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PSYCH.

ZUR MECHANIK DES GEISTES

VON

WALTHER RATHENAU

19 18 S. FISCHER VERLAG BERLIN

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Achte und neunte Auflage Alle Rechte, besonders das dcr Obcrsetzung, vorbehalte

Was nach aufien als Individaum erscheint, das erscheint nach innen als Assoziation. Und was zur Assoziation zusaramenfafit, das ist, koUektir betrachtet, Ichgefuhl, elementar betrachtet, ^^^^®» Ungeschriebene Schriften L.

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DEM JUNGEN GESCHLECHT sei dies Buch gewidmet

EINLEITUNG UND RECHENSCHAFT

Jede Frage, die wir zu Ende denken, fiiihrt ins Uberirdi- sche. Von jedem Punkt, auf dem wir stehen, ist nur ein Schritt bis zum Mittelpunkt der Welt. Die Dinge des Tages vergleichen sich dem Spiegelbild auf einer Glaskugel: im engen Bezirk, dem Auge zunachst, scheinen die Gegenstande deutlich und wirklich; im Umkreise lost sich das Bild in verschwimmende Flachen.

Jeder Schritt unseres Handelns ist ein Doppelschritt : halb irdisch, halb transzendent. Wir sorgen in einem fur Gegenwart und Zukunft, fur Leben und Tod, fur Wirklichkeit und Traum. Wahlen und erfiillen wir Pflichten gegen Mitwelt und uns, Nachkommen und Gemeinschaft, nicht blofi in dumpfer Folge ungepriiften Herkommens, normaler Erziehung und mechanischer Gewohnheit, so bekennen wir bewufit oder unbewufit transzendente Uberzeugungen. Wir woUen das Gute, wir glauben an das Kiinftige, wir verlangen Gerechtig- keit, wir anerkennen das Allgemeingiiltige, wir verebren das Ewige auch in der kleinsten unserer Handlungen, soweit sie nicht tierisch ist; somit leben und wirken wir unablassig im Gebiet des Transzendenten. ^^

Solange sie ihre Kraft bewahrten, konnten die dog- matischen Religionen dutch Botschaften, OfFenbarungen

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*i|nd' ^J'crktinlJiguQrgen den tatigen Menschen seiner uber- irdischen Sorgen entheben. Sie verloren diese Kraft durch Toleranz; denn dogmatische Wahrheit ist aus- schliefilich, was ihr widerstreitet ist Irrtum und Liige. Wird Irrtum und Liige geduldet, konkurrierende Lehre gestattet oder gar durch Versohnung bekraftigt, so ist die gottgegebene Gewifiheit zur Sache der Geburt, der Geographie oder der freien Wahl geworden und hier- durch vernichtet. WahreDogmatikverlangtAbschliefiung, Glaubenskriege oder Ketzergerichte ; ist sie dieser Be- hauptungsmittel nicht mehr fahig, so kann sie noch ein- zelnen bedrangten Gemiitern Zufluchtsstatten bieten, jedoch nicht mehr unantastbare Weltwerte und Lebens- ziele statuieren. Schon dadurch, daJB sie Austritt, Uber- tritt und somit Auswahl freistellt, zersplittert sie ihre Kollektiv-Verantwortlichkeit; sich selbst, Gott und der Welt verantwortlich wird nun der Einzelne, der zusehen mag, wie er mit irdischen und gottlichen Dingen fertig wird.

Bei diesem, nicht glaubenslosen aber glaubensschwan- kenden Zustande der Kulturwelt sollte man annehmen, dafi jeder Moment des Aufatmens von taglicher Arbeit und Betaubung ergriiFen werde, um zu den Gestirnen aufzublicken und fiir das unermefiliche Chaos der Tatig- keiten und Willenskrafte Richtung und Rechtfertigung zu suchen. Dafi es nicht geschieht, dafi vielmehr, ab- gesehen von Romantizismen, aberglaubischen Bediirf- nissen gesattigter Kreise und echter Sehnsucht einsamer Geister die heutige Weltstimmung alles transzendente Bestreben als unfruchtbare und zeitraubende Traumerei verurteilt, dafiir scheinen zwei Umstande verantwortlich.

Zum ersten fiihlt unsere Zeit sich eingespannt in

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einen Gespensterkampf: abgestorbene Dogmen morgen- landisch-nomadischer Herkunft kampfen gegen die In- toleranz einer auf klarerisch-materialistischen Epoche, die im Sterben popular wurde. In diesem Kampf Stellung nehmen, hiei2)e, furDogmatismus oder Nihilismus optieren. Die Geisteskrafte unserer Zeit lehnen es ab, einer Partei zum Siege zu verhelfen, von der nur das eine feststeht, dafi sie, zur iViacht gelangt, tief reformbediirftig und auiSerst insolent auftreten wurde. Uberdies sagt ein dunkles Gefiihl, daii5 die Wahrheit nicht in der Mitte liegt, sondern auli^erhalb der Axe dieser Polaritat. ^

Zum zweiten hat die philosophische Disziplin unseres Zeitalters sich dem Leben versagt. Nachdem Philosophic die messenden Wissenschaften aus ihrem Haupte abge- spalten hatte, strebte sie selbst danach, exakte Wissen- schaft zu werden. Daher verlor sie Naivitat, Uber- zeugungskraft, Warme und Phantasie, und gewann Kritik. Dem Leben wurde sie fremd; denn die Schritte der Menschheit sind nicht bezeichnet durch die ausgebrannten Schlacken negativer Wahrheiten, sondern durch dieMonu- mente des schonen organischen Irrtums, der in der Tiefe seiner Notwendigkeit lebendige Wahrheit birgt. Nun ruht sie, gesattigt von der Erkenntnis, dal5 alles Ge- scheite schon einmal gedacht worden ist, in historisch- kritischer Betrachtung ihrer selbst, als Huterin und Ver- walterin unerhorter Schatze, die der Welt nicht dienen. Ein wissenschaftliches Altenteil hat sie sich vorbehalten: das Studium der intellektualen Krafte, falschlich Seelen- kunde genannt, das ihr uber lang oder kurz von den messenden Tochtern abgenommen werden wird. Trotz dieser aktuellen Beschaftigung kann man nicht verspiiren, dafi die Konigin der geistigen Disziplinen dem Zeitalter

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die Gesetze noch vorschreibt, die sie ihm schuldet: Richtungen, Werte, Ziele.

So bleibt unsere Zeit seelisch indifferent, indem sie weder aus ihren Kampfen noch aus ihren Besitztiimern VerheiC>ungen erwachsen sieht, die ihr Leben und Streben rechtfertigen. Wie konnte sie sich der IndifFerenz ent- reifien? Von welcher Seite diirfte sie ihre frohe Bot- schaft erwarten?

Alle Religionen wurzeln im dogmatisch-mythologischen. Selbst die klaren und reinen Lehren der Evangelien be- diirfen des Glaubens an Unumsto£>lichkeiten. Wenn aber die AbschafFung einzelner Grundwahrheiten uner- lafilich, der Zweifel an anderen duldbar erscheint: wo soil der Glaube halt machen? 1st nicht jede Abgrenzung doppelte Willkiir? Wer nicht fiir mich ist, der ist wider mich; die Lauen will ich ausspeien aus meinem Munde.

Sind neue Religionsstifter zu erwarten? Bisher ist keine uns bekannte Religion anders entstanden als dutch sichtbare, unbezweifelte Wunder. Das Wunder aber setzt die bessere Halfte des Glaubens bereits voraus; Wunder geschehen vor Solchen, die sie wollen, nicht vor IndifFerenten; sie dienen nicht zur Erweckung sondern zur Rechtfertigung des Glaubens.

Kann eine philosophisch-intellektuale Wissenschaft uns Uberzeugungen geben? Sie kann ein Gebaude subtiler Argumente und Schliisse errichten, Undinge beseitigen, die dem perpetuum mobile der Mechanik entsprechen, sie kann mit leichter Hand iiber dem Fundament der zeitlichen Erfahrung ein Gewolbe der Weltanschauung runden, im Stillen besorgt, dal^ nicht eine Anderung dieser Erfahrung den Bau gefahrde; sie kann vor allem Denkformen lie fern, die dem Traumen der Zeit ab-

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gelauscht, unbewuli)tenWillensformenSprache leihen; ein edles Material fiir den Geist, der sich selbst seine Schale baut.

Aber sie kann nicht, und wenn es fiir den Augenblick ware, Uberzeugung schaiFen und Werte setzen, denn sie arbeitet mit der Reservatio mentalis. Sie weii^, es geht auch umgekehrt. SchluI5folgerungen konnen nicht warmen und ziinden; der Funke steigt nur aus dem Unbewiesenen, Unbeweisbaren , das solche Kraft der Ahnung in sich tragt, dal5 unser wissendes Gemiit von dem Geheimnis innerer Wahrheit langst ergrifFen und iiberzeugt ist, bevor noch der miligelaunte Verstand sein skeptisches: Wieso? und Warum? gesprochen hat. Wenn Paulus die Worte ausspricht: „so ware ich nur", so jauchzt das Herz lachend und glaubensvoll in den Larm der klingenden Schelle und des tonenden Erzes.

Wissenschaft kann Tatsachen feststellen, Zusammen- hange ermitteln, Gesetze erweisen; sie kann nicht Glauben und innere Gewissheit zeugen; sie wirkt kausal, nicht final. Der tiefste Irrtum des sozialen Denkens unserer Zeit lag darin, dal^ man glaubte, von der Wissenschaft Willensimpulse und Idealziele verlangen zu diirfen. Was wir glauben, was wir erhofFen, wofiir wir leben, wofiir wir uns opfern, das wird uns niemals der Verstand verkiinden; Ahnung und Gefiihl, Erleuch- rung und Intuition fiihren uns in das Reich der Machte die den Sinn unserer Existenz beschliefien. Sinnlos, zu- fallig und ungerechtfertigt bleibt jegliches Leben und Lebenswerk, wenn es sich auf die Krafte des rechnen- den und planenden Geistes stiitzt; und hierin liegt der tiefe transzendente Trost des Daseins, dafi der selbst- bewui^te Verstand seine letzte Aufgabe darin findet,

sich selbst zu beschranken und zugunsten tiefinnerer, geheimnisv oiler Krafte zu entsagen, die wortlos unser Gemut beriihren.

Dai5 unserer Zeit die Quellen wieder emporbrechen soUen, die bestimmt sind, das Leben aus der Erstarrung A^ mechanistischen Selbstzweckes zu losen, dafur sind Zei-

chen gegeben. Das erste, was geschieht und was ge- schehen mufi, ist, daH) die Welt sich ihrer seelischen Ar- mut bewufit wird, dafi sie aus der Benommenheit, dem Larm und der Blendung ihrer Berechnungen, Produk- tionen, Transporte und Schaustellungen aufatmet, um innere Stimmen zu vernehmen; dal5 sie die Dinge der Seele ernst nimmt, ernster als ihre Tageswiinsche, ernster als ihr tagliches Brot.

Dann werden sich Stimmen erheben, schiichterne, von Zweifel und Scham lange zuriickgedammte; zage Hande werden die pressierte Geschaftigkeit am Armel fassen und Gehor fiir die Angste des Herzens erbitten. Ohne Scheu vor dem Bannstrahl orthodoxer Wissen- schaft werden Menschen auf hellem Markte zusammen- treten, um ihre Sehnsucht und Glaubensnot zu bekennen, erleuchtete Geister werden das Wort ergreifen und der Menge nicht alte Mythen, trockene Wunder, liisterne Erweckungen und geile Ekstasen, sondern Zuversichten des Geistes und Erlebnisse der Seele verkiinden.

Freilich entsteht Gefahr; denn wie die gleiche Speise, vom Tier verschlungen oder vom Menschen verzehrt, sich verschieden wandelt, so materialisiert sich der trans- zendente Gedanke nach Art des menschlichen Gefafies, dem er zuteil wird. Die reine Botschaft der Liebe und hriosung konnte inmitten der Zivilisation so tief im StofF versinken, dafi befreundete Mutter Gottes, festlich ge-

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Ideidet, Visiten abstatten, daC) heiligeSymbole in Kutschen spazieren fahren, dal5 die Gottheit Biindnisse schliel^t und Prozesse fiihrt. Auch diesmal wird das Erstarken der Seelenkrafte durch Materialisationen fiihren; Wahr- sagerei und Aberglauben, Konventikel und Muckereien, Frdmmelei und Intoleranz, Puritanismus und Askese, Reaktion und Mystizismus werden in neuen Formen wuchern. So spriefit an verwiisreten Statten eine Un- krautflora hervor, damit der Boden fiir edlere Pflanzun- gen gelockert werde. Aber das Leben des geistigen Mifiwachses wird zeitlich, ortlich sich enger beschranken als in friiheren Epochen und der reinen Saat Raum zum Wachstum und zur Ernte lassen.

Gleichviel; ist es uns beschieden, dafi wir nur durch Sumpf und Dickicht den Gestirnen folgen diirfen, ist es uns Gesetz, dafi wir, um verjiingt zu werden, stets von neuem Herd und Dach verlassen, den Stiirmen des Irr- tums und des Zweifels uns preisgeben miissen, so mag auch dieser Weg der Welt durch Schmerz und Dunkel fiihren; er wird beschritten, denn die Machte wollen nicht, dai5 wir in feiger Ruhe und eitlem Frieden das Geisteserbe der Jahrhunderte verzehren.

Diese Erwagung stellte ich der Befangenheit ent- gegen, die jeden befallt, der sich gedrangt fiihlt, eigene Bekenntnisse von seelischen und iiberirdischen Dingen auszusprechen. Denn unsere Zeit hat ihre ungeistige Neigung darin bekraftigt, daH) sie mit dem Schleier innerer Scheu, der ehedem die Erfahrungen des Sinnenlebens be- deckte, in gesteigerter Empfindlichkeit die Erfahrungen der Seele umschlingt. Man will lieber Wiistling scheinen als Kopfhanger, und so werden wir uberschiittet mit Ausmalungen gleichformiger jugendlicher Libertinagen,

wahrend wir iiber die intuitivenErlebnisse unserer Lebens- genossen kaum anderes erfahren, als etwa die herkomm- lichen Kampfe des Geistlichen, der mit staatlichen Ver- ordnungen in leicht vorauszusehenden Widerspruch ge- rat. So war es ein groI5es und gliickliches Erlebnis des ^ deutschen Geistes, dal5 in Emanuel Quint, dem klassi-

schen Buche unseres Lebensalters, der Seelenlosigkeit der Epoche ein Spiegel vorgehalten wurde.

Eine weitere Hemmung trat hinzu. Unser Arsenal an fertigen Einzelgedanken ist unermefilich. Die Menge der behaupteten, zuriickgestellten , bewiesenen oder widerlegten Wahrheiten ist so grofi, daI5 jede Darlegung, die nicht akzidentell Erlebtes widergibt, sondern, um verstandlich zu sein, bei aller Bescheidenheit der Mei- nung sich der stolzen Gangart der Systematik bedient, in Gefahr gerat, abgetretene oder verbotene Straiten zu durchlaufen, wenn sie den Landschaften zustrebt, die dem Blick erschlossen werden sollen. Vermeidet sie das Ubel dutch Wahl aphoristischer Formen, die im Sprung ihr Terrain erobern, so mull> sie bei allem Vorteil leichterer und unverantwortlicher Aussprache auf Vollstandigkeit, Abrundung und Klarheit verzichten. Was hilft es, sich vorzuhalten, dafi auf dem Schachbrett jeder mogliche Zug schon tausendmal gezogen, jeder AngriiF und jedes Endspiel registriert ist, und dennoch ein neues, mutig gefiihrtes Spiel ein berechtigtes Abbild der Partnerschaft und somit ein echtes Geschehnis bietet? Es bleibt ein beklommenes Beginnen, das schlieMch ausgelost wird durch die Erkenntnis : was kommt es auf mich an?

Auf dich, Leser, auf dich kommt es an, auf deine Gedanken und deine Beschliisse. Konnen meine Ver- suche dich aus den zweckhaften Banden des Tages auf

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Augenblicke losen, konnen meine Hande den Knauel der Probleme greifbar gerundet in deine Hande legen, kon- nen getreulich gesehen und beschrieben die Erlebnisse eines suchenden Geistes deiner priifenden Empfindung uberantwortet werden, so ist genug geschehen. Mich trostet das einige Bewul5tsein, dafi die Dinge, die ich zu sagen habe, mogen sie sich als alt oder neu, stark oder anfechtbar erweisen, nicht Konstruktionen sind, sondern gedeutete Empfindungen und Erlebnisse, die mir, einem Menschen, den ich nicht als leichtglaubig und vermessen kenne, wahrer und fester gefiigt erscheinen als die Be- gebnisse und Bilder der Welt, an die wir zu glauben gewohnt sind. So bleibt denn nichts als das Wort Gestandnisse, die nun einmal jedes Treiben umfassen, das nicht an Einzeldinge und Tatsachen gekettet ist. Wir spahen unseren Schatten in der Sonne. Wir werfen das Tau unserer VorsteJlungen in die Wolken, um unsere Schwere aufzuheben; nicht aus Unkenntnis der Gefahr und nicht aus Freude am Wagnis, sondern weil innere Not uns treibt, in Sehnsucht und Zuversicht.

Eine knappe Rechenschaft des Handwerkszeuges mag diese Rechtfertigung beschliefien.

Wer den Versuch gewagt hat, ein erschautes Bild un- sichtbarer Weltzusammenhange in Gleichnisse und Denk- formen des vereinbarten Lebens zu iibersetzen, der kennt, wenn nicht eben der gottliche Genius ihm dik- tierend liber die Schulter zu blicken pflegt, die Jahre der Sorge und des Zweifels, wo keiner der stromen- den BegrifFe, keines der wechselnden Zeichen und Sym- bole das unzweifelhaft, aber unaussprechlich Erblickte decken und erschdpfen will. Grundkontraste und Ur- gestalten kehren wieder, aber sie verschmahen die alte

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Benennung und Einordnung; neue Ausblicke erscheinen, aber sie erweisen die Unzulanglichkeit des langst Er- worbenen. Und scheint nun alles geordnet, benannt, dargestellt, von fernster Feme dem Urbild nicht allzu fremd, so kommt die Sorge der perspektivischen Tau- schung: am Ende besteht die Ahnlichkeit nur fiir den Urheber?, am Ende hat er sich in das Bild verguckt, so dalb es ihm in alien Sonnenflecken erscheint, und des- halb versaumt, es dem Unbeteiligten naherzubringen, es zu gestalten. Und mag es gestaltet sein, so bleibt die Frage : ist bei aller menschlichen Einseitigkeit nicht dieser Ausschnitt allzu subjektiv gegrifFen? Ist nicht, in der falschen Meinung, liber alles Umgebende habe man sich verstandigt, die Umfassungslinie launisch, ja schruUen- haft willkiirlich gewahlt worden?

In diesen Bedenken ist man geneigt, Priifwerkzeuge zu schaffen, um von neuem die Objektivitat des Blickes zu scharfen; einige, deren ich mich bediente, mochte ich nennen, weil ich auch diese Rechenschaft im Wesen des Gestandnisses erachte.

1. Ein Element scheint mir nur dann wirklich ge- geben und zum Aufbau tauglich, wenn es in beiden Reihen, der des Bewull>tseins und der der Erscheinung reziprok gespiegelt sich aufweisen lafit. Ein BegrifF der Erscheinungsreihe, wie zum Beispiel der des Todes oder der Vererbung, kann erst dann in den Bau sich fiigen, wenn sein deutliches Korrelat in der Sphare der inneren Erfahrung zutage gefdrdert ist,

2. Indem wir die Gesetzmafi)igkeiten unseres Geistes in das Chaos der Welt projizieren, ruhen wir nicht, bis wir, um der Verstandigung mit uns selbst und mit an- dern zu geniigen, die Zusammenhange so greif bar ge-

macht haben, dafi sie sinnlich erlebten Bildern gleichnis- arrig entsprechen. Es genii gt nicht, die Welt in ein Ge- setzbuch zu verwandeln; sie soil uns auch als Bilderbuch dienen; ja ihre lUustrationen machen schliei^lich den ganzen Reichtum unseres erworbenen Besitzes aus. 1st doch auch die abstrakteste Sprache unserer Gedanken nichts anderes als ein verblafiter Hieroglyphenkodex greif barer Sinnlichkeiten. Gibt nun diese gewissermafien physische Bildhaftigkeit unseres Erfassens dem Verstande eine Sicherheit der Kontrolle, selbst da, wo das Modell- bild nur vorschwebt, ohne dafi es sachlich aufgewiesen werden konnte, so geniigt doch diese Anschaulichkeit unserem letzten Empfinden noch nicht. Wir verlangen eine weitere Bestatigung, namlich die des Gefiihls: so etwa, wie bei einem Bilde die geometrische Ahnlichkeit uns kalt lal5t, so lange nicht die empfindungsmafiig im Unbewufiten gelagerte innere Illusion hinzutritt. Auch im Gebiet des Gedankens entsteht die seelische Uber- zeugungskraft eines Satzes unabhangig von der dialek- tischen; sie zeigt sich aufierlich, wenn ein Satz sich auf das aul5erste beweislos vereinfachen laI5t und hierdurch an einleuchtender Kraft gewinnt. Die Gleichnisse des Neuen Testamentes haben eine solche Macht, deren Wesen, auf die Spitze getrieben, sich dergestalt aus- sprechen liefie : was in sich widerspruchslos und innerlich wahr ist, das ist so einfach, dafi ein Kind es versteht. Was in letzter Linie kompliziert bleibt, enthalt Wider- spriiche, ist zum mindesten schief und meistens falsch. 3. Die grofien Glaubensformen derMenschheit sind nichts Zufalliges; ihre Zahl ist beschrankt und moglicher- weise geschlossen. Sucht man diese Uberzeugungen von den Zufalligkeiten ihrer Materialisationen zu befreien.

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so erscheinen sie, mathematisch betrachtet, als Partial- losungen; praktisch ahneln sie uralten, immer wieder auftauchenden , scheinbar paradoxen Heilmitteln, die schlieMch ihre Rechtfertigung finden, indem eine uner- wartete Entdeckung die Anwendung des absurd erach- teten StofFes wissenschaftlich begriindet. So scheint es mir die kraftigste Bestatigung eines Zusammenhangs, wenn aus der generellen Ldsung, durch Einsetzung be- stimmter Konstanten, Weistiimer der Vergangenheit als Partiallosungen sich ableiten lassen.

4. Wenn unsere Gedankenreihen sich den Zustanden der Gegenwart soweit nahern, dafi) sie Zeitprobleme um- schliefien, so liegt die Versuchung nahe, kiinftige Ent- wicklungen aus diesem Spiegel hervorzulocken. Aber alsbald fuhlen wir uns gewarnt: nur dann sind Zukunfts- traume glaubwiirdig und mit ihnen die Pramissen und Ketten gebilligt , wenn sichtbare Keime der vermute- ten Evolutionen, sei es noch so tie f und verborgen, im Kern unserer eigenen Zeiten ruhen. Denn mag man noch so zuversichdich von der schopfenden und mit- reifienden Wirkung des Gedankens auf ein Zeitalter denken: es besteht eine Art prastabilierter Harmonic zwischen dem unbewufit gestaltenden Traumen der Zeit und der Einzelarbeit des Betrachters. Selbst da, wo unser Empfinden dem innersten Wesen der Zeit aufs beharr- lichste zu widersprechen scheint, deuten wir mehr, als dafi wir bestimmen. Die Zeit, in ihrem Tun bedenklich flach, ist in ihrem. Traumen tief; und mechanisch be- trachtet verhalten wir uns bestenfalls zu ihr wie das Auge zur Hand dessen, der vom Blatte spielt: das Auge ist um einen Takt voraus, aber beide halten Schritt und folgen der Komposition eines Dritten. Da nun das be-

wulke Wesen der Zeir, wie ein schlechter Spieler oder Rezitator, nur in dem jeweils gegenwartigen Takt oder Vers lebt, seine vermeinte Schonheit hervorschmettert und des Zusammenhanges nicht gedenkt, so ist der ein- sam Schreitende, dem nur um den Zusammenhang zu tun ist, mit ihrem lauten Benehmen in hellem Konflikt, und insofern unzeitgemafi. ZeitgemaI5 indessen erscheint er sich selbst und deshalb hat er Respekt und Ein- fuhlung in die verborgensten Krafte der Epoche aufzu- bringen , weil er wissen mufi, daJ5 die Schopfung es ist, die musiziert, und seit Ewigkeit her, und dafi in ihr Komposition und Wiedergabe im Tiefsten harmonieren. Mit einem Wort: man glaube an keine Prophezeiung und keinen Propheten, wenn nicht sein Zukunftsbild, wohlgemerkt, bei kiihner und freier Betrachtung, schon aus dem Vorhandenen hervorleuchtet.

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Erstes Buch

DIE EVOLUTION DES ERLEBTEN GEISTES

Geist nenne ich den Inbegriffallesinnerlich Erlebenden. Die Inyentur ^,r 1 J- TT -1 r^ ' des Geistes

Wenn ich die Hauptstucke meiner ueistesmventur

aufnehme, so gehe ich von der Voraussetzung aus, dafi

meine Erinnerung, wenn auch stellenweis verdunkelt,

doch wesentlich im Sinne einer mathematischen Funktion

stetig sei. Zweifel an der Stetigkeit des Erinnerns oder

Denkens wiirden jede Gedankenarbeit hinfallig machen.

Als das wesentliche Besitztum meiner geistigen In- ventur betrachte ich die durch Erinnerung festgelegte Evolution meines inneren Erlebens, im Gegensatz zu derjenigen Auffassung, welche die gleichzeitig vorhan- denen Bestandteile des Intellekts fiir das wichtigsre er- achtet.

Meine Erinnerungen reichen in die Kindheit hlmuL Inventor der Er- Wenn fremde Erinnerungen und Beobachtungen herbei- geholt werden, so bedeutet dies im gegenwartigen Zu- sammenhange einen VorgrifF in die Erscheinungsreihe. Diese Vorausnahme hat insofern kein Bedenken, als sie nicht der Argumentation sondern der Erlauterung dient; sie steht auf gleicher Stufe mit der Benutzung der Sprachform und dem Akt der Niederschrift.

Man spricht von der Unschuld des Kindes. 'DiesQ KindiUhe Un- Vorstellung ist berechtigt, solange man den BegrifF in

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subjektiver Bedeutung fafit: das Kind ist sich keiner permanenten oder temporaren Schuld bewul5t; was man ihm als gut und bose, Schuld und Verdienst beibringt, das betrachtet ein unerwachtes Gewissen bestenfalls als eine Art von Spielregel mit strengen Konsequenzen, nicht als innere Bindung. Selbst was man bei intelli- genten Tieren als Schuldbewufitsein deuten mochte, ist nichts als Angst, verbunden mit der Erinnerung an eine ganz beliebige Drohung; sobald die Strafe hingenommen, erlassen oder umschlichen ist, verschwindet das schein- bare bose Gewissen spurlos.

Am tie fs ten geriihrt von der Vorstellung kindlicher Unschuld sind sentimentale und im Siindenglauben be- fangene Naturen; das okzidentale Altertum kannte keine riihrungsvolle Betrachtung der Kindesnatur, es sah in dem Menschenjungen den Gegenstand liebevoller Ziich- tung, aber kein Ideal, kein Sehnsuchtsbild, keinen Ab- glanz verlorener Paradiese. Das erste geriihrte Wort in der Erinnerung der Welt hat Jesus zu Kindern ge- sprochen, dessen Verhaltnis zu Tieren wiederum weniger innig gewesen zu sein scheint als das der Griechen.

Irrtiimlich wird der Satz von der Unschuld des Kindes,

wenn man den BegrifF objektiv fafit: etwa gleichbedeu-

tend mit Sundlosigkeit, Tugendhaftigkeit, ethischem

Wert. Unbelehrt ist das normale Kind weder hingebend

noch giitig, weder standhaft noch zuverlassig, weder

mitleidsvoll noch opferwillig. Fehlte es ihm nicht an

Nachhaltigkeit des Willens undKomplikation desDenkens,

so wiirde iiber kindliche Untugend des Klagens kein

Ende sein.

Ursrimmung: Dgj Kindes Grundstimmung ist Begehren. Konnten

Begehrenund . . , . i. /- , , « t^ . i

Furcht wir ermnernd m die friiheste, unbewulate Periode unseres

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Daseins hinaufsteigen , so wiirden wir in den ersten Regungen des Nahrungsbediirfnisses das Mitklingen be- gehrenden Geistes vernehmen. Jeder entschiedene Ein- druck lost ein Begehren aus, das zunachst freilich nur bis zum Tasten, Greifen, Kosten hinlangt; sparer richtet es sich auf Besitz, zuletzt auf Geltung.

Scheinbar von den ersten schmerzlichen Erfahningen, wahrscheinlich von ursprxinglichen, quellenlosen Regun- gen, bleibt die Erinnerungsstimmung der Furcht zuriick. Begehren und Furcht beherrschen nun den Urgrund des kindlichen Geistes ; diese triiben AfFekte freilich gemil- dert durch ungebrochene Genufi)fahigkeit und geringe Nachhaltigkeit, so dafi in einem gliicklichen Verhaltnis die Sinnenfreude des Augenblicks die qualenden Re- gungen liberwiegt und stillt, und somit eine aul!>ere Heiterkeit der Lebensstimmung zulafit, die der erwach- sene Mensch gleichtemperierter Veranlagung nicht auf- bringen wiirde,

Es eriibrigt zu sagen, dal5 die Bezeichnungen Begehren und Furcht hier nicht im lediglichen Sinne positiver und negativer Willensrichtung gebraucht sind; sie bedeuten die Stimmungen, nicht die Impulse. Begehren ist die langende Stimmung, die bei hoher entwickelten Geistern ihren letzten Ausdruck in der Sehnsucht findet, also nicht etwa d^r intellektuell-energetische Entschlul^ und Impuls, etwas zu tun oder zu erleben. Furcht ist die angstvoll beklommene Stimmung, die sich mit dem Objekt einer Vorstellung verbinden kann, also nicht etwa ein auf negative Ziele gerichteter Wiinsch. Die Stimmungen sind weitaus tiefer, urspriinglicher und vom Intellekt unabhangiger als analoge Willensregungen und Wiinsche.

2f

Im Lebenshaushalt wirkt das Begehren dahin, alle fordernden Krafte und Materien herbeizuziehen, wahrend die Furcht Gefahren abwendet, Auswahl trifFt und der Erfahrungsiibertragung der friihesten Erziehung Raum schafFt. Fernzuhalten vom BegrifF der begehrenden und fruchtenden Grundstimmung sind sekundare Erschei- nungen, wie etwa angelernte und unverstandene Opfer- willigkeit, Furchtlosigkeit im Einzelfalle, die auf Un- kenntnis oder falscher Einschatzung der Gefahr beruht, ablehnender Eigensinn als Ratlosigkeit zwischen zwei Ubeln, die sich denn oft genug fiir das groliere ent- scheidet, Gleichgultigkeit aus mangelndem Vorstellungs- vermogen oder aus unzulanglichem Willensimpuls. Menschendes An dieser Stelle mul5, zur Klarung und Vertiefung undderFurcht ^^^ ^^^ ^^^ Schauplatz getretenen BegriiFe, vom Wege der Darlegung eine Sonderbetrachtung abgezweigt wer- den. Es handelt sich um die Kategorie der Menschen, die auch im Alter vollendeter Entwicklung ganzlich oder vorwiegend den Grundstimmungen der Kindheit, Be- gehren und Furcht, unterliegen. Zvjtekhaftizkeit Vor Jahren habe ich diese Gattung als die der Zweck- menschen bezeichnet. Denn Furcht und Begehren gehen im Stande geistiger Vorgeschrittenheit eine Verbindung ein, die planend und vorsorglich ins Kiinftige gerichtet, sich Zwecke schafFt und in diesen sich objektiviert. In- dem ich auf den Zusammenhang des Furcht- und Zweck- wesens mit bestimmten Volkerklassen hinwies, gab ich der Erfahrung Ausdruck, dafi> unter den Vertretern ein- zelner Stamme bisher wenige oder keine Individualitaten nachweisbar aufgetreten sind, die dutch Leistungen,Ideen oder Gesinnungen einen Fortschritt gegeniiber diesen primitiven Grundstimmungen batten erkennen lassen. So

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tief indessen eine solche Gebundenheit im physischen und physiognomischen Wesen einer Blutsgemeinschaft zu wurzeln schien, so wurden die Moglichkeiten , ihr zu entrinnen, fiir jedes vernunftbegabte Geschopf fest- gestellt. An anderer Stelle wiederum habe ich darzu- legen versucht, dafi der Umschwung der westlichen Kultur, der die gegenwartige mechanistische Epoche emporgetragen hat, wesentlich auf eine Umlagerung der Bevolkerungsschichten zuriickzufiihren ist, welche den zweckhaften Elementen die Oberhand verschafFt hat. Hiernach kann ich mich auf eine kurze Charakteristik des Furcht- und Zweckwesens, das im Verlauf der Dar- legung eine neue Bedeutung gewinnen wird, beschranken.

Die Eigenart des zweckhaften Menschen ist in dem Der Ztueck- Gesetz beschlossen, dafi er in Vorsorge, Furcht "^^^ Oen und iVeun HofFnung sein Leben aus der Gegenwart in die Zukunft verlegt. Indem er es zu schiitzen, zu verlangern, zu bereichern und zu bekraftigen sucht, handelt er denn tatsachlich nicht nur zweckhaft, sondern hochst zweck- entsprechend; da aber der Zweck ihn ganz hinnimmt, so bleibt er bei aller Erfiillung arm und gliicklos; der Zweck wird zum Selbstzweck imd hebt sich auf.

So ist der Unfrohe auf die Freuden der Sinnengeniisse und der Willenserfiillung angewiesen. Aber dieser Gliickswille geht seltsame Wege.

Denn da der Mensch sein Gleichgewicht aus der Seine AbbSngig- Gegenwart in die Zukunft, aus seinem Inneren in die Welt geriickt hat, so bedarf er in hochstem Mafie der Welt, der Menschen und der Dinge; der Welt, um zu ^

scheinen; der Menschen, um zuherrschen und zu gelten; ^^

der Dinge, um zu besitzen. 1

Indem er nun scheinen und herrschen will, wird er

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in Wahrheit abhangig; er ist angewiesen auf Meinung und Zustimmung, und da es seiner Natur nicht ent- spricht, sie zu erzwingen, so mufh er sie erschleichen und erlisten. Weil er der Dinge bedarf, wird sein Handeln abermals unfrei, denn er sieht sich an Verhaltnisse, willkiirliche Gesetze und unfreiwillige Arbeit gekettet. SetH Ittteiukt Sein berechnender Intellekt wird geschult, sein ur- spriinglicher Geist gedampft. Sich selbst kann er nicht achten; andere achten und verehren zu miissen wiirde ihn vernichten, so sucht er sie zu sich herabzuziehen durch Mij&gunst, Skepsis, Kritik und Verkleinerung. Als Kluger, Unzufriedener, Schwacher ist er Menschenkenner und Beobachter, geschult, auf die Schwachheiten anderer zu achten, geiibt, sie zu enthiillen und zu benutzen. Seine Ssttiichkeit Eine absolute Sittlichkeit kann er im zweckhaft materiell

und sein Glauben a^ i o i »

gearteten Grunde seines Bewuiotsems nicht verankern. Wo er sittlichen Gesetzen folgt, geschieht es aus Furcht oder aberglaubischer HofFnung. Denn sein Glauben wurzelt im Verstande und kann nicht anders als materiell, somit aberglaubisch sein. Sieht der Zweckbefangene sich liberhaupt veranlafit, gdttliche Machte anzuerkennen, so sind ihm diese nicht transzendente Erfahrungen und Notwendigkeiten, sondern niitzliche Protektoren, fur die man angesichts ihrer Machtmittel gern ein iibriges tut, indem man ihr Wohlwollen durch Konzessionen und Komplimente sichert. Hat er sich der gottlichen Ge- spenster entledigt, so schwelgt er, von Freiheitsgefiihlen berauscht, an den Quellen materialistischer Erkenntnis. Halt er alsdann Umschau nach Idealen, so erfindet er Theorien schwelgenden Lebensgenusses, die angesichts seiner schmerzenvollen, ans Aufiere gebundenen Existenz wenig glaubhaft werden.

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Die Kunsc des Zweckhaften ist nicht gering. Es ist Seine Kurui die Kunst des Intellekts, des Esprits, der Ekstase, des Sinnenreizes, des Pomps und der Dekoration. Sein Denken ist geistreich, scharf, kiihl und negierend; sein /

Naturempfinden sentimental und prezios; seine geistigen \J

Freuden sind Fakten, Enthiillungen, Neuigkeiten, Neu- heiten, Kritiken und Erfolge.

Fremd ist ihm Sachlichkeit, Hingebung, Wahrheits- liebe, Ehrfurcht und Transzeiidenz; denn er kommt von seiner Person und seinen Wunschen nicht los, er bleibt erdenschwer, unphantastisch und unfromm.

Betrachtet man die Gesamtheit dieser Eigenschaften/W/i^flT^-Zw^v/f- praktisch, so ist zuzugeben, daJB sich mit der Zweck- ^^ ^ haftigkeit vollkommene ZweckmaI5igkeit im Sinne der Lebenserhaltung des Einzelnen und des Geschlechtes ver- bindet; betrachtet man sie kritisch, so erscheinen sie vor- bereitend und verheiI5end, denn sie ordnen die Existenz des Einzelnen unter die Existenz der Generationenreihe, indem sie Sicherheit fiir Gluck eintauschen.

Entfernt man zur Probe diejenigen Ziige des Bildes, die vorgeschrittener Intellektualitat angehoren, so stehen wir wiederum vor dem Geistes- und Stimmungskomplex des primitiven Farbigen und dos Kindes. Wir kehren somit zum Ausgangspunkt zuriick: zurErinnerungan dieGeistes- entwickelung, als Hauptinhalt unserer inneren Erfahrung.

Ist das Leben des Kindes auf Begehren und Furcht, Umschwung auf Zweckhaftes und Zweckmafiiges gestellt, so beginnen mit der einsetzenden Reife des Geistes und Leibes neue und entscheidende Konflikte.

Die Liebe des Mannes ist nicht hingebend wie die Liebe des Weibes, denn sie ist werbend; und doch geht sie in einem Sinne iiber die Hingebung des Weibes

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hinaus: sie ist bereir, sich zu opfern. Das Weib will hinnehmen und vergehen, der Mann will besitzen, aber zugleich sich opfern und verschenken: so ist im Augen- blick des hochsten Lebenswillens der Lebenswille auf- gehoben, der Zweck gebrochen. Man faf5t es so auf, dafi dies im Interesse der neuen Generation geschieht: gleichviel; die Wendung ist geschehen. Zweckfreie Der Jiingling verzehrt sein Leben in Traumerei. Das ^s»^S'» Wesenlose wird ihm bedeutend; das Handgreif liche un- wesentlich. Eine neue Natur umgibt ihn: nicht mehr Stein, Pflanze, Luft und Wasser, sondern ein geheimnis- voller Kosmos vol! Leben, Geist, Blut, Licht und Liebe. Die Dinge reden nicht mehr die Sprache des Tags; es rauscht aus ihnen Ungesprochenes, Unauflosliches. Eine zweite Natur verbirgt sich hinter der sichtbarenund will her- vorbrechen; es bedarf eines Wortes und alle Wirkllchkeit ist aufgehoben. Der Welthauch atmet Majestat und Liebe, und die jugendliche Seele begehrt nichts anderes, als sich den Machten hinzugeben und in ihren Werken aufzu- gehen. Die Welt der Menschen und Schicksale brandet von feme, in ihren Kampfen fliegen und siegen die Banner der Ideen; Freiheit, Wahrheit, Vaterland, Gottheit ver- langen das hochste Opfer und sollen gerettet werden. Solche Regungen gehen nicht vom Erhaltungstriebe aus. Sie sind zweckfrei, mogen sie ungeklarten Stim- mungen garender Epochen entspringen. So werden sie denn auch im Leben des gebildeten Okzidentalen als- bald fiir einige bedeutungsvolle Jahre wieder zum Schwei- Reaktion und gen gebracht. Denn dutch unmai^ige Anspriiche an den Eriebens Intellekt werden die Keime der Seele im Wachstum ge- hemmt, und das anmaMch begehrende Kind steht wie- derum auf dem Plan.

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^\

Enttauscht steigt der Erdenbiirger in die Vielfaltig- keit des Lebens hinab; und wirklich, die Fiille der Er- scheinungen liberwaltigt ihn nicht. Heroen werden zu Menschen, Paradiese zu Mechanismen, und erstaunlich bleibt nur die Menge des GewuI5ten, der enthiillten Ge- setze, der gelosten Ratsel. Von den Erfahrungen der Jahrtausende nimmt er sein Erbe in Anspruch und denkt es zu mehren, und je unermefilicher der Reichtum in seinen Handen, desto armer die Welt. Was ist sie ? Ein Verstandesspiel, ein Zirkus, eine Intrigenschule. Wo sind Wunder? Wo sind Geheimnisse? Die Natur ist ent- gottert, die Gottheit entlarvt, die Machte zerstoben.

So begniigt sich der Verwaiste, am Raube teilzuneh- men. Gliick der Sinne, Geltung und Macht gehoren dem, der sie nimmt. Er erwirbt, besitzt, geniel5t und ver- zweifelt. Aber schon haben unter dem Lacheln der Medusa die Krafte sich verjiingt. Uber dem verddetenDie Geburt Weltbild steigt abermals der Himmel der Natur empor, nun aber feierlich bewegt von der Gewalt der Gesetze, ruhend in den Polen der Gottheit und des Herzens.

Das Spiel der Schwerter, Federn und Kronen ist ge- stillt. Es bleibt das SchafFen: doch nicht mehr um der Werte willen; das Sorgen: doch nicht mehr um der Ziele willen. SchafFen heii2>t: Umsetzen die Seele in sichtbare Form, Erschautes gestalten. Ein Naturvorgang, vergleich- bar dem Weben der Muschel und der Spinne, die aus den Saften ihres Lebens mit Freuden und Schmerzen ihr Kleid, Riistzeug und Kunstwerk nach dem inneren Bilde wirken.

Es bleibt die Liebe. Je reiner und heiil)er das Feuer der Sinne sich erhielt, desto leuchtender umgibt es sich mit der Aura xibersinnlicher Klarheit. „Es reget sich die

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Menschenliebe, die Liebe Gottes regt sich nun." Es er- wacht die Liebe des Franziskus, die alle Kreatur mit- samt den Gestirnen umspannt, die in die Spharen tont und die Gottheit herabzwingt.

Dena diese Liebe ist transzendent. Sie ist Ahnen und Begreifen des Sichtbaren und Unsichtbaren, sie ist Hingabe und Opfer, sie ist aber auch Erfiillung und Ver- klarung. Sie fafit die Welt nicht mit den Krallen des Verstandes, sie lost sich auf, geht unter, vereinigt sich, wird Eines, und begreift, indem sie Eines wird.

So wird aus Natur und SchafFen, Liebe und Trans- zendenz im Menschen die Seele geboren, ja wesentlich gesprochen: sie wird nur aus Liebe geboren, denn Liebe umfafit die anderen drei Krafte insgesamt. SeeUnkmde Lidcm ich dies wundervolle Wort Seele nieder- schreil^, zum ofteren seit dem Beginn dieses Buches, will es mir nicht in den Sinn, warum in so anderer Bedeutung die Wissenschaft sich dieses reinen Klanges deutscher Sprache bedient. Sie nennt es Seelenkunde, Psychologie, wenn sie die Begriffe des Bewufitseins, des Denkens, der Assoziation und andere Dinge des intellektualen Geistes behandelt. Wenn die Jahrtausende von den geheimen Kraften, der Gottlichkeit und der Unverganglichkeit der Seele sprachen, so haben sie an eine Unsterblichkeit der Bewufitseinsphanomene nicht in erster Linie gedacht. In Ubereinstimmung, wie ich glaube, mit dem altenGeist der Sprache, der sich der Worte seelisch, seelenhaft, seelen- voll im Gegensatz zu geistig, geistreich und geistvoll . bedient, der seelenlos und geistlos in richtigem Verstand- nis gegeniiberstellt, der von Seelsorge, Seelenrettung, nicht von Geistsorge und Geistesrettung spricht, der mit Recht geisteskrank, nicht seelenkrank sagt, fasse ich den

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Begriff der Seele als den Komplex der hochsten Geistes 7^-

krafte, die uns bekannt sind, und die, wie ich liberzeugt bin und darzutun versuchen werde, aus den niederen Geisteskraften sich nicht analytisch berleiten lassen.

Da ich nun mit den Distinktionen der Wissenschaft Begrife, Wortr, in Widerspruch geraten bin und ein gleiches noch mehr- fach geschehen wird, so sei dieser Schrift der Gestand- nisse ein Wort gelegentlichen Bekenntnisses gestattet.

Ich» ehre und bewundere die philosophische Dis- ziplin, der ich durch Erziehung und Beruf ein dankbarer, aber nicht vorbildlicher Gast war. Ich erhebe keinen Anspruch, ein philosophisches Buch zu schreiben; ich versuche meine inneren Erlebnisse zu ordnen und zu deuten. Ich bediene mich der deutschen Sprache, so wie ich sie uberkommen babe und zu beherrschen glaube; wenn ich bewul^t ein ungewohnliches Wort gebrauche, so suche ich es zu erlautern. Verstofie ich damit gegen Schulausdriicke , so ist mir das nicht von Wichtigkeit. Betrachte ich als wahr, was die Wissenschaft widerlegt zu haben glaubt, so troste ich mich mit dem Gedanken, dafi schon manche verstofiene Wahrheit wiedergekehrt ist. Ich erwarte nicht und hofFe kaum, daH) philosophische Schulen und Organe sich mit meiner Schrift befassen; sie ist bestimmt fiir meinesgleichen, Menschen aller Be- rufe, die sich mit sich und dem Leben geplagt haben. ^^^-d.

Bei aller Ehrfurcht vor der Wissenschaft konnte ich mir von ihr keine Lebensweisung holen, so wenig wie der Geschaftsmann aus Lehrbiichern der Okonomie und der Staatsmann aus Werken der Staatskunst seine Entschliisse Ziehen kann. Ich betrachte das Denken nicht als ein Monopol, und glaube, dail> mehr fruchtbare Gedanken in die Welt kamen, wenn nicht die Furcht vor Schulen und

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Lexikographien manches gesunde Nachdenken und manche

berechtigte Aussprache im Keime erstickte.

Wir stehen an einem Wendepunkt der Betrachtung.

Wir haben in den Aufgang der Seele geblickt; und da

nach dem Laufe der Dinge das groI5e Ereignis Dunkel-

bilder, Zweifel, ja Abneigung hervorrufr, so miissen wir

eine kurze Zeit im Negativen bebarren.

Betrachtung Was ist es denn mit dieser kiihnlich benannten und be- der Seelc

haupteten Seele? Ist sie nicht doch nur ein Beiwerk, ein

im Lebenskampf gewonnenesHilfszeug des erfinderischen

Intellekts?

Paradoxic der Die Secle ist kein Kampfmittel. Rationell betrachtet,

im Sinne des Kampfes um Nabrung, Lust und Nutzen

ist sie ein Hemmnis. Die Gestirne sattigen nicbt. Das

unzeitliche Werk bringt Martyrien. Liebe opfert sich.

Der seelenhafte Mensch erscheint der Zeit als Idiot,

dem sie nicht immer die Ehre des Kreuzes erweist.

Nicht in der Einode und nicht auf der StraII)e, nicht am

Altar und nicht im Gefangnis fande die reine Seele ihre

Zuflucht, und den hoffnungslosen Kampf gegen die Klug-

heit liefie man sie nicht erst beginnen. Die Klugheit des

Intellekts in seinen Formen der Kriegfiihrung, der Ge-

schafte, der Diplomatie, der Technik und des Verkehrs

beherrscht die Welt so vollkommen, dal5 im Sinne dessen,

was man Entwicklung nennt, die Seele den unerhortesten

Riickschritt bezeichnet. Die Dichtung, spottend, klagend,

sehnsiichtig, schildert nichts anderes als die Leiden,

welche die Seele bringt; und in ihrer gottlichen Ge-

rechtigkeit mufi sie der praktischen Dialektik mephisto-

phelischer Naturen den Sieg lassen.

Der Triumph des Intellektes ist der Zweck. Hierin

aufiert sich die gewaltige Identitat des gesamten nie-

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XA'-'

deren Naturwillens; hierin ist der unfafibarste Kontrast hohen und niederen Denkens zum blofien Grofienunter- schiede zusammengeschmolzen, der Kontrast zwischen der Urregung der Amobe und dem Spintisieren des Staats- mannes; vom unbewufiten Dammerwillen bis zur ver- feinerten Abstraktion umfai5t ein und dasselbe gleich- artige Agens die lebendige Natur: der Intellekt, die Be- wul^tseinsform desBegehrens, und ihr Emanat, der Zweck. Leben, Nahning und Lust, und Mittel zu Lust, Nahrung und Leben, dies ist der InbegrifF des sublunaren WoUens und Denkens.

Die Seele aber will nichts. Sie tragt in sich Streben Fursichseh der und Erfiillung, Dissonanz und Auf losung. Ihr Wesen ist zweckfrei, und im Sinne der Erscheinungswelt zwecklos. Aber mehr als das. Hat die Seele in ihrem Aufstieg ge- lernt, mit ausgebreiteten Schwingen liber der Erschei- nungswelt betrachtend, freudvoll sinnend zu ruhen, so entfremdet sich der Blick dem bunten Wesen, und ihre eigene Kraft hebt sie entsagend hinweg von der Welt, jenem Licht entgegen, in welchem das Aufien und das Innen verschmilzt. Die BegrifFe der Zweckfreiheit, der Willenlosigkeit sagen nichts mehr; sie wird zum schlecht- hin Absoluten.

Verlohnt es, durren und kaltsinnigen Einwendungen Einivendungen

jTT»i«« t t ' !• des UtilitarismtLS

des Utilitarismus zu begegnen: als seien wenigstens die aufiersten Fasern des Seelenwesens Ableger einer Niitz- lichkeitsentwicklung? Etwa in dem Sinne: die ErgrifFen- heit vor den Naturgewalten des Gewitters seien Erinne rungen an landwirtschaftliche Vorteile, oder die Maje- stat des gestirnten Himmels beruhe auf der unbewufiten Vorstellung von Jagderfolgen, oder die Nachstenliebe sei die ererbte Erkenntnis vom Nutzen friedlicher Nachbar-

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schaft? Ware in diesem Zusammenhange des innerlicli Erlebten ein erlauternder UbergriiF in die Erscheinungs- reihe der Zuchtwahl oder Vererbung auch gestattet: diese Argumente erfordern ihn nicht.

Wer die ersten stillen Regungen des Seelenlebens erfahren hat, bedarf derBeweise nicht. Ihm besteht die innere Gewi£>heit, lebendiger als alles andere Erleben, dafi hier eine neue Qualitat des Geistes beginnt, die von den intellektualen Qualitaten vollkommen gesondert, neue Krafte, Freuden und Schmerzen und ein Leben iiber dem Leben erschlie(5t.

Wir haben den hochsten Vorgang des irdischen Er- lebens, das wahrhafte Erbe des inneren Besitzes in seiner typischen Form betrachtet; so diirfen wir denn die Ab- weichungen und Gegenbilder nicht xibergehen.

Von geringer Bedeutung ist die zeitliche Anomalie der seelischen Geburt. Schon im friihen kindlichen Leben, beschleunigt dutch vertiefende Einfliisse, Einsam- keit, Naturnahe, Leiden, konnen die seelenhaften Triebe zum Vorfriihling erwachen; wie denn junges Leben bis- weilen von tiefer Weisheit erfiillt ist, die sich alsbald in Larm und Blendung zur Vergessenheit verdunkelt. Um- gekehrt bewahrt uns die objektive Erinnerung Falle spater, ja verspateter Erweckung, die manches Leben noch in seinen letzten Auftritten zur Peripetie gefiihrt hat. Seelenlosig- Wichtiger ist der vergleichende Einblick in die Exi- stenz der Seelenlosen ; denn als solche erkennen wir nun- mehr die Menschen, die wir vordem nach Furcht und Zweck benannt haben. Es bedarf keiner Erwahnung mehr, dal5 diese Bezeichnung der Seelenlosigkeit nicht bildlich, sondern in ihrem wortgetreuen Sinne zu verstehen ist; das Urbild des organisch vollendeten, gleichwohl seelen-

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keit

losen Menschen erblicken wir in denjenigen Primitiven, deren Leben in Sinnenwerk, in materieller Furcht und HofFnung, gleichviel ob irdischer oder liberirdischer Zen- trierung, verlauft.

Uber den Zusammenhang des Blutes mit dem Schick- sal werden wir zu sprechen haben, wenn wir nachpriifend die Ergebnisse der inneren Betrachtung in die Erschei- nungsreihe projizieren; vorschauend sei hier wiederholt, dal5 eine Pradestination des Stammes nicht besteht. In jedem Menschen, gleichviel welchen Blutes und Her- kommens, schlummert die Seelenkraft. Was in der Welt zu selbstloser Liebe taugt, das taugt zur Seele.

Das Gebiet des Seelenlosen tritt eng an uns heran. SeeienhseGebhu Innerhalb und aufierhalb unseres Erdteils kennen wir Landstriche zivilisierter Sprache und Sitte, die wir be- treten mit demGefiihl : hier hausen nicht Lebensgenossen, sondern Interessenten. Hier wird Arbeit zum Fron- dienst, Mui5e zum Rausch, Freude zur Ausschreitung, Kummer zur Verzweif lung, Glaube zum Fetischismus. Die Verlassenheit, die uns befallt inmitten gieriger Man- ner, getiinchter Frauen, angerichteter Kinder und Jung- frauen, libernachtiger Jiinglinge, untreuer Diener und ausgehohlter Sklaven, diese angstvolle Verlassenheit ent- steigt dem unbewufitenBegreifen: hier leben keineSeelen.

Habsucht und Gotzendienst des flachen Landes, Waren- hunger, Blendwerk, Streberei, Uppigkeit, Neugier und Diebeslust der Stadte: das sind die Inseln der Seelen- losigkeit in unserem Lande.

Taglich beriihren wir uns mit respektablen. Menschen SeeienioseZiviii anstandiger Herkunft, gewahlter Sitte, lebhaften Geistes, ^^ denen die Seele mangelt. Sie erscheinen als besonnene, durchaus tatige Menschen, von unablassigen Zweckge-

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danken bewegt, die sie mit der Sorge um eigene und der Nachkommen Existenz, mit dem Bewufitsein selbstge- wahlter Pflichten, mit Gewohnheit und Beschaftigungs- drang, ja gelegentlich mit Ehrgeiz, Habsucht und Samm- lerwahn zu erklaren suchen. Die Zielbewegung ist ihnen Selbstzweck geworden; theoretisch von der Notwendig- keit endgiiltigeren Lebens liberzeugt, gonnen sie mit Gewissenhaftigkeit sich kiinstlich zubereitete Erholungs- zeiten, die sie in entfernten Gegenden, an Platzen mafi- voller Unterhaltung oder unter Biichern verbringen. In- dem sie aus anerzogener Bedenklichkeit iiber das Gebiet des niederen Sinnengenusses hinausstreben, streifen sie die Landschaft mit einem fliichtigen Blick, um eine ku- riose Einzelheit zu erhaschen, betrachten ein Kunstwerk in der Absicht, es kritisch zu bewaltigen und bildungs- m'ifhig zu verwerten. Aber wahrend dieser Sparzeit ver- lafit der gewohnheitsmafiige Zweckgedanke sie keinen Augenblick; er treibt sie rasch indasjoch zuriick, dem sie das Bewui5tsein ihres Lebenswertes verdanken. Seeieniose Biidung Uber den Sinn ihres Lebens lassen diese mitunter intellekiuell bedeutenden Menschen sich nicht befragen. Es geniigt ihnen, dafi sie Wilienserfiillungen erlebt haben, dafi sie das tatige Leben machtig, reich, geehrt verlassen, mit dem Hinblick auf gesicherte Hinterbliebene und mit der nicht betonten, doch auch nicht abzuweisenden Aus- sicht, eine wohlverdiente Existenz unter jenseitigen Vor- aussetzungen zu finden.

Auffallig ist ihre Hilf losigkeit, wenn sie antworten, weshalb sie sich an gewisse ethische Normen binden. „Aus Anstand" sagen die Einen. „Aus Niitzlichkeit" die Anderen. „Aus Erziehung, Gewohnheit und Ererbung" die Skeptischen. „Aus Religion" ist die tiichtigste Ant-

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wort, iind bei wahrhaft Erbglaubigen zutreiFend. Viel- fach hegt man Riicksicht auf uneingestandene, in stiller Reserve gehaltene gottliche Machte, die in Zeiten der Not niitzt es nichts, so schadet es nichts um hand- greifliche Dienste angesprochen werden konnen, und denen des Alltags durch Regungen spielerischen Aber- glaubens ein gelegentliches Opfer im Dunkel des Be- wufitseins gebracht wird.

Dieses iiberraschend vorzeitliche Inventar des inneren Lebens erfiillt den Kern kluger, gebildeter und erfolg- reicher Menschen unserer Zeit, sofern sie der Seele er- mangeln.

Erschreckend sind die Orte der Seelenlosigkeit. DerSef/en/BseStitux Wanderer, der aus den Tiefen des Landes im Abend- schein der Grofistadt sich nahert, erlebt den Abstieg in diese Gefilde. Hat er den Dunstkreis der Ausfliisse durchschritten, so offnen sich die dunklen Zahnreihen C^^^lf '^ der Wohnkasten und sperren den Himmel. Griine Flam- men saumen den Weg, erhellte EisenschifFe schleifen ihre Menschenfrachten liber den geglatteten Pechboden. In frechem Licht klingeln und donnern die Drehmaschinen und Rutschbahnen eines Larmplatzes: das ist ein Ort der Freude; und Tausende stehen, schwarz gedrangt, mit flackernden Augen vor den Plakaten der umzaunten Wiistenei. Aus den Hofen stromen iibermiidete Manner und Frauen, es fiillen sich die Raume hinter den Glas- scheiben, deren Aufschriften in weifiblauem Bogenlicht zucken. „Grofidestillation", „Frisiersalon", „Bonbon- quelle", „Stiefelparadies", „Lichtspiele", „Abzahlungs- geschaft", „Weltbasar" : das sind Orte des Erwerbs. Die Straiten verengern sich gegen die alte Mitte der Stadt, der Verkehr wird eiliger, es haufen sich die Wagen,

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Modegeschafre, Restaurationen, Carta und Theater lassen ihre Transparente spielen. Pldtzlich ragt stumm und dunkel ein Bauwerk der alten Zeit empor, ein stiller Platz liegt zur Seite. Briicken und Fernsichten weiten sich, die Massen werden klar, die Umrisse fest. Hier bewegt sich der gemessene Luxus; er halt auf Bauart, Baume, Abstand und Benehmen. Nun rasen die Ge- spanne und Motoren nach Parkstrafi>en und Villenstadten und kreuzen die Strome der Sorgenvollen und Lustbe- gierigen, die von der Nacht leben.

Das ist das Nachtbild jener Stadte, die als Orte des Gliicks, der Sehnsucht, des Rausches und des Geistes ge- priesen und besungen werden, die das Land entvolkern, die bis zum Verbrechen das Geliist des Ausgeschlossenen entfachen; notwendig und wiirdig im Ernst der Arbeit und des Gedankens, furchtbar und irrsinnig als Paradiese der Seelenlosen. Seeienioie Stammt Dennoch erweist sich in der Okonomie und Bilanz des Weltgeschehens der Einflufi des seelenlosen Elemen- tes nicht als gering, keineswegs als verachtlich. Es wurde hervorgehoben, die Fahigkeit Seelenkrafte zu entbinden, sei keiner Menschennatur von Grund aus versagt; den- noch zeige die Erfahrung, dafi weite Gemeinschaften des Blutes und Lebens bis zu dieser Zeit seelenhafte Phano- mene kaum gezeitigt haben, so dafi man kurzgefaI5t von seelenlosen Volkern und Stammen reden konne. Und da die absoluten Gegenpunkte der Polaritaten bei Massen- erscheinungen uns niemals entgegentreten, so miissen wir die Abstufungen vom schwachsten Einschlag des Seelenhaften bis zur denkbaren Uberwindung des Seelen- losen als Grundordnung, wie im Leben des Einzelnen, so in der Geschichte der Menschheit hinnehmen.

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Es ist hier nicht der Ort der geschichtlichen Analyse. Hervorzuheben sind lediglich die Indizien derPolaritiit, und es bleibt spaterer Forschung iiberlassen, die Reagenzmittel auf Zeiten und Volker wirken zu lassen, um Verbindungen zuspalten, gleichartigeElemente auszusondern, undsomit, riickwarts gewandt, das einstige Stromen der Elemente, ihre Mischung, Umsetzung, Verdunstung und Erneuerung zu ermitteln; welche Erscheinungen sich uns in auli5erem Sinne als Historic darstellen. Aus solcher Betrachtung wird kiinfriger Geschichtsschreibung eine empfindlichere Beobachtungsmethode sich ergeben als die gegenwartige, welche sich vorwiegend den Erlebnissen der jeweiligen Oberschicht zuwendet und daher keine der grol5en Evo- lutionserscheinungen restlos erklaren kann, die aus Wech- selwirkung, Vermischung und Umschichtung herriihren.

Der seelenlosen Menschheit gemeinsam scheint vor Kriterien see- allem die Materialisierung des Todes, begleitet von den meinschaften Affekten der Furcht und des Entsetzens vor seinem Reich BegrifvomTod* und seinen Untertanen. Der Gedanke, die marerielle Welt ein fiir alle mal nach jenem Abschied aufzugeben, ist unfafibar; der Tote dilettiert und vagabundiert noch ;x

immer diesseits, er muU) gefiittert, gekleidet, umschmei- chelt, versohnt und gefeiert werden. Er spielt mit da- monischen Kraften in alle Lebensverhaltnisse hinein und sorgt neidisch fiir sein verbliebenes Kapital, den guten Ruf. Seine Behausungen erdriicken die Bauten derLeben- digen, seine Allgegenwart raubt ihnen die Freude am Tage. Das Reich des Todes ist dunkel und sorgenvoll, denn in ihm leben nicht freie Seelen, sondern Knechte der zeitlichen Bediirfnisse und Geliiste, der Rache, Reue und Leidenschaften. Der Seelenlose kann Unsterblichkeit nur fiir seinen animalischen Geist begreifen und veriangen,

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Sreieniose G/au- Ein wcitercs Indizium ist die Materialisierung der Religion. Der seelenlose Mensch spiegelt sich in seelen- loser Gottheit; wie denn das Brockengespenst der histo- rischen Gottheit nichts anderes bedeutet als das makros- kopische Geistesbild seines Schopfers, projiziert auf die Nebelwand der Naturerscheinung; tiefstes, unbewuil)tes Bekenntnis seines Fiihlens, Handelns und Leidens. Da- her ist alle schreckenerregende, fratzenhafte Gottheit seelenlos. Rachsiichtige, blutgierige, auf Ritualien er- pichte Gotter und Damonen, die keinem ewigen Gesetz gehorchen, wohl aber mitleidlos auf ihre Rechte pochen, entstammen sklavisch furchthaftem und unbeseeltem Geist. Unter ihrer Herrschaft wird Religion zur Ab- rechnung, zum Tyrannendienst und Formelkram ; sie sind die Beschiitzer der Sakralkollegien, der Auspizien, der Speiseregeln, der aberglaubischen Kasuistik. Der Schmeichelei und Bestechung zuganglich wie ihre irdi- schenSohne, erfiillen sie deren Glaubensideal durchWill- kiir, Grausamkeit, Genul5 und Unzucht. Seelenlose Kunst- Die Kunst seelenloser Volker ist typische, nicht in- ^*'*^ dividuelle Kunst. Denn bei aller ausschliefienden Be-

deutung, die das Individuum, auf personlichsten GenulL und Lebenszweck gestellt, sich selbst beimill)t, bleibt seine Achtung vor fremder Individualitat gering. Der Andere bedeutet ihmGegenstand,Typus,Mittel; er selbst fiihlt, auch im Sklavenstande, nur das Ich als Selbst- zweck. So interessiert es ihn nicht, inwieweit das Einzel- objekt von der kanonischen Durchschnittsnorm abweicht, die allein ihm als wichtiges Sinnenbild mit unbedingter Deutlichkeit vor Augen steht; er prel5t das Phanomen in die Form der Vereinfachung, des Typs, der Symmetrie und des Ornaments. Und in dieser Schulung leistet er

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doppelt Erstaunliches, ja UnfaiBbares: denn da er selbst von seinen Mitmenschen als Typ, somit als unperson- licher Bildner und Handwerker erachtet und behandelt wird, sieht er sich gezwungen, von Jenen gebilligte Kon- ventionsformen einzuhalten, der Tradition zu folgen, und innerhalb dieser Grenzen manuell und sachlich in jeder Generation dieSchranken desKonnens zu erweitern. Die Kunst Agyptens und Ostasiens kann in ihrer Art niemals ubertrofFen werden, indem sie als eine Kunst des Typus, der Norm, der Uberlieferung und des Ge- setzes wie ein Naturprodukt dasteht; die verschwindende Zahl individualistischer Ausnahmen, mogen sie vonKiinst- lerlaunen oder von Fremden geschaifen sein, andern an diesem Gesamtbilde nichts.

So stehen wir vor der paradoxen Tatsache, dafi die Kunst, die man jahrhundertelang als die ideale bezeichnet hat, weil man den BegrifF des Ideals mit dem der kano- nischen Norm verwechselte, den eigentlich ideallosen Volkern und Epochen gehort, die denn tatsachlich fast ausnahmslos diese Kunst als Mittel zum Zweck, als Mittel der Beschreibung und Propaganda, des Gottes- dienstes, der Illustration und Dekoration benutzt haben. Die Welt verdankt der typischen Kunst, die sicher die* urspriingliche war, unendlich viel; vor allem die Schu- lung, den Begriff des technisch erreichbaren, den Blick fiir Mal5 und Verhaltnis, das Ornament und die Bau- yform. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt was eigentlich keines Experimentes bedurfte , dal5 echte, namlich wahrhaft organische Ornamente und Kunst- formen sich nicht dutch Einzelarbeit erfinden lassen, selbst wenn die Grundsatze der Abstraktion bewulit studiert und gelaufig gehandhabt werden. Denn diese

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Elemente, erwachsen in jahrhundertlanger Wechsel- wirkung gleichgearteter Verfertiger und Beschauer, sie sind nicht, wie man glaubte, Menschenwerk, son- dern Menschheitswerk, und somit natiirliche Schop- fiing, wie etwa die Sprache. Deshalb konnte man mit Recht die willkiirlich konstruierte Ornamental- kunst der letzten Jahrhundertwende als Volapiikstil be- zeichnen. Seeieniose Ueaie Nimmt man den BegrifF'des Ideals in der bescheidenen Bedeutung einer Grenzvorstellung des Wunschenswerten, so kann mit diesem Vorbehalt von Idealen seelenloser Volker gesprochen werden. Es bedarf keiner Erlaute- rung, weshalb solche Ideale, soweit sie menschliche Form tragen, sich gewissermafien als Berufsideale dar- stellen miissen. Der niitzliche, somit gerechte und kluge Konig, der niitzliche, somit ergebene und sachkundige Sklave, der niitzliche, somit verschlagene und erfindungs- reiche Kaufmann und Ziichter, der niitzliche, somit ge- horsame und fromme Untertan geniigen dem Bediirfnis ethischer Verschonerung und Verallgemeinerung. So- weit ein allgemein menschlicher IdealbegrifF sich iiber die Mannigfaltigkeit der Typen erheben soil, ergibt # sich die gemeinniitzige Tugend der Barmherzigkeit. Die praktische Ubung dieser Generaltugend aber verstrickt sich in dieNetze, welche das Schwesternpaar, Religion und Gesetz, iiber alle Handlungsmoglichkeiten flicht. Eine standig verengerte Kasuistik kann, wie die romische und spatjiidische, alle Lebensgebiete derart iiberspinnen, dafi die EntschlielLung, zwanglaufig eingeengt, jeden ethischen Wert verliert, und die letzten kiimmerlichen Ideale als Niitzlichkeiten, kleinere Ubel oder gesell- schaftliche Notigungen hinsterben.

4.8

Ein auGerer Zug, den farchthaften Gruppen gemein- Seeieniose Gesei- sam und im Stande vorgeschrittener Zivilisation von politischer Bedeutung, zeigt sich hierin: sie konnen nicht einsam sein und nicht schweigen. Es ist, als ob sie nur dichtgedriingt und in engstem Zusammenhang sich sicher fuhlen, wobei ihr Interesse fur den Nachbarn weit gr6fi)er ist als ihre Liebe. Eilfertiger Redeschwall, tonend und von einfdrmigem Pathos, dient weniger der Mitteilung als dem Erleichterungsbediirfnis und der Uberredung. Daher im politischen Zustande die leicht- bewegliche, gewalttatige offentliche Meinung, das Uber- gewicht der Redner und Schreiber und die Herrschaft der Phrase.

Wenden wir uns zu den entgegengesetzten Leitzeichen Kriterien see- mut- und seelenhafter Volker, so tritt uns zuvorderst die meinschaften heitere Freiheit des Lebens und der Hang zu transzen- denter Erhebung entgegen. Unbelastet von Begehrlich- keit schwebt der Geist iiber der Erscheinung und erhebt sich zu der souveranen Anschauungsform des Humors, die im aufiersten Gegensatz zum terrestrisch gearteten Pathos, scheinbar sorglos und unbeteiligt und dennoch vol! hochsten Verstehens sich der Geschopfe annimmt. Die transzendente Liebe versenkt sich in die Natur und verliert sich nicht, weil sie durch den farbigen Schleier das Licht des Unbedingten erblickt; sie verklart ihrObjekt uber irdische Erfahrung und Konzeption hinaus zum Ideal, sie ahnt jenseits der fafi)baren Gottheit das Gesetz.

Kult und einfiihlende Empfindung der Natur, Achtung vor der Einheit und Wiirde jedes Geschopfes, hinge- gebenes Aufhorchen zu der Stimme der eigenen Seele schafFen diesen Gemeinschaften intuitive Frommigkeit, >

individueile Kunst und reine Lyrik; wenn unter dem

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BegrifF der Lyrik nicht gereimte Aufsaitze verstanden werden diirfen, sondern jene unerklarlichen libergedank- lichen Seelengebilde, deren die Zeiten uns einige Dutzend hinterlassen haben.

Im Gegensatz zu der transzendenten Ethik, die im^ Stillen jede Lebensform durchdringt, bleibt die praktische Ethik der Seelenvolker, als unwesentliche Zwecksache, scheinbar primitiv und unausgebiidet. Im wesentlichen beschrankt sie sich auf die Verteidigung der Gemein- schaftscharaktere : Mut, Treue, Wahrheit. Die Kraft dieser urspriinglichen Wertungen aber ist so groI5, dafi sie, entgegen alien geschriebenenundgepredigtenLehren, noch heute, da sie langst aufgehort haben, Gemeinschafts- ausdruck zu sein, das praktische Empfinden aller west- lichen Kulturen beherrschen. Seelenhafte Entsc^ieden, wie uns der Gegensatz seelenhaft-mutiger lose Epochen ^^^ unbeseelt-zweckhafter Volker entgegentritt, sondern sich die geschichtlichen Epochen der Einzelvolker in| Epochen der Seele und der Seelenlosigkeit. Ursachen des Die mechanische Ursache ihres Wechsels besteht in der gleichsam hydrostatischen Schichtung der Bevolke- rungslagen auf der Erdoberflache , die sich mit jeder Flutbewegung der Volksmassen andert. An jeder Stelle der bewohnten Welt haben Invasionen und Erobe- rungen in ungemessener Zahl stattgefunden; fast jedel dieser Uberflutungen mul5te eine Oberschicht Herrschen- der und eine Unterschicht Beherrschter hinterlassen. Notwendig erfolgt nach bestimmter Zeit eine Durch- dringung und Mischung dieser lebenden Fliissigkeiten, | wobei in heftigster Reaktion und raschem Verlauf die | Perioden der hdchsten jeweils moglichen Kultur empor-^ij steigen. In friiheren Schriften habe ich darzulegen ver-l

so

sucht, dafi die Bliitezeiten westlicher Kultur denjenigen Umlagerungen entsprangen, bei denen eine seelenhafte ,,

Oberschicht in die Mischung eintrat.

Je nachdem nun eine seelenhafte oder seelenlose Be- volkerungsschicht der Gemeinschaft die Pragung auf- driickt, entstehen im zeitlichen Wechsel seelenhafrere und seelenlosere Epochen bei scheinbar unverandertem Volkskdrper. Das friihe Griechentum und das germa- nische Mittelalter auf der einen, das byzantinische Mittelalter und die franzosische Aufklarung auf der anderen Seite konnen als Lehrbeispiele dieses Kontrastes hingestellt werden.

Herrschaft des Glaubens, der Treue, des Krieges, der Kritnien der positiven Ideale, bezeichnen die Perioden der Seele, Herrschaft des Mate ri ell en, der Staatsrason, des Frie- dens, der Gelehrsamkeit und Analyse bezeichnen die Perioden des Intellekts. Beirrend ist es, in herkomm- lichem Sinne dieVolkerepochen mitmenschlichen Alters- stufen zu vergleichen; denn der Vergleich bindet sich an den Intellekt, der freilich, fiir sich genommen, im Alter trocken und rasonnabel zu werden pflegt. Richtet sich hingegen der Blick auf die Gesamterscheinung, die Intellekt und Seele umspannt, so erhellt, daC) die Be- gierde nach der Million und die Begierde nach der Glasperle das Gleiche ist, und dafi die Erstellung der Wildfalle und der Gul5 der Kanone nur im Grade der Erfahrung und der Intelligenz sich unterscheiden. Des- halb ist die scheinbar greisenhafte Periode des hartge- kochten Rationalismus und Materialismus in Wahrheit eine Periode der Jugend, ja der Kindlichkeit, zu der sich das Aufsteigen zur Transzendenz wie ein Eintritt der Reife verhalt. In richtiger Ausdeutung jenes beliebten

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und unzulanglichen Bildes, das ich erwiihne, urn es ab- zutun, erscheinen die dunklen Volker nicht als jugend- frische Naturburschen, sondern als greisenhafte Kinder; in Jahrtausenden hat sich ihre Seele nicht geregt, wahrend ihr Intellekt ohne zu reifen gealtert ist. Deshalb ist es ein flaches Schlagwort gedankenloser und koketter Mate- rialistik, jene dunklen Genossen als Fiihrer einer kiinf- tigen Kulturerhebung auszumfen. Auch sie werden der- einst zur Seele gelangen, doch nicht als Fuhrer, sondern als spate, miihsam gereifte Nachziigler. cb^r ^"^ ^^°' ^^^"^^^^^ Schritts mit den Gezeiten seelenloser Epochen, deren die Welt urn der animalischen Notwendigkeit willen immer wieder bedurfte, treten Einzelfiihrer in- tellektuell hoher, aber seelenloser Begabung hervor, die den Sinn ihrer Zeit zusammenfassen, auf die Spitze treiben und somit erledigen. Sie leisten notwendige, aber negative Arbeit, im Gegensatz zu jener Reihe der Vorwartsschauenden, die das kommende Reich verkiin- deten und die in Wahrheit Propheten genannt werden diirfen, weil weder ihre Sache, die unerschopflich ist, noch ihr Geist dutch den Lauf der Zeit erledigt werden kann. Mifit man jene voltairischen Intelligenzen nicht gerade an Plato und Paulus, so erscheinen viele nicht unbedeutend,indemsiealtgewordenesMeinungsgerumpel fortraumen; ohne Illusion und ohne Scheu, die ihnen fremd ist, weltlicher Macht gegeniibertreten, Gedanken Grosserer kritisieren, popularisieren und propagandieren, und somit teils vorbereitend, teils digestiv und erledigend wirken. Mit ihren geringsten Genossen teilen sie die Hilflosigkeit gegeniiber dem nicht zu Errechnenden, nicht zu Konstruierenden. Um daher im Positiven nicht ganzlich zu verstummen, erheben sie zuweilen einen

jra

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Schrei nach Leben und Lebenslust, der um so bacchan- tischer hervorgequalt wird, je triibseliger und sinnen- fremder es im Inneren des Idealisten wider Willen aus- sieht. Kiihnere und konsequentere Temperamente dieser Art bekennen sich freimiitig zum Pessimismus , indem sie entschlossen der Welt aberkennen, was die Natur ihnen versagt hat.

Dail) nach ihrer Herkunft und Praxis die Periode, in Epoche dn Ge- der wir leben, trotz aller hofFnungsvollen Krafte, die in ihrem Schofie keimen, 2u den seelenlosen gezahlt werden >^^

mufi), habe ich in der Kritik der Zeit dargetan. Die Schichtenmischung der Kulturlander ist bis auf Bruch- teile vollendet; die Oberschichten sind nahezu verzehrt; die Unterschichten tragen, wo nicht die sichtbare, doch die geistige Herrschaft, und haben, vom Druck befreit, ihre expansiven Krafte in beispiellose Volksvermehrung \

ausstromen lassen. Das Doppelphanomen der Mechani- Mechanhierung sierung und Entgermanisierung erklart restlos alle Er-^^^ scheinungen der Zeit: die Mechanisierung als Folge und Selbsthilfe der Volksverdichtung und als Ursache des Dranges zur Wissenschaft, Technik, Organisation und Produktion; die Entgermanisierung als Folge der Um- schichtung und als Ursache des Mangels an Richtkraft, Tiefe, Idealismus und absoluter Uberzeugung.

Die heutigeGemeinschaftgleichteinerungeheurenPro- Aufieres EUd den duktivgenossenschaft; denn Ernahrung und Beschaftigung zehnfach verdichteter Volksmassen ist ihr auferlegt; Giiterproduktion ist der Inbegriff der Weltarbeit, und in der Stimmung jedes Einzelnen spiegelt sich das Gesamt- bild in der Gestalt seines Verhaltnisses zum Besitz und zur Macht. Tausend libereinander gelagerteNetze zweck- mall)iger Organisationen durchdringen den lebendigen

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Korper der Zivilisation und schafFen ihn zu einem selbst- tatigen und zwanglaufigen Mechanismus, aus dessen Ver- strickung niemand entrinnt, er fliichte denn nach Tibet oder Feuerland. Die kiinsdich begriinte und durchfurchte Oberflache tragt die Spuren des Geisterbaus: Gewebe aus Stein und Metall, die von den Kraften des Feuers und Wassers erzittern. [jtneres Biid dei Alle Machte des Denkeus und Fiihlens sind in den Dienst des Gesamtorganismus eingespannt. Mittelbar und unmittelbar geschieht fast jede Regung der belebten Elemente im Dienst materieller Produktion. Selbst wo die freiesten Kiinste abseitig ihr Wesen treiben, dringt in die Werkstatt Larm und Atem des Marktes, und es entstehen eilige, halbfertige Dinge, vom Augenblick fur den Augenblick erzeugt, belastet von der Uberfulle der Eindriicke und Vorbilder, bestimmt, im Massenhaften zu versinken. Der Gedanke, geschult in der versteinerten Methodik wissenschaftlicher Forschung, triumphiert, wenn er benachbarte Tatbestande durch die dogmatischen Mit- tel der Analogie, der Rechnung und der Entwicklung verketten kann, und stutzt vor jeder Bewertung und transzendenten Umfassung; er verliert den Boden, sobald das Joch handgreiflicher Niitzlichkeit ihn nicht mehr niederdriickt.

Die Zeit wagt nicht mehr, liber sich selbst nachzu- denken. Sie fiirchtet, die Antwort auf die Fragen: warum? wohin? wozu? mochte sie vernichten. Denn im innersten fiihlt sie die Zwecklosigkeit ihrer Zwecke, die Torheit ihres Gliicks, die Irrealitat ihres Handelns, die Selbstvernichtung ihres Wissens, die Unnotwendigkeit ihrer Kunst, die Willkiir ihrer herkommlichen Leben's- formen und Sitten. Hielte das Bestehende sich nicht

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durch die Tragheitsgewalt der schwingenden Massen, so ware die Welt jedem Umsturz preisgegeben; denn es gibt nicht einen in der Tiefe transzendenter Uberzeu- gung gelagerten Ruhepunkt, in welchem das System dei Krafte sich verankern konnte.

Vergeblich trachtet der verjagte Glauben sein Netz an scheinbar gefestigte Stiitzen anzuspinnen ; mag er die Wissenschaft, die Heimat, die Kunst oder den Mythus wahlen: es bricht der Faden, denn die Pfosten schwan- ken. Das hochste Gemeingut, die Uberzeugung vom Ewigen, ist dem Geschmack, der Personlichkeit, der Mode und der Willkiir ausgeliefert.

Taglich wachst die rotierende Kraft; zerschmettert ^/ziv^^ ««^ wird, wer in die Speichen greift, und alles praktische £poche Handeln besteht darin, gutwillig der Bewegung zu fol- gen, die den am starksten schiittelt, der sich stemmt. Von triiber Komik ist es, wie wohlgesinnte Menschen, des Glaubens, sie batten sich ins Historische, ins Abso- lute gefliichtet, mit altertiimlichen Gebarden, unent- schlossen und verlegen im Maschinenritt ihres Zeitalters einhertraben. Und doch steht es jedem frei, den Schalthebel /

zu ergreifen, der die innerste Triebkraft des Systems zerschneidet. Nicht die Einzelglieder der Mechanisierung sind angreifbar, denn sie sind mit eisernen Klammern objektiver Logik verschrankt; aber im tiefsten Innern birgt sich der widerstandslose, vom Hauche des Gedan- kens bewegbare Punkt: die Schwache der Seele.

Im Laufe der Darstellung wird der Sinn der mecha- nistischen Priifung sich ergeben, die schwerer als Flut und Eiszeit*auf der Menschheit lastet. Diese Not be- driickt uns deswegen barter als alle fruheren Note, weil sie selbstgeschaiFen ist; sie gleicht hierin den neuen

Lebenssorgen des erwachsenden Menschen, die als Enr- gegnungen des Schicksals den Frager zum erstenmal aul seine eigene Verantwortung verweisen. In uns liegt die Schuld und in uns die Losung; von den Machten haben wir nichts zu erwarten als die Hilfe, die sie gutem Will en zollen.

Wir haben den Kreis des Seelengebietes umschritten in der Absicht, den Anteil des Seelenhaften an der gei- stigen Okonomik der Individuen und Volker in Ver- gangenheit und Gegenwart zu ermitteln. Bevor wir zum letztenmal den Kern dieses ersten Buches, die Geburt der Seele beriihren, diirfen wir es unternehmen, den er- weiterten und vertieften BegrifF der Seele dem des In- tellekts kritisch gegeniiberzustellen. Seele und In- Versuchen wir zunachst, mit einem Blick das Kon- trastbild zu umspannen, so ist dies die Summe: das In- tellektuelle erscheint niichtern, hastig, widersprechend, absichtlich, kompliziert und miihsam, das Seelenhafte klingend und farbig, selbstverstandlich und einfach. Man fiihlt den Unterschied im Ausdruck Dessen, der Etwas will, und Dessen, der Nichts will. Der Eine glaubt nichts und verlangt Vieles, der Andere glaubt Vieles und verlangt nichts. Dem Intellektuellen scheint der Seelenhafte unklug, vertraumt und verstiegen, dem Seelenhaften scheint der Intellektuelle angsterfuUt, gierig und blind. Der Intellekt eilt kilometerdurstig seine Schienenbahn entlang ins Leere, die Seele schreitet unter Gestirnen in stiller Versunkenheit. Dort die ruhelose Frage: weshalb? wozu? und keine Antwort, hier die Fiille des Vernehmens und keine Frage. Der Intellekt wirbt und streitet, die Seele emp- fangt und schafft.

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Zum einzelnen. Die erste groGe Aufgabe des In- Seele und In-

tdlckt 3.1s hp tellekts ist: Erkennen; denn um zu werten und zu wir- j-^.j^gj^^j^,

ken, mui5 er wissen, was ist. Zwei Gebiete des Den-^^^"** kens hat er sich vorbehalten: das Rechnen mit Grol5en und das Rechnen mit BegrifFen; Mathematik und Dia- lektik. Im Sinne der Erkenntnis kommen beide iiber die Gleichung nicht hinaus, das heill)t liber die mehr oder minder komplizierte Identitat. Das produktive Den- ken aber kann aus der Identitat und der Formel nichts machen; es schreitet iiber Ahnlichkeiten, Analogien und Gegensatze zum Gesetz, das der InbegriiF seines Wir- kens ist.

Wo der Intellekt auI5erhalb statistischer Erfahrung Trren des hxteh operiert, also sinnlich und dinglich denkt, ist er hilflos dem Irrtum preisgegeben. Von logischen Fehlern frei- lich droht ihm keine Gefahr, denn sie sind selten, so oft man auch von ihnen sprechen hort: der normale Irrtum besteht vielmehr darin, dafi das Wesentliche der Tat- sachen und Zusammenhange unterschatzt oder verkannt wird, wahrend Nebensachliches und Nebendinge sich auf- drangen. Auswahl des Entscheidenden aus der Unzahl der Tatsachen, richtige Abschatzung inkommensurabler Krafte und Worte sind intellektuell nicht zu erringen. Das Kriterium sachlichen Denkens ist Intuition. So er- leben wir alle Tage, dal^ die unsinnigste Meinung mit dem vollen Riistzeug des Intellekts verteidigt, ja erwiesen wird. Die Dialektik braucht logische Verst6l5e nicht zu begehen; es geniigt ihr, das Unwesentliche zu betonen, das Wesentliche abzuschwachen oder zu unterdriicken, und ihre Advokatur fiihrt zur Uberzeugung des scharf- sinnigen und instinktlosen Intellekts.

Desgleichen begegnen uns Menschen von bedeuten-

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dem Verstande, die sachlich, folgerichtig und unwider- leglich argumentieren, und unrettbar das Falsche tun, wenn sie ihren Argumenten folgen: der logische Bau ist gut, aber das Material ist schlecht, weil nicht Intuition es wahlte. Diese Menschen denken niemals falsch und immer schief. infaVibiiitat der Die Seele aber, welche nicht denkt, sondern schaut, ist des Irrtums nicht fahig. Wie das ungeschulte, aber gesunde Auge beim ersten Anblick eines Bildes den per- spektivischen Fehler fiihlt, der dem konstruierenden Zeichner entgangen ist, so empfindet die Seele in voll- kommener Einfuhlung die Ubereinstimmung einer Denk- folge mit dem Naturgesetz, und seine Verletzung emp- findet sie als Dissonanz. Ohne zu argumentieren ist sie ihres Glaubens sicher; sie schmeckt und wittert gleich- sam die Wahrheit, den Irrtum und die Liige. Deshalb duldet sie nichts Schiefes und nichts Kompliziertes; die Erschaunisse, welche die Seele dem Intellekt zur For- mung libergibt, sind klar wie der Tag und jedem Kind begreiflich. Unter den grol5en Wahrheiten, die vom Denken der Jahrhunderte libriggeblieben sind, ist nicht eine, die sich nicht mit einfachen Worten leichtverstand- lich aussprechen liefie. Dies bedeutet es, wenn der Apostel sagt, die Liebe begreift alles. Intuition Auf niederer, materieller Stufe nennen wir diese Schaukraft, diese unbewufite, unerlernbare und unkon- struierbare Sicherheit des Wahlens, gesunden Menschen- verstand; auf hochster, vergeistigter Stufe heifit sie In- tuition. Solche Fahigkeit ist nicht, wie kaltsinniger Ma- terialismus wiinschen konnte, eine Art geronnener, un- bewufit gewordener Erfahrung, wie etwa jene Sicherheit des Auftretens und Benehmens, die von guter Herkunft

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und Gewohnung ausgeht. Denn wo diese intuitive Kraft mit ihrer eigenen unbeirrbaren Zuversicht auftritt, da greift sie iiber alle Erfahrung und generationsweise Ge- pflogenheit hinaus bis in die tiefsten Geheimnisse der Empfindung, Kunst und Transzendenz. Ihr Wesen ist, daI5 sie nicht auflost, sondern nachschafft; in ihr voll- zieht sich mikrokosmisch das Warden und Geschehen der Welt, das ein Geistiges ist, zum zweitenMale; sowie in der Bliite das ganze Wesen der Pflanze, auf kurze Mo- mente zusammengedrangt, sich in hochster Reinheit wiederholt.

Bedarf der Verstand des intuitiven Einschlages, somit seelenhafter Hilfe, um sein praktisches Geschaft* des Denkens und EntschlieJ&ens iiber das alltagliche Mal5 hinaus zu besorgen, so ist er dennoch nicht fahig, das Wesen des Seelenhaften zu erfassen, weil es Wider- spriiche zu seiner Erfahrung auslost. Die Seele aber be- greift den Intellekt vollkommen, sie empfindet ihn als wichtiges, zwar nicht zulangliches, sondern der Richt- kraft bediirftiges Organ; sie begreift die Notwendigkeit seiner Fehler, die Eigenart seiner Irrungen, und erblickt sie vornehmlich in ungestillten Wiinschen, die seit jeher Vater falscher Gedanken waren.

Deshalb stehen Menschen unzweifelhafter aber seelen- Derinteiuktueitt loser Klugheit den Reden und Entschlussen mtuitiver ^^^^^,^ Naturen in ratloser Verlegenheit gegeniiber. Sie wittern ^

Listen und Hinter gedanken, weil die Einfachheit der Aufierung sie erschreckt; und haben sie sich endlich uberzeugt, dal5 sie mit durchsichtigen, ja naiven Charak- teren zu tun haben, so begreifen sie erst recht nicht, woher diese Unschlauen und Unkomplizierten das Schwierige durchschauen, das Unerwartete vollbringen.

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Denn sie selbst kommen trotz Klugheit und Skeptik immer bis nur zum gleichen Punkt; sie zehren sich auf im nniiberblickten Dickicht der Widerstainde und bleiben von komplizierten und schiefen Verhaltnissen umgeben. Wie denn die Lebensfiihrung, die tagliche Gewohnheit, der Dunstkreis, ja das scheinbar zufallige Lebensschicksal, als Summe aller selbstgeschaiFenen Umstiinde, das un- triigliche Bild des inneren Menschen spiegelt; zuver- lassiger alsWorte,Handlungen undkorperlicher Ausdruck. Der Kluge freilich hat den Vorteil, dall> ihm sein Riistzeug nie abhanden kommt. Er weiH) auf jede Frage Antwort, denn der geschaftige Dienst des Intellekts setzt nicht aus. Die Seele aber liebt das Schweigen. Ungefragt, in gliicklichen Stunden lafit sie sich ver- nehmen; dann ofFnen sich unerblickte Tore; in voUem Frieden wandelt sich das Bedriickende zur Klarheit, der Wirbel des Einzelnen lost sich in der Reinheit des Ge- setzes, und der Geisr kehrt zuriick zum Alltag, beladen mit den Geschenken der Erinnerung. iVechjeiivirkitng Alsbald aber wird der Intellekt zu seinem besten Dienst aufgerufen. Er empfangt die erschauten Gebilde, begrenzt und ordnet sie, kleidet sie in die Vorstellungen und Worte des Lebensgebrauchs und reiht sie in den Besitzstand der Erfahrung.

In ahnlichem Verhaltnis wie auf dem Gebiet des

reinen benkens stehen Intellekt und Seele vor den Auf-

gaben der Wertung.

Seele und In- So sehr der zweckhafte Intellekt zur Wertung neigt,

tende Krafte ^^^^ ^^^ ^^^ Antriebe, Ziele und Gliick verspricht: sie

Inteiiektueiie }q\q\\^x: Seine ungliickliche Liebe, denn er kommt iiber

Wertung ... .... i i

utilitarisches Denken nicht hinaus. Wenn er sich schembar noch so weit vom irdisch Niitzlichen entfernt, um nach

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ideellen Bestimmungen des Lebens und der Welt zu greifen: das Erdgewicht seiner Zwecke reii^t ihn nieder auf die utilitarische Flache, weil der Wert seiner Ideale nicht anders als durch plausible Notwendlgkeiten inner- halb der planetarischen Okonomie erwiesen werden kann. Gleichviel, ob er den Genul5, die Entsagung, die Leidesaufhebung, die Tat oder den Imperativ vom Sinai herabholt, gottlich oder irdisch betrachtet und aus- gesprochen bleibt jedes seiner Gesetze eine Niitzlichkeit. „Du sollst, auf dai5", „du sollst nicht, auf dal^ nicht", lauten seine Gebote. Die Seele verheifit und droht nicht; ihr einfaches Argument sagt: du kannst nicht anders.

Die Seele schaiFt absolute Werte. Nicht als ob sie Seeiiscbe Wer- das Absolute erkennte; auch sie ist noch an die Erschei- ""^ nung gebunden; doch beginnt sie in einem Punkte die Erscheinung zu liberwinden, gleichsam als die erste einer langen Reihe von Stufen, die vom Erschauten in das Absolute hiniiberfiihren. Denn sie schaiFt ein zweites Ich, den Urgrund eines hdheren BewuI5tseins, das, weil es nicht mehr zweckhaft ist, von der Erscheinung sich loszulosen beginnt. Dieses Bewufi)tsein will und ver- langt von der Erscheinung nichts mehr, und fiihlt sich dennoch bedingt, bestimmt, von Gesetzen getragen, mit denen es nicht anders als in Ubereinstimmung existieren kann. So werden diese Gesetze, von denen wir spater- hin zu handeln haben, zu absoluten Wertungen, die im Intuitiven Zustande schlechthin nicht mehr verletzt werden konnen.

Ja, es darf gesagt werden, dafi) die Seele iiber 2\\q Paradnxie da Wertungen und Idealitaten hinausfiihrt. Denn nian ^^^^^^^^.^ denke sich eine der rein intellektuelien Idealforde-

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mngen als voilkommen erfiillt: was ware die Folge? Eine um ein beliebiges verbesserte Welt, eine Welt, in der die Idealforderung dutch Erfiillung ihre Bedeutung verloren hat. Somit hat aber auch diese bequemere Welt nicht an Sinn gewonnen, sondern an Sinn verloren. Sie ist im Sinne des Zweckes gebessert, aber im Sinne des gleichen Zweckes erledigt, wie eine geloste Auf- gabe. Deshalb ist das intellektuale Paradies der Bankerott des materiellen Denkens.

Indem nun die Seele sich selbst und eine neue Welt zweckfrei schafFt, befreit sie von dem Widerspruch des Zweckes und der Erfiillung; und indem sie ihre Erfiil- lung, die mit kirchlichem Ausdruck Seligkeit genannt werden darf, in sich triigt, hat sie dutch ihre Existenz der Welt einen Sinn verliehen. SeeiischeReiighn Aus seelenhaftem Gehalt erklart sich die ethische Uberlegenheit der echten, das heiI5t transzendenten Religionen im Vergleich zum intellektuellen Denken. Sie freilich waren aller Beweise iiberhoben; sie durften ihre Himmelslehren an Offenbarungen und Wunder kniipfen, wodurch denn eben wieder im negativen Sinne zugegeben war, dai5 der Verstand zum Werten nicht hinlangt. Religiose Intuition hat die hochste uns be- kannte ethische Lehre gezeitigt, die Lehre vom Gottes- reich, die dem Intellekt voilkommen unfail)bar, in viel- deutiger und unklarer Formulierung die Jahrhunderte liberdauert hat und die in jeder kommenden intuitiven Ethik als Sonderlosung enthalten sein wird.

Seele und In- Betrachten wir Intellekt und Seele in ihrer dritten

tellekt 3.1s

schaffende Hauptrelation, als schaffende Krafte, so ergibt sich beim

Krafre ersten Blick, dal5 jenem am Wirken, dieser am eigent-

lichen Schaffen gelegen sein muI5. Denn der Zweck

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geht nicht auf die Sache, sondern hinter die Sache, Er lost jede Unternehmung in eine Reihe von Teilhand- lungen auf, die an sich vollkommen wertlos, erst durch das Endziel, wo nicht geheiligt, so gerechtfertigt werden. Uberdies ist, wie wir gesehen haben, auch dieses End- ziel ein relatives, so dai5, von innen betrachtet, der Intellekt in kreisender Bewegung ergebnislos seinem eigenen Willen zuwiderlauft. Nach auC)en hinterlal5t seine Arbeit bedeutende Spuren, aber auch sie tragen nicht die Zeichen des Absoluten, sie sind bestenfalls Mittel fiir einen nicht gewollten Zweck.

Intuitives SchaiFen aber ist zweckfrei, selbstlos, not- Intuidves und wendig. Deshalb ist das GeschafFene auf jeder Stufe ^^^^V^-' ^'' seines Entstehens abgeschlossen und vollendet wie die Schopfungen der Natur. Man denke an das Beispiel des entstehenden meisterlichen Kunstwerks: Studie, Skizze, Untermalung, Torso erleben in jedem Augenblick des Heranreifens eine fertige, selbstberechtigte Existenz, die vollgiiltig bleibt, auch wenn der Prozei5 des SchafFens vorzeitig abbricht.

Zweckhaftes Schaffen ist Frondienst; seine Freude liegt nicht in der Leistung sondern in der Erledigung; das Produkt ist nicht Endziel, sondern neues Werkzeug und Mittel. Intuitives Schaffen ist in Wahrheit bewull)t- seinsvolle Fortsetzung des Schaffens der Natur, Schopfung und Zeugung. Auch darin ahnelt der Vorgang dem Akt natiirlicher Schopfung, dal5 er Werke schafft, die aus eigenem Recht bestehen, die durch Wiirde und VoUendung ihre Existenz in sich selbst rechtfertigen. Sie sind einzige, nicht wiederholbare Abbilder des Erzeugers, Bilder seiner Seele, und indem sie in hochstem Malbe indi- viduell sind, sind sie dennoch Gesetz, und somit absoxUt.

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Schafen der Deshalb kann liber das Wesen fits wahren Kunst- werkes auf die Dauer keine Tauschung bestehen. Ge- suchte Originalitat ist transzendenter Berrug, denn sie unternimmt es, Seele zu erlisten. Niemals kann wahre Individualitat dem Willen entspringen, weil der intellek- tuelle Wille typisch und unpersonlich ist wie alles Ani- malische. Die Kunst aller Intellektuellen ist die gleiche, wie die Kunst aller Katzen die gleiche sein wiirde. Und auch das Werk des Seelenvollen ist nur dann wahrhaft individuell, wenn der Schopfer nicht der Neigung der Selbstliebe und Laune sich schrankenlos hingibt, sondern alle Krafte daran setzt, das Wahre, das Objektive, das Absolute zu schaffen. Rembrandts Kunst ist deshalb unsagbar personlich, weil er isich unsaglich miihte, ganz unpersonlich im Objektiven aufzugehen und sich selbst zu vergessen. Der junge Mensch, der eine individuelle Schrift sich anqualt, wird albern und gekiinstelt schreiben; be- gniigt er sich, mit gutem Willen den Buchstaben klar und objektiv richtig zu formen, so wird zu seinem spaten Erstaunen ein Eigenes in seiner Schrift erscheinen. Denn die heimlichsten Krafte, vor allem der Seele, konnen frei nur dann ausstromen, wenn der Wille, durch Gegenkrafte gebandigt, seine Richtkraft verloren hat. Alle Inspiration verlangt Ruhe und Gleichgewicht des Geistes; wie siclji Gestirne nur auf klarer Flache spiegeln. Der wiitende Hunger des Wollens muli^ schwinden, wenn die Seele vernehmen und erwidern soil. Triebkraft des Wiederum erscheint die Analogie mit dem Natur- fens ^^" ^ vorgang, indem das intuitive SchafFen ungewollt und unerzwingbar ist. Seine Triebkraft ist die Liebe, die sich so riickhaltlos in ein Anderes versenkt, daI5 das

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Gleichgewicht der Seele durch die einseitige Last ge^ fahrdet wird. Das UbermaI5 empfangender Liebe wird durch gebende Liebe geheilt, alle SchafFenskrafte stromen ins Innerste zuriick, und es entsteht aus zweifacher Liebe geboren das Werk von solcher Eigenmacht des Lebens, dafi es dem Schofi entfremdet und verfeindet werden kann. Die Lust des SchafFens aber, die den Schmerz liberwiegt, beruht im wiedergewonnenen Gleich- gewicht der Seele, das um neue Kraftepaare bereichert ist.

Nicht helfend, eher hemmend und dennoch will- lnfe//ekt a/j kommen ist die Mitwirkung des Intellekts., sofern sie '•^^'^''-''^ sich in Grenzen halt. Sie erweckt die Sorgen der Ver- gleichung, der Verdeutlichung und Einreihung, die, ohne Bedeutung, solange der schopferische Mensch im Trans- zendenten verharrt, Realitat gewinnen, sobald er aus eigener Freude die Menschheit zum Mitwirken und Mitempfinden aufruft.

Was hier gesagt ist vom intuitiven Produkt, trifFt Schajfen des AU- durchaus nicht allein das Kunstwerk, obzwar dieses das'''*^ wahihaft absolute Erzeugnis unseres Menschheitsstandes ist. Der Handwerker alten Schlages, der ein Gerat um seiner selbst willen und im Blick auf die Vollendung fertigt, ist im vollen Sinne Schopfer. Daher die lebens- warme, handfeste Kraft, die den Werken alter Ziinfte entstromt, wenn sie mit den sparrigen, falsch geputzten Artikeln derZweckproduktion in Vergleich treten. Schop- /

fer ist ein jeder, der das Werk um des Werkes willen ^

tut, und die Sache um der Sache willen liebt, mag er Tagelohner, Kramer und Hausierer sein; Fronarbeiter ist, wer um Besitz, Ehre, Anerkennung, kurz um Loh- nung wirbt, sei er Dichter, Philosoph, Staatsmann oder Feldherr.

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Intuition undGe- Auch fordert inmitive Schopfung an sich keineswegs Genialitat; und wiederum besteht Genialitait keineswegs allein aus Intuition. Genialitat, als hochste irdische Es- senz, bedeutet vollkommenes Gleichgewicht intellek- tueller und intuitiver Krafte. Wir kennen, was man auch sagen mag, kein Beispiel wahrhafter Genialitat, die nicht mit souveraner Meisterschaft den Intellekt gehand- habt hatte, ohne ihn freilich zur Tragkraft des Lebens zu erhohen. Reinste Intuition hingegen fiihrt zum trans- zendenten, visionaren und losgelosten Dasein; die Person Christi haben wir nicht das Recht als genial zu bezeich- nen. WoUte man diese hochsten Erscheinungen ihrem Wesen nach benennen, so konnte man nur die Bezeich- nung der Gottlichkeit wahlen. Kririk der SoUen wir zur zusammenfassenden Kritik der Seele

Seele schreiten, so wiederholen wir, daI5 ihre Krafte nicht Fort-

setzungen nochEntwicklungsstufen der Intellektualkrafte bedeuten. Die Kraft der Seele ist die hohere, insofern sie die Kraft des Geistes begreift, ohne von ihr begrifFen zu werden. Sie ist irrational, insofern ihr an den Zwecken und Erfiillungen des animalischen Daseins nichts liegt, so daC> sie geradezu diesem Dasein verhangnisvoU wer-, den kann. Sie ist liberirdisch, insofern sie ihre Erfiil-, lung in sich selbst tragt, und in diesem Sinne ist sie von; hochster Realitat und von eigenem Recht. Sie ist trans- zendent, indem sie liber sinnliche Erfahrung hinaus das Gesetz in sich erlebt und intuitiv erschaut. Indem sie, aber das erschaute Gesetz in die Welt hinabtragt, stei- gert sie das gemeine Dasein liber intellektuelles Mafi und erringt iiber den zweckhaften Intellekt auch die praktische Uberlegenheit. Sie weist auf ein seliges und gottliches Leben und auf ein selbstvergessenes ruheno

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ies Gk ck in sich selbst, indes der Intellekr, solange er consequent und wahrhaft bleibt, nur Geniisse oder niich- cern geordnete Idealzustande versprechen kann, die nicht einmal Geniisse sind.

Noch stiitzt sie sich auf Sinne und Erscheinung. Aber ^^e^^ «»^ Trans-

xendcws,

>ie erlebt in ihrer starksten Existenz Augenblicke, welche [hr die Erscheinung unwesendich, ja zweifelhaft werden lassen und ihr die Gewifiheit innerer Sinne verleihen. Die gleiche anschauende Gewil^heit, welche in Dingen ler Welt die Geheimnisse entschleiert und den Intellekt iur verstummenden Folge zwingt, weist hier apodiktisch jber die Grenzen des Fafibaren hinaus, und die Gewalt ier Sehnsucht zwingt den Blick in weltlose Tiefe und Feme.

Deshalb ist die Seele eine Kraft, die sich dem Abso- luten nahert, und der wir vertrauen diirfen. Beschran- ien wir das Streben nach Erkenntnis auf die Krafte des [ntellekts, so spielen wir ein edles, weil einheitliches Gedankenspiel, das kritisch ende.a mufi, weil der Intellekt liber keine Krafte verfugt, die liber ihn selbst hinaus- w^eisen. Alles intellektuale Denken wird in letzter Linie Eur Logik. Ist es uns um endgiiltiges, im hochsten Sinne praktisches, sachlich-intelligibles Erfassen zu tun, so diir- fen wir nicht, um pedantischer Einheitlichkeit will en, die Krafte der Seele ausschliefien. Die Gefahr der Traumerei and mystischen Zerflossenheit tritt nicht ein, wenn wir uns davor hiiten, Erlebnisse der Seele zu materialisieren and zu dogmatisieren. Solch krankliches Bediirfnis wiaer- legt sich selbst, denn es ist kein seelenhaftes. Die Seele Seeu and Super- lat keine Lust an Dogmen, Mythen, Symbolen und Wun- dern, obwohl sie das Gleichnis liebt, als welches auch die Welt ihr erscheint. Wundersucht ist hochste Zweck-

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haftigkeit unJ somit intellektueller Materialismus. Der Seele ist es nicht einmal um den Auf bau ihrer Ethik zu tun, obgleich sie die Schliissel einer absoluten Ethik regiert; denn sie fiihlt die eigene GewiU)heit ihres Han- delns im Anblick des Gesetzes. Wohl aber hat der be- diirftige Intellekt das hochste Recht, von der Seele die ethische Lehre zu verlangen, die er mit wahrhaft eigenen Mitteln aufzubauen nicht vermag. Seeif und Reii- Ebensowenig ist es erforderlich und gerechtfertigt, ^ ^ der Religion das Gebiet der Seele zu iiberweisen. Reli-

gion sucht nicht Erkenntnis; weder intellektuale noch intuitive ; sie sucht Trostung, Erbauung, Erhebung, Ver- sohnung und Erlosung. Gleichviel ob sie sich der My then, der Dogmen, der Riten, Symbole oder Lehren bedient, bleibt sie Praxis, und nicht einmal immer seelische Praxis. Die Seele mag noch lange sich reinster religioser Formeni bedieneh, um gottliche Krafte aus- und einstromen zul lassen; indessen will es nicht unmoglich scheinen, dafe seelische Einsicht dereinst alle Religion in sich aufnimmt- und somit aufhebt. Niemals mehr kann das Umgekehrte geschehen, dafi Religion alle seelische Intuition in sich; fafi>t und ersetzt; ja ich wage zu glauben, dafi in Wirk-j lichkeit die religiose Sehnsucht unserer Zeit nichts an-l

deres bedeutet als intuitive Sehnsucht nach seelischerj

i Gewifi)heit, die ihren wahren Ausdruck deshalb noch;

nicht gefiinden hat, weil man immer wieder alles see- lische Sehnen an die Mythologie und Dogmatik verwies. Daher die Ratlosigkeit tief empfindender Menschen, die zwischen dem Skeptizismus intellektualer Wissenschaft und dem immanenten Dogmatismus der Religion keine Heimat fur die Erlebnisse ihrer Seele finden.

Wir haben, indem wir das wesentliche Inventarium

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unseres inneren Erlebens aufzunehmen suchten, wiedeiv holt und nachhaltig in das Gebiet der Erscheinung hin- ubergegrifFen. Der Gang der Darlegung wurde durch diese Exkurse aufgehalten, doch nicht beirrt. Denn nicht um Argumente und Erklarungen war es zu tun, sondern um das Ausklingen der gewonnenen Erfahrung in die Welt des Gleichnisses. Im Echo der Erscheinung ver- nahmen wir verdeutlicht die Erkenntnis, die in diesen ^

Satz gebunden werden soil: Kern unseres inneren Er- !. '

lebens ist die Geburt der Seele.

Aus geheimnisvoUem Urgrund, vom AnimalischenKritikderSee losgelost, nicht vollendet, aber der Vollendung zustre- bend, steigt eine Macht in uns empor und besitzt unser ganzes Wesen. Sie reifi)t uns von der zweckhaften Schop- fung los, um uns durch neue, gelauterte Bande mit ihr zu verkniipfen. Sie binder uns jenseits alles aul^eren Erlebens an feme Machte und schlieI5t uns in hohere Gemeinschaft, die wir zu ahnen wagen.

Vor diesem Phanomen erstirbt alles friihere und gleichzeitige Erleben. Intellektuelle Analysen verblassen zu Spezialismen, wie akustische Experimente vor den Er- schiitterungen einer Symphonie. Das Gebiet der Seele wird das AUbeherrschende, und so lange wir es nicht durchschritten und ermessen haben, bleibt alles Sinnen Vorbereitung und Exegese.

Das Gebiet des inneren Erlebens bleibt vorlaufig mit dieser Evolution erfiillt und erschopft. Vertiefung ist moglich und notwendig, Hiniibersteigen undenkbar.

Deshalb ist es uns auferlegt, die innere Betrachtung zu beschliell)en und uns der Spiegelung zuzuwenden. Die Frage lautet: wie reiht sich das innere Ereignis der Seelengeburt in das Phanomen der Erscheinung? Wie

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entsteht und was bedeutet die Seele in der Welt des Gleichnisses?

Nicht eine Erklarung des geistigen Wesens haben wir von dieser neuen Betrachtung zu erwarten, denn ein iibergeordneter BegrifF des Urphanomens ist nicht denk- bar. Wohl aber diirfen wir hofFen, das Weltbild in ver- anderten Reihen sich zusammenschliefien zu sehen, Ana- logien und Parallelen anzutrefFen, die sich in mecha- nischer Formulierung ausdriicken lassen, Ausblicke und Riickwirkungen aufzuweisen, die dem praktischen Den- ken Halt und Ziel geben.

Wie die Evolution des erlebten Geistes unser Emp- finden bekraftigt, so soil die Evolution des erschauten Geistes unser Denken undEntschliefien tiiihren und recht- fertigen.

7^

Zweites Buch

DIE EVOLUTION DES ERSCHAUTEN GEISTES

I

Wenn wir in dramaturgischer Betrachtung das Ver- Spiegelbild haltnis Hamlets zu Claudius oder Horatio ermitteln, so ^ ^

haben wir das Drama als Wirklichkeit und seine Ge- schehnisse als notorisch aufzufassen. Es gibt kein anderes Danemark als das des Schauplatzes, es gibt keine andere Historie als die der Exposition, unsere erlernte Kennt- nis schlaft, wir leben in der Dichtung. Wenn wir die Deutung einerTizianischenAllegorie versuchen,sostehen wir nicht vor Leinewand, Olfarbe, Firnis und Rahmen, sondern wir betrachten und deuten den Hain, die Burg und den Reiter.

Anders wenn wir nach dem Dichter und seinen Quel- len, nach dem Maler und seiner Technik fragen. Dann ist Hamlets Geschick nicht mehr Begebenheit, sondern Veranstaltung, das Bild ist nicht mehr Raum und Luft, sondern farbige Kruste; die Betrachtung gilt nicht mehr ier Spiegelung, sondern dem Spiegel.

Vor solcher Rahmen- und Spiegelfrage steht unsere Erkenntnis- irdrterung, wenn wir das seelische Ereignis als Glied des )bjektiven Weltenbaus beanspruchen. Das Verhaltnis les Subjekts zum Objekt ist beriihrt, der Kreuzungs- )unkt der Doppelfrage: wie ist Welt in der Vorstellung noglich? wie ist Vorstellung in der Welt moglich? zeigt

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sich an, und wir diirfen keinen Schritt vorwarts tun, be vor die Einheit des Denkens und die Einheit der Dar stellung durch eineUberbriickung desErkenntnisproblem gesichert ist. Mit dem BegrifF der Uberbruckung eine an sich unlosbaren Problems mochte ich andeuten, dal mir die Moglichkeit vorschwebt, ahnlich zu verfahren wie es in der mathematischen Analyse mit dem Imagi naren geschieht: die Willkiir des Irrationalen wird ge heilt, wenn im Laufe der Entwicklung die komplexej Grofien ausscheiden und die Darstellung in das Gebie gemeingiiltiger Anschaulichkeit zuriickgefiihrt werdei kann. GesetT. der In einer Bekenntnisschrift darf ein personliches Mo « tsg ett j^gj^^^ ^2.s zur Entscheidung des nachsten Schrittes bei tragt, nicht verschwiegen werden.

Jedes Gedankensystem ist ein Abbild des Denkender Seine Giiltigkeit liegt nicht in der Kraft der Logik un der Beweise , denn Denken ist nicht sowohl SchlieI5er als Wahlen , sondern in der Giiltigkeit des Mensche und seiner Intuition. Der denkbar hochste Fall ware daI5 ein Mensch kraft seiner allgemeingiiltigen Natur di Gesetze der Menschheit und der Schopfung so vollkom men in sich triige, dal5 sein Denken absolutgiiltig da Gesetz der Welt vorschriebe. Je bedingter der Mikrc kosmos, desto begrenzter die Giiltigkeit der Denknorm und doch wird selbst ein Leidender, ein einseitig Be sessener die Leiden und Besessenheiten einer Anzahl ode einer Zeit giiltig aussprechen und zum mindesten dure die Objektivierung eine Heilung vorbereiten; die Epoch der Empfindsamkeit ist ein Beleg dieses Vorgangs. Zw: schen der allgemeingiiltigen Norm des absoluten Der kens und der pathologischen Einseitigkeit des monc

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I

manen Deliriums liegen die Abstufungen der Gultigkeit, die ihrerseits wiederum zu bemessen ist nach dem Grade der inneren Geschlossenheit und, wenn ich so sagen darf, tastbaren GesetzmaJ&igkeit der Gedankenkette. Auch bei bescheidenster Einschatzung des subjektiven Faktors darf daher der personlich-phantastische Teil des Denkgutes nicht verhiillt werden.

Nun ist die Realitat des Traumens und erlebenden/^^-^/ww^/ ^// Schauens fiir manche Menschen, zu denen ich mich zah- len mu(5, grofi), ohne dafi darum das Getraumte und Er- schaute als ein vom Schauenden ganzlich Unabhangiges empfunden wird. Was dem gedankenvollen Traumen an sachlicher Kontinuitat fehlt, das wird ihm iiberreich durch innere Einsicht vergolten. An handgreiflicher Sinnlichkeit und Kontinuitat erscheint die wache, Wirk- lichkeit genannte Erscheinungswelt um einen Grad realer, an Unmittelbarkeit dunkler, doch beides nicht mit ge- niigender Starke, um mehr als einen graduellen Unter- schied der beiden Welten glaubhaft zu machen.

Wer so empfindet, den wird allein die Realitat des Geistigen liberzeugen. Ihm tritt das Lebendige, was es auch sei, als ein unleugbar Empfindendes, die Natur in allem GeschafPenen als ein Begeistetes befreundet ent- gegen; ihm ist beschieden, nicht mehr allein sich selbst, sondern einfiihlend und entauILert in der Kreatur zu leben; ja es erscheint ihm vielmals dieses Gemeinschafts- fiihlen wahrer und leibhaftiger als das Fiir-sich-sein. In der Begegnung mit einem Menschen tritt ihm nicht ein fremdes, gefahrliches und verhiilltes Wesen mit unbe- kannten Ziigen und Gebarden entgegen, sondern es ge- schieht ein Wiedersehen seiner selbst, ein Wiedererken- nen nach einer Spaltimg des Schicksals. Wenn Francis-

75

cus die Geschdpfe Himmels und Erden Geschwister nannte, so beschrieb er das hochste menschliche Mafi der Einfiihlung, die den Schauder des Objekts iiberwunden hat und sich geistig in aller Schopfang wiederfindet.

Solche Menschen werden ihr Welt- und Erkenntnis- bild kaum anders als idealistisch gestalten konnen; ja es wird das unvermeidliche eintreten, daf5 sie, bei allem theoretischen Bewufitsein von der Relativitat des Denkens und der Wahrheit, auch fiihlend in dieser Erkenntnis- form aufgehen, die hierdurch gewissermassen Unterlage eines Glaubens wird. Wie es denn liberhaupt den An- schein hat, als wolle menschliche Einsicht ich spreche nicht vom Intellekt in einen Teil der Positionen ein- riicken, welche die Religion nach dem Verlust ihrer mytho- logischen und dogmatischen Aufienwerke hat opfern miissen. Gefuhisphiioso- Hier sei eine allgemeine Anmerkung uber sogenannte musundlmuition Gefuhlsphilosophie eingeschaltet. Wir kennen die Vor- wiirfe, die gegen diese Denkart erhoben werd^, wir kennen auch die Gefahren, die sie schwarmerischen, sen- timentalen, wundersiichtigen und heimlich materiellen Geistern bereitet. Dennoch geht es nicht an, das intui- tive Element lediglich als eine zu duldende oder nicht 2u duldende Spielart des Denkens zu klassifizieren und zu erledigen. Will die intellektuale Philosophie das Bild der Welt in adaquater, fiir menschliche Einsicht nicht zu iibertrefFender Weise beschreiben, so liegt ihr die Beweislast ob, daI5 die intellektualen Krafte tatsachlich die hochsten Krafte des menschlichen Geistes ausmachen. Kann sie diesen Beweis nicht erbringen, gibt es viel- mehr, wie ich darzutun versuche, geistige Krafte ober- halb der intellektualen, so muC) sie sich begniigen, die

7^

I

Welt dialektisch-mechanisch zu beschreiben; ihre Welt- formel wird sich, um ein iibertreibendes Bild zu gebrau- chen, zur Weltwahrheit verhalten wie die geometrische, physikalische und chemische Beschreibung eines Marmor- werks zum vollen Wesen seiner kiinstlerischen GrolLe. Mathematik redet nicht von Gegenstanden, sondern von Grofijen, mathematische Physik redet nicht von Lebens- vorgangen, sondern von Mechanismen, Physiologic redet nicht von Lebensinhalten, sondern von Lebensvorgangen; alle diese Disziplinen sind sich klar, dal5 sie nur den- jenigen Weltquerschnitt beschreiben diirfen, auf den ihre geistigen Instrumente eingestellt sind. Intellektuales Denken hat das voile Recht, die Welt auf ihre dialek- tische Durchlassigkeit zu priifen; ihre Werte und Wiir- den kann sie intellektual nicht durchdringen. Sie hat sich in neuerer Zeit stets zugute getan, Wissenschaft zu sein und zu bleiben; das heifit, ihre Zugehorigkeit zu den rechnenden und messenden Disziplinen des reinen Intellekts zubetonen; selten hat sie an ihrer gelehrten- haften Kiihle in Dingen der Kunst, der Seele, des Glau- bens, der Weltherrlichkeit AnstoH) genommen, noch we- niger es unternommen, diese Kiihle und Unzulanglichkeit zum Gegenstand einer Fragestellung zu machen. Un- zweifelhaft ist sie befugt, alles Schauen, das uber intel- lektuelles Mali hiniibersteigt, von der Schwelle ihres Tempels wegzuweisen, wenn sie ihn namlich als die Statte rationaler Abgrenzung beansprucht. Ein volltonendes Weltbild umschliefit dann dieser Tempel nicht mehr, und es wird nicht geniigen, die Fordernden an die ver- fallenden Glaubenskirchen zu verweisen. Eine neue Kunst des Denkens und der seelischen Einsicht wird viel- mehr entstehen miissen, die, ohne den rational en Besitz

I-

77

der Philosophic anzutasten, das Recht beanspruchen wird, sich eigene Zugiinge zu den Werten des Lebens zu bah- nen und iiber Abgrenzung und Benennung mit der in- tellektualen Disziplin sich zu verstandigen. Nottvendiges Je tiefcr ein idealistisches Weltbild in personlicher

Ubel diaiektischer

Methode Natur verankert ist, so zwar, dall> von ihm nur mit der

Schea, die wir Gottlichem schulden, gesprochen werden

kann; je fester die Uberzeugung wurzelt, daJl) fiirMen-

schen kommender Zeit diese Gesamtauffassung an die

Stelle der Mythologie, der Kosmogonie und Theogonie

zu treten bestimmt ist, desto beklemmender wird die

Aufgabe, mit intellektualen BegrifFen und Vergleichen

das Gebiet des uns noch nicht begreif lichen in der Sphare

der Tatsachlichkeit abzubilden. Wenn daher der Ver-

such gewagt wird, auf dialektischem Wege die unzu-'

langliche Skizze eines Erkenntnisbildes zu entwerfen, so

geschieht es im Bewufi)tsein nicht nur der Kleinlichkeit,

die der Methode anhaftet, sondern auch der geringen

Originalitat, der Anlehnung an alte Systeme und vor

allem der Relativitat des Ergebnisses, das nicht mehr

und nicht anderes als eine Partiallosung darstellen kann.

Die Moglichkeit dieser Partiallosung aufzuweisen und

einzureihen, fordert der einheitliche Gang der Darstel-

lung, die uns zu eigenartigeren Zusammenhangen, Kon-

trasten, Analogien und Ausblicken fiihren soil. Hiermit

sei die dialektische Etappe entschuldigt.

Die dreifache Die Erwagung geht von dreifacher innerer Erfahrung innere Erfah- ^^1

rung. a«S- _ ... fl

Geist ist tell- Die erste Erfahrung lautet: Geist ist teilbar. Die I

Teilbarkeit erfahrt das Ich an sich selbst; Telle des Gei-

stes ruhen, wahrend andere wirken. Telle des Geistes

wirken starker oder schwacher, Telle des Geistes enc-

78

wickeln sich, die friiher nicht oder schwach wirksam waren, Telle des Geistes konnen willkiirlich aufier Funk-

tion gesetzt werden. Die Teilbarkeit ist keine raum- liche; sie bedarf keiner Raumvorstellung, um empfunden zu werden. Sie ist aber auch keine ideelle, wie die Teil- barkeit eines BegrifFes, denn sie beruht auf unmittelbarer Wirksamkeit, nicht auf abstrahierender Vorstellung.

Die Teilbarkeit des Geistes wird dem Ich auch an der Grenze seiner selbst fuhlbar. Solipsismus ist nicht nur deshalb unmoglich, weil er mit einer einmaligen, willkiirlich begrenzten, analogielosen Ich-Leistung sich begniigt und damit dem Satz vom Grunde widerspricht, nicht nur, weil er alles praktische Denken verstiimmelt, sondern vor allem, weil ein unmittelbares starkes Be- ziehungsgefuhl, eines der originarsten Inventarstiicke des inneren Bestandes, ihn widerlegt. Das Ich fiihlt, dal5 es nicht allein steht, und erkennt somit zum zweitenmal die Teilbarkeit des Geistes an dem Geiste, der nicht Ich ist.

Die zweite Erfahrung lautet: Geist ist kombinierbar. Geist ist Bestandteile des Geistes schmelzen im Ich zu einer Ein- ^''"'^'°'^^^^' heit zusammen, die dem naiven Sinne so homogen scheint, dal5 sie als das schlechthin Unteilbare, als das Individuum bezeichnet werden konnte. Der Pflege und Erhaltung dieser Einheit gilt alles primitive Leben, ihrer ewigen Fortdauer gilt alles primitive Glauben und HofFen. Wir haben an dieser Stelle mit der Kombinierbarkeit des Gei- stes zum Ich uns zu begniigen, weil sie die einzige ist, die wir innerlich erleben; sobald wir uns der Verwert- barkeit auliberer Erfahrung vergewissert haben, werden Geisteskombinationen grol5erer Mannigfaltigkeit uns ent- gegentreten und a posteriori Erganzungen und Bestati-

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gungen der inneren Erfahrung lie fern. Indessen ist schoif ^ die Kombination des Geistes zum Ich eine Erscheinunji

eigener und anschaulicher Mannigfaltigkeit. Indem wl: unsere Geiste in wechselnder Zusammenstellung an de:: Arbeit fiihlen, verlafit uns das Ichgefiihl niemals; es gib I somit nicht Eine Ich-Kombination, sondern viele. Da| Phanomen erinnert an die optische Erscheinung der Kom- bination zum weifien Licht: nicht blol5 die Gesamtheii der Farbstrahlen, sondern jedes Einzelpaar komplemen- tarer Schwingungen hat die Eigenschaft, sich zur gleicher Totalitat des farblosen Lichts zu erganzen. Geist wirkt Die dritte Erfahrung lautet: Geist wirkt auf Geist Fremdgeist ^^^ ^^r Erkenntnis, daC) das Ich nicht solipsistisch au^ sich selbst gestellt ist, verbindet sich die erweiterte Ein- sicht dessen. was wir vom Geist, der nicht Ich ist, emp- fangen, und dessen, was wir ihm geben. Eine Reihe durchaus urspriinglicher, intuitiver Empfindungen setzi hier ein und bestarkt die Erkenntnis der Wechselwirkung des Geistes, indem sie gleichzeitig von neuem die Exi-t stenz des Nicht-Ich-Geistes versichert. Wir empfinden spezifisch, welche Art der Geistesproduktion uns selbst moglich, und welche wiederum als ein ganzlich Neues. Fremdes, Unerwartetes und um so hoher Willkommenes uns entgegentritt. Selbst im Traum bleibt bei aller Los- gebundenheit unserer Phantasie die Handschrift unseres Geistes die gleiche, aber beim Anblick eines Buches. einer Partitur, eines Bildes fiihlen wir: dies hattest du nicht gemacht, nicht machen konnen, anders gemacht, anders machen miissen. Ja wir sind, bei einer gewissen Sicherheit der Erfahrung und des Urteils, geneigt, den Wert fremder Produktion um so hoher einzuschatzen, je mehr spezifisch fremdes und dennoch innerlich wahres

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Ich sie enthalt, woraus, wie in Parenthese bemerkt sei, bei mangelndem intuitivem Urteil Uberschatzung und falsche Erstrebung kiinstlerischer Originalitat hervor- gehen kann.

Des ferneren stehen wir, sofern wahrhaftes Eigen- Gehtign AnteU leben uns innewohnt, keiner Ichheit unbewegt gegen- iiber. In alien Abstufungen, vom Anteil bis zur Liebe ergreift uns ein Urgefiihl, das wir unserem Eigenwesen Qicht entgegenbringen. Dieses Gefiihl ist so allgemein, dall> selbst primitive Geister es als Genufi) empfinden, durch eine Theaterrampe das Gewebe der personlichen Zweckinteressen abzudammen und in stundenlanger Auf- merksamkeit der Teilnahme am fremden Ich sich hinzu- jeben.

Ein weiteres Moment der geistigen Wechselwirkung EinfUhiung

ist die Einfiihlung. Wir empfinden, das Andersgeartete

v^erwandelt uns, so dal5 wir in ihm und mit ihm ein

leues Leben mitfiihlen. Wir leben uns in die Mitseele

linein, wir erleben ihr Denken, Fiihlen und Wollen; wir

empfinden das gesprochene Wort zweimal, in unserer

>timme und im Gehor des Anderen. Sein Erstaunen,

>ein Lacheln und Verstehen geht in uns vor, und indem

^ir s^ine Seele lieben, lieben wir durch seine Seele uns

jelbst. Unausgesprochenes Begreifen, vorausahnendes

irfassen, stumme Zwiesprache, aufgelostes Einklingen

ier Seelen gibt uns das voile Empfinden des eigenen,

lie Sicherheit des anderen Wesens und die Gewif5heit

, hrer Beziehung.

! Aus die sen drei Grunderfahrungen des inneren Er- Moglichkeit ■' cincr Mcclisi~

ebens: Teilbarkeit, Kombinierbarkeit und Wechselwir- j^-j^ ^^^ q^_

cung des Geistes geht hervor, dall) eine Mechanik des^tes

aeistes moglich ist, wenn namlich unter Mechanik im

I

8i

denkbar weitesten Sinne verstanden werden darf die B( schreibung eines Ganzen, seiner Teile und ihrer Wechse wirkung. Prtifiing der Gehen wir einen Schritt weiter und betrachten di Teilbarkeit des Geistes im Hinblick auf ihre Grenzei

GesetxderReihen Unser Geist ist nicht imstande, schlechthin EinmaligiJ zu denken. Wir denken in Analogien; das heifit fbrmei in Gesetzen, quantitativ in Reihen. Und da diese Chjj rakteristik unseres Denkens eine ausschliefiende ist, v verlangt unser Intellekt vom Gesetz die Ausnahmlosij keit, von der Reihe die Endlosigkeit. Unter Endlosiii keit ist nicht zu verstehen das in seiner Tbtalitat Ui| endliche, das naturgemafe nicht umgreifbar und da^l nicht vorstellbar ist, sondern die dauernde, ununte brochene Giiltigkeit einer Analogie, die in jedem b| liebig gewahlten und beliebig fecnen Punkt sich selbi immer noch gleich bleibt. Undenkbarkeit Sagtc uns jemand, die sichtbare Natur habe nur e:

des Einmaligen . * i i i * ^ ^

emziges Atom produziert, oder sechs Atome, und dar halt gemacht; oder sie habe nur das StickstofFatom pr duziert, zwar in beliebigen Mengen, aber nichts ander I und dann halt gemacht; oder sie habe einen substa^j tiellen Kubus geformt, weigere sich aber, eine Ku^i oder einen Zylinder zu formen; oder sie habe ein ai zehn Millionen Weltkorpern bestehendes Weltensyste' geschafFen, und dies sei alles : so tritt zu der Unbegrei lichkeit des materiellen SchafFens an sich eine zweit peinigendere Unbegreiflichkeit hinzu: die derEinmali keit und Einseitigkeit, der Willkiir, der Grundlosigker der unfaC>baren, zufalligen Beschrankung. Es ist uns( generelles Denkbediirfnis nach Analogie, Gesetz ur Reihe verletzt, als dessen Spezialfall der Satz vom Grunci

81

sich erweist, iind jede weitere Syscematik des Denkens horc auf.

Aus innerer intellekmaler Notwendigkeit konnen wir F.ndiose Teiibar daher die Reihenhaftigkeit auch in der Betrachtung der Objekte unserer Grunderfahrung nicht entbehren: wenn Geist teilbar ist, »o mul5 er ins Endlose teilbar sein.

Hierbei wird der Vorstellung nicht etwa zugemutet, im unendlichen Fortlauf der Teilung letzte geistige Ur- demente zu denken; dies ware ein Widerspruch in sich, iveil damit schliell)lich doch die endliche Teilbarkeit ge- setzt ware. Es geniigt im Verlauf, wenn von geistigen Elementen die Rede ist, die dem Beobachtungsfelde be- machbarten Teilungsordnungen ins Auge zu fassen; ahn- lich wie die Physik, wenn sie von raumlichen Atomen redet, zunachst an die im engeren Sinne so benannten 5ubstanzaggregate denkt, wobei sie sich vorbehalt, falls Betrachtung und Rechnung es erfordern, auf Atomitaten loherer Ordnung zuriickzugreifen, was hinsichtlich der Slektronen und Lichtatheratome bereits geschehen ist.

Wir finden uns nunmehr inmitten eines Systems, das,

Dhne raumliches und zeitliches Verhaltnis zu postulieren,

lus unendlich teilbaren geistigen Elementen besteht, die

combinierbar und wechselwirkend sind. Bevor wir auf

las Wesen der Kombination einsjehen, verweilen wir zu-

Iiachst bei dem Prinzip der Wirkung.

I Versucht man, die denkbar allgemeinste Form der Prinzip der \Vecliselwir"

I iVirkung von Geist auf Geist zu benennen, so wird man k^ng

las BegrifFspaar des Ausdrucks und Eindrucks wahlen

iniissen, das in seinem Gegensinn das jeweils als aktiv

petrachtete dem jeweils als passiv betrachteten Element

i^egeniiberstellt. Tatsachlich ist eine Wirkung ohne

i jegenwirkung nicht denkbar: dem Ausdruck auf jeder

I

83

der beiden Seiten steht der Eindruck auf jeder der beidej Seiten gegeniiber. Ausdruch und Hier sci cinc weit vorgreifende, nur erlaiuternde Ab

EinJruck als . . ^ j r^ i i i n l

Prin%iMen des schweitung in das uebiet der wahrgenommenen hrscheii ErUbens nungswclt gcstattet. Wenn wir den gesamten Kreis d6{ Wahrnehmung umziehen, der unser geistiges Verhaltnii zur Natur umfafit, so beruht selbst auf den hochstent wickelten Stufen unsererExistenz alles zweckfrei menscb liche Verstehen, Geniefien, Erfassen und Besitzen in de Doppelwirkung des Ausdrucks und Eindrucks. Wenn ici Steine klopfe, Akten kopiere oder diplomatische Norei entwerfe, so begehe ich Zweckhandlungen, die einei: spateren Zustand, ein endgiiltigeres Lebensverhaltnis vor bereiten, vermitteln oder erzwingen sollen, an sich abe nicht endgiiltig sind. Bei diesen Teilhandlungen ist de Gegenstand nicht Objekt, sondern Mittel, Durchgangs punkt, Medium, durch das ich das Vorgestellte erblickej Mit dem Mittel aber verbindet mich, sofern es nur Mitt| ist, kein menschliches Verhaltnis : dies ist die eigentlich'' Siindhaftigkeit des zivilisierten Handelns. Jedes endgiil tige Verhaltnis dagegen: zu Ktuist und Natur, zu Kreatui Menschheit und Gottheit ist seelische Wechselwirkung|| Einfiihlung, Zwiesprache, Anbetung, und ihre stumm<{ und tonende Rede ist Ausdruck und Eindruck. Jedej Blatt, jedes Glied des menschlichen Korpers, jeder Kiesei; stein und Wassertropfen redet; und nicht nur von sicbj von seiner eigenen Schonheit und Kraft, sondern als Bot*| und Abbild des Ganzen, dessen Wesen er mikrokosmiscll vertritt und spiegelt. Die Hand, das Auge und das Oh fiihren die Stimme und Sprache des Menschen, als Tei sind sie das Ganze, und ein reiner Blick wird nicht ge tauscht, wenn der Maler einem Bildnis fremde Hand"

84

I

eines Modellstehers anfiigt. Der Laubbaum redet von

kraftigkiihler Luft, von weicher Erde, altem Leben, von

festem Stand, zartem Spriefien und schwellender Fiille,

>eine Sprache klingt anders als die des Nadelbaums, der

Palme, des Dornbuschs. Wir erleben nichts starkeres

lis den Eindruck menschlicher Schonheit, menschlicher

jeistigkeit, natiirlicher Phanomene des Belebten und

Jnbelebten. Ja, abgesehen vom materiellen GenuH) der

itummen Sinne ist das Wechselspiel zwischen der Schop-

'ung und uns, das Spiel des Ausdrucks und Eindrucks

las einzige und unermelMiche Gut, das die Erscheinung

ins beschert. Selbst das Gliick des Denkens liber die

)inge der Welt ware nichts, wenn nicht die Sprache der

)inge es rechtfertigte. Freilich bleibt alle Freude an

Lcr Erscheinung bedingt; der Kern von Trauer und Sehn-

ucht, den sie birgt, verrat es und mahnt an die Dinge

er Seele jenseits der Erscheinung. Aber auch jene

Velt, die unsere Intuition zu streifen wagt, kann, um

rfall)t zu werden, nur eine Welt der Wechselwirkung

ein. Dann aber muC> in erhohter Form die Sprache des

msdrucks und Eindrucks auch die Erscheinungsweltiiber-

leigen.

Nun ist es wohl die libliche Erklarung, zu sagen : was Unx.utangnchkeit ler die bprache der Dmge, das primare Wirken des^^^ .usdrucks und Eindrucks genannt wird, das ist nichts nderes als Urteile und Assoziationen eines Erinnerns; rworbene und vor allem ererbte Erfahrung. Wer dieser rklarung aus leiblicher Vererbung hohen Wahrschein- chkeitswert beimifit, der hat das Recht, ihn als die arkste Stiitze materieller Weltanschauung zu bean- )ruchen; denn es ware dargetan, daC) Phanomene des tneren Erlebens nicht nur geketiet an Phanomene der

i «5

Erscheinungsreihe, sondern auchanders als durch sie iiber- haupt nicht erklairlich sind. Es wird in der Folge zu er- ortern sein, ob und welche, vielleicht symbolische Be- deutung fiir die Erklarung primarer innerer Erlebnisse dem Erscheinungsvorgang zukommt, den wirVererbung nennen. Fiir die Beurteilung des Eigentlichen der Aus- drucks-undEindruckswirkungenbediirfenwir seiner nicht. Denn wollte man selbst unbeschrankte Realitat ihm zu- messen, so wiirde seine Aufgabe in der Fortpflanzung vital niitzlicher Erfahrung begrenzt und beschlossen sein. Man konnte mithin allenfalls, wenn keine innere Empfindung sich dagegen auflehnte., argumentieren : die Freude an einem klaren Bergsee beruht auf dem Wohlbehagen, das eine gleichmafiig gefarbte spiegelnde Flache verbreitet. Sie beruht auf der Erinnerung an kalte Bader, welche die Vorfahren genossen haben, oder auf dem Schutz, der den Pfahlbauern zuteil wurde. Sie beruht auf der An- regung des Fischfangs oder der Kahnfahrt. Wir wollen nicht die Frage stellen, warum dann nicht ein Stiick ge- bratenen Fleisches starkere Vererbungs- und Erinnerungs- freuden erregt als alle Wasserflachen, und uns damit be- gniigen, dai5 die Herzenslockung des „tiefen Himmels, des feuchtverklarten Blau" alle Niitzlichkeiten vergessen macht. Wer wollte es wagen, den Klang des Nacht- himmels und die Sehnsucht der Gestirne aus unter- bewull)ter Hoifnung auf gates Wetter zu erklaren? Wer sich dem Grui5 der Schopfung hingibt, empfindet, dafi ein Unmittelbares ihm zuteil wird, das aus eigenem Recht den Weg zur Seele durch die Sinne sucht. ftrntvirkung Eine bedeutsamere Schwierigkeit scheint unserer Be- trachtung zu erwachsen aus der sinnlichen Erfahrung, die uns als physikalisches Gesetz entge gen tritt. Der

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Einwand lautet: vvie ist eine unmittelbare Wirkung der Dinge auf uns moglich, da doch unsere edleren Sinne Qur durch Fernwirkung erregbar sind? Nach den An- schauungen der Physik, die wir im Kreise der Erschei- Qung gelten lassen miissen, wirkt auf unsere Netzhaut nicht die Sonne, sondern die Atherschwingung des Strahls, auf unser Trommelfell nicht die Brandung, son- dern die Luftverdichtung des Schalls. Wollen wir pflichtgemafi unsere Denkweise im Leben verankern, so diirfen wir dieser Frage nicht ausweichen. Wir werden sie behandeln, wo von Symbolen und Botschaften die Rede sein wird.

Nach dieser Abschweifung, die das Gultigkeitsgebiet Dimensionen des Gesetzes vom Ausdruck und Eindruck auf alle ^jj-j^ung Spharen des Erlebens zu erstrecken bestimmt war, kehren wir zuriick zur Betrachtung der Geisteselemente. Wir vergessen nicht, dafi wir Elemente nicht zwar von abso- luter, doch von beliebiger Vereinfachung beleuchten; dafi somit auch die Potenzen, die ihnen eignen, in denk- barer Vereinfachung vorgestellt werden miissen. Soweit wir aber eine Wirksamkeit unterteilen: zwei Koordi- natenrichtungen werden nicht verschwinden, bevor unser Vorstellungsbild ganzlich erloschen ist: Intensitat und Qualitat. Miissen wir somit Oer Wirkung vereinfachter Elemente die Richtungen dieser zweifachen Dimensio- nierung beimessen, so wird es wahrscheinlich , dafi auf dem Wege zu mannigfaltigerer, das heifi>t kombinierter Geistigkeit, bedeutende Perspektiven in diesen beiden Richtungen sich ofFnen. Verweilen wir auf beliebig hoherer Stufe der geistigen Kombination, etwa auf der animalischen , so wird evident, dafi die Qualitat einer Wirkung nur durch Vergleich, also objektiv durch

L

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Wechsel, subjektiv durch Erinnerung wahrgenommen werden kann. Die Koordinate der Qualitat entspricht somit der Koordinate der Zeit; sie ist Unterlage der zeitlichen Vorstellung. Auch die Wahrnehmung der Intensitat bedarf zunachst des Vergleiches, somit gleich^ falls zunachst des zeitlichen Vectors. Sie ist jedoch durch den Modus des Vergleiches noch nicht erschopft, sie enthalt einen Einschlag ganzlich anderer Art, den wir uns vergegenwartigen, indem wir auf eigener, mensch- licher Kombinationsstufe den Eindruck beobachten, den ein mit Farben erfiilltes Gesichtsfeld, oder die Inner- vation eines sich streckenden Armes hervorruft: halten wir beim ersten Beispiel uns vor Augen, daI5 auch die mosaikma£)ige Verbreitung det Farbflecke einen Modus der Intensitat bedeutet, so wird evident, dafi der er- wahnte Einschlag das Element der Raumvorstellung birgt. Es darf somit ausgesprochen werden, dal5 die Koordination der Qualitat und Intensitat von Elementen begleitet sind, die in den Gebieten hoherer Geistes- kombination Zeit- und Raumvorstellungen konstituieren, und zwar derart, dafi auf das Qualitatselement die Zeit- vorstellung, auf das vorwiegende Intensitatselement die Raumvorstellung zuriickgreift. Eine Beschrankung der Wirkungsdimensionen auf diese beiden Koordinaten ist weder notwendig noch statthaft; geniigt indessen die Zweizahl dem Stande unserer Erkenntnis, so hat die Darstellung sie nicht zu iiberschreiten. Prinzip der Eine weitere Frage entsteht hinsichtlich der Wirkung des Vbrzuges ^^^ Geist auf Geist. Ware diese Wirkung in jedem Sinne symmetrisch und gleichartig, so dal5 jedes Element tuiter gleicher Beziehung und Konstellation gehalten bliebe, so ware alles Weltgeschehen unmoglich. Damit

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etwas erfolge, mufi> Ungleichheit der Belastung, Unsyni- metrie der Beziehung, kurz, ein Faktor der Auswahl, somit der Willkiir gegeben sein. Es wird uns nicht schwer, diesen Faktor vorzustellen; denn wie weit wir auch zur Hohe geistiger Kombination vorschreiten, stets begegnen wir dem durch innere Erfahrung uns ver- trauten Will en, den unser tiefstes Gefiihl, aller ratio- nalen Argumentation widersprechend, als frei er- achtet. Wir miissen daher das Geisteselement durch ein Willenselement befahigt denken, Auswahl der Wir- kung und der Kombination zu trefFen. Freilich ist aus dem BegrifF der Auswahl das intellektuelle Moment auszuschalten; und zwar kann der Denkweg, der zu diesem scheinbaren Paradox der freien, aber intellekt- losen Wahl fiihrt, in der Weise beschritten werden, dafi man mit Menschen, die auf dem Markt einkaufen, einen Schmetterlingsflug vergleicht, der leise wechseln- den Reizen folgend Bliiten um Bliiten tauscht. Diesen Analogieschritt bis zu beliebig vereinfachter Geisteskom- bination wiederholend, nahert man sich dem GrenzbegrifF des Willenselements oder der intellektlosen Urwahl.

Eine grundsatzliche Erorterung sei hier eingefiigt, die als neuerlicher VorgriiF bezeichnet werden muI5, well noch immer wir den Weg in die Erscheinung nicht be- treten haben.

Bei unserer Betrachtungsweise kehrt die Frage sich Freiheit und um: wie ist Willensfreiheit bei mechanischer Gesetz- ^^^^ mal^igkeit moglich? und lautet nun: wie ist mechanische Gesetzmaifiigkeit bei vollkommener Freiheit des Willens moglich?

Sie ist moglich durch das Gesetz der grofien Zahlen. Massen- Alle Naturerscheinungen, die sich der Beobachtung dar-^

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bieten, sind Massenerscheinungen ungeheurer Multipli- kation. Konnten wir das Atom genannte Massenkorn der Physik mit iiberschiissiger Vergrosserung betrachten, so wiirden wir ein Weltall erblicken. Aber dieser weit- gehenden Unterreilung bedarf es nicht; die Beobachtung des kleinsten uns zuganglichen Partikels enthalt eine so groC)e Menge nachstuntergeordnerer Einheiten, urn Gieichnis vom als Massenerschcinung zu gelten. Nehmen wir nun eine schwarm ' organischc Massenerscheinung zuhilfe, deren Elemente (wenigstens im Verbal tnis zu der zu beobachtenden Erschei- nung) Willensfreiheit besitzen: etwa einen sehr grofien, mit gegebener Geschwindigkeit von Norden nach Siiden sich bewegenden Heuschreckenschwarm, so ergibt sich zunachst, dal5 innerhalb dieses Schwarmes durchaus nicbt jedes Element sich dauernd von Norden nach Siiden bewegen mul5. Die Heuschrecken schwirren in jedem Augenblick in jeder Richtung; freilich iiberwiegt in der grofien Menge der Zahlen das Bewegungselement der Siidrichtung, das in liberwiegenden Fallen sich zu den vorhandenen willkiirlichen Bewegungselementen addiert ujid daher den Haufen allmahlich nach Siiden vorriicken lall)t. Die additionelle Richtkraft, die sich aus allgemein wirkenden, sei es meteorologischen, sei es anderen Ge- meingriinden ergibt, wirktzwar auf alle Schwarmgenossen, doch bleibt es ihnen freigestellt, ob sie sich momentan, dauernd oder iiberhaupt nicht dieser Wirkung hingeben woUen. Nach dem Gesetz der groC)en Zahlen wird dies der uberwiegenden Majoritat zu iiberwiegenden Zeitenj genehm sein; immerhin pragt sich schon ein Moment willkiirlichen Widerstandes darin aus, dai5 infolge der verlorenen Bewegung der Schwarm durchaus nicht mit der vollen Geschwindigkeit seiner Glieder stidwarts.

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wandert. Entscheidend aber ist, daI5 keineswegs alle Elemente sich an den Gemeingrund kehren. Eine immer- hin merkliche Zahl bricht allem Herdentrieb zum Trotz nach Osten und Westen aus, und die eigensinnigsten mogen gar nach Norden fliegen. Es lohnt, das Beispiel weiterzufiihren und zu unterstellen: der Schwarm sei senkrecht auf die Seekiiste geprallt, Mit vollem Recht wiirde der Physiker konstatieren, dafi das Ufer auf die bewegte Masse mit abstol^ender Kraft wirkt. Er darf es vernachlassigen, dal5 abermals eigenwillige Elemente das Abenteuer wagen und viele Seemeilen siidwarts den Tod suchen.

Setzt man nun an Stelle des Heuschreckenschwarms die Molekiile eines Gases, einer Fliissigkeit, oder eines festen Korpers, so ist es klar, daI5 mechanische Gesetze Naturgesetze aU Majoritatsgesetze bedeuten. Aus der Betrachtung aber ^^^^"^ "^ erhellt, daJB die Statistik der Erfahrung, die wir von aufien betrachtet als Naturgesetz bezeichnen, von innen betrachtet nichts anderes bedeutet als eine Anwendung des Gesetzes der grolI)en Zahlen. Das Zwingende des Gemeingrundes liegt nicht in einer immanenten Not- wendigkeit, sondern in der Wahrscheinlichkeit, dal5 eine Majoritat sich ihm nicht ganz verschliel^e. Die Freiheit der Glieder bleibt gewahrt, wahrend die Gesamtheit scheinbar einem Naturgesetz, in Wirklichkeit einem Wahrscheinlichkeitsverhaltnis unterliegt.

ZweiEinwande, die in aufsteigenderund inabsteigender Ehtvendungen Ordnung argumentieren, liegen nahe. Der aufsteigende sagt: die Elemente konnen nicht, wie vorausgesetzt wurde, frei sein, denn ein jedes von ihnen ist wiederum ein Komplex und gehorcht somit eigenen Naturgesetzen* Die Antwort lautet: wir befinden uns in der Betrach-

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*ung einer Reihe, und sind berechtigt, von n auf n-i lu schliefien. Im vorliegenden Falle sind die Elemente zum mindesten im Verhaltnis zur Handlung der Ge- samtheit frei; sie machen teilweise von dieser Freiheit Gebrauch, indem sie ihr entgegengesetzt handeln. Be- zweifelr man die Freiheit der Elemente in sich, so gilt es, diese wiederum in ihre Elemente aufzulosen und die Darlegung fiir den Fall n-i und so ins ungemessene zu wiederholen.

Der Einwand in absteigender Reihe kann so gefalit werden: mag fur die Gesamtheit das Naturgesetz ledig- lich in der Wahrscheinlichkeit bestehen: der Zwang er- folgt, und somit ist von dieser Grol^enordnung an die Freiheit zu Ende und das aulLere Gesetz unverbriichlich. Hierauf ist zu erwidern: sind tatsachlich die Elemente in ihrem Verhaltnis zur Gesamtheit frei und in diesem Falle sind sie, wie wir gesehen haben, auch in sich selbst frei ; ist ferner der Wille der opponierenden Telle geniigend stark, so ist kein Grund vorhanden, weshalb nicht in einem gegebenen Falle entgegen aller zahlen- mafi)igen Wahrscheinlichkeit der statistisch errechnete Endeffekt sich in sein Gegenteil verkehren sollte. Wir kennen Beispiele von Versammlungen, die unter dem Druck eines starken Gemeingrundes stehen und dennoch von einer Minoritat, die kraftig genug ist, in Form einer Stimmung einen neuen, entgegengesetzten Gemeingrund zu schafFen, entgegen allerBerechnung beherrschtwerden. Trotz Freiheit Es darf somit zusammenfassend das Ergebnis der esetze mog u ^wischenerorterung ausgesprochen werden: Bei Freiheit des Willens ist aull)ere Gesetzmal^igkeit moglich, und zwar auf Grund des Gesetzes der grolben Zahlen. Mechanische Naturgesetze sind Wahrscheinlichkeitsver-

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hiiltnisse. Mechanische Gesetze mit absoluter, hundert- prozentiger Giiltigkeit sind unmoglich, ebenso solche mit unbegrenztem Giiltigkeitsgebiet. Die Giiltigkeit der Gesetze ist um so grofier, je zahlreicher, gleichartiger und im Verhaltnis zur Starke des Gemeingnindes in- diiFerenter die Elemente des Betrachtungskomplexes sich erweisen.

Uberblieken wir nun die Radikalien, die uns bei der Die drei Radi- Betrachtung der Geist-auf-Geist-Wirkung entgegengetre- ten sind, so erkennen wir im Doppelspiel des Ausdrucks und Eindrucks das oberste Prinzip des Geschehens, die Voraussetzung dafiir, dafi) liberhaupt Etwas moglich sei, das Prinzip der objektiven Gegebenheit und der Be- ziehung. Das Element des Willens bedeutet das Prinzip des einseitig und einmalig Bestimmenden und Bestimm- ten, des Ereignisses, der subjektiven Konsequenz. Die Analogie mit unserer Erfahrung vom Harideln, von Selbst- behauptung und Zweck stellt sich mit diesem Radikal vorausahnend ein. Ein drittes Element, das uns noch nicht beschaftigt hat und um so eingehender beschaf- tigen soil, greift hiniiber von der Wirkung Geist auf Geist zur Kombination Geist mit Geist. Wir woUen es fur den Augenblick mit dem neutral mathematischen Namen des Additionsfaktors belegen, im Hinblick dar- Additionsfaktor auf, dafi) dieses Element iiber die Grundlage einer kiinf- tigen Mechanik des Geistes entscheiden soil. Dal5 gleich- sam ein Keim des Lebens, der Entwicklung und des Transzendentalen in diesem Element gegeben ist, darf vorschauend erwahnt werden.

Einer weiteren Auflosung des Geisteselements be- diirfen wir fiir unseren Denkweg vorlaufig nicht. Damit ist nicht gesagt, dal5 wir das Wesen des Geistes in seiner

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dreifachen Modalitat als beschlossen zu erachten haben: wir diirfen ihm vielmehr beliebig viele, ja unendliche Qualitaten zusprechen. Indem ich ausdriicklich dieses Recht betone, im Interesse widerspruchslosen Denkens eine beschrankte und somit scheinbar einfachere Voraus- setzung durch eine unbeschrankte und scheinbar kom- plizierte Voraussetzung zu ersetzen, schulde ich eine Anmerkung liber die hier vertretene Meinung vom plau- siblen Denken iiberhaupt. Anmerkung Geht man beim Denken von materieller Substanz aus,

len Denken ^^ ^^^ ^^^ ^^ Eigenschaften zuzusprechen. Eigenschaf- Eigenschaft und ^q^ ^ber sind Beschrankungen. Te mehr Eigenschaft, je mehr Beschrankung; und das Denken kommt niemals liber den Widerspruch hinweg : warum gerade diese Be- schrankung, warum keine andere? Warum Beschrankung, Einseitigkeit, Spezialitat iiberhaupt? 1st schon Substanz an sich nicht zu erklaren, so wachst die Unbegreiflich- keit mit jeder Eigenschaft ins MaiI)lose. Geht man vom Geist aus, der an sich ebenfalls unbegreiflich, indessen wenigstens uns unmittelbar bewufit, und zwar als schop- ferische Kraft bewufit ist, so sind ihm nicht Eigenschaften, sondern Fahigkeiten zuzusprechen, und zwar produktive Fahigkeiten. Diese aber sind nicht Beschrankungen, son- dern Beschrankungsaufhebungen. Widerspruchsvoll ware es hier, eine bemessene Zahl von Fahigkeiten anzuneh- men; derBegrifF des Geistes runde tsich um so mehr zu seinem eigenen Wesen, je unbeschranktere Fahigkeiten wir ihm zuerkennen. Hierin liegt der grofiere Reichtum und geringere Selbstwiderspruch idealistischer Betrach- tung, dal5 sie mit der einmaligen Unbegreiflichkeit des Geistes auskommt, die auch auf jeder anderen Anschau- ung lastet; daH) sie nun aber die Freiheit gewinnt, Eigen-

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schaften durch Fahigkeiten, Beschrankungen durch Mog- lichkeiten zu ersetzen, und wahrend sie scheinbar ihr Bild durch Mannigfaltigkeit kompliziert, in Wirklichkeit es durch Auffiillung des Urbegriffs zu vereinfachen. So- mit bedeutet das Verlangen nach unbegrenzter Erweite- rung des GeistesbegrifFs nicht eine Willkiir, sondern eine Notwendigkeit.

Unsere Beobachtung steht nun vor dem Moment derDie Integra- Integration aller Geisteswirkung, der Integration, die man als Weltschopfung bezeichnen kann. Es wurde in der Wechselwirkung von Ausdruck und Eindruck die Spaltung von Subjekt und Objekt erblickt; in diesem

i Augenblick wird es notig, das Phanomen der Wirkung etwas naher zu betrachten.

Wirkt das Geisteselement A auf das Geisteselement Erscheinungs- B, so wird allerdings B zum Subjekt einer Empfanglich-"'^^ keit, deren Objekt A ist. Indessen wird B keineswegs befahigt sein, A in sich aufzunehmen; die ganze Vor- aussetzung unserer inneren Erfahrung besagt, dal5 A immer A und B immer B bleibt. Wohl aber ist B durch A modifiziert; wenn man so sagen darf, be- reichert, und in B selbst, nicht etwa sonstwo, ist das Re- sultat dieser Bereicherung vorhanden. In Wahrheit ist

s somit B aktiv. B hat sich einen Zuwachs seines Inven- tars geschafFen, und diesen Zuwachs nenne ich Erschei- nungsobjekt. Man braucht hierbei im primitiven Zu- stande des Geistesobjekts noch keineswegs an eine objektivierte Vorstellung zu denken. Ein Beispiel aus hochkomplizierter Geistigkeit, die sich im Stande der Sinnesempfanglichkeit befindet, mag dies verdeutlichen. Wenn ich „Grun" empfinde, so brauche ich zwar durch- aus niciit soweit zu gehen, daI5 ich sage, „ich sehe etwas

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Griines". Wohl aber muC) jch zugeben, dal5 die „Grun- empfindung" bereits fiir mich Objekt ist; sie ist in star- kerem Sinne Objekt, als wenn ich zu empfinden glaubte: „mir ist griin zumute". Gehe ich jetzt einen Schritt riickwarts zur Gefdhlssphare, etwa mit dem Ausspruch: „mir ist beklommen, frostig, heiter oder tatig zumute", so empfinde ich bereits das Beklommene, Frostige, Hei- tere oder Tatige als Objekt. Und je weiter ich den In- halt meines Inventars zerspalte, imnier wieder wird, nicht etwa blolil) in der Betrachtung, sondern im unmittel- baren Empfinden, jedes Element zum Objekt. Wollte man aus dieser fortgesetzten Objektivierung folgern, dafi schlieMch iiberhaupt kein Subjekt iibrig bliebe, so ware dies erscheinungsmai^ig richtig; immerhin aber bleibt dasjenige zuriick, was man als transzendente Moglichkeit der Gesamterscheinung bezeichnen kann, die Moglich- keit, dafi gerade hier, und nicht iiberall, gerade jetzt und nicht immer, das Phanomen sich abspielt, und diese Grundlage des Komplexes haben wir Geist genannt. Der schajfende Der Geist schafFt somit das Erscheinungsobjekt. Und zwar ist der affizierte Geist der SchafFende, er schafFt unter dem Eindruck des affizierenden Geistes. Priift man aber das GeschaiFene in seinem Verhaltnis zu den schafFenden Elementen, so ergibt sich: es ist ein voU- kommenes Gleichnis oder Symbol. Denn in dem Er- scheinungsobjekt kann nichts Willkiirliches enthalten sein ; jeder seiner Ziige ist bedingt durch die entsprechender Modalitaten der schafFenden Elemente : so wie ein Spie- gelbild nichts enthalten kann, als was durch das gespie- gelte Objekt und die spiegelnde Flache bedingt ist, wah- rend gleichzeitig jede optische Eigenheit dieser beider Komponenten im Bilde adaquaten Ausdruck finden mu6

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Das Wort: „alles Vergangliche isc nur ein Gleichnis** erweist sich im wortlichen Sinne wahr.

Wie Geist dazu kommt, zu schafFen, oder vielmehr, da Schaifen Geistes Wesen ist, wie Geist iiberhaupt mog- lich ist, bleibt in unserem Stande der Erkenntnis unauf- losbares Geheimnis. Aber den Zweifel dieses Geheim- nisses teilt unsere Betrachtungsweise mit jeder anderen: die Tatsache, dafi) ich fiihlend, vorstellend, denkend bin, lost sich in keinem libergeordneten BegrifF; und loste sie sich, so kame einmal der BegrifF, der sich nicht mehr loste und Ratsel bliebe. Das letzte Geheimnis aber ist, wie wir bemerkten, in dieser Form am wenigsten qualend, denn jede andere Existenz als die des Geistes schlieI5t die Willkiir beschrankender Eigenschaften in sich, wah- rend der Geist, an sich iiberhaupt nicht wegdenkbar, in sich jede Moglichkeit des Seins enthalt.

Spaltet man von dem BegrifF der Gottheit alle dimen- iionalen, anthropomorphen, sozialen, zweckhaften und >entimentalen Eigenschaften ab, so wird dieser BegrifF dch dem des Geistes immer mehr nahern. Dafi) er nicht /ollig mit ihm zusammentrifFt, vielmehr eine bestimmte 3etrachtungsseite des Geistes enthalt, aus der sich Fol- Terungen von entschiedener Realitat ergeben, wird dar- '.utun sein. Aber auch diese Anniiherung fiihrt zum be- •uhigten Anbljck der letzten Unaufloslichkeit.

Ein Einwand hinsichtlich des GeistesschafFens ist zw Einwand der irwagen. Wenn Element auf Element wirkt, also Glei-^^^^'^"'^-'''''^' :hes auf Gleiches: wie ist eine unbegrenzte qualitative \ Vlannigfaltigkeit der Wirkung neben der bereits erorter- en Mannigfaltigkeit der Beziehung denkbar? Wollen nr, um die Voraussetzungen nicht zu komplizieren, den JegrifF von „Gleich und Gleich" gelten lassen, so reichen

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schon die librigen Pramissen zur Beantwortung der Frag^ aus. Wir wissen von der Kombinationsfahigkeit dej Geistes. Kombinierte Elemente in jedem Stadium de Aufbaus werden anders wirken miissen als relativ eir fache, und anders betroffen werden. Wirkungen werdej ferner, wie die erwahnte Erorterung derBeziehungzeigt< nicht die Totalitat, sondern einen begrenzten Umkre: betrefFen. Wir stehen daher vor unabsehbaren Abwanc lungen und Variationen in zweifacher Dimension, un erblicken wiederum das Koordinatensystem der Qualiti und Intensitat, das nunmehr in deutlicherer Begriindun uns entgegentritt.

GesetzderEr- Gleichzeitig ergibt sich ein Axiom von weiter Be deutung. Da das Erscheinungsobjekt ganz eigentlich voi betroiFenen Geiste geschaifen wird, so kann es nicl mehr enthalten, als dieser betrofFene Geist enthalt. li daher der wirkende Geist von hoherem KombinationJ grade als der affizierte, so wird die Wirkung ihm mi in dem Mal5e adaquat sein, als das einfachere Elemeii und seine Aufnahmefahigkeit es 2ulall>t. Mit anderdl Worten: das einfachere Element wird das hohere mi bis zu dem Punkt seiner eigenen Ordnung begreifenf dariiber hinaus wird es ihm unbegreiflich, ja selbst ui| erkennbar bleiben. Das Integral Das Integral der Wirkung Geist auf Geist besteh und Symbol somit in einer Ordnung, und zwar einer Ordnung, derej Elemente man als Gleichnisse bezeichnen darf ; wie deiE auch die Ordnung selbst in hoherem Sinne als Gleichnij

Gleichnisse vom erscheint. Ein sinnliches Bild grober Annaherung konntil in einem Orchester gefunden werden, das fiir sich selbs musiziert. Der Sinn des Musizierens ist nicht periodisch Luftverdichtung, sondern eine Ordnung von Klangeij

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in welcher jedes Instrumentes Ausdnick jedem Ohre zu- ceil wird. Der Inhalt der Symphonie liegt nicht in der verdichteten Luft, nicht in Trompeten und Geigen und nicht in Ohrmuscheln und Trommelfellen; er wird im Bewuli5tsein jedes Spielers und Horers nach seiner Art und nach seinem Verstandnis aufgebaut und ist in jedem Bewulitsein verschieden. Dennoch besteht eine Identitat des Gesamtwerkes, die sich etwa darin zu erkennen gibt, daI5 jeder die Gesamtwirkung der Haydnschen Symphonie von der der Beethovenschen vollkommen unterscheidet.

Besonders deutlich ist in Anwendung dieses Gleich- nisses zu betonen, dalb das Symbol „Konzertstuck" weder mit dem Subjekt noch mit dem Objekt der Wir- kung Horer und Spieler identisch ist. Dies scheint vollig selbstverstandlich, und dennoch konnte der Irr- tum versuchen, etwa in der Erscheinungswelt ein Atom beliebiger Ordnung mit einem Geisteselement beliebiger Ordnung gleichzusetzen. Nach unserer Betrachtungs- weise ware vielmehr das Atom beliebiger Ordnung Er- scheinungsobjekt und gleichzeitig Symbol eines Geistes- elementes; in ihm selbst und in anderen enthalten. Der raum- und zeitlose Geist spiegelt seine Welt, indem er sich selbst durchdringt.

Indem nun hier nochmals die Raum- und Zeitlosig- Methodhchn keit des Geistes bekraftigt wird, gilt es, einen Wider- ispruch dieser Darstellung ans Licht zu riicken und un- schadlich zu machen. Wenn die Teilbarkeit des Geistes m Elemente verlangt wurde, so konnte in der Folgerung einer, wenn auch unbegrenzten Zahl, und in der An- tiahme einer abgegrenzten Unterteilung, das Herein- dehen zeitlich-raumlicher Vorstellungen geriigt werden. Mit demselben vollen Recht aber kann man die Ver-

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wendung der Sprache bei jeder geistigen Darstellung al unzulassig erklaren. Denn jedes Wort der Sprache setz den gesamten Denkinhalt schon voraus, und all unse Denken, das nun einmal raiumlich-zeitlich orientier ist, bedeutet eine hochst unvollkommene und ein seitige Sprache des Absoluten. Stillschweigende Voraus setzung alles Sprechens und Denkens ist nicht nur di innere Konsequenz und Verstandlichkeit der Sprache un< des Gedankens, sondern auch ihre Adaquatheit, das iheifi ihre symbolische Eignung, den Kontrasten des Objekte Ausdruck zu geben. Hier liegt die grundsatzliche Schwa che alles Denkens, auch des kritischen; denn auch diese mul5 mit gegebenenBegrifFen auskommen, ohne zu fragen woher sie gegeben sind. Somit wird uns bei der Betrach tung letzter Dinge stets widerfahren, was bei der Betrach tung einer klar spiegelnden Flache geschieht: wir konnei nicht hindern, dafi unser eigenes Spiegelbild die Harmoni der gleichformigen Einheit stort. Wohl aber diirfen wi schliefien, dal5 in dem spiegelnden Phanomen etwas vox handen ist, das jeder anderen gespiegelten Eigenart eben sogut gerecht wird wie der unseren. Und im Hinblick au den erwahnten Widerspruch bleibt uns die Beruhigung dafi nicht nuf unser Denken das eirizige uns yerliehen- ist, innerhalb dessen es auf die Einheitlichkeit des Bilde ankommt, sondern dal5 unser Denken, soweit es libei haupt denkens wert ist, jenseits der Vorstellbarkeit Kor relate verlangt, die seinen Kontrasten gerecht werden und die der inneren Gewifiheit intuitiv vor Augen stehen Deutung des Des Nachweises, dafi das Integral der geistigen Wir ^^^^^ kungen mit der Erscheinungswelt identisch ist, bedar

es nicht mehr. Denn abgesehen davon, daiS wir als Geis am Wirkungsintegral beteiligt sein miissen und tatsacb

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ich an der Erscheinung bewuGt in hohem Mafee betei-k^t jind; dalL es somit eine miili^ige Annahme ware, die Iritte Welt zu supponieren: es ist eine erkenntnismalLige deziprozitat der beiden Systeme evident. Denn jede ■heoretische Betrachtung der Erscheinung fiihrt uns zu mmer weitergehender Teilung der Substanz und zu mmer neuen Kampfesebenen der Wirkung von Element Luf Element. Schon heute ist das physikalische Atom ms eine astronomisch ziemlich bekannte Welt, und ciinftige Beobachtungen konnen uns notigen, das Elektron n Weltkdrper aufzuldsen. Die Erscheinungswelt ist ms daher unter den gleichen Prinzipien begreiflich wie lie Geisteswelt: der Teilung, der Elementarwirkung md der Kombination. Fast mochte man weitergehen md vermuten, so wie das registrierende Denken sich les Zweisystems der Polaritat bedient, so sei dem )raktischen Denken nur die Moglichkeit dieses Drei- ystems beschieden, und so musse sich dieses in jeder Jetrachtung spiegeln. Aber hiermit ware nur ein kriti- istisches Prinzip gewonnen, wahrend es uns darum zu un sein mul5, nicht beim Studium des Werkzeugs zu rerharren, sondern vielmehr auf intuitivem Wege ein [Verkstiick zu finden, das mit den gegebenen Mitteln inwandfrei bearbeitet werden kann.

Wir sind mit unserem Ich an der Erscheinungswelt Einfuhmng •eteiligt. Richten wir somit den Blick auf die Erschei- ^^^g iimg, so finden wir uns selbst umbrandet, in Wechsel- /irkung gezogen, auf gleicher Ebene mit ihr uns be- /egend. Wir erkennen somit unser eigenes Symbol in inem Erscheinungsich, das handelnd und leidend, von ms selbst und von der Welt vorgestellt, in das Phanomen er Erscheinung verwoben ist. Daft dieses Erscheinungs-

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V- */ ** .'* ' ich;i?icltt 4^s..\Vesen unseres Daseins ausmacht, erkennen wir in alien tiefen Augenblicken unseres Lebens. Dann fiihlen wir, daI5 jedes zerreil^ende Verhaltnis zur Er-: scheinung uns entlastet, unsSelbst uns wiedergibt; nichts ist durch diese Entlastung uns genommen, vieles ge^ geben, und nur zogernd und halb abgewandt kehren wii zum pflichrgemaI5en Anteil am Erscheinungswerk zuriickj Gieicbnis vom So bedenklicH und haufig irrefuhrend es ist, in sinn- lichen Bildern geistige Beziehungen abzuwandeln, so seij um das Verhaltnis Geist zu Erscheinung, Ich zu Erschei-t nungsich fal51ich zu erlautern, ein weiterer Versuch g& wagt. Beim blinden Schachspiel hat der Spieler Brett und Figuren nicht vor Augen; er mufi sie durch Vor^ stellungskraft sich gegenwartig halten. Angenommen \ nun, das Spiel, das zweiunddreiI5ig Figuren enthalt konnte statt von zwei Spielern von zweiunddreiI5ig ge^ spielt werden, von denen jeder fiir seine Figur verant^ wortlich ist, ja selbst sich ganz in die Rolle dieser Figui hineindenkt, so dafi er sich eigentlich als Laufer, Springei oder Konig fiihlt. Das Spiel beginnt und jeder Spieler erblickt sich selbst und alle librigen auf dem unsicht^ baren, nicht existierenden Brett; es ist genau dasselbej' als ob die Symbole sich wechselseitig in Kampf und Verbiindung erblickten. Sie verstandigen sich durcli ihre Position, marschieren und schlagen, wahrend di^ Realitat der Spieler zwar nicht unbeteiligt, doch unbe-j wegt bleibt. i

Mechanische Es ist nicht die Aufgabe, eine umfassende Ableitung del Ertclieinungs-^^^^^^^^^^S^P^^^^^pi^^? insbesondere der mechanischeni vorgangs durch Ausdeutung der Geistesprinzipien hier zu verf suchen. Da aber die Konstituierung der Erscheinungs- welt ohne summarische Begriindung ihrer mechanischerjjj

Liauptelemente noch nianchen Zweifel ermoglicht, so ;ei die Ausdehnung der Untersuchung auf die Prinzipien ier Lage, der Bewegung, der Masse und des Organischen restattet. Einer weiteren Spezialisierung wird es nicht )edurfen, da jede theoretische Naturbeschreibung letzten indes mit diesen Elementen auskommt, wenn namlich rorausgesetzt wird, dal5 alle Form in Elementenlage, die Kraft in Bewegung und alle physische und chemische ^ualitat und Energie in Masse und Bewegung aufgelost verden kann.

Betrachtet man ein System beliebig gelagerter, beliebig Lage ;ahlreicher Punkte, so ist ihre relative Lage bestimmt lurch das System samtlicher moglichen Verbindungs- inien, das heifit samtlicher moglichen Entfernungen. ^un wissen wir, dall) bei gegebenen Elementen die Wir- :ungsintensitat eine Funktion der Entfernung, somit auch lie Entfernung eIne Funktion der Wirkungsintensitat ledeutet. Intensitat aber haben wir als eines der Radi- alien der Geisteswirkung registriert. Wir diirfen daher as System der Entfernungen, mit anderen Worten das ystem der Lage als das Erscheinungssymbol des Radi- ;als Intensitat ansprechen, wie wir ja bereits auf den : 'usammenhang des IntensitatsbegrifFs mit dem Raum- egriiF hingewiesen haben.

Im Willensradikal wurde das Moment der Auswahl Be^wegung rkannt, das aus der Gleichformigkeit ruhender Symme- den das Einmalige, Einseitige, Determinierte loslost und loglich macht. D^n gleichen Sinn tragt in der mecha- ischen Welt das Prinzip der Bewegung. Sie andert ie Lage, somit eine unendliche Zahl von relativen Ent- ernungen und Wirkungsmafien. Sie verkleinert die Virkung auf die verlassene Gegend und verstarkt die

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Wirkung auf die erstrebce, sie wahlt bestandig neue Wirkungshorizonte. Die Geradlinigkeit und die Unab- lassigkeit der Bewegung sind, wie in allgemeiner Form dargetan wurde, Spezialfalle des Gesetzes grower Zahlen,! Wahrscheinlichkeits- und Durchschnittsergebnisse. Die Bewegung ist das Erscheinungssymbol des Willensradi- kals, sie ist, bildlich gesprochen, sichtbar gewordenei Wille.

Masse Wir haben gesehen, daI5 im Radikal der Qualitat dasf Zeitelement enthalten ist; somit auch das lediglich dutch Zeitempfindung erkennbare und mefibare Prinzip der Zahl. Die mechanische Naturbetrachtung sieht mil- Recht in jeder unteilbaren Substanzmenge ein Unbe- greifliches, sie findet die Aufgabe, sie aufzulosen w Zahlenmengen von Elementen, und nach Bedarf und Orientierung die Zahlenteilung der Elemente in belie- bigen Ordnungen fortzusetzen. Lost sich somit alle Masse in Zahl auf, also in Zeitmafi), so wird die Be-" ziehung deutlich, welche zwischen dem Qualitatsradikal und seiner Erscheinungsform, der Masse, besteht. Ej darf daran erinnert werden, dafi alle mechanischen Er- regungen unserer Sinnesqualitaten durch Massen ge- geben sind, deren Bewegungsform in Periodizitat bestehti Aufi)eres Korrelat unserer Empfindungsqualitaten ist so- mit in zweifachem Sinne die Zahl, gleichviel ob es sich um Schwingungen der Ladung, der Dichte oder der Molekiile handelt.

Leben Noch immer konnen wir von dem vierten Radikal, ^ dem Additionsfaktor, dem ein Teil der spateren Dar- legung gewidmet sein soil, nicht ausfiihrlicher sprechenj Aus der Erorterung aber wird hervorgehen, dail> dieses Geisteselement, in die Erscheinungswelt projiziert, das

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Urprinzip dessen darstellt, was wir als organisierte und lebende Natur ansprechen. Das Erscheinungssymbol des Additions faktors ist das Leben.

Bevor wir den Versuch dieses Auf baus der Erschei- Botschaften nungswelt beschlieI5en, darf auf eine fliichtig gestreifte Frage zuriickgegrifFen werden, deren letzter Wider- spruch sich nun auflost. Von der Erscheinungsseite stellen alle Wirkungen, die uns trefFen, sich als Fern- wirkungen dar. Wir empfangen keine unmittelbaren Eindriicke von Objekten, sondern Ein wirkungen von afhzierten Medien. Und diese Medien wiederum wirken auf die Medien unseres Leibes, bevor die Zentren der Empfindung beriihrt werden. Geschieht hierdurch der Urspriinglichkeit des Wirkungsphiinomens ein Abbruch?

Priifen wir vom Stande der Erscheinung aus ein ein- j^ches Beispiel: die Sonne bestrahlt ein menschliches Auge, wobei wir, in bildlicher Annaherung, der Sonne eine individualahnliche Einheit beimessen. Als wesent- liche Ausdruckserscheinung sprechen wir die Strahlung an: die benachbarte Kugelschale des Lichtmediums wird in Schwingung versetzt; eine Unmittelbarkeit der Wir- kung ist vorhanden. In rapidem Fortschreiten unmittel- barer Wirkungen wird diejenige Schale erreicht, in deren Bereich die Netzhaut sich befindet. Es ist irrelevant, zu erwagen, dal5 eine physische Gegenwirkung durch Spiegelung der Hornhaut, der Linse und anderer orga- nischer Medien geschieht, dall> niedrigere Temperatur- strahlungen zur Sonne zuriickgetragen werden, die beim Vorhandensein liberaus grower, immerhin endlicher Emp- findlichkeit wahrgenommen werden konnten. Bedeu- tungsvoll aber ist, dal5 dem Trager der Netzhaut als bewu&rem Wesen die quantitative und qualitative Ge-

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setzmaloigkeit des Reizes in ahnlicher Weise zum erlebten Eindruck wird, wie dieWiederholungeinesMorsezelchens auch den der Telegraphic Unkundigen zur beliebigen Verarbeitung der Wahrnehmung zwingt. Die unmittel- bare Wirkung des Mediums wird zur mittelbaren Wir- kung einer Botschaft. Auf dem System der Botschaften beruht der Bereich unserer Wahrnehmungen; die Sym- bolik der bewul5ten Botschaft steigert sich im Stande hoherer Geistigkeit zum Laut, zur Gebarde, zur Sprache, i zur Schrift, zum Monument. Und wenn auch jede denk- bare Wirkung sich schliel^lich dem Reihenprinzip zufolge j in eine belieb'ge Reihe von botschaftlichen Zwischen-1 wirkungen auf losen lalLt, so bleibt doch als Element das Prinzip der unmittelbaren Wirkung bestehen. Zu ihm verhalten sich die durchschrittenen Medien als Samm- lungsfaktoren, in ahnlichem Sinne, wie von einer Linse ein divergierendes Strahlenbiindel aufgefangen und zen- triert wird. Strahlphano- Einen letzten, entscheidenden Zug dem Gesamtbild der Erscheinungswelt einzufiigen miissen wir uns vor-| behalten. Es wird sich um einen Faktor handeln, derj fRvenn der Vergleich erlaubt ist, das ganze System ver- fliissigt und in stromende Bewegung setzt, der ihm ge-i wissermaf5en den letzten substantiellen und atomistischenj Anschein entzieht, indem er alles Beharrende ausschaltet^ und das Geschehen an die im Wechsel gleichbleibendenj Tendenzen bindet. Dieses Prinzip, das den Namen Strahl- phanomen fiihren soil, wird im spateren Zusammenhang zu erortern und anzuwenden sein. System der Fiir den Zeitpunkt geniigt es, die Ordnung deSf ^ Erscheinungswesens, so wie sie sich uns darstellt, al$t'

System vollkommener Symbole zu iiberblicken. Wii|

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begehrten das Recht, in Grenzfragen, welche die Er- scheinung umrahmen, von den Phanomenen des Inhalts Gebrauch zu machen, ohne Bild und Spiegel zu verwech- seln. Nun diirfen wir uns der Erscheinungssymbole be- dienen, zwar in dem Bewufitsein, dafi es Bilder sind, aber auch mit der Gewii5heit, daH) sie abbilden. Wir erlangen die Doppelrichtung des Weges , des auf- steigenden, der durch die Gewifiheit des gefiihltenLebens, und des absteigenden, der durch die Erfahrung des er- schauten Bildes fuhrt.

Die Betrachtung der vereinbarten Erseheinungswelt Drei Welten notigt uns, drei der Beobachrung unmittelbar benach- barte Hauptgebiete der Schopfung herauszugreifen und zu durchforschen: die voratomistische Welt, die ato- mistische Welt und die organische Welt. Die erste um- fafi)t alle Substanz mit Ausnahme der an physikalische Atome gebundenen, die zweite umfafit alle an physika- lische Atome gebundene Substanz mit Ausnahme der organisierten, die dritte umfafit alle organisierte Sub- stanz. Man darf in kurzer Rede diese drei Weltgebiete, die sich wechselweise durchdringen, als Atherwelt, Korperwelt und Lebenswelt bezeichnen. Ob wir fiir das konstituierende Prinzip der drei Gebiete den Namen Substanz, Materie oder Energie gebrauchen, bleibt fiir I die Erwagung belanglos, da wir aus dem Wesen des I konstituierenden Elements keine Folgerungen ziehen und lediglich in der Erinnerung behalten, dal5 es sich im Sinne des bisher Dargelegten um Symbole des teil- baren und kombinierbaren Geistes handelt.

Ohne Bedeutung bleibt auch ein gewisses Mafi der

Willkiir, das bis auf weiteres in der Teilung selbst ge-

! geben scheint. Der Sinn der Dreiteilung, die wir im

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Verlauf rechtfertigen werden, bestehtzunachstdarin, zwei Ruhepunkte in der unendlichen Serie zu schaffen, die vom primitivsten zum reifsten Erscheinungsgebiet iiberleitet. Die Erschei-Die Reihe selbst tritt uns entgegen als eine Folge jjej. K:ouiplj_ wachsender Komplikation, insofern wir jede Stufe durch kation geeignete Teilung oder Zerstorung in die voraufgehende

iiberfiihrbar finden. Ein weiteres Zeichen zunehmender Komplikation erblicken wir in der wachsenden Leichtig- ^bbau der Eie- keit der Zerstorung. Ein hoch organisiertes animalisches Gebilde ist durch geringe Temperaturschwankung ver- nichtet; ein chemisches Molekiil zerreisst bei energischem AngrifF durch Elektrizitat oderWarme ; dieZertriimmerung eines physikalischen Atoms konnen wir mit den Mitteln der Wissenschaft seit kurzem erfassen; der Spaltbarkeit des Atherteils bediirfen wir noch nicht als Hypothese. Aufbau der Eie- Unsere Fahigkeit, in aufsteigender Reihe Kombinationen herbeizufiihren, beschrankt sich auf gewisse Falle, die man als Veranstaltung zahlenmaiLiger Gelegenheiten be- zeichnen konnte. Wollen wir eine chemische Verbin- dung erzwingen, so lall>t die Erfahrung es als erforder- lich und ausreichend erscheinen, dafi einige Billionen reaktionsfahiger Molekiile in geniigender Konzentratiou der Gegenpartei durch Mischung genahert werden; das Gesetz der grolI)en Zahlen fiigt es, dail> am Schlusse der Reaktioneine liberwaltigendeMajoritatvonKombinations- paaren sich gefunden hat. Der grundsatzlich gleiche Vorgang ist es, wenn wir Saatgut dem Felde anvertrauen, Truppen verpflegen, Zuchttiere paaren: wir schafFen 2ahlenmafi>ige Gelegenheit zur Entstehung von Getreide-j halmen, menschlichen Muskeln, animalischenEmbryonenJ Auf die Vorgange selbst bleibt unser Wollen und Ha^ deln ohne Einflufi). Am machtlosesten aber stehen

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denjenigen beiden Grenzerscheinungen gegeniiber, die wir als Trennungspfeiler dreier Naturreiche glaubten hervorheben zu diirfen: noch niemals hat ein Mensch Urzeugung der Urzeugung eines Atoms aus Atherteilen, einer Zelle aus Molekiilen beigewohnt oder Vorschub geleistet. Die Spontaneitat, das Willenhafte und Eigenwillige der Kombinationsvorgainge leuchtet an diesen Wendepunkten hervor; wir empfinden, noch ohne nahere Kenntnis vom Additionsvorgang, das gleiche erschiitternde Ereignis des Schopfungs will ens in beiden, durch eine Welt getrennten Phanomenen, von denen das eine die Schopfung eines Sonnensystems, der andere die Schopfung einer Lebens- gemeinschaft im Kleinen wiederholt.

1st nun die Schopfungsserie der Symbole eine Serie Die Geistes- wachsender Kombiniertheit, so konnen wir die Serie des Komplikation schafFenden Geistes nicht anders als gleichermajBen eine Serie wachsender Kombiniertheit denken.

Die Kombinationsstufe , auf der wir leben, ist die organische Welt, die Welt der Zelle. Im Bilde der Er- scheinung sind wir millionenfach bevolkerte Zellenstaaten und unterscheiden uns, aufsteigend von der Alge bis zum Tiefseeforscher, nach Zahl und Rasse unserer inneren Staatsangehorigen. Unser BewuI5tsein ist das Staats- und Gemeinschaftsbewul5tsein dieser gewaltigen Symbiose oder doch ihres wesentlichen Teiles; es ist geistige Summe, Resultat eines Additionsprozesses, den wir kennen woUen.

Aber auch die Summanden sind nicht einfache Wesen. ^i^bau der Le^ Vielleicht in zarterem Aggregat als dem unseres Werk- ^"^^ ^^"^^ stofFes bergen sie Organisationen hochster beweglicher Vollkommenheit, und erweisen auch sie wiederum sich als Resultanten relativ einfacherer Geistessymbole.

109

Niemals vielleicht werden wir erfahren, wie oft ^ diese organischen Gebilde, von Klasse 2u Klasse niecj steigend, unterteilen miissen, um zu denjenigen mn^ heiten zu gelangen, die wir als hoch konstituierte chemischi Molekiile bezeichnen, indem wir ihnen nicht mehr dei Namen des organisierten, sondern des organischen StoiFe zubilligen. Jetzt erst befinden wir uns im Gebiet de chemischen Reaktion, das heif5t in dem Erscheinungs gebiet, wo es uns gelingt, dutch die Massenwirkung diese Namens, also mit Hilfe des Gesetzes grower Zahlen den Aufbau der Substanz zu bewirken, so wie es un gelingen kann, durch Umschiitteln ein Schock Hakei und Osen einigermaJSen ineinander zu fugen; wahrenc es niemals gelingen wird, durch Schiitteln einen Woll faden in einen Stricks trump f zu verwandeln. Lebensstim- An diese bezeichnende Stelle haben wir den Grenz ganischen pfeiler zwischen Atomwelt und organischer Welt gesetzt ^^^^ in der Vorausahnung, dal5 es mechanischen Mitteln ni(

gelingen wird, Organisches in Organisiertes zu verwan deln und somit Urzeugung zu begehen : es sei denn, dal jemand vermochte, organische Molekeln einzeln einzu fangen und anzuschirren. Von der chemischen Wei zur Welt der Zelle herrscht das organische Geistesleben das uns im Reiche der Pflanzen, der Tiere und Menschei scheinbar so verschiedengestaltig entgegentritt, und da dennoch im innersten Wesen das gleiche bleibt: da Leben der Selbsterhaltung und Arterhaltung, das Leber der Reizwirkung, der Lustpramie und Schmerzstrafe des Wettkampfes, der Artveredlung, der Zwecke unc des dunklen Vordrangs. Vom Tropismus der Pflanzen- blatter bis zu den Abstraktionen des Gesetzgrebers unter scheidet sich dies Leben nur quantitativ durch die In-

I lo

tensitat der Empfindung und Vorstellungskraft; die Gattung des Erlebens andert sich nicht. Dafi jenseits dieses vegetativ-begehrlichen Lebens das Reich der Seele beginnt, haben wir in anderem Zusammenhang erkanntj vermessener erscheint es, vom voraufgehenden primi- tiveren Zustand, von demjenigen geistigen Leben, das dem Symbol des chemischen Molekiils oder Atoms ent- spricht, ein Bild zu beanspruchen.

Vielleicht konnte man dieser Aufgabe sich nahern, Lebensstim- wenn man beachtet, dafi auf dem Grunde unseres Ich, organischen wenn alles Geschehen und Erleben, alle Anderung und^^^^ Differenzierung abgezogen wird, noch etwasSubstantielles liegen bleibt, das dem Erlebnis erst Korper und Greif- barkeit verleiht. Es lebt in unserer Tiefe etwas Wesen- and Halt-Gebendes, das sich in unserer Empfindung wiederholt und verstarkt, wenn wir uns in das ereignislos Existierende, leblos genannte einzuleben versuchen. Manches liefie sich dafiir anfuhren, dafi) dieser Faktor len bewegungslosen Geistesstand der Atomwelt aus- Iriickt; und da man seine Qualitat sprachlich kaum liiFerenzierter bezeichnen kann, als durch den BegrifF ler substantiellen Existenz, so ergibt sich eine seltsame irweckung des spinozistischen Ursatzes. Ausdehnung md Denken, diese hochst disparaten Attribute der Sub- tanz, riicken einander naher, indem (erscheinungsmali5ig >etrachtet) der Stand des substantiellen Vorhandenseins line Vorstufe der geistigen Regung bedeutet.

Dringen wir nun riickwarts, liber das Atom hinaus- Teifend, zu weiteren Auflosungen vor, so haben wir en zweiten unserer Grenzpfeiler, den der Atherwelt, uriickzulassen. Das Atom enthiillt sich als ein Korper- ystem hinlanglich kleiner, doch keineswegs unendlich

III

kleiner Ordnung, in welchem wir kaum etwas anderes

als ein Diminutiv unserer Weltkorpersysteme erbllcken

konnen. Hier jedoch versagt nicht sowohl unsere Vor-

stellung, wie unser Bediirfnis nach Vorstellung und Hypo-

these, und es geniigt uns die Erwagung, dal5 in der

Stammtafel der Geistesaddition ein neues Blatt zu be-

ginnen ware.

Summieruiig 2^e^gt somit das ganze, unserem Denken und Vor-

es eistes g^.g||gj^ nachstliegende Mittelgebiet der Erscheinungsserie

uns das Phanomen der Summierung und der Resultante

des Geistes, so konnen wir sagen, dal5 nirgends in der

Schopfung einfacher Geist uns entgegentritt, und dafi:

wir weder Veranlassung noch Berechtigung haben, ein

leiztes, absolut unteilbares Geisteselement anzunehmen

oder zu fordern. Aller Geist, der uns begegnet, aufuns

wirkt, von uns leidet oder von uns vorausgesetzt wird,

Kollektivgeistist kombinierter Geist, Kollektivgeist, geistiges Massen-

phanomen. Haben wir dieses entscheidende Prinzip er^

kannt, so muI5 es uns gelingen, die Grunderscheinungen

der Geisteskombination, vielleicht selbst gewisse Funda-

mente einer Geistesmechanik gleichsam im Laborato-

Moglichkeit riumsexperiment zu studieren, wenn wir diejenigen Kol-i

^^j^g "^£^" lektivgeister, sei es animalischer, sei es menschlichei

schung Zusammensetzung, betrachten, die uns in ihrem Aufbau

von innen zuganglich sind,

Hiiten wir uns vor spielerischer Verallgemeinerung nebensachlicher und zufalliger Erscheinungen und diej wird gelingen, wenn wir das Gewissen der Wesentlich- keit, den einzigen Ratgeber in alien Sorgen des Denkens nicht betauben , so durfen wir uns auf die Reihen- haftigkeit unseres Denkens stiitzen, die, projiziert, al.* Reihenhaftigkeit der Erscheinung zu uns zuriickkehrt

III

und die es gleichzeitig verlangt und rechtfertigt, aus echten Analogien Erklarungen, Anregungen und Gleich- nisse zu schopfen. In der Untersuchung kollektiven Geistes werden wir vielleicht dereinst die wahre Schule aller transzendenten Experimentation erblicken.

Wesentlich unterscheidet sich diese Aufgabe vonTranszen- denjenigen bekannter Disziplinen: denn es handelt sich jj^g^-^jioQ iweder um die psychologische Beschreibung von Arten, fioch um Wechselwirkung, noch um gemeinsame Pro- duktion dieser Arten: es handelt sich um nichts weniger als um die Verschmelzung der Menge zum Kollektiv- geschopf; nicht um die Summe der einzelnen Bewufi)t- seinspotenzen, sondern um die Einheitspotenz des Ge- samtbewuJ&tseins. Um ein Beispiel des taglichen Lebens m gebrauchen: es handelt sich nicht um die Geschafte, Lebensschicksale und Gepflogenheiten der Summe der 5ozien, sondern um das geistige Leben und Schicksal der HIandelssozietat, falls diese mit einem wahrhaft leben- len, denkenden und fuhlenden Gesamtorganismus ver- jlichen werden diirfte.

Freilich herrschen in der grofi)en Zahl der Kollektiv- Summierungs- ^eister bedeutende Verschiedenheiten des inneren Zu- sammenhanges und somit der Festigkeit des Individual- /erbandes. Je nachdem die Summe der Intellekte oder ier Intellekt der Summe das hervortretende Phanomen larstellt, bilden sich Pluralitaten, Scharen, Horden, Ge- neinschaften, Organismen, Gesamtindividuen. Es hat ndessen den Anschein, als ob die Festigkeit der Indi- ddualitatsbindung sich im Wesen des Kollektivorganis- nus insofern ausdriickt, als die lockerer aufgebauten ndividuen, bei denen das Verbandselement groC)ere Ver- .ntwortlichkeit und Selbstandigkeit behalt, zu gesteiger-

113

ter passiver Lebensziihlgkeit neigen, wahrend die engster Verbande, die das Teilleben mit Entschiedenheit deir Einheitswillen unterwerfen, erhohte Aktivitat, Initiative und Bewegungsfreiheit aufwelsen. Summierufig des Auf den crsten Blick mag das Auge, das auf die

raumlkh Ge- _ _ i i r-i

trennten Masseneinheit der greirbaren Individuen eingestellt ist

sich scheuen, geistige Einheiten dort wahrzunehmen, wc leibliche Beriihrung der Korperelemente nicht stattfindet Das Auge tauscht sich. Eine leibliche Beriihrung unc liickenlose Anlagerung von Korperteilen, Zellen, Mole keln, Atomen, Atherteilen findet nirgends in der Wei statt. Konnten wir das massivste Metall ausreichend ver grofiern, so wiirde es uns als ein System frei im Raun verstreuter Korner erscheinen; und konnten wir wieder um diese Korner vergroII)ern, so enthiillten sie sich aber mals als viel leerer Raum und wenig Atherstaub. Au: so luftigen Bildungen setzt sich der luftigere Schaun unserer Zellen zusammen; die kleinsten Massenteih unseres Gehirnes schweben in Abstanden, die ein Viel faches ihrer Durchmesser sind; und in einer Welt, ii der die Sachen sich, wie der Dichter sagt, hart im Raum( stofien, beriihrt sich tatsachlich nichts. In den Handei des Polyphem rundet sich eine Schafherde oder ein( SchifFsmannschaft zum korperfesten Gebilde, wahrend ii imseren Augen diese Ansammlungen ohne starren Zu sammenhang bestehen, und nur durch innere Krafte ii sich gebunden, eine beliebige Beweglichkeit, ja vollkom mene Loslosung ihren Teilen gestatten. gH

Ist der Einwand vom scheinbar starren, geschlossenei und luckenlosen Aufbau der Individuen einmal beseitigt so kann die Frage iiberhaupt nicht mehr erhoben werden ob es gestattet sei oder nicht, Kollektiv gebilde

114

Ameisenhaufen, Bienensctiwarme, GrofistSdte, Volksver- sammlungen als geistige Einhelten anzusprechen ; mit hoherem Recht diirfte man die innere Einheit jedes frem- den Geschopfes bezweifeln. Denn an dem inneren Leben einer groJ&en Zahl solcher Kollektiveinheiten nehmen wir teil; und wenn wir uns auch der hoheren Einheit nicht dauernd bewuC)t sein konnen, so fuhlen wir doch gewisse Riickwlrkungen des Gesamtintellekts auf unser Innen- leben, die uns eine libergeordnete Bewufitseinssphare ifiihlbar machen. Wer in einer gefahrdeten Menschen- gruppe, in einer erregten Stadt, in einer stiirmlschen Versammlung sich bewegt hat, der kennt die spezifische, nicht vergleichbare Doppelwirkung in Gefiihl, Gedanken und Handlung des kompakten, falLbaren Massengeistes auf denEinzelgeist, und desEinzelgeistes auf den Massen- geist.

Von alien Kollektivgebilden haben vielleicht die Gebilde des menschlichen Siedelungen und unter ihnen die GroI5- Qejsteg stadte am sichtbarsten den Charakter des animalischen Einzelorganismus und der geistigen Individualeinheit an- genommen. Der Planetenbewohner, der die nachtlichen Blinkfeuer unserer Ortschaften und den jahreszeitlichen Farbwechsel unserer Felder beobachtet, wird mit Recht lie leuchtenden Organismen als lebendige Hauptein- leiten unserer tellurischen Fauna fur das Wechselspiel hrer Umgebung verantwortlich machen.

Im vegetativen Sinne liegt es nahe und ist es oft ge- Siedelungen Jchehen, die Mechanik stadtischer Gebilde als Funktionen ^^'^^^^"^"^'^^ iines organischenLeibes undLebens aufzufassen. Lebens- A'ujieres Biid itoiFe,BaustolFe und AustauschstofFe mineralischer,pflanz- icher und tierischer Herkunft zieht das steinbekrustete ^eschopf durch fliissige und metallische Saugkanale

8^ Uy

herbei und vereinigt sie, nach Arten geordnet und zu Verdauung hergerichtet. Der Kreislauf, der in dei Strafienadern pulslert, erfaJ&t den NahrstofF und setz ihn ab als Zellenkorper an der bauenden Peripherie, ode als Zelleninhalt im arbeitenden und verzehrenden Innern Zum Teil wird dieser Zelleninhalt als Verbrennungsstoi vernichtet: Kohle entbindet auf den Rosten der Ofen un Kessel Warme und Energle; Nahrung spendet mensch lichen und tierischen Kraft- und Bewufitseinseinheitei Leben, Arbeits- und Teilungsfahigkeit. Zum Teil wir< der Zelleninhalt verwandelt und veredelt. Als Gerar Werkzeug oder Schmuckwerk setzt er sich im Inner und Aufiern der Steinzellen ab und wird zum feste;: oder beweglichen Zubehor des Baus. Als Kleidungj hiille begleitet er isolierend die bewegten mensct lichen Einheiten. Als Tauschobjekt entstromt er der Gesamtorganismus, umneueLebensstofFe herbeizulocker Hilfsmaterialien und Hilfskrafte durchdringen den ste' nernen Zellenleib. Sauerstoff leiht die Atmosphare Bache und Quellen reinen Wassers durchspiilen die Ader und Raume, Strome brennbarer Luft und elektrische Energie schafFen den Ausgleich der Krafte, der Temp€ raturen und Lichtbestrahlungen. Erstorbene StofFe un Gifte, in weitem Umkreis ausgespien, werden dure Sonne, Luft und Erde gereinigt und gesanftigt. Inneres Biid Im Innern, durch gemauerte V^n^n, Gefafie und Ar terien rinnt bei Tag und Nacht der Umlauf belebter un unbelebter Massen. Einzeln oder in schnell bewegte Gefa{5en vereinigt gleiten Menschenkorper periodiso durch die Kanale, stauen sich entziindungsahnlich b( Storungen und Zvvischenfallen, beschleunigen und vei zogern sich nach Tageszeit und Witterung. Viele diese

ii5

:VIensclienk6rper dienen dem Transport und der Ver- irbeitung der Zelleninhalte, andere dienen der Uber- yachung, dem Schutz, und der Ordnung, andere der Ver- :eidigung, der Heilung, der Anleitung und Aufmunterung hrer Genossen. Welche verrichten ihre Arbeit mit \rmen und Beinen, andere mit Zungen und Handen. ^eben den Lebensstromen aber huschen die Nerven- ignale der tonenden und leuchtenden Meldungs- lymbole.

Dieser Korper wachst, wie jeder Organismus, nicht/^^w )loii5 dutch Vermehrung, sondern zugleich durch Erneue- ung seiner Zellen. Umlagerungen, Verschmelzungen, feilungen finden statt, Partikel sterben ab, werden aus- ;eschieden, Wunden fiillen sich auf, vernarben. Der jesamtkorper teilt sich, sendet Ableger in die Nahe •der Feme, altert, stirbt, versinkt im Erdreich und nahrt leue Lebenskrafte auf seinem Hiigel.

Eine Beweiskraft fiir das Vorhandensein kollektiven Geist ieistes braucht diesen korperlichen Analogien nicht zu- emutet noch zugesprochen zu werden, denn in unserer igenen inneren Bewufitseinsaddition liegt die Evidenz er geistigen Summierung. Umgekehrt lage ^ie Last des iegenbeweises demjenigen ob, der behaupten woUte: eistiger Konnex zwischen Zellen oder anderen Einheiten si nur dann moglich, wenn diese Einheiten, die, wie 'ir wissen, sich geometrisch niemals beriihren konnen, uf Millimeterbruchteile genahert sind; eine Behauptung, ie ebenso willkiirlich ware, wie etwa die, dai5 jenseits ines Lichtjahres die Gravitation aufhore. Nur deshalb urften wir bei der Organismenahnlichkeit stadtischer tebilde einen Augenblick verweilen, weil es sich ver- )hnte, der ungewohnten Vorstellung vom kollektiv-

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geisrigen Individuum einen bildhaft materiellen Riick- halt zu geben.

Bevor wir nun den geistigen Mechanismus der Kol- lektivgebilde beriihren, der nicht nur fiir unsere Er- wagungen, sondern fur alle kiinfrige Geisteskunde ein wichtiges, vielleicht das bedeutsamste Experimentations- gebiet abzugeben bestimmt ist, haben wir die heutige Orientierung der Wissenschaft in der Richtung dieser Fragen zu revidieren. Anmerkung Ein edler, fruchttragender Zweig des jungeren Wis- psychologie" ^^"^ fiihrt einen Namen, der uns reichen Aufschlufi iiber den Mechanismus des kollektiven Denkens, Fiihlens und Wollens verspricht: den Namen der Volkerpsychologie. Aber diese Wissenschaft ist bis heute vorwiegend eine geschichtiiche und naturhistorische geblieben. Ihre be- deutendsten Ergebnisse liegen in der Nachbarschaft der Kulturgeschichte und der Volkerkunde; wir erfahren, welche Vorstellungen, Gewohnheiten, Satzungen und Organisationen, welche sprachlichen, mythischen, kiinst- lerischen und religiosen Ausdrucksformen die Volks- geister erzeugt haben, wir erhalten selbst einen Begriff! wie auli^ere Bedingungen undEreignisse zu inneren Wand- lungen und Entwicklungen beitragen, wie endlich diese inneren Entwicklungen historisch fliefiend ineinandeii iibergehen. Und wie iiberall, wo wir Kontinuitaten er- blicken, und wo Ursachenphanomene an den Eingangs- toren der Periodenabschnitte Wache halten, glauben wii innerste Zusammenhange zu verstehen. In Wirklichkeii i aber ist, was wir erblickt haben, psychologisch gestimmte Entwicklungsgeschichte, und was wir zu verstehen glau- ben, sind Motivationen, nicht Seelengesetze. Wenn icl die Geschichte, die Freud en, Sorgen und Leistunger

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einer Menschenjugend erzahle und erlautere, so schafFe ich Material fiir Seelenkunde, nicht Seelenkunde selbst, und wenn ich feststelle, dafi zehntausend Menschen den Trafalgarplatz verliell)en, weil Militar anriickte, so ist das eine ausreichende Begriindung, aber nicht die Auf- losung geistiger Massenerscheinung. Wenn endlich Spra- chen, Kunst und Religion als Produkte einer Gemein- schaft erkannt, gewiirdigt und durchforscht werden, so ist noch immer das Eine nicht geschehen; beantwortet namlich: wie kann eine Gemeinschaft schafFen? Wie kann sie denken und fiihlen? Wohlgemerkt, die Ge- meinschaft als Gesamtwesen, nicht als Summe der Ein- zelwesen; denn eine beliebige Menschensumme schafFt nichts, es sei denn mechanisch und auf Kommando.

Die Franzosen, von jeher mit feiner Witterung he- Franxosische gabt fiir das, was in Technik, Wissenschaft und Mode^^^^^„ das nachste Bediirfnis sein wird, scheinen als erste mit der Erforschung kollektiver Geister Ernst zu machen. Das Grundgesetz geistiger Wirkung in additiven Gebil- den glaubt man im Prinzip der Nachahmung gefunden zu haben, und eine geistvolle Charakteristik der intel- lektuellen Niveauanderung, die vorgeht, wenn Indi- . viduen sich zu Menschenmassen summieren, ist ge- schafFen.

Wir wollen bei diesem angeblichen Gesetz nicht

lange verweilen; doch sei bemerkt, daI5 die Verkiindung

des Imitationsprinzips einen Trugschlufi) nahelegt, der

aus der Doppelbedeutung des romanischen Wortes ein- Nachahmung u^Kf

i mal den BegriiF der „Nachfolge", ein andermal den der^ ^'/^^'

i „Nachahmung" herausliest. Wenn um sieben Uhr abends

f zuerst ein Mensch, dann ein zweiter, in kurzem Abstand

zehn, dann hundert einen Kirchhof verlassen, so kann

119

1

man franzosisch sagen: alle handelten in der ImitatiS des ersten denn sie folgten seiner Handlungsweise. In Wirklichkeit wufiten sie vom ersten gar nichts; sie wull)ten aber alle, dafi) um sieben Uhr geschlossen wird, und handelten, jeder auf eigenen Antrieb, spontan und originar. Wird somit hier das Wort Imitation im Sinne der Nachfolge gebraucht, so erklart es nichts und be- schreibt irrefuhrend; wird es im Sinne der Nach- ahmung gebraucht, so sagt es falsches, indem es zu viel sagt.

Denn eine eigentliche Neigung des erwachsenenMen- schen zu gewohnheitlichem Kopieren besteht nicht; die ofFenkundigen Faille bewu£)ter Nachahmung, die dem Franzosen besonders vor Augen liegen, wie etwa des Modemitmachens, sind komplizierte Zweckvorgange, bei denen eine Klassenzugehorigkeit nicht anders dargetan oder vorgetauscht werden kann, als durch die an sich unbequeme Kopierung eines Vorbildes. Bedenkt man, wie miihsam unsere Erziehung die Nachahmung eines un- ablassig demonstrierten Vorbildes erzwingt, mit welchen Schwierigkeiten eine bewahrte Denkform oder ein niitz- licher Kunstgriff widerstrebender Gewohnheit aufge- drangt werden mul5, so wird man als Haupterscheinung weit eher die Gegenkrafte als den Hang zur Nachahmung in Anspruch nehmen. Soxhie GruHO- Schwerlich wird universell ein soziales Grundgesetz gesf.T^ sich aufstellen lassen, das heifit ein solches, aus dem alle

Wirkungen sich als Einzelfalle ableiten: denn die Ein-' fliisse von Mensch auf Mensch sind vielfaltig und wider- sprechend; Suggestion und MiC)trauen, Abhangigkeit und Revoke, Bewunderung und Ablehnung, Tauschung und Vorsicht, Neuerungssucht und Gewohnheit halten sich

die Wage und lassen sich dennoch nicht mit gleichem Kraftmal)5 messen. Eher diirfte man von Hauptgesetzen reden, namlich solchen, die verhaltnismaC)ig grofie Wir- kungsgebiete liberdecken, ohne AusschlieI51ichkeit zu be- anspruchen. Am sichersten wiirde man nach Analogic der Mechanik von der allgemeinen Eigenschaft der gei- stigen Tragheit ausgehen, die sich in der Neigung zum Gewohnten, in der Abneigung der Menschen gegen das schmerzende Licht neuer Gedanken und Entschliisse aus- spricht, und die vielleicht in ihrer Gesamtsumme das starkste geistige Moment auf Erden bedeutet. Diese Tragheit aber wird nur dutch Vorteile liberwunden, die in ihrer eigensten Richtung liegen: dutch Vorteile der Bequemlichkeit, das heill)t der Krafteersparnis. 1st das Vorbild einer Neuerung gegeben, so tritt zunachst die ganze Abneigung gewohnter Manier ihm entgegen. Hat aber notgedrungen, oder aus abseitigem Zweckgrund, der Eine oder der Andere das Beispiel aufgenommen; ergibt sich aus seiner Handhabung eine Bequemlichkeit, eine leichtere Routine, so schreitet die Ansteckung vor- warts, wie ein Bazillenheer, das mit jedem neuen Opfer auch eine neue Brutstatte gewinnt. Redensarten, die eine neue Situation dutch Anklang an eine altbekannte etledigen, Metkwotte, die ein eigenes Uiteil etspaten and dennoch den Gegenstand abtun, Sptachveteinfachun- gen und Wottvetbindungen, die fotsch und witzig klingen und Umschteibungen etsetzen, Gebrauchsgegenstande, die einen HandgrifF uberfliissig machen, Stichworte, Prin- zipien undldeen, die vieldeutig und dennoch stark gefarbt groiJ)e Gebiete ungeklarter Wiinsche programmatisch und parteibildend zusammenfassen: alle diese Vehikel er- obern die Erde, indem sie Tragheit durch Tragheit,

I

121

Geset% der Be-

quemiicbkeit

Grundfrage des kollekti- ven Phano- mens

namlich durch Krafteersparnis und Bequemlichkeit winden.

Die Annahme des Gesetzes der Tragheit und Bequem- lichkeit erklart jenen Dreischritt ira Tempo der mensch- lichen Kulturprozession, der das Gliick aller grolSen Neuerer zerstampft hat: zogernd feindlicher Auftakt; denn die neue Bequemlichkeit zeigt sich zuerst von ilirer verhafiten neuen Seite, noch nicht von der be- quemen. Der Neuerer wird verfolgt und verspottet, langsam findet er ein Gefolge von originalsiichtigen, ver- sehentlichen Aposteln, die ihff ausbreiten und ausbeuten. Haupttempo der Bewegung: die Krafteersparnis ist an- erkannt, die Neuerung schlagt ein. Dem Neuerer weist man nach, um lastiger Abhangigkeit zu entrinnen, dal^ er sie entlehnt hat. Nachtakt: die Sache hat ihren Dienst getan, sie ist zur Trivialitat geworden, man ist ihrer uberdriissig; der inzwischen verstorbene Neuerer gilt als liberwunden und wird historisch gewiirdigt.

Aber dies ganze Gebiet der franzosischen Forschung mit seinem Ausblick auf ein soziales Grund- oder Haupt- gesetz enthalt so wenig eine Antwort auf unsere Frage wie die deutsche Volkerpsychologie. Denn wir wollen nicht wissen, welchen mechanischen Weg der Ausbrei- tung von einemGehirn zum anderen eineReizung nimmt, noch wie eine Majoritat oder Grof5zahl von gleichmai5ig gereizten Gehirnen statistisch zustande kommt: was wir brauchen, ist vielmehr ein wenn auch noch so primitiver Einblick in das Wesen des Kollektivgeistes. Wie kann eine Gemeinschaft, ein Volk, eine Versammlung, eine Stadt im Sinne und in der Art eines Einzelwesens den- ken, fiihlen, wollen? Und wie geht es inneriich im Kol- lektivwesen zu, wenn dies geschieht.''

12)

Sicherlich lassen sich am deutlichsten die hochsten Erregungszustande beobachten. Nehmen wir als Beispiel eine revolutionar bewegte Stadt.

Es ist zunachst durchaus nicht gesagt, dal5 die Summe Revoiutionare der Einzelerregungen hier ein Maximum darstellen mufi. Es ware zum Beispiel sehr wohl denkbar, dal5 eine Reihe von Arbeitseinstellungen oder Fallissementen eine weit gr6il)ere Anzahl von Individuen in eine durchschnittlich hohere Zorneserregung versetzte als die revolutionare Krisis, und dali5 dennoch nicht ein Mensch geopfert, nicht eine Fensterscheibe zerschlagen wiirde, wobei Gegenmalbnahmen polizeilicher oder anderer Art selbst- verstandlich auI5er Ansatz bleiben.

Dennoch wird das Fiebern des Kollektivgeistes, die eigentliche revolutionare Stimmung, ganz andere Wir- kungen ausiiben als jene Erregungssummen; auch wenn diese Stimmung durchaus nicht alle Einwohner und die meisten unter ihnen durchaus nicht sehr tie fgrei fend gepackt hat. Alios wird in dieser Stadt verandert schei- nen: jede Promenade kann sich momentan in eine Volksversammlung verwandeln was zu anderer Zeit selbst dann nicht geschahe, wenn willkiirlich aller Ver- kehr gesperrt wiirde ; jede Versammlung wird uner- wartete und meistens einhellige Beschliisse bringen; die fremden StralLenganger werden sich begriifien und befreunden; fleifiige und politisch indifferente Men- schen werden ihren Geschaften fernbleiben und fiir Ziele leben, die ihnen gleichgiiltig sind; Frauen werden ihre Wirtschaft und ihre Kinder verlassen, um Reden zu horen, die sie nicht verstehen; entschlossene Glieder der Behorden, die nie einen Einwand gelten liefien, werden, nicht aus Furcht, sondern aus ErgrifFenheit,

123

parlamentieren; Gewinnsucht, Geschaftssinn, Sparsam-

keit, Zuriickhaltung und Subordination sind beiseite ge-

setzt zugunsten kaum verstandener, hochst verschieden

aufgefall)ter Abstraktionen und Begriffe, die man noch

vor wenigen Wochen bei der Zeitungslektiire gewohn-

heitsmaI5ig iiberschlug.

Hier stehen wir nicht mehr vor einer Summe von

Einzelerscheinungen, sondern vor dem Phanomen eines

sichtbar gewordenen KoUektivempfindens. Was ist ge-

schehen?

Gesetz des Es soil sogleich das Gesetz ausgesprochen werden, koUektiven , , . t^ i . , . , .

Phanomens^^^ hier zu vertreten ist. Ls besagt: nichts ist hmzu-

getreten, aber es sind Hemmungen aufgehoben. Ge- wohnte Hemmungen umschliefien fiir gewohnlich, gleich kapillaren Hautchen, die Tropfen der Einzelempfindun- gen und hindern sie am Zusammenflieften. Zerreifit die Hemmung, so rinnen die Einzelempfindungen zu einem Gesamtbewufitsein zusammen und bestimmen das Kol- lektivphanomen. Mit anderen Worten: in jeder Gemein- schaft ist jede Stimmung in beliebigen Exemplaren vor- ratig, gleich trockenen Farbkornern, die in Sand gemischt sind. Verschmelzen diese Elemente zur Losung, etwa weil die Substanz befeuchtet wurde, so erscheint plotz- lich die ganze Mischung gefarbt. Chauvinismus Ein weiteres Beispiel soil diese Gesetzmafiigkeit er- lautern und vertiefen. Wir alle kennen das Problem einer chauvinistischen Nation. Worin besteht es? Sind alleGlieder dieser Nation ein wenig Chauvinisten? Durch- aus nicht. Weitaus die Mehrzahl ist friedlich, j a indif- ferent. Sind zufallig alle Einflufireichen oder ihr groI5er Teil chauvinistisch gestimmt? Noch weniger. Je grol^er die Verantwortung, um so angstlicher die Vorsicht. Gibt

124

es chauvinistische Perioden, in denen Leute rabiat wer- den, die es sonst nicht sind? Vielleicht, aber in ge- ringem Umfapg. Die Stromung hat eher die Neigung, allmahlich abzuflauen. Was also ist es, das die Rache- erinnerung einer Nation ausmacht, und in jedem Augen- blick ihr Kollektivbewufitsein bis zur Leidenschaft er- greifen kann? Es gibt in jeder grofien Gemeinschaft und zu jeder Zeit Vertreter jeder Idiosynkrasie. Es gibt soundsoviel Tausend, die an Platzfurcht leiden, sound- soviel, die Musik verabscheuen oder Briefmarken sam- meln, oder vegetarisch leben, oder Luftzug fiirchten, oder Freitags nicht reisen : kurz, Menschen, die irgend etwas Absonderliches lieben oder hassen, denken oder treiben.

So gibt es denn auch in jeder Nation Monomznen Alonomanien bestimmter Erinnerungen und bestimmterWiinsche; noch heute leben in unserer Mitte Achtundvierziger, Bismarck- feinde, Wei fen, Reichsgegner, wenn auch nicht mit der Bewufitseinseinheit und Solidaritat der nachbarlichen Chauvinisten. Nahert man sich diesen Naturen, so er- gibt sich, dai5 in einer Art von monomaner Spannung die Sonderidee den Hauptbestand ihrer geistigen Inventur ausmacht.

Die latente Erinnerungsfahigkeit eines KoUektiv- Latentes Be- geistes bedeutet somit, daI5 Elemente vorhanden sind, lektiven Gei- die man verkorperte Einzel erinnerungen nennen kann;^^^^ Elemente, deren Aufgabe darin besteht, maniakalisch den Funken des Erinnerns in sich wachzuhalten und dutch die Einseitigkeit ihrer Besessenheit zur Arbeitsteilung des kollektiven Denkens beizutragen. Das akute Erinne- rungsphanomen des Kollektivgeistes kommt zustande, wenn die Spezialkrafte einer bestimmten Gattung sich

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ihrer Isolation entledigen, und durch ihren Zusammen- klang das neutrale Gleichgewicht des Komplexes auf- heben. Jedes mogliche Erinnern ist zu jeder Zeit latent vorhanden: aber die Mannigfaltigkeit der Richtimgen hebt sich zum liberwiegenden Teile nach dem Gesetz der grofien Zahlen so lange auf, bis durch partiellen Zusammenschlul5 die Uberschreitung der Bewui^tseins- schwelle erzwungen wird.

Das Analoge ereignet sich auf dem Gebiet der Ge- fiihle. Eine arbeitsam besonnene Stadt schaumt auf in Karnevalsfreuden. Gewifi, auch der ruhige Burger wird vom Taumel ergrifFen; doch angeblasen wurde die Flamme von eigentlichen Karnevalsnaturen, die zwolf Monate des Jahres von lustigen Streichen traumen. Nun diirfen sie sich ihrer Isolierung entledigen und zwei Tage lang herrschen: und das GesamtbewuStsein wird bis Aschermittwoch friih so hoch gesteigert, daJ& alle Ent- schliisse dieser sorgenlosen Zeit die Spuren ihrer Unge- bundenheit verraten. Gesetz vom Nochmals aufs kiirzeste formuliert: Veranlagung kol- kollektiven ^^^^^^^^ Geister bedeutet das Vorhandensein pradispo- Geisces nierter Elemente; Regung kollektiver Geister bedeutet Pravalieren dieser Elemente. Dies Pravalieren tritt ein, wenn infolge eines aulI)erenoder inneren Anlasses die hemmende Isolation der monomanen Elemente durch- brochen ist; sie wird durchbrochen, sobald der Erregungs- zustand des Einzelelements ein bestimmtes Mafi) iiber- schrltten hat, so dafi er die mehr oder minder schwierige Verblndung mit seines Gleichen im Sinne einer geistigen Addition erstrebt und erlangt.

Es sei bemerkt, dail) wir hier das ofter gesichtete Ad- ditionsmoment des Geistes zum ersten Male in nachster

126

I

Nahe streifen; seine endgiiltige Priifung steht uns bevor und soil dazu beitragen, das Wesen des kollektiven Geistesphanomens endgultig zu klaren.

Wenn wir schwanken, ob wir die ausgesprochene Be- obachtung als ein Fundamentalgesetz des kollektiven Denkens bezeichnen diirfen, so kommt die entschiedene Empfindung uns zu Hilfe: dalJb das Gesetz in unver- anderter Form auch fur dasjenige Kollektivwesen gilt, das wir als unser eigenes individuelles menschliches Bewufitsein kennen.

Auch in unserem Geistesleben tritt nichts zutage, Analogic desEin

, . 1 1 rrn r' II xelbenuufitscins

was nicht zuvor schweigend in den Tieten geruht hatte. Das Vergessene schlummert und ist dennoch gegen- wartig; das scheinbar Neue ist ein UnbewuI5tes, das plotzlich erwacht. In dunklem Grunde liegt jede Leiden- schaft, jeder Wahnsinn, jede Ahnung und jede Erkenntnis; sie steigen empor, und wir fuhlen, dal5 wir von jeher mit diesen Damonen vertraut waren. Gefesselt oder befreit sind sie <jenossen unseres inneren Reiches, und das Spiel unseres BewuGtseins ist nichts als Bandigung und Entbindung maniakalischer Elemente.

Die Arbeitsteilung durch idiosynkratische oder ein-Latente Wll-

. , T-i 1* n 1 :i n lenselemeiite

seitig genchtete Elemente, die wir im Bereich des Be- j^QUej^jj^gQ

wul^tseins beobachtet haben, begegnet uns wieder beim ^^^^tes

kollektiven Willen. Es ist mehr als eine Fiktion, es ist

gewissermafien schon eine rohe Annaherung, wenn man

iieute den zivilisierten Volkswillen durch parlamentarische

\ Vertretung verkdrpert erachtet. Alle Parlamente unserer

Zeit sind Ausgleichsversuche zwischen idionsykratischen

Parteikraften, und politische Parteien wiederum sind

[nteressentenvereinigungen unter dem Anblick einsei-

iger Sammelprinzipien. Worin besteht das Wollen und

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BeschiieJl)en dieser Organismen? Zuweilen sind wir noch geneigt, im Sinne der platonischen Philosophenherrschaft uns vorzustellen, dafi wahrheitsuchende Geister im Wechselfeuer die Probleme des Volkerschicksals nieder- schmelzen; wahrend in Wirklichkeit festgelegte Parteien, und innerhalb der Parteien eintonig abgestimmte Einzel- geister ilire Devisen wiederholen und zu dem Sonder- falle in unbeholfene Beziehung setzen: ein KoUegium von Arzten, von denen der eine nur den Aderlafi, der andere nur die Purganz und der dritte nur die Wasserkur gelter lal5t. Zum Schlufi entscheidet die Farbung, die nichi von der Eigenart des Problems herriihrt, sondern die au; der Mischung gegebener, unveranderlicher Farbpartike! stammt, von denen gelegentlich die eine oder andere Kategorie sich eigenwilliger der Oberflache nahert. Aucl hier begegnet die Analogie zu personlichem Wollen unc Entschliefien. Wir schwanken : indem die feststehenden einseitigen Gewohnheitswollungen nacheinander hervor- treten und ihren Merkspruch sagen; wir beschliel5en indem das Nacheinander dieser Teilpersonen uns einer positiv oder negativgefarbtenErinnerungseindruckhinter- lafit; und nennen das Mosaik unserer feststehender Willenspartikel unseren ethischen Charakter. KoUektive Ar- Gewohnen wir uns an die Denkweise, die in mensch hetutetiung Y\Q>CL^vi Gemeinschaften und Organisationen Kollektiv geister wahrnimmt, so erscheint uns jede Institutioi geistiger Arbeitsteilung unter diesem Bilde, und di( ruckschlieftenden Einblicke in unser individuelles Geistes leben gewinnen an Plastik und Farbe. Staatsgehlxn Das Gehirn eines Staates: in den Tiefen der Hier archie herrscht das unverbriichliche Gesetz der Tages autgabe und der Vorschrift. Zweifelfreier Gehorsam

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luanenlose Routine und Pflichterfiillung bewaltigen die Gleichformigkeit der untersten Exekutive; nach oben dringt ein Zahlenbericht, ein Ausnahmefall, eine Kon- trollmeldung. Im Mittelgebiet beginnt das Denken. Von oben driickt der dispositive Wille, von unten hemmt die Unvollkommenheit der Dinge und Menschen, Ele- mentarkrafte , Unvorhergesehenes. Es wird vermittelt, aul^enstehende Faktoren werden anerkannt, die Aus- nahmslosigkeiten sind durchbrochen. Nach oben dringen Zusammenfassungen, Rasonnements, drtlich einseitig, aber sachlich durchdacht. In der hdchsten Region sind alle Zweifel erlaubt, gemildert freilich durch die Trag- heitsmomente des Systems und der Tradition; den un- teren Pflichtorganen wiirde grauen, wenn sie die Labilitiit ihrer Dogmen erschauten. An die Stelle der sakralen Phrase tritt die Verhandlung, die vorurteilsfreie Wiir- digung gegnerischer Machte, summarische Beurteilung von Charakteren und Schwachen, es entwickelt sich diplo- mat! sche und politische Beweglichkeit. An der Ressort- spitze desGeistesgebietes steht einMensch, umgeben von kleiner und ebenbiirtigerGefolgschaft. 1st er durch Natur, Pflichtgefiihl und Opferkraft zur Erfullung bestimmt, so bedarf er mehr einer inneren Richtkraft und Urteilsklar- heit als sachlicher Schulung und Routine. Deshalb sind in vorgeschrittenen staatlichen Organisationen die Trager letzter Verantwortungen nicht Spezialisten, sondern Per- sdnlichkeiten. In ihnen soil nicht jede tatsachliche Kennt- nis der unteren Tagesereignisse , sondern ein Gesamt- gefiihl aus der Summe dieser Ereignisse leben, verbunden mit einer Anschauung des zu Erstrebenden und mit einer deutlichen Vorstellung notwendiger und mdglicher Mittel, mit der objektiven Schatzung der Gegenkrafte,

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mit der Einfiihlung in den Organismus der Gesamtheit und in die Abbilder dieses Organismus, wie sie aus Parlamenten, offentlicher Meinung und auswartigem Urteil sich widerspiegeln. Wir sehen zwei Manner in einer Besprechung: es ist tatsachlich der Handelsver- kehr eines Landes, der mit der Kriegsmacht verhandelt, oder die Hauptstadt, die mit dem Staate verhandelt, oder der Staat, der mit einem Nachbarn verhandelt; insofern namlich, als in jedem dieser Vertreter die Strebungen, die Besorgnisse, die Krafte und die Mittel des Organismus ihren summarischen Ausdruck finden. Der Organismus hat in diesen Menschen Rede gewonnen, er hat in ihnen Augen, Ohren, Fiihler und Taster, ei dringt vor, weicht aus, streitet, kampft, gibt nach, er- obert, siegt imd unterwirft sich. Im Augenblick dei Belebtheit und des Handelns sind diese Menschen die wirksamen Exponenten ihres Kollektivwesens; in ihnen drangt sich Leben und Wille des Organon zusammen; und dennoch sind sie nicht das Wesen selbst, nicht sein Geist und nicht sein Leben. Sie sind nicht ein Abbild dessen, was der grofie Philosoph des Zeitalters Lud- wig XIV als Zentralkraft des menschlichen Organons sich vorstellte, nicht die Seelenmonade, die da sprechen durfte ,retat c'est moi'; sie sind wirksame und zeitliche Exponenten des KollektivbegrifFs, aber nicht seine abso- lute Essenz.

Denn wahrend sie sichtbar und wirksam denken und tatig sind, bleiben tausend andere, im Augenblick un- cheinbare und dennoch unentbehrliche Exponenten ims Inneren und AuGeren gleichfalls fiihlend, wollend und handelnd, und bleibt vor allem der gesamte Organismus mit seinem kollektiven Geistesdasein wirksam und leben-

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dig, gleichviel welche seiner Elemente in jedem Zeit- punkt in das Licht des Bewuil)tscins treten, welche ruhen und welche im Stillen wirken.

Abermals erkennen wir die gewaltige Analogie zu Analogic der unserem eigenen, einzelmenschlichen Kollektivdasein : ^^^^z^^^^^" ^ so treten in uns selbst die Elemente unseres geistigen Wesens abwechselnd, elnzeln und in Gruppen, an das Licht der Rampe: jetzt spricht ein Glied, jetzt herrscht ein Gedanke der Abwehr, jetzt blitzt ein Augenbild, jetzt lautet ein Erinnerungsklang, dariiber breitet sich ein Gemeingefiihl, eine Stimmung, im Zwielicht harrt ein Wunsch, eine Unruhe klopft, ein Entschlul5 bricht durch: und wahrenddessen, im Schweigen des Unbewufiten, arbeiten tausend Sinnes- und Gedankenelemente an der Verwaltung, Verteidigung und Bereicherung unseres leiblich-geistigen Lebens. Wir selbst sind eine Stadt, ein Land, eine Herde, eine Verwaltung, ein Staat; unsere eingebiirgerten Geisteselemente begegnen sich, reden miteinander, teilen ihre Arbeit, bekampfen sich, treten hervor, um vor der Gesamtheit des Kollektivgeistes ihre Sache zu fuhren, anzuklagen, zu berichten, zu raten; sie schopfen Materie aus Vorraten und sorgen fur Trans- port und Verarbeitung; sie schopfen Erfahrung aus den Archiven und Bibliotheken der Erinnerung; sie organi- sieren sich zu Einzelverbanden mit gesonderter Vei> fassung, halten Haus, leben, zeugen und sterben. Was Appius Claudius als eine Scherzfabel der romischen ^

Plebs vorhielt: die Ahnlichkeit des Staates und Leibes an Haupt und Gliedern, war ein rohes Bild, solange beide Korper aus undiiFerenzierten Sammelorganen, Kopf und Magen bestanden; die Zerlegung in Geisteselemente zeigt den wahren Umfang des Parallelismus ; und w^nn

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an anderer Stelle seine Anwendung auf den Staatsaus- ban dargelegt werden mag, so darf hier erneut und ein- dringllch auf die Erkenntnisquelle hingewiesen werden die im Studium der Kollektivgelster sich fur die Erfor- schung unseres eigenen Innenlebens eroffnet.

Vbrbemer- Bevor wir nun aus dieser Quelle den Trank schopfen.

Additions- ^^ dessen willen sie uns erschlossen ward: die Erkennt-

pruizip j^jg^ ^[q ^3^5 Zentralphanomen unseres inneren Erlebens die Geburt der Seele, im objektiven Weltbilde sich dar- stellt und einreiht, bleiben einige, bedeutungsvolle Ziige zu erortern, die wir vom Angesicht des Kollektivgeiste! abzulesen und in die Zeichnung unseres Universal- diagramms einzutragen haben, damit ihm seine end- giiltige Belebung zuteil werde.

Es ist demnach zu handeln zunachst von dem, was ab das Strahlphanomen bezeichnet werden soil, sodann vor dem Additionsprinzip des Geistes, zwei mechanischen Elementen unserer Betrachtung. Damit im Verlaufc dieser nicht ganz kurzen Vorbereitung der Zusammen- hang nicht verdunkelt werde, sei vorgreifend bemerkt dafi der erstgenannte BegriiF, dessen schon friiher Er^ wahnung geschah, bestimmt ist, dem Bilde der Erschei- nungswelt seine letzte Beweglichkeit zu geben, und zu- gleich die Vorstellung der Vererbung zu durchleuchten wahrend auf dem zweitgenannten BegriiF der Addition, die in einem warmeren Licht als dem der Mathematik erscheinen wird, das Ereignis derSeelenwerdung sict aufbaut.

Vom Tode Wir haben bemerkt, daI5 von den Elementen de* Kollektivgeistes jedes als Exponent, keines als Essen? der Gesamtheit sich zu fiihlen berechtigt ist; der siind- hafte Ausspruch, der Staat bin ich, kommt keinem zu.i

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Noch mehr: jedes Element ist nur solange als Exponent zu betrachten, als es gewissermall)en in Amtsfunktion auftritt; ruht es, so ist es der Gemeinschaft verloren. Aber es ruht nicht nur zeitweise; es gibt einen Mo- ment, in dem es endgiiltig aus seiner Lebensgemein- schaft ausscheidet; es stirbt. Es stirbtund wird geboren, aber die Gemeinschaft lebt, sie uberlebt Tode und Ge- burten, sie lebt aus Geburten und Toden. Nur nach dem Gesetz der grolben Zahlen bleibt sie sich im Quer- schnitt gleich, zum mindesten stetig, wenn auch in keinem Augenblicke identisch; sie lebt zweifach, pinmal das Leben ihres inneren und aulberen Ergehens, sodann das Leben ihrer Wiedergeburten und ihrer Tode. In der Standhaftigkeit der Erscheinung beim unablassigen Wechsel des Substrats gleicht sie dem Wasserstrahl und dem Lichtstrahl ; deshalb sei das formgebende Prinzip dieses Stromens, das man schlechthin als das Prinzip des Lebens zu deuten versucht hat, der Kiirze halber als Das Strahl- Strahlphanomen bezeichnet. ^ anome

Tatsachlich beherrscht es alles Lebendige. Der Inbe- Seine universeiu griiF aller Fauna und Flora stromt; die Menschenvolker und Siedelungen, die tierischen Scharen, die Walder und Wiesen, das lebende Kleid der Erde und der Welt ist ein Strom und ein Strahl. Aber auch das Einzelwesen stromt. In ihm erneuert sich Zelle um Zelle, Wachs- tum, Teilung und Tod durchdringen seinen Leib von der Wurzel zum Wipfel, vom Herzen zur Rinde. Und wiederum stromt es dutch die Zellen im Wechsel der Substanz; der Nahrung und Ausscheidung. Die chemische Substanz freilich scheint stabil; und dennoch hat die Wissenschaft begonnen^ sie in Bewegung aufzulosen; daC) sie durchdrungen wird von ewigen Stromen immer

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subtilerer Elemente, miissen wir heute schon zugestehen, und dennoch sind die Fernwirkungen niclit erklairt; sie werden uns zwingen, die Durchstromung als das korper- liche Prinzip anzuerkennen und die Weltkorper, die wir Atome nennen, in Strahlen oder Wirbel wehender Ur-i einheiten zu zerlegen. Das Strahlphanomen wird zum^ unbegrenzten Weltprinzip unseres materiellen Denkens, indem es alle Materie aufhebt und jedes Einzelphanomen umfafit. Ein Prinzip aber von dieser Universalitat werden wir nicht auf die Welt der Symbole beschranken diirfen; wir haben nicht das Recht, eine Stabilitat des erzeugen- den Geistes zu verlangen, wenn aller Ausdruck dieses

. Seine alfso/ute Geistes stromt; uud wir diirfen um so eher es wagen, ^" ^ ^ die Giiltigkeit des Strahlprinzips fiir die absolute Welt des Geistes zu vindizieren, als uns in der Feme grenzen- loser Unterteilung die Vorstellungsberuhigung eines qualitatslosen IndifFerenzpunktes zu dammern scheint. Es sollen aus diesen Analogiereihen generelle Schliisse fiir den Fortgang der Betrachtung nicht gezogen werden. Doch schien der Ausblick unvermeidlich, der unser Bild der absoluten und der gespiegelten Welt aus seiner Starrheit in unendlich stromende Bewegung lost und die Einzelerscheinungen , die wir zu priifen haben, in neue Bildlichkeiten unabsehbarer Gesetze verwandelt. Vor allem aber fiihrt das Fluktuationsbild der Welt zu einer beklemmenden Frage , der wir ins Auge blicken miissen, be vor wir von neuem dem Endproblem der Seelenwerdung zustreben.

Vbra Recht Alles fliefit. Der Strom des Lebendigen, der in un-

ermelMicher, kontinuierlicher Breite das Wei tall durch- flutet und auf der Oberflache der Planeten sich zum Teppich vegetativer und animalischerWebung verdichtet,

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dieser Strom gewinnt seine zweite Richtung konrinuier- licher Unendlichkeit in der Zeit, und seine dritte in der substanzbildenden Strahlung, die ihn durchbraust, und die jedes seiner Elemente erst in den Zustand der Er- scheinungsexistenz versetzt. Nebeneinander leben und sterben die Weltorganismen, in ihnen leben und sterben die Generationsreihen , in den Generationsreihen leben und sterben die Geschopfe, in ihnen die Zellen, in ihnen die Substanzen niederer Ordnung, und so nach oben und unten in endlosen Reihen. Vergeblich hat man ver- sucht und wird man versuchen, in scheinbar lebloser Substanz anthropomorphe Geistesregungen, wie Erinne- rung und Willen, nachzuweisen : unser Begreifen des Urgeistes umfal^t nur den Zellenbezirk; aber das Leben reicht, soweit das Strahlprinzip reicht, und schliel^t, wenn dieses allgemein gilt, nichts aus, von dem wir Kunde haben. Die Frage aber entsteht, wieweit in diesem wechselvveisen unendllchen Durchdringen der ^ Strome das Element, gleichviel ob hoherer oder niederer Ordnung, fiir den Moment aufgerufen zur Reprasen- tation, eingetaucht in bestehende Ordnung, die es ge- bildet vorfindet imd alsbald verlafit, wieweit dies be- schrankte und bedrangte Element, Mensch oder Atom, den Anspruch hat auf eigene Lebenszumessung, Betati- gung und Wertung. DaI5 dem Geisteselement eine eigene Freiheit zusteht, haben wir erkannt; wieweit ist sie entwertet durch die Bedingtheit der fliefienden Reihen ?

Auch hier geniigt es, eine Reihenstufe zu bewaltigen, Experiraen- womoglich die, welche uns zunachst liegt: unsere Ab- ^ ^

hangigkeit von der Generations- und Erbreihe; und um ihr naherzutreten , bedarf es abermals der Aufstellung

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unseres Experimentationsapparats , des kollektiven Ge- bildes. Koiiektive Fort- Was bedeutet es, dafi ein kollektives Wesen sich fort- pjtanzung pflanzt? Es bedeutet nicht, dall> in seiner Mitte Ge- schlechter kommen und gehen; das ist sein Leben. Es bedeutet, dal5 ein dem Ver Sacrum ahnliches sich er- eignet: Teilung und Erstehen neuerGemeinschaft, Volker- wanderung, Stadtegriindung, Kolonisation. Gesetze der Betrachten wir solches Phanomen in breitesten Ziigen, gleichviel, ob antike Stadte, transatlantische Siedelungen oder afrikanische Faktoreien uns vorschweben; voraus- gesetzt nur, dafi heimatlicher Nachschub an Menschen und Dingen nicht wesentlich sei; so erhellt, daH) kein Baustein, kein Zimmerholz aus der alten Heimat in die neue iibergeht: nur die menschlichen Elemente in spar- licher Zahl mit ihren Gedanken und Uberlieferungen, Gewohnheiten und Wiinschen sind libersiedelt, und auch ' von ihnen ist nach wenigen Dezennien der letzte Rest geschwunden. Doch zugleich hat das neue Leben sich seinen Leib selbst gebaut mit fremdlandischem Stein, Mortel und Holz, ihn angeschmiegt an fremde Hiigel und Buchten und ihn geformt nach den Gesetzen frem- der Sonnen und Winde; neue Menschenleiber sind er- schaffenaus firemderNahrung, fremderLuftund Klimatik.' Gewachsen ist dieser Leib an Zahl seiner Elemente j; seine Formen, reicher oder armer als die elterlichen, verdanken vieles dem ersten AnstoI5, vieles der neuenj Umwelt, das meiste dem Lebenswillen, der in ihner| brennt. Nicht die Gestalt der Straiten und Gebaude* bestimmt psychophysisch den Lebensgang und das Schick- sal der Bewohner. Das Element wird freilich seine Abstammung nicht verleugnen; eine Germanensiedelung

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wird kein Negerdorf, eine Malaienkolonie keine goti- schen Dome errichten; aber den neuen Zusammenschlul5, der das Wesen des gezeugten Kollektivgeschopfes aus- macht, hat es aus alter Lehre und neuer Natur dutch eigene Kraft geschaiFen. Nicht das Gehause bestimmt das Leben, sondern das Leben hat sich sein eigenes Ge- hause gebaut. Flamme hat sich an Flamme entziindet; aber die neue Flamme hat mit der alten nichts gemein als die Entziindungstemperatur; und war sie zuerst dutch die liberkommene Form des Brenners in ihrer Entfaltung I gebunden, so hat sie bald die Kraft gewonnen, den j Brenner selbst solange umzuschmelzen, bis er den ge- wollten Feuerkorper ausstromt.

Versucht man von diesem kollektiven Erscheinungs- Anwendung auf symbol der Erblichkeit auf das Phanomen des reinen ^' ^^ '*^^ Geistes riickzuschlielLen, so bleibt in der Gedankenkette, der wir folgen, abermals das Bild des unbegrenzt teil- baren und unbegrenzt kombinierbaren Geistes bestehen. KeinTeil wirkt losgelost; er ist bedingt dutch alle librigen. Und wie wir, auch ohne raumliche Vorstellung selektives, vorzugsweises Wirken des einen auf ein anderes Element erkannten, so daI5 im libertragenen Sinne dies Vorzugs- wirken als eine unraumliche Nachbarschaft oder Ver- ivandtschaft gedeutet werden konnte, so muH) auch fiir den BegrifF der vorzugsweisen Bedingtheit der Vererbung die analoge Bedingtheit solcher, im zeitlosen Strom sich ablosenden Charakteristik sich ergeben, ohne da£> iiierdurch die eigene Freiheit des Elementes geopfert werde.

Bei der Beriihrung der Erblichkeit haben wir etwas Psychophysi- ansanft ein gewaltiges, fast unbeschrankt das heutige ^^mfg ^™^^" Denken beherrschendes Prinzip gestreift: das psycho-

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physische, und sind ihm hierdurch eine Rechenschaft schuldig geworden.

Fiir jede idealisrische Weltbetrachtung scheint es auf den ersten Blick eine unverdauliche, ja unertraigliche Vor- stellung, daH) unsere materiel! e Erfahrung nicht nur einen Parallelismus des Physischen und Psychischen im Lebens- organismus, sondern sogar eine schicksalentscheidende auf^ere Einwirkung des Fremdkorperlichen auf das Gei- stige unter Beweis stellt. Wie darf ich wagen, die Supre- matie, die Alleinexistenz des Geistes zu behaupten, wenn mir glaubhaft gemacht wird, dal5 ein Chemikal, eine Bazillenzucht oder ein Ziegelstein jedes Geistesleben, mein eigenes eingeschlossen, verktimmern oder vernich- ten kann? Und welche Sinnlosigkelt liegt darin, dafi dem rohen Ungeist oder Halbgeist solche Gewalt liber das gottliche Element gegeben ist?

Generell und prinzipiell mulS entgegen diesem Ein- wand an das erinnert werden, was liber die Beschran- kung Geistes durch Geist gesagt wurde; auch Chemika- lien, Bakterien und Steine sind Erscheinungssymbole des Geistigen, und ihre Kampfe in der sichtbaren Welt sind Schattenbilder eines Hoheren. Wir diirfen aber der scheinbaren Kiihle dieser Erklarung ein weiteres Zuge- standnis machen und den materiellen Gedanken bis in seine Wurzeln verfolgen. Was sind Lebensverkiimme- rungen und Tode? Soweit wir bisher unter der Erschei- nungsform das Leben gepriift haben und noch immer bewegen wir uns auf der Zone des unterseeiischen, sterbensfahigen Lebens bedeuten sie: Lockerung und Auflosung von Kollektivgemeinschaften. Mogen in ab- steigender Reihe beliebig viele Gemeinschaften zertriim- mert, beliebig viele Tode gestorben werden : einmal ist

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sc' on hier des Sterbens ein Ende, und neue Verbindun- gen schaffen neues Sammelleben. Der BegrifF des ani- malischen Todes hort auf und geht in den BegrifF der Kritik des kontinuierlichen Zellenerneuerung iiber, sobald wir als *

das wahre Lebensgeschopf das zweifach dimensioniertc : die zeitliche Serie des Stammes und die raumliche Serie des kollektiven Coexisteur betrachten. Das unbeseelte Geschopf ist in diesem Sinne nicht Individuum, sondern Element. Dies spielt sich in der Welt des Sterbens ab; wir werden jedoch Gebiete streifen, von denen auch diese Schatten zu weichen beginnen. Gleich- zeitig werden wir dem Gefiihlseinwand der Sinnlosigkeit des blinden Unfalls begegnen, sobald wir von der Mehrdeutigkeit des Geschehens uns Rechenschaft ge- geben haben.

So spaltet sich der psychophysische Zwang in zwei iiberwindbare Gruppen : die organische, evolutionare Be- stimmungsserie der Abstammung ergibt sich als direkte der Ver- Spiegelung der geistigen Strahlkontinuitat ; die von aufien ^ ^' eingreifende, akzidentell hemmende und fordernde Be- timmungsserie des auI5eren Schicksals als wechselseitige Eingrenzung der geistigen Mannigfaltigkeit.

Bevor wir jedoch diese erste Zwischenfrage verlassen, jmpfiehlt es sich, teils rekapitulierend, teils exegetisch twei bekannte Denkformen unseres zeitlichen Inventars m beleuchten, die aus dem Dunkel gern den Weg des dealistischen Wanderers beirren: die Modalitat der Rasse ind der materialistischen, besser gesagt, physischen Ge- ichichtsauffassung.

Von der Erblichkeit haben wir gesprochen. Sie ist der Rasse, ins erschienen als Beschrankung eines geistigen Anfangs- '.ustandes, welche die Freiheit des Handelns erschwert,

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aber nicht unmoglich macht. Denkbar und moglich ist es durchaus, daf5 ein Australneger sich zum Gelehrten oder Staatsmann seines Volkes aufschwingt; wahrschein- lich ist es nicht, weil erfahrungsgemaU) das einer Men- scheneinheit zugemessene Quantum an Evolutionskraft im Kampf des Einzellebens aufgebraucht wird. Wenn wir aber auf das vorhin erwahnte kollektivistische Experi- mentationsbeispiel zuriickgreifen und nochmals das Bild der Vererbung unter der Analogic einer Siedelungsgriin- dung uns vergegenwartigen, so erhellt, dafi gelegentlich eine HandvoU dorflicher Abkommlinge im Laufe einej Dutzends Generationen, also einem fur das Leben dei Kollektiveinheit recht kurzen Zeitraum, zur Starke und Geistesmacht eines antiken Weltstaates heranwachsen kann, und einzelmenschliche Beispiele ahnlicher Evolu- tion lassen sich aufweisen.

Somit lost sich das Rassenproblem auf in eine An- wendung des Gesetzes grower Zahlen : in ihrer Form erb- licher Ausstattung erweist sich die Zugehorigkeit zu einei animalischen Art oder menschlichen Rasse als Anfangs- beschrankung, als Durchgangskonstellation im Zeitpunki T; die Moglichkeit beliebigen Vorschreitens in jeglichei Richtung ist dem Einzelnen und der Gesamtheit zu jedei Zeit gegeben, und insofern herrscht Freiheit, ist jede grundsatzliche Rassenbeschrankung ungiiltig ; dahingeger zeigt die Erfahrung grolI)er Beobachtungszahlen, daI5 vor der Freiheit durchschnittlich ein geringer Gebrauch ge- macht wird, dafi die Erbreihe sich selbst ahnlich bleibt, und insofern ist die Rassenbeschrankung als empirischei Rechnungsfaktor' fiir ein gegebenes Zeitmal^ zulassig. Aber selbst innerhalb dieser Empirie scheinen Gesetz- mall)igkeiten zu wirken, deren Seltsamkeiten noch dei

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[Beobachtung harren: vor allem die eine, welche ich als G^'/^/x der Um- [Umkehrung des Massencharakters bezeichnen niochte. ^^^]^^^^ '^ Es hat den Anschein, als ob in den hochsten Indivi- dualbildungen eines Stammes gerade diejenigen Krafte, zur Genialitat gesteigert, sich emporringen, an denen ,die Masse arm ist; so dafi gleichsam die ganze Kraft einer Gemeinschaft in einer einzigen Bliite hervor- .bricht. Italien und Ungarn sind die klingendsten Saiten auf Europas Harfe; vom nordlichen Deutschland gilt der Spruch „Frisia non cantat"; dennoch haben jene Lander den niederdeutschen Genien der Musik nichts Ebenbiirtiges entgegengestellt. Das durchschnittliche ifudentum war in alien historischen Zeiten eine Schule des Realismus; dennoch ist sein Vermiichtnis an das Denken der Welt die hochste Transzendenz seiner vier einsamsten Geister. Eine letzte Verfliissigung des Rasse- tvesens aber tritt insofern ein, als auch sie dem Stro- mungsphanomen unterliegt; auch sie ist nur eine Wirbel- srscheinung im Generationenstrom, die sich langsam und stetig andert: auch die hochsten Rassen, die wir kennen, sind in mefibaren Zeiten aus niederen Arten entstanden.

In den gleichen Zusammenhang gehort die Frage nach Kritik der der physischen Auffassung der Historie. Wir konnen Q^g^l^^^^Jj^^" tins gewissen, materiell erscheinenden Gesetzlichkeiten '^^^^ssung Iceineswegs verschliefien: es tritt zutage, daI5 Kultur nur moglich ist auf der Grundlage eines Wohlstandes, dafi iulturelle Hochperioden zustande kommen im Augen- blick bedeutsamer Blutmischungen, daii intellektuell zivi- lisatorische Entwicklungen nur moglich sind unter giin- Jtigen klimatischen und geographischen Vorbedingungen, iaH), um den Zirkel zu schliefi)en, nationaler Wohlstand von der BeschafFenheit der Erdkruste und Atmosphare

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nicht unabhangig ist; ja es scheint zuweilen, daC) riick- wirkend diese physischen Elemente den geistig-sittlicher Faktor der Menschheit bis zu einem Grade beeinflussen der auch diese letzte unabhangige Konstante dem Spiele der Naturkrafte unterwirft. So wird scheinbar das Ge- schick der Volker zur blinden Funktion der physischer Machte; die Selbstbestimmung erstirbt, Gegenwart unc Zukunft lassen sich aus materiellen MaC)en und Quali taten errechnen. Das Verfiihrerische aber liegt daria daJB diese Berechnung auf weiten Gebieten stimmt; dei Wahrheitswert der Betrachtung erprobt sich von Tag zi lag; er bildet die Grundlage des gesamten empirischer Wesens der Politik und Regierung, und gewinnt, dej Urkritik entzogen, so hohen Anteil unseres Denkens dafi abermals eine der Schranken, vor denen der schiich- terne idealistische Wille unserer Zeit stutzt, hier auf gerichtet scheint. Anivendung auf Eiue grundsatzliche Kritik der physischen Geschichts-

nienschlkhei Ein- , i •• r i i i t— i r i

x^iscbicksai deutung Qurten wir der menschlichen Lmzelerrahruns entnehmen. Wenn jede Lebensaulberung uns triiger kann: Worte, Meinungen, Blick, Benehmen, zuweiler selbst Gestalt und Ausdruck; ein Indizienpaar trotzt allei Verstellung und tauscht uns niemals: Lebensfiihrung und Werke. Sie sind das sichtbare Gehause, das jeder Men- schengeist um sich zimmert, und zwar aus so unend- lichem Aufbau grol^er und kleiner, bewul5ter und ge- heimer Regungen, dai5 jedes Planwerk versagt und dei Natur das Wort bleibt. Sehen wir einen Menschen dauernd in schiefen Situationen, kleinlichen Kampfen, von miJ&lichen Genossen und Werken umgeben, an fal- schem Ort, in irrigem Beruf, so fehlt es an ihm, nicht am Schicksal. Ein Tuchtiger kann in edlem Irrtum schei-

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tern, in Leidenschaft vergehen, doch nicht gesunden Leibes in Widerwarcigkeit verkommen, denn jeder Mo- ment bietet ein Lebenslos, und keine Wahrscheinlich- keit gewahrt einer reinen Hand in steter Reihe das Recht luf tausend Nieten. Wirkt so im Sinne der Gerechtigkeit das Gesetz der grofien Zahl auf das Einzelschicksal, so wirkt es unendlich gesteigert auf das Geschick der Ge- meinschaften und Volker. Fiir ein Volk gilt keine Ent- >chuldigung, es erlebt, was es verdient. Ein edles Volk luldet so wenig Sklaverei wie falschen Wohnsitz, torichte wttensowenigwieungeeigneteVerfassungundRegierung. Denn alle diese Verhaltnisse sind LebensauC>erungen, sie ;ind fiir einen Organismus, der sein Gesetz in sich selbst ragt, Formen seines geistigen und kdrperlichen Leibes. iin Volk kann im Kampfe gegen aufgezwungene falsche Verhaltnisse untergehen, es kann durch Entartung ihrer viirdig werden, es kann nicht einer edlen Natur zum Frotz sie dauernd ertragen. Wenn Athener und Vene- ianer, Hollander und Briten unendlich viel ihrer geo- jraphischen Lage verdanken, so verdankten sie vor allem liese Lage sich selbst. Sind Macht und Wohlstand Be- lingungen der Kultur, so sind sie in ihrer Dauer nicht jeschenke des Zufalls, sondern Kampfpreise des Volker- dels.

Somit bedeutet physische Geschichtsbetrachtung eine >ragmatische Breviloquenz, ebenso wie das Operieren ait dem BegrifF der Rasse, sofern er richtig angewandt /ird. Wir sprechen von der physischen Lage und den »lutseigenschaften eines Volkes als von Dingen, die sich u gegebenem Zeitpunkt einigermafien beobachten und erwalten las sen, ohne daI5 wir zu verges sen, noch we- iger aber standig zu betonen brauchen, dafi diese Be-

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dingungen, dem Wechsel und der Wechselwirkung unter- worfen, den Ausdruck urspriinglicher Geistesbedingtheit bedeuten, die minder greif bar und mel5bar waiter. Wii sprechen von diesen Dingen breviloquistisch, wie etwa von der Kraft einer Maschine, von der wir wissen, dafi sie gar keine Kraft hat, sondern nur in einem bestimmter Augenblick der thermischen Energie der Kohle Gelegen- heit gibt, sich in einem bestimmten Mafi zu entfalten Einen seitsamen Zirkelschlui^ dagegen stellt eine neti beliebte Betrachtungsweise dar, welche alle Rassenquali- tat aus der Qualitat der Lebenslage ableitet, indem sie beispielsweise die Charakteristik eines Stammes auf seineri Nomadenberuf griindet. Man vergifit, dal5 Volker ihrer Beruf nicht willkiirlich wahlen wie schwankende Abitu- rienten, sondern nach den Gesetzen und Moglichkeiter ihrer Natur. Es geht nicht wohl an, negerhaftes Wesen, aus der Ubung negerhafter Beschaftigungen und Gewohn-j heiten abzuleiten, die ein Volk im Widerspruch zu seinel inneren Natur aus Zwang, aus Zufall oder aus Verseher angenommen hatte. Kollektives Von neuem betreten wir die vorgeschriebene Bahrj der^Seden- ^^® ^^^ ^^^^ erschauten Phanomen der Seelenwerdund' wertung entgegenfiihrt. Das Kollektivgebilde, das wir befragenj Das Biid von der txigt diesmal die Zilge einer fernen Stadt; ein Dom er hebt und verkiindet ihren UmriI5. Acht Jahrhunderti? lang haben stille Geschlechter diesen Boden gelockert^ seine Giiter geformt und verteilt, fremde erworben unc gehandelt, Feinde abgewehrt und Freunde verteidigtj sie haben gepfliigt und gesat, gemahlen und gewobeni geschmiedet und gezimmert, gekampft und gelitten, ge? zeugt und begraben. Die strafiendurchfurchte Krust< ihres Sammelieibes klebt am Boden; aber das erste md

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letzte, was dem Wanderer aus dieser Hiille der Betrieb- samkeit entgegenblickt, ist die steinerne Bliite der Kathe- drale : eines siebenfach erhohten Hauses ; und dieses Haus ist leer; in seinem Innern, unter den Wipfeln der Pfeiler- schafte weht kiihle, farbendurchzogene Luft und Schwei- gen. Zehn Menschengeschlechter haben diesem Bau gefront und ihre Sorge und Sebnsucht, Freude und Schonheit, Gut und Blut hineingewoben. Vater und Enkel betreten dutch diesen Blumenbogen das schonste Gebilde ihrer Augen und Herzen in Ehren und Schmach, Verzweiflung und HofFnung; knien im Schatten seiner Wolbung und verlassen das leere Gehause im Gefuhl neuen Lebens. Sie haben vielmal mehr fiir dieses Denk- mal aufgewendet als fur ihrLeben; sie haben ihr Leben sichtbar hingebaut, sie haben gefiihlt, daf5 sie fur den Bau lebten und starben, der sich als Abbild und Gleich- nis ihrer gemeinsamen Seele langsam erhob. Auch wir fiihlen, dafi ihre Stadt in dieser luftigen Knospe sich zur Sichtbarkeit eriost; die Speicher undWerkstatten,Mauern und Walle sind zerfallen, die Rechnungsblatter zerstoben, die Festgewander verschlissen, aber von den Fialen und Baldachinen lesen wir die verwehte Waldfreude und Liebesseligkeit, die Leideshoffnung und den Himmels- glauben, die Dinge, die lebendig sind. Diese Gemein- schaft hat wirklich um ihres Werkes willen gelebt; dieses Werk ist unsterblich; es ist unsterblich als ein Werk der Liebe.

So tragt die kleinste altere Ortschaft, die wir be- suchen, im Herzen ihres materiellen Organismus ein ver- steinertes Seelenbildlein. Und ware es nur ein Rathaus- erker oder ein schoner Brunnen, ein Torbogen oder ein Kreuz; es sind Geschopfe eines hoheren Wbllens und

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einer edleren Freude; gegen die Kleinlichkeit der Noil durft sind es Heilquellen, die seit Menschengedenke jedem, der noch so zerstreuten Auges zu ihnen auf blick' einen Tropfen Erlosung spenden. Unvergleichlich in de Gr6l5e seines Auf bans war bis vor zwanzig Jahren da architektonische Bild der preuC>ischen Seele vom Bei

Daj bild -vom liner Friedrichs-Denkmal bis zum Lustgarten. Ein konig liches Forum war eroiFnet von Akademie, Universita und Bibliothek, den Statten der Kunstiibung, der Foi schung und des Gedachtnisses; die Orte der Musik ua des WaiFenglanzes, Oper, Arsenal und Wache stande: sich gegeniiber; liber den Kanal des Handelsverkehi leitete eine Marmorbriicke zu den Heiligtumern de' Kunst und des Glaubens, Museum und Dom, die de prachtvollen Front der Konigsburg Raum liell)en. So lange diese Werke ehrwiirdig und notwendig, unzerstoi und ihrer Bestimmung getreu in groC)artigem Abstau' ihren Raum erfiillten, erblickte man hier, wie von einen Gott geschafFen, das klassische Gehirn unseres ehemej Staates.

Technische und Mechanik und Technik bleiben in stetigem Flufi denn sie bedeuten das momentane Wehrverhaltnis de mit der Natur kampfenden Menschheit. Zu keinen Zeirpunkt sind technische Werke absolut und vollendet sie konnen Schonheit haben, die der Techniker empfinde und die der Asthet afFektiert und liberschatzt, aber diesi Schonheit ist zur Halfte Verstandessache und dahe ephemer. Ist eine Maschine recht griindlich veraltet so mag sie noch etwas malerische Qualitat behalten nacl der romantischen Art verfallener Hiitten und Miihlen aber dem unbefangenen Auge wird sie zum Geriimpel bestenfalls von der wiirdigen und imgefiigen Art aite

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Postkutschen und Tschakos. Ein Gerat ist um so edler, je unbedingter es ist; je mehr ihm Generationen liebe- voller Schdpfer die Willkiir abgestreift und die Pragung einfacher Handlichkeit, selbstverstandlicher Notwendig- keit verliehen haben, je mehr es zum scheinbar beseelten Genossen menschlicher Gemeinschaft geworden ist. Was 5ind uns die Transportmaschinen der Agypter, die Gieii5- ofen der Chinesen, die Ballisten und Retorten des Mittel- ilters? Was sind uns Bumerangs, Negerpfeile, Morgen- >terne und Chassepots? Die Wasserleitungen der Cam- pagna ziehen uns an, weil sie aus UnvoUkommenheit der Technik auf gewaltigen Unterbauten verlegt wurden, die ier Schonheit freier Architekturwerke sich nahern.

Sind nun die technischen Mittel der Vergangenheit, in denen die halbe irdische Intelligenz jahrtausendlang >ich abmiihte, fiir unser Dasein nichts anderes mehr als ibgestorbene Glieder einer wissenschaftlich interessanten (intwicklung, iiberwundene Aushilfsmittel iiberstandener iSJ6te, und somit keines bleibenden Wertes gewiirdigt: io erkennen wir von neuem die unveranderliche Grofie, lie Unbedingtheit der Werke der Seele.

Welche paradoxen Opfer bringen wir ihnen! ^vaSeeienwerkt nnd ^ehnjahriger Junge lernt unter Tranen auswendig, wie Ier Mann hiefi, der gewisse Bildverzierungen an einer Hieidenkirche zur Zeit des peloponnesischen Krieges an- jebracht hat. Die LebenshoiFnung eines sachsischen 3uchhalters, der zwanzig Jahre lang auf seinem Dreh- :chemel Zahlen addiert hat, besteht darin, zu seiner :ilbernen Hochzeit das Forum zu sehen. Ein junger ^atrizier, der Rennstalle und fiirstliche Jagdgebiete hal- en konnte, zieht es vor, griechische Topferscherben zu ortieren oder aus agyptischen Grabersclinitzeln eine

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Stelle des Euripides 2u erganzen. Es mag in den Ex tremen Mode und Ubertreibung stecken: im Grunde is es tiefe Wahrheit. Diese Dinge gehen uns an. DaI5 eii deutsches Minnelied oder ein griechisches Friihbild ge funden werde, ist wichtiger, als daI5 eine Grenzfestunj an Rumanien fallt oder eine neue Gerbmethode ent deckt wird. Amerika bleibt ein Kinderland, solange e den Kasetrust oder das Seifenmonopol ernster nimmt al eine Musikschule oder eine Horazausgabe. Wiirden un alia technischen Bequemlichkeiten der letzten andert halb Jahrhunderte genommen, so ware auI5er der gutei Gewohnung an viel Wasser und verbesserteBeforderungs mittel so gut wie nichts zu vermissen; mui5ten wir abe die Musik und Philosophie dieser Epoche entbehren, s( waren wir unaussprechlich verarmt. Immer wird die Bedeutung der Zivilisation eine quantitative sein, inden sie den zur Gemeinschaftsarbeit aufgerufenen Kreis de: Menschen erweitert; und insofern bleibt sie Mittel unc Baugeriist. Kultur aber bedeutet eine Erfullung, somi ein Absolutes, das unabhangig von raumlicher und zeit licher Ausdehnung auf eigenem Recht beruht.

Wir empfinden es gleichsam mit Sinnen, wenn wi: ein Land betreten, das die Ernte der Kultur noch nich getragen hat; derBoden, der nichts birgt als Mineralien die Berge und Buchten, die kein Lied bekranzt und keir Mythos weiht, scheinen uns fremd und leblos wie un bewohnte Gestirne. Wir verstehen die Menschen, die im Kapland, in Argentinien und Mexiko forschen, werber und bauen; aber wenn Sehnsucht uns in diese Ferner zieht, so flieht sie das Lebendige und haftet an Weiter und Hohen. Unsere Heimat bleibt das Land heimatliche] Menschen, alten Gedenkens und verwandter Seelen.

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Vergangene Volker haben ihr Lebensrecht durch Permanent seen- gutes und boses Menschenschicksal erwiesen und sind, wie alle Kreatur, zu achten um ihrer selbst willen. Ihr Erdenwalten und Gedachtnis aber lebt in gleichem Mafie wie ihr Anteil am Seelengut der Menschheit, so daC) die Frage, was eigentlich unser Geschlecht mit seinem Empor- tauchen aus der animalischen Schdpfung geleistet habe, schlechthin derart beantwortet werden kann: es hat See- lenwerte geschafFen. Die Stamme, die vorbereitend, also cechnisch, an der Schulung der Menschheit teilgenommen haben, sind gestorben, in den Fluten liberstromender Volker aufgelost, auch wenn ihre Reichtiimer und Wohnsitze, ihre Erfindungen und Verkehrsleistungen noch so bedeutungsvoll ihre Zeit bewegten, wahrend die kleine Zahl der wahrhaft schopferischen Nationen, gleichviel ob arm oder reich, machtig oder bedriickt, aus lUen Zonen in den Zusammenklang der Seelen einstro- nend, nicht nur ihr wirksames Erbe der Welt erhalten, jondern auch alien Fluktuationen der Geschichte zum Trotz einen Kern ihres lebendigen Wesens noch in der lichtesten Umhiillung sichtbar bewahren konnte. Wird ji Gronland ein Kind getauft, so geschieht es in Er- jinerung an ein Hirtenvolk in der Jordanebene, wird in Cincinnati ein Haus gebaut, so tragt es einen Schmuck lus Korinth, die Sonntagsruhe der Schotten stammt aus iem Kreise der Chaldaer, ein deutscher Patentprozefi vird nach dem Rechtsgefiihl eines romischen Prators jntschieden, unsere Lieder folgen griechischen Rhyth- nen, unsere Stadtgarten sind Abkommlinge germanischer ^ Hlaine. Das Gedachtnis der Welt ist nicht Erinnerung ies Geistes, sondern Erinnerung der Seele; wie denn luch die einzelmenschliche Erinnerung undUberlieferung

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nicht das aufbewahrt, was grofie mechanische Wirkun- gen gehabt hat, sondern das, was aus Seelen kommt und Seelen bewegt. Aus unklar dialektischem Pflichtgefiihl bewahren wir den Namen eines Erfinders im Gedachtnis; aber die Gestalt eines Volkskonigs und Feldherrn wird zum Heroen.

Die rasonnierte Urges chichte der Zivilisation und Kultur, die wir Volkerpsychologie zu nennen gewohnt sind, lafit in grol^artiger Entwicklung aus Noten, Ang- sten und Freuden des animalischen Lebens die Gewalten der Sprache, der Kunst, der Sitte und des Glaubens er- wachsen; vom Instinktiven ausgehend, durch den Krei? des Denkens und Erfindens geleitet, endet ihr Gang, be- wufit oder unbewuI5t, bei Werten der Seele. Und indem auf diesem Wege die empirische Integration kleinstei Wirkungen bis zum endgiiltigen Bestande unseres Welt- Seelenwerte besitzes gelingt, laJSt sich der Beweis entnehmen, daJC schopfiingen tatsachlich das Gemeinschaftsbewufitsein Schopfer diesei Werte ist; sie sind Produkte nicht einer Summe, sondern eines Organismus. Beispieivom Wie es moglich ist, dal5 eine hochbegabte Gemein-

schaft in ihrer Totalitat ideelle Werte, etwa asthetischei Ordnung hervorbringt, lal5t sich an jedem Bau erlautern, der in Jahrhunderten langsam emporgewachsen ist, nacb Art des romischen Forums, des Markusplatzes, des Strafi- burger Miinsters. Eine gliickliche Situation und die ersten unverbundenen Elemente einer Anlage sind gegeben; Zeit, Bediirfnis und Wohlstand fordern eine Erweiterung, einen neuen Baukorper, seit Jahren geplant, in engerei Gemeinschaft erwogen. Die Fundamente erheben sicb und die Gemeinschaft wendet ihr gesamtes Interesse, das noch nicht in hundert Stadtereignissen sich zersplit-

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:ert, an das nationale Monument. Jede Bauschicht er- ^achst gleichsam als eine ofFentliche Sache, ein schon pehauener Stein wird bewundert, ein edles Beute- ijtiick an sorgsam erorterter Stelle eingefiigt. Ein Feld- jiug, eine Reise des Staatshaupts, eine geldknappe Zeit linterlai^t ihre Spuren; ein Kiinstlerstreit bricht aus und erzeugt Parteien; Sieg und Niederlage, vom Willen der Zeit entschieden, lenken das Wachstum in neue Rich- ning. Schon arbeitet das dritte, das vierte Geschlecht^ angsam hat Urform und Umgebung sich geandert, aber lie Plastizitat des langsam Entstehenden schmiegt wie isine Naturmasse dem Vorhandenen sich an und er- lartet zu jenen unbegreif lichen Gebilden, vor denen msere projektierende und kalkulierende Epoche ratios ;tarrt. Denn wirklich sind solche Schopfungen das Hihlt, wer an der Piazzetta landet nicht Menschen- yerke, sondern W&rke einer Menschheit; hier stehen licht Hauser und Tiirme, sondern die steingemeifielte i>eele Venedigs, das farbige Muschelkleid eines namen- osen Meergottes glanzt am Strande.

Wenn nun hier ein Volk, freilich ein hoheitvoWes^ Zerrbi/der ko/- loch immerhin anonymer Gemeinschaft, als Kiinstler ^ ^'^"* ^ aj;euj md Genius schafFt: wie reimt sich das zusammen mit iler Talentlosigkeit der Kommissionen, mit der noto- rischen geistigen Minderwertigkeit der Massen, der yersammlungen, Reprasentationen und Kollegien? Die Antwort ist einfach. Je grower und mannigfacher ein Organismus, desto langsamer seine Evolution. Die Sekunde des Menschen ist im Leben der Eintagsfliege eine Stunde, der Tag des Menschen ist im Leben des Volkes ein Augenblick. Will man vom Volk eine Entscheidung, so bedeutet die Abstimmung nach einer

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I

bewegten Tagung nichts anderes als einen Hauch Zufalls; die Reden, Emporungen und Enthusiasmen einer Versammlung vergleichen sich den irren Halbgedanken, die einem Menschenhirn, das fiebernd nachdenkt, im Bruchteil einer Sekunde voriiberrasen. Note des Augen- blickes konnen dutch schnelle Vertreterbeschliisse wohl oder libel beseitigt werden, so, wie ein unwillkiirliches Wimpernzucken die Miicke abwehrt; Lebensentschliisse eines Volkes sollten nie einem Referendum anheim- gestellt werden. Die Gesetzgebung Englands ist gleich- zeitig die imsystematischste und die organischste der Welt, well die Gesetzgebung des Tages sich auf das notwendigste beschrankt, und keine grundsatzliche Frage gelost werden kann, bevor nicht mindestens einjahr- zehnt ofFentlicher Diskussion verstrichen ist. Der Ge- danke eines Volkes ist erst dann zur Reife voUendet, wenn er in den iiberwiegenden Geistern zur unbewuC)ten Selbstverstandlichkeit geworden ist. Anteii der Gent- Hier, WO wir Gemeinschaften nicht auf dem bekannten tiven Schafen Wege der Arbeitsteilung und Summierung , sondern als Gesamtgeschdpf, nicht als Organisation, sondern als Organismus, Geisteswerte schafFen sehen, diirfen wir an der Frage nach dem Anteil der fuhrenden Geister, nach der Okonomik der Genialitat nicht voriibergehen. Wir haben die seltsame Erscheinung gestreift, wonach in genialen Naturen die Geistessafte des Volkskorpers sich dermafien verdichten, daH) ihr Reichtum, verglichen mit der Verarmung des Stammes gleichsam als eine Um- kehrung der Veranlagung erscheint. Hier ist hinzuzu- fiigen, dal5 dieser potenzierten Lebenskraft auch die potenzierte Lebenswirkung entspricht: im genialen Geist ereignet sich das, was im Stammesgeist sich er-

IS^

eignen soil, vollkommener, deutlicher, unvermittelter, und demnach vor allem, friiher. Eine ganz generelle Klasse von Naturerscheinungen wird hier beriihrt, die von den anorganischen Massenerscheinungen bis in die organischen Phanomene der Artenentwicklung hin- iiberreicht, und die mit dem Namen der Fnorit^t Prhriiat bevor-

, . 1 1 11 T^' zugter EUmente

bevorzugter Elemente bezeichnet werden soil. J^^^^^ Gieicimisvondei moglichst einfachen Fall bietet das Beispiel einer stark P^nsurscheibe betauten Fensterscheibe in feuchtigkeit - gesattigtem Raum. Die Tropfen, zu betrachtlicher Gr6l5e ange- wachsen , werden im Augenblick noch ausnahmslos durch Kapillarkrafte an der vertikalen Flache schwebend fest- gehalten; doch wissen wir, daI5 in wenigen Minuten das Bild verandert sein wird: der grofiere Teil des Tau- wassers wird, der Schwere gehorchend, sich auf dem unteren Rahmen gesammelt haben, wahrend die Scheibe gleichmafiig benetzt und wiederum durchsichtig erscheint. Wo aber wird das Phanomen beginnen? Hier ist ein Tropfen etwas langlicher geformt als die librigen und etwas umfangreicher, somit starker unter der Schwer- kraft leidend und schon merklich liberhangend; mit ihm ereignet sich das bisher auf der Scheibe Unerhorte, das doch in Kiirze das Schicksal aller sein wird: er gewinnt Bewegung. Wir wissen, was folgt; mitzwei, drei Nach- barn vereinigt, rollt er bergab, der Weg wird zum Kanal, der sich verzweigt, andere mitreif5t, Seitenbache aufnimmt, die Erscheinung gewinnt Nachfolge, Allge- meinheit, und im Handumdrehen ist die Scheibe ent- wassert.

Die Analyse sagt: notwendige Massenerscheinung* In alien Teilen muC) sich das gleiche vollziehen. Irgend- wo mul5 es beginnen. Es beginnt da, wo das virtuelle

in

Abbild der Kraftebilanz am pragnantesten sich ausdriickt, das Leiden am tiefsten, die Spontaneitat am freiesten wirkt. Das geschieht bei diesem bescheidenen Bilde dem bevorzugten Iropfen, beim erstarrenden See ge- schieht es dem ersten Eiskristall, bei der Bildung der Arten der ersten der Trockenheit trotzenden Meeres- fauna, und bei der Entwicklung menschlicher Gemein- schaft der genialen Natur. WiirdeundGren- Der inneren Wiirde des hochsten menschlichen Pha- nomens geschieht kein Abbruch durch diese Betrachtungs- weise, die sich auf das Wirken, nicht auf das Werden des Genius bezieht. Das wahrhaft Wunderbare bleibt der Entelechie erhalten; dal5 in der Bliite des Genius das gesamte Wesen des gemeinsamen Organismus mikro- kosmisch emporbricht, dal5 in diesem einen Geist und Herzen der ganze Menschheitskampf gekampft, der vor- bildliche Sieg errungen wird, ist die tragisch-trostliche Apotheose des irdischen Bewufitseins. Niemals aber darf der imbillige Gedanke geduldet werden, daI5 in dieser Gesetzmai^igkeit Willkiir herrsche, dal5 es dem genialen Geiste gestattet und beschieden sei, durch selbstherr- liche Befehle eine Menschheit aus vorgeschriebenen Bahnen zu lenken. Irdische Gotter folgen einem Schicksal, und dies Schicksal ist der Wille iiberirdischen Geistes. Naturvor- Somit ist das seelische SchafFen der Gemeinschaft

UschenSchaf-^^^^ abgebildet und prophezeit, doch nicht bewirkt und fens nicht gelenkt vom Vollbringen des Einzelnen. Die Ge-

meinschaft selbst, das grof5e Einheitsgeschopf, dessen millionenfache Menschenzellen jede fiir sich im zweck- haften Denken des Tages, in der rastlosen Intellektshast der Selbsterhaltung fiebert: dieses koUektive Gebilde

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schafft keine Werke des Tages; es ruht, indem es sich selbst erneuert, unbewegt von der Woge der Einzel- notionen, emporgehoben iiber die Sphare der Emsigkeit und Betulichkeit, der Niitzlichkeit iind der Sorge; es wirkt in gottlicher Mufie Werke und Werte der Seele und lebt nur und ausschlieMch fur diese Werke und Werte. Betrachten wir das vollendete Einheitswesen intuitiv, namlich nicht von der zerkliifteten Auf5enseite mechanischer Summierung so wenig wie wir Menschen, die wir lieben, als Zellstoifagglomerate oder Blutkreis- laufe zu betrachten gewohnt sind , betrachten wir es einfiihlend als begeistete Existenz, so stehen wirvor einem Wesen, das uns in Erfiillung entgegenbringt, was wir als ein Werdendes in uns selbst empfanden: das Leben der Seele.

Wir haben im ersten Telle dieser Darlegung als den Erkennbar- Kernpunkt unseres inneren Inventars und als das '^^^' iQncrQhun tralereignis unseres Geisteslebens das Sein und Werden der Seele erkannt; uns wurde die Aufgabe gestellt, das gleiche Phanomen in der Welt der Erscheinung aufzu- suchen und auszudeuten, um den Inhalt dieser Erkennt- nis den Gebieten des objektiven Denkens und Handelns zu erschliefien. Jetzt endlich stehen wir einer Erschei- nungsform gegeniiber, die uns den Vorgang der Seelen- werdung von aufien spiegelt, und zwar in einem Geistes- komplex, welcher der Beobachtung zuganglicher ist als unsere Individualitat. Denn unser Ich erfassen wir nur makroskopisch; wir uberblicken nur seine Integrale und konnen mit seinen DifFerentialsumman- den nicht verkehren. Den Gemeinschaftsgeist aber er- fassen wir gleichzeitig in seinen Einheiten, zu denen wir selbst uns zahlen, und in seiner Totalitat, die wir

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synthetisch begreifen. Somit ist, indem wir den Kollektiv- geist zum Experimentationskorper erheben, und zwar nicht mehr allein fiir intellektuale Vorgange, sondern auch fiir das Zentralphanomen der Seelenwerdung, der Ausgang fiir eine neue, gleichsam laboratoriumsmafiige Erforschung und Betrachtung der Geistesevolution ge- schafFen. Von nun an sind die Ereignisse des Geistes nicht mehr bloI5 ein Erlebtes oder ein in seinen mittel- baren Wirkungen Erschautes: sie sind im lebendigen Abbild faJSbar geworden, als gesetzmal5ig abrollende Vorgange, auf einer Bxihne, auf der wir selbst uns be- wegen; und in Anbetracht ihrer Gesetze diirfen wir von ihnen als von den Elementen einer Mechanik des Geistes reden. EhtvanJ von Bevor wir nun den objektiven geistesmechanischen ' .^'l^ '^' Gesetzen der Seelenwerdung uns nahern, dem Wesen der Addition, der Kritik der Liebe und dem Prinzip der Enthiillung, eriibrigt es, einen letzten denkbaren Ein- wand gegen die Seelenhaftigkeit kollektiver Wesen ab- zutun: den Einwand ihrer scheinbaren Immoralitat. Man konnte namlich auf den Gedanken kommen, dal5 Volker, die sich libervorteilen und iiberfallen, bekriegen, iiber- winden und toten, tief unter dem Sittlichkeitsvermogen der Einzelwesen stehen, auch wenn man zum Vergleiche nur minderbeseelte Individuen heranzieht, die immer- hin durch Gewohnung, Sitte, Religion und Gesetz er- heblich besser in Schranken gehalten werden.

Es ware leicht, durch zwei Hinweise den Einwand zu entkraften: einmal darauf deutend, daI5 die Grenzen der Kollektivgeister sich nicht in gleich konkreter Weise abheben wie die Grenzen korperlicher Gebilde, daJB vielmehr Ubergange, Verschmelzungen und hohere Ge-

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meinschaften die Aufstellung aller interkollektiven Ge- sellschaften und Verkehrsprobleme abweisen. £s ware ferner gestattet, geltend zu machen, dal5 alle Hem- mungen, die das Einzelwesen sittlich machen, Produkte der Gemeinschaftsseele sind; dai5 der Einzelne ohne diese Hemmungen jenen vorbildlichen Rang, den der Einwand ihm zuweist, keineswegs behaupten wiirde, und dall> die Sittlichkeit der Gemeinschaft, nach innen wirkend, sich somit ausreichend betatigt.

Fiir die Vertiefiing des Problems kann es uns will- Zufav/igkcU kommen sein, das Wesen des Kollektivgeistes noch ein- Regungen mal innerlich zu fassen, und uns zu erinnern, daf5 seine wahren Regungen relativ grower Zeitriiume bediirfen, Alle plotzlichen Entflammungen des Tagesgeistes, den man ofFentliche Meinung nennt, bedeuten in unserem Gedankenkreise nicht WillensauI5erungen, sondern Re- flexbewegungen; selbst das Pathos der Kriegsbegeiste- rung kann passageren Anfallen entspringen, wenn niche Druck und Aufschwung, wie vor hundert Jahren, alle Fasern durchzittern und aus der Inbrunst aller Schmerzen den Funken der Entscheidung iosen; dann aber spricht die Stimme der Selbsterhaltung, nicht der Aggressivitat. Hingegen lief das, was im Juli 1870 in Paris geschah, auf unbewufiyte Regungen eines mechanischen Paroxys- mus hinaus, und selbst die riihmliche Kriegslust unseres eigenen Volkes entsprang in diesen Tagen nur insofern kollektivem Willen, als die Nation zur Verschmelzung strebte: der Umschwung zum AngrifF war rapides Er- zeugnis einer genialen Politik. Daher sind die franzo- sischen Dialektiker nicht ganz im Unrecht, wenn sie mil!)liebige Kriegsabenteuer als Angelegenheiten nicht der Nation, sondern ihrer Fiihrer auszurufen pflegen,

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wahrend sie alien Erfolg dem Volke vindizieren, in der stillschweigenden Voraussetzung, dal5 man mit einer blinden Masse nicht siegen kann. Es hat zu jeder Zeit kriegslustige Menschen einzeln und in Vereinigungen gleichgesinnter Auswahl gegeben, auch kriegsstarke und kriegsgeiibte Volker; niemals aber war der Krieg eines Volkes Endzweck: Wasserstellen, Triften and Acker wurden aus Not begehrt, und hinweggefegt die, welche sich berechtigt glaubten, zu sperren, und zu schwach waren, zu verteidigen. Selbsterhaltung eines KoUektivwesens ist aber nicht nur nicht Immoralitat, son- dern Voraussetzung jeder Moralitat; ihre Mittel sind nicht gewaltsamer als die des Einzelnen, der mit jedem Schritt seines Ful5es imgezahlte Existenzen vernichtet. Grenx.enderVer' Noch weniger konnen politische Praktiken der Fiihrer, snttuortung ^^^ .^ Namen und Interesse der Gesamtheit geiibt werden, der sittlichen Gemeinschaftsrechnung zur Last fallen. Der Kollektivgeist wirkte verantwortlich, indem er sich eine politische Organisation erwachsen liel5; sie ist einer der Leiber, deren der Geist sich unzahlige schafFt. Nim wirkt der politische Organismus auto- matisch, in seinen Einzelfunktionen dem Gesamtgeist unbewufit; wie etwa unser Kreislauf einen Blutkorper zum Wundersatz abordnet, so scheidet er Menschenein- heiten zu beliebigen leistenden oder leitenden Berufen aus. Der leitende Exponent fuhlt in sich das Abbild aller Gemeinschaftsbediirfnisse einer gegebenen Kate- gorie und hat sich fiir diese zu op fern. Sein Handeln entspricht dem InbegrifF seiner geistigen Krafte ohne Riicksicht auf eigene Wahl und eigenes Gliick; wohl ihm, wenn seine Krafte stark genug sind, um den jeweils wirksamsten Schachzug mit den Erfordernissen eigenen

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Sittenempfindens zu vereinigen; sind sie cs nicht, so

bleibt ihm die Wahl, sich auszuschalten oder die Ver-

antwortung zweifelhafter Mittel zu rragen. Nur dann

belasten solche Mittel den Gemeinschaftsgeist, wenn die

Organisation, die er sich gegeben hat, so schlecht ist,

dafi iiberwiegend unfahige oder skrupellose Einheiten

zur Verantwortlichkeit aufgerufen werden; aber auch in

I diesem Falle ist das Vergehen des KoUektivwesens nicht

j Immoralitat, sondern Schwache.

I Wir kehren zuriick zu der Frage: welche Grundbe-

I dingungen miissen gegeben sein, damit in einer Gemein-

j schaft das Gesetz der Seelenwerdung erfiillt werde?

I Zunachst mul5 die Gemeinschaft lebendig sein. Es Bedingungen 1 1 rt T^T 1 1 .. 1 . der seelischen

[i genugt nicht, dalo sie wie eine Wohltatigkeitsveremigung £vQiutioii

oder eine Zweckgesellschaft dutch Erklarungen, Ver-

: pflichtungen und Leistungen eine beliebige Anzahl von Innne Lebens-

Menschen zusammenrafFe , die auI5erhalb menschlicher^''"'^'^

Beziehung auf irgend einem Sondergebiet ahnliche Ab-

sichten vertreten. Es genugt auch nicht die enge Nach-

barschaft etwa der Einwohner eines Gefangnisses oder

der Parteien eines Miethauses oder der Passagiere eines

Uberseedampfers: die erste Voraussetzung ist inneres

Leben des Gemeinwesens, und dieses Leben ist geistige

Beriihrung und geistiger Austausch.

Hieraus ergibt sich als zweite Notwendigkeit die innere Abgren-

innere Abgrenzung. Eine Volkerschaft , die aufgelost

und in der Welt zerstreut lebt, kann noch lange nach

ihrer Explosion in ihnen zerstuckten Gliedern gemein-

same Eigenschaften und Erinnerungen bewahren, aber

jie kann nicht mehr die Kraft schopferischer Seelen-

gemeinschaft entfalten. Ebensowenig kann der geistige

[nhalt eines willkiirlich abgemessenen geographischen

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Wf^

BegrifFs, Siidamerikas oder Australiens, seelisch vi schmelzen; das gleiche gilt von den ideellen Stammes- komplexen, etwa des Panslawismus, Panmongolismus, Pan- afrikanismus, Panmuhamedanismus. Sie bedeuten des- wegen weder politische noch kulturelle Weltgefahren, weil sie nicht seelische Einheiten, sondern agitatorische BegrifFe bezeichnen. Im librigen ist immer wieder zu bemerken, dal5 weder physische noch intellektuelle Ahn- lichkeit der Glieder mit wirkender physischer Gemein- schaft gleichgesetzt werden darf.

Es ergibt sich vielmehr die liberraschende Wahrneh- mung, dal5 ebensowenig die entschiedenste Uberein- stimmung der Eigenschaften wie die ofFenkundigste Gleichrichtung der Interessen und Wiinsche an sich aus- reicht, um die Verschmelzung zu seelischer Einheit zu erzwingen, wahrend umgekehrt allzuhaufig aus Gemein- schaften verschiedenartigster Abkunft und mannigfachster Willensorientierung das Phanomen der Seelenwerdung erwachsen ist. Wir kennen Stamme und Volker von ausgesprochener physischer Gleichformigkeit, hoher in- tellektueller Einsicht, ausreichendem Wohlstand, leb- hafter innerer Bewegung, normaler politischer Einheit- lichkeit, die keiner seelischen Kultur fahig sind und waren; wir kennen tausendfache Gruppen von Partei- gangern, Interessenten, Glaubigen, Fanatikern, Werks- genossen, die in engster Benihrung des Verkehrs und der Arbeit nichts anderes als mechanisch materielle Ge- meinschaftswirkung gezeitigt haben.

Wohl aber sehen wir kleine, fast unscheinbare Volks- gebilde gemischter Bevolkerung an seelischer Gewalt die machtigsten Zivilisationskomplexe iiberstrahlen, so unvergleichlich, wie die Vereinigten Staaten von Hellas

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die der Union iibertreiFen; vvir sehen im engen Kreise hcJischer und geselliger Gemeinschaft, ja selbst in haius- lichen Schranken familiaren Lebens Keime und Triebe schaffender Seeleneinheiten sprossen.

Wo aber immer wir solcher Krafte gewahr werden, Innere Binduni in stammverwandten und gemischten, in nationalen und hauslichen Gemeinschaften, immer sind sie begleitet von einem und dem gleichen Gefiihlspaar: dem Gefiihl der Verwobenheit und des Opfersinns. Niemals ist in einem Volk oder einer Stadtgemeinschaft seelische Kultur er- wacht, ohne dafi) ein leidenschaftliches Nationalgefiihl, Stammesbewuf5tsein und Heimatsempfinden lebendig war, niemals ist eine engere menschliche Vereinigung seelisch produktiv geworden, ohne dafi ein Band der Herzen sie zusammenhielt. Die staatenbildende und nationale Kraft der Volker, ihre Fahigkeit, sich als eine Einheit zu empfinden, diese Einheit hoher zu stellen als alles individuelle Leben, in ihr aufzugehen, fiir sie sich liinzugeben: dieses transzendente Gefiihl erhohter Ord- nung ist schlechthin die Voraussetzung und der Mafi- stab aller seelischen Gemeinschaft, gleichviel ob sinn- bildlich die Ordnung gekettet sei an die Symbole des Landes, des Stammes, des Staates, der Dynastie oder des Gottes.

Diese Empfindungenwird man schwerlichverwechseln mit den armlichen und transzendenzlosen Regungen nationaler Eitelkeit, die nichts weiter als naive Verall- gemeinerungen individueller Selbstgefalligkeit bedeuten. Echtes Gemeinschaftsgefiihl halt sich in selbstbewul5tem Gleichgewicht gleich fern von Hal5 und Uberhebung; sein Mafi ist nicht Aggressivitat, sondern Opfermut.

Diirfen wir in diesem verbundenen und verbinden- Liebe

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den Kraftepaar das eigentliche Moment der geistigen Addition, den Faktor erblicken, der den Gemeinschafts- geist zur Seelenentfaltung 2usammenfal5t, so erscheint ' die neue Erkenntnis uns bald als Selbstverstandlichkeit vertraut: denn was soUte anderes den inneren Grundil jener wunderbarenVerschmelzung ausmachen,wenn nichtl das alte, allzu ratselhafte Band der Hingabe, der Ver- webung, der Entaul^erung und des Opfers? Das Element aber dieser Krafte, das aufzusuchen uns oblag, ist die^ Liebe. Definition Hart und kalt ist die Definition Spinozas: Liebe sei Freude, begleitet von der Vorstellung einer aul5eren Ur- sache. Dann ware jedes Wohlgefallen Liebe, selbst die Freude am schonen Wetter oder an einem tiichtigen Verbrauchsgegenstande verdiente diesen hohen Namen. Wahrhafter und gr6l5er ist der Spruch Augustins, der die Liebe ein Leben nennt: vita quaedam, duo aliqua copu- lans. Hier ist dem Gedanken der Vereinigung und Bin- dung Gerechtigkeit geschehen, aber von der Art der Ver- kettung ist nichts gesagt. Das hochste, was liber das Wesen der Liebe geschrieben steht, enthalten die ewigen Worte Pauli im dreizehnten Kapitel des erst en Korinther- briefes. Begehrenund In der begehrenden Leidenschaft der Geschlechter ^^ ^ erfahren wir den InbegrifF irdischer Liebe; deshalb wird

es uns schwer, Begehren und Liebe zu trennen. Be- gehren ohne Liebe ist uns verachtlich, Liebe ohne Be- gehren scheint uns kraftlos. Die Natur konnte die irdi- sche Fortdauer ihrer Geschlechter nicht starker sichern als durch die Verkniipfung des Triebes mit der Liebe; so scheinen die beiden Gewalten uns untrennbar, fast identisch, und wir erkennen kaum die ungeheure Para-

doxie ihrer Kuppelung. DerTriebverlangt zeitliche innige Naherung, die Liebe verlangt ewigen Bestand. Der Trieb will besitzen, Herr werden und genieI5en, die Liebe will aufgehen, sich opfern, verschenken. Der Trieb bietet die hochste Lust dem Eigenwillen, die Liebe findet ewiges Gliick in der EntauGerung. Es ist ein niichterner Irr- tum, zu glauben, dafi die Natur die Kraft der Liebe in den Dienst des Triebes beschwor, um die Erziehung der Kinder durch monogames Familienleben zu schiitzen; die Familienerziehung, insbesondere in monogamer Ehe, ist keine Naturnotwendigkeit, sondern eine Moglichkeit von vielen, und es spricht manches dafiir, dafi mit dem Er- starken neuer Staatsgedanken andere Formen ihr zur Seite treten werden.

Auch der Instinkt der Mutterliebe ist kein Beweis Mutterliebe fiir die immanente Zusammengehorigkeit von Liebe und Trieb; die Mutter liebt im Kinde nicht ein Gegenwesen ihrer mystischen Wahl, sondern den losgelosten Anteil ihrer selbst, die irdische Unsterblichkeit ihres eigenen Ich. Ihr heifies und heroisches Gefiihl tragt von aulben die friihesten Zuge altruistischer Liebe; im Innern aber beharrt es als edelste Form der Eigenliebe.

Eigenliebe aber fiihrt zu Unrecht den Namen des Eigenliebe Gefiihls, dessen Begriff sie aufhebt. Sich selbst kann man fiittern und pflegen, hatscheln und verwohnen; abernie- mand kann sich mit sich selbst vereinigen, sich fiir sich selbst entaul^ern, hingeben und opfern. Eigenliebe ist Eigensucht, Selbsterhaltung, Betonung und Absonderung des engsten Ich; sie vernichtet die Liebe, die darauf aus- geht, die Grenze des Einzelwesens zu sprengen, das Ich im Du aufzulosen und das Versprengte zu hoherer Ein- heit zu binden.

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Parodoxieder So bleibt die Liebe als das Ratsel und Wunder dei Zweckwelt ganz auf sich selbst gestellt. Der Trieb rufi ihre Hilfe an, und sie leiht ihm Macht, damit im Leber eines jeden Menschen, selbst des materiell gebundenen ein Augenblick der Transzendenz, der Zweckentrissen- heit, der Unbegrenztheit aufleuchte. Aber der Trieli kann die ihm fremde Gewalt nicht beherrschen; wm iiber die engen Ziele seines Geschafts hinaus werden ihir die Geschopfe enthoben, die er friedlich paaren woUte und die er nun in die Flammen apotheotischer Opferungi stiirmen sieht. Kritik der Rund umher in dieser mittleren Welt dient alles sicti selbst, seiner Art und seiner Zukunft. Auf der Trias:;; Selbstbehauptung, Zweck und Mittel ist sie aufgebaut Denken, Handeln und Geniel5en sind ihre Motoren, Ent- wicklung ihr Weg. Das ist die Welt, die vom Granit hh zum Menschenhirn der Intellekt beherrscht und kennt.

Nun tritt die Liebe hervor, zerstorend und verfliich- tigend den Aufwand des materiell gesattigten Geschehens Die Selbstbegrenzung schwindet, der Eigenzweck ist auf- gehoben, mit ihnen sinken die Machte des Begehreni als Mittel und Krafte ins Schattenhafte. Nicht als irdi- sche Tauschung erstirbt das Ich, um einen Aschenrest absoluteren Wesens zu hinterlassen, sondern es ent- schmilzt verlorener Einsamkeit, um im Hoheren zu er- stehen. '

Im intellektualen Denken gipfelt die sichtbare Schop- fang, einschliel5end das irdische Menschentum. Die un-' entrinnbare Orientierung des intellektualen Denkens abei liegt im Ziel und im Zweck. Hier nun erhebt sich eine paradoxe Kraft, die beide vernichtet, indem sie das indi- viduelle WoUen aufhebt, xmd dennoch synthetisch wirkt,

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indem sie das Einzelstrebige vereiiiigt. So steht die Liebesgewalt an der Grenzscheide unserer Tageswelt, und zugleich an der Pforte zu neuemLeben; die hoch- sten Krafte des Diesseits half sie entfesseln, die stillen Machte der Einkehr lehrt sie sammeln.

I Konnte die Kraft, die wir suchten, andere Ziige tragen Liebe als als die, welche uns im Bilde der Liebe vertraut sind, die j^oment Ziige der Selbstaufgabe und Verschmelzung, der Zweck- auflosung und Wiedergeburt? So geartet vermag sie allein unserem Empfinden das Phanomen der Seelen- schopfang zu rechtfertigen; wir erkennen wiederum wie zu Anfang unserer Betrachtung: Seele entsteht durch Liebe.

I Diesmal jedoch erscheint die Wahrheit uns in ihrer objektiven Form; nicht mehr als hinzunehmende Erfah- ning inneren Erlebens, sondern als begreifliche Gesetz- mai^igkeit der vereinbarten Welt. Im gleichen Licht des erschauten Tages begegnet uns die zweckfreie Aul5er- weltlichkeit der Seele, die sich vormals durch Einkehr uns oiFenbarte.

j Wir stehen im Mittelpunkte unseres Denkens. WirRiickblick wnrden uns bewull)t, daI5 der zentrale Vorgang unseres inneren Erlebens in der Erweckung der Seele begriffen sei. Wir stellten die Aufgabe, in der Welt der Vor- stellung diesen beherrschendenMoment der inneren Evo- lution symbolisiert zu finden. Die Welt der Vorstellung ergab sich als ein Phanomen der Wirkung Geist auf Geist und der Vereinigung Geist mit Geist. Das Element der Addition blieb vorerst im Dimkel; doch erkannten wir jbeim Vorwartsschreiten, dal5 ein Experimentationsgebiet 'ifiir die Vorgange des individuellen Geisteslebens uns ge- Igeben sei: ein makroskopisches Bild entsteht uns in der

«<5f

Beobachtung des kollektiven Geistes, innerhalb dessei

WIT uns wissend und bewu^t bewegen. Es gelang uns

in diesem Bilde das Phanomen der Seelenwerdung zu er

kennen, und zugleich mufite das Additionselement, da

dieses Phanomen zuwege brachre, sich uns enthiillen. Ii

seiner Betrachtung verharren wir, indem wir dem Ge

setz der Reihen folgend fiir die niederen Phanomene ver

langen, was wir fiir das hochste der beobachtbaren er

kannt haben. Wir formulieren die Grundgesetze eine;

Mechanik des Geistes, indem wir aussprechen:

Gesetze der i. Geist hoherer Ordnung entsteht, wenn Geist mi

Mechanik des ^ . 11.. . . . .

Geistes Geist additiv sich veremigt.

2. Das Moment der additiven Vereinigung ist eii

wirkendes Element, das in seiner hochsten uns bekanntei

Form als Liebe sich darstellt.

Aufbau der Blicken wir nun ruckwarts liber das gesamte Gebie

des Gesetzes ^^^ vorgestellten Welt, so zeigt sich ihre gesamte Archi

tektur unter dem Bilde fortschreitender Addition. In

Vbrorgani- Nebel der Raume verlieren sich Urelemente beliebige; sche Welt

Ordnung. Sei es als Impulse der Schwerkraft, sei es al

Trager des Lichts oder der Ladung treten hochkonsti

tuierte Additionskomplexe zum ersten Mai in den Bild

kreis menschlicher Vorstellungskraft. Abermals folger

Summierungen unbekannter, unabsehbarer Ordnungs

reihen, bis endlich, der Berechnung und Beschreibunf

zuganglich, der sinnlichen Beobachtung noch auf imme:

entriickt, der Weltkorper des Atoms mit seinen Traban

ten erscheint und sich zum komplexen Aufbau moleku

later Organismen fiigt. In mechanischer Haufung, die

keiae organische Addition in unserem Sinne, vielmehj

nur lockere Vervielfaltigung bedeutet, erwachsen au;

diesen Einheiten greifbare Korper, Gestirne, Sonnen

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I

systeme, Milchstral5en, VVelten beliebiger geometrischer Ordnung, wahrend die reine Addition abermals unbe- kannte Reihen durchlauft, bis die organische Zelle in den Brennpunkt sinnlicher Wahrnehmung und wissenschaft- licher Beobachtung vordringt.

In diesem letzten Wege ist die Urzeugung beschlos- Organisierte sen, deshalb darf erwahnt werden, welcher Art sie im Geiste dieser Darlegung zu erfassen ist. Im transzen- denten Sinne besteht kein Problem einer Generatio aequi- voca, denn alles Seiende ist Phanomen des Geistes, so- mit des Lebens. Das Leben kennt Abstufung, aber keinen Gegensatz; Lebendes aus Nichtlebendem wird nicht er- weckt. Im praktischen Sinne lautet die Frage: gelingt es oder gelingt es nicht, Phanomene geringeren Lebens in Phanomene hoheren Lebens, im bekanntesten Fall das, was unorganisierte Substanz genannt wird, in das, was organisierte Substanz genannt wird, liberzufuhren?

Wir beriihrten schon friiher die Tatsache, dafi alle Lebenskrafte unsere Methoden der Substanzbehandlung auf Massen- ^g wirkunghinauslaufen. Gleichviel ob wir heizen oder kiihlen, elektrisieren, bewegen oder mengen, immer lassen wir Gleiches auf Gleiches, Massen auf Massen wirken. Wir behandeln gleichsam Haufen, Volker oder Herden, aber unter dem Gesetz, daI5 wir niemals mit dem Individuum in Verkehr treten diirfen; wir konnen nur im grofien und ganzen auf ihre Summen wirken, und auch dies nur unter Anwendung von Massenmitteln. Es ist, wie erwahnt, die Analogie eines trivialen Bildes : man schiittelt Haken und Osen, und kann nicht mehr erwarten, als daft bestenfalls alle Paare sich verschranken. Ein Feldherr, der ohne personliche Anweisung und Einwirkung auf einzelne sich damit begniigt, WafFen, Ausriistungen und Nahrungs-

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mittel in seine Armee zu schiitten, wird eine allgemeine Verwendung dieser Mittel, aber nicht die gewollte Aus-i bildung erreichen. Verlangt man hochsten Ausbau des^ Elements, stetes Durchlaufen zahlloser Entwicklungs-i reihen, so miissen innere Krafte, personliches Wollen] geweckt werden. Dies ist das Wesen der Lebenskraft: sie ist nicht Massenwirkung, sondern Einzelwille; und so-' lange wir nur anonym, nach dem Gesetze grower Zahlen. Massenwahrscheinlichkeiten aufzurufen fahig sind, wer-l den wir den lebenweckenden Spuren der Natur nichtl folgen. Konnte der Chemiker zum Ziichter werden, so ware die Urzeugung enthiillt. Lebenswille, Fast unter unseren Augen vollzieht sich der additio-i Kampf nelle Aufbau zum lebenden Organismus. In ihm er-l

scheint, unserer Wahrnehmung erkennbar, eine neuei Welt des Geistes; der Bezirk des zustandlichen, ereignis- losen, vorwillentlichen Lebens ist durchschritten, und mit der Zerstorbarkeit und Gefahrdung der hochgebildeten Form tritt der Erhaltungsdrang, der Lebenswille, das Zweckstreben und der Kampf hervor. Durch alle Raume gegossen erfiillt das Heervolk der organisierten Lebens- elemente jede Existenzmoglichkeit; alles substantielle Geistesabbild strebt diesem Wege zu und auf ihm der hochstkonstituierten Form entgegen, weil sie die starkste Verteidigungskraft gewahrt. Alle lebensreifen Gestirne miissen von organisiertem Leben bedeckt sein, und auf alien mul^ der Lebenskampf bestandig von physischen zu intellektualen Formen schreiten. Wille, Zweck und Kampf aber verwehren der organisierten Natur den Zu- sammenklang. Sie wiirden die Schopfung in ein neues Chaos zersprengen; der Intellekt wiirde zum weltver- nichtenden Prinzip emporwachsen, wenn nicht in der

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Schule des Intellekts der Geist zur neuen Synthese reifte, die in der Verschmelzung des Menschen zu Menschheits- ordnangen uns entgegentrat.

Wir werden im Verlauf der Darlegung auf die ein^ig- SeelischeWelt artige Doppelstellung zuriickzugreifen haben, welche im Gang der Erscheinungse volution der menschlichen Seele beschieden ist. Wir haben im Experimentationsbilde Seele entstehen sehen bei der Addition menschlicher Individualitaten als Gemeinschaftsseele, durch die Bin- dung der Liebe. In gleicher Gesetzmafi)igkeit entstand zuvor Intellekt aus der Summierung lebendiger Elemente zu Individualges chop fen. Menschliche Seele aber ent- Entstehung steht nicht nur in der Vereinigung Mensch und Mensch, g^^j^ sondern zugleich und nochmals in der inneren Verschmel- zung menschlicher Krafte zur Einzelseele. Es tritr so- mit innerhalb des menschlichen Geistes ein der Liebes- kraft analoges Streben auf, das mit der fails chlich be- nannten Eigenliebe nichts gemein hat, eine fiir sich stehende, namenlose Konzentrationskraft, die uns aus Tnnere Liebe innerer Erfahrung vollkommen vertraut ist. Wir kennen die innere, tragheitsartige Hemmung, die uns bis zur Verzweif lung hindert, das geistige Auge zu ofFnen ; die uns in den Staub des Alltags niederdriickt, da wir doch gewii5 sind, nur ein diinner Vorhang verschliel^t uns das Licht. Nicht Willensenergie ist es, die den Vorhang hinwegblast, sondern ein inneres Sammeln, das ist Ver- einigen der intuitiven Krafte; weder eine Kraft, noch eine Tragheit, noch einSchmerz mui5 liberwunden werden, sondern Erstarrung. So ist es erklarlich, dafi) der Mensch vermeint, nur eine aull)ere Gnade konne die Lebensbache vom Frost erlosen und die innere Liebe erwecken, die se^lenschaiFend nach dem Bilde der aufieren Liebe wirkt.

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An diesem grofien Wendepunkte lost sich der Kampf. Der Kreis der selbsterhaltenden intellektualen Natur ist geschlossen, und auf welchem Gestirn auch immer hoch- entwickelte Geschopfe der liberintellektualen Synthese sich nahern: immer werden sie an der Grenze des mitt- leren Lebens stehen, und immer wird das Reich, das sich ihnen erschlief5t, das Reich der Seele sein. Diese aber ist die dritte uns begreifliche Form des Geistes. Absteigendes Der Gedankengang, der uns den Weg der Geisies- addition im aufsteigenden Sinne verfolgen hiell), zwingt uns, eine entgegengerichtete Bewegung, gewissermaI5en einen zweiten Wellenzug in absteigender Richtung vor- zustellen. Denn auch in dieser Orientierung mufi die Reihe unendlich sein; und da das unendlichfach geteilte Element nicht erreicht wird, somit aus ihm ein Auf bau nicht erfolgt, so muI5 die Teilung ins Kleinste, ebenso wie die Summierung zum Gr6l5ten, unablassig weiter vorschreiten. Ein Abbild dieser progressivenUnterteilung gibt uns die Denknotwendigkeit der Wissenschaft, die, um ihre Phanomene mechanisch zu erklaren, gleichfalls zu immer subtileren Athermedien ihre Zuflucht nehmen mufi. Ein dunkles Gefiihl mochte ahnen machen, dafi die beiden Wellenziige im Unendlichen sich wiederum vereinigen, doch versagt die Vorstellung dieser nebel- haften Feme und Subtilitat. Kritik der Das unendliche Aufsteigen des Geistes, dessen zwei nachst benachbarte Stufen uns bekannt und begreiflich sind: durch Z week zum Intellekt, dutch Liebe zur Seele, dieses Urphanomen miissen wir als ein Gegebenes, der Kritik Entriicktes hinnehmen. Aber wie friiher erwahnt, die Grunderscheinungen des Geistes haben nicht das widerspruchsvoU Bedriickende fiir Denken und Empfin-

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dung, das alien materiell-mechanischen Gnindgesetzen anhafret und uns zum bestandigen Widerspruch zwingt: warum gerade so? warum nicht anders? warum nicht mehr, nicht weniger Mannigfaltigkeit? warum liberhaupt die Willkiir, die in der Einseitigkeit eines jeden ErschafFenen liegt?

Geist, als Trager jeder Moglichkeit, lost alle Ur- sprungsfragen und Einseitigkeitszweifel hinweg, indem er gleichzeitig das erfassende Denken in sich einordnet und mit seiner eigenen Evolution die Evolution derKritik mitreifit. Jede Welt schafFt ihr adaquates Erfassen, jedes Erfassen schaiFt die ihm adaquate Welt. Gang und Stufen- folge ist das Immanente unseres Erlebens, deshalb ist der Geist, den wir erschauen, ein auf- und absteigender. Hierin liegt keine beunruhigende Willkiir mehr: denn alles wahrhaft Denkbare ist moglich und real, und alles Reale und Mogliche ist denkbar.

Wollen wir aber das auf einer Stufe Erschaute in Gleichnisse Denk- und Gebrauchsformeln fassen, so entsteht Dogma- tik; denn wir konnen nichts anderes als die Alltagsbilder unserer Vorstellungswelt verwenden, um Gesetze, die weit iibergreifend dieses Leben beschatten, in unserem Hohlglas aufzufangen. Soil es dennoch geschehen und die Frage aufgeworfen werden, wie das Emporsteigen von Geist iiber Geist moglich sei, so bieten sich uns die- jenigen Bilder, die etwa bei hydraulischen, optischen und magnetischen Phanomenen uns eine Vorstellung geben, wie urspriinglich vorhandene, aber zur Wirkungslosigkeit zerteilte Krafte sich sammeln, verstarken und hervor- treten, sobald Triibungen, Vermengungen, Unordnungen sich abgeklart und losgesondert und geschlichtet haben. Wir diirfen uns vorstellen, daS Geist in unendlicher Zer-

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spalrung der Klarheit ermangelt, dai5 alles Aufsteigen ein Wiedersammeln des Gleichartigen, ein Gleichrichten des Wirksamen bedeutet, und dafi die versprengten und latent gewordenen Krafte zu ungemessen erhohter Rein- Gesetz der heit und Macht sich lautern. Das Empordringen des ^Geistes entsprache somit nicht einem Gesetze der Er- schaffung, sondern der Enthiillimg. Gleichzeitig ware damit des zweiten Wellenzuges zu gedenken, der immer fortwirkend das Element um Aberelement zermahlt und als Prinzip des Abbaus die Materialien erneuten Aufbaus schafFt. Symbole der Ware es erlaubt und erfordert, diese dogmatische Vorstellung in Bildern kindlicher Glaubensformen aus- zudriicken, so wiirden die alten Gleichnisse jener gran- diosen Weltbewegung zu wahlen sein, deren Auf- und Abstieg im vorzeitlichen Abfall gottlicher Machte, im Siindenfall des geschaffenen Menschen und in der Er- losung durch opfernde Liebe symbolisiert ist. Evolution Im Auge zu behalten bleibt, dafi nichts uns notigt,

der Konstanz ^^ Gesetz analog dem von der Erhaltung der Materie fur den Geist zu postulieren. Mag dies Gesetz fur die molekulare Welt mit beliebiger Annaherung gelten: es verliert immer mehr von seinem Sinn, je weiter man sich von der durch Krafte mefibaren Substanz entfernt und je tiefer man die Reihen hinabsteigt, aus denen plane- tarische Substanz sich entwickelt. Erinnern wir uns, daiS physische Substrate Erscheinungsformen des Geistes sind, womit keineswegs gesagt ist, daI5 Geist ausschlielMich nur in diesen Substraten sich manifestiert, so scheint die Uber- tragung des Gesetzes von der Erscheinung auf den Grund noch weniger geboten, am wenigsten da, wo von auf- und absteigender Entwicklungsform des Geistes die Rede ist.

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Hieraus ergibt sich, dafi der Additionsvorgang nicht im arithmetischen Sinne betrachtet zu werden braucht, demzufolge die Summe nichts enthalten diirfte, was nicht bereits in den Komponenten nachweisbar ware; gleich- viel ob bei der Bildung des Intellekts und der Seele latent gewesene Potenzen befreit werden, oder ob sich neue, frei hinzutretende Emanate bilden: es ist voU- kommen denkbar, dafi die Komponenten in voller oder fast unverminderter Virulenz erhalten bleiben, nachdem sie den gewaltigen Akt der geistigen Zeugung durchlebt haben, und nachdem das Emanat dieser Zeugung in stark- ster Realitat als Drittes erstanden ist.

Nichts hindert somit, die Summe des Geistes in der Wachsen des Welt als wachsend zu denken; ja dieser Vorgang findet im Bilderbuch der planetaren Erscheinung sein Gleich- nis, indem die Summe des Oberflachenlebens unserer Kugel seit ihrem Erkalten zu unermefilichem Reichtum sich gesteigert hat und taglich steigert.

Diese Zwischenbetrachtung des Additionswesens ge- Problem der winnt an Bedeutung, wenn die Frage der Zerstorbarkeit n^chtun^ und Sterblichkeit hoherer Geistesstufen gestellt wird.

Sucht man die Antwort am makroskopischen Experi- Priifiing am mentiertisch, so scheint sie nicht trostlich zu lauten. Ein ^^^^ tivge- Kollektivgeist, Stadt, Stamm oder Staat, hat seine Seelen- frucht getragen. Naturereignisse oder Kriege brechen herein; die Einwohnerschaft wandert aus, geht unter, ver- mischt sich, Stadt und Land veroden, Tempel und Bilder zerfallen, Sprache, Literatur und Religion werden ver- gessen: somit scheint die Seele, die Kollektiverscheinung war, im Hinschwinden ihrer Elemente gestorben und ver- nichteto Hier steigt schon ein Bedenken au£ Ist es nicht Vergangene seltsam, daI5 keine Kultur uns verloren gegangen ist?

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Berge unci Graber offnen iich, das Meer gibt seine Beui wieder, Steine reden und Erze beleben sich, Urkunden zeugen und vergessene Sprachen klingen. Wir wissen von Griechenlands Urges chichte mehr als Herodot und von Roms Anfiingen mehr als Livius und Tacitus. Mag dies Schlummern und Erwachen alter Seelenwerte eine ungesetzlich gliickliche Fiigung sein: so sind andere Seelenkrafte der Vorzeit unverloren und noch heute lebendig. Wir wohnen umgeben von griechischen Bau- gedanken und Schmuckwerken, romische RechtsbegrifFe und Kultformen leben in unseren Tribunalen und Kir- chen, unsere Sprachen sind erfiillt von klassischen Ge- danken und Philosophemen, unsere Kunst ist geschult an alten Proportionen und Darstellungsweisen, unser reli- gioser Besitz ist erwachsen aus morgenlandischen Ver- kiindigungen. Wir waren nicht was wir sind, wir dach- ten nicht unsere Gedanken, wir lebten am Ende in Wal- dern und Einoden, ware nicht die Seele der Vergangen-| heit in uns gefahren und unter uns lebendig. ''

Ein schwer zu erklarendes Gefiihlsmoment darf noch- mals erwahnt werden. £s ist, als ob vergangene Kultur am Boden haftet und eine traumhaft leuchtende Atmo- sphare iiber ihn breitet. Das Land, das die Flamme der Seele getragen hat, verdunkelt nicht. Wir horen von den Urwaldern Brasiliens und den Naturwundern inner- asiatischer und australischer Reiche und ahnen die Hoheit unbenannter Berge und unerblickter Fliisse; aber diese Lander reden nicht, und die Zierate ihrer armseligen Volker sind uns Zeugen einer Sterilitat, die tiefer liegt als im Menschenherzen. Der Kalkstaub, der auf der Strafie nach Eleusis weht, bewegt unsere Seele starker als Mangoduft imd Kolibriflugel.

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Fast mochte man die umgekehrte Frage stellen: ist iiberhaupt Natur und Menschenkraft imstande, den Seelenbesitz eines Volkes aus der Welt zu schaiFen? Wird nicht stets, erobernd oder geknechtet, die reichere Seele im Geiste siegen und beharren?

Noch immer lafit sich erwidern: wenn diese schein- Materialisation qar abgeschiedenen Volkerseelen lebten; nicht meta- phorisch gesprochen, in Wirkung und Gedachtnis, son- dern selbstempfindend, leidend-selig, abgegrenzt und wahrhaft lebten; mufiten wir nicht deutlichere Zeugnisse dieser abgeschlossenen Existenz aufzuweisen haben? Und miifiten wir nicht, solange diese Zeugnisse mangeln, den Gedanken dieser Fortexistenz abweisen?

Keines von beidem. Auf einem Gebiet, das nicht von materieller Erfahrung bestimmt ist, haben wir nichts von der Schwelle zu weisen, was ein reines Gefiihl uns ankiindigt. Freilich haben wir auch nicht das Recht, Ungepriiftes und Unbefragtes aus leichter Neigung in den Hausstand unseres Geistes aufzunehmen. Gerad- wegige Priifung aber bleibt uns versagt; denn wahrhaft Seelenhaftes mul5 sich der Materialisation entziehen, deren der Intellekt zur Wahrnehmung bedarf. Im menschlichen Leben, im animalischen und vegetativen Leben, im geistigen Leben schlechthin, erfal5t die Wahr- Geset^. der Er nehmung nur das bereits Durchlaufene und Erlebtey^^ ^^ '*' Aus dem Gewuhl der Erscheinung ergreift das Kind nur das, was es im einzelnen gekostet und erfiihlt hat; fiir reife Sinnlichkeit, fiir hochste Abstraktion des Intellektes> fur Regungen der Seele in Liebe und Transzendenz ist es so blind, daC) es von alien diesen Funktionen nur die materiellen Schatten und vielleicht nicht einmal sie wahrnehmen kann. Das Analoge gilt verstarkt im ganzen

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Abstieg der Stufenleiter, und diirfte man dem Sauer- stofFatom einen Hauch wahrnehmenden Intellekts bei- legen, so ware zu behaupten, dafi die Vorstellung einer freiwilligen Bewegung ihm vollkommen unfafi)bar bliebe.

Gesetzt jedoch, unsere Sinne waren von so subtiler Kraft, dafi) sie hofFen diirften, den Schleier eines neuen Lebens zu durchdringen, so ware doppelte Verlegenheit geschaffen durch die Frage: in welchen Formen ist dies neue Leben zu suchen? Wenn Liebe es ist, die Seele zeugt: kann dann das Leben dieser Seele in seiner reinsten Form als ein abgegrenztes, individuelles Leben erachtet werden? Ist nicht alle Abgrenzung und Indi- vidualitat der Ausdruck selbstwilliger Scheidung zwischen Mein und Dein, und somit dem Willen der Liebe wider- sprechend? Ist nicht gerade diese Scheidung das Merk- mal unserer intellektualen Welt des Wetteifers und Kampfes? Kann das Reich der Seele ein Reich der Tren- nung sein? Mufh nicht in diesem Reich die Riickkehr zur Individualitat als hartestes Inkarnationsopfer emp- funden werden?

Und wiederum streift uns die friihere Ahnung: waren diese Seelen alter Volker lebendig, wir diirften sie gerade nur in jenen halbausgesprochenen Regungen verspiiren, in denen sie als Teil eines unbekannten Ganzen ihre an- noch irdischen Krafte ausstrahlen lassen. Priifung am Gleichviel; die Antwort des Experimentationsobjekts

in e geis jg^^^-gt- pythisch: manches spricht dafiir, nichts dagegen; ist jenes Leben Wahrheit, so darf es sich nicht mate- rialisieren. Kaum um ein weniges erhellt kehren wii vom KoUektivgeist zum Einzelgeist zuriick. Indem wii aber den gewohnten Weg von neuem beschreiten, tritt eine bisher unbeachtete Tatsache uns bedeutend ent-'

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I regen. Auf alien fniheren Stufen war die Evolution dcs jeistes ausschliefilich ein Ergebnis auGerer Vereinigung: dditiv vereinigte Atome zeigen organischen Lebens- v^illen, im Einzelatom bleibt er latent; additiv vereinigte llellen losen Intellekt aus, der dem Einzelwesen nicht ;ukommt. Das Phanomen der Seele hingegen, das gleich- DoppehteUung alls in additiver Vereinigung, und zwar der hochsten ntellekte zum Kollektivgeist, sich kundgibt, dies Phano- nen entspringt, wie wir bereits en\''ahnten, auch unab- langig von aufierer Vereinigung dem Einzelgeist. 1st in liesem Sinne die Stellung des Menschen innerhalb der ichopfung eine eximierte, eine Grenzstellung an der Frennungsschicht zweier Welten, so verlangt fiir dieses jeschopf die Vernunft das Recht auf selbstandige Exi- tenz innerhalb eines jeden der beiden Gebiete; es ware villkiirlich zu denken, dal5 mit dem Gesetzablai^f im \ linen die Vernichtung im anderen verbunden sein sollte. iine entscheidendere Erwagung tritt hinzu. Das ereig- Die dreiKoordi- lislose Leben, das wir als anorganische Existenz kennen, St eindimensional. Dutch alle Zeiten stromen im Sinne les Strahlphanomens konstituierende Elemente dutch lie Raumeinheit, in der die Erscheinung des unver- ; inderlichen anorganischen Einheitswesens erfolgt. Zwei- iiimensional ist der Aufbau des organischen Lebens: licht mehr das einfach durchstromte Element ist Trager ler Erscheinung, sondern gleichsam senkrecht zur ur- priinglichen Bildung ergiel5t sich der Generationen- trom; in analogem Sinne strahlartig gebildet dutch be- tandig sich erneuernde Substanz, die ihrerseits dem irsten Gesetz gehorcht. Gleichsam ein Regenfall, in velchem jeder Tropfen wiederum aus einem Regenfall loherer Ordnung und anderer Richtung gebildet ist.

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Hier herrscht oberhalb der Kontinuitiit der Substanz di Kontinuitat der erblichen Existenz; und so ist dies subtilere Lebensform in ihrer Erhaltung geschiitzt un verewigt durch den Wechsel und Bestand der Gene rationen. Abermals senkrecht zu dieser Erscheinungj reihe erhebt sich aus der menschlichen Einheit die Eve lution der Seele. Legen wir ihr die elementare Bedei tung bei, die unser Gedankengang verlangt, so kdnne* wir nicht anders, als ihr eine neue Dimension der Ex: stenz zuzusprechen, die als Ersatz generationsweisel Erneuerung ihr die Kontinuitat des Daseins in drittei neuer und unerforschter Richtung gewahrleistet.* :' Irdischemduber' So stehen wir denn im wahrsten Sinne an der Grenz tuns ' einer Welt, in die unsere Seele hineinragt. Ihr ist di

irdisch-materielleUnsterblichkeit nicht verliehen, die alle Organische zu einem einzigen, ewig wachsenden, ewig sic wandelnden, generationsweise sich erneuernden Kollet tivgeschopf zusammenfal5t. Diese irdische Unsterblicl keit der Kreatur ist nicht bildlich, sondern in vollkomme realem Sinne zu verstehen, denn wir miissen bei ph) sicher Betrachtung der Erscheinung annehmen, dafi) all interplanetare Substanz den potentiellen Kern organische Entwicklung enthalt, ja dafi in weit vorgeschrittenen doch immer noch tief unter der Zellengrenze schlun merndem Keimstand ein organischer Austausch der Ge stirne sich vollzieht, so dall) das totale Einheitsgeschopf de organischen Lebens unabhangig selbst von planetarische Katastrophen ein wahrhaft universales Dasein fiihrt. A

♦) Dafi der Begrift' der Dimension hier nicht im raumliche Sinne verstanden ist, mit dessen mystischer Aii»deutung manchc Unfiig verbunden wurde, dafi er vielmehr die Koordinatenord nung einer Erscheinungsform bedeutet, bedarf keiner Ervvahnun^^

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solcher Ubiquitat und Perennitat ist die Seele nicht be- teiligt, denn sie bewegt sich in einer Richtung, die sich vom Organon der Erscheinung abkehrt; ihr wahrhaftes, endgiiltiges und endloses Leben kann sich mit dieser Erscheinung nicht zum zweitenmal beriihren; ihre Welt schafFt sie sich selbst, wie der Intellekt sich die seine schafFt, und innerhalb dieser Welt hat sie ebensowenig Anlafi sterblich zu sein, wie das intellektuelle Organon innerhalb der seinen.

Denn nunmehr ist es uns erlaubt, die Frage umzu-Ist Sterblich- ikehren, und zu forschen: wo gibt es iiberhaupt inner- **

halb der physischen und organischen Welt eine Sterb- ilichkeit? Die Wissenschaft verlangt die Unsterblichkeit ides anorganischen Elements. DasorganischeTotalgeschopf itmet und pulsiert unaufhorlich auf alien Gestirnen. Der Tod erscheint uns nur dann, wenn wir das Auge Kritik der irrtiimlich auf das died, nicht auf das Geschopf richten. Die Alten haben das Absinken des Menschenlebens mit ;dem Fall des Laubes verglichen; das Blatt stirbt, aber jler Baum lebt. Fallt der Baum, so lebt der Wald, und ! Jtirbt der Wald, so griint das Erdenkleid, das alle seine ;5chutzlinge nahrt, warmt und verzehrt. Erstarrt der I Planet, so bliihen tausend Bruderzweige unter dem i^trahl neuer Sonnen. Nichts organisches stirbt, alles fjrneut sich, und der Gott, der aus der Feme betrachtet, j indet in Jahrtausenden das gleiche Bild und das gleiche I Leben.

In der gesamten sichtbaren Welt kennen wir nichts iterbliches. Etwas, das sterblich ist, konnte nicht ge- 3oren werden. Freilich, alles was einem Ziel zustrebt, A^as sich reibt und kampft, das nutzt sich ab, und somit St eine materiell-organische Welt nur auf der Grund-

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lage ewigen Substanzwechsels denkbar, vom Mechanis mus des Leibes bis zum Mechanismus des Atoms. Abe dieser Wechsel sieht dem Sterben nicht ahnlicher al das Wachstum der Einzelpflanze , das ohne Substanz wechsel unmoglich ware. Der BegrifF des Sterbens ent steht durch falsche Betrachtung, indem das Auge an' Teil statt am Ganzen haftet. Tod und See- Kann diese Auffassung den Menschen trosten, der ii grauenhafter Angst auf das hinstarrt, was er sein Endc nennt? Sie kann es, und sie kann es nicht, je nachden der Mensch die Kraft hat, rein zu fiihlen und sein Ge fiihl zu deuten, das heii5t, wahrhaft zu denken.

Vom Sonderfall des leiblichen Schmerzes, der dei Ubergang begleiten kann, sei hier nicht die Rede; wi; werden vom Schmerzproblem gemeinhin anderweit zi handeln haben; hier priifen wir die Wandlung selbst Freilich: diese Zunge wird nicht mehr schmecken unc diese Hand nicht mehr tasten; dafiir werden millionen fach sich frischere Glieder und Sinne regen, denn da: Erdenleben ist um meinen Tod verjiingt. Geniigt mi] das nicht; war animalische Lust nur deshalb mein Gliick well sie meine, meine eigenste, meine abgesonderte ausschliefiliche Lust war, so hat das Sterben fur micl ebensoviel Realitat wie das Leben; sie mag ausreichenc sein, mich zu schrecken, wie das Schattenleben aus- reichte, mich zu begliicken, aber es bleibt eine gering fiigige Realitat. Ich bin in der Lage eines Kindes, dai verzweifelt, weil es auf ein Vergniigen verzichten mu6; auch ist ein wenig Betrug im Spiel, denn ich habe alle jene Geniisse mit Gelassenheit hingenommen, derer Ende ich so turbulent beklage.

Dies ist der ausgesonderte und kaum denkbare FaU

l8o

ies Menschen, dem kein Hauch von Seele zuteil ge- ivorden ist; er gehort zur organischen Gesamtschopfiing, j2r ist in Wahrheit ein Teil und nicht ein Ganzes, er raufi das Schicksal des Teiles hinnehmen, der keinen iioheren Anspruch auf Ewigkeit hat als ein'Haar oder ein Blatt; er hat seinen Anteil Gliick genossen und reicht nun die Schale weiter. Ware er wahrhaften Trostes bediirftig, so ware ihm alsbald die Seele und der Trost der Seele beschieden. Die Versohnung seines Ge- schickes aber ist darin zu suchen, dal5 seine Gliicksform aicht erloschen ist, dal5 Kinder und Geschwisterkinder sein Leben weitertragen. Leidet er, so ist es kindliche Tauschung und getraumtes Leid, wie es ihm in jeder Nacht widerfahren konnte.

Ist aber dem Menschen das Sonnenlicht mehr ge- Tod und Seele vvesen als eine schone Warme und wohlfeile Beleuch- tung, war sein Zusammenhang mit Schopfung und Menschheit dutch Liebe und Geist gebunden, so kann seine Seele ein Ende der Liebe nicht glauben noch fiirch- ten. Es miifite denn die Seele vor sich selbst erschrecken, vveil sie ahnt, daH) ihre Liebe zu groii5 sein wird, als dal5 sie fur sich selbst noch ein eigenes Gliick begehren kann. Es konnte sein, daC> sie die gleiche Angst und Tragheit empfindet, die uns taglich betort, so viel von unserem Leben an die Welt, so wenig an die Uberwelt zu wenden. Aber diese Tauschung bedarf weniger des Trostes als des Gedankens; und der libersinnliche Gedanke wird um so gewisser, als die Sorgenreste der Zeit vor gvofhen Augen- blicken dahinsinken. So wie alle freien Menschen im Leben, jeder in seiner Sprache, das Gleiche gesagt und bekraftigt haben, so ist auch ihr zeitliches Sterben nicht Trostes bediirftig gewesen, sondern Trost spendend.

i8i

Nichts wesenhaftes in der Welt ist sterblich. Wollen wir dennoch die Macht, die in der Erscheinungsform des Daseins die Welten abgrenzt, auch fernerhin mitj dem Bilde des Todes bezeichnen, so erscheint der herr-l liche Genius als Wachter des Lebens, als Herr der Ver- klarung und Zeuge der Wahrheit. Oberwelt- Durch die Betrachtung der Seele als eines uberwelt-j

lichen Geistes wird ihre gewaltige Paradoxie im Sinne" des Naturtreibens begreiflich. Nun leuchtet ein, warura sie auf alien Zweck, auf alles Streben, ja auf alle Ent^ wicklung der organischen Natur verzichten darf, warum' sie, im Gegensatz zu allem Lebendigen, zu jenen auC^er-! sten Entschliissen gelangen kann, die das animalische Leben gefahrden. Das Opfer der personlichen Existenz, unserem inneren Gefuhl der Gipfel heroischer Freiheit,] bleibt jeder Betrachtung, sofern sie nicht hoher aufsteigtj als bis zur organischen Lebensform, eine unauflosbarej Torheit oder ein Akt der Verzweiflung: denn ein erd- geschaiFenes Wesen miil^te wahnsinnig oder desperat sein, wenn es seinen Willen vernichtete, um ihn zu er- fiillen. Begreiflich wird auch jene erdenfliehende Sehn- sucht, jene selige Trauer, jenes Heimweh des Gliicks, jene Ewigkeitsahnung und mystische Verwandtschaft mit ElementenundGestirnen, dasEmporstromen zum Sonnen- tode und der erloste Aufblick des inneren Auges. Nie- mals wird intellektualer Geist den Himmelszug der; menschlichen Natur erklaren; fiir die Einsicht der trans- 1 zendenten Seele ist er ein Kleines, fiir ihre Evidenz ist er der letzte und entscheidende Beweis. Oberwelt- Unsere Denkkraft und sinnliche Erfahrung verlangt,

licne Reihen ^^^^ ^^j, ^^^ universale Reihengesetz auch auf die Evo- lution der Seele anwenden. Somit stehen wir beim Ein-

i8i

ritt in die Seelensphare nicht vor einer endgiiltig abso-

uten Welt, sondern vor einer unendlichen und unab-

;eschlossenenWeltenreihe, derenlnbegrifF, einschlieMcii

ler durchlaufenen Welten, denn freilich als endgiiltig

md absolut angesehen werden mufi. Auch hier gilt der

Jatz, daI5 der Vorblick unmoglich, der Riickblick be-

ichrankt und proportional der Entwicklung vertieft ist.

])ie Unmoglichkeit des Vorblickes wird augenscheinlich,

Venn wir des subjektiven Ursprungs der Erscheinung

redenken und uns gegenwartig halten, dafi unsere Welt

lichts anderes als die Projektion aller bisher durch-

;chrittenenGeisteskrafte, einschliefilichder intellektualen,

)edeutet. Auf jeder neuen Stufe muI5 das Werk der

^eltschopfung mit neuen Kraften von neuem vollbracht

verden. Deshalb ist jeder Versuch, in das Geheimnis

cu dringen, verloren, sofern wir mehr als eine beschrankte

iahl durchweg negativer Vorstellungen heimzutragen

jedenken.

Indessen ist es seltsam, dalS gerade die Armut solcher NegativitUt rr . ., .. 1 T transzenden-

verneinungen unser Ahnungsvermogen erweckt: die Im-^^j. vbrstel-

[naterialitat Gottes sagt uns mehr als die Seligkeit eines i^^g

Paradieses; und wenn wir gemeinhin das Riistzeug trans-

zendenter Vorstellungen betrachten, so finden wir, dafi

2S lediglich negative Inhalte enthalt, die in positive Na-

men gekleidet sind.

Die Negationen aus dem Bereich der Seelensphare Dreifache

besagen dreierlei: vom BegrifF der Individualitat miissen ub^sinn-

wir abstrahieren, sofern er die Abgrenzung des Mein bchen Vbr-

stellung und Dein in sich tragt, denn in einem Reighe, an dessen

Eingang die Liebe steht, verschmelzen Krafte und Quali-

taten. In diesem Stande werden, zum zweiten, Stre-

bungen und Begierden, die Motoren des intellektualen

183

Kampf lebens , gegenstandslos und widersinnig. Endlid kann das Bewaltigungsmittel der komplexen Erscheinung. das intellektuale Denken seine Herrschaft nicht behaup- ten, die schon beim Herannahen seelenhafter Instanzer. im Gninde erschiittert wird; fast mochte man wagen aus der Erfahrung intuitiver Anschauung eine positive Vorstellung adaquater Einsicht herzuleiten. Richtkraftder Wollte man somit das Reich der Seele mit Namen ega one ^^^ BegrifFen unseres Vorstellungskreises kennzeichnen, so wiirde es als das Reich der Enraufierung, des Friedens und der gortlichen Einsicht zu benennen sein.

Kritik der Die Aufgabe, die uns gestellt wurde, ist erfullt. Von

evolutionaren i t- i j t- i i -u

Bctrachtung ^^^ Evolution des mneren Erlebens gmgen wir aus; ini

Zentralphanomen, die Geburt der Seele, soUte imSpiegel-

bild der Erscheinung nachgewiesen und angedeutet wer-

Rniproxitat der den. Die Elementc der inneren Erfahrung spiegelten

sich m ihren Reziprozitaten; diese rugten sich zusammen

2u den Anfangen einer Mechanik des Geistes. Die Er-

lebnisreihe kehrte sich um in eine Entwicklungsreihe ;

die subjekrive Bedingtheit fand ihr Abbild in AuC)en-

welt, erblicher Geburt und zeitlichem Tod. Als strenge

Konsequenz eines Gesetzes fortschreitender Enthiillung

trat im Erscheinungslauf von neuem die Verklarung des

Geistes zur Seele hervor, diesmal als Abschlufi der er-

kannten, als Aufschlufi der nachsthoheren Weir. Der

Gang der objektiven Evolution erschien nicht, wie bisher

bei aller friiheren Anschauung, als ein geradliniges

Fortschreiten bei gleichbleibendem Koordinatensystem,

sondern als ^in Entwicklungsgang des Koordinaten-

systems selbst, das standig neue Dimensionen gewinnt.

Indem der Reichtum der Weltheiten eine neue Un-

endlichkeit gewann, erhob sich die Seele iiber die,

184

Welt des intellektual erxeugren materiell-organischen Kreises.

Wiederum stehen wir, da wir Bild und Spiegelung Kritik der er- durchlaufen haben, an dem Beriihrungspunkte beider, unserer eigenen Seele ins Antlitz blickend. Was Ahnung war, ist Gewif5heit: an unserer Seele haben wir die Welt zu messen. Sie scheidet alles Bestehende in eine Gott- Gottseite md seite und eine Weltseite der Schopfung, ihr Spruch ent- ScLpfuL scheidet iiber Aufstieg und Abstieg. Indem wir aber die Seele in ihrem objektiven Bestande als ein Notwendiges und Gesetzmafiiges erkannten, bleibt ihr Spruch nicht willkurlich deutbares Gefiihlsorakel; er gestattet, wo er dunkel scheint, dieAusdeutung durch intellektualeKrafte auf Grund der Gesetze, welche die Seele vom Seelen- losen sondern.

Solange das Wesen der Seele nicht erkannt und be- DXmonhn grifFen war, solange ihr Name sich jegliche Deutung auf geistige Krafte gefallen liefi, verschwebte eine jede auf das Seelische gestellte Betrachtung ins Wesenlose. Nun aber wird die Seele zur absoluten Gewalt, als ein zwar nicht Unbedingtes, doch zum Unbedingten Hinweisen- des; in Wahrheit als eine Stimme der Gottheit. Das Damonion spricht sich aus, nicht mehr als dunkle Regung, sondern als evidentes Gesetz.

Religionen, deren Verkiindigungswunder erschuttert, Religion deren Entstehungen, Notwendigkeit en und Nil tzlichkeiten historisch und gesetzmalbig erkannt sind, behalten den Adel des Menschheitswerks, sie ergreifen und beglucken, aber sie reilien nicht fort, weil sie relativ geworden sind. Der InbegrifF aller menschlichen Religiositat, das trans- zendente Bediirfnis schlechthin, beweist nur das Vor- handensein ewiger Richtkrafte, lehrt aber nicht sie er-

185

kennen, denn es bleibt theoretisch. Die Erkenntnis der Seele, ihrer zentrischen Macht und ihrer transzendenten Fortwirkung erfiillt den Befehl des boq )Lioi ttoO Otuj, indem sie den Schwerpunkt des Denkens, Fiihlens und Wollens um ein Geringes aus dem Zentrum der Nieder- menschlichen in die Sphare des menschlich Reinen, in der Richtung des Gottlichen vorriickt. Partial I osungen Von diesem Punkte aus betrachtet, erscheinen alle wahrhaft religiosen Anschauungen als Partiallosungen, als parabolische Bildlichkeiten des Unaussprechlichen, dem der Seelenaufstieg uns in vollem Bewufitsein ent- gegentragt. Uralter Animismus ist der Korperschatten, der die transzendente Lichtseite des Seelenreiches nur im Gegensatze ahnen laI5t. Gesetzesreligionen sind vor- bereitende Versuche, Leib und Leben zu heiligen, damit das reine Saatkorn geweihten Boden finde. Bis an die Grenze des Seelengebietes gelangen die beiden groJ&en und vollig undogmatischen Transzendentaldisziplinen des ostlichen und westlichen Ariertums: die indische Lehre vernichtet das Begehren, indem sie die Erschelnung auf- hebt; die germanische Lebenspraxis vernichtet dieFurcht, indem sie den Mannesmut erfindet und ihn ins Zentrum aller Bewertung stellt. In passiver Form der indische Kreis, in aktiver der germanische, erledigen beide das animalische Leben im ahnenden Drange zur psychischen Existenz; allein die passive Orientierung gelangt iiber die Negation nicht hinaus, und der aktive Uberschufi, der Spekulation abhold, begniigt sich mit der Veredlung KritikderOfen-des Lebens. Ins Innerste des Seelengebietes dringt die ^**^^ Lehre von der Entsagung, der Liebe, der Erlosung und

dem Gottesreiche, aber diese Lehre lalLt ihr letztes Ziel so unbestimmt, dail> tausend Jahre lang vorwiegend ein

i86

I

irdischer Idealstaat und vveitere tausend Jahre ein musi- kalisch ritueller Himmelshof halt als letzte GlaubenshofF- nung einherleuchtete. Selbst die vollkommen reine Ethik der christlichen Lehre ruhte auf promissorischer Grund- lage; ihre gewaltigen Forderungen haben im zeitlichen und anschauenden Leben deshalb so unbegreiflich wenig die menschliche Natur zu wandeln vermocht, weil eine Ethik, die versprecheil mufi, um sich zu beweisen, den Glauben lahmt, indem sie ihn zielstrebig macht.

Sie, die wir als Kern religioser Ahnung und trans- Absolut wmus da zendenter Kraft erkennen, die Seele will nichts und ver- ' spricht nichts, und bleibt dennoch tatig. Sie sagt nicht: „du mulLt, auf dafi", sie sagt nicht: „du sollst, weil", sondern sie sagt: „du wirst, denn du kannst nicht anders". Du magst wollen oder widerstreben, du magst den Weg der Hohen oder den Weg der Tiefen schreiten: was in der Seele ist, das findet Erlosung, so wie aller Geist die Wandlung zur Seele erlebt. Zwischen dem, was wir hoch und was wir tief bewerten, zwischen dem, was wir lieben und hassen, preisen und verachten, ist der Unter- schied sehr gering, und dieser Unterschied besagt nur eines: ob das Werden der Seele gehemmt oder gefordert wird. Im Angesicht des Seelenreiches ist das Gute, das Schone und das Verstandige nur ein Schatten, ist Siinde, Irrtum und Diisternis nur eine triibe Erinnerung an durchmessene Welten. Dennoch verlangt das Uber- wundene nach Priifung, weil wir in dies irdische Leben gestellt sind, und weil der Geist uns treibt, es zu ver- stehen; weil wir in dies irdische Leben gestellt sind und weil der Seelenwille uns treibt, es recht zu leben; weil wir in dies irdische Leben gestellt sind, und weil unsere Seele in diesem rechten Leben geboren ist, besteht und wachst.

.87

Oberleitung Hiermit ist die dritte Aufgabe gestellt: der Evolution

ti^chen Auf- ^^^ praktischen Geistes zu folgen und das Mal5 der Seele gabe an die Schatzungen der Ethik, Astlierik und Pragmatik

zu halten. In der ersten Betrachtung werden wir finden, was das Wachstum der Seele hemmt und fordert, in der zweiten, welchen Abglanz sie in die Erscheinung leuch- tet; in der dritten, in welche Richtung sie das irdische Gemeinschaftsleben treibt. Hiernach haben wir in der Evolution des praktischpji Gei*te« von der Ethik, der Asthetik und der Pragmatik der Seele zu handeln.

188

Urittes Buch

DIE EVOLUTION DES PRAKTISCHEN GEISTES

I.

DIE ETHIK DER SEELE

Wir leben nicht um unseretwillen, sondern um der Gottheit willen. Doch tragt ein jeder die Verantwortung fiir die Welt und fiir die Gottheit. Denn jede unserer Regungen erzeugt und vernichtetWelten; die Symphonie des Alls schwebt auf den Stimmen unserer Geister.

Nichtig ist deshalb jede Sittenlehre, welche lockt und Ethos und droht. Fiirchten und HoiFen ist Sache der intellektualen Welt und unseres intellektualen Anteils; dieser aber wird nicht regiert vom Ethos, sondern vom Gesetz. Unser seelischer Anteil aber, der nicht fiirchtet und nicht hofFt, sondern anschaut, bedarf des Gesetzes nicht; er bediirfte, ware er voll bewufit und erstarkt, auch nicht der Ethik, denn er tragt seine Richtkraft in sich selbst.

Der Ethik bediirfen wir Wesen des Uberganges, um Ethik als Er-

1 . ^T ^^' T^.. kenntnis

zu erkennen, was m uns Verdusterung, was Uammerung

ist; deshalb ist unsere Ethik nicht Vorschrift, sondern

Erkenntnis und Wertung. In den Augenblicken der Er-

hebung schwindet der Zweifel; wir sehen das Licht und

wir sehen den Weg; in Worte fassen wir die ethische

Erkenntnis deshalb, weil wir ihrer am meisten bediirfen,

wenn d?e innere Einsicht schwindet. Hier, wie in jedem

191

anderen schopferischen Kampfe gilt es, Getraurtites xu

denken und Gefuhltes zu formen.

Ethikals Ver- Das ethische Prinzip ist nicht Gesetz, nicht Rat und ktindigung . t xr i ./-

nicht Vorschrift. Die Instanz, an die es sich wendet,

kann nicht bestehen, ohne ihm zu folgen; die Seele ist

nicht, wenn sie ihm nicht gehorcht. ,Bluhe* und ,Leuchte*

ist kein Sittengebot an Baum und Sonne; sie sind, weil

sie bliihen und leuchten, und sie bliihen und leuchten,

weil sie sind. Das ethische Prinzip, auf unserer Welt-

stufe das einzige und universale, lautet: Erweckung und

Aufstieg der Seele. Nicht der Seele rufen wir dieses

Wort zu, denn wenn sie es vernimmt, so ist sie erwacht,

und ihr Aufstieg hat begonnen. Reden wir davonzum

intellektualen Geist, so bedeutet es eine Verkiindung,

nicht einen Befehl; denn dieser kiihl denkende und

dennoch leidenschaftlich getriibte Geist kennt seine

Wonnen und Gefahren, und wird von ihnen nicht lassen,

bevor er zur Auflosung miide und zur Erlosung reif

ist. Wo jedoch Seele und Intellekt schon im Kampfe

liegen, wo die sehnsiichtige Seele um Bewul5tsein ringt,

wo der ungesprochene Schmerzenswunsch unerloster

Zeitlichkeit in unseren Herzen tont, da kann ethische

Erkenntnis die letzten Schleier der Befangenheit

losen. Erkennt aber die keimende Seele das Licht,

so hat sie schon ihm sich zugewandt; neue Wolken-

schatten werden immer wieder ihren Blick verdiistern,

doch in der tie fs ten Dammerung kann sie die Sonnen-

richtung nie mehr verlieren.

Imperative So ist das absolute Sittengesetz fur den unerlosten

Intellekt eine Verkiindigung und Erkenntnis, fiir die

erloste Seele ein identisches Lebensprinzip; scheinbar

imperative, in Wirklichkeit nur richtungweisende Form

192

kann es annehmen fiir den Zwischenstand des bald ent- schiedenen Seelenkampfes. In dieser Form lautet es: ,achte auf deine Seele*.

Da die Denkarbeit Ubersetzung des Erschauten in sprachliche Formeln intellektualer Dialekrik bedeutet, so haben wir uns in erster Reihe mit der erkennenden und wertenden Verfassung des ethischen Prinzips zu beschaftigen; eine diatetische Ausdeutung des Imperativs soil sich anschliel5en und ein eudamonistischer Ausblick

I erganzend zur Pragmatik liberleiten.

Liebe haben wir als die Kraft erkannt, die durch Richtkraft Verschmelzung der Geisteselemente Seele befreit; im

I aufi)eren Verbande der Individuen als Kollektivseele, im

iinneren Verbande des Einzelwesens als Einzelseele. Liebe steht daher auf dem Gipfelpunkte aller irdischen Werte, sie ist zugleich das hochste Gut, die hochste

•Tugend und die hochste Kraft. Gleichviel ob sie nach aufien zum Zusammenklang der Wesen drangt, ob sie nach innen die Teilgeister des Einzellebens zur Ver- schmelzung gliiht, sie bleibt, wie innere Erfahrung lehrt, die gleiche Macht, unreduzierbar, nur durch sich selbst begreiflich, ausschliefilich, und in sich selbst begriindet. In eben dem Augenblick, wo Liebe uns ergreift, zum Menschen, zur Gottheit oder zur Kreatur, lost sich jede Spannung des eigenen WoUens, wir sind nicht wir selbst, und sind doch zum ersten Male wahrhaft wir selbst, wiv leuchten, und mit uns die Welt, in einem neuen Lichte, dagegen ist alles Denken und Begehren ein ver- gessener Schatten. Ein neues Bewul5tsein und ein neues Begreifen oifnet die Augen; ist es ein Mensch, so leben wir in ihm, ist es die Natur, so losen wir uns hin und werden in ihr geboren.

13 193

Liebe in der Die intellektuale Welt ist der Liebe feindlich. Ihre

der intellek-g^^^^^^g^> materiell sich steigernde Mission der mecha-

tualen Welt nisch-geistigen Entwicklung vermag sie nur durch Ent-

fesselung aller irdischen Krafte zu erfiilleiij sie entfesselt

sie durch Kampf und Wettstreit. Sie umfangt ihre

Kreatur mit der Tauschung des individuellen Wesens

und Gliicks, mit der Tauschung, dafi mein nicht dein

sein kann, und peitscht das begehrende und fiirchtende

Geschopf in die Feindschaft, den Hal5 und die Vernich-

tung des Nachsten. Diese abgesonderte Stellung der

/;»<//v/V«/»/i//7V Verteidigung und des Angriifs hat man Individualitiit

^menschentum g^^^^^^^j ^^^ Meister dieser bosen Kunst hat man als

Ubermenschen gepriesen. Nur in den letzten, unlosbar

scheinenden Paradoxien ihres Arbeitsplanes , da wo die

intellektuale Natur das Unerhorte verlangt, dafi

selbstberauschte Kreatur freiwillig die Fackel des Lebens

weiterreiche, um ewigem Verzicht entgegenzuschreiten:

Liebe als Lockung2in diesen Wendepunkten Vi^t sie die Gewalt der Liebe zu, um das Opfer zu erzwingen; sie schafft als hochste irdische Belohnung, mit allem Feuer der Sinne umkranzt, die Liebe der Geschlechter, sie schafFt, mit stillem Gliick und Leiden verwoben, die Liebe der Mutter.

Liebe und Kampf Diesseits und jenseits dieser Pole aber herrscht die Individualitat, das ist der Kampf. Und so geschieht das Ungeheure, dafi das Ubel an sich, die echteste Siinde, das satanische Prinzip der Unliebe und des Bosen die Erde diingen muU), damit die Liebe wachse. So hoch erhebt sich das Gesetz der Relativitat; und es wirdi evident, daI5 es nicht einmal freisteht, den HaI5 zu hassen. Hafi Dieser, der Hal5, das Prinzip der Spaltung, des see- lischen Todes, schreitet durch die Welt als Gliick

194

Leid der Holle. Keine stiirkere Probe gibt es, um die grauenhafte Lust der Seelenlosigkeit zu verspiiren und im aufiersten Kontrast die entgegengesetzten Krafte der Seele fuhlbar zu machen als die Vorstellung gesattigten Hasses, erfullter R.ache, wolliistiger Verachtung und feig befriedigter Schadenfreude. Von der grenzenlosen Verwirrung unseres Sittenempfindens zeugt es, dal5 im Ernst und Scherz von denkfahigen Menschen das Wort Tesprochen werden kann, es sei eine Kraft und Tugend, riit ZU hassen, und die Schadenfreude sei die reinste Freude.

Das unabsehbare Gebiet sittlicher Schattierung, d^is Sfibstsucbr '.wischen den Extremen der Liebe und des Hasses ge- )ettet liegt, ist der Kampfplatz des mehr oder minder ndividuellen, das heil5t eigensiichtigen Wollens. Dutch lie Polaritat der Liebe und des Hasses, welche in un- erem Sinne nicht akzidentelle Handlungstendenzen und /Villenselemente, sondern Lebensstimmungen sind, er- lalt der BegriiF der Selbstsucht seinen ethischen Sinn. Jekanntlich gelingt es leicht, dutch eine ttiviale Gtenz- )eruhfung festzustellen, dall> alle Handlung aus Gliicks- Paradoxic vo^n

11 . . . , , , , Egoismus

\^ilJen entsprmgt, somit egoistisch genannt wetden kann,

ich dahet absoluter Wertung entzieht und nur noch

itilitarisch-aufierlich klassifiziert werden kann. Dieser

frugschlufi wird erledigt, wenn wir etkennen, dafi nicht

iie Handlung und nicht der Zweck Gegenstand der

ittlichen Wertung ist. Es gibt kein ethisches Handeln, -

ondern einen ethischen Zustand; derZustand der Liebe Ethischer Zu-

^nd der Seelenhaftigkeit, innerhalb dessen ein unsitt-

iches Tun und Sein nicht mehr moglich ist. Die kirch-

:che Lehre ahnte diese Wahrheit, indem sie den Stand

er Gnade als Ergebnis eines rein passiven Erfahrens

13* 195

dogmatisierte. Mag deshalb ein Leben der Liebe m sprunglich der Gliickssuche entsprungen sein wie j alles seelische Leben intellektualem Leben entstammt so ist doch der fruhere BegriiFder Selbstsucht nicht meh anwendbar. Selbstsucht in unserem Sinne bedeutet indi; viduales Streben nach Sondergliick, den Zustand dej Liebeleerheit; und eine erqualte Handlung, die nur der theoretischen Willen der Entauil)erung entspringt, bleit ethisch farblos, weil sie nicht aus dem Stande der Lieb geboren ist. Das gramliche Verdienst der Tugend wide Willen findet in der absoluten Ethik keinen Platz, den ! sie ist unbestechlich; sie schatzt die Heiligung, nicli das Opfer; sie verkauft nicht, sondern sie schenki Wie die Gottheit, so liegt die Sittlichkeit nicht ir Aufiern, sondern im Innern des menschlichen Bereichei sie geht im Menschen vor, aber sie geht nicht aus ihr heraus. Sittlich sein hei(5t, in sich selber wirken. IndilFerenz- Das Zwischengebiet des Wollens und Handelns ij HandelD? bestimmt dutch Ziele. Je mehr im Menschen die mui hafte, freudige, impulsive Tendenz iiberwiegt, die at nachsten der Liebe benachbart ist, desto unmittelbare geht sein Wollen und Tun auf die Sache; die Sache, di er liebt und naturkraftig riickhaltlos betreibt, wie Atmei Nahren und Schlafen. Dieser Mensch steht dem E] wachen der Seele am nachsten und, gleichviel auf we cher geistigen Stufe, der Qual des Intellekts am ferr sten; er neigt zur Liebe, zur Entaufierung, zur Idee, zi Intuition und vor allem zur furchtlosen Wahrheit. Sei Beruf ist Selbstzweck, er schafFt um der Sache wil] ohne aufiere Lockung. Sein Charakter ist Treue, Gr mut, Unabhangigkeit, sein Benehmen Sicherheit, heid Ruhe und Festigkeit.

196

ijberwiegt im Menschen die farchthafte, sorgen- Furcht, Be- reiche, hemmimgsvoUe Tendenz, so wird sein Geist tief fj^ p^'^g ^^j. in intellektuales Denken hineingezogen, er geht nicht^^^^s auf die Sache, sondern hinter die Sache, sein Ziel wird zum Zweck, Dinge und Menschen werden zum Mittel. Er handelt nicht aus Freude, sondern aus Sorge und Be- gierde, er will nicht, sondern er strebt. Sein Sinn wendet sich vom Unbegehrbaren zum Realisablen; das Besitz- bare, Beherrschbare und die Mittel zum Besitzen und Herrschen erfiillen ihn. Sich hinzugeben und zu verlieren erscheint ihm zwecklos; das Ideal ist ihm Torheit, die Liebe, soweit sie nicht besitzen will, Unding. Die Wahr- heit bedeutet ihm eine von vielen Eventualitaten, und zwar zumeist die gefahrlich-torichte; einen sittlichen Wert gonnt er ihr bestenfalls aus Griinden der Verkehrs- sicherheit. Die Furcht, ausgeschlossen, mifiachtet, mif5- handelt zu werden, qualt ihn, daher ist er anerkennungs- bediirftig, leicht verletzlich, eitel und herrschsiichtig. Als Herr erfreut er sich nicht an verantwortungsvoller Fiirsorge und Leistung, sondern an Huldigung und Schaustellung; zwischen Unterwiirfigkeit und SchrofFheit findet er kein Mittel. Um zu glanzen wird er geschwatzig and aufdringlich; ein sachliches und herzliches Verhaltnis zu Menschen liegt ihm fern, denn sie sind ihm Mittel und Ziel oder Masse. Die Sorge und Unsicherheit zwingt ihn zur Selbstanalyse, die Furcht vor fremder Uberlegen- heit zur Kritik, Verkleinerung und Schmahung. Begreif- liche Tugenden sind ihm Mitleid und Barmherzigkeit, die er halb aus Furcht vor eigenem Ungluck, halb aus Genugtuung am fremden iibt.

Die Stellung der empirisch erkannten Polaritat von Mut und Furcht im System der absoluten Ethik ist leicht

197

zu ermitteln. Der seelisch primitive, im Begehren unc i Fiirchten irdischer Dinge befangene Mensch ist aus deii intellektual gerichteten, entwicklungs- und zweckbediirfj tigen Natur noch nicht losgelost; sein Leben ist, von deij Hypertrophic der Intelligenz abgesehen, ein animalesi Die Summe seiner Existenz ist die gleiche wie bei minder-'i organisierten Wesen: Sicherheit, Genufi), Beute und Vor- rat; freilich kann der letzte, dem hdheren intellektualen? Stande entsprechend, die Form gewaltigen materielleni und geistigen Besitzes annehmen. i

MutundFrei- Vorgeschrittener in der Richtung zum Seelenhaften der Seele ^^^ ^^^ Mensch des inneren, muterfiillten Gleichgewidits. Sorge und Gier beherrschen ihn in minderem Mafie, dei;; qualende Stachel ist gesanftigt, der Geist hat Ruhe und Sammlung gewonnen und atmet frei, heiterblickend und sicher der Geburt des Uberirdischen entgegen. Es ist Entstehung des nicht hier die naturgeschichtliche Aufgabe gestellt, die biologischeEntstehungmuthaftenBlutes aus furchthaftem darzulegen: es geniigt der Hinweis, daI5 die physiscb kraftigsten Stamme, durch hartes, nicht kummerliche$ Leben gestahlt, der Furcht vor Unterdriickung enthobi frei in der Auswahl des Landes und der Lebenswei durch Horige entlastet, ein Dasein fuhren konnten, welchem Krieg und Gefahr zum Mannerspiel, Not und Arbeit zum Sklavenfron gestempelt wurde, Wetteifer sich auf Starke und Schonheit, nicht auf die Selbstvi standlichkeit des Besitzes richtete, lange MuI5e zum e fanglichen GenieI5en und Beschauen und dennoch nii zur Erschlaffung fiihrte. Trat die Mall)igkeit einer nicl allzureichen Natur hinzu, die Einsamkeit, die sparli bevolkerten, waldreichen Gelanden eigen ist, der regende, Anpassung fordernde Jahreszeitwechsel

198

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lerer Breiten und der Ausblick auf eine drohende und verheifiende Meeresferne, so war eine Menschheitsschule geschafFen, die aus animalischen Kraften nicht vorzugs- weise intellektuelle Zweckhaftigkeit, sondern freie Menschlichkeit loste. Freilich war auch hier alsbald eine Grenze gegeben: das ruhende und betrachtende Gleich- gewicht der Muthaften gibt sich leicht mit dem Dasein zufrieden; und soviele Tausende im Laufe der Zeiten an der Schwelle der Seele gestanden haben, nicht alle dieser Begiinstigten haben sie liberschritten. Uberschrit- Uberwin- ten wurde sie dagegen oftmals, wenn jene beidenMensch- te"llekts^^ heitsstrome sich nahe beriihrten oder mischten, liber- schritten wurde sie von manchen jener zwiefaltig beweg- ten Naturen, die den Schmerz der Bedrangten und das Gliick der Befreiten gleichermal5en in sich fiihlten, und die alles GroJ&e an Menschenwerken geschaffen haben, iiberschritren wurde sie endlich von den einsamsten Gei- stern der zweckhaften Welt, die aus Kraft der Mensch- heit in sich selbst die Paradoxie des intellektualen Gei- stes begrifFen und liberwanden.

Diese Uberwindung kann unabhangig von alien Be- stimmungen des Blutes und Intellektes in jedem mensch- lichen Wesen in jedem Augenblick geschehen, freilich nicht dutch einen Akt intellektuellen Willens. Ihm geschieht durch diese seine Impotenz kein Unrecht, denn der reine Intellekt will aus eigenem Impulse niemals die Seele, sondern seine seelenlosen Zwecke; und ware er durch metaphysische Betrachtung dazu gelangt, mittel- bar die Seele zu wollen, so wollte er in Wahrheit wie- derum nicht sie, sondern ihre vermeintlichen Machte und Konsequenzen. Wir werden weiterhin die Stim- mungen und Lebenslagen betrachten, wel che die Ent-

199

stehung der Seek fordern; ihnen alien ist gemein, sie den intellektuellen und individuellen Willen ersterben lassen. In diesem Ersterben, das jeder Moment, und am willigsten der leidenden Kreatur, bringen kann, und das ebenso unerzwingbar ist wie der intuitive und visionaire Gedanke, in diesem Ersterben liegt die unmittelbare und versohnende Nachbarschaft derSeele, die gleichsamdurch eine unendlich zarte Scheidewand vom niedergeistigen Oas Opfer des Leben getrennt ist. Jede reine Regung dringt hindurch, nur der Wille nicht, der nicht einmal die Kraft hat, sich selbst zu toten. Auch diesen Zusammenhang ahnt das kirchliche Dogma, welches vom Opfer des Intellekts sich eine Kraft verspricht, die unter dem allzu intellektuellen Bilde des faktischen Glaubens dargestellt wird.

Die empirische Polaritat der furchthaften Seelen-

Mut und feme und der muthaften Seelennahe ist von den wech-

Bilde histo- selnden ethischen Auffassungen der Zeiten und Zonen

Fischer Ethik \^ verschiedenartiger Annaherung aufgefall>t und aus-

gewertet worden.

Germanische Am klarsten hat der .germanische Geist den objek-

"'^^"'^^ tiven Sachverhalt sich angeeignet. Das ungeschriebene,

bis vor kurzem unausgesprochene und dennoch aller

Kirchenlehre zum Trotz die gesamte Kulturwelt beherr-

schende okzidentale Moralsystem sagt aus: Mut ist Tu-

gend, Furcht ist Laster. Alle Bewunderung wird dem

Helden zuteil, alle Verachtung dem Feigen. Die Exzesse

des Mutes werden geracht, aber sie schanden nicht. Die

Verbrechen derFeigheit und Heimlichkeit, Lug und Trug,

Hinterlist und Verrat sind ehrlos und werden schmah-

lich bestraft. Neutrale Eigenschaften : BarmherzigkdBj

Fleifi, Klugheit, Mal^igkeit liegen aul5erhalb empfundenff

Wertung, so sehr sie auch von geistlicher und weltlicher

aoo

Autoritat angepriesen werden. Hingenommene Belei- digung dagegen entehrt, denn sie bringt den Makel der Feigheit; ihn tilgt der Zweikampf als evidenter Gegen- beweis des Mutes.

Dieses ritterliche Moralsystem bleibt, dem daseins- ATr/V/;- erfiillten Wesen seiner Erfinder entsprechend, planeta- risch. Es kront die Starken, bandigt oder vernichtet die Schwachen und halt sich in den Erdenschranken mensch- jicher Schichtung. Die Grenze wird nicht erreicht, die Seele bleibt unberiihrt. Das System ist edel und sach- lich, aber es ermangelt der Transzendenz. Ohne die Reinheit und Klarheit des germanischen Paradigmas zu erreichen, nahert sich der Mutkultus der Japaner und Indianer dem durch geheimnisvolle Zusammenhange ver- wandten Anschauungskreise.

Die indische Auffassung, tatsachenfeindlich und ab- Indische j4uf- strakt, ignoriert die Empirie der menschlichen Zwiespal- tigkeit. Sie schreitet voriiber an dem Phanomen der Veranlagung, nicht ohne es zu erblicken, doch ohne es der Folgerung zu wiirdigen, der Auf hebung des Leidens entgegen, die mit kiihner Abstraktion im Abtun des Be- gehrens und der Furcht erkannt wird. Von der Nega- /tTr/z/A? tion ausgehend, bleibt jedoch auch im hochsten Aufblick die Tendenz passiv: das Leiden ist vernichtet, aber an die Stelle der weltschafFenden Tatigkeit der Seele tritt die weiche Seligkeit derSelbsvergessenheitund erhabenen Ruhe. Die Lehre ist von hoher Transzendenz, aber sie verzichtet auf die Spannkraft, das Liebesfeuer imd die Sonnenfreude, die edelsten Erbteile unserer Erdenbahn.

Trotzig und selbstgewiC) verfahrt die Moral der sq- Semitiiche Auf- mitischen Stamme. Sie nimmt die Partei des Schwachen. "^"''^ Mut wird nicht verkannt, aber er bleibt ethisch unge-

xo\

wertet, wie Schonheit, Kraft und Begabung. Als univer- selle Tugend gilt die Perle der Furcht: Barmherzigkeit. Aber so grofi ist die transzendente Kraft edleren Men- schengeistes, dal^ aus diesem materiell-utilitarischen Gut ein iiberirdisches entkeimen kann: aus banaler Giite wird zweckfreie Menschen-, Feindes- und Gottesliebe. Ein zweiter Zug zur Transzendenz liegt in der riicksichts- losen intellektualen Gewalt der GottschaiFung. Dutch unablassige Lauterung im Feuer der reinen Vernunft wandelt sich ein eifersiichtiger, polizeigewaltiger Berg- gott in den Herrn des Geistes, dessen Gebote absolut sind, und dem man dient nicht urn seiner selbst, sondern Kritik um des Geistes willen. Hier fiihrte die Starke intellek- tualen Denkens so nahe an die Grenze transzendenter Wertung, dal5 die christliche Lehre nur noch die Fessel materieller Deutung und Versprechung abzustreifen brauchte, um den Kern der Liebe, der Entaul5erung und des Gottesreiches zu losen. Grakoromanische Die grakoromauische Kultur des Mittelmeeres, im .tffasiung Indifferenzpunkt germanischer und semitischer Anschau- ung gelagert, hat alle wertenden Krafte auf die Schop- fiing der Staatsgesinnung gerichtet; eine eigene Ethik ist ihr nicht erwachsen. Ein tiichtiges, muterfiilltes Bauernideal blieb die Sehnsucht der juristisch-rituell ge- sonnenen Romer; Hellas genoH) mit Herz und Sinnen den Adel terrestrischer Begabung und spottete der| denen sie versagt war; die homerische Gotti kunde wiederholte das gleiche Spiel in der heiteren gezogenheit ihrer olympischen Aristokratie. Waren Ld und Geist zur Vollkommenheit gebildet, so fand he^ kleische Kraft und odysseeische Klugheit die gleic Schatzung, doch . immerhin mit solchem Beigeschma

germanischer Mutbewertung, daft die Fiille der Verach-

nmg dem ewigen Vorbild schmahsiichtiger Feigheit, dem

unsterblichenThersites, gezollt wird. Aber auch aus dieser Kritik,

sinnlich-transzendenzlosen Welt steht hochstem Men-

schengeist der Aufschwung frei; nicht aus dialektischer

Scharfe, wie beim Judentum, sondern aus asthetischer

Anschauung erhebt sich hier die platonische Transzen-

denz, die den tellurisch bewegten Griechengeist zum

erstenmal an jenseitige Machte kettet.

So erscheinen die ethischen Ahnungen der Zeiten als D'c histori- 1A11. 10 101. 1 schen Wer-

partiale Ableitungen des Satzes von der Seele, je nach tungen als

der Einsetzung temporarer, ortlicher und physischer Kon- P^^'^l^ Ab- o r 7 ^ r J leitungen

stanten. Alle streben dem ethischen Zustande entgegen, durch Besonderheit der Natur gefordert oder gehemmt, auf verschiedenen Wegen, getragen durch gleichviel welche ihrer starksten menschlichen Potenzen.

In welchen Stimmungen und Handlungen der ethisch Objektive seelenhafte Stand sich aufiert : diese Frage beantworten Handelns im wir, nachdem die Charaktere des Zweckhaften und Z week- BildederSeele freien wiederholt erortert wurden, fiir den Qualitats- grad intellektuell hochstehender zeitgenossischer Men- schen wie folgt.

Das Leben ist geleitet und bestimmt von Trans- Transzen- zendenz und Liebe. Jedes Erlebnis und jedes HandelUj^^^g erscheint nur insofern wichtig, als es nach diesemDoppel- gestirn gerichtet ist, und das Leben selbst hat nur des- halb Wert und Bedeutung, weil es diese Richtung ge- stattet.

Die Transzendenz verliert ihren Begriff, wenn sie auf irdische Zwecke zuriickgebeugt wird. Wenn die Er- hebung zum Gottlichen die Form eines Gebets um leib- Verbaitnis »»r liche Giiter und Vorteile annimmt, so ist sie nicht mehr

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Gottesdienst, sondern Geisterbeschworung. Wer um Strandgut oder Schlachtensieg bitter, der totet. Wer durch Selbstbeschuldigung der Gottheit zu schmeicheln glaubt, beleidigt Gott und erniedrigt seine Seele. Wer erzwingen will, dal5 die Allseele ihn mehr und besser liebe als andere Kreatur, treibt unlauteren Wettbewerb und macht Glauben zum Geschaft. Wer ohne inneren Drang und Glauben sich widerwillig zum Auf blick zwingt oder uniiberzeugt Ritualien verrichtet, begeht Gotzen- dienst und Fetischismus und verschliefit die Quellen seines inneren Lebens. Trans%endenx- Leidenschaftlichc Totentrauer und vielgeschaftiger osig ttt Leichenkult haben im Leben der Volker und Menschen

seit Urzeiten die Gesinnung der Transzendenzlosigkeit verraten und bewiesen. Begrabnisse sind die echtesten Dokumente der geistigen und seelischen Verfassung ver- Verhaitnis %um gangeuer Geschlechter. Furcht vor dem Gespenst, Fur- sorge fiir den Exilierten, Verzweiflung liber endgiiltige Vernichtung, HofFnung auf leibliche Wiedervereinigung und Glaube an eine die Individualitat liberwolbende Syn- these: diese fiinffache Stufenfolge der Gefiihlselemente bestimmt noch heute unser Verhaltnis zum Tode und lafit den Stand unserer Seele ermessen. Ehrfurcht Wahre Erhebung, mag sie vom intuitiven Erlebeil von der Vensenkung in die Natur, von der Liebe oder selbst vom objektiven Denken ihren Ausgang nehmen: sie wird jedesmal im Uberweltlichen ihren Ruhepunkt finden und somit unendlichen Abstandes sich demutvoU bewufit bleiben. Aber diese Demut ist nicht hiindisch, sie ist hingebend und oiFenbarend, sie ist ehrfurchtsvoll, und stolz in ihrer Ehrfurcht. Denn klein und grol5 si nicht absolute, sondern intellektuale BegriiFe: in sein]

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Unabhangigkeit ist das Kleinste das Grofite, und in seiner Bedingtheit ist das Gr6l5te das Kleinste. Unentbehrlich ist das Staubkorn, und daher hochst wiirdevoU. Nichts in dieser Welt ist verloren, nichts ist verlierbar, nichts ist unrein. Was unrein scheint, ist nur verworren; das gottliche Auge entwirrt es, und es besteht. Selbst der Abstand heiligt; denn je grower die Feme, desto gr6l5er die Liebe; je grower die Ehrfurcht, desto erhabener der Dienst. Der Adel der Kreatur ist die Ehre des Schopfers. Weit liber dem Distanzbewufi)tsein aber schwebt das Ge- fiihl der hochsten Einheit, und wenn die reine Stimme der Demut in einem Herzen klingt, so umbraust sie der Orgelton der gottlichen Allheit mit seinen Akkorden.

Ethisch indiiFerent ist die begehrende Liebe. Be-Transzen- gehrend ist sie nicht nur, so lange sie Gegenliebe will, sie ist es auch noch, wenn sie ausschliefiend und eifer- siichtig ihr Gegenbild zu sich herabzieht. Hinan! und Hinauf ! tdnt der Ruf der transzendenten Liebe, und wenn sie das irdisch Niedrigste ergreift, so heiligt sie sich in ihm dutch den Abglanz, der aus jeder Erdentiefe zur Sonne emporreil5t. Begehrend aber ist die Liebe auch dann noch, wenn sie um des Individuellen halber liebt. Fast alle unsere Liebe ist dieser Art, und somit irdisch : eine Bewegung, eine Form, ein Klang entziickt uns, wir woUen sie unverganglich, und verewigen den Zufall und die Unvollkommenheit. Doch selbst in diesem sinnlich befangenen Gliick liegt ein jenseitiges: dutch das geliebte Geschopf hindurch lieben wir einUnbedingtes, das Wesen, das nicht im Tagesreiz seiner Einmaligkeit, sondern in der Gottlichkeit seiner Seelenwiirde lebt. Nun konnte man glauben, es sei die transzendente Liebe ein wesen- loses Aufgehen und ein gegenstandsloses Zerschmelzen,

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ja sie sei vernichtet durch die Vereinigung selbst, wJ sie die Grenzen der Individualitat hinweglost: aber Blick auf unser eigenes Wesen weist uns zurecht, denn die gesamte individuale Erscheinung unseres Ich ist das Liebeswerk vereinter Geisteselemente, die, einzeln uns unbekannt, zu diesem festen Kollektivbau von unermefi- lich gesteigerter Qualitat eben durch diese eine Urkraft verschmolzen sind. Erhaitung des Deshalb wird transzendente Liebe nicht die Ver- ewigung des Individuellen, weder des eigenen noch des umfangenen verlangen; sie fiihlt die Unverbriichlichkeit des Wesenhaften, nicht des Gleichnisses. Ein Leib, be- stehend aus Anpassungsteilen, ein Intellekt, bedingt durch planetare Notdurft, diese Objekte sind im Sinne abso- luter Existenz undenkbar; soil eine Welt vereinbart und geschafFen werden, die sich zur intellektualen Vorstel- lung verhalt wie die intellektuale Erscheinungswelt zum Vorstellungsvermogen des Atoms, so verliert das irdische Werkzeug in diesem Schopfungsakt seinen Sinn. Transzenden- Wichtig, nach dem BegriiF ethischen Lebens, ist alles, was in der Richtung der Transzendenz und der Liebe orientiert ist. Wichtig ist daher jedes echte innere Erlebnis, jedes mitfiihlende Anschauen der Natur, jedes empfundene menschliche Schicksal, jedes erkannte Ge- setz. Auch in der Spiegelung der Kunst kann Lebens- wichtiges uns noch zuteil werden, insofern Kunst gleich- zeitig die Offenbarung der objektiven Gesetze der dar- gestellten Natur und des darstellenden Menschen be- deutet. Die Umkehr In gleichem Maf5 jedoch, wie Tun und Fiihlen vom Sorge Sonnenzentrum sich entlernt und intellektualem Zweck

entgegentreibt, schwindet die unmittelbare Lebenswich-

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tigkeit dahin. Hier liegt der Punkt des Kontrastes und der entscheidenden Umkehrung im Vergleich zu jeder nicht absoluten Ethik: wahrend diese sich be- miihen mufi>, entweder das animalisch-intellektuale Leben durch Auswahl irgendeiner bevorzugren Notdurft auf eine Hohe zu treiben, die seinem Wesen fremd und un- geziemend ist, oder aber dies Leben asketisch zu ver- dammen, urn an die Stelle natiirlicher Zweckhaftigkeiten konstruierte, nicht minder anthropomorphe Zweckhaftig- keiten zu setzen, bleibt es uns gestattet, das vor der Seele erblassende niedere Leben glaubhaft zu machen und innerhalb seiner Grenzen zu rechtfertigen. Unsere Gefahr liegt nicht darin, es konnten Leidenschaft und Gier und bose Lust und Angst so iiberhandnehmen, dal5 es einer ethischen Bandigung durch Lockung und Dro- hung bediirfte; unsere Gefahr liegt in der Sorge, der heute freilich noch recht entfernten, es konnte die Unwichtig- keit und Uberwundenheit des Materiellen vorzeitige Passiviriit und Erdenfremde der edelsten Geister bewir- ken. Uns liegt ob, das Spiel des Lebens moglichst ernst zu nehmen; wenn Lockung und Strafe zum Schemen werden, mul5 im indirekten Sinne nochmals Liebe ein- greifen und den Glauben bestarken, dal5 die Missionen der Vorgeschrittenen auf Erden nicht beendet sind, so- lange noch ein Tropfen unerlosten Blutes im Zwange der Angst und Begierde kreist.

Von neuem, und in einem hoheren Sinne miissen wirRiickkehr an Note und Begierden glauben lernen, nicht mehr aus ^^g q^^^^^^ primitiver Lust der Stillung, sondern in bewull)tem Dienst, und lediglich um das irdische Leben zu erhalten und seiner letzten Aufgabe entgegenzufiihren. Aber dies Leben ist nicht mehr ein animalisch-intellek-

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males, sondern ein spirituelles Leben; es verlauft nicht mehr als ein verzweifeltes Ringen um Brot und Macht, sondern als ein vergeisteter Kampf in den strengen Formen, die das Ziel gebietet; dies Leben wird nicht gefiihrt um unseretwillen, sondern um der Gottheit willen. Wir sind nicht mehr Besitzer, sondern Ver- walter unseres Sein und Haben; wir sind der erste Diener im Staate unseres geistigen und leiblichen Ich, berufen, um unsere und der Welt Seele zu hiiten und sie unberiihrt und stark in die Hande der Allheit zu legen. Harte Dieser Dienst ist schwer, denn er fordert Harte. Wir behalten das Recht, uns zu opfern, aber nicht um des Nichtigen willen. Ja, wir sind gezwungen, Opfer zu empfangen; jeder unserer Schritte totet, unsere Nahrung kostet Leben, und unser Besitz beraubt. Aber die Opfer der Natur gehoren uns nur insofern, als wir ihr reicheres Leben erstatten. Als Gliicksgiiter gehoren sie uns nicht. Seibsterhaitung Wir behalten das Recht, der Heimat unserer Seele gedenkend, in Liebe der Kreatur und in Betrachtung des Gottlichen uns von individuellem Gliick zu losen, aber es liegt uns ob, die Sphare und Macht unserer Personlichkeit solange zu schonen, bis das letzte Opfer sich rechtfertigt. Das Gliick der vollkommenen Hin- gabe diirfen wir nicht verschwenden, die Harte der Selbstbehauptung miissen wir uns auferlegen, sofern wirklich die eine unser Gliick, die andere unsere Be- drangnis ist. Beliigen wir uns, sind wir hart aus Gier und unfroh in der Entaul^erung, so ist es sittlich gleich- giiltig, was wir tun und eine blol5e Frage des Gesetzes: das Reich der Seele entbindet uns der Verantwortungj ihm sind wir nicht miindig.

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So gelangen wir zur rhythmischen und dynamischen Sporn, nkht Jmkehrung der alteren ethischen Anschauung; die Poli- teilist und Gesetzhaftigkeit des Sittlichen ist gebrochen. SJicht mehr bedarf es, den Uberschwang der Animalital '.u ziigeln oder gar a us Gelehrtenschwachheit aufzu- 3eitschen; nicht mehr bedarf es, durch Verbote und 3efehle aus Gebrechlichkeiten und Liisten ein notdiirftig jesittetes Gehaben aufzustutzen: unsere Sendung ist delmehr, solange die Seele nicht vollkommen erstarkt n sich selber ruht, zum Leben um des Gottes willen md zur Leistung um der Welt willen uns zu ermutigen.

Deshalb wird von auI5en betrachtet, ethisches Leben Gesetz der

,. t 1 '1 1 1 zweitenNatur

om ammalisch-sittlichen sich nur wenig unterscheiden:

amlich darin, daI5 es nicht zur Grenze bin, sondern

on der Grenze hinweg strebt; es ist, wie alles edlere

lenschenwerk, wie Anmut, Leibesbildung, Lebenssitte

nd Kunst, aus Geist wiedergeborene Natiirlichkeit und

weite Natur. Denn es ruht nicht mehr auf primitivem

rieb und Willen, sondern auf erworbener Gesinnung

nd transzendentem Empfinden. So rechtfertigt sich

bermals als partielle Losung ein altes Symbol: nicht

/erke heiligen, sondern Glaube.

Hiermit sind wir wieder beim BegrifF des ethischen Forderung ustandes angelangt, und es fragt sich nun, ob dieserjjju^g des ustand, der sich durch WillenseingriiF so wenig er- ^^^schen Zu- vingen lafit wie die Entfaltung einer Bliite, uberhaupt irch Tun und Leiden gefordert oder gehemmt werden inn.

Die grofie seelische Bedeutung des Leidens hat das Der Weg des iristentum erkannt und gepriesen. Aber nicht alles ^^ ^^^ nden ist seelenspendend, denn Schmerz und Not, ngst und Gier sind die Triebkrafte aller Schlechtigkeit

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und alien Frevels. Wie kann aus gleicher Quelle da Tierische und das Gottliche fliel5en? Primitive Reak- Der ursprungliche Mensch, der vom Leid betrofFe; wird, fordert sogleich einen Schuldigen, an dem e seinen Zorn auslassen kann, und WQnn es der harmlos Bote des Ubels ware, der seinerseits sich nicht eine; Augenblick dariiber wundert, dafi er geschlagen wire Denn die giitige Natur hat der liberfallenen Kreatu den Reflex des Zorns bestellt, damit sie ohne viel z zaudern das Grobste abwehren lerne. Torheit, Tiicke Zauber von Mensch, Tier, Gespenst und Gott sind di Bringer des Ubels; Rache, Strafe, Gebet und Opfer di Reaktionen der Abwehr. Vorgeschrittene Der vorgeschrittene Mensch sucht die Quelle de

Lieaktion des ^ . -i . . ^t i i i i i

Uides Leidens m einer Ursachenkette, una je abstrakter er z

denken fahig ist, desto weniger schreckt er zuriick, sei eigenes Wesen und Handeln in diese Kette einzubezieher In demjenigen Zustand hochintellektualer aber zwecl befangener Verdiisterung, welcher dem Entstehen de Seele vorausgeht, wird die Ursache des Ubels, gleichvi( woher es mechanisch stamme, ganz und gar ins Inner verlegt: der BegrifF der Verschuldung und Siinde erhel sein Erinnyenhaupt. Die Reaktion ist nicht mehr Zor sondern Zerknirschung, die Abwehr Bul5e. Mit dei BegrifF der Schuld aber erscheint sein mildes Gegenbih die Vorstellung der Erlosung. Siihne, Reinigung, Gotte: spruch kann erlosen; ein gewaltiger Umschwung de Empfindung hat sich vollzogen: indem der Mensch zui Sunder wurde, ist der Gotze zum Gott geworden, un Trannendente der erste ttanszendente Glanz dammert auf. Bald werde l^jgf " die BegrifFe umgewertet: Erlosung ist Himmelsgab< aber was ware sie ohne Siinde und Leid? Nun sind di

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I

defsten Schatt'en des Lebens durch Transzendenz auf- gehellt, die Seligkeit des Leidens ist gewonnen, Leid und Gliick erscheinen nicht mehr als ein Absolutes, sondern vereinigt in der Synthese des Ewigen, das Reich der Seele bricht an.

Tausend Wege fiihren aus der Vertiefung des Lebens

zur Erhebung der Seele; den kiirzesten, leider schnell

verendenden, hat die indische Weisheit beschritten, die

[n kiihner Abstraktion das Ubel bei seiner Erscheinungs-

itvurzel ergrifF und es mitsamt der ganzen sichtbaren

Welt einem Hoheren zuliebe kurzerhand sakrifizierte.

So ist das Leid im Menschheitsdenken zur Erlosung

Teworden, so wird es im Einzelleben zur Erlosung, so-

r Pern dieses dem Aufjgang der Seele nicht allzufern steht.

Wbhl gibt es leidlose Menschen, solche die in ^lIIzm- LeiMoseNatttren

^liicklichen Landern und Hausern, mit allzugliicklichen

jaben erwachsen. Sie wandeln in olympischer Kinder-

xeude, keine Schuld wagt, ihren reinen Fu6 zu um-

tricken. Die leichten Schatten ihres Lebens kommen

^on den natiirlichsten Wandlungen, nicht aus den Tie fen

iindhafter Verflechtung; sie weichen mit dem Winter,

lem fernen Gewitter, dem fremden Schmerz; ein kurzer

Jnwille und edler Zorn treibt sie hinweg. Dem neid-

iaften Volk, das aus Scheu vor ihrem Gliick sie nicht

inmal zu schmahen wagt, erscheinen diese Menschen

ottlich, dem Gotte sind sie lebensahnliche Bilder, die

ei der ersten Regung ihrer Seele in die Tiefe gleiten,

m als Lebendige erst dann emporzutauchen, wenn sie

chuld, Schmerz und Angst gekostet imd liberwunden

aben.

Ihr Gegenbild sind jene ungliickseligen N^tnren, LeUer/eggnf ie friiher Schwache, Siinde, Schmach und Hafilichkeit ^'*^"*

»4* an

erlegen sind und deten Leben der Rache ^ehort, die aus

Leiden erwachsen ist. Im Stande hohen Intellekts heifit

diese Rache Ehrgeiz; sie waren getreten, nun wollen

sie herrschen, sie waren ausgeschlossen, nun wollen sie

einsitzen, sie waren verachtet, nun wollen sie beugen.

Jedes fremde Gut und Verdienst ist ihnen Hemmung

und Beleidigung, jeder fremde Makel Rechtfertigung

und Forderung. Jedes Ding und jedes Wort, jeder

Mensch und jedes Ereignis hat nur Wert, soweit es ein

Nutzen oder ein Mittel ist; der Faden des Gedankens

schnellt rastlos zum Ich zuriick und vereitelt objektives

Versenken und SchafFen. Die Tatigkeit wird kritisch,

sie braucht gegebene Dinge und Menschen, um sich aui

ihnen zum Schaden des Wirts festzusetzen ; die Methode

wird advokatorisch und dialektisch, denn es kommt nichi

an auf Wahrheit, sondern auf den gewollten EiFekt. Da;

vernichtende Streben untergrabt alles naive Urteil, jede

instinktive Wertung; das verdrehte wird wahr, das zer

setzte gesund gescholten. Das Wort wird zur Liige, di(

Handlung zur Grimasse, das Gefiihl zur Sentimentalitat

der Gedanke zurFormel; und als erstarrte Erinnerungs

zeichen schiefer Empfindungen und Entschliisse umgebei

den Ungliicklichen schiefe Werke, Menschen und Situa

tionen. So lebt er teils in boser Einsamkeit, teils ver

angstet und verletzt im Kreise gleichgearteter Trabanten

Sein tiefster Schmerz ist, verachten zu mussen die

welche ihn schatzen, und lastern zu mussen die, welche e

ersehnt. Da er nun eigentlich nichts zu verlieren hai

so ist auch der Mut seiner Verzweiflung nicht Kraft

sondern Schwache. Menschen dieses Schlages werde

von der verwandten Menge als befreiende Geister be

griifit; im hoheren Sinne sind sie beklagenswerte selbst

vernichtete Existenzen. Dennoch sind sie der Seele nicht entfremdet; sie sind ihr naher vielleicht als viele jener iiberseligen Kreaturen: denn ihre verborgensten Krafte sind durchSchmerz undZweifelgelockert, dererste Aufblick, der erste Strahl det Liebe kann sie wecken.

So wie alles Grofie auf Erden von Menschen ge- Ziuiespaitige schaifen worden ist, die schuldig oder siindlos die ^^^^^^^^ Schmerzen der Schuld und Siinde erlebcen, Himmel und Abgnind im Herzen trugen, Verworfenes und Heiliges mit gleicher Liebe begriifen, so ist das Reich der Seele nicht den Schuldlosen am nachsten, sondern den Damo- nischen, die aus der Tiefe ihrer Schmerzen die Wand- * lung des Leides erfahren haben.

So ist das Leid der erste Weg zur Seele. Es ist der Weg im Sinne des Ethos, und alle Menschheit im Laufe der Generationen schreitet ihn. Der zweite Weg ist das Schweigen.

Der zweckhafte Mensch ist nicht fahig hinzunehmen. Der Weg des In seinem Geist und Herzen larmt es, denn die Begierde schlaft nicht ein, und selbst im Traum verfolgt er, wie der schlummernde Jagdhund, stohnend die Fahrte seines Wollens und planenden Denkens. Jedes Ereignis zwingt Sciywatxender ihn zur Parteinahme, jedes gesprochene Wort zur Er- widerung und zum Urteil. Schwatzt seine Stimme nicht, so schwatzt sein Geist, und alles Schwatzen hat nur den einen Sinn der urteilenden Billigung und Verdammung. Bietet sich keine anreizende Sinnennahrung, kein StofF zum Zahlen, Rechnen, Abtun, Wundern, Tadeln und : Mitteilen, so tritt Langeweile, Mill>behagen oder Schlaf ein. Das letzte Hilfsmittel sind banale Verstandesspiele, abwarts bis zum Abzahlen der Pflastersteine auf der Straiie.

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Unerstaunter Der schwatzende Geist kann sich wundem, aber nicht erstaunen. Aber auch die Verwunderung ist kurz, denn die Erscheinung geht ihm nicht nahe. Hat er sie not- diirftig assimiliert, womoglich dutch ein Schlagwort, eine Modeformel oder einen Gemeinplatz, so nennt er sie iiberwunden; denn er weifi nicht, dafi man nur im Kampf iiberwindet. Als die Suaheli sich vor dem ersten Kraft- wagen entsetzten, der durch die Straiten von Daressalam ratterte, sagte einer „Pinal5 an Land", und der Teufels- kasten war als europaisches Zauberwerk klassifiziert und erledigt. Die Mechanisierungsformen der Erscheinungs- aufnahme : Zeitungsnotiz, Illustration und Film, kommen der seelenlosen Assimilation am weitesten entgegen; die unabhangige Durchforschung des reinen Gesetzes und des einheitlichen Aufbaus steht ihr am fernsten. Aus dem Kreise der menschlichen Gefiihlswerte konnen nur die grellsten, die Sensationen der Liisternheit und des Grauens, im Larm der Sterilitat Gehor finden ; alle stil- leren Reflexe gehen unter, denn wenn der Geist larmt, schweigt die Natur. Einsamkeii Einsamkeit ist die Schule des Schweigens. Die pro- duktive Kraft des Geschehnisses liegt im Nachklang. In der Stille der Abgewandtheit vom Wollen und Zweck erheben Dinge und Werke ihre Stimme und sprechen sich selber aus, das Ereignis wird zum Erlebnis. Die Natur macht keine Ausrufungszeichen und Anfiihrungs- striche ; ihre Ubergange sind unmerklich, das Grof^e und das Kleine nennt sie im gleichen Tonfall. Der schwei- gende Geist aber weckt das Echo des Wesentlichen; das, was Rechnung nicht erweist, Uberlegung vergifit und Dialektik verdunkelt, das wahrhaft Wichtige, die Seele der Erscheinung steht da, zu Geistergrofie erhoben,

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redend und erwidernd, mahnend und verheiSend. Un- begreif lich personlich, menschenhaft und dennoch liber- Die Sprache der menschlich ist die Sprache dieses Geistes der Dinge. *"^' [ronie und Sarkasmus, Begeisterung und Ahnung, Weis- sagung und Ratseldeutung sind seine Ausspriiche. Ge- schichte, Natur, Menschheit und Tierheit werden zu- traulich und erzahlen, deuten, erlautern sich selbst. In dieser Stille wird das Geheimnisvolle moglich, dafi es dem Menschen vergonnt ist, das Seiende und das Wer- dende, das Vergangene und das Kommende zu erblicken: denn es ist eine niemals durchdrungene Wahrheit, dal5 das Begreifen nicht vom Verstande abhangt. In jedem iiohen oder niederen Stande der Intellektualitat ist es 1 moglich, das Wesentliche zu erfassen; denn geistig er- fassen heil5t abbilden, und zum Abbilden bedarf es nur eines|(einzigen kindlichen Strichs, wenn er das Essentielle packt. Mythos und Gleichnis, Gedicht und Beschreibung, Theorie und Weltsystem, ein jedes in seiner bildlich- primitiveren oder abstrakt komplexeren Sprache und Vor- stellung, bedeuten das gleiche ; sind sie mit echtem Blick empfangen, in reinem Geist gereift, so sind sie ange- jchaute Wahrheit. Es ist Schwachmut, zu glauben, daib keine Wahrheit uns beschieden sei; auch die partiale Ab- ieitung kennzeichnet die unendliche Funktion, und in ihrem Abbild darf auch der partiale Geist das Totale er- blicken. Der Krug fafit nicht den Quell, aber er fail>t schtes, edles Wasser, und der Tropfen loscht nicht die Sonne, aber er spiegelt die Gestirne.

Vom Weg des Schweigens, der durch das Gebiet der Der Weg der Erkenntnis zur Intuition, von der Intuition zur Seele ^^^^ ^^^^ fiihrt, zweigt sich ab der Weg der Betrachtung, der die Welt des Sinnlichen mit der Welt des Seelischen verbindet.

xiS

z-weckhafte Dem kindlichcn Geist des Intellektualmenschen ist * die Erde ein Grundstiick, die Wiese ein Futterplatz, dei Wald eine Forstwirtschaft, das Wasser eine Verkehrs- bahn, der Stein ein Brennmaterial, das Tier ein Wild, Vieh, Raubzeug oder Ungeziefer, die Sonne eine Kraft- quelle und ein Beleuchtungsmittel, der Mensch ein Kon- kurrent, Abnehmer, Vorgesetzter, Angestellter oder Steuerzahler, die Gottheit eine Behorde. Wie man einen Baum zerreifit, um seinen Leichnam in Papier, Ziind- holzer oder Zahnstocher zu verwandeln, so zerrein)t er das Bild des Kosmos, um ein wenig Nahrung, ein wenig Flitter und ein wenig Aufsehen zu erwerben. Nun ist die Welt tot ; nun hat der Arme sich gemiiht, gesattigt, gewarmt und fortgepflanzt, sich begucken und benei- den lassen, und es bleibt ihm nichts mehr iibrig, als das Spiel zu wiederholen, bis er endlich mit tiefejji Be- dauern das Zeitliche segnet, nachdem er das Ewige ver- dammt hat.

Zweekfreie Dem rein und zweckfrei betrachtenden Auge aber ^H ^^1x6. die Natur nach unendlichen Richtungen hin unend- lich und dennoch in zartester Beschrankung vertraut. Das Heiligtum des Grashalms ist unaussprechliches Ge- heimnis und doch nur ein Atom in der Lebensdecke des einen Planeten. Eine HandvoU Waldboden birgt ein Weltall an Lebensgleichgewicht und verkiindet den Ge- meinschaftsbau des Lebendigen, das in unablassigem Aus- tausch Krafte wirbt und spendet. Die Elemente damp- fen, lasten, wogen und stromen in unerloster, tobender und gesetzter Kraft und umschlingen schiitzend das Kleinod des befreienden Samens; aus jedem Ruhepunkt bricht Leben hervor und klammert sich noch an die Fels- hange des erstarrenden Giirtels. Durch alle Weltraume

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flechten sich die Adern des organischen Gesetzes, vom Kristall bis zum Blutenstaub herrscht Einheit, Gleich- klang, Recht und Norm. Das Sandkorn als Planet, der Planet als Sandkorn folgen den gleichen Schicksalsge- setzen; einmalig ist alles, nichts ist vereinzelt, jedes be- dingt und keines begrenzt. Den Sinnen aber ist ver- gonnt, diese Welt zu trinken, die im Rausche des Lichts zu jeder Stunde ihre Wunder neu verklart und im Klang und Duft ihres wehenden Atems erzittert. So unsag- liches Gliick ware nicht moglich, wenn ein Totes zu Lebendem sprache, wenn nicht im Brausen der Schop- fung Geist sich dem Geist vernehmlich machte. Dieses Vernehmen aber ist Betrachtung, und die Liebe, die in der Stille der Selbstvergessenheit ihr entwachst, ist die Richtkraft des dritten Weges, der zur Seele hinfiihrt.

In der Erorterung der Erlebnisse und Stimmungen, Der Weg des die dem Werden der Seele vorhergehen, haben wir der religiosen Empfindung nicht gedacht. Denn ihre echten Elemente, soweit sie nicht vollkommen transzendent sind, dem Reich der Seele somit schon angehoren, sind in den Ubungen des Leidens, des Schweigens und der Betrach- tung enthalten und in reiner, nicht mehr sinnbildlicher Ausdrucksform erschopft.

Die erleuchtende Gewifiheit der Religion, die sicb im Glauben, in der Gottesliebe und Erlosung symbolisiert, lost sich in unserer Erkenntnis der Seele und ihres trans- zendenten Lebens.

Die religiosen Einzelformen, Dogmen, Mythen, My- Reiighnen ais sterien und Symbole erscheinen unserer Betrachtung als zeitlich, ortlich und intellektuell bedingte Gleichnisse und Partialableitungen mehr oder minder rein empfun- dener transzendenter Wahrheit. Die Ehrfurcht, die wir

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selbst matten und verzogenen Spiegelungen des G6tt- lichen schulden, bleibt nicht durchaus eine theoretische Satzung; nach der Auffassung von der partialen Wahr- heit gewinnen die iiberlieferten Heiligtiimer die Bedeu- tung von Abbreviaturen und Breviloquenzen, deren die menschliche Geistigkeit der Mittelebene noch eine Zeit- lang bedarf. Es ist besser, dafi ein durchschnittlicher Europaer an die leibliche Auferstehung des Fleisches glaube, sofern diese Formel ihm ein wirkliches inneres Erleben auswirkt und nicht blol5 der vermeintlichen Star- kung seiner Konkurrenzkraft dient, als dal5 er lebe und sterbe in dem wahnsinnigen Gedanken, jede innere Er- schiitterung sei wissenschaftlich nachgewiesener Zeitver- lust, und das oberste Weltprinzip sei das Gesetz von der Erhaltung der Kraft oder eine ahnliche gleichgiiltige Intellektual formel. Das Philisterium Nicolaischer Auf- klarung ist schaumende Phantasie im Vergleich zu jener Nuchternheit, die einen Wirtschaftsgrundsatz, etwa die Okonomik der Energie auf den Thron der Ethik setzt und die Gotteswelt zur Sparbiichse macht. Dafi ein Mensch glaubt, sofern es nicht eigenniitziger Zweck- glaube ist, ist Sache seiner seelischen Anlage; was er glaubt, ist Sache seines intellektuellen und intuitiven BegrifFskreises. Erhebt sich das vorgeschrittene Erfassen einer Zeit ein wenig liber das Mall>, das dem Durch- schnitt erreichbar ist, so soil nicht esoterischer Diinkel die Menge in den Vorhof verweisen, sondern es soil jedem der Weg gebahnt sein, von bildlich - falMichen Mythologismen zur reineren Anschauung vorzuschreiten. ; SyrabolikderDeshalb sei auch hier versucht, eine Reihe ehrwiirdiger Pogmea Dogmen und Riten in Beziehung zur Erkenntnis der Seele zu setzen.

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Vorausgeschickt sei die Bemerkung; wie alles intuitive Materiaiisierung Denken sich auf dem Wege zur Sprache materialisiert, indem es in die verschlissenen Kleider der Worte und BildbegrifFe steigt, um objektiv sichtbar zu sein mate- rielle Sprachroutine freilich verwechselt die Erlernung des Denkens mit seinem Wesen und vermutet, der Ge- danke werde im Wortkleide geboren , so leidet die transzendente Vorstellung doppelt, wenn sie die Sachen und Vorgange der Gebrauchswelt als Verkorperung waihlen mull), um mittelbar und fall)bar zu werden. Wie schwer hat das griechische Denken, dem keine Praxis der sprachlichen Abstraktion zur Verfiigung stand, um das Wortkleid seiner theoretischen Einsichten gekampft! Wieviel miihsamer hat das erwachende Empfinden reli- gioser Transzendenz gestrebt, durch handgreif liche Vor- stellungen wie die des „Weges", des „Verwehens", des „Hauches", des „Wortes", des „K6nigreichs", die innere Erkenntnis zu materialisieren ! Der Dichtkraft Jesu war es beschieden, in Bildern und Fabeln des volkstiimlichsten Erfahrungskreises den Inhalt religioser und politischer Intuition abzuformen; dem Zauber dieser Kunst ver- danken wir, dafi aus der Tiefe der Verschiittung die Urgestalt seiner Gedanken noch immer hervorleuchtet. Das Jahrtausend abstrakten Denkens, das die Volker der Erde seither durchschritten, hat unsere intuitiven Krafte Icaum gefordert, wohl aber einen uniibersehbaren Kreis >achlich-mechanischer Anschauung und theoretischer Denkform geschaffen, die zu verkennen auf gekiinstelten A^rchaismus und gewollte Stilisierung hinausliefe. Soziale, 3hysikalische und erkenntniskritische BegriiFe sind uns /ertrauter als die Requisiten vorzeitlichen Landbaus. u)er sprachliche, mechanische und bildliche Reichtum

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hat nicht viel mehr zu bedeuren als gesteigerte Feinheit der Einstellung, die manchen Vorteil und grdf^ere Gefahr bringt; sie abzulehnen, hiefi)e, unserem Denken untreu werden. Deshalb diirfen wir nicht erschrecken, wenn altvertraute Formeln bei der Einreihung in unsere Denk- weise die Farbigkeit ihres sinnlichen Kleides verlieren. Kame heute ein Prophet zur Welt, so wiirden wir uns gewohnen miissen, ihn ohne Scheu von Maschinen und sozialen Gesetzen reden zu horen. Siinde Den BegriiF der Silnde haben wir erortert. Auch uns erscheint sie als ein Gemeinzustand, und auch uns als ein Abzutuendes; jedoch sind wir nicht mehr an das Bild einer Ubertretung, ihrer Folgen und ihrer Verall- gemeinerung gebunden, wir bediirfen nicht des Korre- lats eines Verbotes. Siinde ist nicht Verletzung eines Gesetzes oder Gebotes, sondern ein Urzustand. Dieser Urzustand, aus dem wir uns befreien, ist die natiirliche Durchgangsepoche der animalisch-intellektualen Welt; sie ist nicht durch Verderbnis eines goldenen Zeitalters entstanden, sondern auch sie, so unvollkommen sie dem Stande der Seele verglichen erscheinen mag, ist ein ge- waltiger Fortschritt gegeniiber der intellektlosen Welt. Deshalb ist das Lehrmittel des Abscheus und der Ver- achtung uns nicht vonnoten; wir konnen das Uberwun- dene so wenig hassen wie die Kindheit oder die Tier- heit, und diirfen dennoch die Machte preisen, die uns SUndenfaU s^mGv entheben. Die Erinnerung eines Siindenfalles wird uns nicht bedrangen, und dennoch werden wir auch seiner Symbolik eine metaphysische Ahnung gegeniiber- stellen konnen: denn wenn wir den gewaltigen Vorgang der geistigen Sammlung iiberschahen, dessen ephemeren Einzelakt wir in der Evolution der Seele gepriift haben,

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so liegt die Tendenz nahe, ihm eine kosmische AUge- meinheit und Periodizitat zuzusprechen. Jeder univer- salen Sammlung ware dann eine universale Zersplitterung vorauszusetzen, deren mythische Deutung wo nicht dem paradiesischen Milage Schick, so doch seinem gvofhen Vorbild, dem Abfall der Geister, nahekame. In diesem bildlichen Zusammenhang darf an jene Bemerkung er- innert werden, die im zweiten Buch iiber das Prinzip der Gegenstromung gemacht wurde.

Die religiose Vorstellung von personlicher Heiligkeit PersoniicbeGott und personlicher Gottheit bleibt ein primitives Gleichnis, solange und je mehr imBegriiFdesPersonlichen die anthro- pomorphe Form des intellektualen und individuellen Denkens und Wollens gesucht wird. Dennoch liegt auch in diesem Symbol ein transzendenter Keim, dem die pan- theistischeDenkweise nicht gerecht wird, wahrend die hier niedergelegte Auffassung ihn generell auszudeuten sucht.

Dieser Keim wird sichtbar in der Empfindung eines absoluten Wertkontrastes, der durch keine noch so voll- kommene Einordnung des Einzelnen in die Allgottheit ausgeglichen wird. Wenn der personlich gerichtete Glaube um Ausdruck ringt, so sagt sein stammelndes Gefiihl: ich bin schwach und schlecht, der Gott ist giitig und wissend ; dabei ahnt er, daf5 er Gott vermenschlicht. Der Pantheismus antwortet: du bist eingereiht in 6iq ScirwMe de* Gottnatur, die alles umfafit; widerstrebe nicht, so bist ^ '^^*" du als Teil nicht ungottlicher als das Ganze; und er ahnt, indem er dieses spricht, dal5 er die Gottheit ver- fliichtigt. Denn als reines Multiplikat gewinnt ein Komplex auGer der belanglosen Quantitat keine neue Eigenschaft; an sich ist der Finger nicht gottloser und das Volk nicht gottlicher als der Mensch. Erst dadurch

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dafi wir aus der Synthese des Geistes die Seek, und aus der Reihe der hoheren Evolutionen die unendliche Pyramide des Uberirdischen erwachsen lassen, werden wir dem Elemente der Ehrfurcht, das die Natur in uns gelegt hat, und dem Korrelat der Erhabenheit, das sie vom Hcichsten fordert, gerecht; dann aber liegt das Gottliche nicht mehr in der gesetzmafiigen Zusammen-

Richtungsbegrif fassung, sondern in der aufstrebenden Richtung. Die Weltseite der Schopfung, das Durchlaufene , Erledigte , bleibt hinter uns liegen und nimmt insofern am Gott- lichen nur bedingten Anteil; die Gottseite der Schopfung aber erhoht sich mit unserem Aufstiege wie das Firma- ment liber unserem Haupte und bleibt somit transzen- dent. Indem es aber nur mit der reinsten Kraft unseres Inneren verwandt erscheint, kann die Vorstellung eines Personlichen , ja eines Individuellen als partiale Gleich- setzung dem einfacheren BewuC>tsein erhalten bleiben. Fiir uns aber verschmilzt der BegrifF des Ungottlichen mit dem des Durchlaufenen, hinter uns Liegenden, der BegrifF des Sundhaften mit dem des erledigten Intellek- tualen, das die ganze bisherige Schopfung umfafit; der BegrifF des Gottlichen beginnt fur uns mit der Seele und umfafit alle kommenden Reiche. Deshalb sollen wir uns hiiten, die bessere Seite unseres Seins als etwas halb Bewul^tes, ja UnbewulLtes der Gesellschaft niederer, dunkel intellektualer Triebe anzureihen; das mechanische Denken neigt zu dieser Gefahr, denn freilich ist die intellektuale Geistigkeit, in welcher wir alt sind, uns vertrauter; im Leben der Seele sind wir kindlich jung, fast unerwacht, zaghaft und fremd.

Gemeinschaftder In diesem Gedankenkreise findet selbst das Bild von "^^'^ der Gemeinschaft der Heiligen seinen symbolischen

Stand, denn die uns unmittelbar besctiiedene Teilnahme am gottlichen Wesen, die Seelenhaftigkeit, bietet je nach der Stelle der Betrachtung das Bild einer individu- ellen Vergeistigung oder einer gottlichen Kollektivitat. Der Aufstieg selbst aber kann durchaus mit einer Er- losung verglichen werden, und zwar einer solchen, die Errosung durch keinerlei Willenshandlung erzwingbar ist, sondern vielmehr durch einen inneren Vorgang der Erleuchtung, wenn man will, der Gnade, erfolgt. Hier kann das Vor- Gnade bild, die Fiihrung, ja die ofFenbarende und erlosende Gewalt erhabenster Geister gewiirdigt werden, detnn die unabhangige Kraft des Aufschwungs ist nicht jedem Geiste eingeboren, und viele konnen im Innern nur das erleben, was ihnen von aufien gespendet ist. Selbst theologische Streitfragen mogen in der Umdeutung all- gemeiner Betrachtung sich von Widerspriichen losen; wir wissen, dalL der ethisch-seelenhafte Zustand nicht durch Einzelhandlungen erzeugt wird, dalb er jedoch gewisse Handlungstendenzen ausschliefit und andere be- wirkt, ja unter Umstanden in ihnen erkennbar ist: die alte Antinomie des Problems vom Glauben und von den G/auben und

Werke

Werken ist in dieser Gesetzmafiigkeit aufgehoben.

In welch passiver Einseitigkeit die Lehre von der Aufhebung des Leidens und der Weltflucht die Erkennt- nis der Seele spiegelt, haben wir im Laufe der Erorte- rung gestreift; die symbolische Wertung des Seelen- wanderungsdogmas erfordert eine gesonderte Anmei- Metempsycbose kung. Das Widerstrebende dieser Lehre liegt, abgesehen von ihrem moralischen Rationalismus , in der mangel- haften Identitat des Subjekts. Nicht an dieser Stelle werden wir vom Prinzip der Strafe zu handeln haben; erwahnt sei eine seiner Antinomien, die darin liegt, dal5

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der Verbrecher und der Gestrafte nicht identisch sind. Ein Mensch taucht mit tierischer Lust seine Hand in geopfertes Blut, und vor dem Richter erscheint mit nackter Seele und empfindender Haut ein weinendes Geschopf, das vor der Schlachtbank zittert. Nach Wochen steht die Kreatur einer geschlossenen Mensch- heit gegeniiber, die in einem Hof, von Mauern umgeben, sie nach Kommando zu sterben zwingt; und fiir die Menge und ihre Beauftragten ist es der gleiche Mensch, der Verbrecher, das Tier. Vor Gott ist er es nicht; was ihn verwandelt hat, nennt die Kirche kurz und biindig die Reue; wir nennen es die Vielfaltigkeit des mensch- lichen Herzens und gedenken der unerwachten Seele.

Von dieser Spaltung der Identitat weiH) die Metem- psy chose nichts; in ihrem Drange nach Vergeltung ver- langt sie, dafi die schuldwiirdige Person erhalten bleibe, auch wenn nur in einem hoheren BewuI5tsein die Briicke der Wesenseinheit geschwungen ist. Aber gerade dieses hohere Bewufitsein ist das unbeteiligte; so wird ein Widerspruch durch den zweiten verdeckt.

Das Symbol gewinnt an Wahrheitswert, wenn die Kette der Individualitat geopfert wird, und doppelt, weil gleichzeitig die Kriminalistik des Ubersinnlichen hinfallt. Ist es der Geist schlechthin, der um seine Existenzform ringt, bis er die Verklarung zur Seele vollbracht hat, so erscheint das Gleichnis losgelost von der Romantik des Einzelerlebnisses und gelautert; freilich ist zugleich die bildlich-erziehliche Fafibarkeit des Mythos zerstort. Gottesrekh Weit hoher als ein Symbol, wahrhaft als eine Ent^ hiillung, soweit sie einfachen und iiberwiegend transzen- denzlosen Geistern fal5bar war, ofFenbart sich die evan- gelische Kunde vom Himmelskonigtum und vom Gottes-

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reich. Der schillernde Kreis des Mifiverstandnisses, den Niederschriften und Uberlieferungen um den Erkenntnis- kern der christlichen Lehre geschlungen haben, lafit die transzendente Reinheit des uniiberlieferten Mittelpnnkts vermuten. Bald wird in der Uberlieferung das Reich als irdisch-soziale Institution, bald als eine Gemeinschaft der Gerechtfertigten, bald als messianische Theokratie, bald lis Himmelsparadies gedeutet. In diesen Farben mufite dn BegrifFsich spiegeln, der in seinem Ursprung mensch- ich, in seiner wahren Existenz geistig, in seiner An- Ijchauungsform transzendent gedacht war. Ohne die Ge- :;etzmafiigkeit in den Widerspriichen einer Uberlieferung, lie tausendfaltigEingescharftes so typisch umkreist, waren vir in Versuchung, uns fiir eine der Versionen zu ent- |;cheiden. So aber diirfen wir aus der verheil^ungsvoU- ten Quelle die Gewifiheit einer Verkiindigung vom vahren Reich der Seele schopfen.

ilpln diesem mythisch-theologischenBetrachtungskreise Gebet St endlich einer geheiligten Ubung zu gedenken, des jebetes. In ihr liegt der Inbegriff aller praktisch-trans- endenten Symbolik, denn der Mensch tritt mit alien einen irdischen Kraften, schauend und fiihlend, fordernd md empfangend vor die Schranke der Gottheit.

Der symbolische Wert des eigentlichen, bittenden iebetes liegt fur den zivilisierten Menschen nur in der Lnerkennung, gleichviel ob frei oder erpreI5t, es sei ine Instanz auf5erhalb des berechenbaren Geschehens; :hon diese Anerkennung erschliefit eine metaphysische )enkform, denn sie folgert, eine Handlung sei nicht jdiglich aus ihrem Nutzen zu beurteilen.

Je mehr nun die Form der Bitte sich der Mitleids- 5///* rweckung, der Schmeichelei, der Bettelei und Selbst-

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erniedrigung, kurz, irgendelner Art der Bestechun^ niihert, je mehr der Gegenstand der Bitte die Vorteilc des aufieren Lebens, Forderung der eigenen Zwecke mil oder ohne Schadigung des Nachsten betrifft, desto weitei entfernt sich das Gebet von seinem transzendenten Sinne um sich fetischistischer Zauberei und Geisterbeschworunj anzugleichen.

Der Ausgleich zwischen zweckhaftem und transzen dentem Streben beginnt in dem Punkte, wo die Bittt das innere Erlebnis herabruft und die Herzensbewegunj auf das allgemeine Verhaltnis des Gottlichen zum Mensch lichen sich einstellt. Die vier spateren Bitten des Vater unsers geben von diesem Stande Zeugnis, den man als di( Symbolik des transzendenten Erkennens ansprechen darf Meditation Der letzte Schritt ist getan, wenn das Gebet nich mehr dem Willen dient und entspringt, sondern das in tuitive Erwachen und Dasein des Menschen zweckfre ofFenbart. Dann ist seine Form nicht mehr die Litanei sondern die Meditation; die Bitte hebt sich selbst au in der schauenden Hingabe: nicht mein Wille geschehe sondern dein Wille; und das Symbol fallt mit seinen Gegenstande, dem transzendenten Erlebnis, zusammen Denn nun geschieht ein Zeichen vollkommener Realitat die Willenswelt sinkt ins Schattenhafte, und die hohen Beziehung wird zur wesensvollen Wirklichkeit. Di< Wiinsche schweigen und die Liebe redet, und das, wo von die Stimmung des irdisch Liebenden ein Abglan: ist, das Einklingen der Natur in ein geheimes, leuchten des Verstandnis, erfiillt die Seele. In diesem Erbliiheit eines Wechselseitigen fiihlen wir, wie unbegreiflich ver lassen wir im liebsten Leben waren, und wissen, dai wir niemals wie der vereinsamen konnen. Geheimniss*

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werden diesem Fiihlen ofFenbar, iind die unzulanglichen Deutungen, die wir aus jenen Erlebnissen in die Welt des Denkens herabtragen, bilden den Reichtum des den- kenden Lebens. Niemand aber ware imstande, eine Beute elender Wunscherfiillungen mit diesen Gescbenken zu retten ; es entspricht dies der Symbolik des Marchens, die das gescbenkte Blatt in ein Juwel, das geraubte Gold in Moder verwandelt. Dal5 die Augenblicke der Ver- sunkenheit schnell entschwinden, beklagen wir nicht, denn sie sind Zeugnisse und Borschaften, nicht alltag- liche Funktionen dieses Lebens, in das wir nicht gesetzt sind, es zu verachten, sondern es zu erfiillen. Es ware itranszendentaler Betrug und vergeblich, wollten wir Schranken und Entwicklungen iiberfliegen, die zu iiber- winden und in der Uberwindung zu erstarken uns be- stimmt ist. Keine Vermengung des irdischen Werkes mit dem Ubermachtigen frommt, toricht und schlecht arbeitet der, welcher die Sache verleugnet, um falschen Lohn zu erlisten.

Es ist verfanglich, davon zu reden, und unerlaubt, iVunder davon zu schweigen, daf5 das Ereignis, welches wir ein liWunderbares nennen, weil es der gewohnten Folge der Kausalitat nicht entspricht, in diesem Gedankenkreise iiberhaupt, und vornehmlich im gegenwartigen Zusam- menhange, nicht als unmoglich und widersinnig ausge- schlossen werden kann. Denn wir diirfen niemals ver- gessen, dafi die Welt der Wahrnehmung in unserem Sinne gleichsam als eine Vereinbarung zwischen alien Teilen der Geistigkeit zu gelten hat; innerhalb dieser Verein- barung ist jeder Teil fiir sich frei, und nur die Komplexe folgen, gemafi) dem Gesetz der grofien Zahlen, erfah- rungsma£)ig und annaherungsweise fixierten Formeln,

227

welche wir Naturgesetze nennen. An sich ist die Ver- einbarung nicht unverbruchlich; eine schwer zu den- kende, doch nicht unmogliche Revolution der Geistes- elemente konnte sie brechen, indem sie dutch Umge- staltung der Inhalte gleichsam die Orchestersymphonie in andere Tonart und Spielweise iiberspringen liefie, wobei die umgestaltete Eiinnerung selbst die Vetgangen- heit verwandelte. Denkbar ware der partielle Eintritt dieses unendlich Paradoxalen in einem Moment, wo eine aufs hochste gesteigerte seelische Individualitat sicb selbst, und mitreiI5end andere Teile des Gemeinschafts- bildes erneut und umformt. Diese Vorstellung, wenn man sie recht betrachtet, hat nichts von jener zaube- rischen Willkiir, die das Wunderbare dem Aberglauben genehm und uns suspekt macht; denn es ist durch keine Bettelei und Kalkulation erzwingbar. Der krasse Intel- lekt, der das Wunderbare nicht sieht, kann Wundei weder wirken noch erblicken. Kinder und Neger ent- setzen sich, aber sie erstaunen nicht; und das, wovor sie sich entsetzen, ist das wahrhaft Alltagliche, sofern es nui quantitativ und mechanisch vom Gewohnten abweicht. Wir werden jedoch im unmittelbaren Anschlufi noch andere Denkformen zu erwagen haben, welche die Gren- zen der mechanischen Naturvorstellung durchbrechen. Denn bevor wir den ersten Teil dieses dritten Buches. die Ethik der Seele, beschlieI5en, liegt es uns ob, die Eudamonistik eudamonistische Seite dieser Ethik zu beriihren. Ihre sachliche Bedeutung innerhalb unseres Systems ist ge- ring; wir bediirfen des irdischen Gliickes weder zum Beweise noch zur Verfiihrung; und ware die einzige Folge der Seelenevolution das Leiden, wie es ja untei ihren Forderkraften eine der hauptsachlichen ist, sc

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wiirde der Glaube und die Wahrheit uns dennoch zwin- gen, fiir die Seele zu zeugen.

Um ihrer seltsamen Ausblicke willen betrachten wir diese Gliickslehre, und kurz. Deshalb scheiden wir das Gebiet leiblicher Lust und Schmerzen aus, von dem frei- lich manches zu sagen ware: denn wir leiden und ge- nielSen nur so viel, als unsere Seele will und zulal5t. Da wir hier nur von den Leiden des Herzens handeln wollen, so beginnen wir nochmals von ihrem Prinzip: der Siinde.

Alle Sunde ist Mangel an Liebe, und alles Leiden Leid unJ SUnJe kommt aus der Siinde, eigener und fremder. Wut, Hafi, Eifersucht, Miligunst, Neid, Scham, Gier, Furcht sind Leiden aus eigener Siinde, Mitleid, Gram, Kummer, Sorge, Zorn sind Leiden aus fremder und eigener Siinde.

Dafi die Siinde nicht zur Ruhe kommt, dal5 sie „fort- zeugend Boses gebiert", ist eine so tief wurzelnde Vor- stellung aller Theologien, dafi die verschiedenartige Begriindung der anscheinenden Ausnahmen, des Hiobs- problems, geradezu als die Festigkeitsprobe der dogma- tischen Gefiige gelten kann. Wurde das erzeugte Bose mit Mifigeschick und Ungemach gleichgesetzt, so mul^te eine juridische Vergeltung eingreifen; kam diese hie- aieden mit ihrer Aufgabe nicht zu Ende, so mulite ein lenseitiges Nachsitzen das Urteil erfiillen. Eine subtilere Vorstellung liefi Siinde aus Siinde entstehen und ver- egte die Fortsetzung dieses Prozesses in den Erbgang; 2ine freiere Kiihnheit, die nicht davor scheute, das schuld- lose Wesen zu belasten, um der empfundenen Wahrheit zu zollen.

Die Gleichsetzung der Siinde mit dem Leiden und ErhsitMig der lie Ausdehnung ihrer Wirkung weit iiber den Erbstamm l^i^J^"" Mnaus auf alles gleichgeartete Leben fiigt in das alte

Erfahrungsbild eiuen Zug ein, der es unserer Erkenntnis anpafit iind der als das Gesetz von der Erhaltung der Siinde oder des Leidens bezeichnet werden kann. Das siindhafte, das heifit lieblose Denken und Handeln hat ein Objekt dafi dieses mit dem Subjekt zusammen- fallen kann, ist zu beachten , und dieses Objekt ist nunmehr Gegenstand eines AngriiFs, einer Schadigung, und Trager eines Leides geworden.

In dem willentlich zum Leiden gefiihrten Geschdpf erwacht als Reaktion ein liebloses Gefiihl, eine Bitter- keit, die als Kummer oder Rachsucht, als Arger, Ressen- timent, Scheu oder Hafi so stark werden kann, daI5 sie ein Leben, ein Geschlecht, einen Stamm beherrscht. Dal5 auch die leisesten Regungen dieses Gefiihls den Bestand an Liebe mindern, das empfindet jeder, der mit einem mifihandelten Kind oder Tier gefuhlt hat; dieser Verlust wird jede kiinftige Empfindung und Handlung um ein Geringes aus der Richtung lenken. Deshalb ist die Siinde konstant; jede Lieblosigkeit bringt ein Leiden in die Welt, das in Ewigkeit fortwirken kann. Leiden und Kann; denn schon dem intellektualen Menschen ist er- moglicht, was dem seelenhaften an sich beschieden ist: das Leiden zu mindern und die Liebe zu mehren. Die niederen , weil unschweren Tugenden der Gerechtig- keit, Barmherzigkeit und Dankbarkeit erfiillen das not- diirftige; die erste, indem sie das als verdient erachtete Leiden ohne Bitterkeit hinnimmt, die beiden anderen, indem sie, gleichviel aus welchen Motiven, Keime der Liebe ausstreuen oder bewahren. Die hohe Tugend der Selbstverleugnung aber vollbringt das eine, wahre und tatige Opfer der Liebe, dem Intellekt unendlich schwer, der Seele selbstverstandlich: Freude fiir Leid der Welt

230

einzutauschen. In diesem Sinne wirkt das Seelenhafte und Seelengerichtete irdisch-eudamonistisch, und in diesem Sinne haben die Religionen, die das freiwillige Siihnopfer preisen, recht: der Opfernde zieht das Leiden derWelt an sich und saugt as auf ; der siindhafte Keim wird getotet, bevor er ins Kraut schiefien und neue Frucht ttragen kann.

Bedeutungsvoll ist es, bei der Schwierigkeit desOpfers Gefuhiston des einen Moment 2u verharren, denn ihre Betrachtung laibt uns den Gefuhiston ahnen, der mit der Seelenwerdung verbunden ist, die ja, wenn man den Akt der Evolution vom banal -mechanischen Standpunkt betrachtet, als fundamentale Schwierigkeit gelten kann. Das Vorbild dieser Schwierigkeit ist nicht die Uberwindung einer Kraftanstrengung oder eines Schmerzes, sondern viel- mehr ein ahnliches ZusammenrafFen der inneren Krafte, wie es uns aus der Konzentration des Denkens, aus der Abschiittelung der zerstreuenden, tragen oder geliisten- den Versuchung bekannt ist. Dieser freie Aufschwung, der mit angstlichem Verzicht und Selbstzwang nichts gemein hat, wird den Menschen schwerer als Dulden und Placken, das beweist die Furcht vor eindringlichem Denken; denn auch hier werden neue Krafte erfordert, die zwar nicht schmerzen, jedoch so blendend schrecken wie das Losreifien aus tiefem Schlaf. Hier spiiren wir Gefuhiston aiiei etwas von der grenzenlosen Entfremdung und schnei- denden Trennung, die jedem Entwicklungsschritt der Schopfung vorangegangen sein mag, gleichviel ob ein Menschenvorfahr den aufrechten Gang oder ein bahn- brechender Denker die produktive Idee aus sich losrifi. Hier ist die Lebenskraft, deren inneres Wesen wir be- trachtet haben, als objektive Erscheinung am Werk, und hier empfinden wir gleichsam ihren herben und gottlichen

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Geschmack. Dem Geschopf der langen Ruheperioden, des generationenlangen Stillstandes im Gange der Ent- wicklung sind diese katastrophalen Gefuhle erspart und fremd, deshalb darf es sich den legitimen Versuchungen der Tragheit, Zerstreuung und Lust hingeben; soil das grofie Opfer gebracht werden, sei es der Selbstverleug- nung, der Genialitat oder der Seelenwerdung, so bedarf es eines Erweckens: dies ist ausgesprochen in der ratsel- haften vorletzten Bitte des Vaterunsers. i

Problem des Manchem wird es nicht geniigen, erkannt 2u haben,

dafi das Selbstverleugnungsopfer das Leiden aus der Siinde totet. Er wird bemerken, dal5 das blinde Ge- schehen, der fallende Stein, Wind und Wetter, Feuer und Wasser und manche andere tote und lebende Un- bill Leiden schafFt, und er wird wiinschen, dafi ein etbi- sches Dasein liber eine Instanz der Appellation und Ver- sicherung verfiige.

Es ware eine harte Antwort, zu erinnern, welcher seelenbildende Wert dem Leiden innewohnt, und aus der Not das Rezept zur Tugend zu machen. Es ware eine leichte Antwort, zu erklaren, dal5 jeder nur soweit des Leidens fahig ist, als er an der Welt und an seinen Sinnen hangt. Obwohl es nicht die Aufgabe ist, das irdische Leiden wegzuloben, um einem empfohlenen Zu- stand Platz zu machen, sei zum Beschlufi des ethischen Kapitels auf einen Denkweg verwiesen, der zwischen Sittlichkeit und Schicksal eine Verbindung gestattet, so dal5 unsere Herzen, die im Drange zum Licht vor dem Dunkel der Erdenbahn erschauern, eines Trostes imUber- gang nicht ermangeln. Gesetz der Man sagt: „kleine Ursachen, grol5e Wirkungen", und us sung ^g^j.g^ damit unbewufit auf ein ernstes Naturgesetz, das

232

I

alles Geschehen beherrscht und das man als das Gesetz der Auslosungen bezeichnen darf. Ein Erdbeben, ein Gewitter, eine Kesselexplosion, ein Grubenunfall, ein Krieg soil und wird kommen; die grofien und unaus- weichlichen Vorbedingungen und Koinzidenzen sind ge- geben. OfFen bleibt im Sinne eines idealen Kenners

I aller grol^en Umstande Stunde, Minute und Sekunde des Beginnes, Millimeterfleck der Ziir dung oder Ent- ladung: das heiI5t die Daten, die fiir das Einzelgeschick

, entscheidend sind. Diese Daten bleiben bis zum letzten Augenblick in scheinbarer Fluktuation, ahnlich wie friiher in ein fertiges Bild die Spitzlichter ganz spat und mit leichter Hand eingesetzt wurden. Darin nun besteht das Prinzip der Auslosung, dafi) das Wegraumen der letzten Hemmung, und somit die entscheidende Bestimmung von Ort und Zeit des Ausbruchs, mit ihnen aber auch die

I wichtigen Einzelheiten des Verlaufs, durch eine minimale Leistung erfolgt, die mit den Grundbedingungen in kei- nem Zusammenhang zu stehen braucht. Dieses DifFe-

irential der Leistung, und in erhohtem Mafie wiederum seine eigene Auslosung und so hinauf ins Ungemessene entzieht sich immer weiter der Beobachtung und Be- rechnung: und schlieiLlich ergibt sich, dal5 alles Welt- geschehen als Integral von Auslosungen aufzufassen ist, dafi mithin alles Geschehen, sofern es auf Befreiung potentieller Krafte hinauslauft, in jedem Zeitpunkt durch relativ wenige, verschwindend kleine Krafte umgestaltet wrerden kann.

Nun sind aber alle uns bekannten Naturgesetze em- pirische Regeln, die sich auf Massenerscheinungen be- dehen. Ihre Anwendbarkeit beruht, wie wir dargelegt iaben, auf dem Prinzip der grofien Zahlen, das heifit

^U

aut emer mit der Massenhaftigkeit wachsenden Wahr- scheinlichkeit. Von einer Gesetzhaftigkeit der Elemente wissen wir nichts und die Erwagung hat gezeigt, dal5 sie mit zunehmender Unterteilung sich der Freiheit nahern.

Somit ist an dieser Stelle die hypothetische Einsetzung I eines Entscheidungsfaktors statthaft, der vom mechani- ; schen Geschehen unabhangig gedacht werden darf. Dies j ist das Ergebnis einer Betrachtung, die sich ganz und gar \ innerhalb der Erscheinungweihe bewegt. |

Vieldeutig- Uberschreiten wir diese Reihe und erinnern wir uns

schehens " ^^ ^^^ Vorstellung der Welt als einer Vereinbarung des : Geistes, so gelangen wir zum zweitenmal an die Mog- j lichkeit einer Beeinflussung ihres Bestandes dutch Wir- | kungen, die aufierhalb empirischer Gesetze liegen. Ja, ji es ist uns gestattet, in grundsatzlicher Erwagung nochJ tiefer zu dringen und die Frage zu stellen, ob dennj irgend eine Notwendigkeit verlange, die empirische Er-j scheinung als eindeutige Funktion der geistigen Wirkung zu statuieren. Diese Frage aber kann nicht kategorisch bejaht werden, und somit ergibt sich die Moglichkeit eines Gesetzes von der Vieldeutigkeit des Geschehens. Es ist mithin von beiden Seiten der Betrachtung aus gestattet, neben der voluntarisch-kausalen Ordnung des;i Geschehens beliebige andere Ordnungen anzunehmen, von denen die ethische Ordnung, beruhend auf den ab-j soluten Werten des Guten und Bosen, die plausibelstej sein wiirde. Lafit man sie zu, so gelangt man zu jenerj dem Menschengeist vertrauten Verkniipfung zwischenj Gesinnung und Geschick, die Vergeltung heiI5t, und es-l greift: in das mechanische Geschehen ein Machtfaktorj em, den man als den damonischen bezeichnen kann.

i34

fl.

DIE ASTHETIK DER SEELE

Die rezeptive Beziehung zur Natur, welche wir Natur- Naturempfin-

r ^ 1 J. J I 1 denundKunst

empnnden nennen, irnd die produktive Beziehung zur

Natur, welche wir Kunst nennen, sind in ihrer reinen

Form Funktionen der Seele. Sie sind es nicht immer

gewesen; so, wie die Sprache, das Denken, der Glaube,

sind sie zuerst aus nothaften, zweckhaften und spielen-

den Trieben geflossen. Aber in gleichem Schritt, wie

sie aus den Banden des Zweckes sich losten, traten sie

aus der Domane des Intellekts in den Bereich der Seele

iiber, und ihre Aufnahme in das Gebiet reiner, iiber-

(intellektualer Empfindung vollendete die Lauterung von

zweckhaften Schlacken. Im Stromen und Mischen der

Volkswellen konnte dieser Gang nicht stetig bleiben;

Kulturen und Uberlieferungen gingen vielmals verloren,

Kunst und Kunstempfinden sanken zuriick, dennoch zeigt

uns das Bild der Zeiten, im weitesten Umkreis betrachtet,

jeneBewegungsrichtung, die demSeelenwege derMensch-

[heit entspricht.

Wir kennen von der Vergangenheit zuviel; einJahr-Grenzen hi-

hundert gliicklicher Forschung und einseiriger Ausdeu- ^J^^^J^^^^ ^"

tung des niitzlichen, aber mechanischen Entwicklungs-

^35

das, wwm

prinzips hat unseren Blick so sehr gescharft fiir das, war und was wurde, daJ& wir uns tauschen liber das, was ist. Die Herleitung abwarts von der Steinkohlen- formation belehrt uns iiber den Anpassungsmechanismus der Pflanze, aber nicht iiber das Wesen der Rosenbliite; die Herleitung der Kunst aus Schmuckbediirfnis , Spiel, Nachahmungstrieb und Zauberei erschopft nicht ihren nachgeborenen Seelenwert. Gipfel und Hohepunkte und Bliitezeiten einzelner Kunstformen mogen unwiederbringlich, ja den Nachgeborenen unfair- bar sein, aber sie bedeuten nicht das letzte Gipfelziel planetaren Naturbewui5tseins , von dem ein jeder Ab- stieg geraden Wegs zum Verfalle fdhrt; sie sind Hoch- wellen einer Stromung, die mit steileren oder weicheren Kammen einer anderen Feme entgegen zieht. Niemals wieder werden wir die Monumentalitat der Agypter und das Formgefiihl der Griechen erleben; die grol5en Gebiete der handwerklichen Halbkunst, einschlielMich der Architektur, sind im Sinne echter schopferischer Gestaltung unrettbar vernichtet durch 'die Mechanisie- rung der Produktion; die edelsten Ausdrucksmittel : Sprache, Schrift, Ornament, Melodie, haben ihre Bild- samkeit und Keimkraft eingebiiJ&t, und dennoch ist das freie, selbstbezweckte Verhaltnis zur Natur im Fiihlen und SchaiFen niemals machtiger gewesen als in den Jahrhunderten , die uns umgeben. Die Natur Michel- angelos, Shakespeares, Rembrandts und Goethes ist von tieferen und hei£)eren Kraften durchdrungen als die ein- fachere und voUendetere Natur Homers und Polyklets. | Wierke, die nicht mehr dem Kult, nicht mehr dem Ge- I dachtnis, der Politik, Sitte, Reprasentation , Erbauung und Unterhaltung dienen, die ganz auf sich selbst ge-

^^6

stellt, um ihrer selbst willen erschafFen werden, ver- lieren manches von ihrem Halt, vom Halt der Tradition, des Handwerks, des Verstandnisses ; aber in der gewaltigen Abstraktion ihres Vertrauens auf ein Absolutes in Natur und Abglanz gehorchen sie allein der Kiihnheit der Seele und erheb.en sich iiber irdische Bediirftigkeit. Die wahre Kunst unserer Zeit, die einzige vielleicht, die in Jahr- tausenden nicht vergessen sein wird, Musik, verklart sich, vorbildlos und selbsterzeugt, auf den Gipfeln ihres SchaiFens zum reinen Werk der Seele. Ihr Dasein allein geniigt, um uns eines Menschheitsweges zu versichern, auf dem ein jeder Schritt uns liberirdischem Erleben entgegenfuhrt.

So wenig der Wehrstand einer Epoche gemessen Zeitliche Zu- werden kann an der Zahl und Bedeutung der gleich- zeitig wahrnehmbaren strategischen Talente, oder der technische Stand an der Menge der Erfinder, so wenig diirfen wir die asthetische Hohe unserer Jahrzehnte nach der Qualitat momentaner Potenzen beurteilen. Wir leben nicht in einer Kulturepoche , sofern unter diesem Namen eine Epoche jener grofien Schichten- mischungen zu verstehen ist, welche die hochsten Krafte einer Nation entfesseln und in neue Richtungen lenken, wir sind umgeben von geschandeten Stadtbildern, rohen Bauwerken, elendem Hausrat und albernen Monumenten; wir erblicken jahrlich Hunderte von schiilerhaften Mal- werken, lesen taglich einen Folianten Tagesgewasch und horen die Katzenmusik der Klaviere und das Wimmern der Grammophone ; und dennoch ist zu keiner Zeit ein hoheres Kraftmai^ musischen Geistes in Bewegung ge- wesen. Es lebt in uns das Fiihlen der Zeiten und Volker, das Mitklingen und Erinnern unseres inneren

237

ItaS

Sinnes wird fast zur Qual, und die Naturliebe der Sta| geborenen grenzt an Leidenschaft. Mag die Ku unserer Tage gute oder schlechte Wege gehen, mag ihr Handwerk verfeinert oder verdorben sein, mogen grofi)e oder kleine Geister sie fiihren : die Ebene , auf der ihr Fiihlen sich bewegt, ist im Laufe der Geschichte von den hochsten Kulturen kaum Jahrzehnte lang behauptet worden. Nicht um der Eigenliebe zu opfern, denn unser Menschenalter erbte mehr als es erwarb, sondern um das Auge auf GroiLen und Entfernungen ein- zustellen, miissen und diirfen wir bekennen: im Sinne der Menschheitsentwicklung sind wir Beethovens und Goethes, ja Shakespeares und Rembrandts Zeitgenossen; und in Wahrheit leben sie mit uns, denn das Leben ihres Geistes hat eben erst in uns begonnen. Absoluter Diese Orientierung mufite vorausgeschickt werden,

denn wenn es sich darum handelt, die beherrschende Richtungsresultante eines Weltempfindens aufzusuchen, so geniigt es nicht, der Kunst der Griechen und Floren- tiner nachzutrauern. Wir miissen wissen, wo wir stehen, wenn wir den durchlaufenen Weg (iberblicken wollen. Wir wollen wissen, ob die Evolution der Seele sich im Gang des Naturempfindens und KunstschaiFens wieder- findet; wir wollen versuchen, das Wesen dieser Krafte zum Wesen der Seele in ein Verhaltnis zu setzen, und diirfen aus diesem Verhaltnis vertiefte Erkenntnis von der irdischstenForm transzendenterErscheinung erhofFen. Asthetisches In friiheren Schriften habe ich asthetisches Empfinden ^^"^ g®^^^ definiert als die unbewu&te Wahrnehmung einer natiir- lichen und latenten Gesetzmal5igkeit. Diese Definition be- schreibt das Wesen der ratselhaften Empfindung, aber sie erklart das letzte nicht: das Gliick, das sie in uns auslost.

438

Aus der Erkenntnis der Seele wird dieses Gliick be-

! greiflich. In einer Wahrnehmung, die nicht bewul^t,

und dennoch im hochsten M^ihe sicher und untriiglich

ist denn selbst eine primitive Empfindung, wie die

des vollkommenen Kreises, steht unantastbar und den-

: noch befreit von jedem messenden Wissen da : in

\ solcher Wahrnehmung gewinnt der Geist die Zuversicht

eigener freier Krafte, die nicht an die Not des Intellekts,

1 des Zwecks und des Bedtirfnisses gebunden sind. In Psychische

1 dieser Zuversicht liegt die friiheste Ahnung des Seelen- ^ ^

[ haften, friiher als die aus Furcht und Leiden erwach-

i sende Religiositat, und friiher als die aus griibelndem

\ Sinn genahrte Spekulation. Das Gliick aus Natur und

Kunst ist Ahnung der Seele und daher irdisch-gottlich;

I aber iiber diese Ahnung hinaus, die in staunendemSchreck

schon der erste von Menschenhand gezogene geome-

i trische RiH) anklingen lieU), bringt es die Kunst auf der

hochsten StafFel ihres Parnasses nicht. Vom Tage ihrer

Geburt an war sie zweckfrei, auch wenn sie zu Zwecken

mil5braucht wurde : denn das Gliick, das sie spendet, hat

mit ihrer Verwendung nichts zu tun; und somit war sie

\\ iiberintellektual. Aber bis zum Tage ihres Verendens

bleibt sie an die Sinne gebunden und somit der organi-

schen Welt verfallen; das letzte Reich der Seele betritt

sie nicht.

Im Wesen der Freude an Kunst und Natur, das ist Kunst als Ver- an mittelbar und unmittelbar erschauter Schopfung, ist ^^^ Seele somit eine Verkiindung der Seele von Anfang an ge- geben; und so mechanisch der Satz von der latenten Ge- setzmal^igkeit anmutet: er bedeutet die sichtbare Seite einer Evolution, deren inneres Geschehen transzendent ist. Denn entsprechend dem iiberintellektualen Wesen

^39

der Seele liegt der Akzent des Satzes auf der Unbewulit- Kunst, Wis- heit des Erkennens. Wird eine natiirliche Gesetzmafi)ig- Rezept ^^1^ bewuI5t erkannt, so entsteht Wissenschaft; das Ver-

haltnis zum Angeschauten wird ein intellektuales ; wird eine bewuf5t gewordene Gesetzmafiigkeit kiinstlerisch verwertet, so entsteht ein Kunstrezept, das Verhaltnis zur Produktion wird ein mechanisches. Deshalb ist die|

Flucht zum Flucht vom Erkannten zilm Unerkannten die Geschichte

Unerkannten j yr .... m* i i

der Kunst; was gestern mit intuitivem Blick erschaut,

mit ungewohnter Hand geformt wurde, ist heute Kunst-

auffassung und wird morgen zum erlernbaren Rezept,

zur toten Handfertigkeit. Und deshalb ist nach Goethes

Wort „das Gute stets das Neue", deshalb ist Kunst so

ewig jung wie Natur und der produktive Mensch ein

stets sich verjiingender.

Historischer Vor Jahren habe ich auf den alten, fliehenden Wef

^ der bildenden Kiinste hingewiesen, der damit begann,

dal5 der Mensch aus der Mannigfaltigkeit der Natur-

gebilde die einfachsten Gesetze der geraden Linie und

der regularen Kurve losloste, die angenahert iiberall, in

Vollkommenheit nirgends sich darboten, und nunmehr

kiinstlich hervorgebracht in idealer Abstraktion die erste

reine Kunstfreude gewahrten. Zahllos sind die Gesetze,

die im Verlaufe geahnt, erfal5t und erkannt wurden:

zuerst das Geheimnis der Umril51inie und des organischen

Korperbaus, der Reiz der Symmetrie, der Raumteilung,

der Raumausfiillung, des Gleichgewichts und Kontrastes,

das Gesetz der Bewegung, des Ausdrucks, des Rassen-

ideals, der Gruppierung. Es folgten Perspektive, Ver-

kiirzung, Uberschneidung, Schattierung, dann Gesetze

des Raumes und der Landschaft: Kompcsition, Beleuch-

tung, Luftperspektive, Stimmungsfaktoren, Lichtwerte;

24©

und zuletzt jene andeutenden, bewegten, hauchenden und erregenden Klange des empfundenen Augenblicks, die uns reizen, weil wir sie noch nicht ergriindet ihaben.

I Die Frage nach der Zentralbewegung der Kunst und

iNatur verbietet uns, bei der geschichtlichen Einzelbe-

trachtung zu verweilen. Unser Blick bleibt zerstreut,

auch wenn wir den Parallelwegen folgen und darzu-

stellen suchen, wie neben der bildenden Kunst, welche

die Gesetze des Erschauens offenbart, die Kiinste der

; Dichtung und Musik die Gesetze des Erlebens und der

I inneren Bewegung Schritt fiir Schritt enthiillt haben und

s enthiillen. Wir miissen den Blick auf zusammenfassende

Fernen richten und zunachst Grundsatzliches sondern,

um kontrastierende Rhythmen zu empfinden.

So bieten denn drei grofie Gruppen von Gesetzmal5ig- Die drei keiten sich dar: zunachst solche, die als objektive be- Qese^xniafiig- zeichnet werden konnen, weil sie^mit einer im Sinne^^^^* dieser Betrachtung ausreichenden Objektivitat in den Dingen selbst liegen, wie etwa Symmetrie, Umrill>, Cha- raktere, typische Lebensvorgange, Naturrhythmen. So- dann Gesetzmafi)igkeiten des Mittels : Erscheinungen der Oberflache und Masse von Stein, Holz, Erz und Ton, von Figment, Gewebe und^Papier; Bedeutung, Klang und Rhythmus von Worten und Redegefiigen; Tonwirkung und Klangfarben von Stimmen und Instrumenten. End- lich die subjektiven Gesetzmafiigkeiten des empfangen- den und produzierenden Menschen: charakteristische und personliche Vorlieben und Abneigungen, unerforschte innere Zusammenhange, Willenswahlen und Erregbar- keiten, Srimmungen, Leidenschaften, Sehnsiichte und Ahnungen.

141

Typische, In jeder Kunst- und Naturbetrachtung vermiscl

und subjek-si^^ Elemente dieser drei Gruppen, jedoch so, da rive Kunst einer der Komplexe vorherrscht; wir diirfen uns dahe der Bezeichnungen vorwiegend objektiver oder typische Kunst, technischer Kunst und subjektiver Kunst bci dienen. mm

Typische Der altesten Kunst, gleichviel ob sie aus dem Bediirf nis des Spiels, der Nachahmung, des Schmucks oder de: Zauberei sich herleitete, war es um die erkennbare Nach schaffung des Gegenstandes zu tun; die Freude bestanc im Wiedererkennen des Dinges und Vorgangs: „so sieh es aus, so trug es sich zu". Das Produkt wurde beurteili wie der Gegenstand: hat es alle wesentlichen Teile? Isi es wohlgestaltet, tuchtig und brauchbar? 1st der Vor gang wahr und glaubhaft? Kunst war die eigentliche Uberlieferung, und insofern war sie anonym, wie heutc die Tatigkeit eines Druckers, eines Reporters oder einej Ministerialbeamten; was keineswegs ausschlofi), dafi eir in seinem Fach bewanderter oder gar erfinderischei Handwerker-Kiinstler gesucht, bekannt und beriihmt wer- den konnte wie ein tiichtiger Arzt oder WafFenschmied. BeheifeundKon- Da aber keine Kunst der absoluten Nachahmung dej in jedem Sinne unendlichen Natiirlichen fahig ist, so ist sie an zahllose Notbehelfe, Auslassungen, Umschreibun- gen und Fiktionen gebunden. An diese Behelfe ge- wohnen sich Horer und Beschauer im Laufe der Zeit so eindringlich, dal5 sie ihr Vorhandensein nicht mehr be- merken, ihr Fehlen als Unnatiirlichkeit und Willkiir emp- finden. Die Behelfe sind zur Konvention geworden, und der Zauber dieser Konventionen ist so stark, dafi sie in die Natur hineingesehen werden, die somit die Ziige des konventionellen Erinnerungsbildes annimmt.

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ventionen

Nun wird vom Volk und Machthaber das GGSchoip ( Konvenmn ah des Kiinstlers, die Konvention, gegen den Kiinstler selbst verteidigt; er wird gezwungen, im Rahmen der aner- kannten Regeln sein echtes gesetzmafiig-kiinstlerisches Schaffen auf Neutralitaten zu beschranken. Hochster Autoritat wird es zeitweilig gelingen, einen freien Schritt iim Sinne echter Entwicklung durchzusetzen, der unwillig begriifit, spat anerkannt und zuletzt kanonisiert wird. Indessen bleibt das Wesen typischer Kunst anonym und konservativ; der Einzelne fiihrt aus, aber die Schule ,'schafFt, und durch die Schule schafFt das Volk, langsam schreitend, wie die Natur, aber wie sie, unfehlbar; alles Zufallige wird durch Massen und Zeitlaufte ausgeschal- tet, und die Konvention selbst wird ein Gesetzmalbiges, ein Geistesabdruck des schafFenden Volkes.

Solcher Zustand ist nur unter langatmiger Herrschaft Typische Kunst kontrollierender Faktoren denkbar; Dynasrien, Adels- klassen oder Priesterschaften miissen die Menge gegen- satzlich regieren, der Handwerker-Kiinstler mul5 etwas mehr als ein bevorzugter Sklave, aber weniger als ein Ge- nosse des geborenen Herrn sein. Die Kunst selbst aber gewinnt unrer dieser Verwaltung alle Starken eines Natur- produkrs. Handfertigkeit und Technik steigen auf eine anbegreifliche Hohe, die vertiefre Kenntnis des darge- stellten Organismus und die erfahrene, aufs Wesenrliche vereinfachte Darsrellung sreigern sich wechselseitig; die Iciinstlerische Kraft, komprimiert und beschrankt auf den 2ngen Spielraum der Niiance und leichten Abwandlung, ieistet in der Abwagung der Mittel, der Ausfiillung des Normnttve Kraft gegebenen Rahmens, im Studium der Wirkung, m mal5- j^^^.^ roller Charakteristik und Sicherheit der Proportion das demals zu Ubertreffende. Nur in solchen Kunstepochen

der Tradition und des natiirlichen Wachstums erbiiiheii giiltige Formen des Ornaments, des Baugliedes, des orga- nischen Kunstwerks, sie entstehen als natiirliche Schop- fung, Verkorperung eines kollektiven Empfindens, wi^ Sprachen, Tonsysteme, Nahrungsbereitungen und Trach- ten. Darum muSten bis in die jiingste Zeit alle Versuchc klaglich scheitern, die darauf hinausliefen, mit Tinte unc Papier Bauordnungen, Ornamentstile, Weltsprachen unc Kunstformen zu erfinden oder zu konstruieren. Kritsk der typi- In der Weltokonomie der Kunst fallt somit den typi schen Kiinsten die Aufgabe zu, Vorlagen zu schafFen das Mali) des manuell Erreichbaren festzulegen und ge wissermaf5en ein Arsenal idealer Schopfungsbilder zi vollenden, das einem irdischen Abbild der gottlichei Vorratskammer des Plato nicht unahnlich ist. Es ist, al seien diese Werke vorausschauend geschaffen worden um in Museen geordnet einer spaten, leidenschaftlicherei und unruhvolleren Zeit reine und befreiende Andach zu erwecken. Deshalb ist jede Riickkehr zur klassischei Kunst einer indirekten Riickkehr zur Natur gleichzu setzen; eben deshalb ist aber auch jeder Versuch ver geblich, mechanisch und didaktisch eineFortsetzung diese: Kunst zu erzwingen. Erfrischung und Heilung vermaj sie zu spenden, jedoch nicht Leben. Technische Die Ordnung der Gesetzmal5igkeiten, die aus den Kunstmittel abgezogen sind, hat, abgesehen von kunst gewerblicher Technik, ein autonomes Leben nicht ge fiihrt. So bedeutungsvoll die Durchforschung und Aus schopfung des Mittels, seiner Geheimnisse und Gesetz* sich dem Kiinstler erweist: Wort und Materie, Klani und Farbe an sich sind tot; ihre Schonheit gewinnt Lebei nur im Dienste eines Hoheren. Werden die Gesetz<

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I

des Mittels verkannt oder verachtet, so entsteht Dilet- tantismus, werden sie liberschatzt, so entsteht Virtuosen- und Asthetentum. Es ist schlechte Kunst, die Marmor wieTon behandelt, die mit Olfarbe tuscht und im Kanzlei- stil dichtet, und es ist schlechte Kunst, die nur um Wbrt- klang, Farbschmelz, Pinselstrich und Klangfarbe wirbt. Wie das Mittel zum Werk, so verhalt sich die Kunst des Mittels zur Kunst schlechthin: unentbehrlich im Dienst, in der Anmafiung unertraglich.

Wir betrachten technische Kunst hier nicht langer, da sie sich als Begleiterin, nicht als Erzeugerin der Epochen erweist, und wenden uns zur dritten Reihe der Gesetzmai^igkeiten, zur subjektiven Ordnung.

Stellt typische Kunst sich die Aufgabe, Gotter und Subjektive Menschen, Tiere und Pflanzen so darzustellen, dafi sie den Augen der Machthaber und Volksgenossen erkenn- bar und vertraut erscheinen, so vermag sie dennoch das Individuelle des Modells und das Persdnliche des Ge- .staltenden nicht ganzlich zu verwischen. Wohl oder iibel Indhiduansie- macht das Bildnis Anspruch auf individuelle Ziige, das ^^^ *" lyrische Gedicht kniipft sich an ein personliches Erleb- nis, gleichviel, ob der Wille ihm das Einmalige abzu- streifen sucht, die Landschaft ist in ihren Ziigen so viel- hc\x unendlich, daf5 allem Herkommen und Schulgesetz i£um Trotz in der willkiirlichen Auswahl subjektive Nei- ^ung sich oiFenbart. Aber diese Menschlichkeiten gelten lis Schwache vor dem Antlitz einer erbarmungslosen fCunst, die eine zufallose gottliche Welt, geformt von ^ottlichen Handen, in Anspruch nimmt.

Ist diesem koniglichen Anspruch gegeniiber eine lohereTranszendenz denkbar? Noch heute glauben viele, ind wer den Zauber Griechenlands erlebt, glaubt es von

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neuem: die Idealitat irdischer Vollendung sei durch menschliche Vorstellungskraft nicht zu iibertreffen. Denn was konnte idealer sein als das Ideal, auch wenn es ein irdisches, ein Ideal des Ziichters ist? Individuaiisie- Nicht Christentum und nicht Germanentum, sondern

7e7chfankunglnd^^^ Reifung des Menschengcschlechts^ die den germa- Hingebung nischen Menschen emporhob und ihm in der Vermah- lung mit orientalischem und mittellandischem Geist seine transzendente und kulturelle Vollendung schenkte, diese Reifung hat unser Empfinden so sehr gewandelt, dal5 wir uns getrauen, in der idealistischen Kunst ein ter- restrisches Gebilde zu sehen, das iiberragt wird von trans- zendenter Demut. Die Idealistik konnte nicht weiter gelangen als bis zur Verherrlichung des gattungsmafiig Gemeinsamen; die subjektive Kunst durchbricht die Grenze, indem sie sich bescheidet; sie erbarmt sich des Einzelnen, sie schamt sich nicht der personlichen Be- schrankung und offnet still die Pforte des Seelenreiches. Die klassische Kunst hat dem Werke Rembrandts, Bachs und Goethes nichts zur Seite zu setzen. Sie kennt die Grofie, die Erhabenheit, die Anmut, die Lieblichkeit und selbst die Riihrung, aber sie kennt nicht die Seligkeit der Liebe. iViirde des Ob- Damit aus der Beschrankung die hdchste Macht der ^' ' Kunst erwachsen konnte, mufite die tiefste Ehrfurcht

vor der Wiirde jeglicher Kreatur erschlossen werden. War im Osten der Mensch ein Sandkorn zu Fuf5en des irdischen oder himmlischen Despoten, im Westen ein leidlich freies Glied eines tatigen Organismus, so mul5te endlich die Gottlichkeit seines innersten Kernes ihm jen- seits irdischer Schranken Selbstzweck und eigenes Recht verleihen. Mit dem Menschen geadelt, wurde die Schop-

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fung in das eine Netz der Liebe einbezogen, die Gat- tung sank zum Begriffherab, und Franziskanische Briider- lichkeit trat an die Stelle des Platonischen Ideals.

Die seelenlose Seite des Respekts vor dem Einzel- Versenkung wesen lebt in der abendlandischen Forschung; die seelen- hafte Seite ward der Kunst zuteil. Versenkt sich diese subjektive Kunst in das einzelne Geschopf, das besondere Erlebnis, die zeitliche Stimmung, das einmalige Ereignis, so vermag sie in ihrer Liebe so tief zu dringen, dafi un- bekannte, ewige Gesetze mit ihr emporsteigen. Von jedem Fufibreit Erde fiihrt ein gerader Weg zum Mittel- punkt; wohl dem, der, unbekiimmert um den Zufall des Standorts, kiihn sich hinabstampft.

Freilich ist nunmehr einem jeden sein Los geworfen Wehmut und De- und sein Teil zugemessen; keinem ist das Ganze be-'"" schieden, keinem das Absolute. In diesem tiefen Ver- zichtauf das Vollendete und Endgiiltige liegt jener Kern von Wehmut, der an allem jiingeren Schaffen haftet, den man friih empfand und als Sentimentalitat und Romantik unzulanglich deutete; es liegt in ihm die Demut der personlichen und dinglichen Begrenztheit, die in ihrer Hingabe unendlich stark ist.

Dies ist das Geheimnis aller Personlichkeit: St2ivkQ Personiichkeit aus Schwache. Als Beschrankung empfunden und um so vollkommener ausgefiillt und dargebracht, ist Per- sonlichkeit die edelste Opfergabe des menschlichen Geistes; iiberheblich zugeschnitten, zum Eigenzweck aufgebauscht, als willkiirliche Laune komodiantischer Selbstschopfung, wird sie zur eitlen Gottvergessenheit und Geifiel der Zeit.

Freilich werden universelle Naturen, deren W QSQn Universelle No- sich einer absoluten Menschlichkeit nahert, vom Anblick

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allzusubjektiver Beschrankung, zumal der selbstgefallig gesteigerten, hart betrofFen werden. Deshalb mufite Goethes Urteil die Erscheinung der Romantik als Krank- heit und Besessenheit der Epoche ablehnen; mit gleicher Harte, wie seine eigene Erscheinung von Friedrichs klassischer Bildung als Bizarrerie abgelehnt worden war. An dem grofien Beispiel dieser menschlichen Univer- salitat finden wir eine notwendige Folgerung bestatigt: dafi aus der Feme betrachtet solches Schaffen die Ziige der Subjektivitat verliert, weil es mit dem allgerechten SchafFen der Natur vollkommen iibereinzustimmen scheint. Zu Unrecht hat man deshalb Goethes hochst subjektiven Genius den antiken Schopfern beigesellt; die diametral verschiedene Art des Erlebens und SchaiFens durchdringt alle Fasern seiner Produktion, und diese Verschiedenheit kann man nicht anders als durch den Richtungsgegensatz von aufien nach innen und von innen nach auI5en be- zeichnen. Die Welt Homers verhalt sich zur Welt Shakespeares und Dostojewskys wie die voUkommene Beobachtung zur vollkommenen Einfiihlung. S-hJekuveGc- Versuchen wir nun, von den Gesetzmafiigkeiten uns Kechenschaft zu geben, deren Erschliefiung das Prinzip der subjektiven Kunst bedeutet, so begegnet uns eine Schwierigkeit: es sind brauchbare Bezeichnungen fiir diese Zusammenhange nicht durchweg gefunden; eben deswegen, weil sie fiir den Stand unserer Erkenntnis noch immer latent, somit fiir das Wirken der Kunst noch immer verwendbar sind. Denn da es sich hier nicht mehr um die Gesetze der Aufienwelt handelt, sondern um die Gesetze der Spiegelung, und da der Spiegel selbst, das menschliche Herz, das unerschdpf- liche Spiel des zustromenden Lichtes in neue Unerschopf-K

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lichkeiten spaltet, wird nicht wie im Gebiet des Objek- tiven die nacheilende Wissenschaft alsbald das Erschaute registrieren und das Geahnte nachrechnen.

Schon bei den Elementen versagt sie. Es wurde er- Charahere wahnt, dal5 der subjektive Dichter nicht durch aufiere Beobachtung und Erfahrung, sondern von innen heraus, durch intuitive Einfiihlung seine Gestalten schafFt. Wir wissen vielleicht, warum gewisse weifihaarige Tiervarie- taten nur mit roten Augen moglich sind; weshalb aber bestimmte menschliche Eigenheiten des Charakters, der Leidenschaft, der Lebensansicht, der leiblichen und geistigen Appetite sich nur in bestimmter Auswahl paaren und erganzen; weshalb ein Mensch von ge- gebenen Grundziigen in gegebener Lage nur so und nicht anders reden, denken, empfinden und handeln kann, das laJ&t sich nicht ergriibeln und konstruieren. Charaktere werden aufgebaut und kontrollierend nach- empfunden durch die ratselhafte Fahigkeit einer inneren Angleichung; Chamaleonstrieb und Mimikry miissen in dem Menschen wirken, der Antonius und Kleopatra nicht erzeugt, sondern Antonius und Kleopatra in sich fiihlt, und die Geheimnisse seines wandelbaren und ver- wandelten Herzens preisgibt. Diese Erscheinung ist Projektion eigener geheimnisvoller Gesetze, die durch Einsetzung einer neuen Konstanten zu scheinbar objektiv fremden Gesetzen geworden sind.

Die gleiche Umdeutung eigener innerer Gesetz- S«wot«»j mafiigkeiten geschieht, wenn au^ der unbelebten Natur die Empfindung einer Stimmung emporgehoben und objektiviert wird. Nicht einfache Kausalitatsempfin- dungen wie die antike Furcht vor der Unheimlichkeit des unfruchtbaren Meeres und Freude an wohlbewasser-

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tern Gefilde, sondern eine Neubildung des Spiels der Elemente in unserem Herzen, eine seltsame Spiegelung, in welcher Kindheitserinnerungen, Traumerei, HoiFnung und Unruhe, Trauer und Vergessen zu ahnungsvoller Einheit sich verweben: dies ist das subjektive Gesetz des Erlebens, das Regen und Schneefall, Herbst und Brandung, Wiese und Waldbach, Grofistadt und Hafen durchgeistet. Unausgespro- Die Stimmung vertieft sich zu dunkleren Gesetzen. Das Tageserlebnis ist sinnlich klar, es entzieht sich nicht der Auflosung in leuchtende und zart verwobene Ziige, es widersteht nicht dem Wort und der Farbe. Aber jenes tiefe Dammern, das Wogen ungesprochener Gedanken, langstverlorenen Erinnerns, das grauenvolle Dunkeln unirdischer Verlassenheit, das feme Licht und das halb- erblickte Wort, gestaltlose Traume und rauschende Fliige, fliehende Angst und aufquellende Erlosung, die Sehnsucht nach dem nie verlorenen und die GewilLheit des nie zu ergreifenden, diese nachtdunklen Machte mischen sich in unset Leben und verlangen mit dem Rechte der uns eingeborenen Gesetze ihren Ausdruck in der Kunst. Freilich hat bisher nur germanische und slawische Kunst, zumal in Dichtung und Muslk, diesen Untertonen, die das Erwachen der Seele begleiten, ihr Ohr geliehen; die Kunst der Romanen, rationalistisch klar und klassisch hell, wie sie gern sich beriihmt, ist (ibex den antiken Typismus hinaus nur bis zum Wesen der Stimmung vorgedrungen, die ihr noch neu, ja un- benannt ist. Versucht inan, ihr das schmerzensvollere Ringen der Seele naherzubringen, so antwortet sie, halb unschuldig, halb iiberlegen lachelnd, mit den Aus- rufen: nebelhaft (brumeux), clair-obscur und sentimental.

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Ein seltsames, doch alien Kiinsten gemeins3,m.es Mtk/ange und Gebiet innerlich erlebter Gesetzmafiigkeiten ist das des halbbewufiten Mitklingens und der Assoziationen. Das alte Epos kannte mechanische und ziemlich naive Schall- nachahmungen, die heute schulmeisterlich klingen und zu ihrer Zeit doch wohl geheimnisvoU waren. Unser Auge, das zu vielerlei gesehen hat, unser Ohr, das von Erinnerungen und Anklangen umschwebt ist, vernimmt nicht blofi den klaren Diskant des Ausgesprochenen, sondern die Vielstimmigkeit des Angedeuteten, leise Angeschlagenen, rhythmisch Unterflossenen. Vokale, Tone, Worte, Farben, Satze, Tonfall, Linien sagen, was der Sinn nicht zu auf5ern wagt, ihre Polyphonie fiihrt uns in Fernen, Tie fen, Widerspriiche und Gleichnisse, wahrend die redende Stimme harmlos vom Tage zu sprechen scheint. Goethe lafit das Wort vom feucht- Lyriscbes Bet- verklarten Blau erklingen, und alsbald leuchtet der Himmel. Aber zugleich befiehlt er ihm mit diesem Wort, sich im Wasser zu spiegeln, und noch mehr, das kiihle Element tragt, nach seinem Willen, einen zweiten Himmel in sich, der Sehnsucht weckt. Zugleich empfinden wiv die feme Erinnerung an ein blaues Auge, das nach Tranen sich verklart; wundervoll spiegelt sich in diesem Bilde abermals der Himmel, nach Triibnis erstrahlend, v^ermenschlicht, die Sehnsucht mehrend.

Es ist hier der Ort, um liber das Wesen der Lyrik Anmerkung uber iin anmerkendes Wort einzuschalten , das uberfliissig ;ein sollte. Lyrik besteht nicht in rhythmischen und ^ereimten Aufsatzen, Anekdoten, Meinungsau{5erungen, ^hilosophemen, Betrachtungen, Exklamationen , Trink- priichen, Landschaftsbildern und Apergus. Diese an ich respektablen und bei einiger Begabung der Diktion

%Sl

erlernbaren Dichtungsgattungen gehoren unter die Rubrik vermischte Verse und Reime. Damit wahre Lyrik entstehe, mull) ein siebenfaches Wunder geschehen; ein tiefes inneres Erlebnis mul^ einheitlich losgeldst, vom Vergangenen und Kiinftigen befreit, eigenes Leben und Objektivierbarkeit gewonnen haben. Die Sprache mufi die Worte, und die Worte miissen die Vieldeutig- keit besitzen, die das Unaussprechliche ausdriickt und erschopft. Ein Gott mufi wollen, dafi der Klang und Tonfall dieser Worte das Empfundene tragt, ja das Un- glaubliche, da£> diese einzigen Worte sich ziim Gleich- klang paaren und zum Rhythmus schlingen. Dali5 dieses fast unglaubliche Wunder sich im Laufe eines Jahrhunderts mehrmals erfiillt hat, dessen sind mehrere von Goethes Dichtungen und einige von Holderlin, EichendoriF und Morike Zeugen. In diesem Sinne hat es freilich, selbst in altfrankischen Zeiten, niemals ein franzosisches lyri- sches Lied gegeben. Einftihiende und Aus dem unerschopflichen Bereich innerer Gesetz- Naturmpfin- mafi)igkeiten seien zuletzt die gleichsam leidenschaftlichen dung Naturbetrachtungen erwahnt, die uns in der jiingsten

Kunst begegnen und die nach einer anderen Richtung hin iiber die Grenzen des Stimmungsmal5igen hinausstreben. Die altere Naturbetrachtung belebte die Schopfung, unbekiimmert um den Sinneseindruck, ehrfurchtig reli- gios ; Dryade und FluI5gott waren nicht wesensverwandte Abbilder der Eiche und des Stromes, sondern vom all- gemeinen Beziehungsgefuhl geforderte uneigentliche Be- lebungen. Ein weit jiingeres Empfinden schuf die Pea sonifikation der Einfiihlung: das Wiiten des Sturmes, ( Lacheln des Sees, das Erschauern des Waldes. D2 Dichtung machte von dieser Vertauschung des innerel

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mit dem auI5eren Gesetze den gliicklichsten Gebrauch; ein Vers: „wenn Finsternis aus dem Gestrauche mit hundert schwarzen Augen sah'* belebt die Vorsrellung des nachtlichen Ritts mit einem unvergefi)lichen Bilde. Die einfiihlende Kraft unserer naturbediirftigen Zeit hat die Neigung, ganz in das Wesen des betrachteten Gegenstandes, mit alien ausdeutenden, mitempfinden- den, erlebenden Krafren einzudringen und iiberzu- gehen, aufs hochste gesteigert. Der Stamm des Baumes windet sich der Sonne entgegen, seine zerzauste Krone ringt in aufsteigender, Licht und Wind erdiirsten- der Brunst, das Kornfeld schaumt in stiirzender Woge der Fnichtbarkeit, das baumende Pferd erzittert in ge- spannter Federkraft und iiberzaumter Biegung. An diese passionelle Empfindungsreihe hat die bildende Kunst ein groiSes Kapital von Technik und objektivem Darstellungs- vermogen verloren, das vielleicht nicht mehr einzu- bringen ist; aber die Malerei hat leidenschaftliche Vortragsweisen gewonnen, deren Verfiihrung alle sach- lich besonnene Gestaltung kalt erscheinen lal5t. Wie denn liberhaupt die Uberspannung des Objektes durch hineinempfundene Krafte zu so intensiver Darstellung gefuhrt hat, dafi einerseits die Leistungen in gewissem Sinne hintergrundlos erscheinen, anderseits eine abge- stumpfte Rezeptionsfahigkeit alle neutraleren und objek- tiveren Partien der Ausfiihrung ablehnt. Niemals aber kann die Zeit wiederkehren, in der eine, wenn auch noch so vollendete Nachahmung der objektiven Natur an sich als Kunst gelten wird; die Aufgabe der Tauschung, auch wenn sie mit edlen Mitteln erzwungen wird, verbleibt nicht einmal dem erlernbaren Kunstgewerbe ; die Traube des Zeuxis verfallt dem Panoptikum.

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Subjehiivismuj Einer Riickwirkung der Subjektivitat auf das sctieiff bar neurrale Gebiet der Gesetzmafiigkeit des Mittels ist zu erwahnen, bevor wir das uniibersehbare Reich d^H| inneren Gesetzmal5igkeiten verlassen.

Einer Kunst, die in jeder Beziehung, und mit Recht, die mechanische Nachahmung verschmaht, weil diese bereits ihre samtlicheri Geheimnisse enthiillt zu haben scheint und somit Rezept geworden ist, einer Kunst, welche durchaus auf Einfiihlung und Ausdruck hinaus- lauft, mufi jedes Haften am geometrischen, physischen und rationalen Objekt als deskriptive, chronistische, photographische Kopie erscheinen. Diese Abneigung iibertragt sie vom Dargestellten auf die Vortragsweise, auf die technische Behandlung des Mittels; auch diese gilt ihr, und abermals mit Recht, als befangen, kleinlich, kunstgewerblich erqualt, wenn sie nicht vom gleichen Feuer der Subjektivitat, des personlichen Einfalls, des leidenschaftlichen Erfassens durchgliiht ist wie die Kon- zeption. Es gibt Epochen und Meister, denen die breite und freie Handschrift des Stiftes, Pinsels, Meiil)els und Satzes, die weiteste Entfernung vom technisch Uber- lieferbaren, vom Kunstgewerblichen und Gefeilten, so entschieden als oberste Forderung der Kunst erscheint, daI5 sie dieser Maestria des Vortrages Gegenstand und Anschauung zu opfern bereit sind. Diese Neigung steht im BegrifF, den Ahnlichkeitsanspruch des Bildnisses aus der Reihe der Kunstaufgaben zu streichen und ihn an die Instanz der mechanischen Abbildungsverfahren zu verweisen, indem sie an die Stelle einer ihr kunstgewerb- lich scheinenden Leistung die freie Variation liber einen Menscheneindruck setzt. Da indessen die mechanischen Verfahren zurzeit noch mi£)farbene, als Gegenstande un-

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liebsame Ahnlichkeitsdokumente liefern, wiirde diese extreme Kunstauffassung eine bedenkliche Liicke und mithin den ernstlichen Zweifel an ihrem Rechte er- ofFnen.

Uberblicken wir nun den Weg, den Kunst- und Natur- Der Seelen- betrachtung von Anbeginn durchlaufen hat, von der ersten Erfassung der aufieren Gesetzmal5igkeiten bis zur Ver- tiefung in die Geheimnisse des Herzens, so scheint die ungeheure Strecke dem Weg der Seele vergleichbar.

Ohne den Keim eines Seelenhaften ist die erste Kunst- regung nicht zu denken; aber sie war tief gebettet zwi- schen Sinnenreiz und Spiel, zweck- und furchthafte Bestrebung des Schmucks, des Damonismus und der Zauberei, des Aufbewahrungs- und Erinnerungstriebes, der lehrliaften und handwerklichen Praxis. Wir sehen, wie sie vom Handwerk und der Beobachtung, von der Erfassung des Giiltigen und Typischen im objektiven Sein und Geschehen, also von vorwiegend intellektualen Fak- toren ausgehend, zur Belebung der Natur, zur Einfiih- lung in das urspriinglich feindlichFremde, zurVersenkung in das eigene Empfinden und somit durch Verwischung der Grenzen zur lebendigen Einheit der Schopfung und zu ihrem intuitiven Erleben gelangt. Sie mufi das schein- bar absolute und ideale Gebiet des Typischen verlassen, weil es keine letzte Vertiefung gestattet, und die bescheidenen, unendlich verzweigten, anscheinend rich- tungslosen und zufalligen Wege des Individuellen be- schreiten, um tiefer dem Herzen der Schopfung ent- gegenzudringen und das liebeumfafi)te Einzelne zur all- spiegelnden Giiltigkeit zu erhohen. Sie mufi) ihre letzten, liebsten und verborgensten Zwecke daran geben und unbekiimmert um Anmut oderHerbheit losgeloste Werke

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schaffen, unzuganglich allem vermittelnden Bestreben, auf eigenerNotwendigkeit und eigenem Recht beruhend. Geberin und Empfangerin so vergeisteter, dem In- tellektualen entzogener Gestaltung bleibt nur die Seele. Sie kiimmert sich nicht mehr um den Reiz der Sinne noch um das Spiel der Tauschiing. Alles ErschafFene gilt ihr gleich, denn in allem waltet Gesetz und Liebe. Das Kleine ist ihr grofi, das Grofie klein, und heilig alles, was sein innerstes Wesen, erschaut oder erschauend, ojfFenbart. Ethnische Stufen Verschieden weit auf dem Seelenwege der Kunst sind die Volker der Erde vorgedrungen. Die ostlichen Kul- turen verharren im Typischen. Weit hinaus liber den Besitzstand des friihzeitlichen Ostens ist Ostasien, vor China 2^\QV[i China gelangt. Das Land, in dem die Lehre Buddhas eine Zeitlang unverdorben wurzeln und die seelenhafte Gewalt des Laotse auf keimen konnte, ist in den Jahrhunderten seiner Kunstbliite einer individuali- stischen Malerei sehr nahe gewesen, und dennoch ist der letzte Schritt nicht geschehen. Wie alle klassische Kunst, die dutch libernaturliche Meisterschaft der Technik, durch voUendete Beherrschung der Gesetze des Mit- tels gleichsam zum Naturprodukt geworden ist, entzieht sich dieses Meisterwirken der Kritik unserer groberen Sinne. Dennoch empfinden wir eine blendende Kiihle, wie vom Glanz eines Schneefeldes, und ein inneres Ge- fiihl sagt uns, dai5 hier die letzte Liebe nicht dem Ge- schopf, sondern der Gattung zugewandt ist. Es ist die hochste Individualisierung des Gesamttyps in seiner Ab- grenzung gegen Andersgeartetes, nicht die Versenkung in das Einzige und seine Erhebung zum Absoluten, es ist das profundeste Studium des auC)eren Gesetzes, nicht

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die Einfuhlung einer Menschenseele in ein Bruderge- schopf erstrebt und gewonnen. Wenn eine hochberiihmte Schule dem Studium des Bambusstrauches und seiner vollendet kalligraphischen Wiedergabe lebte, wenn eine beliebte Anekdote den Kiinstler auf tausend Studien- blattern Arm und Hand liben lai5t, damit das end- giiltige Bild des absoluten Hahnes entstehe, so ist be- statigt, was schon die Tradition der mechanischen Kunst- erlernung dartut, die aus vorgeschriebenen Hieroglyphen Korper und Organismen zusammensetzt. Denn auch die staunenswerte Kunst der Mittel ist nicht subjektiv freie Empfindungssprache , sondern erlerntes Konnen, so daf5 wir hier das scheinbar Unbegreifliche der klassisch-an- tiken Materialbeherrschung als ein noch lebendiges, doch leider mechanisch sich erklarendes Phanomen vor Augen haben.

Durchaus typische Kunst entstand in Agypten,Vorder- Mitteimeer- asien und Griechenland. Dai5 der souveranen Meister- schaft der Agypter zuweilen, injahrhunderten, ein hochst individuelles Bildnis beliebte und gluckte,bedeutetnichts; die Abneigung der Griechen gegen das Einmalig-zufallige war so grolI>, dal5 wir unter den tausendfaltigen, herrlichen Pflanzendekorationen nicht einen Bliitenzweig, nicht eine natiirliche Blume von ihrer Hand besitzen, geschweige eine Landschaft. Wahrend in chinesischer Friihzeit iiber Naturstimmung Traktate geschrieben wurden, war den Hellenen die Landschaft ein fruchtbares oder unfrucht- bares, bestenfalls bergiges, waldiges oder blumiges Ge- lande. Gegen die verhal5te und verachtete Individuali- sierung des Portraits kampften sie lebenslang; selbst dem Sklavisch-Hail)lichen, Grotesken und Abscheuerregenden liehen sie typisch abstrahierte, schulmaJ&ig feststehende

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Ziige. Dennoch ist die Eliitekunst der Griechen nichr bloi5 in der tiefen Kenntnis des Natiirlichen, in der Un- fehlbarkeit des Normsinnes, in der handwerklich traditio- nellen Meisterschaft auf ewig uniibertrefFlich, sondern auch in einem besonderen, freilich ungewollten, Sinne personlich. Die Volker der bewul5ten, jahrhundertlangen leiblich-geistigen Selbstveredelung, zu denen wir eigent- lich nur Hellenen und Briten rechnen diirfen, erzeugen zuletzt eine Auslese organisch so bevorzugter Individuen, dafi) wie bei alien hochedlen Geschopfen die DiiFeren- zierung sehr gering wird. Auch diese gliicklichenGestalten nahern sich bisweilen dem Reich der Seele, zwar nicht von der Seite des Leidens, sondern von der Seite ^ines heroischen Idealismus. Dem bevorzugten Schlage der Adelsschonheit wendeten Hellenen, wie heute ein Teil der englischen Romanschreiber, ein leidenschaftliches Interesse zu, und da sie ihre ziemlich genau libereinstim- menden Eigenschaften kannten, kamen bildliche und dichterische Schilderungen zustande, die uns trotz ihrer haufigenWiederkehr deshalb personlich anmuten, weil wir ihre Objekte aus der Erfahrung kaum kennen und dennoch den inneren organischen Zusammenhang verspiiren. Es scheinen somit auf einer bedeutenden Hohe des empirisch Organischen die BegrifFe der Individualisierung sich zu verfliichtigen , ahnlich wie diese Erscheinung aus der komplementaren Betrachtung des allzu universellen sub- jektiven Charakters uns entgegengetreten ist. Mit an- deren Worten : infolge seiner Zuspitzung zu einzigartiger Rassenvollkommenheit erscheint uns der griechische Adelsmensch individuell, wahrend er in Wahrheit typisch ist, ahnlich, wie etwa die Goethische Universalitat des schafFenden Subjekts uns objektiv erscheint, wahrend sie

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in Wahrheit hochst personlich ist. Es lage somit der Ge- danke nahe, in einer gedachten menschlichen Vollkom- menheit die Synthese des Individuellen und Typischen, des Subjektiven und Objektiven zu suchen: allein dieser Gedanke bleibt ein Spiel, weil die Entwicklung der Seele eine neue Dimension schaiFt, die wir gegenwartig nur hinsichtlich ihres Ausgangspunktes behandeln.

Von einer spateren Romantik der Griechen zu sprechen, bedeutet, dafi man unter Romantik eine orientalisierende Sentimentalitat, gemischt mit Witz und Sarkasmus, also etwa die Heinesche Romantik ver- steht; ehrfiirchtig vor dem Einzelnen und Kreatiirlichen war die Verfallzeit weniger als die Hochperiode.

Die Renaissancezeit zu Ende des Mittelalters gilt Renaissance als die Epoche der Befreiung und Individualitat. Eine Befreiung brachte sie in dem politischen Sinne, dafi) die bindende Tradition der Heiligtiimer und dogmatischen Gesetze durchbrochen ward, doch fiihrte die Befreiung nur -scheinbar zur Individualitat, wenn namlich unter dieser eine gewisse politische und polizeiliche Be- wegungsfreiheit, verbunden mit einer Selbstandigkeit der Modenwahl gemeint ist; in Wirklichkeit fiihrte sie zum uniformen Rationalismus, aus dem eine kleine Zahl leidenschaftlich Unzeitgemafier emporragt. Diese Grofien waren briinstig mittelalterliche Naturen, die aus der geometrisch hellen Klassik so rasch es ging in das Halb- dunkel ihrer Subjektivitat zuriickstrebten; sie waren die frommsten Menschen ihrer Zeit; wie denn die starkste Gewalt der Renaissance in zwei religiosen Bewegungen: Reformation und Gegenre formation zurErscheinung kam.

Das Vorbild neuzeitlich typischer Kunst hiettt Frankreich Frankreich; deshalb ist der zahen handwerklichen Uber-

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lieferung dieses scheinbar modernen, in tieferem Sinne vo'rzeitlichen Volkes gelungen, bis in das vorletzte Jahrhundert hinein giiltige und unveranderliche Bau- formen und Formensprachen zu schaffen. Die klassische Kunst der Franzosen bedeutet in Dramatik und Epos, in Bildnerei und Naturkunst trotz Sonderlichkeiten und Geschraubtheit die einzige geistesverwandte Fortsetzung der spaten Antike; im vorigen Jahrhundert trat, wider- spenstig und miC>verstandlich aufgenommen, von aulLen die Romantik hinzu und fiihrte zu einer seltsamen, hochst anregenden Vermischung typischer Empfindungs- weise mit aufterlich moderner, wesentlich nervoser und komplizierter Lebensgestaltung. Die Folge war ein- dringlich vertiefte, bis zur Wissenschaft gesteigerte Beobachtung. Lebendige Phantasie und Vorstellungs- kraft fur mogliche, typische und dennoch verwickelte Situationen und Vorgange bei volliger Abwesenheit von Transzendenz, innerer Ehrfurcht und Humor, ent- schiedener Hang zum mechanischen Pathos und zum leichtfaiMichen Ziindwort, empfanglicher Sinn fiir das Gefallige, Prachtige und Kokette waren von je das Erb- teil dieser brillanten und rationalistisch hellen Nation, die Erregbarkeit mit Leidenschaft gleichsetzt. So ent- stand eine selbstsichere, kluge und bewegliche Kunst, zugleich mit einer letzten typischen Formulierung der Ausdrucksmittel, die der mechanistisch modernen Seite des Lebens vollkommen sich anpa£>t.

Die gewaltige Erscheinung Balzacs ergrifF die tragi- sche Seite der typischen Probleme Molieres und fand im zentrisch oder peripher erblickten Leben von Paris den Boden, den die spatere Kunst auch dann nicht mehr verliefi, wenn sie abseits liegende Menschlichkeit

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nach Art von provinziellen Exkursionen, Reiseerlebnissen oder ethnologlschen Kuriositiiten behandelte. Die chroni- stische Identitat des Pariser Kiinstlers mit seiner Um- gebung und seine naturwissenschaftliche Beobachtungs- gabe lal^t uns manche Herzlosigkeit und mangelhaft unter- driickte Sentimentalitat, die Armut der Motive, die neben der Erotik kaum andere Triebkrafre als Ehrgeiz kennt, vergessen; liber den Mangel an Beseelung, an Ehrfurcht und Phantasie des Herzens hilft weder Talent nocb Meisterschaft hinweg. Indessen bleibt dem Deutschen das Studium der letzten typischen, traditionellen und somit Form und Norm schafFenden Kunst unschatzbar, zumal in einer Zeit, welche durch Vielspaltigkeit und suchende Hast der Lebensfiihrung die Bevvegtheit und Sehnsucht des Inneren zur Unertraglichkeit steigert.

Vor allem aber ist das Verdienst der Franzosen um die SchaiFung neuer Ausdrucksmittel in der Malerei zu preisen. Auch hier war Beobachtung und handwerkliche Unermiidlichkeit die treibende Kraft, die sich des Geistes niederlandischer Landschaft und spanischer Bildniskunst bemachtigte und zugleich mit der Uber- tragung in aufierlich neuzeitliche Gewandung die Diisternisse zu gallischer Klarheit aufhellte, indem sie eine Technik des Lichtes, der Oberflachen und der Kom- position erfand, die abermals als klassische Formen- schopfung angesprochen werden muJ5. Der Sinn des neunzehnten Jahrhunderts hat in seiner mechanistischen, schnell erfassenden, geistvollen und verbliifFenden Seite keine adaquatere Versinnlichung erfahren als durch die franzosische Malerei; die Deutung seiner schmerzen- vollen, sehnsiichtigen und ahnenden Tiefen verblieb der deutschen Musik,

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GemMmsihiT Dafi das Urbild wahrhaft persdnlicher und somit cranszend enter Kunst nur vom germanischen Geiste aus- ging, mul5 nach dem Gesagten nicht mehr erlatitert werden. Nur sei des Phanomens gedacht, dafi) alle diese Kunst auf ihren hochsten Gipfeln, gleichviel, ob sie dutch leidenschaftliche , ja erschreckende Mittel aus- gedriickt wird, lyrische und selbst tonende Stimmung auslost. Hiermit ist freilich nicht die ungliickliche Vor- stellung gemeint, dafi grofie kiinstlerische Momente dutch eine zur Begleitung odet Illustration erniedrigte Musik gesteigert werden konnen; es ist vielmehr einer- seits auf eine liberirdische Verwandtschaft der Kunste hingewiesen, die in ihren andachtigsten Stunden den gleichen innersten Punkt unseres Wesens beriihren, andererseits auf die iibersinnliche Tendenz unseres geistigen Erlebens, die in einer vom Sinnenreiz und vorganglichen Zufall sich losenden musikalischen Ge- setzmal^igkeit ihre Sprache sucht. Noch irriger ware die Auffassung, es konne durch Vermischung der Kunst mit religiosen, ethischen oder ritualen Momenten eine innere Steigerung erzwungen werden. Die hochste Kunst ist keine Kunst des Requisits; die Mittel und Vehikel der Andacht, an sich bedeutend und ehrwiirdig, sind kiinstlerisch betrachtet Surrogate, Suggestionen und Reizmittel, wie Kanonendonner, Feuerwerk, Massen- auflauf, Prachtgegenstande, Kruditaten, Herzbrechereien und Riihrungszwange. Innerliche Kunst ist der Gesetz- mal5igkeit ihres Wesens nach unvermischt; aus den ein- fachen Gegebenheiten und Vorgangen der Natur schdpft sie einfache Wirkungen, die grofi sind, weil sie das Absolute spiegeln, nicht weil sie blenden, tauben, ver- bliifFen oder verwirren. Zeugen sind die vier Evan-

gelisten der germanischen Kunst, Shakespeare, Rem- brandt, Bach und Goethe.

Versuchen wir den Weg der Kunst vort der Blute Kritik der ihres typischen SchafFens bis zur Innerlichkeit der Seelen- ^^^.j^j^ nahe mit einem Blick zu liberschauen, so wird der Ein- dnick ungeheurer Verluste in uns machtig, und wir be- greifen das herkommliche Urteil, wonach dieser Weg einem durch Mittelgipfel unterbrochenen Abstieg gleich- zusetzen sei. Verloren sind alle Krafte und Fahigkeiten, Verluste der die durch Geschlechterreihen der Schulung und Hand- werksiiberlieferung hervorgerufen, gestarkt und bewahrt werden: die kalligraphische Sicherheit der Hand, die Un- beirrbarkeit des Auges und Urteils, die Kenntnis der Gegenstande, die Berechnung der Abstufung und Wir- kung, die Ubung schwer erkennbarer dispositiver Kunst- regeln^or allem leider der gleichsam musikalisch sichere Sinn fiir Teilung und Proportion. Verloren ist die Auf- Verluste der sicht einer Machtinstanz, welche das Verfriihte, Uber- hastete, Unfertige und Grillenhafte zuriickweist, welche den Schritt ziigelt, das Hergebrachte verteidigt, und In- halt, Gewicht und Wiirde verleiht und vorschreibt. Ver- loren ist endlich, und diesem Verlust miissen wir nach- gerade entsagend und kiihn ins Auge sehen, die formel- Verluste det schafFende, gleichsam sprachbildende Kraft der Kunst, die im langsamen Wachstum beruht und, unter der mild korrigierenden Wirkung der Zeitlaufte, Ornamente und Bauformen, K6rpernormen,Schriftzuge, Rhythmen,Melo- dien, ja selbst die herkommlichen Abgrenzungen, Ord- nungen und Gliederungcn der Gattungen und Werke hervorbringt. Deshalb werden wir niemals aufhoren, aus den Werken der vergangenen typischen Kunst Ur- teil und Lehre zu schopfen, und wir diirfen uns dieser

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Gaben so wenig schamen, als wenn wir uns des Sprach- gutes oder der Samenziichtungen unserer Vorfahren be- dienen; denn kraft ihrer natiirlichen Entstehung als eines Kollektivprodukts ist die klassische Kunst eine gleichsam vermenschlichte , zum Gefiihlselement umgeschaffene zweite Natur geworden, die nicht minder mit unserem Leben verwachsen ist als das Kornfeld, die Gartenblume, die veredelte Frucht und die Hausung. Fiir unser Auge tragt ein ionisches Kapirell oder Gebalk gleichsam einen Gesichtsausdruck; seinen Gebrauch in der Baukunst zu verbieten und dafiir eine bei der Lampe asthetisch oder technisch erkliigelte Straufienfeder- oder Nietnagel-Kon- struktion zu empfehlen, bedeutet nicht viel anderes, als in der Sprache die Worte Lacheln oder Anmut zu unter- sagen und durch einen Volapiiklaut zu ersetzen. Veriuste dei Nach ihrcn mil^gliickten Ausfliigen auf das Gebiet der Reifibrett- und Broschiirenrevolution sieht gerade die Architektur sich heute, und vielleicht fiir alle Zeiten, in der Lage, am riihrigsten unter den alten Schatzen dei typischen Formkunst sich umzutun. Freilich hat sie weit schwerer als die reinen Kiinste unter der Entfernung vom Handwerklichen gelitten; ihr als einer Schwester der Technik ist liberdies die Mechanisierung auf den Hals gekommen, und es ist mehr als fraglich, ob sie in Zukunft als selbstandige Kunst wird bestehen konnen^ oder vielmehr mit dem Range einer Technik und eines eklektischen Dekorationsgewerbes sich wird begniigen miissen. Denn einmal baute sie vor Zeiten aus echtem Material fiir die Ewigkeit, jetzt fiir ein Menschenalter aus Ziegeln und Putz, kiinftig vielleicht fiir ein Jahrzehnt aus Zement und Pappe. Sodann nahm sie sich Zeit: fiir einen Tempel Jahrzehnte, fiir einen Dom Jahrhunderte,

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fiir ein Wohnhaus Jahre, und selten schuf ein Kiinstler ein zweites grofies Werk zur gleichen Zeit. Heute werden, wenn es gut geht, von einem Architektenbiiro zwei Kirchen, sieben Wohnhiiuser, eine Briicke, ein Kranken- haus, ein Aussichtsturm, ein Bahnhof und mehrere Wohn- geratschaften in einem Jahreslaufentworfen, submittiert und hergestellt, ungeachtet der Sachvers t andigen-Juroren- und Ausstellungsarbeiten. Endlich und schlimmstens aber ist der Bedarf nach Bauren derartig ins Riesenbafte gestiegen dail) StraJBenziige und Stadtviertel schneller entstehen, als vordem Hauser; damit ist die Wichtig- keit, der Ernst und die kiinstlerische Verantwortung des Bauens, zugleich mit der Qualitat der Bauherren, so rief gesunken, daI5 eine Kunst, eine Ausbildung und eine Zunft nicht mehr die Verschiedenartigkeit der An- spriiche zu tragen vermag und in ihrer Gesamtheit entarten muC).

So beschlieil)t die Auflosung der Architektur die DerKampfpreU . Liste der grolLen Opfer, die der Seelenweg der Kunst ^"^'^ erforderte. Sie fielen nicht vergeblich, denn das Ziel der Innerlichkeit und Freiheit wurde erreicht; eine an- dere als die Kunst germanischen Einschlages, die Kunst der Seele, ist in der Welt nicht mehr moglich. Ob aber diese Kunst eines zweiten Aufschwunges fahig ist, ob sie berufen ist, den We g der Menschheit zu leiten oder nur zu erleuchten, oder ob gar die erstarkende Seele an ihr, wie an einer freundlichen Kindheitslandschaft voriiberschreiten wird zu mannlicheren Zielen: dieser ernsten Frage, die nicht gelost, wohl aber betrachtet werden kann, diirfen wir uns nicht entziehen. Wir wer- den versuchen, durch eine Erorterung der zeitlichen Bedingungen, die den Schluss dieses Kapitels bilden soil.

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uns ihr zu nahern; zunachst aber liegt uns ob, zu er-

wagen, ob der gewonnene Uberblick geeignet ist, uns

im Sinne einer/praktischen Kritik kiinstlerischer Produk-

tion zu fordern.

Anwendung Zunachst steht fest, dafi wir eine Reihe vielbeliebter

Kriuk^ ^^^ ^ Forderungen an die Kunst nicht mehr aufrecht erhalten

VerzicJjt aufdiir fen: Zwecke, gleichviel welcher Art, ob dekorative,

^^"^ reprasentative, belehrende, unterhaltende, sittlich erbau-

ende, erinnernde, oder sinnlich anreizende hat sie nicht zu erfiillen. Wurde es schon manchem schwer, das kiinstlerisch Dargestellte nicht mehr im Dienste sinn- licher Gefalligkeit und zuchterischer Norm die man leider auch im wissenschaftlichen Sinne noch immer Schonheit nennt zu sehen, so haben wir uns der schwe- Verxieht aufreven Bestimmung zu fiigen, nicht einmal mehr gef allige

eja tg et y^^^^^ ^^^ jgj, Kunst grundsatzlich zu verlangen. Das Gemalde als Selbstzweck erfiillt seine Aufgabe in der Darstellung; das alte Bild war gleichzeitig ein Dekora- tionsstiick, ein schoner Gegenstand, eine kunstgewerb- liche Lackarbeit, die architektonisch der Wand und dem Raume diente, wahrend das neuere Werk eine neutrale Wand als Hintergrund, ein en Schauraum als Umgebung verlangt und auch in diesem Sinne nicht mehrZubehdr und Inyentar, sondern bestimmendes Subjekt ist, VerxAcht auf Dafi wir die Ergebnisse alter, sachlicher, gegenstand-

usju rung Y\c\\ev^ handwerklicher Meisterschaft nicht mehr erwarten diirfen, ist uns bekannt. Hier wird am schwersten zu ertragen sein der Verzicht auf jene innere Ergiebigke welche der alten Kunst in der Ausfuhrung beschied war. Ein zutrauliches Auge wiinscht in der Kunst Genufi wiederholt, den die Unerschopflichkeit der Nal bietet, indem sie bis an die Grenze der Wahrnehmun

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fahigkeit immer neue Wunder aus den Teilen und Unter- teilen hervorbrechen lafit, nachdem die Ganzheit ihren Akkord hat verklingen lassen. Die Subjektivitat neuerer Kunst in Anschauung und AusfiiHrung lai^t aber eine so vollkommene Uberdeckung und Analogic des Dargestell- ten mit der Darstellung nicht zu, dafi auch das Kunst- werk sich auf losen liefi)e ; das Eindringen wird auf die gewollte Wirkung beschrankt, und dem naheren Zusehen bietet der breite Pinselstrich Halt. Uberdies ist, je star- ker und leidenschaftlicher das schafFende Erlebnis ver- lauft, seine Dauer beschrankter, und so fiihrt subjektive Produktion zur summarischen, unausfuhrlichen, schein- bar skizzenhaften Darstellung, die abermals der mecha- nisch suchenden Priifung widerstrebt.

Ist somit die auJSere Gefalligkeit, die handwerkliche Venh-ht auf Geschliffenheit und Vollendung, die berechnete Gelassen- heit, Harmonie und Ruhe dem subjektiven Werk ver- sagt, so wird es dem nachhaltigen Werben des biirger- lichen Liebhabers nicht mehr gerecht. Verallgemeinert fiihrt diese Beobachtung zu der weiteren und entschei- denden Folge, dafi wir auch Popularitat von dieser Kunst nicht beanspruchen, kaum erhofFen diirfen, ganz abge- sehen davon, dal5 die gr6fi)ten Werke einer jeden Zeit ihrer Epoche vorausschreiten und daher bei ihren eigenen Zeitgenossen nur durch Mifiverstandnis oderAutoritats- glauben popular sein konnen. Auch in jenen beriihmten kleinen Adelsrepubliken, denen wir unsere kiinstlerische Kultur verdanken, war die Kunst nur im engen Kreise der Herrschenden zuhause, und durch ihre Autoritat gestiitzt; zugleich mit diesen Herrschenden und ihrer Autoritat ging sie zugrunde. Und diese Kunst war, wie wir gesehen haben, nach Herrscherregeln von einer Ge-

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meinschaft und fiir eine Gemeinschafc gemacht, natiir- lich gewachsen, normativ, sachlich, objektiv wie die Natur, in ihren Hohen zwar liberragend, doch in Be- wegung, Gegenstand und Ausdruck durchaus verstand- lich. Aber bei verschiedener Geschwindigkeit zweier Fortschreitenden wachst der Abstand des Zuriickbleiben- den dauernd; vielleicht ist Geschmack und Verstand- nis der mittleren Zivilisation dem Hohenmafi) jener alten Gemeinschaften naher geriickt als wir glauben, aber dem Weg zur Kunst des personlichen Erlebens sind die Massen nicht gefolgt, und so entsteht das paradoxe Bild, dzS) in Feindschaft der alien zivilisierten Landern die herrschenden Stande der Stdnde Kunst feindlich sind. Daraus folgt nicht einmal im agi-

tatorischen Sinne, dafi etwa die Kunst in hoherem Mafie wie vordem Sache des Volkes geworden sei, und dem- gemaiJ5, um modern zu sein, demokratische oder soziale Alliiren anzunehmen habe; sie ist weder Sache des oberen noch des unteren Volkes, sondern Sache der Berufenen. Daraus folgt aber auch nicht, dafi sie von Kiinstlern fur Kiinstler gemacht werde, sondern sie wird von Kiinst- lern fiir das Volk gemacht. Nicht fiir das Volk von heute und nicht fiir das Volk von morgen, sondern fiir das Volk; so wie ein Vater, der fiir seinen Sohn schafFt, nicht fiir das Kind und nicht fiir den Jiingling schafFt, sondern fiir sein unsterblichesBlut, das dieErfiillungtragt. Wenn auch die Komplexitat des menschlichen Schaf- fens eine zeitgenossische Popularitat des Guten nicht vollig ausschliefijt, indem dieses namlich nebenher mit indiiferenten Eigenschaften behaftet sein kann, die harm- los gefallen, abgesehen vom Erfolge des Miftverstand- nisses und Autoritatsglaubens, so darf nicht einmal post- hume Popularitat der Kunst zur Bedingung gestellt wer-

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den; vieimehr ist es als eine der menschlich hochsten

Kiihnheiten und Selbstverleugnungen zu betrachten, dail>

furchtloser Geist unablassig Dinge schafFt, die besten-

falls trotz ihrer Tugenden geachtet werden.

Was wir hingegen von der Kunst unserer Zeit ver- Forderung der

langen diirfen, ist zum ersten Meisterschaft. Freilich

nicht mehr die erlernbare und leicht kontrollierbare

Meisterschaft der Schule, die kalligraphische Gemein-

schaftsschrift der Ziinfte und Generationen ; wohl aber

personliche Kenntnis und Beherrschung des Handwerks

und seiner Mittel, gesteigert zu eigener Sprache und

Handschrift des Menschen. Schwer und unerlernbar wie

alle Beurteilung subjektiver Kunst ist die Kritik dieses

individuellen technischen Vermogens; denn sie darf nicht

erschrecken vor der Unausgeglichenheit eines lebens-

langen Ringens mit der Materie, vor dem Verzicht auf

alle Milde des Herkommens zugunsten einer leiden-

schaftlich ersehnten Ausdrucksform, noch darf sie sich

blenden lassen von wissenschaftlich oder reflexiv er-

kliigelten Kiihnheiten und von einer durch Vergleichung

und Kontraimitation erschlichenen Originalitat.

Eine kurze Einschaltung iiber neuerliche Mifiver- Zwei Anmer-

T . . -r>. 1 Tr M 1 kungen: Kri-

standnisse in Dingen der Kritik sei hier gestattet. ^-j^ |^j. kritik

Solange die Kunst Sache der Gemeinschaften und

Schulen war, konnte der gebildete aber unproduktive

Liebhaber und Konnaisseur eine Anzahl der vereinbarten

Regeln und SchulbegrifFe erlernen und mit ihrer Hilfe

eine Art von kritischer Kunstgrammatik betreiben, die nicht

unbedingt wertlos war. Zuerst erkannte man in der Musik,

dafi) diese mechanischeBeckmesserei nicht weitfiihrt; man

verlangte vom Musikkritiker eine entschieden musika-

lische Begabung, ja selbst eine gewisse ausiibende Fahig-

I

26^

keit; das Gewasch eines eingestanden Unmusikalischen iiber Musik ha^te man nicht angehort. Wahrend nun auch die iibrigen Kiinste den Weg vom Typischen zum Individuellen vollendeten, hat man leider und unbegreif- licherweise unterlassen, den BegrifF des musischen und amusischen Naturells auf alle Gebiete der Kritik auszu- dehnen. Obwohl alle Kritik subjektiv kiinstlerischer Leistungen ganz und gar auf nachschaiFende Einfiihlung hinauslauft und somit nur mehr hochveranlagten Naturen moglich und gestattet ist, glauben vielfach sensitiv er- regbare und suggestible, ubrigens amusische Tempera- mente an ihre eigene kritische Zulangllchkeit. Wie in der Musik die Fahigkeit, eine gehorte Tonfolge wiederzu- geben, so ist in der bildenden Kunst eine merkliche, wenn auch unbeholfene Befahigung zu zeichnerischer Reproduktion die niederste, unerlai51ichste Stufe musi- scher Existenz. Es ist nun ein Zeichen wahrhaft grofi- stadtischer Anpassungsfahigkeit und Versatilitat, wenn Kritiker sich riihmen, auch ohne den Besitz dieses leich- testen musischen Symptomes auf Grund innerer Erleuch- tung und haufiger Atelierbesuche ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Dtinne Ta- Zum zweiten erinnern wir uns des Wesens subjek- tiver Kunst, das in der Enthiillung menschlicher Gesetz- maI5igkeit beruht, und verlangen von dem, der diese Kunst ausiibt, Menschlichkeit. Der Wohlstand der zivi- lisierten Welt und ihre Mechanisierung, die Sattigung der Atmosphare mit geistiger und artistischer Essenz hat aber das Wachstum diinnstengeliger, locker sitzend Talente verhundertfacht. Die ans Kunstgewerbe gre zenden Industrien der Tapeziererei, der Schaufenst^ dekoration, der Provinzialfeuilletonistik und Hotelmus

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kurz der Massenbetrieb gewerbsmaf5iger Staffierung, ver- langt die Uberzahl dieser asthetisch strebenden Naturen, die vor Jahrhunderten im Klosterberuf , im Schneider- und Haarkrauslerhandwerk eine Tatigkeit gefunden batten. Indem nun die Scbulfreiheit und Zunftlosig- keit der subjektiven Kunst, vor allem aber der Mangel an objektiven Urteilsregeln und kritischen Anhalts- punkten den zahlreichen Ubertritt der leichtgeriisteten Talente, zumal der woblhabenden, zu ernster Kunst- ubung begunstigt, wird nun erst offensichtlich, wie schwer und selten der Natur die Verbindung wuchtiger Mensch- lichkeit mit der Anmut gliicklicher Begabung gelingt, Diese wahrhaft ergreifende Erscheinung einer ernsten, denkenden, erdenstarken Mannlichkeit, verklart zu zar- tem Empfinden, kindlicher Reinheit und traumendem Gestalten erscheint uns heute seltener als je zuvor; kaum konnen wir die VoUkraft anders als tatenhaft-kunstlos, die Begabung anders als lax, nervos, hysterisch uns vor- stellen. „Sul5es kommt vom Starken," heiJ&t es in der Schrift, und nur unter diesem Wahrspruch ist subjektive Kunst denkbar, denn ihr Gesetz ist das Erlebnis. Das Erlebnis des Schaffenden wird zum Erlebnis des Betrach- tenden und zur Enthiillung des absoluten Gesetzes; das Erlebnis jedoch ist nur dann ein reines und gultiges, wenn es einer giiltigen, das heiJ&t organisch-gesetzhaften Natur widerfahren und oiFenbart, und mit der Kraft der Wesentlichkeit gestaltet ist. Liegt die Gefahr der typi- schen Kunst in der Trivialitat, der handwerklichen Kalte, der Schxilmeisterei und Manier, so liegt die Gefabr des subjektiven SchafFens in der Talentkunst, in der Halb- heit und Schiefheit, der Spitzfindigkeit, Verstiegenheit und Unwabrhaftigkeit des Asthetentums.

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Fassen wir, zum Gang der Darlegung zuriickkehrend,

Forderung und Verzicht zum allgemeinen Leitsatz zu-

sammen, so diirfen wir bekennen:

Zusammen- Uneigentlkhe Kunst ist es, die Zwecken dient ; gleich-

tische Leit- ^^^^ ^^ edlen oder unedlen; Kunst ist Selbstzweck, ge-

satze schaffen aus Notwendigkeit, und zu betrachten gleichwie

ein Werk der Natur. Belehrung, Unterhaltung, Reprasen-

tation, Schmuck, Sinnenreiz, Reklame, Geschaft sind in

diesem Sinne gleichwertige Zwecke.

Lehrbar und erlernbar ist nicht die Kunst, sondern der in ihr enthaltene handwerkliche Rest. Meisterschaft ist nicht blofie Beherrschung dieses Handwerklichen, sondern seine Durchdringung mit persdnlichem Gefiihl. Ubung macht den Kalligraphen ; den Meister macht Er- fahrung und Vorstellungskraft. Aber selbst Meister- schaft ist nicht Selbstzweck, sondern unentbehrliches Mittel, um, ungehindert von der Materie, derEmpfindung Ausdruck zu geben.

Uneigentliche Kunst ist es, die der blofien Nach- ahmung dient, und wenn es die Nachahmung der Arten- schonheit ware; die nach Rezepten schaiFt, die den Geist beschaftigt, die dutch Zufalligkeiten Tauschung' erstrebt, die mit Sentimentalitat und mechanischem Pathos das Schiefe und Falsche aufstutzt, die hand- greiflich an Nerven und Sinnen riihrt.

Echte Kunst macht die Gesetze des Organischen, des Schicksals, der Seele und des Gottlichen fiihlbar: sie stammt aus dem Erlebnis echter Menschlichkeit, ist ge- staltet in der Erkenntnis des Wesentlichen, ausgedriickt in der Sprache der Personlichkeit und fiihrt zur Er- schiitterung der Seele. Denn sie erfiillt uns mit der Gewi&heit, dzib wir nicht im Chaos der Willkiir und

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des Zufalls beruhen, sondern im gottlichen Kosmos; wir

verloschen im Selbstischen und erstehen im Gefiihl der

Wiirde und Gnade hochster Gemeinschaft.

Als letzte Aufgabe dieses Kapitels war uns be- Anwendung T- 1 TT- 1 1- 1 r 1 auf dieKunst

stimmt, unsere eigene lipoche im Hmblick aut das '^^^qxZqii

betrachten, was sie der Kunst bietet und verspricht.

Wirkungen der Mechanisierung auf die Kunst haben OOer/atiung und wir beriihrt. Wenn vordem ungezahlte Leben abflossen, *

denen kaum an einzelnenhohen Tagen ein Werkder Kunst begegnete, so konnen wir keinen Schritt tun, ohne von kiinstlerischen Zeichen, mogen wir wollen oder nicht, begleitet oder umgeben zu sein. Schmuck der Farbe oder der Formung bekleidet jeden Gebrauchsgegenstand ; die Schriften, die tagiiber zu uns reden, erheben kiinstlerischen Anspruch; die Raume der Hauser, die Laden und Hallen sind erfiillt von Darstellungen und Wiedergaben; unsere Erinnerung birgt den Kunstgehalt von Jahrtausenden. Es wird mehr gebaut und gemeili5elt, gemalt und geatzt, erzahlt und gedichtet, gespielt und geschmiickt als ehemals gesat und geerntet, gesponnen ^ und gewoben. Vielen erscheint Himmel und Erde, Leben und Tod nur noch unter dem Bilde kunstlerischer Darstellungsform. Die Welt schwitzt Kunst aus alien Poren.

Dieser unerhorte Mifibrauch, der die Kunst in Staub Wettkampf der und Larm der Alltaglichkeit hinabzieht, bedroht alles ^ ehrfdrchtige Verweilen und festliche Staunen. Mit negerhaftem Selbstverstandlichkeitsbewufitsein schenkt die Masse den hochsten Leistungen einen Blick und eine Bemerkung; der Gebildete schliefit Auge und Ohr, um aus dem Gewiihl das Verehrte und i lebgewonnene zu retten. Die Kunst aber, vom Stamm der Kegel imd

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Tradition gelost, frei beweglich und alles wagend, liber- bietet sich in EfFekten, um die erloschende Aufmerksam- keit 2u beleben; gepeitscht von der Konkurrenz der Ausstellungen und Auffiihrungen sucht sie die auC)erste Steigerung des Erfolgreichen , den starksten Kontrast gegen das Jiingstverbrauchte 2u verwirklichen, und be- il/e^ftritt damit den Weg der Mode. Diese periodische Krankheit, die den Namen des Launischen in keiner Weise verdient, da sie in niichterner Mechanik des Kontrastes verlauft und demgemafi von ihren gewerb- lichen Erzeugern wissenschaftlich-empirisch hergestellt wird, ist in ihrem Wesen dem kiinstlerischen zuwider und gefahrlich; sie strebt die letzte Stetigkeit zu ver- nichten, die der subjektiven Kunst geblieben ist, indem sie den Kiinstler zu bestimmen sucht, auf sein eigenes Inneres im Sinne des bewahrten Wechsels gewaltsam einzuwirken. Entivurze/ung De$ ferneren wurde angedeutet, dafi subjektive Kunst gleichsam als Ferment das Publikum zerspaltet, von dessen Willen und KontroUe sie sich befrelt hat; der in eigener Natur kiinstlerisch veranlagte, zur Ein- fiihlung und Nachempfindung befaihigte Teil wird mit- gerissen, der andere Teil, an bewahrten typischen Mustern gebildet, oder naiv, nach Regeln suchend, vor allem aber an Augen und Geist mit dem Kunstblick der letztverstandenen Epoche erfiilit, stellt sehie Forde- rungen und fiihlt sich als Arbeitgeber, Brotherr und Be- horde berechtigt, einleuchtende Wiinsche befriedigt zu sehen, mogen sie nun auf Nachahmung, Deutlichkeit, Gefalligkeit, Spanr ang, Riihrung, gliicklichen Ausgang oder dergleichen I aiauslaufen. Die Kunst empfindet den Zwiespalt als U' .iiberbruckbar und riickt ab; fiihlt

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sich iiberdies im echten Streben miftverstanden, ver- kannt und beleidigt, so laI5t sie sich auch wohl hinreiften, zu verhohnen und 7,u verbliiffen, und die Spaltung wird zur Feindschaft. Gelingt es ihr nicht, liber zeitliche Meinungen hinweg dem gesundesten Teile des Volkes die Hand zu reichen, so wird sie entwurzelt; die Er- kenntnis, daft in Wahrheit nur der Kiinstler den Kiinstler voll verstehe, fiihrt zum gefahrlichen Grundsatz des Tart pour Tart, und die naturgemafte Urteilsweise des Kiinstlers, der sich leicht iiber Unvollkommenheiten des Werkes hinwegsetzt, wenn er dahinter den echten Trieb und starken Menschen erblickt, ermutigt zu der be- quemen Krafteersparnis des Angedeuteten und Skizzier- ten, das sich immer weiter von natiirlicher Verstandlich- keit entfernt.

Inzwischen aber hat sich im Publikum ein dritter Astbetentwn Teil gebildet: die Suggerierten und AfFektierten. Kiinst- lerverkehr, Zeitungslese und Kunstmarkt hat sie zu der Meinung bekehrt, dafi) hinter dem, was ihnen eigentlich zuwider ist, doch etwas stecke, was zu erkennen ein Zeichen von Urteil, Talent und Bedeutung sei: sie haben die beiden streitendon Parteien diplomatisch ge- priift und mochten nicht zur banausischen der Angreifer, sondern zur gewahlten und interessanten der Ange- griffenen gehoren. Eine gewisse Art zu sehen und zu empfinden haben sie schnell erlernt und erprobt, die allgemeine Form und Farbung des Zeitgeschmacks ist ihnen bildlich geworden, die Gewerbefreiheit des Kunst- urteils, von der wir gesprochen haben, kommt ihnen zu- statten; und wenn sie gar wohlhabend und gebildet sind, durch Kaufe wirken, auf Reisen das Entlegene sammeln, ein Urteil gegen das andere ausspielen und womoglich

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einen Kiinstler im Hintergrunde halten, der die wankende Erkenntnis zeitweilig zurechtriickt, so werden sie in ihrer Vielzahl oder einzeln zu einer Instanz, die vieles aus- richtet und manchmal tauscht, solange man nicht den Ge- schaftssinn, die Herzenskalte und Unfruchtbarkeit hinter dem Geschwatz erblickt. Diese Klasse der Astheten hat um ihrer eigenen Stellung willen ein Interesse, die Kunst vom Volke fernzuhalten, sofern sie nicht etwa vorzieht, die mgdernsten Produkte, die versriegensten zuerst, dem Publikum in ihrer Koteriesprache zu verkiinden; und da sie das Gerade vom Schiefen nicht unterscheiden kann, da sie das Paradoxe und Extreme als Merkmal bevorzugt, so wird sie der Kunst gefahrlicher als die Zuriickgebliebenen und Kunstabgewandten.

Ein weltgeschichtliches Moment tritt hinzu, um die Gefahren der Volksfremdheit und des Asthetentums zu steigern. fsminhmus Als um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts die biirgerliche Gesellschaft, von der Mechanisierung emporgerufen und bereichert, in den geistigen und leib- lichen Besitzstand der europaischen Aristokratien ein- trat, 'um an ihrer Statt die Zivilisation zu beherrschen, wull)te sie ihren Frauen, die gleichzeitig der sorgen- vollsten hauslichen Enge entwachsen waren, nichts zu bieten, was den reprasentativen, landesmiitterlichen Pflichten ihrer Vorgangerinnen und VorbiJder entsprach. Die Frauen selbst, anpassungsfahiger als ihre Manner, trafen schnell die eigene Wahl; bald war Tracht, Be- nehmen und Lebensform aristokratisiert, uM sie grifFen mit Leidenschaft nach einer neuen Distinktion, die von den Adelsfrauen nebenher und lassig, aber doch ge- niigend charakteristisch geiibt worden war: der Bildung.

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Die Frauen der Gelehrten und Kiinstler schritten voran, in Berlin die Jiidinnen; sie leniten, horten, lasen, dilet- tierten und reisten; Dinge, die den Grofimuttern wo nicht den Hexentod, so doch tiefe biirgerliche Ver- achtung gebracht hatten, fiihrten die Enkelinnen in die Gesellschaft der fiirstlichen Hauser und leitenden Manner. Um diese Zeit beginnt Urteil, Einflufi, ja Mitwirkung der Frauen in Kunsc und Gewerbe merklich zu werden.

Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts reifte, in massenhafter Zahl, die erste in Bildung auferzogene Generation biirgerlicher Damen. Je tiefer die Manner in die wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftli- chen Aufgaben des mechanischen Zeitalters verstrickt wurden, desto mehr belebte sich der kiinstlerische und geistige Anteil der Frauen. Sie waren zu Zeiten die gelesensten Schriftsteller, die begehrtesten Maler und Musiker aller Kulturlander. Da nun der weibliche Geist auf Erhaltung gerichtet, dem Phantastischen und Kraft- vollen fremd, dem Erlernbaren, Handarbeidichen geneigt ist, so entstand jene seltsam beharrliche, fast fiinfzig- jahrige Epoche verlangerter Romantik und versiifiter Epigonik, an deren Auslaufer wir Alteren uns erinnern. Ungerecht ist der Vorwurf, dai^ es an revolutionaren Talenten fehlte, denn Balzac, Flaubert, Dostojewski, Keller, Nietzsche, Manet, Menzel gehoren dieser Zeit an; aber ein selbstbewufit zaher Zug des Publikums vermochte die Kunst zur Familiensache zu machen, sie sollte zwischen Klavieriibungen , Stickereien und Ge- schichtsunterricht rangieren, und es ist be/eichnend, dal5 in den fiihrenden Kulturstaaten drei souverane Frauen die Zahmung der Kunst betrieben. Der Einkauf des

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Hausgeratf, selbst die Beratung des Bauplans ging die Frauen iiber; das gab dem sterbenden Handwerk den TodesstoG, denn es verlor unter der mangelnden Kontrolle des Materials und der Arbeit, unter dem Ver- langen nach Modischem und Imitiertem den letzten Halt der Sachlichkeit. RuchtvkkuHg Bei dieser weiblichen Kunstfursorge begann der tatige,

aufdie Zeit und . - , a r ^ i i n >r

Steigerung ^^^ neuartig wacnsenden Autgaben bedrangte Mann

sich als Barbaren zu fiihlen; Kiinstlerisches und Femi- nines fiel fiir ihn zusammen, und sofern er es verschmahte, mit halber, liberholter Sachkenntnis sich in das Salon- geplauder zu mischen, hielt er sich an die Klassiker seiner Schulzeit oder kehrte unerquickt zur Arbeit sei- nes Berufes zuriick. Im Gegensatz zur Romantik wur- den die blutigen und unblutigen Schlachten der neueren Zeit von kunstfremden Mannern geschlagen; auf die Bedeutung dieser Tatsache werden wir zuriickkommen. Die konservative pseudoromantische Epoche fand ihr Ende in dem mannlichen Aufschwung der achtziger Jahre; das weibliche Forum erschrak, sammelte sich, dank neubewahrter Anpassungsfahigkeit und fiihrte die Revolution zum Siege. Denn es batten sich inzwischen die Horsale und Kiinstlerwerkstatten dem Ansturm der Frauen gedfFnet, an die Stelle des Kranzchens trat die Kiinstlergesellschaft, an die Stelle des Familienblattes die Tageszeitung und wissenschaftliche Rundschau, die Verbindung mit den verborgensten, bisher verleugneten Kraften und Regungen des Landes und der Fremde war gewonnen. An die Stelle der Beharrung trat der von der Mode her bekannte Drang nach dem Neuen und Extremen, Kiinstler und Richtungen wurden ent- deckt und entthront, der Dilettantismus iibte sich in

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I

neuen Formen und Tanzen, die Mode wnrde ausdrucks-

voll und dramatisch, an die Stelle der gebildeten Frau

trat das kiinstlerische und vorgeschrittene Weib. In

dieser kiihnen Stellung nimmt die Weiblichkeit die Kunst Wirkung aufdh

unserer Zeit entgegen. Sie stellt die liberwaltigende

Mehrheit der Leser, Horer und Beschauer, und wenn

sie die publizistische Kritik noch nicht ausiibt, so lali5t

sie sich die Kritik dieser Kritik nicht nehmen, die wie-

derum vorwiegend Frauen und Astheten als Lektiire

dient und nach diesem Kraftfeld sich notgedrungen all-

mahlich orientieren muS.

An dieser Gesamtlage wird sich wenig andern, wenn die Frau den neuen Interessenkreis politischer und wirtschaftlichet Verantwortung sich erschliefit. So verkehrt und unhaltbar es ist, intellektuellen und unab- hangigen Frauen die biirgerlichen Rechte vorzuenthalten, so toricht ist es, ein neues Verhaltnis der Geschlechter aus dieser selbstverstandlichen Erfiillung zu erwarten. Ein drolliger feministischer TrugschluI5 sei bei dieser Gelegenheit ins Licht geriickt. Sie sagen: lal5t uns ein paar Generationen lang der Knechtschaft entronnen sein, und ihr werdet sehen ! Das ware gut und schon, wenn die Weiber nicht ein Geschlecht, sondern eine Art oder Rasse waren. So aber sind auch wir die Sohne unserer Mutter und miissten wie unsere Schwestern am Erb- teil der weiblichen Knechtschaft leiden, wenn es ein solches gabe; und wiederum sind sie nicht minder als wir die Kinder unserer Vater und nehmen somit am voUen Patrimonium der Uberlegenheit teil.

Wenn wir das Verdienstliche des weiblichen Anteils WWhung aufdh an unserer Kunst freimiitig und dankbar anerkennen und uns selbst einer wohltatig ausgleichenden Wirkung nicht

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verschliefien, so liegt die dauernde Gefahr dieser Inge- renz doch keineswegs allein in der Bekraftigung des Modemafiigen. Der weibliche Geist ist erregbar, aber nicht sachlich; wird ihm die Emotion geboten, deren er bedarf, so ist er geneigt, die Mittel gelten zu lassen, sofern sie nicht geradezu verletzen. Auf ahnliche Schwa- chen wurden wir bei der Betrachtung der Astheten- und Talentkiinste gewiesen, deren Bliiten, ohne Wurzel und Stengel auf Draht gezogen, einen Tag duften, ohne zu leben.

Freilich werden diese Surrogate, auch unter dem starken Schutz des weiblichen Patronats, das Echte nie- mals unterdrucken oder vernichten, aber sie verwirren den Empfanglichen und rauben dem SchafFenden Licht und Luft. Man klagt iiber rasches Absinken der Lei- stung bei jugendlichen Talenten, deren Erscheinen man begriifit hatte; fiir die ersten Landschaften, fur einen Jiinglingsroman, fiir ein liebenswiirdiges Versspiel, fiir eine Reihe rhetorischer oder erotischer Strophen hatten die angesammelten Jugendkrafte hingereicht; nun erwar- tet man die Vollendung des Mannes, und empfangt schwachlich altliche Wiederholungen junger Leiden und Freuden, leichte Freiheiten von ehedem zur kompakten Manier verdichtet, gepflegte Selbstimitation des studier- ten eigenen Typus. Die Schuld der unerfiillten Ver- sprechen tragt die verworrene Meinung, die Talent mit Schopfungskraft, Begabung mit Berufung verwechselt; der Schaden aber widerfahrt der Kunst, die das Volk mit angepriesenen und schnell verleugneten Halbpro- dukten iiberschiittet und sich nicht wundern darf, wenn sie Mifitrauen erntet.

Wir haben lange bei der Einwirkung des weiblichen

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Geistes auf die Kunst unserer Zeit verweilt, well diese grundsatzliche Erscheinung geradezu auf eine Anderung der physischen Voraussetzungen hinauslauft. Wir diirfen uns nicht scheuen, einen zweiten, nicht minder grund- satzlichen Zusammenhang ans Licht zu ziehen, der zum Nachdenken liber den kiinftigen Gang der Kunst auf fordert und den man als das Gesetz des ersten Impul- ses bezeichnen darf.

In der Geschichte, die wir kennen, hat sich stets der Gesetz^des ersten folgende Grundvorgang wiederholt: Eine erobernde Schicht iiberdeckt ein Land und Volk. Mag die Zahl der Eroberer zur Zahl der Unterworfenen noch so klein sein: von diesem Tage an datiert die Geschichte und meist der Name des Volkes, seine Lebensform, Staats- verfassung, Zivilisation , Kultur und Kunst, denn alle diese Faktoren sind Willensprodukte der Oberschicht. Ich habe dargelegt, dafi in einer Bildungsform, welche man die archaische nennt, diese Lebensgiiter verharren, bis die Vermischung erfolgt. Solche Umlagerung bleibt niemals aus, denn es gibt kein Mittel, um Bevolkerungs- schichten dauernd gegeneinander abzusperren.

Die Hochepoche, die nunmehr eintritt, riittelt die Kunst auf und schafFt sie um fiir den Beharrungszustand, den sie nun zeitlebens nicht mehr verlai5t. Es gibt so- mit zwei Punkte im Leben jedes Volkes, die fiir seine Kultur und Kunst die Linie bestimmen: Eroberung und Umschichtung.

Nun tritt ein weiteres Gesetz in die Erscheinung. Die SchalFung der endgiiltigen Kunstformen umfal5t stets nur wenige Generationen. Wir kennen den Ver- lauf solcher Schopfungen in grower Zahl: die Formen der griechischen Tragodie, Geschichtschreibung und Plastik,

^^\

der romischen Literatur und Baukunst, der Gotik, der Florentiner Kunst, des englischen Dramas, der deut- schen Dichtung und Musik sehen wir aus heterogeneni Keimzustanden im Laufe von einem, zwei, hochstens drei Menschengeschlechtern zu ihrer weltgeschichtlich giiltigen Fassung gelangen. Und hiermit verbindet sich unabanderlich das Unerwartete : wahrend man annehmen konnte, daI5 die Anspannung der Formenschopfung die ' Krafte dieser Geschlechter aufzehre und erst den Nach- folgern die Aufgabe uberlasse, vollendete Einzelwerke innerhalb der gefundenen Form zu schafFen, tritt das Entgegengesetzte ein: der erste Impuls erzeugt sofort die vollkommens ten Werke, und niemals wieder wird die Hohe der Erfinderzeit erreicht. Denn es liegt nun einmal etwas Naturahnliches in diesen Zeugungsvor- gangen: nur der, welcher die Kraft hatte, die Kreatur zu woUen, konnte sie bis zum Rande mit Geist erfiillen, nur der, welcher den liberschieftenden Reichtum des Geistes besafi, konnte erzwingen, daj& er sich in neuer Form verkorperte. DaI5 aber in jenen grofi)en Zeiten die gewaltigsten Menschen, niemals vereinzelt, stets in gr6l5erer Zahl hervortraten, ist ein Gesetz, auf das wir eingehen werden, sobald wir auf den Anteil der stark- ?ten Geister an der Kunst unserer Zeit zuriickkommen. Keiner der Formenschopfer wurde durch Nachfor- mende iibertroifen, kein Grofier hat Endgiiltiges geleistet, er sei denn selber ein Formschdpfer gewesen ; und so lafit jenes Gesetz sich in dem Sinne umkehren, dafi wir behaup- ten : keine Kunstperiode mit feststehenden Formen konne mehr erleben als hier und da eine verspatete Nachbiiite. i^4chblUfpn So haben denn die Kunstformen der neuesten Zeit, als welche man etwa, mit teilweise ungewohnten Namen,

das absolute Musikwerk, den Gesellschaft»roman, de&s deutsche Liedgedicht, das subjektive Gemalde, vielleicht noch das biirgerliche Sittenstiick nennen diirfte, fast im Augenblick ihres Entstehens die hochstenVerkorperungen gefunden. Vieles Hocherfreuliche ist ausfiihrend, er- ganzend, nachholend seitdem geleistet; vielfach sind die eigentlichen Erfolge erst den verstandlicheren zweiten und dritten Aufgiissen zuteil geworden, dalb aber das wahrhaft Unentbehrliche, die Epoche Erschopfende nicht leicht wiederkehrt, das empfindet jeder Unvoreingenom- mene in der Stille der Biicherei, wo denn allemal die gleiche Dutzendzahl mittlerer und alterer Werke, und diese immer wieder hervorgeholt werden, wenn der Geist eine freie Feierstunde verlangt.

Dieser Zusammenhang auI5ert sich in manchen falsch lokalisiertenEmpfindungen und mifideutetenSymptomen. Die einen beklagen sich, daI5 die Farblosigkeit unserer Sitten und Trachten, die Eintonigkeit des aufieren Handelns und die Armut der Ereignisse dem Drama nicht mehr giinstig sei. Sie mochten sich am liebsten den Brokaten und Dolchen der Renaissance zuwenden. Das bedeutet: dal5 sie das Drama Shakespeares im Her- zen tragen, und dafi diese Kunstform von unserer Zeit nicht mehr bis zum Rande erfuUt wird. Andere bedauern die Erschopfung derStofFe; das Leben sei karg, typische Charaktere, ergreifende Konflikte und leidenschaftliche Situationen seien zu zahlen. Das bedeutet, dafi eine be- sondere Art, das unendliche Leben zu fassen, zur Kunst- form geworden ist, die ihrerseits nicht unendlich und somit erschopfbar ist. Wiederum gibt es Optimisten, die von jeder neuen Erfindung, Verkehrsart und Berufs- gestaltung erhoffen, dafi sie neue kunstlerische Pragungen

»n

bewirken werde; sie fragen, warum nichl das Epos des LuftschifFs oder das Drama der Kolonisation geschrieben werde. Das bedeutet, dail> sie das Wesen der mechani- stischen Welt nicht erfassen, das durch technische Lo- sungen nicht umgeschafFen, sondern lediglich fortgefiihrt wird. Dem mechanisierten Gesellschafcs- und Gefuhls- leben ist aber bereits im Anfang durch Stendhal, Balzac und Flaubert seine Epopoe geschaiFen worden; das Da- monium der Unterschichten haben Dostojewski, Tolstoi und Strindberg aufgedeckt, und das Philistertum hat Ibsen besungen.

Rekapitula- Fassen wir dieses nicht sehr sonnenvolle Bild von der Einwirkung unserer Epoche auf das Geschick der Kunst zusammen, vergegenwartigen wir uns die Massenhaftig- keit des Betriebes, die Unsicherheit der Beurteilung, den raschen Wechsel der Moden, die Konkurrenz der Extra- vaganzen, die Belastung mit Erinnerungen und Ein- driicken, erwagen wir den wachsenden Einflufi) der Asthe- ten und Frauen, die Volksfremdheit eines bedeutenden Teiles der Produktion verbunden mit dem steigenden Anspruch auf Internationalitat, endlich die Bewegung in feststehenden Bahnen und Formen, die nur durch ge- waltsamie Erschiitterung der Tie fen unserer Gesamt- existenz umgelenkt werden kann; vergessen wir nicht die Grundbedingung der subjektiven Kunst: dal5 sie auf alle Zwecke, somit auf unmittelbare staatliche, gesell- schaftliche und wirtschaftliche Niitzlichkeit zu verzich- ten hat: und es wird uns verstandlicher, daI5 die tatigen, leitenden und entscheidenden Manner unserer Zeit der Kunst fremd bleiben.

Kunstflucht Begegnet man unter Militars, Staatsleuten, Gewerb- ^"^^^treibenden und Gelehrten einem Mann, der fiir bildende

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und redende Kiinste ein mehr als konventionelles Inter- esse zeigt, so ist leider mit einiger Wahrscheinlichkeit zu befiirchten, dal5 man es mit einer weichlichen, leiden- den, dem Beruf nicht geniigenden und von ihm nicht ausgeftillten Natur zu tun habe. Eine geschmackvoUe Neigung zu altem und neuem Hausrat, ein heimliches Talent, eine zufallige Kiinstlerbekanntschaft oder weib- licher Einflufi ruht zumeist im Hintergrunde. Auszu- scheiden sind naturgemal^ die Falle reprasentativer oder spekulativer Neigung und diplomatischer Anpassung. Die aufrechten Naturen dieser Klassen liberlassen die kiinstlerische Fiirsorge den Frauen; wenn diese nicht ausreichen, Sachverstandigen; von der zeitgenossischen Produktion sind sie so weit entfernt, dal5 ein Gedicht- band oder ein Bild des mittleren Artistentums ihnen so unverstandlich bleibt wie irgendeine Spezialforschung oder abseitige Technik. Vor allem aber ist ihnen die Menschlichkeit eines grofien Teiles der gegenwartig Schaffenden fremd geworden; gewisse, mit der Kunst- tendenz wechselnde Alliiren erscheinen ihnen seltsam, mit den Worten der Koteriesprache : Tempo, Rhyth- mus, Synthese und wie sie heifi)en mogen, finden sie sich nicht zurecht, und handfeste, sachliche, ver, stehende und verstandliche Menschen der Gegenseite- die manchen Widerspruch entwirren konnten, treten ihnen nur selten gegeniiber.

Halten wir mit dieser zeitlichen Erscheinung der Gesetz der Kunstflucht die kiirzlich gestreifte geschichtliche Erfah- g^gg^^£^gjj^^' rung zusammen, dal5 in groI5en Epochen ein gewaltiger ^^^g Uberschufi produktivster Naturen zum gleichen Augen- blick an eng benachbarten Orten sich einzustellen pflegt, so mochten wir nicht gern diesen Reichtum mit der perio-

dischen Analogic fetter Jahre vergleichen, sondern viel- mehr auf die gleichbleibende Schopfungskraft vertrauen und annehmen, daI5 nicht die Zahl und Starke der gei- stigen Potenzen einer Zeit und eines Landes schwankt, sondern ihre Richtung. Wie die Masse der Meere un- verandert bleibt, ihr Schwerpunkt aber von meteorischen Kraften gezogen sich leise in Ebbe und Flut bewegt, so scheinen die Geisteskrafte der Volker und mit ihnen die jeweils starksten Exponenten nach wechselnden Wir- kungsflachen hingetrieben. Diese Wirkungsflachen aber wirdmandort suchen miissen, wo jederzeit der starkste AngriiF gegen das innere Leben droht, oder wo das reichste Wachstum moglich ist; so laI5t die Pflanze ihre Safte zur Heilung einer Wunde oder zur sonnenbegiin- stigten Bildung eines neuen Triebes der gefahrdeten oder bevorzugten Stelle ihres Korpers zustromen.

Gibt es eine Flucht starker Personlichkeiten von der Kunst hinweg, so miifite demnach ein Zudrang nach an- deren Lebensgrenzen hin wahrnehmbar sein; und wir tauschen uns vielleicht nicht, wenn wir heute, und gleich- zeitig in all^n Kulturstaaten, die Tat, und zwar enc- sprechend der Mechanisierung, die wirtschaftliche Tat als das SchafFenselement der starksten Potenzen an- sprechen. tVenduns^utrTat Hier crblicken wir denn auch wirklich die gefahrde- ten Regionen des nationalen Lebens, insofern, als heute die Selbstandigkeit der Volker zum guten Teil auf dem Erfolg des wirtschaftlichen Wettkampfes beruht; und eng benachbart den bedrohten Positionen erkennen wir die Ausbruchspforten einer neuen, nicht liberlieferbaren, schrankenlos erscheinenden Expansion. Die menschlichen Potenzen, die an diesen Grenzbezirken schaffen, sind dem

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Namen nach vielen, dem Wesen nach wenigen bekannt, well die geschichtliche Betrachtung sich nur dem Abge- schlossenen und Erledigten gegeniiber sicher fiihlt; man ist daher geneigt, jene Tatigkeit als eine unindividuelle, auf Routine, Erfahning und allgemeiner Weltklugheit be- ruhende gelten zu lassen,derenanonymesVerdienstdurch materielle Ertrage liber Gebiihr belohnt ist, wahrend der Aufwand an Phantasie, Intuition, schopferischer Erkennt- nis, den die Nation an diese Peripherien zu entsenden hat und die allein den Erfolg unerhorter Arbeit verbiirgen, unbeachtet bleibt. Hier zeigt sich denn auch die Er- scheinung jener Einsamkeit des Wirkens, die den Stark- sten vorbehalten ist, weil sie nicht allein sich ihre Auf- gaben, sondern auch ihre Gebiete schafFen. Niemals sehen wir die Starksten in Konkurrenz, an liblichen Aufgaben und auf betretenen Wegen. Es ist Irrtum der Epi- gonen, nie geschaute Friichte zu erwarten, wenn sie die von den Vorfahren gelockerte Scholle von neuem um- wenden; das groi^e Werk ist kein Erbstiick wie Wiese und W'ald, die sichimmer wieder diingen und durchforsten las- sen; und kamen Shakespeare und Kleist heutezuriick, so wiirden sie nicht die alte Arbeit aufnehmen und sich selbst fortsetzen, sondern neue und ungeahnte Auf- gaben suchen und finden.

So sind wir wiederum beim Gesetz des ersten Im- pulses angelangt und bei der Stimmung, die uns die gegenwartige Epoche als eine der Kunst nicht durchaus forderliche zeigt. Zu untersuchen, ob und wie lange diese Witterung anhalten mag, ist hier nicht geboten. Die Erkenntnis des katastrophalen Charakters, den wir den hochsten Kunstepochen zusprechen muBten, zwingt uns zur resignierren HoiFnung, e^ mochten unseren

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Nachkommen die Erschiitterungen erspart bleiben, die so gefahrliche Zeiten emporfunrten. Kunst als Ge- Niemals wird die Menschheit auf ihrem Gange, der leiterm ^^j. ^qqIq fiihrt, der Kunst entbehren, noch ihr entsagen.

Sie hat uns dutch das Vehikel der iroh genieC)enden, heftig begehtenden und unmittelbaren Sinnlichkeit zur Natur, zum Weltgesetz und zur Transzendenz gefuhrt. Nun sind auch wit auf diesem Wege hetangewachsen. Hat vordem Natur zu begiinstigten Menschen und Stam- men gesprochen, ihnen mit leiser Hand Begehren und Fiirchten von den Augen gestrichen und auf das Ewige gedeutet, so spricht sie heute zu vielen, und dereinst wird sie zu alien sprechen. Vielleicht ist der Kiinst- ler nur der Vorlaufer des Menschen, zu dem die Na- tur spricht; vielleicht sind auch jene Halbgliicklichen, die, auf ihr Talent pochend, die schone Gabe ihrer Sinne umzumiinzen suchen, nur in der Richtung getauscht; sie waren gliicklich, wenn sie horen woUten, ohne zu reden, wie dereinst alle horen werden. Dann ware es mdglich, dafi die Kunst schon jetzt beganne, ihren Schritt zu zahmen, der weit der Menge vorausgeeilt ist, und es diirfte uns selbst die Ungunst der Periode als ' ein gliickliches Vorzeichen erscheinen.

Da nun der denkende Geist iiber die Schranken der Sinnlichkeit unaufhaltsam hinausstrebt, so wird auf einer letzten Sttecke diejenige Kunst seinen Weg zu geleiten haben, die heute abseits, von der Forschung bedrangt und libertaubt, ein schlummerndes Dasein fiihrt, die Kunst des Gedankens. Aber auch sie ist nicht ein ab- solutes Gut, denn wie liber die Sinne, so schreitet auch liber das Denken die Seele hinweg.

2S8

111.

DIE PRAGMATIK DER SEELE

Im Anfang dieser Schrift habe ich bekannt, dafi eine Wurzeln der

Wirkliclikcit Meinung mir nur dann vertrauenswiirdig scheint, wenn

sie bei aller aufieren Festigkeit des Stammes und bei

aller freien Phantastik der organischen Verzwelgung mit

gesunden Wurzeln in derWirklichkeit desTages haftet; ja

noch mehr, wenn der Boden dieser Wirklichkeit sich mit

Trieben und Schdfilingen durchsetzt erweist, die richtig

erkannt und gedeutet die echte Bodenstandigkeit und

vegetative Kraft dieser Wahrheit bestatigen. Diese

Auffassung bedeutet nicht eine Uberschatzung der er-

scheinenden Wirklichkeit, sondern die Ehrfurcht vor der

Vieldeutigkeit und Kontinuitat des Natiirlichen, das all

2u reich und all zu schdpfungskraftig ist, als dafi es mit

gemeiner Tauschung, mit Sprunghaftigkeit, mit falschen

Bildern und briichiger Symbolik sich behelfen miifite.

Deshalb steht uns jetzt die Aufgabe bevor, im ofFen- Problem der

kundigen Leben die Wurzeln des Seelenreiches zu finden, Kontinuitat

ja noch mehr: wir miissen wissen, ob dies Reich in der

irdischenPorm seiner AusbreitungdemvereinbartenWirk-

lichkeitsleben ertraglich ist, aufdessen Boden es wachsen

soil, ob der bisherige Entwicklungslauf dutch die Er-

19 289

fiillung des Reiches seine vollkommene und verscihnende Deutung findet. Ausschaitungder Die Probe* Ware verdachtig, wenn sie uns eine zeit- ilche Gliickseligkeit auf Erden vorspiegelte. Denn die Seele sucht nicht das Gliick, sondern die Erfiillung. Nicht fiir sich, nicht fiir die andern, nicht fiir die Ge- meinschaft, nicht fiir Gott sucht sie Gliick, sondern Miihsal ; freilich eine edlere Miihsal an Stelle einer kiim- merlichen.

Nach dem Gange unserer Darlegung, die uns von intellektualer Wercung befreit und zu absoluter Wer- tung gefiihrt hat, ist nicht mehr zu befiirchten, dafi dieser Satz paradox erscheine und dafi noch fernerhin ein utiiitarisches Gut: Gliick, Gerechtigkeit, Dauer, Frieden, als oberster Lohn und Zweck auch nur fiir irdisches Da- sein gefordert werde. Dennoch sei in Kiirze von einer bisher nicht beriihrten Seite der Gedanke nochmals erlautert. Giiiikspotentiai Wenn uns das Leben irgendeines Tieres als Inbe- grifF einer vollkommenen Gliickseligkeit glaubhaft ge- macht w^erden konnte, so wiirde ein hochgesinnter Mensch, und ware er noch so bekiimmert, nicht wiin- schen, unter Darangabe seiner menschlichen Einsicht in dieses Tier verwandelt zu werden. Selbst unsere primi- tiven Wiinsche werden somit nicht bestimmt von der Gliickspramie allein, sondern von einem Potential, das sich zu vergrdliern strebt und sich gegen Verringerung wehrt. Dai5 dieses Potential mit der Seelennahe gleich- zusetzen ist, lafit sich beweisen; denn jeder, der eines Hauches von Seele teilhaftig geworden ist, wird jede Riickversetzung in tiefere, ja tiefste menschliche Lebens- lage dem Verluste dieses Hauches vorziehen, er wird

290

eher bereit sein, den Weg Buddhas zu wandeln als den

umgekehrten. Der seelenlose Mensch jedoch, dam das

gleiche durch alle Natur gegossene Potentialstreben ein-

gepflanzt ist, wird die Empfindung falsch lokalisieren, in

ihr eine Bekraftigung seines materiellen Strebens er-

blicken, ihr durch alle aufsteigenden Lebenslagen folgen

und auf jeder neuen Smfe erstaunen, „dass es auch

nichts ist". Das Streben nach dem Potential ist somit

selbst im primitivsten Leben realer als das Streben nach

dem Gliick, und dennoch nur eine getriibte und bewufit-

lose Form des Strebens nach Seele. Einen handlichen

Vergleich dleser Kraftefolge bietet das Tier, das mit

Zucker gezahmt wird, das Kind, das aus Ehrgeiz lernt

und nicht ahnt, wozu das Erlernte taugt, der Mann, der

wissend um Erkenntnis ringt, weil tieferkannte innere

Not ihn treibt.

Der Kampf um das Gliick ist die objektivierte ¥ or m See/e und Se/rg

der intellektualen Zweckhafrigkeit; im Sinne des Schop-

fungswillens aber wird nicht gespielt um des Einsatzes

willen, sondern der Einsatz wird geschaffen, weil gespielt

werden soil. Wir wissen, das Gliick ist ein intellektual

gedachtes Gut; wir folgen der Seele aus der Notwendig-

keit unseres Seins und um der Wiirde der Schopfung

willen, unbekiimmert, ob das neue Reich uns schwererc

Miihen auflegt als das alte, dankbar fur den Quell der

Liebe, den es erschlielSt.

Eine zeitliche Gliickseligkeit werden wir vom be-,Irdische In*- , . , J p , . , , . stitution und

ginnenden Reiche der Seele so wenig verlangen als erne geelische For-

ewige. Aber da wir seine Wirklichkeitswurzeln suchen derung

und an die Kontinuitat der Erscheinung glauben, so haben

wir zu priifen, ob unsere Weltordnung mit seinen neuen

Voraussetzungen bestehen oder yeredelt werden kann;

19* 291

denn konnte sie es nicht, so ware eine Diskontinuitat

gegeben, die uns zwange, den Gedankenweg zu revi-

dieren.

Priifung der Da die Evolution der Seele den Menschen im In- Motoren i ,. ^ /- , i i

nersten umgestaltet, so ware zunachst die Gefahr denk-

bar, dais die intellektualen Motoren, welche den sozio-

logischen Weltmechanismus treiben, geschwacht, ja ver-

nichtet werden, dafi somit die menschliche Belebung

der Erde verlosche oder in ungliicklichster Selektion

den Seelenlosen als den irdisch Starkeren verbleibe.

Gefahr: nicht zwar im Sinne des Geschehens, denn wenn

die Seele lebt, so mag das Animalische vergehen und

werden; Religionen, Sittenlehren und philosophische

Doktrinen haben diesen Untergang ohne HofFnung des

neuen Tages gepriesen und dutch Askese und Weltflucht

eingeleitet; Gefaht vielmeht im Sinne des Denkens,

denn es widetspricht dem Gange det Natut, der ptak-

tischen Etfahtung und det empirischen Voraussicht, dal5

dutch katasttophale Selbstvernichtung gleichsam ein

Vakuum im Sttom des Geschehens geschafFen werde.

Witd nicht dieset ungeheute Mechanismus vom Be-

gehren und vom Kampf, vom Denken und vom Zweck

getrieben? 1st nicht alles, was wit Fottschritt und Ent-

wicklung nennen, Ptodukt det hdchsten, eigensiichtigen,

erfindetischen Not? 1st nicht der Mangel, das Elend, die

Angst, die Sorge, selbst das Verbrechen ndtig, um die

Geschwindigkeit des Umlaufs bis zut Schwungktaft det

Mechanisietung zu steigetn? Was soil geschehen, wenn

die Mototen etlahmen, das Begehren schweigt, der

Kampf in Liebe endet, das Denken im Schauen aufgeht

und det Zweck erstirbt? Wenn Angst und Not, abet

auch Tagesfreuden, Eitelkeiten und Ttiumphe, Ehrgeiz,

;9i

rieiTSchergeliiste und Tatenstolz vergessene Geriichte sind?

Mancher wird meinen, dafi ohne die lebendige Kraft dieser Motoren die menschliche Welt nicht einen Tag bestehen kann, und damit dieser Welt das Zeugnis aus- stellen, dafi sie nicht verdiene, einen Tag zu leben, und dafi> es besser sei, sie ware nicht geschaiFen worden. Ich sage, es wird Zeiten geben, die von unseren Sorgen, Noten, Kleinhelten, Freuden und Schlechtigkeiten nicht anders sprechen werden, als wir von Kannibalismus, Menschenopfern, Blutschande, Fetischismus , Hexerei, Inquisition und Folter. DIese Jugendtorheiten des Men- schengeschlechts wogen leicht, denn sie ermangelten des Urteils; sie waren schwer abzutun, denn niemand kannte Mittel und Weg.

Unsere Alterstorheiten wiegen schwerer, denn wir sind ihrer bewufit, aber sie sind leichter abzutun, denn das Denken, das sie geschafFen hat, steht uns zur Seite, um sie zu verscheuchen.

Freilich wird man, wo von menschlichen Dingen Zeitikher Vw- allgemein die Rede ist, niemals an hundertprozentlge Wirkungen denken diirfen. Wie jede Untat vorzeitlich- ster Art, jeder Greuel, den menschliche Phantastik aus- zudenken fahig ist, noch heute, stiindlich, irgendwo in der Welt begangen wird, und dennoch nichts bedeutet als eine kiimmerliche Ausnahme, einen schrecklichen Unfall, ein fliichtiges Erschauern des Menschheitskorpers, weil eben aller gesunde Geist sich ausnahmslos gegen den Giftstoff auflehnt: so mag in spatester Zeit, wenn alle Freude am Besitzneid und am kauflichen Tand langst vergessen ist, noch immer ein Negerweib sich Kostbarkeiten um Hals und Schadel flechten, in der

293

HoiFnung und rielleicht mit dem Erfolge, eine andere durch die Schaustellung zu kranken. Immer werden, und jedem Menschen, im Traum und Wachen Diister- nisse liber die Seele schleichen, immer werden wir wanken und irren; was der Geist mifibilligt, werden die Damonen des alten Blutes insgeheim vollenden; wir werden wie heute schreckenvoU vor unseren eigenen Handlungen stehen und nicht begreifen, wer und was sie beging. Aber der Zauber des Bdsen und der Ver- zweiflung ist gebrochen, wenn die Richtung gefunden ist, wenn der Irrtum zur Ausnahme wird, wenn der Wille feststeht. Eine Anschauung, die auf eine aus- nahmlose VoUkommenheit des Menschlichen in noch so spater Zeit hoffte, ware irreal; eine Anschauung, die sicli der Gesamtentwicklung des sittlichen Geistes ver- schlosse, ware niedrig.

So wird auch das Begehren niemals ganzlich ver- stummen. Weder verlieren die Sinne ihre Macht, noch wird die Menschheit ihren gewaltigen Haushalt zur betteihaften Diirftigkeit dampfen. Behaglichkeit des Lebens, Wechsel und Anregung darf und wird sie auch kiln frig fordern, Mangel und Not bekampfen. Noch weniger wird ein mechanischer Altruismus zu erstreben sein, der nichts weiter bedeutet als die pedantische Umlenkung des eigenen Begehrens auf ein fremdes Ziel, eine Umsteuerung des Motors auf indirekte Wir- kung. Hauptmotsren: Denuoch, tauscheu wir uns nicht: auch bei realster Macht **" Einschatzung der Prozentsatze und Wirkungsgrade ver- kiindet jede Anderung des psychologischen Klimas, vor allem aber die Abkiihlung der heute wirkenden leiden- schaftlichen Triebkrafte, eine so ernstliche Umlagerung

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des nmteriellen Wesens, dafi wir die gestellte Frage, ob

der Weltgang mit der Seelene volution zu vereinen sei,

gewissenhafc zu priifen haben. Wir diirfen die Priifung

beschranken auf die Einschatzung der beiden Haupt-

motoren: das Streben nach Besitz und das Streben nach

Macht, die uns im materiellen Leben vorzugsweise als

Warenhunger und als Ehrgeiz entgegentreten. Die

negativen Fakroren des Mangels und der Not diirfen Not und Mangel

ausgeschaltet werden, denn sie bedeuten Zeitfragen. * "^ "^J^^^"*

Die restlose Beseirigung aller wirklichen Not wiirde den

Kulturstaaten weit weniger kosten als ihre Rxistungen.

Zwei Milliard en, weniger als der dritte Teil der diFent-

lichen Budgets, in Deutschland jahrlich aufgebracht und

richtig verwendet, wiirden die letzte Spur von Not aus

dem Lande treiben. Die Unfahigkeit und Indolenz des

legislatorischen Geistes in den Kulturlandern ist verant-

wortlich fur die Blutschuld und Schande unserer

Epoche, die gesiihnt sein wird, bevor dieses Jahrhundert

sich neigt. Die Zeitlichkeit und relativ leichte Abstell-

barkeit der materiellen Not beweist, das sei in Pa-

renthese bemerkt, den akzidentellen und transzendenz-

losen Standpunkt jeder Anschauung, welche materielle

Lebensbesserungen in den Mittelpunkt ihrer Gedanken

stellt.

Denken wir uns nun zunachst alien dringenden 5«//». Ent^ Mangel beseitigt, sodann den allgemeinen Warenhunger ^l^*Jlchaft so weit gestillt, als es bei den wahrhaft Gebildeten der Kulturstaaten schon beute der Fall ist: insofern sie grossenteils ein einfaches, ja diirftiges Leben frei- willig fiihren, ein diirfrigeres aber zu fiihren be- reit waren, wenn durch eine gemeinsame grofie Be- wegung der Menschheit ein entscheidender Dienst ge-*

z^S

leistet werden kdnnte. Die ersteFolge ware, dafi einhochst bedeutender Teil der materiellen Weltarbeit, der heute vergeudet wird, seies erspart,seiesfurechte Verbesserung und Verschdnerung der Lebensverhaltnisse verfiigbar wiirde. Denn wenn man annimmt, dass fur die Herstellung von Giften, von Mitteln zurBerauschung, Betaubung und Reizung der Sinne, fiir Modetand und uberfliissige De- koration, fur fiktiven Gebrauch, irrige Reprasentation und Neiderregung ein gutes Drittel der menschlichen Arbeit in Form von Bodenprodukten, Chemikalien, Mine- ralien, Textilstoffen, Keramiken, Leder-, Papier-, Stein- und Metallarbeiten aufgewendet wird; dafi die Mittel und Einrichtungen zur Herstellung, zum Transport, zum Grofi- und Kleinhandel und zur Applikation dieser Uber- fliissigkeiten und Scheufilichkeiten nochmals die Halfre dieses Betrages verschlingen; so darf man sagen, dafi die halbe Arbeit der zivilisierten Welt der Erzeugung von Unrat dient und dafi die Halfte ihres Einkommens aufgewendet wird, um ihn zu bezahlen. Die Okonomie- lehre des XVIII. Jahrhunderts wiirde dem entgegen- halten, der Luxus bringe Geld unter die Leute, wenn er aufhdrte, miifiten sie hungern. Dieser Einwand ist heute nicht mehr zu erwarten, denn jeder Kenner wirtschaftlicher Dinge weifi, dafi, sofern RohstofFe und Betriebsmittel ausreichen, keine Hand dauernd zu feiern braucht, gleichvlel welche konsumierbaren Warenkate- gorien erzeugt werden.

Nun kdnnte die zweite Form des Hungers nach Be- sitz zur Erhaltung des Weltgetriebes unentbehrlich scheinen: die Begierde nach Vorrat, nach Wirtschafts- mitteln, nach Kapital. Da sie in ihren Wirkungen mit dem Streben nach Macht zusammenfallt, kdnnen wir sie

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in die Betrachtung dieses bedeutungsvoUen Motors ein- ordnen.

Man sagt, dafi der Wille nach Macht die Welt vor- Macbt warts treibe. Schwiege er, so entbehrten wir der Fuh- rung und Initiative, des wirkenden und organisierenden Gedankens; die Welt miifite ermiiden, veralten, ver- dummen, ja verhungern. Und wirklich sehen wir, wie die Krafte des Kampfes und Wettkampfes die Massen vereinigen und durch Organisation beleben, wie sie die Mittel und Werkzeuge versammeln und in ihrer Wirkung steigern, das Neue ersinnen und ergreifen, das Alte und Uberlebte vernichten, Gleichstrebendes im Biindnis mitreifien oder niederwerfen, Hilfskrafte der Natur erschliefien, unbekannteFernen durchforschen; wir sehen den gewaltigen Apparat der lebenden und toten Maschinerie so durchgeistigt, dafi er mit seinen sensibelsten Nerven dem leisen Impuls des fiihrenden Willens gehorcht, wahrend die zyklopischen Glieder den Erdball umspannen und Erz um seine Fianken Schmieden.

Was auf Erden kame an damonischer Gewalt dem Ehrgeh. Willen zur Macht, dem Ehrgeiz gleich, wenn wirklich er dies Unerhorte vollfiihrt hat! Aber wir blicken ihm ins Herz und finden, dalb er sich eitel briistet. Er ist nicht schopferisch. Uralte Rache und Rankiine getretenen Sklaventums hat ihn emporgetrieben. Nicht mehr ge- horchen mussen, nicht mehr verachtet werden, nicht mehr beiseite stehen, nicht mehr ausgeschlossen sein, ist seine angsterfuUte Leidenschaft. Endlich einmal selbst herrschen und angebetet werden, die Menschheit erniedrigen um sich zu erhohen, alles besitzen, um nach Willkiir zu verteilen und selbst die

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Grofimut zur Fratzenkomodie zu machen ist sein Traum. Er wird sich wegwerfen und beschmutzen, um zu er- reichen; im Triumph glaubt er die Schande zu ersticken. Sklavenblut im Desporengewand ; sein Wesen ist Furchr, Gier, List und Zweck. Sachiicbkeit Ehrgeiz hat in dieser Welt nie anderes gewirkt als schlaue Frakriken, kleine Mittel und mittlere Zufalls- erfolge. Seine Aufgabe ist, die schopferischen Naturen zu afFen, ihnen als Werkzeug und Zubringer zu dienen und in ihrem Schatten zu verzweifeln. Nahern wir uns aber den wahrhaft Grofien, den Schopfern der Gedanken und Werke, so erkennen wir Menschen, die der Sache dienen. Ist ihre Sache Ordnen und Herrschen, so wer- den sie ihr getreu sein, nicht anders, als wenn ihre Sache Leisten und Gehorchen ware. Schein, Neben- wirkung und Lohn bedeutet ihnen nichts; auf Besitz, Macht und Leben verzichten sie, wenn ihrer Sache ge- dient ist. Diese Liebe zur Sache ist transzendent, denn sie ist zweckfrei und intuitiv; intuitiv, phantastisch und divinatorisch sind auch die Geisteskrafte, die sie ent- fesselt. Vnantvjortung Solcher Art waren und sind die Menschen, die den weltlichen Dingen ihre Formen gegeben haben. Die Leidenschaft, die sie bewegt, ist die gleiche, die den Kunstler, den Forscher, den Handwerker und Bauer be- seelt; sie heifit Schaffensfreude. Ein weiteres Hoch- gefiihl des tatigen Menschen mufi sich m ihnen zur herrschenden Empfindung steigern, jenes Bewufttsein, durch den Willen geisriger, ja gottlicher Krafte zu einem Wirken berufen zu sein, das den ganzen Menschen hinnimmt, das den rastlosen Kampf gegen die eigene Unvollkommenheit verlangt, das nicht ohne weiteres

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iibertragbar ist und daher die Wurde einer persdnlichen Last und Notwendlgkeit verlelht. Dieses BewuC)tsein bezeichnen wir mit dem Namen der Verantwortung, der besagt, dafi vom Geiste vor Gott und Menschen Rechenschaft gefordert wird; dieser Name ist schoner und verstandlicher als der des Gottesgnadentums, dessen Klang entschiedener von Rechten als von Pflichten die Vorstellung wachruft.

Schaffensfreude und Verantwortung werden noch Neue Kr^e lange die menschliche Betriebsgemeinschaft erhalten und ftihren, wenn der Motor des Ehrgeizes langst erkaltet, seine arme Mannschaft langst zu den Vatern versammelt ist, und die Krafte werden urn so reicher und reiner wirken, je weniger sie von Lohn, Uppigkeit und aufierer Ehre versucht, bedrangt und beschamt werden.

Nicht um den Mechanismus der Erde zu retten, sondern um zu zeigen, daI5 dieses an sich nicht gute und nicht bdse We sen der Evolution der Seele willig folgt, mufiten wir die Uberschatzung der intellektualen Hauptmotoren, des Willens zum Besitz und des Willens zur Macht, brechen. Wichtiger ist, dal5 wir die Keime der neuen Krafte, die allenthalben schlummern, ans Licht heben.

Wir alle wissen, dafi schon heute, in dieser Zeit des Erb/assen ^n- Be- Begehrens, die erleuchtetsten und geistigsten Geister den ^^^ ^^" ^ Lebensweg wahlen, der sie am weitesten vom Besitz hinwegfuhrt. Wir wissen, dafi es das vornehmste Merk- mal der Staatentiichtigkeit ist, wenn die Trager hoher Verantwortung mafiig, ja diirftig zu leben bereit sind. Wir wissen, dai5 alle Besitzseligkeit, Genu^sucht und Verschwendung die Sache mifiratener Sohne, zufalliger oder diebischer Emporkommlinge ist, dafi schopferische

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Menschen von ihrer Lebensfiihrung unabhaiigig sind. Wir wissen, dafi die Reichsten unserer Zeit im Besitz eine Verantwortung zu sehen beginnen, dafi sie mehr und mehr es wiirdig finden, sich dieser Biirde bei Leb- zeiten zu entledigen, anstatt sie der Willkur des Erb- ganges zu iiberantworten. Es gehdrt wenig Voraussicht dazu, zu erkennen, dafi die Zeit naht, die, sofern sie die Institution des Privateigentums beibehalt, das Erbrecht aufs engste beschrankt und den liberwiegenden Teil des personlichen Einkommens der Gemeinschaft zufuhrt. Anderseits wissen wir, dafi der Stachel des Begehrens zum Spiel, zum Schwindel und zur Prostitution treibt; nicht zu guter Arbeit. Die denkbar schlechteste Arbeit ist es, die aus Not oder blofi um des Lohns willen ge- leistet wird. Wenn es noch irgendwo ein paar gut- genahte Stiefel gibt, so stammen sie von einem Schuster, der an seinem Handwerk Freude hat. Erbiassen der Und was den Willen zur Macht betriiFt, so sehen actsymoe^^^^ schon seit langem, dal5 ein Volk, je krattiger und unversklavter es ist, in den Tragern der Macht und Verantwortung das Bild seines kraftigsten Selbst, nicht mehr Gotter, Despoten und Heilige verehrt. So treten denn wiederum die Beauftragten der Macht ihren Volks- briidern treuherzig, vertrauensvoll, nicht gonnerhaft, ilberlegen und gnadig entgegen; ein tiichtiger preufii- scher General, ein guter deutscher Fiirst und amerika- nischer President lechzt nicht nach Strammstehen, Posaunenstofi, Kniefall und Apotheose, sondern kiimmert sich um sein Geschaft und seine Verantwortung, ent- schlossen, unter Menschen zu wirken, nicht iiber Sklaven zu herrschen. Wir sehen ohne innere Bewegung Advo- katen an Ministeitischen. Minister an Redaktionstischen

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Platz nehmen; ein Monarch aufier Diensten ist uns keine traglsche Figur; wir erblinden nicht vor dem Glanze des verherrlichten Mardochai in des Konigs Gewandern, und frohlocken nicht uber den Sturz Hamans, des ab- gedankten Prasidenten. Auch hier ist die Zeit nicht mehr fern, die sich der Willkiir des personlichen Befehls und Dienstes schamt und mit der Anordnung und Befolgung dienstlicher und geschaftlicher Auftrage sich begniigt.

Freilich sehen wir leider gerade in Deutschland die freundlichen Symptome abnehmender Machtverblendung und zunehmender Mann haft igkeit zu Zeiten verdunkelt. Es ist bisweilen, als miifiten kurz vor dem Hahnenschrei der Dammerung die Nachtgeister der Sklaverei und Streberei, des Lippendienstes und Schranzentums ihren letzten Galgenreigen tanzen. Wenden wir getrost den Blick zum germanischen Umland von Nord bis Sildwest und bekennen: ein dstliches Erbteil hat uns die klag- liche Doppelgabe des Bruderneides und der Herren- fiircht beschert; ein Jahrhundert freier Arbeit und Ver- antwortung wird den UbelstofF verfliichtigen.

So sehen wir denn bei kiihler, ja geschaftsmafiiger Betrachtung den Boden auch des materiellen Lebens fiir das Kommende bereitet. Doch wollen wir die handgreifliche Priifung unserer Gedanken auf sachliche und zeitliche Realitat nicht beenden, bevor wir versucht haben, das Schattenbild des Seelenreiches auf der un- ebenen Flache der wehlichen Verbal tnisse aufzufangen. Wie kann, so lautet die Frage, ein im Seelenhaften wesentlich vorgeschrittener Zustand im praktisch- Welt- Seele und lichen vorgestellt werden? Auch hier ist es nicht die Aufgabe, an menschliche Wandlungsfahigkeit irreale Anspriiche zu stellen und willkiirliche physische Vor-

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aussetzungen zu fordern. Wohl aber darf daran erinnert werden, dafi noch jederzeit die Natur, um die grofien Grundgedanken ihres Planes zu erfiillen, in der Schaf- fung ihrer Werkzeuge alle Kiihnheit menschlicher Phan- tastik iibertrofFen hat. Augustus hatte den pythischen Gott von seinem Felsen gestiirzt, wenn er es wagte, als Trost dem sterbenden Weltreich die nahende Wahrheit zu verkiinden: die Wilden als Herren des Erdkreises; ein judaischer Glaube als Heil der Welt; eine Wissen- schaft, die den Blitz in Banden schlagt;' ein hundert- faltig vermehrtes Geschlecht, das Feuer und Wasser zu Sklavenarbeit knechtet und in den Liiften den Erd- ball umkreist; und diese Wandiung in kiirzerer Zeit voll- endet, als seit der Begriindung des Nilreichs verflossen. EiMsicbt und Es gibt keine Form des auiSeren Lebens und keine ungen ^^^^^ j^^ Wisseus, welchc der Souveranitat der Seele unentbehrlich ware, und keine, die sie gefahrden konnte. Deshalb ist die. Erorterung von Staats- und Verfassungs- formen, von Macht- und Besitzverteilung, von Ent- deckungen und Erfindungen fiir unsere Betrachtung nicht wichtig. Sicherlich wird die Entwicklung der Seele jede Institution und jede Erkenntnis durchdringen und umgestalten; aber es ist der tiefste Irrtum poli- tischer Meinung, dafi Einrichtungen dem Stande der Menschheit vorauseilen oder ihn bestimmen kdnnen. Einsicht und Einrichtungen gleichengekuppeltenZahn- radern, von denen nur das eine dem aufieren AngrifF gehorcht, die Einsicht: ihrer leisesten Verschiebung folgt in gesteigerter Drehung das Rad der Dinge. Im Gei- stigen ist der kiihnste Schritt erlaubt und moglich, im Pragmatischen verwirklicht sich nur das, was als Gedanke langst zur Trivialitat ge word en ist. Eine verfriihte Ein-

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richtung, selbst wenn sie erzwungen werden konnte, mufi zerbrechen, wie ein verfeinertes Spielzeug in kindlichen Handen. Wagt es dagegen Willkiir oder Tragheit, die Einrichtungen der Welt entgegen dem Vorschritt der Einsicht gewaltsam zuriickzuhalten, so steht elementare Selbstbefreiung der gefesselten Krafte bevor. Die tobenden Revolution en der Volker sind in der Einsamkeit des Denkens geboren.

Deshalb hat praktischer Sozialismus seine Bedeutung Sozia/itmiu nur als Korrektiv, nicht als Weltanschauung; ein mecha- nischer Auf bau von mathematischer Gerechtigkeit ware nichts niitz, wenn er nicht von gerechter Menschlich- keit getragen ware. Eine kiinftige Aufgabe soil sein, die Einzelziele aufzuweisen, nach welchen unter der Richtkraft der Seele die Entwicklung menschlicher Ein- richtung nlnstrebt; hier soil der Nachweis einer Verein- barkeit der Seele mit menschlicher Notdurft geniigen Am wenigsten wird daher an dieser Stelle die wissen- schaftlich-technische Evolution uns bekiimmern; selbst wenn es ihr gelange, uns mit den Bewohnern anderer Planeten zu verbinden, so wiirden wir nur nach dem Seelenstande dieser Weltbriiderschaften fragen.

Gemeinhin diirfen wir annehmen, dafi die Dichtlg- See/e und Mecba keit der irdischen Besiedelung ihre Grenze noch lange '*'^^*''^ nicht erreicht hat, sowie ferner, dafi> die zivilisatorischen und materiellen Bediirfnisse der mittleren und zuriick- gebliebenen Volker in schnellem Wachstum begrifFen sind. Hieraus folgt, dal5 eine gewaltige Zunahme jener Weltbewegung, die ich Mechanisierung genannt habe, uns bevorsteht. Aufschliefiung der entlegensten mine ralischen Vorkommen, Besiedelung jedes bewohnbaren Striches, Bewasserung der verdorrten drei Vierteile des

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gesamten Festlandes, Verarbeitung der unermeilUchen Giiter dieser Erschliefiung, Organisation, Verteilung und Transport der Arbeitskrafte, Energiequellen und Massen: diese materiellen Aufgaben, im Vergleich zu denen die bisherigen Werke der Mechanisierung ein Vorspiel sind, werden die nachsten Geschlechter beschafrigen. Neue Bevolkerungszentren von unbekannter Ausdehnung, ver- tausendfachte Wege und Mittel des Verkehrs, verfeinerte und gesteigerte Arbeitsmethoden, wachsende Konzen- trationen der Betriebe und Aufwendungen, kurz, ein ungeheures Schwellen des produzierenden Weltorganis- mus nach auJBen und nach innen folgt aus diesen Be- dingungen.

Es ist leicht, hieraus zu schlieiSen, dafi die intellek- tuale, seelenlose Geistigkeit der Mechanisierung, die ich in der Kritik der Zeit blofigelegt habe, ihren Zenith noch lange nicht erreicht hat. Diese Folgerung beriihrt uns nicht, denn wir wissen, dafi nicht zu gleicher Zeit an alien Orten die Gegenkrafte der Mechanisierung er- wachen. Noch lange werden am Kongo oder in Pata- gonien Freuden und Leiden nach Art unserer Grofi- stadtgreuel bliihen, wenn in England und Deutschland langst ein veredeltes, ernst und froh geheiligtes Leben diese Verirrungen als seltene Krankheitserscheinungen und Perversionen zu erkennen und zu behandeln ge- lernt hat.

Uns beriihrt nur die wachsende Komplikation und Schwierigkeit des aufieren Lebens, die erhohte Anfor- derung, die es an Verantwortung und Geisteskraft des Einzelnen stellt, der Ernst der materiellen Aufgabe. Dafi die inneren motorischen Krafte ausreichen werden, um den Tageswerken gerecht zu werden, haben wir ge-

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sehen, desgleichen, dafi das Hinsterben der Begehrlich-

keit dem objektiven und subjektiven Arbeitszwang mil-

dernd entgegenwirkt. Unter diesen Bedlngungen nimmt Zweite Na/w

die Arbeit eine neue Form an, deren Anfange wir schon

heute erkennen. Nicht dafi sie zum blofien athletischen

Spiel abslnkt, das stundenweis mit kiinstlich angefachter

Leiden schaftlichkeit geiibt wird; vielmehr tritt das grofie,

aller Veredelung zugrunde liegende Gesetz der wieder-

geborenen Natur in besonderer Erscheinung zutage: was

urspriinglich aus Gier und Furcht geschah, geschieht aus

innerlichem Bewufitsein. Arbeit wird nicht Selbstzweck,

aber Menschenpflicht; Lohn und Strafe, Gewinn und

Gefahr verblassen, die Aufgabe besteht.

Da nun die Aufgabe Sache der Gemeinschaft ist, so Soiidaritat folgt die Soiidaritat des Werkes und der Ziele. Nicht eine gesetzliche Zwangsanstalt, die den Starken und Be- gabten zwingt, die Friichte seines Lebens widerwillig auszuliefern, damit Schwache und Unbefahigte Mufie finden, ihn dutch Majoritat zu beherrschen; nicht ein falscher Altruismus, der paarweise den Gesunden fiir den Kranken opfert; sondern das freie Bewulit- sein, dafi es unedel ist, zu schwelgen, feige, aufzu- speichern, gewalttatig, zu sequestrieren; dait> materielles Gliick nur im SchaiFen und in der Verantwortung ge- geben ist, dafi Arbeit Menschenrecht und Menschen- dienst bedeutet, ist der Sinn unseres weltlichen Standes. Bei echten Herrschern und Fiihrern finden sich in Aus- spriichen und Taten schon zu unseren Zeiten Zeugnisse dieser Gesinnung, von der man sagen kann, dafi sie Menschen zu Konigen und Konige zu Menschen macht. Auf die materiellste Kategorie des aulieren Lebens, den Besitz, angewandt, begegnen uns ihre ersten Anfange

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nicht blofi bei Stiftern und Donatoren, sondern in all^H' Volksgemeinschafren, welche begreifen, dafi die Staats- wirtschaft liber der Einzelwlrtschaft steht, und daCy Giiter, die nur im Zusammenwirken gemeinschaftlicher Krafte erworben werden konnten, niemals unbeschranktes Eigentum des Einzelnen werden. Sittengefiibi und Unubcrsehbar zahlreich sind die Mdglichkeiten, einem eques rterung ^.^j^ bildenden ethisch-rechtlichen Bewuli^tsein mit den mechanischen Mitteln der Gesetzgebung Folge und Aus- druck zu geben; dieses Be wuC>tsein selbst aber schreitet vor in dem Sinne, dafi das Unrecht, das wir heute naiver- weise nur im ungesetzmafiigen Besitzwechsel erblicken, ausgedehnt sein wird auf jede Art von iibertriebener oder uberfliissiger Aneignung und Sequestration. Weder eine Verstaatlichung der Arbeitsmittel noch eine andere Art kommunistischer Gesetzgebung ist erforderlich, um der wachsenden Empfindung zu ihrem Recht zu ver- helfen, dafi jeder, wer es auch sei, sich versiindigt, wdin er fiir sich und seine Nachkommen von den materiellen Giitern der Welt mehr an sich zieht und verwendet, als zu einer majSigen Lebensfuhrung erfor- dert wird. Die Schmach, die heute dem Wucher und der Ausbeutung anhaftet, wird sich auf unmafiigen Be- sitz und Verbrauch erstrecken und somit die sklavenhaft gemeine Schatzung, die heute vielfach personlichem Reichtum zuteil wird, zum Rechte umkehren. Es wird in spateren Arbeiten auszufiihren und nachzuweisen sein, daiS diese Auffassung weder die Aufldsung unserer Wirtschaftsformen, noch ihre Unterordnung unter ein Massenregime verlangt; sie vertragt sich mit hoherVer- antwortung und weitem Verfugungsbereich der zur Fiihrung Berufenen, die im Vertrauen und in der Ver-

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antwortung den Lohn ihrer Arbeit finden. Der Tendenz kommender Besltzanschauung wird durch die mecha- nistischen Mafinahmen unseres Besteuerungswesens aufs wirksamste vorgearbeitet: wir sind geschult, den Zehnten als Recht der Gemeinschaft darzubringen; schon nach wenlgen Generationen wird, wenn keine sonstlge Ande- ning des Wirtschaftswesens erfolgt, das Verhalrnis sich umkehren und billig erachtet werden, wenn in Besitz- lagen, die ein mafiiges Verbrauchsbediirfnis ubersteigen, vom Erwerb, Vermogen und Erbe der Zehnte dem Be- sitzer verbleibt.

Aus dem Bewufitsein menschlicher Wiirde und aus SUtengefnhi und der Empfindung menschlicher Solidaritat entsteht die weitere Scharfung des Gewissens im Hinblick auf per- sdnliche Dienstleistung. Auch hier ebnet, dem denken- den Erkennen zuvoreilend und unbewufit, mechanistische Entwicklung mit ihren rohen Mitteln des Nutzens und Schadens den Weg, den geistige Entwicklung mit Be- wufitsein vollenden soil. Denken wir um vier, fiinf Generationen zuruck, so sehen wir unsere Heimat be- herrscht von hunderten kleiner, grofierer und souveraner Territorialherren; in weitem, demiitigem Abstand ein sparliches Burgertum in bescheidenen Stadten, im Suden und Westen ein leidlicher Bauernstand. Tief unter den Fiifien dieser zwar bedriickten, doch existenz- bewufiten Schicht bewegte sich die Volksmasse der Leib- eigenen, Knechte, Magde, Vagabunden, jene anonyme Menge, Erbin der Unfreiheit, von der die Geschichte ier Jahrhunderte schweigt, als ware sie nie geboren, and deren Schicksal nur aus den Erlebnissen ihrer Herren sich uns erschliefit. Demiitig und gehorsam fien sie sich ziichten, beherrschen und verkaufen.

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Entbldfiten Hauptes standen sie am Wege, wenn die Herrschaft vorbeifuhr, kiifiten ihr den Rocksaum, wenn sie zu halten geruhte. Geschlagen wurden sie als Land- leute, als Soldaten, als Knechte und Diener; ihre Ant- wort war Ersterben in Untertanigkeir. Von landes- fremden Herrschaftsgasten wurden sie als ungefiige Kanaille verspottet, als kaufliches Soldatenmaterial waren sie im Ausland begehrt. Von ihrer Armut und geisrigen Verlassenheit, die nicht, wie man vielfach an- nimmt, wesentlich auf den dreifiigjahrigen Krieg zuriick- zufiihren ist, macht man sich aus den Reise- und Lebens- geschichten des XVIII. Jahrhunderts einen BegrifF. Untertanigheit Bedenkt man, dafi die Mehrheit unserer tatigsten

ntat ' Bevolkerung aus Nachkommen dieses unbekannten

Standes besteht, so blickt man leichter hinweg iiber die Mischung von Servilismus und Respektlosigkeit, der man in unserem Lande allzuhaufig begegnet, und erfreuc sich an dem fast unbegreif lichen Zuwachs an Mannhaftig- keit, Selbstbewufitsein, Kenntnis und Ansicht, gleichviel ob Hausherren oder Feudalherren unersetzliche Verluste an Dienstwilligkeit und Gehorsam beklagen. Freilich ist das Verhaltnis von unterwiirfiger Treue und verant- wortungsloser Leistung zu herrschaftlicher Fiirsorge und absoluter Autoritat, das man gern als das patriarchallsche bezeichnet, im Grunde vernichtet und nur noch stellen- weise durch bewuiSte oder unbewufite Irrefiihrung auf- recht zu erhalten; denn wie einerseits eine verant- wortungslose Tatigkeit und Leistung nicht mehr denkbar ist, so kann anderseits eine andere schutzende Fiirsorge und Gegenleistung als die der wohlgesinnten Arbeit- geberschaft, besten Falls verbunden mit etwas unzulassiger Protektion nicht mehr gewahrt werden.

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IJns beriihrc bierbei das vorerst nicht ethisch, son- dern mechanisch bewirkte rascbe Absterben personlicher Untertanigkeit und Dienstbarkeit, das in den Vereinigten Staaten und teilweise in England zu volliger Umwand- lung des Dienstverhaltnisses in ein Arbeits- und Be- amtenverhaltnis gefiihrt hat. Erniedrigende Vorhaltungen und willkiirliche Freiheitsbeschrankungen, wiirdelose An- reden und Unrerwiirfigkeitsfloskeln, Bezeigung vermeint- licher Ehren durch Korperhaltung und Gliederverren- kungen sind, um von Symptomen zu sprechen, in diesen Landern alterer Emanzipation schon heute so unmdglich, wie sie bei uns in funfzig Jahrensein werden; dieReste alter Unterscheidungszeichen, bunte Dienerkleider und andere Zeremonialien, werden von der Mechanisierung mit derjenigen Strafe belegt, mit der sie das ihr Mifi- liebige beseitigt: mit Steuer und Teuerung.

Es ist nicht hier unsere Aufgabe, die mannigfachen Anwendungen zu verfolgen, die sich fiir die Gebiete des sozialen und politischen Lebens ergeben, wenn die Auf hebung unfreiwilliger Dienstbarkeit und Untertanig- keit von Mensch zu Mensch, die heute mit materiellen Mitteln von der Mechanisierung betrieben wird, Sache der Uberzeugung und des ethischen Empfindens gewor- den ist. Ich habe in friiheren Schriften gezeigt, daI5 schon die Mechanisierung, indem sie aus Arbeitern Be- amte, aus Handlern Organisatoren, aus Unternehmern Staatsleute zu machen strebt, bedeutende Umwalzungen der labil gewordenen ofFentlichen und politischen Ver- haltnisse vorbereitet. Das noch nicht Geschehene als vollendet zu setzen und abermals neue Anschauungen auf einen prasumtiven Zustand wirken zu lassen, wurde Unklarheiten ergeben und fast herausfordernd erscheinen.

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Es geniige daher hier der wiederholte Hinweis auf die Vereinbarkeit der Seelenevolution mit jedem vernunf- tlgen ofFentlichen Wesen, und die Aufzelgung haupt- sachlicher Tendenzen, welche allesamt in der Richtung auf eine Vermenschlichung dieses Wesens wirken mussen. Sittengeftihi und Dafi cs den seelenlosen Kraften der Mechanisierung tejung |3g5j,j^jgjgj^ jg^.^ kunftiger tieferer Entwicklung Vorarbeit 2u leisten, beweist, dafi unsere gegenwartigen Lebens- einrichtungen schon vom Stande des Intellektualismus, geschweige von seelenhafterem Stande, iiberholt sind. Gerade in mechanistisch weit vorgeschrittenen Landern bieten sich der eindringlicheren Betrachtung Keime, die jenseits des mechanisierten Zeitalters aufzugehen be- stimmt sind. Wenn auch der ersteBlickauf zunehmende Plutokratisierung trifFt, so wissen wir, dafi diese zuerst mit ihrem ganzen Bollwerk von Erblichkeit und selbst- tatigem Anwachsen des personlichen Reichtums durch innere Krafte gebrochen werden wird. Aber im Scharten und Schutz der plutokratischen Gewaltsamkeit bemerken wir die deurliche Tendenz, gemeinschaftliche Lebens- erleichterungen, Annehmlichkeiten und Freuden durch niitzliche, selbst grolbartige Einrichtungen zu fdrdern, und dagegen abgesonderten, vorbehaltenen und aus- schlielMichen Zuschnitt des Luxus zu erschweren und durch Teuerung zu verponen. In diesem Sinne ist, neben anderem, die wohlberechtigte Wertsteigerung hochster Kunstwerke zu begriiiien, die dahin fuhren mufi, dafi allmahlich diese Kostbarkeiten dem Gemein- schaftsbesitz zufallen; ein Zeitalrer hdheren Solidaritats- gefiihls wird liber unsere Indolenz erstaunen, die auf Grund eines ungebrochenen und verbohrten Eigentum- begriiFs jedem Monopolisten gestattet, ein Rembrandt-

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sches Werk, ein Beethovensches Manuskript oder eine Naturschonheit dauernd der OiFentlichke'it zu entziehen, zu miiShandeln oder zu vernichten. In dem Mafie, wie mit wachsender Solidaritat die Tendenz des gemein- schaftlichen Besitzens, Beschauens und Erlebens fort- schreitet, wird abermals der begehrlichen Elgenlust ein Stachel genommen und das edlere Bediirfnis nach ein- samer Betrachtung an die Vereinigung mit der Natur verwiesen, die auch bei zehnfach bevolkertem Erdball jedem ihrer Kinder stille Zuflucht schenken wird.

Der wachsenden Solidaritat der Einzelnen entspricht SUtengefuhi und es, dafi auch die Solidaritat der Geschlechterreihen sich ^-^^^^ ankiindige. In der Unerbittlichkeit einer dreifachen Erbfolge liegt das Trennungs moment, das die Stamm- reihen gegeneinander isoliert; die dreifache Erblichkeit des Besitzes, des Standesvorrechts und der Bildung, die von gesunden und gerechten Naturen schon heute als ein bitteres Unrecht an den Enterbten empfunden wird, mul5 mit der Entfaltung des Seelischen schwinden. Denn die Seele, die jedem, wer er auch sei und woher er stamme, geschenkt wird, wirkt in ihrer Freihfeit der Vor- herbestimmung entgegen; selbst die natiirliche Erblich- keit des Physischen kann den neuen Krafren nicht wi- derstehen, die jedem Menschenbilde eigenes Recht und eigene Bestimmung gewahren. Lafit sich erblicher Be- sitz mit menschlicher Tragheit der Gewohnung, erb- liches Standesrecht mit dem Verdienst der Vorfahren kiimmerlich entschuldigen, so lafit sich mit keinem Worte, selbst im Zeitalrer der Mechanisierung nicht, erblicher Anspruch und erblicher AusschlulS recht- fertigen, wenn es sich um die Giiter derErziehung und Bildung handelt. Bedenkt man, wie geringer Opfer der

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Gesellschaft es bediirfte, um jedem jungen Geist, der fahig und gewillt isr, sie zu empfangen, die einzige wahre Wohltat zu gewahren, iiber die ein glaubens- schwaches und idealloses Zeitalter noch verfiigt, die Wohltat der Bildung, so lernt man den tiefen GroU begreifen, der die Unterschichten der Kulturlander als eine zu evviger Sklaverei verdammte Menge verschreit. Sittengefiihi und Es blcibt ein letztes Hauptmoment kiinftig aufieren ^^l^jf Lebens zu erwahnen, dessen Vorbereitung wir gleich-

falls den blinden Kraften der Mechanisierung ver- danken : die Vergeistigung der Arbeit. Die uranfangliche komplexive Arbeit des Menschen, die nahezu alle Be- rufe in einer Hand vereinigte und vom natiirlichen StofF bis zum gebrauchsfertlgen Werk alle HandgrifFe und Pro- zesse zu einem grolLen und langwierigen SchafFenskreis verwob, war leiblich und geistig zugleich, derin sie forderte Kraft und Geschicklichkeit, Erfahrung und Denken. Die Arbeitsteilung der Mechanisierung zerrrifi das Werk wie den Prozefi; den wachsenden geistigen Anspriichen der Erfindung, Organisation und Uberwachung stellte sie die geistlose Zw^ngsarbeit des unterteiiten HandgrifFs gegen- iiber. Es war die Kindheit der Maschine, die ihren Be- ruf noch nicht gelernt hatte, imd der zur Seite, in ent- wiirdigender Gemeinschaft des Hundekarrens, der Mensch sich einspannen liefi. Die Maschine erwuchs, ihr Arbeitsgenosse wurde zum Pfleger und Aufseher, und die Mechanisierungspraxis selbst, freilich nicht aus Menschlichkeit, sondern aus dkonomischem Instinkt, be- trachtet heute den Betrieb als unvoUkommen, der geist- lose Arbeit fordert. Den Ausfall an Muskelleistung mu6 die zweite Natur der freiwilligen Kdrperiibung bekampfen; Jugendausbildung und reichliche Mufiezeit

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sind bestimmr, dem Geiste Spannkrafc und Verantwor- tungsfahigkeit zu ervverben und zu erhalten. In dieser Richtung sehen wir die Wirtschafrstendenzen in mecha- nistisch vorgeschritrenen Landern sich bewegen; eine Riickkehr zum patriarchalischen und sklavischen Ver- halrnis iindet nirgends state; eine spatere Periode aber ^v

wird die Forderung wachsender Vergeistigung und Ver- antwortung dcr Arbeit zum sittlichen Prinzip erheben und lieber auf Arbeitsgiiter verzichten, als sie aus den Handen menschlicher Maschinen empfangen.

Umfassen wir kritisch die Ziige aulieren Lebens, ttberwin- die als vereinbar mit seelenhafter Entvvickelung sich uns chanisierun<^ ergeben haben, so diirfen wir zunachst uns versichern, dali5 keine Voraussetzung neu geschaffen werden mulite, dai5 alle Bedingungen im realen Leben unserer Zeit wurzeln, dafi ungestorte Stetigkeit der Entwicklung er- halten bleibt. Behalt man imAuge, dal^ weltumfassende Umgestaltungen nur in langsamster Bewegung den Erd- ball umkreisen, dafi selbst am gleichen Ort das Uber- lebte noch lange sich erhalt, wenn das Neubelebte sich langst eingebiirgert hat, ein Bild, das in der Verdrangung der Vegetationen, der Volker, der Kulturen und Sprachen uns gelaufig ist, so diirfen wir behaupten, es sei zur Einleitung des neuen Zustandes nichts anderes erforder- lich, als dafi diejenigen Leberisrechte Eigentum einer Mehrheit werden, die ein ungetauschter, nicht auf Be- sitz und Macht gerichteter Blick als wahrhafte, wenn auch heute vereinzelte, der fortgeschrittensten Minder- heit vorbehaltene Giirer erkennt. Gerade aus dieser scheinbaren Nuchternheit und Uberraschungslosigkeit der Voraussetzungen erwachst uns die Bekraftigung, dafi die physisch unbezwingbare Mechanisierung der Welt iiber-

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wunden werden kann und iiberwunden werden wird ja, dai5 die Krafre dieser Uberwindung sich im eigenen Schofie der Mechanisierung bilden. In der voUkommenen Konsequenz der Mechanisierung, die dem heutigen in- tellektualen Stande der Welt restlos entspricht und in selbsterregender Steigerung mit ihm wetteifert, liegt es begriindet, dafi diese Gegenkrafte nicht poli- tische, nicht soziale, nicht wirtschaftliche, mit einem Worti nicht mechanischer Art sein konnen. Selbst das Emporkommen eines theoretisch voUendeten sozialen Staatswesens, die Fiskalisierung der Produktionsmittel und die Kontingentierung der Arbeitsgiiter wiirde nicht die Mechanisierung brechen, sondern alienfalls in ihrem Schatten eine im Sinne der Kultur unerhebliche Neu- regelung von Besitz und Macht bewirken, und nicht einmal fur ihren Bestand Gewahr leisten. Nur eine innere Wiedergeburt, eine Umgestaltung des mensch- lichen Wollens, freilich eine solche, deren Wurzeln dem Boden der Mechanisierung entsprossen sind, vermag den Zauberkreis zu sprengen, indem sie die tiefgegriindeten Krafte der Furcht und Begierde lockert. Nicht Ein- richtungen, Gesetze und Menschen schaiFen das neue Leben, sondern Gesinnungen; den Gesinnungen des neuen Lebens aber folgen widerst^ndslos Einrichtungen, Gesetze und Menschen. Realismus der Auch insofern mag die geschilderte Form des aufieren Evoludon^^ Lebens erittauschen, als sie nichts Paradiesisches und Utopi- sches hat. Sie verspricht keine neuen leiblichen Geniisse, sie entbindet nicht von angestrengter Arbeit, ja, sie er- hoht die Anspannung, indem sie Vergeistigung fordert, und lohnt mit Verantwortung. Sie verlangt den Ver- zicht auf die Sorglosigkeit und Eitelkeit des Unverdienten,

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des Uberflusses und der Absperrung, auf die tagUche Unterhaltung der Modenarrheit und der Modesensation, auf Herrschaftsgeliiste, Menschendienst, Verherrlichung und Neidfreude. Sie dient nicht einmal dem her- gebrachten Ideal eines Altruismus, der paarweise den Starken fiir den Schwachen, den Guten fiir den Bosen, den Gesunden fiir den Kranken opfert, sondern sie fordert Solidaritat der Gemeinschaft : einer fiir alle; alk fiir einen. Nicht die Solidaritat entstellter Staats- gesinnung, welche ewige Unterwerfung verdammter Schichten fordert, damit die andern unter falschen Seufzern unverzagt herrschen diirfen, sondern die Soli- daritat der Empfindung, des Willens, der Arbeit, der Geschafte, der Sorge und der Leiden. Was sie gewahrt, ist Arbeit und MuJ&e, Menschenwiirde, Menschlichkeit und Freiheit im tatigen Leben, Raum fiir die Menschen- seele in Zeit und Ewigkeit.

Wie sollte ein Geschopf, befangen in Begierden und Eitelkeiren des Besitzes, der Macht, der Wiirden, Moden und Vergniigungen nicht lacheln iiber die Armseligkeit dieser Verkiindung? Und dennoch werden diese Dinge eine Realitat gewinnen, starker als Geschaft und Genufi, Politik und Steuern. Denn die Macht ist nicht bei den Vielen, sondern bei den Starken; die Starken aber sind die, welche suchen, und die Machtigen die, welche traumen. Aus dem Traum wird der Gedanke, aus dem Gedanken die Erkenntnis; diese aber bedarf kaum mehr der Tat, denn fiir die Menschheit ist, wie fiir die Gott- heit, Erkennen und Vollenden eines.

Die Kriterien der Stimmung und des Lebensgefiihls Zusammen- sind uns dutch voraufgegangene ethische Betrachtung^-g^^^^^^gg^ erschlossen; nun handelt es sich datum, das Bild durch

h.

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einige Ztige zu ©rganzen, die den Zusammenhang mit heutigen Zustanden und die Wechselwirkung mit kiinf- tigen Lebensformen noch klarer erkennen lassen. Erkenntnis Schon in aller Kiirze diirfen wir erwarten, dafi die

^Quliimm ^^2Lgliche Unsicherheit und Unwissenheit unserer Epoche hinsichrlich der Erkennrnis und Bewertung menschlicher Qualitaten und Charaktere einer Einsicht weicht, die griindlicher sein wird als unser heutiges Wissen etwa von physiologischen oder pathologischen Dingen. Wir stol^en den uberfiihrten Schwindler aus der Gesellschaft aus und betrachten die Liige als eine gelegentliche Un» vermeidlichkeit. Wir bewundern den herzlosen, hab- gierigen und unzuverlassigen Rechner als bedeutenden Realpolitiker, sofern er Erfolg hat und sich nicht fassen \i&x,. Wir erklaren den neidischen, feigen und impo- tenten Tadler und Sarkasten als geistvoUen Kopf, wenn er Spursinn und Gedachtnis zeigt. Wir glauben, dafi ein neugieriger und eitler Gesellschaftsmensch geistvoll und tief sein kann. Wir halten Streberei und Weg- werfung ftir berechtlgte Eigentiimlichkeiten; wir finden es selbstverstandlich, daii jemand im Verkehr mit Hoheren, Gleichen und Niederen als dreifach verschie- dener Alensch aufrritt. Wir wissen nicht, ob wir Mut oder Schlauheit, oder beide verehren soUen. Wr spre- chen von neuen Idealen, indem wir die des Intellekts und der praktischen Energie meinen. Wir halten den fiir kiinstlerisch begabt, der ohne Phantasie, Empfindung und Lebenskraft die Fahigkeit der Beobachtung, Nach- ahmung und technischen Form besitzt. Wir stellen den Menschen der Geduld neben den Menschen der Phan- tasie, den Menschen des Intellekts neben den Menschen der Intuition. Wir halten eine erf olgreiche Konstruktion

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oder Erfindung fur eine Geistestat nach Art einer Dich- tung oder eines grofien Gedankens. Wir verstehen, dafi ein Mensch sich das Leben nimmt, weil er Geld verloren hat. Wir wiinschen uns Gesundheit, verachten denArmen, und halten den, der Einsamkeit ertragt, fiir ein en Sonderling. Wir geben vor, die Furcht zu ver- achten, und wissen nicht, dal5 Neugier, Liige, Eitelkeit, Geschwatzigkeit, Schlauheit, Habgier, Sarkasmus,Zweifel- sucht mit ihridentisch sind; Mut, Wahrheitsliebe, Treue, Selbstlosigkeit, Phantasie lassen wir als harmlose, wenn auch nicht nutzliche Tugenden gelten.

Die Zeit ist sehr nahe, welche die typischen Zu- sammenhange der menschlichen Eigenschaften erkennen, und mit scharfen Indizien aus dem einzelnen Symptom auf den Komplex des Menschen schliefien lehrt. Bedenkt man, welche ungeheuren Arbeitsmengen heute aufgewendet werden, um Krankheiten zu bekampfen, um korperliche Unvollkommenheiten zu beseitigen oder zu verdecken, die deshalb gefiirchtet werden, weil sie bemerkbar sind, so mag man ermessen, welch rastlose Arbeit der Schu- lung und Selbsterziehung erfordert werden wird, sobald die Scharfe des Blickes fiir innere Eigenschaften, die heute wenigen Hunderten als Kassandragabe beschieden ist, Gemeingut geworden ist. Kaum wagen diese wenigen, deren Augen sehend wurden, sehend nicht allein fiir den Zusammenhang des geistigen Komplexes in sich, sondern leider zugleich fiir den Zusammenhang des Geistigen mit koiperlicher AuiSenform, ihre be- denklichen Erfahrungen auszutauschen. Dennoch wird die Welt diese Dinge erlernen und mit der gleichen Sicherheit handhaben, mit der sie etwa heute die primiti- veren Unterscheidungszeichen der typischen Hauptrassen

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wahrnimmt; denn vor der Entwicklung der Menschheit bestehen keine konventionellen Geheimnisse.

Die Genesis erzahlt von der Erkenntnis und der folgenden Verhiillung des Menschen; wem es schwer fiillt, aus der invariabel gewordenen Bestandigkeit un- seres Geisteszustandes hiniiberzudenken zu einer be- ginnenden unaufhaltsamen Wandlung, der hake sich umgekehrt den neuen Erkenntnisstand, verbunden mit einer unverhiillbaren Nackrheit des Geistes vor Augen. Dhge und Herrschaft der Dinge, Bandigung der Sachen; dieser Wahlspruch umschreibt den Betrachtungskreis einer reiferen Menschlichkeit. Wie mit dem Hunger nach Gegenstanden, mit der Begierde^ nach Herstellbarem, Kauflichem, Schatzbarem, mit dem Wechselspiel des Neuheitskitzels und der Abstumpfung alsbaldPrunksucht und Neidlust, Nachahmungswut, Modenarrheit, Gier und Entbehrungsangst dahinsinken, so wird mit der Liebe zu Menschen und Dingen Wesentlichkelt aufsteigen. In einem seltsamen Konflikt befinden sich heute einzelne unserer Dichter, die, von grofistadtischen Wirkungen be- wegt, Kompromissen und Maskeraden ehrlich abgeneigt, den Stier bei den Hornern zu packen glauben, wenn sie die Mechanisierung besingen, mit scheinbar gleichem naiven Recht, mit dem Homer seine Kampfe, Vergil seinen Landbau besang. Gewifi, wir betreten Hotels, Bahnhdfe, Kasernen, wir fahren mit motorischen Werkzeugen und leben zwischenMaschinen ; warum es verschvveigen? Aber diese Dinge sind nicht fiir unsere Zeit wesentlich, ge- sch weige fiir eine kommende, so wenig wie fiir Shakespeares Zeit die Halskrause und fiir Goerhes Zeit der Haarbeutel. Dasbeginnende XVIII. Jahrhundert bedichtete Papageien und Chinoiserien, Lockenperiicken und Tabatieren; das

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sind kulturhistorische Kuriosa. Ein FlugschifFlied von 1 9 1 o wird unseren Enkeln soviel bedeuten wie uns ein Dampf- schifflied von 1830, aber ein Lied von Busch und Tal bleibt jung. Gewifi ist die Nachtigall ein mill)b ranch ter Vogel, aber der Mifistand liegt nicht im Veralten des Natiirlichen, sondern in der Stagnation unseres Lebens- gefuhls. Fiir neues Lebensgefiihl bieten neue Einrich- tungen keinen Ersatz. Das junge Lebensgefuhl aber wird damit beginnen, dai5 es sich von den Sachen be- freit. Dem Grubenpferd hilft man nicht, indem man mit ihm seine eigenartige Lage diskutiert, sondern indem man es zur Weide und zum Licht hinanffiihrt, solan ge es Zeit ist.

Gegen Ende des abgelaufenen Jahrhunderts klagte Intei-essen und man viel iiber das Absterben der Ideale, in der stillen HofFnung, es mochte wieder eine Zeit kommen, in der sich Ideale und Interessen versohnen lieli5en. Vielleicht dachte man an die Professoren und Phraseologen der Paulskirche, die es leicht hatten, Idealisten zu sein, in- dem sie die Interessen ihrer Mandatare nicht kannten oder nicht verstanden. Interessen und Ideale lassen sich nicht vereinigen; es sei denn, dafi man in niederer Deutung unter Idealen Gemeinschaftsinteressen versteht. Sollen die Ideale zur Herrschaft kommen, so miissen die Interessen geradenwegs vernichtet werden; nicht weniger als dieses schwere Werk wird von der Entwicklung der Seele verlangt. Bismarck hat die Pairs von England als Gesetzgeber gepriesen, denn sie seien saturierte Existen- zen, somit teilnehmende, aber uninteressierte Naturen. Die selbstlose Teilnahme, die heute das Vorrecht der echten Kiinstler und Denker bildet, diese edle Kraft, die den, der sie tragt, als eine Saule im Gevvimmel der Be-

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gehrlichkeit aufragen lafit, wird Gemeinbesitz des Volkei sein, das sich geniigen lafit. DieStim- Herrlich ist es, zu wissen, dafi das geringe Ab-

schrittenerer ^"^ ^^^ triibsten Begierde, das keinem wahrhaft geistigen Zeit Menschen unserer Zeit ein ernstliches Opfer bedeutet,

dafi dieses Abtun geniigt, um die Menschheit aus dem irren Kreislauf der Mechanisierung zu reifien und ihr freien Weg zu schafFen. Ein mannliches SelbstbewuJ&t- sein, gleich entfernt von brutaler Herrensucht und affischer Eitelkeit, ein kdnigliches Vertrauen zur eigenen Kraft und zur Weisheit der Machte wIrd diesen Weg geleiten, der nicht zu Wirtschaftssachen, sondern zu transzendenten Giitern fuhrt. Der materielle Beruf bleibt ernst, denn die Verantwortung schiitzt ihn vor spielerischer Verflachung, aber er verliert seine Endgiiltig- keit; die dumpfe Beherrschung jeder Lebensstuhde, die leidenschaftliche Angst, die Versklavung des Geistes, die Feindseligkeit des Kampfes, die Verblendung des Auges wird ihm genommen. Der Mensch richtet sich auf und blickt wieder zu den Gestirnen empor, er wird zum Freund des Menschen, der Dinge und der Machte.

So gleicht die innerste Stimmung der beseelteren Epoche einer franziskanischen Heiterkeit, einer Heiter- keit vol! Ernst, Betrachtung und Liebe. Der Intellekt ist nicht mehr Zepter und Stachel, sondern Werkzeug; gestahlt und geschliiFen dutch vergeistigte Arbeit, Ver- antwortung und gesteigerte Aufgaben. Nun sind die inneren Menschheitskrafte so befreit, gesammelt und gerichtet, der transzendente Gedanke so sehr zum realsten, hinreiI5endsten Ereignis erstarkt, dalS der hochste irdische Aufstieg nicht mehr gehemmt werden kann.

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Sind diese Dinge Phantasmen? Hat die Welt nicht Vbrbilder der Wunderbareres unerstaunt erlebt? Wir brauchen nicht Goethes und Kants Naturen mit denen des Menschen vom Neandertal oder des lebenden Buschmanns zu ver- gleichen; es geniigt, im eigenen Lande den Leibeigenen des vorletzten Jahrhunderts an seinem Urenkel, sei er Dichter oder Staatsmann, zu messen.

Das Schaffensphanomen des Genies bleibt unbegreif- llch, aber sein SchafFensergebnis wird von der Zeit ein- geholt; hinsichtlich seines inneren Besitzes ist das Genie nur ein verfriihter Vorlaufer. Der Zeitpunkt des Ein- holens bricht an in dem Augenblick, wo das erste Ver- standnis beginnt; wir fangen an, Goethe zu begreifen, und somit werden wir dereinst Erben seines geistigen Besitzstandes sein, wenn auch niemals der Gotterkrafte, die vorauseilend diesen Besitzstand schufen.

Was ist aber anderes zum Emporkommen jenes ge- schilderten Zustandes erforderlich, als dafi wir be- ginnen, Christus zu verstehen? Freilich nicht historisch, kulturell und pragmatisch, sondern durch Einfiihlung in sein geistiges Leben, durch seelisches Ergreifen seiner Natur. Nichts ist in dieser Schilderung gesagt, was sich nicht aus seinen Gedanken entnehmen liefie, und nichts ist gefordert, was nicht in den geistigeren Menschen unserer und friiherer Zeiten keimend sich findet. Des- halb durfen wir glauben, dafi die Vereinbarkeit der be- seelten Gemelnschaft mit den praktischen Voraus- setzungen unserer Menschlichkeit dargetan sei.

Freilich arbeitet der vorauseilenden Kraft des Genies Stetigkeitund die Stetigkeit der Natur entgegen. Sie will nicht ver- ^S^^^^S friihte Ernten gefahrdet sehen, deshalb halt sie gewal- tige Reserven unverbrauchter Saat zuriick, die sie erst

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dann belebt, wenn die friihe Frucht langst gesichea scheint. Dem Techniker verglelchbar, der Zeichnungel und Modelle eigensinnig aufbewahrt, wenn auch d| Konstruktion geandert und liberholt sein mag, erhalt dfl Natur abseits vom Wege das Langstvergangene JaliJl tausende lang. Den Urmenschen finden wir, den Hirte Abrahams, den Krieger Homers, wenn wir uns weit" genug von der taglichen StrajSe, nach der provinziellen Vergessenheit alter Kontinente bin, entfernen. Ur- altestes ist eingestampft, der tertiare Mensch kehrt nicht wieder, aber mindestens durch ein gutes Dutzend Jahr- tausende reicht das konservierende Arsenal und Museum der Natur.

Bei dieser Treue der Erhaltung diirfen wir nicht Qt»M warten, dafi jene kiinftige Evolution des Lebens im Nu " den Erdball umkreise. Vermutlich werden in den ger- manischen und halbgermanischen Landern zuerst sich die Zentren der Entwicklung bilden wer heute mit holsteinischen oder alemannischen Bauern spricht, mochte meinen, solches Zentrum schon vor Augen zu haben und es wird gute Geduld erfordern, bis die altmodische Provinz der Welt, etwa Siidamerika und Afrika, um ein weniges nahegeriickt ist. Riickblickder An diese Zuriickgebliebenen ihrer Zeit werden un- ommen en ^^^^ Nachkommen sich erinnert fuhlen, wenn sie aus alten Berichten unsere Lebenslage und Denkweise er- mitteln. Die Halfte unserer Lebensarbeit fiir Tand ver- ausgabt, Volkerschaften durch freiwillige Vergiftung ver- nichtet, Milliard en fur durchsichtige Kiesel, bunte Me- talle, Vogelfedern und glanzende Lappen geopfert, Haushaltungen zerriittet, um durch torichtes Gehaben und liberfliissige Cerate Neid zu ernten. Ersatz natiir-

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licher Freuden durch Larm und Verrenkung in stinken- den Lichtsalen, durch ofFentliches Essen unter lugen- haften Zeremonlen, durch Rutschbahnen, Karusselle und ostentative Reisen, Stadte angeftillt mit scheufilichem, nutzlosem Modekram; Fronarbelt und Verzweiflungs- kampf der Manner, um den Anteil an der Gutermenge zu vergroi^ern, um Unterwiirfigkeit zu erzwingen, um den Kindern Faulenzerei zu ermoglichen, um sich an Hochstehenden zu reiben, um die Namen mit Zusaizen, die Kleider mit Abzeichen zu schmiicken; Feindschaft und Mifitrauen gegen den Unbekannten, Herablassung gegen den Erfolglosen, Demut vor dem Machtigen, un- ersattllche Neugier bei gefiihlloser Abstumpfung, Furcht vor sich selbst, miihsam gestillt durch Geschwatz und Zerstreuung, Leben der Angst, der Gier, des Schuftens und der Streberei, und daneben ein so klaglicher Geiz der Gemeinschaft, daI5 sie lieber zu ihren Fiifien Tau- sende verkommen sieht, start von ihrem Kinderkram den Zehnten zu opfern und das El end abzutun: soUte dieses Bild unseren Nachkommen aus alten Urkunden entgegentreten, so werden sie uns nicht hassen und nicht verachten, schon um der Sorgen und Schmerzen wiilen, die wir erlitren, und um der grofien geistigen und mechanischen Dinge wiilen, die wir geleistet haben. Aber sie werden fin den, dafi in unserer Stimmung und Welt ein negerhaftes Element herrschte, dessen wir noch nicht gewahr werden; sie werden uns nicht mit dem wesensverwandten Blick betrachten, den wir auf Griechen und Germanen richten, sondern sie werden uns ansehen wie etwa heute der Brite den Malaien: verstehend und iiberschauend..

Nachdem wir in pragmatischer Stetigkeit das Kom-

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mende aus dem Gegenwartigen sich entwickeln sahen, blelbt uber den Sinn des geschichtlich Vergangenen ein beschliefiendes Wort zu sagen. Historische Der freudige Menschheitsstolz, mit dem wir die Ge-

im Lichte schichte des Geistes auf Erden begleiten, beschwich- praktischer tigt nicht ein traglsches Gefiihl in Ansehung des irdi- Biutversdnven- ^^^^^ Blutcs. Vdlker auf Volker sehen wir liber die dung Kontinente rollen, edelste Geschlechter, erzogen und

aufgespart in Einsamkeit und barter Zucht, brechen hervor, iiberrennen bltihende Landereien und verweich- lichte Bewohner, werden zu Herren, herrschen mit Kraft, Harte, Gerechtigkeit und Frommheit, lassen den tiefsten Segen des Landes und Blutes als Geistesernte empor- steigen, erringen der Welt unermefiliche, unvergefilicbe Kulturen, und miissen alsbald vergeben, aufgesogen von der zahen, besiegbaren, aber nicht ausrottbaren Unter- schicht, die sie ernahrt und zerstdrt, begrabt und ver- zehrt, wie der Humusboden die Pflanze. Dieses Gesetz wirkt unerbittlich, denn was die Eroberer zu Herren machte, was die Wenigen befahigte, die Vielen zu ban- digen, war Furchtlosigkeit, Abhartung und reinerer Geist ; und diese Vorziige in langwierigerMufie zubewahren, das edlere BJut gegen Vermischung zu schiitzen, gibt es kein Mittel. Ein arithmetisches Gesetz tritt hinzu und be- schleunigt die Wirkung. Meist wird die Unterschicht sich schneller vermehren, denn sie kennt keine Verantwortung fiir die Nachkommenschaft. Doch selbst wenn sie nur in gleicher Vermehrung vorschreitet, mul^ sie in Kiirze den Vorsprung des Zahlenverhaltnisses gewinnen: denn der Adel erwirbt nicht; er bewahrt den Grundbesitz, den er sich iiberreich zuteilte und der dennoch im Laufe der Generationen fiir die jiingeren Sohne nicht

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hinreicht. So werden sie Kolonen, Berufskrieger, Geist- llche, Hagestolze oder Deklassierte, und der Rest der Versorgten geniigt nicht, das Kommando iiber die Massen zu sichern, das schon bei giinstigerem Zahlenverhaltnis bedroht war.

So hat die Erde ihre edelsten Volkersaaten yer- Charaktetfd schwendet, und wir stehen vor der erschreckenden Frage : ist es wirklich das Ziel zehntausendjahrigen Auf- wands, aus aller Farbigkeit und Eigenart menschlicher Stamme eine graue marastische Mischung zu brauen? Schon sehen wir unter dem Prefidruck der Mechanisie- rung alle bunten Sonderheiten niederschmelzen,Trachten, Gerate und Bauten, Verkehrsmittel und Form en, Speisen und Unterhaltungen, Organisationen und Gewerbe, selbst Kunstformen gleichen sich aus und werden uni- versell, und es verzweifelt das gutgemeinte Bestreben, entwurzelte Wesen durch Uberredung am Leben zu erhalten. Widerstand leisten noch die Sprachen als ein- deutige Auspragungen leiblich-geistiger Physiognomien, obglelch auch sie die Neigung zeigen, zu grofien Ein- heitskomplexen zu verschmelzen; den widerlichen UbergriiFen mechanistischer Zudringlichkeit wird es fiirs erste nicht gelingen, diese ehrwiirdigen Patrimonien anzutasten.

Bestarkt wird die Sorge vor dem Charaktertod der Menschheit durch die Erkenntnis, dafi jene jungfraulich starken Erobererstamme auf unserer allzu genau durch- forschten Erde nicht mehr gefunden werden, es sei denn, dafi> man die Gesamtheit der Hellfarbigen den Dunkelfarbigen entgegenstellt: aber diese letzte mdg- liche Mischung wird in spatesten Zeiten anderen, durch klimatische Faktoren bestimmten Gesetzen folgen, sofern

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iiberhaupt die dunkle Bevolkerung innerhalb der Ge- samtvermehrung einen zahlenmaC)ig beachtbaren Stand behaupten kann. Wertver- Es tritt ein weiteres schwerwiegendes Moment aus ' ' ^ * ^ dem Wesen der Mechanisierung hinzu. Der alte Wett- kampf der Menschen und V^lker beruhte auf Korper- kraft und Mut. Alle Bewertung menschlicher Eigen- schaften, alle epische Verherrlichung bezog sich auf diese Karegorien; der tatsachllche Inhalt des abendlan- dischen Sittenempfindens setzt sie bis heute als oberstes ethisches Prinzip. Eine anhaltende Selektion der Kraft und Gesinnung, die noch immer in edlen Stammen und Geschlechtern nachwirkt, war das schone Erbteil dieses Selektion des weltlichen Glaubens. Die Mechanisierung brach an und erhob den Erfolg an die Stelle des Sieges. Nicht mehr wurden Naturkrafte und Menschen mit der Faust be- kampft, sondern mit Gedanken iiberlistet. Zwischen Begierde und Lohn schalteten die Gotter an Stelle des Schweifies das Gewebe der Plane, Riistungen, Hilfs- mittel, Vorkehrungen, Intrigen. Der Kluge iiberwand den Starken, der Geduldige den Gewalttatigen, der Er- fahrene den Selbstbewufiten; Schlauheit, Zahigkeit, Fleifi, Geschicklichkeit, die Tugenden der Schwache, wurden Ziichtungsziele der Selektion des Erfolges. Jede Durchschnitts versammlung selbstgeschafFenerMacht- haber fiihrt uns dies Bild vor Augen: wir begegnen den wohlbekannten Ziigen sklavischer Geliiste und Ver- schlagenheiten bei den Herren, und find en oft genug das Zeugnis edleren Blutes in den schweigenden Ziigen derer, die sie bedienen. Wie nun, wenn die fortschrei- tende Mechanisierung die letzten Reste alter Adligkeit vernichtet oder in Knechtschaft schliigt, und dafiir aus

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den unrersten Tiefen die Kreaturen erblicher Schwache zur Herrschafc der Welt emportragt?

So steht der mechanistischen Unifizierung scheinbar keine ethniscbe Gegenkraft im Wege, und es drohr die Gefahr, dafi die Menschheitsentwicklung auf diesem Planeten durch Ungunst derBlutsverhaltnisse aufgehalten, ja vernichtet werde.

Ein Gefiihl fiir dasSinnvolle und der Natur Wurdige G<?^^»Ar4//* sagt uns, dafi so kleinliche Folgerungen unwahr sind; und in der Tat ist es leicht, den Trugschlui5 verstandes- mafiig aufzulosen.

Niemals konnen, wie wir gesehen haben, absolute Fra- UnbestMntiigkeh gen der Geistesentwicklung durch Rassenbetrachtung ge- klart werden; denn im letzten Sinne bildet der Geist die Rasse. Fiir das jeweils vorliegende ZeitdifFerential ist die Betrachtung wertvoll und wichtig; fiir die Ausdeutung der Gesamtfunktion mufi sie zu falschen Ergebnissen ftihren. Im vorliegenden Fall haben wir uns zu vergegenwartigen, dafi vor wenigen Jahrmyriaden die edelsten Menschen- rassen so wenig bestanden als die unedelsten. Sie haben sieh somit, gleichviel unter welchen Verhaltnissen, ge- bildet, und zwar aus primitiverem Material, als wir es irgend kennen» Unter unseren Augen bildet sich auch heute, in den Vereinigten Staaten, eine kraftige Rasse, und zwar ausschlieil)lich aus dem Material samtlicher europiiischer Unrerschichten. Rassen sind nicht Ewig- keitsbegrifFe, sondern Zeitbildungen, es mdgen abermals Jahrmyriaden erforderlich sein, um die dunkelsten Stamme zu veredeln, aber es geniigen drei Generationen, um einen Sprofiling der tiefstendeutsch-slawiscljenSchich- ten auf die Hohe unseres bestenBlutes zu heben. Die inne- ren Bedirigungen des Aufsriegs sind geistige; die fordern-

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den physischen Elemente, Stahlung, Korperiibung, Beseiti- gungverweichlichenderEinflusse,bildeneinenBe(lingungs- komplex, den ich vor Zeiten Vernordlichung genannt habe. Doch wir bediirfen nicht dieser breiten Verallgemei- nerung. Haben wir uns bisher bemiiht, die Menschheits- frage nicht blofi im Spiegel der Ewigkeit, sondern als eine reale Aufgabe der Zeitlichkeit zu betrachten, so diirfen wir vor Volkernamen und namhafter Eigenart nicht erschrecken. Be vor wir jedoch die innere Auf- losung der Mechanisierung an die geschichtliche Auf- gabe bestimmter Lander und Volker kniipfen, sei es ge- stattet, die selbsterzeugten rein intellektualen Gegen- krafte der falschen Selektion, medizinisch ausgedriickt, ihre geistigen Antitoxine, kurz zu erwahnen.

V Als erste Voraussetzung diene die keimende, der^ einst rasch wachsende Kenntnismenschlicher Qualitaten, ihres Zusammenhangs und ihres physichen Ausdrucks, die bisher schuldhaft vernachlassigte Kunde des Cha- rakters, Naturells und Physikums, von der wir gespro- chen haben. Das idiosynkratische Wiihlen in sexuellen Zusammenhangen ist ein ebenso einseitiger Beginn die- ser Wissenschaft, wie die Schadelmesserei und Rassen- kalkulation von ehedem, beide sind als Vorlaufer zu be- achten, als Erkenntnisquellen jedoch schon insofern hochst unvoUkommen, als sie nur einen verschwindenden Teil dessen zu deuten verstehen, was heute jeder intui- tiv Begreifende mit hellen Augen zu sehen und mit klaren Worten auszusprechen vermag. Korrektion dej^ Bedenkt man nun, daJ& alle mechanistische Macht- u^i^ stellung, und in noch hoherem Mafie jeder Weg, der 2u solcher Machtstellung fiihrt, im letzten Sinne auf Vertrauen, auf nichts als Vertrauen beruht und beruhen

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kann, so wird man die ungeheure Wirkung einer ver- tieften und verbrelteten Menschenkenntnis ermessen konnen. Der Regierende besteht durch das Vertrauen seiner Vorgesetzten, seiner beigeordnetenKorperschaften, Untergebenen und Untertanen, der Kaufmann durch das Vertrauen seiner Kundschaft und Krediroren, der Industrielle durch das Vertrauen seiner Geldgeber und Akrionare, der Volksvertreter durch das Vertrauen seiner Wahlerschaft. Vom Vertrauen unabhangig sind einzig und allein der Monopolist, der Spieler, der Gunstling und der Erbe, absterbende Kategorien, deren Unsittlich- keit und Widersinn wir zu begreifen beginnen. Wenn nun dem menschlichen Sinne die Blindheit genommen ist, die heute der Mehrzahl verwehrt, den geborenen Liigner, Schwachling, Windbeutel, Schmarotzer, Treu- losen und Schurken auf den ersten Blick zu erkennen, so werden ungezahlte Scharen, die heute in alien Lan- dern der Zivilisation mit Geschicklichkeit und gierigem Eifer die Friichte der Mechanisierung benagen, an Stellen festgehalten werden, wo sie unter KontroUe brauchbare Arbeit leisten und zu echterem Wesen er- zogen werden, wahrend ungezahlte andere, die durch Gewissen, Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit am Auf- stiege gehemmt sind nicht zu verwechseln freilich mit Unfahigen, die sich selbstgefallig dieser Tugenden bezichtigen zur Verantwortung und Aufsicht gelangen. DaC> hier der angeborenen Eigenschaften so wenig wie friiher im Sinne einm: Unentrinnbarkeit und Pradesti- nation, sondern vielmehr nur im Sinne eines liber win d- baren Widerstandes gedacht ist, dessen Besiegung sich gleichfalls im Physischen spiegelt, bedarf kaum mehr der Erwalinung.

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Da nun in fast hoherem MaI5e als die Stumpfheit der Massen die Begehrlichkeit gevvissenloser Wirtschafts- fiilirer es ist, welche die Mechanisierung aufpeitscht, in- dem sie unnotige Bediirfnisse schaiFt und verstarkt und gleichzeitig das beneidete Vorbild materiell gesteigerten Lohnes aufstellt, so wird durch den hier angedeuteten Umschwung nicht nur die Selektion der Nichts-als- Klugheit gebrochen, sondern auch der Mechanisierung selbst ein Teil ihrer Triebkraft gestillt. Entwertuitg dtt Eine zweite selbst erregte Gegenkraft gesellt sich Inteiitkts binzu. Wie alle intellektualen Methoden bei gleich- bleibenden Voraussetzungen, werden die verstandes- maC)igen Praktiken der Mechanisierung uniform, erlern- bar, Gemeingut. Vor sechzig Jahren schien in Deutsch- land der simple Gedanke, eine englische Lokomotive zu kaufen und nachzubauen, von so unfafibarer Kiihn- heit, dafi jahrzehntelange Millionenernten ihm folgten. Heute konnen nicht drei Monate vergehen, bis jede deutsche oder amerikanische Neuerung in alien Liindern eingefiihrt, durchgeprobt, nachgeahmt oder gariiberholt ist; der BegriiF des internationalen technischen Aus- gleiches ist ein Gemeinplatz. Die Methoden der Or- ganisation, der Finanzierung, der Priifung, der Verhand- lung, des Fabrikbaus, der Konzentration, der Syndizie- rung, der Verkehrsgestaltung sind heute Eigentum einer kleinenMinderzahl; sie waren Gemeingut, wenn es eine Geschaftswissenschaft gabe, wenn nicht welcfremde Dozenten mit den Mitteln harmloser Statistik diese lebendigen Dinge zu beherrschen glaubten; wenn nicht an den wirtschaftlichen Hochschulen Kunstgeschichte ge- lehrt wiirde, wenn vielmehr unter den Fiihrern der Wirtschafr und des staatlichen Lebens eine Anzahl

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gebildeter Menschen sich fainde, die in Gedanken und Worte fassen woUten, was ihnen selbstverstandliche Praxis ist. Damit ist nicht gesagt, dafi alle pragmatische Kunst erlernbar sei; auch sie fordert fur ihre letzten Aufgaben Genialitaten und Talente; aber die Ver- breitung ihrer Disziplinen soil und wird eines der letzten Monopole des Wissens beseitigen und hiermit den Wettbewerb des Intellekts auf eine neue Grund- lage stellen.

Denn alsbald wird ordinare Klugheit im Werte sinken und der Erfolg der Schlauheit zur selrenen Aus- nahme werden. Wie in den galizischen und polnischen Stadten eine zuriickgebliebene, aber intellektuell ge- scharfte jiidische Bevolkerung wirtschaftlich erfolglos bleibt, weil die Einzelnen wecliselweise einander ge- wachsen sind und sich daher gegenseitig neutralisleren und beschranken, so wird allmahlich iiberall der un- produktive Verstand zu seiner eigentlichen Verwendung kommen, die nicht in der Fiihrung, sondern in der Leistung und im Dienst besteht. So wird abermals die Fiihrung und Verantwortung freigegeben fiir den in- tuitiven und schopferischen Geist und abermals das Be- wertungszentrum menschlicher Eigenschaften und somit das Prinzip der Selektion verschoben von der Seite un- produktiver und selbstsiichtiger Klugheit in der Richtung zu menschlicher Reife und Einsicht. Diesen Weg hat die Praxis der Welt bereits beschrltten; vergleicht man die Erfolgreichen aus der Friihzeit der Mechanisierung, die franzosischen Finanzritter des Wahlspruchs Enrichis- sez-vous, mit den Organisatoren der Vereinigren Staaten, so liegt mehr als der empirische Fortschritt zweier Generation en zwischen diesen beiden Etappen.

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Be'wertungintui' Es lasscn sich die Ausfuhrungen dieser Satze dahin zusammenfassen, dafi schon heute, ohne aufieres und inneres Zutun, ohne Erkenntnis neuer Welt- und Glaubens- richtung, ohne Einkehr und Ausblick, dem Regiment der Klugheit und Schlauheit aus seinem eigenen Ge- fiige selbsttatige Gegenkrafte ervvachsen, welche nicht nur die Gefahr einseitig intellektualer Selektion hem- men, sondern den mechanistischen Aufbau selbst im Kern angreifen. Freilich werden wir, da die Welt niemals in vdlligem Kreislauf zum Ausgang zuriick- kehrt, auch hier nicht erwarten diirfen, dafi die alte Selektion der Kraft und des Mutes wieder einsetze: denn dieses war der Sinn der Mechanisierung, dafi sie den Menschen iiber die begrenzte Kraft des Armes hinaushob, und ihn lehrte, der unbegrenzten Kraft des Geistes zu vertrauen. Wohl aber werden Qualitaten, die dem Mute nicht allzufern stehen, Phantasie, Intui- tion, Innerlichkeit, verbunden mit den tiefer stehenden Qualitaten der Energie, der Geduld und Zahigkeit, in den Mittelpunkt der Krafte treten, deren die Mechani- sierung im Zenith und Abstieg bedarf und die berufen sind, dereinst zur VoUendung der Seele den Weg zu weisen.

Berufene Vd/kfr Indem wir uun kritisch diese Qualitaten liberbllcken, werden wir zu unserer Frage nach den berufenen und herantretenden Volkern zuriickgefuhrt. Im Laufe des letzten Jahrtausends haben die Unterschichten der euro- paischen Kulturvolker unter der drxickenden Herrschaft ihrer Aristokratien trotz Not und Seuchen bedeutende Schritte getan, um sich dem geistigen Ziel zu nahern. Lassen wir unseren Blick nicht triiben durch das Bild der Letztgekommenen und Jiingstemanzipierten: des

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groCstadtischen Pobels und seiner Emporkdmmlinge, be- trachten wir den Bauern, Kleinbiirger und ansasslgen Arbeiter, so trefFen wir, unentwickelt, zuruckgedammt, von seelenhaftem Leben freilich wait genug entfernt, und dennoch guten Wachstums fahig, die Krafte, deren die kommende Zeit bedarf. Fast ausnahmslos tragen die Wenigen, die seit funfhundert Jahren den Geist Europas gelenkt und verkdrpert haben, an Haupt und Gliedern die deutlichen Zeichen der Unterschicht, in seltenen Fallen der Mischung. Das geistige Leben der Nationen beruht auf dem gleichen Fundament, des- gleichen, mit Ausnahme PreuI5ens und Osterreichs, die Verwaltung. Die Reste reiner Oberschichten haben die Schdnheit und den Adel der Gestalt, zum grofien Tell auch die Reinheit der autoritaren und vas alien treuen Gesinnung sich erhalten; ihr schdpferiscber Geist ertragt nur dann den Vergleich, wenn das Verdienst biirger- lichen Halbblutes ihnen zugcmessen wird. England, das einzige Gebiet anscheinender Adelskultur, ist es nur dem Namen nach, denn sein Adelstum ist langst nicht mehr Sache der Urabstammung, sondem jungerer Titulatur.

Die alten Oberschichten besafien in hdherem M^ihe Die Mission als ihre Beherrschten die mutentsprossene Kraft derg^,j^^,jj^gj^' Gesinnung, und haben sich, von dieser Starke aus- gehend, dem Wesen der Seele genahert. Doch nur die Wenigen und Grofien sind diesen Weg bis zur Pforte geschritten; Stolz und Sorglosigkeit hielt die meisten zuriick. Dafiir ist nunmehr den Demxitigen und Geknechteten ein Weg erschlossen, freilich ein rauherer, der Weg der Entsagung und Heiligung, den wir geschil- dert haben; sie werden nicht von der Intuition zur Seele, sondern durch die Seele zur Intuition gelangen. Diesen

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Weg werden und miissen sie schreiten; gottselig und willig, von den Gestirnen emporgezogen, oder widerstrebend und schmerzensvoU, vom Leid der mechanistischen Not gietrieben. Fiir den Leidensweg aber sind die ent- erbten Stamme und Schichten mittlerenBlutes die wahrhaft Auserwahlten; vielleicht findet sich, bei tiefstem geisti- gen Stande, zu diesem Zeitpunkt keine grofiere Seelen- nahe der Massen als in den geknechteten Bauernschaften Rufilands. Nur eine kurze Zeit wird vergehen, bis bei uns die Erkenntnis reifr, dafi nicht politische und soziale Rezepte, nicht Einrichtungen und Gesetze den Menschen befreien und beseligen; ist erst dieser mechanische Aber- glaube gebrochen, so werden aus den Tiefen unserer Volker starkere Lebenskeime derSeele als jene dumpfen Ahnungen des Nachbarstammes sich emporringen. Die alte Welt ziichtete in Vdlkereinsamkeit den Mut, um durch gewaltsamen Uberfall verwohnte Massen in Wal- lung zu bringen; die Mechanisierung bedarf des phy- sischen Mutes nicht mehr, um ihren Volkerkessel im Sieden zu erhalren; sie bedarf nicht mehr des edelsten Blutes, uiji das unedle zu wiirzen; denn unfreiwillig und unbewufit unternimmt sie den ktihnen Versuch, aus Blut schlechthin die Seele zu destillieren, und durch ihre Wunderkraft riickwirkend jene alt en primaren Tugenden nebenher zu erwecken. So erfiillt es sich: die Letzten werden die Ersten sein; der Weg des freien Mutes war zu kurz, der Weg der Intuition war zu eng, der breite Weg des LeFdens und der Einkehr ist fiir Alle geebnet, und die Erkenntnis weist ihn. Die Not der seelenlosen Zeit, in der wir leben, ist noch nicht am hochsten, und dennoch erblicken wir ihr Ende; es naht, herbeigefiihrt durch jene Massen, die heute dieMechani-

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sierung emportreiben, ihr fronen una ihr erliegen; es naht, nichr durch das Opfer der Edlen, nicht durch die Aufwalzung der Niederen, sondern durch die innerste Wiedergeburt der Volker aus heiliger Not und von Grunde aus.

Wider Willen und Wissen ist unsere Epoche im Innersten demokratisch, indem jeder Schritt zur Frei- heit unwlderruflich, jeder Riickschritt zur Gebunden- heit unmdglich, und somit der Lauf zum Gleichheitspunkt unaufhaltsam wird, weil die Zeit in ihren Traumen fuhit, dafi sie der Volker bedarf und nicht mehr der Schichtung. Nicht Volksherrschaft erstrebt sie, sondern Volksfreiheit; und wenn auch dieser Weg durch Irrtum und Siinde, Not und Gefahr fiihrt, wenn auch manches Gut und Gliick der Kulturen zertreten werden mag, er ist gesichert durch den Willen ewiger Machte.

Niemals werden die gro&enKulturphanomene, welche die vergangenen Umschichmngen begleiteten, sich wie- derholen; neue Uberlagerungen sind nicht zu befiirchten und nicht zu erhoiFen, denn die den Boden der Erde bedeckenden Zivilisationsschichten sind geistig und nu- merisch so .stark geworden, dafi sie jede neue Eroberer- schicht abzuschiitteln oder aufzusaugen vermogen. Der vermessene, oft und frivol ausgesprochene Gedanke einer slawischen Uberflutung wiirde, verwirklicht, nicht die deutsche, sondern die slawische Kultur vernichten. Noch irrealer als der slawische Schrecken ist der ost- asiatische, denn hierin vereinigt sich das geistige Ge- setz mit dem politischen, dafi Selbstnadigkeit und Herr- schaft nur ideenbildenden Machten beschieden ist. Ihre leitenden Gedanken aber wird die Welt so lange von den Vdlkern englisch-germanisch-slawischer Schulung

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empfangen, als diese die Kraft haben, ihr Erbe festzu- halten. Sinn der hi- So sehen wir die ehemaligen Unterschichten der Entwicklung Kulturvolker, und, in ihrer Folge und Erziehung lang- sam emporruckend, die unabsehbare Stufenreihe der Stamme als Trager kultureller Verantwortung und kiinf- tiger seelischer Entwicklung emporwachsen. Und nur unter dieser Anschauung erscheint die Historie orga- nisch und mit den Weltgesetzen in Harmonie. Paradox, ja unertraglich ware der Gedanke, es hatte die Evolution des Geistes auf unserem Planeten nur dahin fuhren sollen, ein paar glanzende Volkererscheinungen zu zeiti- gen und diese nach kurzem Dasein unwiederbringlich in marastisch neutralen Massen aufzulosen. Nun erst wird dieSchicksalsrolle dieser friihgeborenen, fruhvergangenen Edelvolker in schoner Tragik lebendig; sie siegten, herrschten und starben dutch die gleiche Tugend; sie mufiten vergehen, um mit ihrem Geiste Geist zu wecken, mit ihrem Blute Blut zu erldsen; sie sind die Vorlaufer, die Propheten, die Genien unter den Vdlkern.

Wir haben aus dem wirren Gewebe des zeitlichen Wesens die Faden gewonnen, die das Gegenwartige mit dem Kiinfrigen verbinden, und somit ist die pragmati- sche Aufgabe erfiillt. Nun durfen wir es wagen, mit einem Blick die gewaltige Erscheinung der Mechanisie- rung zu umfassen, um sie in unser Bild vom histori- schen Welrgeschehen wurdigend einzureihen. Sinn der Me- Aus dem Druck einer unablassig sich verdichtenden Volksmenge erwachsen, folgte diese Bewegung der Not- wendigkeit, auf beschrankter Oberflache und gegebener physischer Grundlage den Abertausenden Raum, Nah- rung, Arbeit und Genufi zu schaffen. Sie vermochte es

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mechanisch, indem sie die Entfernungen liberwand, die Naturkrafte in Dienst zwang, die Menschheit zu gigan- lischer Arbeitsgemeinschaft organisierte, die Oberflache der Erde umgestaltete, die naturllchen Substanzen in ihre Elemente zerrifi und zu neuen Verbindungen ver- elnte. Sie vermochte es gelstig, indem sie eine welt- umspannende sysrematische Forschung schuf, indem sie lehrte den Naturvorgangen mit Messung und Rech- nung zu folgen, indem sie den Menschen mit unge- heuren Mengen von Notlonen und Zusammenhangen belastete, und ihn zwang, seine Arbeit zu vergeistigen, zu spintisleren, zu spekulieren, zu politisieren und zu diplomatisieren. Sie vermochte es ethisch, indem sie zwischen Not und Uberflufi eine scheinbar freie Wahl stellte, indem sie dutch nahgeriickte Bei- spiele, dutch Strome neuer Geniisse, Surrogate und Besitzgegenstande die Begehrlichkeit stachelte, dutch wechselnde Mode die Aufmerksamkeit wachhielt, durch den Taumel der Neuigkeiten, des Verkehrs und der Vergniigungen den arbeitsmiiden Geist vetwirrte und zu etneuter Fiigung in die Monotonie des selbst- bezweckten Getriebes beschwichtigte. So wurde mensch- liche Sklaverei der Maschine auferlegt; der Arm fiihlte sich befreit, allein zu Lasten des Hirns; der Mensch selbst wufde zum Hirn seiner Maschinen und unbarm- herziger als zuvor gebunden. Von der Zweckhaftigkeit geboren, treibt Mechanisierung den Menschen aus der lebendigen Gegenwart in wesenlose Zukunft; ihten Giitern; Anerkennung und Besitz, verleiht sie Zwangs- kurs; wer diese Miinze ausschlagt, bleibt unbelohnc und dennoch verpflichtet. Sie erscheint als eine un- geheure, nie endende,Vorbereitung; Geschlechter werden

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erzeugt, ernahrt, vermehrt und ins Grab geworfen, ohne Aufschauen, ohne Ausblick, und die Bewegung schreitet weiter, zu vergrofierten Zahlen, erhoiiten Dimensionen und gesteigerten Kraften.

Diese Not ist mit keiner zu vergleichen, die frxiher war. Denn sie ist nicht von den Elementen gesendet, wie Kalte, Diirre, Flut und Sterbe, sie ist vom eigenen Willen der Menschheit entfacht und hochgetrieben. Sie qualt nicht mit Schmerzen und Tod, sondern mit Sorge, Leere und Verzweiflung. Sie verlangt nicht Kuhnheit, Kraft und Todesverachtung, sondern Zahig- keit und Denken.

Und dennoch bedeutet diese Not, in aller ihrer feindlichen Gegensatzlichkeit zum Naturhaften, nicht eine freche Verirrung des Menschengeschlechtes, son- dern die Fortsetzung des ewigen organischen Kampfes mit neuen Mitteln. Begierde, Feindschaft und Erfindung haben die organische Welt zur Stufe des Menschen emporgedrangt; diese Krafte haben die Molluske zum Wirbeitier, den Fisch zum Vogel gemacht. Auch in diesen tieferen Wesen war Furcht und HoiFnung, und somit Intellekt. Freilich nicht die bewufite, BegriiFe bildende, abstrahierende und schliefiende Form dieser Kraft, wie sie uns heute gewartig ist, sondern ihr dumpferes Element, halbbewufit, wie uns die Seele, und dennoch im Finden von Mittel. Ausweg, Abwehr und Gewinn ertoigreicn.

Nichts ist geschehen, als dal5 die Kraft und Wirk- samkeit des Intellekts zwar nicht verstandlich, doch be- wufit geworden ist. Unermefilich sind die Erinnerungen, Gleichnisse und Formein, die der Menschheit zur Ver- fiigung stehen, unermiidlich ist das Pulsieren des Den-

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kens auf diesem Planeten, und die Mechanisierung be- deutet letztens nichts anderes als den Uberspannungs- schmerz dieser Kraft, die als Universalwerkzeug dem Erdenvolk dienen mufi.

Daher das grenzenlose Vertrauen zum Intellekt, als konne er unendlich viel mehr als ordnen, rechnen und werben, als miisse es ihm ein leichtes sein, die Welt unserem hungernden Geiste geniefibar zu machen, ja, ihren und unseren Sinn nnd Urgrund uns zu erschliefien. Verlangen wir von der Rechenmaschine Gedichte? For- dern wir vom Wurme eine Weltanschauung auf Grund des Benagbaren und nicht Benagbaren? So hat denn der Intellekt auf alle letzten Fragen mit stummer Ver- neinung geantwortet. Er hat, sobald er ein Gebiet der Welt betrat, damit begonnen, Strafien zu sperren; ofFnete er sie nachmals mit entschuldigender Geste, so waren sogleich die nachsten Ubergange verschlossen. Hatte nicht zu jeder Zeit menschliche Empfindung und Intuition sich unbekiimmert iiber die Schranken ge- schwungen, so betete die Welt zum heiligen Einmaleins.

Die hochste Leistung des Intellekts war seine Selbst- vernichtung. In ihr ist die Mechanisierung, das Reich des Intellekts, zum Tode getrofFen. Dieses Reich aber ist wahrhaft und eigentlich das Reich des Antichrist, denn es ruht auf Begierde und Feindschaft, wirbt um Giiter und Ehren, zieht das Heilige zum Zweck herab, verhartet die Herzen und entfremdet die Seelen.

Aus dieser Verlassenheit heimkehrend empfindet die Das Reich der

Seele

Seele bestarkte Ahnung ihres Bewufitseins und ewigen Rechts. Jener gewalrige Druck war vonnoten, um die Machte zu scheiden; nach dem Vorbild menschlicher Leidenspriifung war er bestimmt, eine Geisteswelt zu

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lautern und zu entfesseln. Die Seele kehrt heim und verlangt nicht nach Paradiesen, nicht nach dem Reich des Konig Messias, nicht nach dem Triumph der From- men und flammenden Gerichten. Sie verlangt nach neuen Kampfen und neuen Miihen, nach gottlicheren Schmerzen und edleren Freuden, nach wahrerem Leben und reinerer Verklarung. So stehen wir abermals vor den Pforren jenes Reiches, das nicht von dieser Welt ist, und doch von ihr seinen Anfang nimmt, des Reiches, das von seinem Verkiinder benannt ist das Konigtum des Himmels und das Reich Gottes, und das in diesem armen und weltlichen Buche liber uns schwebte als das Reich der Seele.

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INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG UND RECHENSCHAFT 9

Erstes Buch

DIE EVOLUTION DES ERLEBTEN GEISTES 25

Die Inventur des Geistes. Inxmtar der Erinnerung. Kind- liche Unsckuld. Urstimmung : Begehren und Furcht. Men- schen des Begehrens und der Furcht. ZweMafiigkeit. Der Zweckmensch , sein Leben und IVesen. Seine Abhangtgkeit. Sein Inteliekt. Seine Sittlichkeit und .sein Glauhen, Seine Kunst,

Kritih der Ziveckhaftigkeit. Umschwung des Erlebens. Ziveckfreie Regungen. Reaktion und Riichschritt des Erlebens. Die Geburt der Seele. Seelenkunde. Begrijfe, Worte, Lehren. Betrachtung der Seele. Paradoxie der Seele. Fursichsein der Seele. Einivendungen des Vtilitarismus. Seelenlosigkeit. Seelenlose Gebiete. Seelenlose Zivilisation. Seelenlose Bildung. Seelenlose Statten. Seelenlose Stamme. Kriterien seelenloser Geraeinschaften. Begriff vom Tode. Seelenlose Glaubensform.

Seelenlose Kunstform. Seelenlose Ideale. Seelenlose GeseUigkeit.

Kriterien seelenhafter Gemeinschaften. Seelenhafte und seelenlose Epochen. Ursachen des Wechsels. Kriterien der Epochen. Fiihrer der Epochen. Epoche der Gegenwart. Mechani- sierung und Entgermanisierung, Aufieres Bild der Epoche. Inneres Bild der Epoche. Starke und Schivache der Epoche. Seele und In- teliekt. — Seele und Inteliekt als begreifende Krafte. Irren des Intellekts. Infallibilitat der Seele. Intuition. Der intellek- tuelle und der intuitive Mensch. IVechselnvirkung. Seele und In- teliekt als wertende Krafte. Intellektuelle Wertung. Seelische ' Wertung. Paradoxie der utilitarischen Forderung. Seelische Religion.

Seele und Inteliekt als schaffende Krafte. Intuitives und

343

VQjeckbaftes Schajfen. Schaffen der Kunst, Tr'tebkraft des intttithen Si ha jf ens, Intellekt als Hilfskraft. Schajfen des All tags, Intui- tion md Genialitat. Kritik der erlebenden Seele. Seeie und Transxendenx.. See/e und Superstition. See/e und Religion. Kri- tik der Seelenwerdung.

Zrvejtes Buch

DIE EVOLUTION DES ERSCHAUTEN' GEISTES 71

Spiegelbild und Spiegel. Erkenntnisproblem. Geset% der G'til- tigkeit. Idealismus als Naturbestimmung. Gefiihlsphilosophie, Ra- thnalismus und Intuit ton. Notivendiges Ubel dialektischer Methode.

Die dreifache innere Erfahrung. Fremdgeist, Geistiger Anteil, EtnfUhlung. Moglichkeit einer Mechanik des Gei- stes. Priifung der Teilbarkeit. Geset:(. der R§ihen. Un- denkbarkeit des Einmaligen, Endlose Teilbarkeit. Prinzip der Wechselwirkung. Ausdruck und Eindruck als Prinzipien des Er- iebens. Unzulanglichkeit rational er Erklarungen. Fernivirkung, Dimensionen der Wechselwirkung. Prinzip der Auswahl und des Vbrzugs. Freiheit and Gesetz. Massenerscheimmgen.

Gleichnis vom Heuschreckenschnvarm. Naturgesetxe als Majoritats- gesetze. Einivendungen. Trofx, Freiheit Gesetze moglich. Die drei Radikalien. Additions faktor. Anmerkung vom plau- siblen Denken. Eigenschaft und Fahigkeit. Die Integration,

Erscheinungsobjekt, Der schaffende Geist. Einivand der Mannig- faltigkeit, Gesetz der Erfafibarkeit. Das Integral als Ord- nung und Symbol. Gleichnis vom Orchester. Methodischer Ein- nvand. Deutung des Integrals. Einfiihrung in die Er- scheinung. Gleichnis vom Schachspiel. Mechanische Deu- tung des Erscheinungsvorgangs. Lage. Be^egung. Masse. Leben. Botschaften. Strahlphanomen. System der Symbole. Drei Welten. Die Erscheinungsreihe der Komplikation. Abbau der Elemente. Aufbau der Elemente. Urzeugung, Die Geistesreihe der Komplikationen. Abbau der Lebenselejnente. Lebensstimmung der organischen Welt,

Lebensstimmung der anorganischen Welt. Summierung des Geistes. Kollektivgeist. Moglichkeit experimenteller Erforschung. Transzendente Experimentation. Summie^ rungsstufen. Summierung des raumlich Getrennten. Gebilde des koUektiven Geistes. Siedelungen als Lebeivesen. Aufieres Bild.

Inneres Bild. Leben, Geist. Anmerkung iiber Vdlkerpsycha

344

logic. Franz'dsiscbe Tlteorle der Imitation. Nachahmung und Nach- folge. Soziale Grundgcietx,e. Gesetz. der Bequejnlichkeit. Gmnd- frage des kollektiven Phanomens. Revolutionare Zustande. Gesetz des kollektiven Phanomens. Chauvinismus. Mono- manien. Latentes Bewufitsein kollektiven Geistes. Ge- setz vom Bewufitsein kollektiven Geistes. Analogic des Ein- xelbeivujltseins. Latente Willenselemente kollektiven Gei- stes. — KoUektive Arbeitsteilung. Staatsgehirn. Analogic der Arbeitsteilung im Einzelgeist. Vbrbemerkung zum Additions- prinzip. Vom Tode. Das Strahlphanomen. Univer- seUe Bedeutung. Absolute Bedeutmg. Vom Recht des Elements. Experimentelle Priifung. KoUektive FortpfianT.ung. Gesetz der Kolonie. Anivendung auf die Vererbung. Psychophysische An- merkung. Kritik des Todes, der Vererbung, der Rasse. Gesetz der Umkehrung des Massencharakters. Kritik der physischen Geschichtsauffassung. Anwendung auf menschliches Einzelschicksal. Kollektives Experiment der Seelenwerdung.

Das Bild von der Kathedrale Das Bild vom Lust gar ten. Technische und seelische IVerke. Seelenruerke und Kultur. Perma- nenz seelischer Giiter. Seelenwerte als Kollektivschopfungen.

Beispiel vom Bauen. Zerrbilder koUektiven S chaff ens. Anteil der Genialitat am koUektiven Schajfen. Prioritat bevorzugter Elemente.

Gleicbnis von der Fensterscheibe. IViirde und Grenzc des Genialen.

Naturvorgang des seelischen Schaffens. Erkennbarkeit der Seelengeburt. Einivand von koUektiver Immoralttat. Zu- faUigkeit mojnentaner Regungen. Grenzen der Verantwortung. Be- dingungen der seelischen Evolution. Innere Lebensgemeinschaft.

Innere Abgrenzung. Innere Bindung. Liebe. Defin'ittonen.

Begelrren und Liebe. Mutter Hebe. Eigenliebe. Paradoxic der Liebe. Kritik der Liebe. Liebe als Additionsmoment. Riickblick. Gesetze der Mechanik des Geistes. Auf- bau der Welt im Sinne des Gesetzes. Vororganische Welt. Organische Welt. Lebenskrafte und Urzeugung. Le- benswille, Zweck und Kampf. Seelische Welt. Innere Liebe. Absteigendes Phanomen. Kritik der Evolution,

Gleichnisse der Evolution. Gesetz der Enthiillung. Symbole der Evolution. Evolution und Gesetz der Kon- stanz. "Wachsen des Geistes. Problem der geistigen Ver- nichtung. Priifung am KoUektivgebilde. Vergangene Kul- turen. Materialisation des Vergangenen. Gesetz der Erfa/^barkeit.

Priifung am Einzelgeist. DoppelsteUung der Seele. Die drei

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Koordinaten des Lebem. Irdische und Uberirdische Erbaltung. 1st Sterblichkeit moglich? Kritik der Sterblichkeit. Tod und Seelenlosigkeit. Tod und Seele. Uberweltlichei Geist. Uberweltliche Reihen. Negativitat transzenden- ter Vorstellung. Dreifache Negation. Richtkraft der Negationen. Kritik der evolutionaren Betrachtung. Re- %ipro%itat der Vorstellung. Kritik der erschauten Seele. Gott- seite und Weltseite der Schopfung. Damonion. Religion. Partiailosungen, Kritik der Ojfenbarung. Absolutismus der Seele,

Uberleitung zur praktischen Aufgabe.

Drittes Buch

DIE EVOLUTION DES PRAKTISCHEN GEISTES .... 189

I. DIE ETHIK DER SEELE 191

Ethos und Gesetz. Ethik als Erkenntnis. Ethik als Ver- kiindigung. Imperative FormeL Richtkraft der Liebe. Liebe in der Okonomik der intellektualen Welt. Individua- litdt und Ubermenschentum. Liebe als Lockung. Liebe und Karnpf. Hajf. Selbstsucht. Paradoxic vom Egoismus. Ethischer Zu- stand. IndifFerenzgebiet des Handelns. Furcht, Begierde, Zweck im Bilde der Seele. Mut und Freiheit im Bilde der Seele. Entstehung des Mutes. Uberwindung des Intellekts.

Das Opfer des Intellekts. Mut und Furcht im Bilde histo- rischer Ethik. Germanische Auf fas sung. Kritik. Indische Auffassung. Kritik. Semittsche Auffassung. Kritik. Grdko- romani^che Auffassung. Kritik. Die historischen Wertungen als partiale Ableitungen. Objektive Kritik des Han- delns im Bilde der Seele. Transzendente Gesinnung. Verhaltnis %ur Gottheit. Trans-x^ndenUosigkeit. Verba Itnis xum Tode, Ehrfurcht. Transzendente Liebe. Erbaltung des In- dividuelkn. Transzendentes Wirken. Die Umkehr der ethischen Sorge. Riickkehr zum Leben aus Glauben. Hdrte. Selbsterbaltung. Spam, nicht Ziigel. GesetZ der Zwei- ten Natur. Forderung und Hemmung des ethischen Zu- standes. Der Weg des Leidens. Primitive Reaktion des Leides,

Vorgeschrittene Reaktion des Leides. Transx,endente Reaktion des Leides. Leidlose Natur en. Leiderlegene Natur en Ztviespaltige und damoniscbe Naturen. Der Weg des Schweigens. Scbwatzen- 4er Geist. Unerjtaunter Geist. Einsamkeit. Die Spracbe der Dinge. D^X Weg der Betrachtung. Znveckbafte Betrachtung,

34<^

Zivecfefreie Betrachtung, Der Weg des Glaubens. Reli- gionen als partiale Losungen. Symbolik der Doginen. Materially ierung dutch das Wort. Siinde. SundenfaU. Person- liche Gottheit. Sclyivache des Pamheismus. Richtungsbegriff des Gbtt lichen Gemeinschaft der Heiligen, Erlosung. Gnade. Glauben und Werke. Metempsychose. Gottesreich. Gebet. Bitte, Meditation. Wmder, Eudiimonistik. Leid und Siinde. Erhaltung der Siinde und des Leidens. Leiden und Opfer.

Gefuhlston des Opfers. Gefiihlston aller Evolution. Pro- blem des Mifigeschicks. GesetTc der Ausldsung, Vieldeutig- keit des Geschehens.

II. DIE ASTHETIK DER SEELE 235

Naturempfinden und Kunst. Grenzen historischer Betrach- tung. — Gipfel und Fortschritt. Zeitliche Zuversicht. Absoluter Weg der Kunst. Asthetisches Grundgesetz. Psychische Ausdeutung. Kunst als Verkiindigung der Seele. Kunst, Wissenschaft und Rezept. Flucht -mm Unerkannten. Historischer Weg der Kunst. Die drei Gruppen der Ge- setzmafiigkeit. Typische, technische und subjektive Kunst. Typische Kunst. Behelfe und Konventionen. Konvention als Massenausdruch. Typische Kunst als Naturprodukt. Normative Kraft der typischen Kunst. Kritik der typischen Kunst, Tech- nische Kunst. Subjektive Kunst. Individualisierung und Idealistik. Individualisierung als Selbstbeschrankung und Hingebung,

IVUrde des Objekts. Versenkung. Wehmut und Demut. Per- sdnlichkeit. Universelle Naturen. Subjektive Gesetx,maJ?igkeiten. Charaktere, Stimmung. Unauigesprochenes. Mitklange und Unter stimmen. Lyrisches Beispiei yimnerkung fiber Lyrik. Einfiihlende und passionelle Naturempfindung. Subjektivismus des Mittfls. Der Seelenweg der Kunst. Ethnische Stufen. China. Mittelmeer- gruppe, Renaissance. Frankreich. Germanischer Kreis. Kri- tik der Kunstevolution. Verluste der Tradition. Verluste der StabiUtat, Verluste der Formbildung. Verluste der Architektur. Der Kampfpreis: Inner lichkeit und Freiheit. Anwendung auf prak- tische Kritik. Verzicht auf Zivecke. Vercicht auf GefaUigkeit.

Verzicht auf Ausfiihrung. Verzicht auf Popularitat. Feind- schaft der berrschenden Stande. Forderung der Meisterschaft. Zwei Anmerkungen : Kritik der Kritik. DUnne Talente. Zusammen- fassung: Krirische Leitsatze. Anwendung auf die Kunst der Zeit. Vberladung und Ubersatttgung, Wettkainpf der Effekte.

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Mode, Entivurze/ung. Asthetentum. Feminismus. Ruck- nu'trkung auf die Zeit und Steigeriing. Wirkung auf die Kritik. Wirkung auf die Kttnst» Gesefz. des ersten Impulses, Nachbliiten, Rekapitulation. Kunstfiucht der 1 atigen. Gesetz der starksten Geistesaufwendung. Wendung %ur Tat. Kunst als Geleiterin.

III. DIE PRAGMATIK DER SEELE 289

Wurzeln der Wirklichkeit. Problem der irdischen Konti- nuitat, Ausschaltung der Glucksprdmie. Gluckspotential, Seele und Seligkeit. Irdische Institution und seelische Forderung. Priifung der Motoren. Zeitlicher Vorbehalt. Hauptmotoren: BesitT. und Macht. Not und Mangel als Zeitfragen. Besit%. Ent- lastung der Welfwirtschaft. Macht. Ehrgeix.. Sachlichkeit. Verantivortung. Neue Krafte. Erblassen der Besitxfreude. Er- blassen der Machtsymbole. Seele und Praxis. Einsicht und Ein- richiungen. Sozialismus. Seele und Mechanisierung. Ziveite Natur der Arbeit. Solidaritdt, Sittengefiihl und Sequestrierung. Sittengefiihl und Dienstbarkeit. Untertanigkeit und Patriarchalitdt. Sittengefiihl und Ausschliefiung. Sittengefuhl und Erbfolge, Sitten- gefiihl und mechanische Arbeit. Uberwindung der Mechanisie- rung. — Realismus der praktischen Evolution. Zusammen- hang mit heutigen Dingen. Erkenntnis menschlicher Qualitdten.

Dinge und Sachen. Interessen und Ideate. Die Stimmung vorgeschrittener Zeit. Vbrbilder der Evolution. Stetig- keit und Zogerung. Rtickblick der Kommenden. Histo- rische Entwicklung im Lichte praktischer Evrolution. Blut- verschivendung. Charaktertod. Wertverschtebung, Selektion des Erfolges. Gegenkrafte, Unbestandigkeit der Rassen, Korrektion des Erfolges. EnPwertung des menschlichen InteUekts, Bewertung intuitiver Krafte, Berufene V'dlker, Die Aliiston der Unterschich- ten. Sinn der historischen Entwicklung. Sinn der Me- chanisierung. — Das Reich der Seele.

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WERKE

VON

WALTHER RATHENAU

Druck der £. GundlachAktienj^esellschaft in Bielefeld.

WERKE VON WALTHER RATH EN AU

ZUR KRITIK DER ZEIT

FunfzehnteAuflage. Geheftet4M.50Pf., gebunden6M.50Pf.

Ein auBerordentlich knapp gefafites, iiberall von fundierter Lebensbeob- achtung ausgehendes, iiberzeugend zusammengefafites Buch. Und fiir den, der es recht zu lesen versteht, ein spannendes und erregendes, ja geradezu unterhaltsames und anfeuerndes Buch. Man sitzt gleichsam am Webstuhl der Zeit und sieht die Faden heriiber- und hiniiber- schieBen. Und in allem offenbart sich das GesetzmaBige, das Mecha- nisierende. Die absolute Unentrinnbarkeit der heutigen mechanistischen Weltordnung, ihr Hiniibergreifen auf alle Gebiete der Produktion, der Verwaltung, der Politik, der Intellektualitat, ja des familiaren Lebens und der Ichkultur enthiillt sich uns wie ein eisern-klammern- des Gefiige. (Leipziger Neueste Nachrichten)

DEUTSCHLANDS ROHSTOFFVERSORGUNG

Vortrag, gehalten in der ,,Deutschen Gesellschaft 1914" Neununddreifiigste Auflage. Geheftet 75 Pfennig

PROBLEME DER FRIEDENSWIRTSCHAFT

Vortrag, gehalten in der ,,Deutschen Gesellschaft 1914" Fiinfundzwanzigste Auflage. Geheftet 75 Pfennig

STREITSCHRIFT VOM GLAUBEN

Elfte Auflage. Geheftet 75 Pfennig

VOM AKTIENWESEN

/ Eine geschaftliche Betrachtung / Zwanzigste Auflage. Geheftet 1 Mark

DIE NEUE WIRTSCHAFT

Vierzigste Auflage. Geheftet 1 Mark 50 Pfennig

REFLEXIONEN

(bei S. Hirzel, Leipzig) Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark 50 Pfennig, gebunden 6 Mark

VON KOMMENDEN DINGEN 55 . Auf lage. Geheftet 6 Mark, gebunden 8 Mark.

Eine gebandigte Leidenschaftlichkeit spricht aus dem Buche. Mit mehr Gerechtigkeit als andere Propheten sieht Rathenau auch die guten Seiten der veralteten Einrichtungen, die er vom Erdboden vertilgen mochte. Mit dem leidenschaftlichen Grimme, dessen Nachhall man wie aus der Feme vernimmt, hatte Rathenau ein schriftstellerisches Meisterstuck gestalten konnen, eine Satire auf die Gegenwart. Aber er will nicht als ein Schriftsteller glanzen, er will iiberhaupt nicht glanzen oder scbelnen. Er will sein und an dem Neubau mitarbeiten. Als ein Baumeister. Waren die kommenden Dinge schon da, so diirfte er unter den Baumeistern des neuen Reiches nicht fehlen.

(Fritz Mauthner im Berliner Tageblatt)

Ein prophetisches Buch, von der ersten bis zur letzten Zeile durch- gliiht von der unerschutterlichen GewiBheit des Schauenden, der die kommenden irdischen Zustande mit der Gewifiheit des geistigen Ge- setzes durchdringt. Und dieses geistige Gesetz, die Grundthese aller seiner Ausfiihrungen, lautet: „Ziele setzen heiOt glauben. Erst der Glaube schafft Gesinnung, und ihr folgt willenlos das Geschehen." Also auch ein innerliches, ein wahrhaft frommes Buch, nicht um der vielen absichtlichen Anklange an die Bibelsprache willen, sondern weil es uns verkiindigt: „Nicht Furcht und nicht Hoffnung sind die trei- benden Gewalten, sondern Glaube, der aus Liebe entspringt; tlefste Not und Gottes Wille." Fiir alle Erorterungen, die mit der kommenden Neugestaltung, die wir als Frucht der Not des Krieges erhoffen, sich beschaftigen, wird es grundlegend bleiben. (Die christliche Welt)

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Berkeley

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