen Fleisses, eine Masse von werthvollem Detail versteckt liegen wird, das sich von einer ordnenden und kritisch reinigenden Hand zu werthvollen Bausteinen wird gestalten lassen. Aber je leichter die Mehrzahl der Leser sich theils durch diesen materiellen Reich- thum, theils durch jene glänzenden äusseren Vorzüge des Werkes wird bestechen lassen, desto nöthiger ist es, das gänzlich Verfehlte des allgemeinen Standpunktes und die völlige U n haltbar - keit der „Grundlage" hervorzuheben, auf der sich das ganze grosse Gebäude, diese riesige „umgekehrte Pyramide" erhebt. Auch ist nicht zu übersehen, dass gerade die ausserordentliche Unklar- heit und Verworrenheit des Gedankenganges, die fürchterliche Schwerfälligkeit und Unverständlichkeit der Schreibart ihre grossen Gefahren birgt. Denn nur die wenigsten Leser werden die nöthigo Geduld haben, um längere Abschnitte des Werkes im Zusammenhange ernstlich zu studiren und dabei viele Sätze dreimal, sechsmal oder noch öfter zu lesen, ehe der Sinn derselben einigerraaassen zu enträthseln ist. Manche Leser werden sogar — wie es auch bei den höchst unklaren, in vieler Beziehung sehr ähnlichen Schriften von Reicheet ^) der Fall war, — hinter den dunkeln Orakeln einen ganz besonderen Weisheitskern vermuthen. Es wird daher gewiss dem Unkenwerke an Bewunderern und Verehrern nicht fehlen, wenngleich die Wenigsten sich der un- dankbaren und wahrlich nicht leichten Arbeit unterziehen werden, sich durch dasselbe hindurchzuarbeiten. Wie sehr das glänzende Aeussere des Werkes und sein materieller Reichthum zu imponi- ren vermag, das zeigt u. A. folgende, in dem letzten Jahres- berichte über Entwickelungsgeschichte enthaltene Aeusserung des Strassburger Anatomen Waldeyer: „Die bedeutsamste Erschei- nung auf dem diesjährigen Gebiete der embryologischen und zu- gleich vergleichend morphologischen Literatur ist unstreitig das grosse und prachtvoll ausgestattete Werk Goette's." Der Re- ferent macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass dasselbe „für den Histologen und Embryologen sowohl, wie für den Anatomen 1) Bekanntlich galten bis jetzt die embryologischen Schriften von Bogusläus Reichert in Berlin für die unklarsten und verworrensten Producta unserer Wissen- schaft und es gehört viel Geduld dazu , sich durch sie hindurchzuarbeiten (Vergl. meine „Bemerkungen zur Protoplasma-Theorie" in der „Monographie der Moneren"). AUein jetzt ist Reichert durch Goette noch weit übertrofFen. Auch Reichert ging vorzugsweise von den Amphibien aus. Ist dieser auffallende Parallelismus Analogie oder Homologie ? 74 und Zoologen gleich werthvoll" sei i). Allerdings werden wir diese Lobeserhebung mit einiger Reserve aufzunehmen haben, wenn wir in demselben Jahresberichte erfahren, dass die ganz kritiklosen und oberflächlichen Aufsätze Semper's^) über die Stammverwandtschaft der Wirbelthiere und Anneliden „unstreitig zu den folgenschwersten Arbeiten im Gebiete der vergleichenden Morphologie und Embryologie gehören; und dass dadurch eine neue Brücke zwischen dem Reiche der Evertebraten und Verte- braten geschlagen wird." Ob diese „neue Brücke" von den An- neliden zu den Vertebraten die „alte Brücke", welche die Asci- dien zum Amphioxus geschlagen hatten, überflüssig macht, oder ob nunmehr zwei Brücken die Wirbelthiere mit den Wirbellosen verbinden, ist leider nicht gesagt. Im letzteren Falle würde ein Theil der Wirbelthiere (vielleicht die Batrachier?) von den Anne- liden, der andere Theil (vielleicht die Selachier?) von den Tuni- 1) ViRCHow und Hirsch , Jahresbericht über die Leistungen und Portschritte in der gesammten Medicin. Jahrg. IX, 1875, Bd. I, S. 135. Man sieht, wie die TJrtheile aus einander gehen ! Auf jeden FaU dürfte die Behauptung haltlos sein, dass das Unkenwerk für die vier bezeichneten Kategorien ,,gleich werthvoll" sei. Den grössten Werth besitzt dasselbe „unstreitig" für die Embryologen, als eine reiche Fundgrube neuer und wichtiger Detail- Beobachtungen, die aller- dings erst kritisch gesichtet, geordnet und vergleichend beurtheilt werden müssen, um ihren wahren Werth zu erlangen. Auch die Anatomen werden viele von diesen Beobachtungen benutzen können, obwohl der Hauptwerth von Goette's Werk für sie in dem Nachweise liegen wird, dass die vergleichende Anatomie keine wissenschaftliche Bedeutung habe. Grösser ist wieder der Werth des Werkes für die Histologen; denn diese erfahren dadurch, dass die Zellen keine ,,Elementar- Organismen" sind und dass die Zellen -Theorie (sammt der Protoplasma - Theorie) aufgegeben und durch das ,, Formgesetz" ersetzt werden müsse. Völlig unver- ständlich ist mir dagegen, welchen Werth das Unkenwerk für die Zoologen (worunter Waldeyee doch hier, im Gegensatz zu den drei genannten Kategorien, iiur die Systematik er verstehen kann), besitzen soll; denn das ganze Buch iguorirt ja alle systematischen Verwandtschaftsbeziehungen geflissentlich und bringt auch nicht einmal gelegentlich einen neuen systematischen Gedanken , mit einziger Ausnahme der bereits hervorgehobenen Bemerliung, dass die Amphibien (und unter diesen die Batrachier) sich zunächst an die Cyclostomen anschliessen. 2) Von den 14 Spalten des ,, Jahresberichtes über Phylogenie" hat Waldeyer die grössere Hälfte, nämlich 8 Spalten, dieser SEMPER'schen Entdeckung gewidmet, während 3 Spalten der geistreichen SALENSKv'schen Widerlegung meiner Gastraea- Theorie geweiht sind. Dagegen wird kein Wort über die (im Literatur-Verzeich- nisse aufgeführte) Anthropogenie gesagt , obgleich diese der erste (und bis jetzt einzige) Versuch ist , die Phylogenie eines Organismus von Anfang bis zu Ende im Zusammenhang darzulegen. Wenn auch der neue Weg der Anthropogenie falsch und dieser ganze Versuch verfehlt ist , so hätte Waldeyee doch die Verpflichtung gehabt, seine Leser vor diesen Irrthümern zu warnen! 75 caten abzuleiten seiu^- Diesem schweren Dilemma gegenüber ist es um so mehr zu bedauern, dass Goette uns keine weiteren phylogenetischen Aufschlüsse gegeben hat! Eine andere und grössere Gefahr, mit der das GoETTE'sche Werk die Wissenschaft bedroht, liegt darin, dass sich der herr- schende Dualismus des mystischen „Formgesetzes" bemächtigen und dasselbe für seine Weltauffassung ausbeuten kann. Wenn nicht der völlige Inhaltsmangel dieses leeren „Formgesetzes" offen dargelegt wird , so kann der Dualismus der verschiedensten Rich- tungen, von der Teleologie der strengeren Schul -Philosophie bis zum Spiritismus der englischen Geisterklopfer herab, und von dem „unfehlbaren" Vaticanismus bis zum Neuplatonismus der Gegenwart hinauf, das neue erfundene Wort „P'ormgesetz" mit Begierde ergreifen, um dasselbe an die Stelle der alten, ver- brauchten und verrufenen „Lebenskraft" zu setzen. Die Gelegen- heit ist zu bequem und billig für den Dualismus, um nicht so einer seiner Grundideen ein neues, von einem „exacten" Natur- forscher angefertigtes Mäntelchen umzuhängen. Daher kann nicht scharf genug betont werden, dass in der That Goette's neues „Formgesetz" nichts Anderes ist, als die alte „Lebenskraft". Es ist nichts Anderes, als das „grosse Entwickelungsgesetz", wel- ches gegenwärtig von verschiedenen Gegnern des Darwinismus als wahre Ursache der Entwickelung bezeichnet wird, ohne dass wir über die Natur und das Wesen dieses mystischen Factors irgend etwas Näheres erfahren. Da neuerdings mehrere meiner Gegner behauptet haben, dass auch mein „biogenetisches Grundgesetz" nichts Anderes sei, als dieses unbekannte „grosse Entwickelungsgesetz", und dass jenes ebenso wie dieses eines realen Inhaltes entbehre, so will ich nicht verfehlen, hier ausdrücklich noch einmal den gewaltigen Unter- 1) Nach meiner Ansicht ist die angebliche nahe „S t amm v er wand t s chaf t der Wirbelthiere und Anneliden" völlig unhaltbar, und nur dann zu ver- theidigen, wenn man die wichtigsten vergleichend-anatomischen und ontogenetischen Differenzen zwischen diesen beiden , weit von einander entfernten Gruppen völlig ignorirt. (Vergl. die trefflichen Bemerkungen von Gegenbaur, Morphol. Jahi-b. 1875, S. 6 ff.) Das wird indessen nicht hindern, dass auch Sempee, gleich Goette, vielfach als ,, vergleichender Morphologe" angestaunt werden wird. In vieler Be- ziehung sind Beide ähnlich , wie man aus den ,, kritischen Gängen" und den Be- trachtungen ,,über die GoETTE'sche Discontinuitätslehre des organischen Lebens" ersehen kann, die Semper in den ,, Arbeiten aus dem zoologisch - zootomischen In- stitute zu Würzburg" (1874, 1875) veröffentlicht hat. Die grossartigen Ansprüche stehen auch bei Sejiper im umgekehrten Vei'hältnisse zur wirklichen Leistung. 76 schied zu betonen, der zwischen ersterem und letzterem besteht. Indem das biogenetische Grundgesetz — das ich aller- dings für das wahre „Grundgesetz der organischen Entwickelung" halte — die Ontogenie als Auszug oder Recapitulation der Phy- logenie beurtheilt und so beide Hauptzweige der Entwickelungs- geschichtü in den innigsten und unmittelbarsten Causal-Nexus bringt, stützt es sich auf die beiden wichtigsten formbildenden Factoren, auf die Anpassung und Vererbung, welche beide als physiologische Functionen des Organismus mit den fundamentalen Functionen der Ernährung und Fortpflanzung zu- sammenhängen. Da diese letzteren aber — wie die heutige Phy- siologie widerspruchslos annimmt — auf physikalisch -chemische Processe, also auf wirklich mechanische Ursachen, auf wahre „causae efficientes" zurückzuführen sind, so müssen auch die ersteren auf diese zu reduciren sein. Die formbildenden Functionen der Entwickelung werden dadurch mit den übrigen physiologischen Lebensthätigkeiten des Organismus in eine Reihe gestellt. Dabei ist es allerdings unerlässlich , den höchst wichtigen Unterschied der Palingenie und der Cenogenie gehörig ins Auge zu fassen. Wie schon Feitz MtiLLEU („Für Darwin") ange- deutet hatte, und wie ich erst kürzlich in meiner Arbeit über „die Gastrula und die Eifurchung der Thiere" ausführlich gezeigt habe, ist nur der eine Theil der Ontogenie, nämlich die Palin- genie oder „Aus Zugsgeschichte", als die unmittelbare, durch Vererbung bedingte Wiederholung der Phylogenie zu betrach- ten. Hingegen giebt uns der andere Theil der Keimesgeschichte, nämlich die Cenogenie oder „Fälschungsgeschichte", nicht nur keine Auskunft über die ursprüngliche Stammesgeschichte, sondern sie führt uns auch irre, indem sie neue, durch embryonale Anpassung erworbene Entwickelungs -Verhältnisse in die Onto- genie einführt und so jene palingenetische Wiederholung fälscht, trübt oder selbst ganz verdeckt. So hat z. B. im ganzen Stamme der Wirbelthiere die palingenetische Gastrula des Amphioxus uns allein den ursprünglichen phylogenetischen Entwickelungsgang der Gastraea getreu bis heute bewahrt, während die entsprechen- den Gastrula- Formen aller übrigen Wirbelthiere ceno geneti- sche, secundär modificirte sind, bei denen der später erworbene Nahrungsdotter die ursprüngliche Formbildung mehr oder minder verhüllt i). Wir werden daher unser biogenetisches Grundgesetz 1) Das Nähere hierüber , sowie über die Bedeutung der Palingenie und Ceno- 77 jetzt mit Rücksicht auf die Palingenie und Cenogenie folgender- inaassen zu formuliren haben: Die Keimesgeschichte ist eine modi- ficirte "Wiederhohing oder ein kurzer Auszug der Stammesge- schichte; sie wiederholt diese letztere als „Äuszugsgeschichte" um so genauer, je mehr durch Vererbung in der Generationen-Kette der ursprüngliche Entwickelungsgang des Stammes getreu conser- virt ist; je mehr dagegen der letztere durch Anpassung der Keim- formen in der Reihe der Generationen abgeändert worden ist, desto mehr weicht die Keimesgeschichte von der Stammesge- schichte ab, und wird so zur „Fälschungsgeschichte". Möglichst kurz gefasst, lautet demnach unser Grundgesetz: Die Keimes- entwickelung ist ein Auszug der Stammesentwicke- lung; um so vollständiger, je mehr durch Vererbung die Auszugsentw^ickelung beibehalten wird; um so weniger vollständig, je mehr durch Anpassung die Fälschungsentwiekelung eingeführt wird^). Ziele und Wege der organischen Entwickelungsgeschichte wer- den nach meiner festen Ueberzeugung durch dieses biogenetische Grundgesetz endgültig festgestellt, die Ziele klar enthüllt, die Wege bestimmt bezeichnet. Alle Arbeiten im Gebiete der Ent- wickelungsgeschichte, welche nicht bloss die empirische Kenntniss, sondern das causale Verständniss der genetischen Phänomene an- streben, werden genöthigt sein, dasselbe zu berücksichtigen, ent- weder bejahend oder verneinend. Die Gegner der Descendenz-Theo- rie werden nothwendig das biogenetische Grundgesetz entschieden bekämpfen; His und Goette, sowie viele andere Gegner, haben das auch bereits ganz folgerichtig gethan. Die Anhänger der Ab- stammungslehre werden umgekehrt in diesem wahren „Grundge- setze der organischen Entwickelung" den Schlüssel finden, mit- telst dessen sie aus den offenkundigen Thatsachen der gegenwär- tigen Keimesgeschichte unter gehöriger Berücksichtigung der vergleichenden Anatomie die wichtigsten Schlüsse auf die längst vergangene Stammesgeschichte ziehen können. genie ist in dem Aufsatze über „die Gastrula und die Eifurchung der Thiere" zu finden. Jenaische Zeitschr. für Naturwiss. 1875. Bd. IX, S. 402. 1) Um den internationalen Ansprüchen der Ausländer gerecht zu werden und jede , durch die neuen deutschen Ausdrücke möglicherweise entstehende Zweideutig- keit zu venneiden , wiederhole ich hier diese neue , verbesserte Formulirung des biogenetischen Grundgesetzes in lateinischer Sprache : ,,0 n t o g e n e si s summa- rium (vel recapitulatio) est phylogeneseos, tanto integrius quanto hereditate palingenesis conservatur, tanto minus in- tegrum quanto adaptatione cenogenesis in t r o d u c i t ur," 78 Selbstverständlich ist unser biogenetisches Grundgesetz mit seinen realen, physiologischen Grundlagen völlig verschieden von jenem „grossen Entwickelungsgesetze" unserer Gegner, welches bloss auf idealen, imaginären Vorstellungen beruht und jeder physiologischen Basis entbehrt. Das letztere ist eben so inhalt- leer, wie Goette's „Formgesetz" und läuft schliesshch, wie alle ähnlichen mystischen „Gesetze", auf die teleologische „Gesetz- gebung" eines anthropomorphen „Schöpfers" hinaus. Das hat auch der Bedeutendste und Geistvollste unter unseren Gegnern, der jüngst verstorbene Louis Agassiz, offen anerkannt, indem er kurz- weg die Organismen als „verkörperte Schöpfungsgedan- ken Gottes" bezeichnete und die Aufgabe der Entwickelungs- geschichte darin suchte, dass der Mensch, das Ebenbild Gottes, diese Schöpfungsgedanken zu errathen und nachzudenken habe. Zu welchen absurden Consequenzen Agassiz durch diese dua- listische Auffassung geführt wurde, habe ich bereits in der Natür- lichen Schöpfungsgeschichte (S. 56 — 64) zur Genüge dargethan. Hier nochmals auf deren gründliche Widerlegung einzugehen, ist wohl überflüssig, da kein einziger corapetenter Biogenist, kein einziger erfahrener und urtheilsfähiger Forscher im Gebiete der Entwickelungsgeschichte, heutzutage noch die theosophischen An- sichten von Agassiz zu vertreten wagt. Dagegen scheint es mir hier gerathen zu sein, mit einigen Worten die eigenthümliche Stellung zu beleuchten, welche Agassiz bis zuletzt der speciellen Entwickelungsgeschichte gegenüber ein- nahm. Ich bin zu diesen Bemerkungen durch zwei verschiedene Umstände veranlasst. Erstens hat Agassiz selbst in seinen letz- ten Lebensjahren die von mir vertretene Auffassung der Ent- wickelungsgeschichte bei jeder Gelegenheit auf das Heftigste an- gegriffen, und auch noch seine letzte Arbeit, welche einen Monat nach seinem Tode erschien, ist speciell gegen Darwin und mich gerichtet ^). Zweitens führen die Gegner der Descendenz-Theorie in neuester Zeit mit besonderer Vorliebe Agassiz als die erste Autorität im Gebiete der Entwickelungsgeschichte an und be- haupten immer von Neuem, dass derselbe als „gründlichster Ken- ner" dieser Wissenschaft die „grosse Irrlehre" Darwin's längst gründlich widerlegt habe. Ja, es wird sogar in neuester Zeit von Seiten der orthodoxen Theologie und der specifisch christlichen Philosophie Agassiz als „frommer Naturforscher" mit der Glorie 1) Louis Agassiz , Evolution and permanence of type. Atlantic Monthly for January 1874. Der Verfasser starb im December 1873. 79 eines Heiligenscheins geschmückt, welche uns reizt, die wahre Natur ihrer schillernden Iris -Farben ein wenig näher mit dem Spectroskop zu untersuchen. Da ist denn vor Allem zu bemerken, dass Louis Agassiz selbst mit der eigentlichen Entwickelungsgeschichte keineswegs so gründlich vertraut und um deren Förderung so hoch verdient ist, als noch heute in weiten Kreisen angenommen wird. Allerdings ist eine ganze Anzahl werthvoller Arbeiten über die Entwickelung einzelner Thiere von ihm herausgegeben worden. Allein diese em- bryologischen Special-Arbeiten, wie viele andere, von demselben unter seinem Namen herausgegebene Werke, sind ganz oder gröss- tentheils von Anderen angefertigt worden. So ist die „Embrj^o- logie des Salraones", welche den werthvollsten Theil der „Histoire naturelle des poissons d'eau douce" (1842) von Agassiz bildet, nicht von diesem, sondern von Carl Vogt verfasst. So sind die umfangreichen „Monographies d'Echinodermes vivants et fossiles" (und namentlich die schönen Arbeiten über Echiniden), welche JjOuis Agassiz unter seinem Namen herausgegeben hat, grössten- theils nicht von ihm, sondern von Ed. Desoe, G. Valentin und Anderen angefertigt. Dasselbe gilt auch von dem bei weitem grössten Theile der prachtvollen „Contributions to the natural history of the United States." Nur der erste Band dieses impo- santen Hauptwerks, der naturphilosophische „Essay on Classifica- tion", in welchem Agassiz die Natur als das unterhaltende Spiel- werk eines anthropomorphen Schöpfers darstellt, ist ganz von ihm selbst geschrieben. Die drei anderen Theile, welche eine ausführ- liche Entwickelungsgeschichte der Schildkröte und viele schöne Untersuchungen über Anatomie und Entwickelungsgeschichte der Medusen enthalten, sind grösstentheils nicht von Louis Agassiz, sondern von seinem Sohne Alexander, von James Clark, David Weinland, Sonrel und Anderen gearbeitet. Mehrere dieser „stil- len Mitarbeiter", die Agassiz gehörig auszunutzen verstand, ha- ben auch nicht verfehlt, wiederholt die Früchte ihrer mühsamen Arbeiten für sich zu reclamiren , so namentlich James Clark und Ed. Desor^). Es geht daraus unzweifelhaft hervor — was übri- 1) Tergl. insbesondere Ed. Desor, Synopsis des Echinides fossiles. Paris 1858, p. XV — XX. Daraus ergiebt sich u. A. , dass Agassiz sein wohldurchdachtes und mit grösstem Erfolge durchgeführtes Raubsystem nicht erst in den Vereinigten Staaten, son- dern bereits in der Schweiz begann und seit seiner Uebersiedelung nach Nord-Amerika (1846) nur in grösserem Maassstabe fortsetzte. Mehrere einflussreiche wissenschaftliclie Theorien, die gewöhnlich seinen Namen tragen, sind nicht von ihm aufgestellt, sondern 80 gens unter den Facligenossen in Europa längst kein Geheimniss mehr und auch in weiteren Kreisen von Nord- Amerika wohl be- kannt ist — dass Louis Agassiz seine hervorragende und die amerikanische Naturwissenschaft beherrschende Stellung zum gröss- ten Theile nicht dem wissenschaftlichen Werthe seiner eigenen Arbeiten verdankt, sondern dem ausserordentlichen Geschick, mit dem er die Arbeiten Anderer zu benutzen verstand, der seltenen kaufmännischen Gewandtheit, mit welcher er grosse Geldsummen für seine Zwecke flüssig zu machen wusste, und dem bewunde- rungswürdigen Organisations-Talent, mit welchem er die gross- artigsten Sammlungen, Museen und Institute schuf. Louis AaAssiz war der genialste und thätigste Industrieritter auf dem Gesammtgebiete der Naturwissenschaft.' Dass er sich dabei nicht selten zu einer bedenklichen Höhe des Schwin- dels verstieg, war nur natürlich. Ein ergötzliches Beispiel des grossartigen Schwindels von Agassiz habe ich selbst erlebt. Vor ungefähr zehn Jahren wur- den die Zoologen durch die in viele Zeitungen übergegangene Notiz in Aufregung versetzt, dass Agassiz in der Entwickelungs- geschichtc der Fische die merkwürdigsten Verwandlun- gen entdeckt habe. Danach erschien es gar nicht mehr wunder- bar, wenn plötzlich die Lachse als junge Thunfische, die Häringe als junge Dorsche und die Aale als junge Bandfische sich ent- puppten. Eine darauf bezügliche, an die Pariser Akademie ge- sandte „vorläufige Mittheilung" ging auch in deren „Comptes renducs" über, nebst dem Versprechen baldiger genauerer Dar- stellung. Diese blieb natürlich aus! Und was war die Veran- lassung zu dieser aufregenden Entdeckung? Ich hatte von den Fischen, die ich während des Winters 1859/60 in Messina gesam- melt hatte, eine Auswahl zum Tausch an Agassiz geschickt. Darunter befanden sich mehrere Exemplare des seltsamen Scope- linen Argyropelecus hemigymnus und mehrere junge Exemplare des eigenthümlichen Scomberoiden Zeus faber. Jener Scopeline (ein Physostome aus der Nähe der Lachse) und dieser Scomberoid (ein Physocliste aus der Nähe der Thunfische) sind himmelweit verschiedene Fische. Aber eine entfernte äussere Aehnlichkeit zwischen Beiden, im Zusammenhang mit ganz nebensächlichen Mo- ihren eigentlichen Urhebern entwendet und von ihm äusserlich aufgeputzt und zur Gel- tung gebracht worden. So ist namentlich die berühmte Eiszeit-Theorie zuerst nicht von Agassiz , sondern von Charpehtieu und Carl Schimper aufgestellt , die Gletscher- Theorie von Fokbes u. A, 81 menten, hatte Agassiz genügt, den Scopelinen für die Jugend- form des Scomberoiden zu erklären und darauf hin jene ganze abenteuerliche „Entdeckung" zu erfinden. Glücklicherweise besass ich in meiner Sammlung von Messina noch mehrere, ganz junge Exemplare des Zeus, welche kleiner waren als die grössten Exemplare des Argyropelecus und welche den Hurabug sofort aufdeckten. Gegenbaur, der Zeuge des ganzen Processes gewe- sen war, Hess damals diese letzteren zusammen auf einer Visiten- karte in natürlicher Grösse photographiren und versendete diese an verschiedene Interessenten. Aber Agassiz hat natürlich darauf niemals geantwortet ! Doch dies eine Beispiel nur beiläufig statt vieler. Es ist hier nicht der Ort, näher auf den grossartigen Humbug des neu- ame- rikanischen „Gründers" einzugehen. Wohl aber erscheint es ge- boten, darauf aufmerksam zu machen, dass die hervorragende Stellung, welche nach einer sehr verbreiteten Ansicht gerade in der Entwickelungsgeschichte Agassiz zukommt, nicht durch seine eigenen Arbeiten und Kenntnisse auf diesem Gebiete bedingt ist. Das Vorwort, durch welches Giebel die kürzlich von ihm her- ausgegebenen letzten Vorlesungen von Agassiz über den „Schöpfungs- plan" ^) einführt, beginnt mit folgenden Worten: „Unter den Natur- forschern unserer Tage hat k ei n er (!) so weit greifende und grü n d- 1 i c h e (!) , unser specielles und allgemeines Wissen so sehr fördernde und gleichzeitig auf verschiedenen Gebieten bahnbrechende For- schungen in der Zoologie einschliesslich der vergleichen- den Anatomie und Entwickelungsgeschichte (!), in der Palaeontologie und Geologie geliefert als Louis Agassiz." Dieser schwungvolle Dithyrambus Giebel's klingt für den Eingeweihten fast wie Hohn. Denn von allen diesen grossen und „gründlichen" Forschungen bleiben eigentlich — wenn wir von zahlreichen kleinen Entdeckungen und Detail-Forschungen absehen — nur die- jenige in der Palaeontologie bestehen, für welche Agassiz in der That (nach dem Vorgange von Cuvier!) Grosses geleistet hat. Von seinen geologischen Verdiensten wollen die Geologen nicht viel wissen; denn die Gletscher- und Eiszeit-Theorie ist, wie be- merkt, nicht sein Werk; und das Verdienst, Cuvier's Katastro- phen-Theorie bis zuletzt vertheidigt zu haben, findet heute nir- gends mehr Anerkennung. In der systematischen Zoologie hat 1) Loüis Agassiz , Der Schöpfungsplan. Vorlesungen über die natürlichen Grundlagen der Verwandtschaft unter den Thieren. Deutsche Uebersetzung einge- führt von Giebel. 1875. 6 82 Agassiz sehr Viel geleistet, aber — von speciellen Beschreibungen abgesehen — nicht viel Gutes; seine allgemeinen systematischen Ansichten über Classification sind gänzlich verfehlt^) und die Starrheit, mit welcher er bis zuletzt Cuvier's Typen - Theorie in ihrer ursprünglichen Fassung vertheidigte, hat auch Nichts genützt. Um in der vergleichenden Anatomie selbständig Grosses zu lei- sten, fehlte es ihm viel zu sehr an der gründlichen anatomi- schen Vorbildung; seine verfehlten Ansichten über die Verwandt- schafts-Beziehungen der grösseren Thiergruppen (z. B. der Urthiere, der „Strahlthiere") beweisen das klar. Um aber in der eigentli- chen Entwickelungsgeschichte „bahnbrechend" zu wirken, dazu fehlte ihm vor Allem jenes tiefere Verständniss der elementaren Organisation, das nur durch gründhche histologische Bildung erlangt werden kann. Wie unbekannt Agassiz mit der Zelle n - theorie und der darauf gegründeten Gewebelehre war, das weiss jeder Kenner seiner Schriften aus zahlreichen verkehrten (und zum Theil unglaublich absurden) Bemerkungen, die sowohl in seinen generellen als in seinen speciellen Schriften zerstreut sind. Gerade dieser Mangel an Verständniss der Elementar- Structur und des Zellenlebens, welchen ich für eine der grössten Schwächen von Agassiz halte, machte es ihm unmöglich, die wichtigsten Vor- gänge in der Keimesgeschichtc der Thiere (wie z, B. die Eifur- chung, die Keimblätterbildung) richtig zu würdigen. Wenn wir nun dabei noch erwägen, dass seine meisten eigenen Schriften über Entwickelungsgeschichte grösstentheils aus den Arbeiten An- derer sich aufbauen, so werden wir es begreiflich finden, wenn er selbst in seinem „Schöpfungsplan" als das Hauptresultat aller seiner Studien über Entwickelungsgeschichte wörtlich Folgendes verkündet: „Je weiter wir nun die verschiedenen Weisen der Ver- mehrung unter den Thieren prüfen, um so mehr überzeugt uns die Thatsache, dass die Erhaltung der Idee, des Typus, die Beharrlichkeit gewisser Züge in der organischen Welt, der Urzweck und unleugbare, unabweisliche Erfolg ist. Dies ist wenigstens der Schluss, zu welchem alle meine Studien der Entwickelungsgeschichte mich geführt haben" (1. c. S. 23). 1) Den „Essay on Classification", das systematische Hauptwerk von Agassiz , habe ich im sechsten Buche der genereUen Morphologie eingehend wider- derlegt. Insbesondere habe ich im 24sten Capitel denjenigen Abschnitt , den er selbst für den wichtigsten hält (über die Gruppenstufen oder Kategorien des Sy- stems) Schritt für Schritt als ganz unhaltbar nachgewiesen. Agassiz hat da- rauf niemals geantwortet. 83 Erinnern wir uns nun, dass nach der Ansicht von Agassiz 1) jede organische Art oder Species „ein verkörperter Schöpfungs- gedanke Gottes", 2) jede Art unveränderlich und die darin ver- körperte Idee beharrlich, 3) diese Beharrhchkeit der Urzweck der Schöpfung selbst ist, so kommen wir zu dem überraschenden Re- sultate: „Der Urzweck des Schöpfers bei Schöpfung der Thier- und Pflanzen-Arten war die beharrliche Erhal- tung seiner eigenen Gedanken!" i). Und das ist der wich- tigste Schluss, zu welchem Agassiz „alle seine Studien der Ent- wickelungsgeschichte geführt haben" ! ! Von solchen und ähnlichen Sätzen enthalten die populär -na- turwissenschaftlichen Schriften von Agassiz (besonders aus der letzten Zeit) eine reiche Blumenlese. Einer ernsten Widerlegung werden dieselben in den Fachkreisen der Naturforscher nicht für würdig gehalten. Aber ausserhalb der Fachkreise erfreuen sie sich einer grossen Anerkennung und einer hohen — wenn auch natürlich verständnisslosen — Bewunderung. Wir würden- das völ- lig Unhaltbare und Sinnlose derselben hier nicht besonders her- vorheben , wenn nicht die orthodoxe Kirche in Agassiz einen vor- züglichen Bundesgenossen erkannt, sich seiner Ideen bemächtigt und sie mit Erfolg zu einem neuen Aufputz ihres theistischen Phrasen-Gebäudes benutzt hätte. Die Wirkung dieser Charlata- nerie ist nicht zu unterschätzen. Man lese bloss die zahlreichen Nekrologe, in welchen Agassiz im vorigen Jahre nicht bloss als einer der grössten Naturforscher seiner Zeit verherrlicht, sondern auch besonders darauf hingewiesen wurde, wie derselbe die gröss- ten Resultate der modernen Naturwissenschaft in den schönsten Einklang mit dem Wortlaut der Bibel zu bringen gewusst und als die wahre „Natürliche Schöpfungsgeschichte" dieje- nige des Moses nachgewiesen habe. Weit entfernt davon, meinen verehrten Special-Collegen Moses, (dessen hohe Verdienste ich stets willig anerkannt habe) wegen dieser naturwissenschaftlichen Huldigung von Agassiz zu beneiden, möchte ich mir doch in geziemender Bescheidenheit die Vermuthung ge- statten, dass es Letzterem mit jenen und ähnlichen Sätzen wohl 1) Agassiz scheint hiernach zu besorgen, dass der Schöpfer, wenn er nicht dann und wann ( — nämlich bei jeder „Erdrevolution" — ) neue Thiere und Pflan- zen erschaffen , d. h. neue Gedanken gehabt hätte , seine Ideen (oder seinen Ver- stand) völlig verloren hätte. Eher , scheint mir , kann ein gesunder Mensch beim längeren Nachdenken über solche und ähnliche Ideen von Agassiz seineu Verstand verlieren. 6* 84 niemals Ernst gewesen ist. Ich wenigstens sehe überall deutlich den Pferdefuss des Mephisto unter dem schwarzen Priester -Talar hervorschauen, in welchen sich der schlaue Agassiz mit so viel theatralischem Anstand und decorativem Talent einzuhüllen ver- steht. Wer die zahlreichen Schriften von Agassiz (insbesondere die theistisch-naturphilosophischen) näher kennt, und wer mit den darin kundgegebenen frommen Ideen den bekannten Lebensgang des grossen wissenschaftlichen Industrie-Ritters, seine Vorliebe für das philanthropische Institut der Sclaverei u. s. w. zusammen hält, der kann sich der Ueberzeugung nicht verschliessen , dass derselbe im Grunde ganz andere Anschauungen besass, als es dem nicht eingeweihten Leser seiner Werke scheinen könnte. Immerhin ist die Consequenz anzuerkennen, mit welcher Agassiz den einmal betretenen Pfad bis zu seinem Ende verfolgte, und auch nach dem tödtlichen Stosse, den seine theosophische Dogmen -Puppe durch Dahwin's reformatorische That erhalten hatte , dieselbe fort- dauernd -vertheidigte und als einzig lebensfähiges Princip der Wls-^ senschaft aufrecht zu erhalten bemüht war. Auch wurde ja der Hauptzweck, den er dabei verfolgte, vollständig erreicht. Die rechtgläubigsten Kreise in den Hauptstädten der vereinigten Staa- ten wurden dadurch für die Naturwissenschaft interessirt, und die reichsten Kaufleute stellten ihm Geldsummen zur Verfügung, wie sie niemals ein Naturforscher auch nur zu wünschen gewagt hatte. Mit Hülfe dieser colossalen Geldmittel führte Agassiz die schönen Reisen aus, auf denen seine Begleiter höchst werthvolle Samm- lungen zu Stande brachten und von denen uns die Zeitungen so oft berichteten, dass dabei die merkwürdigsten Entdeckungen in der Entwickelungsgeschichte gemacht worden seien; Entdeckungen, welche die falsche Descendenz-Theorie definitiv widerlegten und das allein wahre Schöpfungs - Dogma von Agassiz endgültig begründe- ten. Leider haben wir aber nachher nie etwas Näheres von die- sen so grossartig angekündigten Entdeckungen erfahren. Mit Hülfe jener colossalen Geldmittel schuf Agassiz ferner die gross- artigen Sammlungen und Institute, die an Umfang und an Aus- stattung Alles bisher dagewesene übertreffen, und von denen zu hoffen ist , dass sie der Wissenschaft entsprechende Dienste leisten werden 1). Aber wenn auch die so von Agassiz herbeigeführte 1) Im Ganzen hat sich bis jetzt an den grossartigen , von Agassiz in Amerika gegründeten wissenschaftlichen Instituten der merkwürdige , in Europa längst fest- gestellte, empirische Satz bewährt , dass die wi s s e n seh af 1 1 ich en Leistungen der Institute in umgekehrtem Verhältnisse zu ihrer Grösse, und 85 äussere Förderung der Naturwissenschaft und das von ihm in den "weitesten Kreisen angeregte Interesse, alle Anerkennung ver- dienen, so ist damit selbstverständlich nicht das Geringste über den inneren Werth entschieden, den seine dualistisch-theologische Naturphilosophie und speciell seine Anschauungen über organische Ent Wickelung besitzen. Die Ziele und Wege, welche Agassiz in der Entwickelungsgeschichte verfolgt hat, sind Irrlichter und Irrwege, und ihre vorübergehende Anerkennung und Bewunderung hat nur das Gute gehabt, die Wahrheit unserer entgegengesetzten Richtung in das hellste Licht zu stellen. An die Würdigung des grossen und hell strahlenden amerika- nischen Kirchenlichtes Agassiz schliesse ich hier noch ein paar Worte an über das kleine und ziemlich trübe flackernde deutsche Kirchenlicht Michelis. Dieser altkatholische Priester, der auch einmal Philosoph in Beaunsbeeg war, hat sich neuerdings mit anerkennenswerthem Fleisse dem Studium der Entwickelungsge- schichte zugewendet, leider ohne alle dazu erforderlichen und un- entbehrlichen Vorkenntnisse, ohne irgend eine gründliche Vorbil- dung in systematischer Zoologie und Physiologie, in Anatomie und Histologie. Als die Frucht dieser dilettantischen Studien ver- öffentlichte derselbe kürzlich eine ingrimmige „Haeckelogonie" ^), deren Hauptzweck darauf hinaus läuft, den Verfasser der „Anthro- pogenie" als ein höchst gefährliches und gemeinschädliches Sub- ject zu denunciren und im Interesse des neuen Deutschen Reiches, der Deutschen Universitäten und der Deutschen Wissenschaft gegen die heutige Entwickelungsgeschichte einen „akademischen Protest" einzulegen^). der innere Werth der daraus hervorgehenden Arbeiten in umgekehrtem Ver- hältnisse zu ihrer glänzenden äusseren Ausstattung steht. Ich brauche bloss an die kleinen ärmlichen Institute und die geringen äusseren Hülfsmittel zu erin- nern, mit deren Hülfe z. B. Baer in Königsberg, Schleiden in Jena, Johannes MÜLLER in Berlin , Liebig in Giessen , Virchow in Würzburg, Gegenbaür in Jena nicht allein ihre Wissenschaft auf das Umfassendste gefördert, sondern ganz neue Bahnen für dieselbe geschaffen haben. Und damit vergleiche rnan anderseits den colossalen Aufwand und die luxuriöse Ausstattung , mit der die grossartigen Insti- tute in Cambridge, in Leipzig und an anderen ,, grossen" Universitäten ausgestattet sind! Was haben diese im Verhältnisse geleistet? U. A. w. g. 1) Haeckelogonie. Ein akademischer Protest gegen Haeckels Anthropo- genie. Von Dr. Fr. Michelis, Professor der Philosophie. Bonn 1875. 2) Obgleich ,, liberaler" Altkatholik, giebt doch unser Naturpriester eine mit- telalterliche Vorliebe für Ketzergerichte und Inquisition kund, die seinem ,, unfehl- baren" Gegner im Vatican alle Ehre machen würde! Von dem echten Geiste christlicher Duldung und frommer Bruderliebe , welcher die ,, Haeckelogonie" durch- 86 Was den wissenschaftlichen Gehalt dieser scherzhaften „Hae- ckelogonie" betrifft, so ist derselbe bereits von Carus Sterne ^) und von Otto Zacharias^) so trefflich beleuchtet worden, dass ich mir eine besondere Widerlegung desselben hier ersparen kann. Auch MiCHELis sucht die Grundursache der organischen Entwicke- lung nicht in den physiologischen Functionen der Vererbung und Anpassung ( — das sind nur „scholastische naturalisirte Hülfsbe- griffe" — ), sondern in dem „die Stoffgestaltung beherrschenden Ge- setz oder der über der Materie stehenden Idee, dem schöpferi- schen Gedanken". Also wiederum nichts Anderes als der „Schöpf- ungsgedanke" von Agassiz, nichts Anderes als die alte „Lebens- kraft", nichts Anderes als das neue „Formgesetz" von Goette. Wie hierin, so stimmt Michelis auch darin mit Goette überein, dass er auf das Entschiedenste das biogenetische Grundgesetz be- kämpft. Während aber der letztere dasselbe einfach negirt, hat der erstere glücklich die psychologische Ursache seiner Entstehung entdeckt und ist so im Stande, uns darüber aufzuklären. Diese Ursache ist nämlich nichts Anderes, als eine „unnatürliche innere Verrenkung des richtigen Denkens" (Haeckelogonie, S. 70, 71) und dieses Denken erscheint daher als „wissenschaftliche Hallucina- welit, legen namentlich die letzten Seiten derselben Zeugniss ab. Am Schlüsse wirft Michelis (mit gesperrter Schrift!) die Frage auf: „Ob die Deutsche Wissen- schaft und die Deutschen Universitäten ein solches aus ihrem Schoosse hervorge- gangenes Attentat auf die Vi'^ahrheit der O f fe nb ar ung (!), auf die Grundlage der Religion und auf die Bedingung der Sittlichkeit (!) auch nur stillschweigend acceptiren und gutheissen werden?" Dann fährt der edle Ofifenbarungs-Philosoph fort: ,,So wie das Werk da liegt, ist Haeckel's Anthropogenie, so gut wie ,,der alte und neue Glaube" von David Stkauss , eine Schmach und ein Schandfleck für Deutschland (!), nicht weil die Männer den Muth gehabt haben , ihre der ewigen Wahrheit abfällige Ueberzeugung , wenn sie zu keiner bes- seren gelangen konnten , offen und ehrlich auszusprechen , sondern weil die Kraft des Denkens nach Leibnitz und Kant in Deutschland bis zu dem Grade der Im- potenz herabgekommen ist, dass es zu solchen Symptomen einer wissenschaft- lichen Hallucination und eines senilen Marasmus kommen konnte (! !). Mir scheint es darum eine zugleich auch tief patriotische Lebensfrage für Deutschland zu sein, ob die Vertretung seiner Wissenschaft den von Haeckel postulirten atheistischen Standpunkt als einen vor ihrem Forum zu Recht bestehen- den anerkennen werde? Das ist die Frage, die ich zunächst durch diese Kritik allein motiviren wollte"! Man sieht, es fehlt für Darwin und seine Jünger nur noch der Scheiterhaufen ! Zum Anzünden desselben steht Herr Michelis schon bereit ! 1) Caeus Sterne, Ein akademischer Protest. ,, Gegenwart", Berlin. 9. Octo- ber 1875. No. 41. 2) Otto Zacharias, Michelis contra Haeckel. „Ausland". 27. Sept. 1875. No. 39. 87 tion". Das Traurigste bei diesem Unglück ist, dass meine „unna- türliclie innere Verrenkmig" auch bei Michelis eine bedenkliclie Luxation des Gehirns zur Folge gehabt hat, nur in entgegenge- setzter Richtung. Michelis ist nämlich durch das fleissige Stu- dium der „Authropogenie" und der „Natürlichen Schöpfungsge- schichte" ( — wofür ich ihm hier meinen höflichsten und verbind- hchsten Dank abstatte — ) zu der ketzerischen Ansicht verführt worden, dass die vorliegenden Thatsachen der vergleichenden Ana- tomie und Ontogenie allerdings in bedenklicher Weise für einen genetischen Zusammenhang der Organismen sprechen und dass auch der Mensch, als „des Affen nächster Verwandter" (S. 7) von die- ser Blutsverwandtschaft nicht ausgeschlossen werden kann. Nur ist die Stufenfolge in diesem natürlichen Zusammenhange der Eut- wickeluug keine aufsteigende, sondern eine absteigende. Der Mensch ist nicht das höchst entwickelte Thier, son- dern die Thiere sind herabgekommene Menschen! Alle bisherigen Modificationen der Abstammungslehre nahmen überein- stimmend an, dass die Entwickelung der organischen Welt im Gros- sen und Ganzen eine fortschreitende war (wobei natürlich viele Rückschritte im Einzelnen nicht ausgeschlossen waren). Michelis dagegen zeigt uns, dass vielmehr umgekehrt der gewöhnliche und vorherrschende Gang der organischen Entwickelung der rück- sch reit ende ist, und dass die einzelnen, daneben vorkommenden Fortschritte nicht viel zu bedeuten haben. Wir brauchen wohl kaum darauf hinzuweisen, wie schön diese Degenerations-Theorie mit den Thatsachen der Völkerge- schichte oder der sogenannten „Weltgeschichte" stimmt, die ja auch ein Theil der organischen Entwickelungsgeschichte ist. Ha- ben wir armen Menschenkinder uns doch schon so weit von dem paradiesischen Urzustände unserer engelreinen Stamm eitern Adam und Eva entfernt , dass wir schon seit längerer Zeit Kleider tra- gen und Häuser bauen, ja sogar lesen und schreiben können (vergl. oben His, S. 15), Später hat dann unsere traurige Entartung durch die Erfindung der Buchdruckerkunst und anderer Teufels- künste mit beschleunigter Geschwindigkeit zugenommen ; und end- lich sind wir jetzt schon so weit herunter gekommen, dass wir tagtäglich die höllischen Erfindungen der Eisenbahnen und Tele- graphen, der Mikroskope und Teleskope benützen! Wie Schade, dass Aciassiz diese herrliche Degenerations-Theo- rie von Michelis, diese wirklich auf den Kopf gestellte Descen- denz- Theorie nicht gekannt hat. Er wäre dann vielleicht doch 88 nocli zu derselben bekehrt worden. Denn offenbar verträgt sie sich viel besser mit der Schöpfungsgeschichte des Moses, mit der Lehre vom Sündenfall , von der Erbsünde u. s. w. , als mit der sogenann- ten „Möblirungs-Theorie" von Agassiz, nach welcher der Schöpfer am Ende jeder geologischen Periode, seines Spielzeugs müde, die Welt in Trümmer schlug und dann die restaurirte Erde von Neuem möblirte , neue (vollkommnere !) Schöpfungs - Ideen in neuen Thier- und Pflanzenformen verkörperte. (Vergl. die Natürl. Schöpfungs- gesch. S. 56 — 64.) Da mithin die neue, anthropocentrische Dege- nerations-Theorie von MiCHELis die Aussicht eröffnet, den Mosai- schen Schöpfungs-Mythus in einer überraschenden (wenn auch et- was gezwungenen !) Weise mit der Darwin'schen Descendenz-Theo- rie auszusöhnen und zu verkuppeln, so steht ihr vielleicht noch eine grosse Zukunft bevor; besonders wenn die wirklich vorhan- denen Degenerations - und Rückbildungs - Phänomene übertrieben dargestellt, als allgemein gültige „Gesetze" aufgefasst, und auch überall dort gesucht w^erden, wo sie gar nicht vorhanden sind. Hat doch kürzlich ein phantasiereicher jüngerer Zoologe alles Ern- stes die Behauptung aufgestellt, dass die bekannte Descendenz- Reihe der Chordonier, Acranier, Cyclostomen und Fische umgekehrt aufgefasst werden müsse, und dass durch zunehmende Entartung und Rückbildung aus den Fischen die Cyclostomen, aus diesen der Amphioxus und aus letzterem die Tunicaten entstanden seien ^). Wenn wir diese stufenweise Degeneration mit consequenter Logik noch etwas weiter verfolgen, so werden wir uns leicht überzeugen, dass die Fische durch Rückbildung aus den Amphibien, wie diese aus den Säugethieren entstanden sind. Innerhalb dieser letzteren Classe ist es dann auch leicht nachzuweisen, dass die Monotremen von den Beutelthiereu , diese letzteren von den Affen und die Af- fen von den Menschen abstammen. Aber nicht allein die Affen, nein, auch alle anderen Säugethiere sind solchergestalt herunterge- kommene Seitenlinien des Menschen; und nicht allein die Säuge- thiere, sondern auch alle anderen Wirbelthiere sind im Grunde zu- letzt degenerirte Menschenkinder! Sie alle sind ( — natürlich in Folge des Sündenfalls ! — ■) durch fortgehende Entartung und Rück- bildung aus heruntergekommenen Menschen entstanden; Stück für Stück haben sie ihre menschlichen Attribute eingebüsst; erst die Sprache, dann den Gehirnbalken (corpus callosum), später die Milch- drüsen und die Haare. Bis zu den Fischen heruntergekommen, 1) Anton Dohrn, Der Ursprung der Wirbelthiere und das Prineip des Fun- ctionswechsels, Leipzig 1875. . 89 haben sie als Cyclostomen auch noch die Arme und Beine, sowie die Kiemenbogen und Kiefer aufgegeben ; ja der unselige Amphio- xus, der die schwersten Verschuldungen auf sich lud, hat schliess- lich sogar den Kopf verloren! Rein und fleckenlos steht in der ganzen Schöpfung nur der sündenfreie Adam da, der Urtypus des vollkommenen Wirbelthieres , der vom Schöpfer „nach sei- nem Bilde" geschaffen wurde! Dass sich Michelis bei diesem Schöpfungsakte den Schöpfer als einen wirklichen, leibhaftigen Organismus vorstellt, geht unter anderen aus folgender merkwürdigen Stelle hervor: „So können wir überhaupt die ganze Naturerscheinung als ein Gewordenes aus einem indifferenten chaotischen Stoffe nur innerhalb eines da- seienden Organismus verstehen. Um mich über diesen Ur Organismus an dieser Stelle, wo ich diesen Punkt nur be- rühre, nicht erkläre, mit der Kühnheit des Propheten aus- zudrücken: Gott der Schöpfer ist der Mutterschooss der Xatur, des Kosmos." (Haeckelogonie, p. 37, 38.) Bei diesem tiefsinnigen Grundgedanken der neuen Schöpfungs- geschichte von Michelis ist es gewiss sehr zu bedauern, dass der- selbe den wichtigsten Punkt „nur berührt, nicht erklärt" hat. Auch bekenne ich , dass es mir trotz angestrengten Nachdenkens darüber und trotz wiederholter aufmerksamer Leetüre der „Hae- ckelogonie" nicht gelungen ist, vollkommen über den Zusammenhang seiner Gedankenreihe klar zu werden und die ganze mystische Tiefe seiner umgestülpten Descendenz-Theorie vollkommen zu ergründen. ^Yahrscheinlich liegt das an der „unnatürlichen inneren Verrenkung des Denkens", an welcher ich nun schon seit fünfzehn Jahren leide, nämlich seit der ersten Leetüre von Därwin's Hauptwerk; viel- leicht auch an dem „senilen Marasmus", bis zu welchem nach der Ueberzeugung des katholischen Priesters die Kraft des Denkens im neuen Deutschen Reiche überhaupt herabgekommen ist. Das Urtheil hierüber muss ich dem geneigten Leser selbst überlassen und ebenso die Entscheidung darüber, ob Michelis' „theistische" Lehre von der überall rückschreitenden Entwickelung würdiger und erhebender ist, als unsere „pantheistische" Theorie von der fortschreitenden Entwickelung, wie sie im Monismus der Gegen- wart zum geläuterten Ausdruck gelangt ist. Nachdem ich auf diesen Blättern in Wilhelm His und Alexandee Goette ein Paar Gegner bekämpft habe, die mir vermöge ihrer starken empirischen Rüstung vorzugsweise gefähr- lich erschienen ; nachdem ich sodann in Louis Agassiz und Fried- 90 EICH MicHELis ein zweites Paar Feinde zu schlagen gesucht habe, welche vermöge der mystischen Verquickung von Entwicke- lungsgeschichte und Kirchendogma einen verwirrenden Einfluss in weiteren Kreisen ausüben können, liegt es vielleicht nahe, mich noch wider ein drittes Gegner-Paar zu wenden, welches unter den zahlreichen Feinden der heutigen Entwickelungsgeschichte in das Vordertreffen sich gedrängt hat, nämlich Albeet Wigand und Adolf Bastian. Indessen gestehe ich, dass ich weder Lust noch Müsse finde, den unglaublichen und wirklich gehäuften Unsinn, den diese beiden Schriftsteller der Entwickelungsgeschichte in den Weg gelegt haben, fortzuräumen. Auch ist das dicke Buch von Albeet Wigand: „Der Darwinismus und die Naturforschung New- tons und CüviEß's" (1874), sowie desselben Autors „Genealogie der Urzellen" ^) (1872) bereits von dem trefflichen, um die Förde- rung der Descendenz- Theorie hochverdienten Zoologen Gustav Jaegee in Stuttgart gründlich analysirt und richtig gewürdigt worden 2). Ebenso hat Heemann Müllee in Lippstadt (der Bru- der von Feitz Müllee -Desteeeo und der Verfasser des ausge- zeichneten Werkes über „die Befruchtung der Blumen durch In- secten", Leipzig 1873) eine treffliche Kritik des WiGAND'schen Buches in der Jenaer Literatur -Zeitung gegeben (No. 17, vom 25. April 1874). Die Widerlegung eines der furchtbarsten Gegner der heutigen Entwickelungsgeschichte, Adolf Bastian, überlassen wir diesem selbst. Jeder klar denkende und naturwissenschaftlich gebildete Leser, der in einem der zahlreichen Bücher dieses vielgereisten Ethnographen seine Angriffe auf die Descendenz-Theorie mit Auf- merksamkeit liest, wird sich durch einiges Nachdenken darüber leicht selbst das entsprechende Urtheil bilden. Das neueste, ge- gen die heutige Entwickelungsgeschichte gerichtete Werk von Adolf Bastian ist betitelt: „Schöpfung oder Entstehung. Aphorismen zur Entwickelung des organischen Lebens" (Jena 1875). An hochgradiger, wenn auch unfreiwilliger Komik seine übrigen Clown-Leistungen fast übertreffend, ist es denjenigen Lesern zu empfehlen, welche durch die Unke von Goette und durch die 1) Die voUkommen sinnlose und lächerliche Genealogie der Urzellen von Wigand hat meines Wissens keinen einzigen Anhänger gefunden. Indessen scheint mir Goette, wenn er dann und wann von „Descendenz-Theorie" spricht, eine ähn- liche Vorstellung im Sinne zu haben. 2) Gustav Jaeger, In Sachen Darwiu's , insbesondere contra Wigand. Ein Beitrag zur Eechtfertigung und Fortbildung der Umwandlungslehre. Stuttgart 1874. 91 „Haeckelogonie" von Michelis noch nicht genug erheitert sein sollten. Im Uebrigen verweise ich auf das, was ich im Vorworte zur III. Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" über Bastian bemerkt habe^). Doch genug des Kampfes! Freaen wir uns des Sieges, den die durch Daewin herbeigeführte Reform der Eutwickelungsge- schichte bereits errungen hat, und schreiten wir, unbeirrt von den Angriffen der Gegner, rüstig fort auf dem neugeöffneten Wege, der uns zu dem klar vor Augen liegenden Ziele unserer Wissen- schaft hinführt. Angesichts der Triumphe, welche die heutige Ent- wickelungsgeschichte bereits in kühnem Siegeslaufe erworben hat, konnte Eduard Steasbueger kürzlich mit Recht sagen : „Wie man sich der Descendenz-Theorie gegenüber auch verhalten mag, so lässt sich doch die Thatsache nicht bestreiten, dass bereits unter dem Einflüsse derselben die biologischen Wissenschaften in ganz neue Bahnen eingetreten sind. Dieser ihrer neuesten Ent- wickelung durch die Descendenz-Theorie verdanken die Natur- wissenschaften nunmehr auch den Einfluss, den sie auf alle Ge- biete des menschlichen Denkens auszuüben beginnen. Mit Span- nung folgt die ganze, geistig geweckte Welt heute ihren Fort- schritten und die auf naturwissenschaftlicher Basis entwickelten philosophischen Systeme erfreuen sich einer beispiellosen Theil- nahme. Dieses Bewusstsein ist es auch, das uns zu immer neuer Thätigkeit begeistert, und wenn wir Wochen und Monate der mühsamsten Erforschung einer einzelnen, scheinbar noch so unter- geordneten Thatsache opfern müssen, so regt uns doch ununter- brochen der Gedanke an, es handle sich hier um die Fundamente, auf denen der höchste Bau sich aufzurichten habe'^)." Darf ich schliesslich noch mit wenigen Worten andeuten, wie sich nach meiner Auffassung die verschiedenen Aufgaben der heu- tigen Entwickelungsgeschichte auf ihre Zweige zu vertheilen ha- ben, so glaube ich, unter Beziehung auf die in der Anthropogenie (S. 18) gegebene erste Tabelle, Folgendes hauptsächlich hervor- 1) Vergl. auch das Nachwort dazu in der V. Auflage (S. XXXII — XXXIV). Allerdings ist Adolf Bastian schon vor mehreren Jahren (in der Neujahrsnummer des Berliner „Magazin für Literatur des Auslandes") als der wieder erstandene Alexander Humboldt und als der wahre Heiland der Naturwissenschaft verherr- licht worden. Es ist aber zu fürchten , dass diese Prophezeihung durch das Werk über „Schöpfung oder Entstehung" nicht in Erfüllung geht. 2) Eduaed Strasburgee , Ueber die Bedeutung phylogenetischer Methoden für die Erforschung lebender Wesen. Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft. 1874, Bd. Vin, S. 56. 92 heben zu müssen. (Vergl. die beiden Tabellen am Schlüsse dieser Blätter.) Beide Hauptzweige der Biogenie (oder der organischen Entwickelungsgeschichte im weitesten Sinne!), erstens die Onto- genie als individuelle Biogenie, und zweitens die Phylogenie als paläontologische Biogenie, werden von den beiden Hauptzweigen der Biologie, nämhch von der Morphologie und von der Physio- logie im Auge behalten und gepflegt werden müssen; und dies gilt natürlich ebenso in der Botanik, wie in der Zoologie und Anthro- pologie. Nun war aber die bisherige Entwickelungsgeschichte fast aus- schliesslich das Verdienst der Morphologie, der Wissenschaft von den organischen Formen. Hingegen hat sich die eigentliche Physiologie (im heutigen Sinne), als die Wissenschaft von den organischen Functionen, um die Entwickelungsgeschichte nur sehr wenig, ja grösstentheils gar nicht gekümmert. Wie ich schon in der Anthropogenie (S. 15, 131) gelegentlich hervorhob, hat die Physiologie sich bisher ernstlich weder mit den Functionen der Entwickelung , noch mit der Entwicklung der Functionen be- schäftigt; und fast Alles, was wir darüber wissen, ist den Arbei- ten der Morphologen , nicht der Physiologen zu verdanken^). Trotzdem leuchtet es ein, dass die Entwickelungsgeschichte der Functionen für die Physiologie dieselbe Bedeutung besitzt, wie diejenige der Formen für die Morphologie. Die erstere spaltet sich ebenso wie die letztere in einen ontogenetischen und einen phylogenetischen Theil; und beide Theile sind hier sowie dort durch das biogenetische Grundgesetz innig verbunden. Es wird demnach die physiologische Entwickelungsgeschichte (die wir kurzweg Physiogenie nennen können) vor Allem die Entwickelung der organischen Functionen zu untersuchen haben. Als Physiontogenie (oder Physiogenie im engeren Sinne), als Keimesgeschichte der Functionen, wird sie den Entwicke- lungsgang der Lebensthätigkeiten während des individuellen Lebens ins Auge fassen; z. B. die Entwickelung der Ernährungsthätig- keiten, insbesondere der Circulation, der Excretion beim Embryo, die physiologischen Beziehungen des Nahrungsdotters zum Keime, 1) Als rühmliche Ausnahme unter den Physiologen ist hier Ernst Brücke in Wien hervorzuheben , der sowohl direct als indirect die Entwickelungsgeschichte vielfach gefördert hat. Hierdurch , wie durch die Kenntniss und Berücksichtigung der Morphologie überhaupt , hat sich dieser berühmte Physiologe einen viel weite- ren biologischen Gesichtskreis erworben, als er sonst den meisten Physiologen der Gegenwart und besonders der Schule von Ludwig zukommt. 93 die Entwickelung des Seelenlebens und der Sprache beim Kinde u. s. w. Hier wird auch der Physiologie des Wachsthums eine sehr bedeutende Aufgabe zufallen ; und Baee's „allgemeinstes Re- sultat: Die Entwickelungsgeschichte des Individuums ist die Ge- schichte der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung" — wird hier seine physiologische Geltung erlangen. Noch weniger cultivirt im Ganzen als diese Physiogenie des Individuums ist der zweite Hauptzweig der physiologischen Ent- wickelungsgeschichte, nämlich die Stammesgeschichte der Functionen, die wir kurzweg Physiophylie nennen wollen. Diese „Phylogenie der Lebensthätigkeiten" ist allerdings in ein- zelnen kleinen Partien sehr weit ausgebildet. Vor Allen ist hier die Phylogenie der menschlichen Sprache zu nennen, wie sie gegenwärtig das Hauptziel der vergleichenden Sprachforschung bildet. Wenn ge- genwärtig die Vertreter dieser höchst interessanten Wissenschaft sich bemühen, die historischen Veränderungen der Sprache in den ein- zelnen Stämmen nachzuweisen und z. B. den genetischen Zuzammen- hang der verschiedenen Zweige und Aeste des indogermanischen Sprachstammes in Form eines wirklichen Stammbaumes darzustellen (ganz analog den blastophyletischen Stammbäumen der Zoologie und Botanik), so offenbart damit die comparative Linguistik ihren eigent- lichen Charakter als „Phylogenie der Sprache", als ein Zweig der Physiophylie, mithin als eine echte Naturwissenschaft. Auch ein grosser Theil der Culturgeschichte fällt in diese Kategorie. Welche ungeheure Ausdehnung zeigt uns aber dies noch so wenig bebaute Gebiet, wenn wir bedenken, dass jede Lebensthätigkeit, jede physio- logische Function bei den Thieren und Pflanzen ebenso wie beim Menschen ihre eigene Geschichte hat, dass eine Jede sich „histo- risch entwickelt" hat! Welches interessante Object der Forschung bietet da z. B. die Phylogenie (oder genauer die Physiophylie) der Bewegungen! Wie anziehend und lehrreich gestaltet sich diese Aufgabe allein innerhalb der Wirbel thierreihe , wo der aufrechte Gang des Menschen zunächst zurückzuführen ist auf die kletternde Locomotion der baumbewohnenden Affen, weiterhin auf die Be- wegungsform der übrigen landbewohnenden Säugethiere, die auf allen Vieren laufen. Diese ist wieder ererbt von den Amphibien, die ihrerseits theils laufen , theils schwimmen , und die aus den wasserbewohnenden Dipneusten und Fischen hervorgegangen sind. Bei diesen letzteren wird sich dann die Ruderbewegung der Flos- sen als die Urform der Locomotion herausstellen, aus welcher auch die Ortsbewegung des Menschen ursprünglich hervorgegangen ist. 94 Doch das sind wissenschaftliche Disciplinen der Zukunft, bei deren selbständigem Aufbau die phylogenetische Speculation ebenso kühn als vorsichtig, ebenso umfassend als kritisch die Masse von v^erthvollen empirischen Materialien zu verwerthen haben v^ird, welche ihr von verschiedenen anderen Wissenschaften in so reichem Maasse geboten werden. Zunächst wird noch diese Physiophylie, ebenso wie die Physiontogenie, zum grössten Theile im engsten Zusammenhange mit der morphologischen Entwickelungs- geschichte, mit der Morphogenie bleiben. Denn wie die Morphologie überhaupt erst der Physiologie den Boden bereitet und die festen Handhaben geliefert hat, wie die jüngere Physio- logie sich erst spät von der älteren Anatomie emancipirt und ab- gelöst hat , so wird die Physiogenie zu selbständiger Wirksamkeit erst viel später gelangen, wenn die Morphogenie das ungeheure Material, dass ihr jetzt vorliegt, erst mehr erfasst und bewältigt haben wird. Bis jetzt ist die Wissenschaft, die wir kurzweg „Ent- wickelungsgeschichte" nennen, eben zum grössten Theile nur Bio- genie der Formen, nur Morphogenie gewesen. Die Morphogenie, diese „morphologische Entwickelungsge- schichte", ist in ihren beiden Hauptzweigen, wie bekannt, ebenfalls höchst ungleichmässig entwickelt. Der bei weitem grösste Theil von der ganzen umfangreichen Literatur der Entwickelungsge- schichte betrifft bloss die individuelle „Keimesgeschichte der For- men" oder die Morphontogenie (Morphogenie im engeren Sinne). Da- gegen haben wir die paläontologische „Stammesgeschichte der Formen", die Morphophyhe, erst ernstlich in Angriff genommen, seit- dem uns die neu erstandene Descendenz-Theorie und das biogene- tische Grundgesetz den Schlüssel dazu geliefert haben. Sowohl die paläontologische als die individuelle Entwickelungsgeschichte der Formen wird sich weiterhin in vier verschiedene Zweige spal- ten, entsprechend den vier verschiedenen Stufen der organischen Individualität, die sich beim Thiere ebenso wie bei der Pflanze unterscheiden lassen, nämlich Plast i de, Idorgan, Person und Stocki). 1) Die vier Hauptstufen der organischen Individualität, die ich hier unter- scheide , habe ich näher begründet im ersten Bande meiner Monographie der Kalk- schwämme (S. 89 — 125). In der generellen Tectologie (im dritten Buche der gene- rellen Morphologie, Bd. I, S. 239 — 374) hatte ich sechs Stufen unterschieden. In- dessen sind zwei derselben, die Antimeren und Metameren nicht als selbst- ständige, den vier anderen Stufen gleichwerthige Kategorien beizubehalten, sondern dem ,, Idorgan" unterzuordnen (Kalkschwämme, Bd. I, S. 103). Die vier Stufen, welche die Botaniker von der pflanzlichen Individualität unterscheiden , sind im We- sentlichen dieselben: 1) Zelle, 2) Organ, 3) Spross und 4) Stock. 95 Die Morph 011 toge nie (oder die Morphogenie im engeren Sinne), die „Keimesgeschichte der Formen" wird demge- mäss in vier verschiedene Zweige zerfallen , die auch bereits that- sächlich, bald mehr bald weniger bestimmt, von vielen Autoren unterschieden w^orden sind; nämlich: Entwickelungsgeschichte der Zellen (und Gewebe), der Organe, der ganzen Personen, und der Stöcke. Den ersten Zweig, der als Ausgangspunkt für das Ver- ständniss der ganzen Morphogenie gelten muss, bildet die Hi Ste- gen ie (schärfer wohl als „Plastidogenie" zu bezeichnen), die Kei- mesgeschichte der Piastiden, der Cytoden und Zellen, und der aus diesen zusammengesetzten Gewebe. Dieser Specialzweig beginnt von der neueren Histologie mit vielem Eifer in Angriff genommen zu werden. Viel mehr cultivirt aber, und unter allen Zweigen der Morphogenie am ^Yeitesten ausgebildet ist der zweite derselben, die Organogenie, oder die Keiraesgeschichte der Organe; sie ist bisher so vorwiegend von den Embryologen betrieben worden, dass sie oft als „Entwickelungsgeschichte" schlechtweg, im engsten Sinne bezeichnet wurde. Ebenfalls sorgfältig ist im Ganzen der dritte Zweig, die Blastogenie oder die Keimesgeschichte der Personen erforscht; dahin gehört bei den höheren Thieren die so- genannte „Entwickelungsgeschichte der Leibesform"; bei den nie- deren Thieren die Geschichte der Metamorphosen, des Generations- w'echsels u. s. w. Zu der letzteren gehört theilweise auch schon der vierte Zw^eig, die Cormogenie oder die Keimesgeschichte der Stöcke; im engeren Sinne wäre diese nur bei den stockbil- denden Pflanzen und Thieren, bei den Spongien, Hydroiden, Ko- rallen, Tunicaten u. s. w. zu suchen; im weiteren Sinne aber kön- nen wir auch die individuelle Entwickelungsgeschichte der aus freien Personen zusammengesetzten socialen Individualitäten dar- unter verstehen, der Familien, Gemeinden, Staaten u. s. w. Das ist ein Theil der Oekologie und der Social -Wissenschaft. Während diese vier Zweige der individuellen Morphogenie bereits mehr oder weniger als selbständige Disciplinen der Ent- wickelungsgeschichte anerkannt sind, werden die entsprechenden vier Zweige der paläontologischen Morphogenie sich diese An- erkennung erst zu erringen haben. Doch ist es schon jetzt klar, dass auch diese Morphophylie (oder eigentlich „Morphophylo- genie"), diese wahre „Stammesgeschichte der Formen" sich ebenfalls entsprechend den vier verschiedenen Individualitätsstufen in vier Zweige gliedern muss. Von diesen ist der erste Zweig, die Histophylie oder die Stammesgeschichte der Zellen und der 96 aus ihnen zusammengesetzten Gewebe, noch fast gar nicht bear- beitet. Einen Ausgangspunkt für dieselbe bietet die Gastraea- Theorie; reiches Material dafür liegt in der noch wenig geordneten „vergleichenden Histologie". Dagegen ist bereits ausserordentlich weit entwickelt der zweite Zweig, die Organophylie, die Stam- mesgeschichte der Organe ; denn das Meiste was die „vergleichende Anatomie" bisher erstrebt hat, war im Grunde nichts Anderes. Freilich geschah das grösstentheils unbewusst; erst seit Kurzem verfolgt sie ihr phylogenetisches Ziel mit vollem Bewusstsein. Aehnliches gilt vom dritten Zweige, von der Blastophylie oder der Stammesgeschichte der Personen; denn deren Aufgabe fällt zusammen mit derjenigen des „Natürlichen Systems", das uns ge- genwärtig als Stammbaum gilt. Der beste Theil der ungeheuren Arbeit, die auf das Ziel eines „natürlichen Systems" der organischen Formen gerichtet war, verfolgte unbewusst die zusammenhängende Stammesgeschichte der Person-Formen. Theilweise gilt das auch noch vom vierten Zweige, von der Cormophylie, der Stara- mesgeschichte der Stöcke; im engeren Sinne wäre diese bloss bei den stockbildenden Thieren und Pflanzen zu suchen; im weiteren Sinne könnte man darunter auch die Entwickelungsgeschichte der aus freien Personen zusammengesetzten socialen Verbände, der Fa- milien, Gemeinden, Staaten u. s. w. verstehen. Das ist ein grosser Theil- der Völkergeschichte, der sogenannten „Weltgeschichte". Alle diese verschiedenen Zweige der Entwickelungsgeschichte, die jetzt noch theilweise weit auseinander hegen und die von den verschiedensten empirischen Erkenntnissquellen ausgegangen sind, werden von jetzt an mit dem steigenden Bewusstsein ihres ein- heitlichen Zusammenhanges sich höher entwickeln. Auf den ver- schiedensten empirischen Wegen wandelnd und mit den man- nichfaltigsteu Methoden arbeitend, werden sie doch alle auf ein und dasselbe Ziel hinstreben, auf das grosse Endziel einer uni- versalen monistischen Entwickelungsgeschichte. Dabei wird aber der philosophische Weg für alle derselbe sein: der Doppelweg der Induction und Deduction. Alle diese Zweige der Entwickelungsgeschichte werden beständig der nothwendigen Wech- selwirkung sich bewusst bleiben müssen, in welcher die empirische und die philosophische Forschung sich ergänzen , und welche Carl Ernst Baer mit den Worten bezeichnet hat: Beobachtung und Reflexion. Anhang: Zwei Tabellen zur Uebersicht über die verschiedenen Hauptg-ruppen der organischen Entwickelungs - Erscheinungen und über die entsprechenden Hauptzweige der organischen Entwickelungsgeschichte. 98 Erste Tabelle: üebersicht über die Hauptgruppen der organischen Entwickelungs - Erscheinungen. Ä. Erste Haupt- gruppe der organischen Entwickelungs- Erscheinungen : Ontogenesis. Phaenomene der individuellen Entwickelung. I. Morphogenesis. Individuelle Entwickelung der organischen For- men (der Indivi- duen aller vier Kategoiüen). Histogenesis. Individuelle Entwickelung der Piastiden (Cytoden und Zellen) und der daraus zusammengesetzten Gewebe. Organogenesis. Individuelle Entwickelung der Organe und der daraus zusammen- gesetzten Organ-Systeme und Apparate. Blastogenesis. Individuelle Entwickelung der Personen (in ihrer Gesammtform und äusseren Erscheinungsweise). Ontetische Entwickelung der einzelnen „Species". Cormogenesis. Individuelle Entwickelung der Stöcke oder Cormen (sowie der aus Personen zusammengesetzten socialen In- dividualitäten höheren Ranges: Familien, Gemeinden , Staaten). II. Physiogenesis. Individuelle Entwickelung der Lebensthä- tigkeiten oder der physiologischen Fvinctionen (v'om Beginne ^ bis zum Ende der individuellen Existenz). Zweite Haupt- gruppe der organischen Entwickelungs- Erscheinungen. Phylogenesis. Phaenomene der paläontologischen Entwickelung. I. Morphophylesis. Paläontologische Entwickelung der organischen Formen (der Stämme oder Phylen). Histophylesis. Paläontologische Entwicke- lung der Piastiden (Cytoden und Zellen) und der daraus zusammengesetzten Ge- webe. Organophylesis. Paläontologische Ent- wickelung der Organe und der daraus zu- sammengesetzten Organ - Systeme und Ap- pai-ate. Blastophylesis. Paläontologische Entwicke- lung der Personen (in ihrer Gesammtform und äusseren Erscheinungsweise). Phyle- tische Entwickelung der stammverwandten „Species" -Reihen. Cormophylesis. Paläontologische Entwicke- lung der Stöcke oder Cormen (sowie der aus Personen zusammengesetzten socialen Individualitäten höheren Ranges : Familien, Gemeinden , Staaten). II. Physiophylesis. Paläontologische Entwickelung der Lebens- thätigkeiten oder der physiologischen Functionen (vom Be- ginne der Generationen -Reihe bis zur Gegenwart). 99 Zweite Tabelle: üebersicht über die Hauptzweige der organischen Entwickelungsgeschiclite. Erster Haupt- zweig der Biogenie oder der orga- nisclieu Ent- ■wickcluugs- geschiohte: Ontogenia. Individuelle Entwickelungs- gescMchte. I. Morphogenia. Keimesgeschichte der Formen, oder individuelle Ent- wickelungsge- schiclite der or- ganischen Indivi- duen aller vier Kategorien. Histogenia. Keimesgeschichte der Plasti- den (Cytoden, Zellen, Gewebe). Gewöhn- lich kurzweg als ,,Entwickelungsgeschichte der Gewehe" bezeichnet. Organogenia. Keimesgeschichte der Or- gane (Organ-Systeme und Apparate). Der am weitesten ausgebildete Theil der bis- herigen Entwickelungsgeschichte. Blastogenia. Keimesgeschichte der Per- sonen (in ihrer Gesammtform). Sogenannte ,, Entwickelungsgeschichte der Leibesform", gut ausgebildet. Cormogenia. Keimesgeschichte der Stöcke oder Cormen (sowie der Familien, Gemein- den, Staaten). Wenig bearbeitet. Hierher ein Theil der Oekologie und Sociologie. II. Physiogenia. Keimesgeschichte der Functionen oder in- dividuelle Entwickelungsgeschichte der Lebensthätigkeiten (vom Beginne bis zum Ende der individuellen Existenz). B. Zweiter Haupt- zweig der Biogenie oder der orga- nischen Ent- wickelungs- geschichte: Phylogenia. Paläontologische Entwickelungs- geschichte. Morphophylia. Stammesge- schichte der Formen, oder paläontologische Entwickelungs- geschichte der stammverwandten Formengruppen. 1. Histophylia. Stammesgeschichte der Pla- stiden (Cytoden, Zellen, Gewebe). Fast noch gar nicht bearbeitet. 2. Organophylia. Stammesgeschichte der Or- gane. Sehr weit entwickelt. TJnbewusst ein Hauptobject der ,, vergleichenden Ana- tomie". 3. Blastophylia. Stammesgeschichte der Per- sonen. Sehr weit entwickelt. Unbewusst ein Hauptobject der ,, Natürlichen Syste- matik". 4. Cormophylia. Stammesgeschichte der Stöcke (Familien, Gemeinden, Staaten). Noch wenig bearbeitet. Hierher ein grosser Theil der Völkergeschichte. II. Physiophylia. Stammesgeschichte der Functionen oder pa- läontologische Entwickelungsgeschichte der Lebensthätigkei- ten (vom Beginne der Generationen-Eeihe bis zur Gegenwart). *7 H' Druck von Ed. Frommann in Jena. kv^ ^^■•m V~-?v^-^' >€ * ■ ■ :x) ■«^'• />' ''^ ^: m:M