Skip to main content

Full text of "Gesammelte Schriften;"

See other formats


oo. 


CD' 


Wilhelm  von  Humboldts 
Gesammelte   Schriften. 


Wilhelm  von  Humboldts 
Gesammelte  Schriften. 


Herausgegeben  von  der 

Königlich    Preussischen    Akademie    der 
Wissenschaften. 


Band  VII. 

Erste  Abteilung 

Werke  VII. 

Erste  Hälfte. 

Berlin 

B.  Behr's  Verlag 

1907. 


H'^^'^c^ 


Wilhelm  von  Humboldts 
Werke. 


Herausgegeben  von 


Albert  Leitzmann. 


Siebenter   Band. 

Erste  Hälfte. 

Einleitung    zum    Kawiwerk. 


//^ 


/7 


i 


// 


Berlin 

B.  Behr's  Verlag 

1907. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Inhalt 


Seite 

I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues  und  ihren  Ein- 
fluß auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts  [i8jo — iSj^]        i 

Anhang.    Alexander  von  Humboldts  Vorwort  zum  Kawiwerk ^45 

Bemerkungen  zur  Entstehungsgeschichte  des  Aufsatzes ^50 


I. 

Ueber  die  Verschiedenheit  des   menschlichen  Sprach- 
baues und  ihren  Einfluss  auf  die  geistige  Entwicklung 
des  Menschengeschlechts. 

Wohnplätze  und  Culturverhältnisse  der  Malayischen 

Völkerstämme. 

Die  Völkerschaften  des  Mala}dschen  Stammes*)  befinden  sich,  i. 
wenn  man  ihre  Wohnsitze,  ihre  Verfassung,  ihre  Geschichte,  vor 
allem  aber  ihre  Sprache  betrachtet,  in  einem  sonderbareren  Zu- 
sammenhange mit  Stämmen  verschiedenartiger  Cultur,  als  leicht 
irgend  ein  anderes  Volk  des  Erdbodens.  Sie  bewohnen  bloss 
Inseln  und  Inselgruppen,  aber  in  einer  Ausdehnung  und  Entfernung 
von  einander,  welche  ein  unverwerfliches  Zeugniss  ihrer  frühen 
Schiffahrtskunde  abgiebt.  Ihre  continentale  Niederlassung  auf  der 
Halbinsel  Malacca  verdient  hier  kaum  besonders  erwähnt  zu  werden, 
da  sie  eine  spätere  ist  und  sich  aus  Sumatra  herschreibt,  und  noch 
weniger  kommt  hier  die  noch  jüngere  an  den  Küsten  des  Chine- 
sischen Meeres  und  des  Meerbusens  von  Siam,   in  Champa,**)   in 


Handschriß  von  Schreiberhand  (759  halbbeschriebene  Folioseiten)  mit  eigen- 
händigen Korrekturen  Humboldts  in  der  Königlichen  Bibliothek  in  Berlin.  Ebenda 
ist  eine  Abschrift  der  ersten  jj  Paragraphen  von  Buschmanns  Hand  ßj4  halb- 
beschriebene Folioseiten)  erhalten.  —  Erster  Druck:  Wilhelm  von  Humboldt, 
Über  die  Kawisprache  auf  der  Insel  Java  i,  I—CCCCXXX  fi8j6).  Die  Ab- 
handlung trägt  dort  die  Überschrift  ,yEinleitung". 

*)  Ich  fasse  unter  diesem  Namen  mit  der  Bevölkerung  von  Malacca  die  Bewohner 
aller  Inseln  des  grossen  südlichen  Oceans  zusammen ,  deren  Sprachen  mit  der  im 
engeren  Verstände  Malayisch  genannten  auf  Malacca  zu  einem  und  ebendemselben 
Stamm  gehören.     Ueber  die  Aussprache  des  Namens  s.   I.  Buch.  S.   12.  Anm.  2. 

**)  Der  Name  dieses  Districts,  der  sehr  verschieden  geschrieben  wird,    findet  sich 
in  obiger  Schreibung  in  der  Barmanischen  Sprache.     S.  Judsons  Lex.  h.  v. 
W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  I 


2  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Betrachtung.  Ausserdem  aber  können  wir  nirgends,  auch  nicht 
in  dem  frühesten  Alterthume,  mit  irgend  einiger  Sicherheit  Malayen 
auf  dem  Festlande  nachweisen.  Wenn  man  nun  von  diesen 
Stämmen  diejenigen  zusammennimmt,  welche  in  engerem  Ver- 
stände Malayische  zu  heissen  verdienen,  da  sie,  nach  untrüglicher 
grammatischer  Untersuchung,  eng  mit  einander  verwandte  und 
durch  einander  erklärbare  Sprachen  reden,  so  finden  wir  dieselben, 
um  nur  diejenigen  Punkte  zu  nennen,  wo  die  Sprachforschung 
hinreichend  vorbereiteten  Stoff  antrifft,  auf  den  Philippinen  und 
zwar  dort  in  dem  zur  formenreichsten  Entfaltung  gediehenen  und 
eigenthümlichsten  Zustande  der  Sprache,  auf  Java,  Sumatra, 
Malacca  und  Madagascar.  Eine  grosse  Anzahl  von  unbestreitbaren 
Wortverwandtschaften  und  schon  die  Namen  einer  bedeutenden 
Anzahl  von  Inseln  beweisen  aber,  dass  auch  die  jenen  Punkten 
nahe  gelegenen  Eilande  gleiche  Bevölkerung  haben,  und  dass  der 
engere  Malayische  Sprachkreis  sich  wohl  über  den  ganzen  Theil 
des  Süd-Asiatischen  Oceans  ausdehnt,  welcher  von  den  Philippinen 
südwärts  an  den  Westküsten  von  Neu-Guinea  herunter  und  dann 
westwärts  um  die  Inselkette  herum,  die  sich  an  die  Ostspitze  von 
Java  anschliesst,  in  den  Gewässern  von  Java  und  Sumatra  bis  zur 
Strasse  von  Malacca  geht.  Es  ist  nur  zu  bedauern,  dass  sich  die 
Sprachen  der  grossen  Inseln  Borneo  und  Celebes,  von  welchen 
jedoch  wahrscheinlich  das  eben  Gesagte  gleichfalls  gilt,  noch  nicht 
gehörig  grammatisch  beurtheilen  lassen. 

Oestlich  von  dem  hier  gezogenen  engeren  Malayischen  Kreise, 
von  Neu-Seeland  bis  zur  Oster-Insel,  von  da  nordwärts  bis  zu  den 
Sandwich-Inseln  und  wieder  westlich  bis  zu  den  Philippinen  heran, 
wohnt  eine  Inselbevölkerung,  welche  die  unverkennbarsten  Spuren 
alter  Stammverwandtschaft  mit  den  Malayischen  Stämmen  an  sich 
trägt.  Die  Sprachen,  von  welchen  wir  die  Neu-Seeländische,  Tahi- 
tische.  Sandwichische  und  Tongische  auch  grammatisch  genau 
kennen,  beweisen  dieselbe  durch  eine  grosse  Zahl  von  gleichen 
Wörtern  und  wesentliche  Uebereinstimmungen  im  organischen 
Baue.  Gleiche  Aehnlichkeit  findet  sich  in  Sitten  und  Gebräuchen, 
besonders  insofern  sich  die  Malayischen  rein  und.  unverändert 
durch  Indische  Gewohnheiten  erkennen  lassen.  Inwiefern  die  in 
diesem  Theil  des  Oceans  nordwestlich  wohnenden  Stämme  sich 
mehr  oder  ganz  zu  den  übrigen  dieser  Abtheilung  oder  zu  den 
Malayischen  im  engeren  Verstände  hinneigen  oder  ein  verbinden- 
des Mittelglied  zwischen  beiden  bilden,  lässt  sich,  nach  den  jetzt 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts,     i.         o 

vorhandenen  Hülfsmitteln ,  noch  nicht  beunheilen,  da  auch  die 
über  die  Sprache  der  Marianen-Inseln  angestellten  Untersuchungen 
noch  nicht  öffentlich  bekannt  gemacht  sind.  Alle  diese  Völker- 
stämme nun  besitzen  solche  gesellschaftlichen  Einrichtungen,  dass 
man  sie  mit  Unrecht  von  dem  Kreise  civilisirter  Nationen  gänz- 
lich ausschliessen  würde.  Sie  haben  eine  fest  gegründete,  und  gar 
nicht  durchaus  einfache,  politische  Verfassung,  religiöse  Satzungen 
und  Gebräuche,  zum  Theil  sogar  eine  Art  geistlichen  Regiments, 
zeigen  Geschicklichkeit  in  mannigfaltigen  Arbeiten,  und  sind  kühne 
und  gewandte  Seefahrer.  Man  findet  bei  ihnen ,  an  mehreren 
Orten,  jetzt  ihnen  selbst  unverständliche  Bruchstücke  einer  heiligen 
Sprache,  und  der  Gebrauch,  veraltete  Ausdrücke  bei  gewissen 
Gelegenheiten  feierlich  ins  Leben  zurückzurufen,  zeugt  nicht 
bloss  von  Reichthum,  Alter  und  Tiefe  der  Sprache,  sondern 
auch  von  Aufmerksamkeit  auf  die  im  Laufe  der  Zeit  wechselnde 
Bezeichnung  der  Gegenstände.  Dabei  aber  duldeten  sie,  und 
dulden  zum  Theil  noch  unter  sich  barbarische  und  mit  mensch- 
licher Gesittung  nicht  zu  vereinigende  Gebräuche,  scheinen  nie 
zum  Besitze  der  Schrift  gelangt  zu  seyn,  und  entbehren  daher 
alle  von  dieser  abhängige  Bildung,  ob  es  ihnen  gleich  nicht  an 
sinnreichen  Sagen,  eindringender  Beredsamkeit  und  Dichtung  in 
bestimmt  geschiedenen  Tonweisen  fehlt.  Ihre  Sprachen  sind  auf 
keine  Weise  aus  Verderbung  und  Umwandlung  der  Malayischen 
des  engeren  Kreises  entstanden,  man  kann  viel  eher  glauben,  in 
ihnen  einen  formloseren  und  ursprüngHcheren  Zustand  dieser 
wahrzunehmen. 

Zugleich  mit  den  hier  genannten  Völkerstämmen  in  den  beiden 
eben  bezeichneten  Abtheilungen  des  grossen  südlichen  Archipels 
trifft  man  auf  einigen  Inseln  desselben  Menschen  an,  welche,  dem 
Anscheine  nach,  zu  einer  ganz  anderen  Race  gerechnet  werden 
müssen.  Sowohl  die  Malayen  im  engeren  Verstände,  als  die  mehr 
östlichen  Bewohner  der  Südsee  gehören,  ohne  allen  Zweifel,  zu 
derselben  Menschenrace ,  und  bilden ,  wenn  man  genauer  in  die 
Unterscheidung  der  Farben  eingeht,  die  mehr  oder  weniger  licht- 
braune in  der  allgemeinen  weissen.  Die  Stämme,  von  denen  jetzt 
die  Rede  ist,  nähern  sich  dagegen  durch  Schwärze  der  Haut,  zum 
Theil  wollige  Ivrausheit  der  Haare  und  ganz  eigenthümliche  Ge- 
sichtszüge und  Körpergestalt  den  Afrikanischen  Negern,  obgleich 
sie,  den  glaubwürdigsten  Zeugnissen  nach,  doch  wieder  wesentlich 
und  gänzlich  von  diesen  verschieden  sind,  und  durchaus  nicht  zu 


j,  I.    über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

Einer  Race  mit  ihnen  gerechnet  werden  können.*)  Sie  werden 
bei  den  Schriftstellern  über  diese  Gegenden,  zum  Unterschiede  von 
den  Afrikanischen  Negern,  bald  Negritos,  bald  Austral-Neger  ge- 
nannt, und  sind  wenig  zahlreich.  Auf  zugleich  von  Malayischen 
Stämmen  bewohnten  Inseln,  wie  auf  den  Philippinen,  halten  sie 
sich  gewöhnlich  in  der  Mitte  der  Eilande,  auf  schwer  zugänglichen 
Gebirgen  auf,  wohin  sie  von  der  zahlreicheren  und  hauptsächlichen 
weissen  Bevölkerung  nach  und  nach  zurückgedrängt  scheinen.  In 
dieser  Lage  muss  man  sie  aber  sorgfältig  von  den  Haraforas**) 
oder  Alfuris,  Turajas***)  in  Celebes,  unterscheiden,  die  sich  in 
Borneo,  Celebes,  den  Molukken,  Mindanao  und  einigen  andren 
Inseln  finden.  Diese  scheinen  gleichfalls  von  ihren  Mitbewohnern 
zurückgedrängt,  gehören  aber  zu  den  lichtbraunen  Stämmen,  und 
Marsden  schreibt  ihre  Vertreibung  von  den  Küsten  sogar  erst 
Mahomedanischer  Verfolgung  zii.  In  Verwilderung  kommen  sie 
der  schwarzen  Race  nahe,  und  sind  immer  eine  auf  verschiedener 
Culturstufe  stehende  Bevölkerung.  Andere,  zum  Theil  grosse 
Inseln,  wie  Neu-Guinea,  Neu-Britannien  und  Irland,  und  einige 
der  Hebriden,  haben  diese  negerartigen  Stämme  allein  inne,  und 
die  Bewohner  des  grossen  Continents  von  Neu-Holland  und  Van 
Diemens  Land,  welche  man  bisher  Gelegenheit  gehabt  hat  kennen 
zu  lernen,  gehören  zu  der  gleichen  Menschenrace.  Obgleich  aber 
diese  in  ihren  hier  beschriebenen  dreifachen  Wohnplätzen  allge- 
meine Kennzeichen  der  Aehnlichkeit  und  Verwandtschaft  an  sich 
trägt,  so  ist  noch  bei  weitem  nicht  hinlänglich  ergründet,  inwie- 
fern doch  auch  in  ihr  wesentliche  Stammunterschiede  statt  finden 
mögen?  Namentlich  sind  ihre  Sprachen  noch  durchaus  nicht  auf 
eine  Weise  untersucht,  welche  eine  gründliche  Sprachforschung 
befriedigen  könnte.  Zur  Beurtheilung  des  organischen  und 
grammatischen  Baues  giebt  es  bloss  von  einem  Stamm  von  Neu- 
Süd-Wales  durch  den  Missionar  Threlkeld  gesammelte  Materialien. 
Ueberall  zeichnet  sich  diese  Race  durch  grössere  Wildheit  und 
Uncultur  gegen  die  von  hellerer  Farbe  aus,  und  die  Verschieden- 


*)  Man  vergleiche  über  die  Nuancen  der  Farben  Klaproth.  Nouv.  Journ.  Asiat. 
XII.  240. 

**)  Marsden's  miscell.  works.  S.  47 — 50. 
**♦)  Dieser  Name  hat  dergestalt  Sanskritische  Form  und  Klang,   dass  man  sich  nicht 
enthalten  kann,  ihn  für  eine  von   gebildeten  Malayen-Stämraen    ungebildet   gebliebenen 
gegebene  Benennung  zu  halten.     Schon  dieser  Umstand  dürfte  wohl  auf  eine  viel  frühere 
Scheidung  dieser  zwiefachen  Bevölkerung  hinweisen. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     I.         c 

heiten  hierin  beruhen  wohl  allein  auf  näherem  oder  entfernterem 
Umgange  mit  Stämmen  der  letzteren.  Die  Bewohner  von  Neu- 
Holland  und  Van  Diemens  Land  scheinen  auf  der  niedrigsten  Stufe 
der  Cultur  zu  stehen,  auf  welcher  man  noch  überhaupt  die 
Menschheit  auf  dem  Erdboden  angetroffen  hat.  Eine  sonderbare 
Erscheinung  ist  es,  auch  auf  der  Halbinsel  Malacca  die  helle  und 
dunkle  Race  wieder  neben  einander  anzutreffen.  Denn  die  Semang, 
welche  einen  Theil  der  Gebirge  derselben  bewohnen,  sind,  nach 
ganz  unven;\^erflichen  Zeugnissen,  ein  wollhaariger  Negrito-Stamm. 
Da  sich  derselbe  auf  diesem  einzigen  Punkte  des  Asiatischen  Fest- 
landes findet,*)  so  ist  er  unstreitig  auch,  nur  in  früherer  Zeit,  da- 
hin übergewandert.  Auch  von  der  helleren  Race  hat  es,  wie  die 
offenbar  Malayischen  orang  benüa,  Menschen  des  Landes,  zu 
beweisen  scheinen,**)  wohl  mehr  als  Eine  Einwanderung  gegeben. 
Beide  Ereignisse  beweisen  daher  nur,  dass  dieselben  Länden^er- 
hältnisse  in  verschiedenen  Zeiten  gleiche  geschichtliche  Begeben- 
heiten hervorbringen,  und  haben  insofern  nichts  Auffallendes  in 
sich.  In  Rücksicht  auf  den  Culturzustand  der  verschiedenen 
Menschenstämme  dieses  Inselmeeres  aber  wird  die  Erklärung  durch 
Ueberwanderung  in  diesem  mislich.  Für  unternehmende  Nationen 
besitzt  zwar  das  Meer  eher  eine  leicht  verbindende,  als  abschneidend 
trennende  Macht,  und  die  Allgegenwart  der  thätigen,  segelkundigen 
Malayen  lässt  sich  auf  diese  Weise  durch  Fahrten  von  Insel  zu 
Insel,  bald  willkühriich  mit  Hülfe,  bald  fortgerissen  durch  die  Ge- 
walt der  regelmässigen  Winde,  erklären.  Denn  diese  Regsamkeit, 
Gewandtheit  und  Schiffahrtskunde  sind  nicht  bloss  Charakterzüge 
der  eigentlichen  Malayen,  sondern  mehr  oder  weniger  der  ganzen 
lichtbraunen  Bevölkerung.  Ich  brauche  hier  nur  an  die  Bugis  auf 
Celebes  und  an  die  Südsee-Insulaner  zu  erinnern.  Wenn  aber 
dieselbe  Erklärung  von  den  Negritos  und  ihrer  Verbreitung  von 
Neu-Holland  bis  zu  den  Philippinen  und  von  Neu-Guinea  bis  zu 
den  Andamans-Inseln  gelten  soll,  so  müssen  diese  Stämme  mehr, 
als  sich  annehmen  lässt,  von  einem  civilisirteren  Zustande  herunter- 
gekommen und  verwildert  seyn.    Ihr  heutiger  begünstigt  weit  mehr 


*)  Klaproth  hat  gründlich  und  gelehrt  die  Unrichtigkeit  der  Behauptung  bewiesen, 
dass  es  auf  dem,  Tibet  und  die  kleine  Bucharei  abscheidenden  Gebirge  Kuen  lun  unter 
dem  3  f;  sten  Grade  N.  B.  und  auf  den  Bergen  zwischen  Anam  und  Kamboja  schwarze 
Völkerstämme  gebe.     Nouv.  Joum.  Asiat.  XII.  232 — 243. 

•*)  Marsden's  miscell.  works.  75.    Raffles  on  the  Malayu  nation  in  den  Asiat, 
res.  XII.  108 — 110. 


()  I.    über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

die,  auch  an  sich  nicht  unwahrscheinliche  Hypothese,  dass  durch 
Naturrevolutionen,  von  welchen  noch  uralte  Sagen  auf  Java  herum- 
gehen, ein  bevölkerter  Continent  in  die  Jetzige  Inselmenge  zer- 
schlagen wurde.  Wie  Trümmer,  konnten  dann  die  Menschen,  in- 
soweit die  menschliche  Natur  solche  Umwälzungen  zu  überdauern 
vermag,  auf  den  zerstückelten  Inselschollen  zurückgeblieben  seyn. 
Diese  beiden  Erklärungsarten  können  vielleicht  nur  verbunden, 
wenn  auch  die  Zersplitterung  durch  Naturkräfte  durch  Jahrtausende 
von  der  Verbindung  durch  menschliche  Ueberwandrungen  sollte 
getrennt  gewesen  seyn,  von  der  Verbreitung  dieser  beiden,  uns 
jetzt  so  verschieden  erscheinenden  Racen  einigermassen  Rechen- 
schaft geben. 

Tanna,  eine  der  Hebriden,  deren  Name  aber  Malayischen  Ur- 
sprungs ist,*)  Neu-Caledonien,  Timor,  Ende  und  einige  andre 
Inseln  haben  eine  Bevölkerung,  "welche  die  Forschung  zweifelhaft 
lässt,  ob  man  in  ihr  mit  Crawfurd**)  eine  dritte  Race,  oder  mit 
Marsden***)  eine  Vermischung  der  beiden  andren  erkennen  soll. 
Denn  ihre  Bewohner  stehen  in  körperlicher  Bildung,  Krausheit 
der  Haare  und  Farbe  der  Haut  in  der  Mitte  zwischen  der  licht- 
braunen und  schwarzen  Race.  Wenn  sich  jedoch  die  analoge  Be- 
hauptung auch  von  ihren  Sprachen  bestätigt,  so  spricht  schon 
dieser  Umstand  entschieden  für  die  Vermischung.  Es  bleibt  über- 
haupt noch  eine  wichtige,  aber  nach  den  bis  jetzt  vorhandenen 
Nachrichten  kaum  befriedigend  zu  entscheidende  Frage,  inwieweit 
ältere  und  tiefere  Vermischungen  der  weissen  und  schwarzen 
Race  in  diesen  Gegenden  statt  gefunden  haben  mögen,  und  inwie- 
lern  daraus  allmähliche  Uebergänge  in  Sprache  und  selbst  in  Farbe 
und  Haarwuchs,  dessen  Krausheit  übrigens  an  einigen  Orten  auch 
Putzliebe  künstlich  zu  Hülfe  kommt,  entstanden  seyn  können.f) 
Um  die  negerartige  Race   richtig  und  in   ihrer  reinen  Gestalt  zu 


*)  tänah  heisst  in  der  eigentlich  Malayischen  Sprache  Land,  Erdboden,  soll. 
**)  Foreign  Quarterly  Review.  1834.«;-.  28.    Art.  6.   S.  11. 
***)  Miscell.  works.  62. 

f)  Herr  Dr.  Meinicke  in  Prenzlow,  von  dessen  gründlicher  Forschung  und  seit 
mehreren  Jahren  diesem  Theile  der  Völkerkunde  gewidmeten  Studien  sich  mit  Recht 
etwas  Bedeutendes  erwarten  lässt,  richtet  seine  Untersuchungen  vorzugsweise  auf  den 
Punkt,  ob  nicht  vielleicht  die  Negrito-Race  die  einzige  Grundlage  der  ganzen  jetzigen 
Inselbevölkerung,  nur  allmählich  verändert  durch  Vermischung  mit  fremden  Einwanderern 
und  durch  hinzugekommene  Cultur.  ausmacht,  so  dass  die  Frage  nach  einem  andren 
Ursprung  des  Malayischen  Völkerstammes  von  selbst  in  nichts  zerfiele  ? 


und   ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts,      i.         n 

beurrheilen,  wird  man  immer  von  den  Bewohnern  des  grossen 
südlichen  Festlandes  ausgehen  müssen,  da  zwischen  diesen  und 
den  braunen  Stämmen  keine  unmittelbare  Berührung  denkbar,  und 
nach  ihrem  heutigen  Zustande  selbst  die  Art  einer  mittelbaren 
schwer  zu  ersinnen  ist.  Desto  auffallender  bleibt  es  aber,  dass 
auch  die  Sprache  dieser  Stämme  in  einigen  Wörtern,  da  wir  über- 
haupt nur  eine  geringe  Anzahl  derselben  besitzen,  sichtbare  Aehn- 
lichkeit  mit  Wörtern  der  Südsee-Inseln  zeigt. 

In  diesen  geographischen  und  mehr  oder  weniger  nachbar- 
lichen Verhältnissen  haben  nun  einige  Malayische  Völkerschaften 
Indische  Cultur  in  so  reicher  Fülle  in  sich  aufgenommen,  dass 
man  vielleicht  nirgends  ein  zweites  Beispiel  einer  Nation  findet, 
die,  ohne  ihre  Selbstständigkeit  aufzugeben,  in  diesem  Grade  von 
der  Geistesbildung  einer  andren  durchdrungen  worden  wäre.  Die 
Erscheinung  im  Ganzen  ist  an  sich  sehr  begreiflich.  Ein  grosser 
Theil  des  Archipels,  und  gerade  ein  durch  Klima  und  Fruchtbar- 
keit vorzugsweise  anlockender,  lag  in  geringer  Entfernung  von 
dem  grossen  Festlande  Indiens ;  es  konnte  daher  an  Gelegenheiten 
und  Punkten  der  Berührung  nicht  fehlen.  Wo  aber  eine  solche 
eintrat,  musste  die  Uebermacht  einer  so  uralten  und  in  allen 
Zweigen  menschlicher  Thätigkeit  ausgebildeten  Ci\'ilisation,  als  es 
die  Indische  war,  Nationen  von  reger  und  lebendiger  Empfäng- 
lichkeit nach  sich  reissen.  Es  war  dies  indess  mehr  eine  mora- 
lische, als  eine  politische  Umwandlung.  Wir  erkennen  sie  an 
ihren  Folgen,  an  den  Indischen  Elementen,  die  sich  in  einem  ge- 
wissen Kreise  der  Malayischen  Stämme  der  Wahrnehmung  unab- 
weisbar aufdrängen;  wie  aber  diese  Vermischung  entstanden  ist.? 
darüber  gehen  unter  den  Malayen  selbst,  wie  wir  sehen  werden, 
nur  ungewisse  und  dunkle  Sagen.  Hätten  mächtige  Völkerzüge 
und  grosse  Eroberungen  diesen  Zustand  bewirkt,  so  würden  sich 
deutlichere  Spuren  dieser  politischen  Ereignisse  erhalten  haben. 
Geistige  und  sittliche  Kräfte  wirken,  wie  die  Natur  selbst,  unbe- 
merkt, und  wachsen  plötzlich  aus  einem  Samen  empor,  der  sich 
der  Beobachtung  entzieht.  Auch  die  ganze  Art,  wie  der  Hinduis- 
mus in  den  Malayischen  Stämmen  Wurzel  schlug,  beweist,  dass 
er,  als  geistige  Kraft,  wieder  geistig  anregte,  die  Phantasie  in  Be- 
wegung setzte  und  durch  den  Eindruck  mächtig  wurde,  den  er 
auf  die  Bewunderung  bildungsfähiger  Völker  hervorbrachte.  In 
Indien  selbst,  in  dem,  was  wir  von  Indischer  Geschichte  und 
Literatur  wissen,  finden  wir,  soviel  mir  bekannt  ist,  keine  Erwäh- 


i^  1.    über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

nung  des  südöstlichen  Archipels.  Wenn  auch  vielleicht  Lanka 
südlicher  angenommen  wurde,  als  sich  Ceylon  erstreckt,  so  war 
dies  wohl  nur  dunkle  und  ungewisse  Kunde  oder  bloss  dichterische 
Annahme.  Vom  Archipel  selbst  gieng  daher,  was  auch  sehr  be- 
greiflich ist,  nichts  aus,  was  auf  das  Festland  hätte  irgend  be- 
deutend einwirken  können.  Die  mächtige  Wirkung  übte  Indien, 
und  wahrscheinlich  sogar  durch  Ansiedelungen,  deren  Absicht  es 
nicht  war,  das  Stammland  fernerhin  als  ihre  Heimath  zu  betrachten 
oder  Verbindungen  damit  zu  unterhalten.  Die  Ursachen  hierzu 
konnten  mannigfaltig  seyn.  Inwiefern  die  Buddhistischen  Ver- 
folgungen darunter  wirksam  seyn  mochten,  werde  ich  in  der  Folge 
erörtern. 

Um  aber  die  Vermischung  Indischer  und  Malayischer  Elemente 
und  den  Einfluss  Indiens  auf  den  ganzen  südöstlichen  Archipel 
gehörig  zu  würdigen,  muss  man  die  verschiedenen  Arten  seiner 
Wirksamkeit  unterscheiden  und  dabei  schon  darum  von  derjenigen 
ausgehen,  welche,  wie  früh  sie  auch  begonnen  haben  mag,  bis  in 
die  späteste  Zeit  hin  fortgesetzt  worden  ist,  weil  sie  auch  natür- 
lich die  deutlichsten  und  unverkennbarsten  Spuren  hinterlassen 
hat.  Hier  übt  nicht  nur,  wie  bei  aller  Völkervermischung,  die 
geredete  fremde  Sprache,  sondern  zugleich  die  ganze,  in  und  mit 
ihr  aufgeblühte  geistige  Bildung  Einfluss  aus.  Ein  solcher  nun  ist 
unläugbar  in  dem  Uebergange  Indischer  Sprache,  Literatur,  Mythe 
und  religiöser  Philosophie  nach  Java  sichtbar.  Hiervon  handelt, 
nur  in  näherer  Beziehung  auf  die  Sprache,  die  ganze  Folge  dieser 
Schrift,  und  ich  kann  mich  daher  hier  mit  der  blossen  Erwähnung 
begnügen.  Diese  Art  des  Einflusses  traf  nur  den  eigentlich  In- 
dischen Archipel,  den  Malayischen  Kreis  im  engeren  Verstände, 
vielleicht  aber  auch  diesen  nicht  ganz,  und  gewiss  nicht  in  gleichem 
Masse.  Der  Brennpunkt  desselben  war  so  sehr  Java,  dass  man 
nicht  mit  Unrecht  zweifelhaft  bleiben  kann,  ob  nicht  der  auf  den 
Ueberrest  des  Archipels  grossentheils  nur  ein  mittelbarer,  von 
dieser  Insel  ausgehender  war.  Ausser  ihr  finden  wir  nur  noch 
deutliche  und  vollständige  Beweise  literarischer  Indischer  Cultur 
bei  den  eigentlichen  Malayen  und  bei  den  Bugis  auf  Celebes. 
Eine  wahre  Literatur  kann,  und  zwar  aus  inneren  Gründen  der 
Sprachbildung  selbst,  nur  mit  einer  zugleich  gegebenen  und  in 
Gebrauch  kommenden  Schrift  entstehen.  Es  macht  daher  ein 
wichtiges  Moment  in  den  Culturverhältnissen  des  südöstlichen 
Archipels  aus,  dass   gerade   der  als   Malayisch   im   engeren   Ver- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.      I.         ^j 

Stande  bezeichnete  Inselkreis,  zwar  nicht  durchgängig,  aber  aus- 
schliesslich gegen  die  anderen  Theile,  alphabetische  Schrift  besitzt. 
Es  ist  aber  hierbei  doch  ein  nicht  zu  übersehender  Unterschied. 
Die  alphabetische  Schrift  in  diesem  Theile  der  Erde  ist  Indische. 
Dies  liegt  in  den  natürlichen  Culturverhältnissen  dieser  Gegenden, 
und  ist  bei  den  meisten  dieser  Alphabete,  wenn  man  etwa  das 
der  Bugis  ausnimmt,  auch  in  der  Aehnlichkeit  der  Züge  sichtbar, 
der  inneren  Einrichtung  der  Lautbezeichnung  nicht  zu  erwähnen, 
die  allerdings,  da  sie  auch  später  nur  dem  fremden  Alphabet  an- 
gepasst  seyn  könnte,  keinen  entscheidenden  Beweisgrund  abgiebt. 
Dennoch  waltet  die  völlige  Aehnlichkeit,  bloss  mit  Anpassung  an 
das  einfachere  Lautsystem  der  einheimischen  Sprache,  nur  in  Java 
und  etwa  in  Sumatra  ob.  Die  Tagalische  und  Bugis-Schrift  weichen 
so  bedeutend  ab,  dass  man  sie  für  eine  Stufe  in  der  alphabetischen 
Schrifterfindung  ansehen  kann.  Auf  Madagascar  hat  die  Arabische 
Schrift  sich,  so  wie  die  Indische  auf  dem  Mittelpunkt  des  Archipels, 
Geltung  verschafft.  In  welcher  Zeit  aber  dies  geschehen  seyn  mag? 
ist  unbekannt.  Auch  findet  sich  keine  Spur  einer  durch  sie  ver- 
drängten einheimischen.  Der  Gebrauch  der  Arabischen  Schrift  bei 
den  eigentlichen  Malayen  entscheidet,  als  offenbar  spätere  Ein- 
führung, nichts  in  den  Culturverhältnissen,  von  welchen  hier  die 
Rede  ist.  Von  dem  Mangel  aller  Schrift  auf  den  Inseln  der  Süd- 
see und  bei  den  negerartigen  Stämmen  habe  ich  schon  weiter 
oben  (S.  3.)  gesprochen.  Die  Spuren  des  Hinduismus,  den  wir 
hier  im  Gesicht  haben,  sind  von  der  Art,  dass  man  sie  überall 
deutlich  erkennen  und  sogleich  als  fremde  Elemente  unterscheiden 
kann.  Es  ist  hier  keine  wahre  Verwebung,  noch  weniger  eine 
Verschmelzung,  sondern  nur  eine  mosaikartige  Verbindung  von 
Fremdem  und  Einheimischem.  Man  kann,  was  Sitten  und  Ge- 
bräuche betrifft,  in  dem  Indischen  Alterthume,  die  ausländischen 
Wörter,  die  nicht  einmal  ganz  von  ihrer  grammatischen  Formung 
entkleidet  sind,  in  dem  auf  uns  gekommenen  Sanskrit  deutlich 
wiedererkennen;  man  kann  sogar  die  Gesetze  auffinden,  welche 
diese  Verpflanzung  fremder  Sprachelemente  auf  den  einheimischen 
Boden  geregelt  haben.  Es  ist  dies  die  Grundlage  der  vornehmen 
und  der  Dichtersprache  auf  Java,  und  hängt  ganz  genau  mit  dem 
Uebergange  der  Literatur  und  Religion  zusammen.  Bei  weitem 
nicht  Alles  dieser  Art  hat  sich  auch  in  der  Volkssprache  Geltung 
verschafft,  und  ebenso  wenig  lässt  sich  behaupten,  dass,  wo  diese 
Indische  Wörter  besitzt,  sie  dieselben  allein  auf  diesem  Wege  er- 


10 


I.    über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 


halten  habe.  Es  entstehen  daher,  wenn  man  die  Gattungen  des 
verschiednen  Indischen  Einflusses  weiter  verfolgt,  zwei  tiefer 
liegende,  durch  factische  Umstände  hervorgerufene,  aber  mit  Be- 
stimmtheit schwer  zu  beantwortende  Fragen :  ob  nemlich  die  ganze 
Civilisation  des  Archipels  überhaupt  Indischen  Ursprunges  ist  ?  und 
ob  auch  aus  einer  Zeit  her,  die  aller  Literatur  und  der  letzten  und 
feinsten  Sprachentwicklung  vorausgeht,  Verbindungen  zwischen  dem 
Sanskrit  und  den  Malayischen  Sprachen  im  weitesten  Sinne  be- 
standen haben,  die  sich  noch  in  gemeinschaftlichen  Sprachelementen 
nachweisen  lassen? 

Die  erste  dieser  beiden  Fragen  wäre  ich  zu  verneinen  geneigt. 
Es  scheint  mir  ausgemacht,  dass  es  eigentliche  und  ursprüngliche 
Civilisation  der  braunen  Race  des  Archipels  gegeben  habe.  Sie 
findet  sich  noch  in  dem  östlichsten  Theile,  und  ist  nicht  einmal 
in  Java  unverkennbar  untergegangen.  Es  Hesse  sich  zwar  aller- 
dings sagen,  dass  die  Bevölkerung  des  Archipels  allmählich  von  der 
Mitte,  auf  welche  Indien  zunächst  wirkte,  ausgegangen  se}^,  und 
sich  von  da  gegen  Osten  verbreitet  habe,  so  dass  der  bestimmt 
Indische  Charakter  sich  an  den  Endpunkten  mehr  vermischt  habe. 
Eine  solche  Annahme  wird  doch  aber  um  so  weniger  durch  be- 
stimmte Aehnlichkeiten  unterstützt,  als  gerade  in  demjenigen,  was 
sich  gar  nicht  vorzugsweise  als  Indisch  ankündigt,  auffallende 
Uebereinstimmungen  der  Sitten  von  Völkerschaften  des  mittleren 
und  östlicheren  Archipels  namhaft  gemacht  worden  sind.  Man 
sieht  auch  durchaus  nicht  ein,  warum  man  einem  Völkerstamme, 
wie  der  Malayische  ist,  eine  aus  ihm  selbst  hervorgebildete  gesell- 
schaftliche Civilisation  absprechen  sollte,  der  Gang  der  Bevölkerung 
und  allmählichen  Gesittung  möge  übrigens  diese  oder  jene  Richtung 
genommen  haben?  Selbst  die  Fähigkeit  der  zu  ihm  gehörenden 
Völkerschaften,  den  ihnen  zugebrachten  Hinduismus  in  sich  auf- 
zunehmen, ist  ein  Beweis  dafür,  und  noch  mehr  die  Art,  wie  sie 
dennoch  das  Einheimische  damit  verwebten  und  dem  Indischen 
fast  nie  seine  ganze  fremde  Gestalt  liessen.  Beides  hätte  noth- 
wendig  anders  seyn  müssen,  wenn  die  Indischen  Ansiedlungen 
diese  Stämme  als  rohe,  uncultivirte  Wilde  angetroffen  hätten. 
Wenn  ich  hier  von  Indiern  rede,  so  meine  ich  natürlich  nur  den 
Sanskrit  redenden  Stamm,  nicht  Bewohner  des  Indischen  Festlandes 
überhaupt.  Inwiefern  solche  von  jenem  Stamme  angetroffen  und 
vielleicht  von  ihm  verjagt  wurden,  ist  eine  andere  Frage,  in  die 
ich  hier  nicht  eingehe,  wo  es  mir  nur  darauf  ankommt,  zu  zeigen. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts,      i.       j  j 

von  welchen  verschiedenen  Gulturverhältnissen  die  Malayischen 
Stämme  umgeben  waren. 

Die  zweite,  allein  die  Sprache  angehende  Frage  muss,  wie  ich 
glaube,  allerdings  bejaht  werden.  In  dieser  Hinsicht  dehnen  sich 
die  Gränzen  des  Indischen  Einflusses  weiter  aus.  Ohne  noch  des 
Tagalischen  zu  erwähnen,  welches  eine  ziemliche  Anzahl  von 
Sanskritwörtern  für  ganz  verschiedene  Gattungen  von  Gegenständen 
in  sich  fasst,  finden  sich  auch  in  der  Sprache  von  Madagascar  und 
in  der  der  Südsee-Inseln ,  bis  in  das  Pronomen  hinein,  zugleich 
dem  Sanskrit  angehörende  Laute  und  Wörter ;  und  auch  die  Stufen 
der  Lautveränderung,  die  als  comparatives  Kennzeichen  des  Alters 
der  Verwebung  angesehen  werden  können,  sind  selbst  in  solchen 
Sprachen  des  engeren  Malayischen  Kreises  verschieden,  in  welchen, 
wie  im  Javanischen,  auch  ein  noch  viel  später  ausgeübter  Einfluss 
Indischer  Sprache  und  Literatur  sichtbar  ist.  Wie  nun  dies  zu 
erklären,  und  welches  gegenseitige  Verhältniss  den  in  dieser  Hin- 
sicht sich  nähernden  beiden  grossen  Sprachstämmen  anzuweisen 
ist?  bleibt  natürlich  höchst  zweifelhaft.  Ich  werde  aber  am  Ende 
dieser  Schrift  ausführlicher  darauf  zurückkommen,  da  mir  hier 
genügt,  auf  einen  Einfluss  des  Sanskrits  auf  die  Sprachen  des 
Malayischen  Stammes  aufmerksam  gemacht  zu  haben,  der  sich  von 
dem  der  in  sie  verpflanzten  Geistesbildung  und  Literatur  wesent- 
lich unterscheidet,  und  einer  viel  früheren  Epoche  und  andren 
Völkerverhältnissen  anzugehören  scheint.  Ich  werde  alsdann  auch 
die  Sprachen  der  negerartigen  Racen  berühren,  muss  aber  hier  im 
voraus  bemerken,  dass,  wenn  sich  in  einigen  derselben,  z.  B.  in  der 
Papua-Sprache  in  Neu-Guinea,  Aehnlichkeiten  mit  Sanskrit-Wörtern 
finden  sollten,  dies  noch  keinesweges  nur  einmal  unmittelbare  Ver- 
bindungen zwischen  Indien  und  jenen  Eilanden  beweist,  da  solche 
gemeinschaftliche  \^"örter  auch  mittelbar  durch  Malayische  Schiff- 
fahrt dahin  gebracht  seyn  können,  so  wie  dies  mit  Arabischen 
sichtlich  der  Fall  gewesen  ist.     (S.  i.  Buch.  S.  246.  251.) 

Zwischen  so  contrastirende  Verwandtschaften  und  Einflüsse 
gleichsam  eingedrängt,  finden  wir  nun  die  Mala3dschen  Völker- 
schaften, wenn  wir  die  hier  versuchte  Schilderung  des  Cultur- 
zustandes  des  grossen  Archipels  übersehen.  Auf  denselben  Inseln 
und  Inselgruppen,  welche  zum  Theil  noch  jetzt  in  ihrem  Schoosse 
eine  Bevölkerung  tragen,  die  auf  der  niedrigsten  Stufe  der  Mensch- 
heit steht,  oder  wo  eine  solche  doch  im  früheren  Alterthume  be- 
standen hat,    ist  zugleich   eine    uralte   und   zu   der   glücklichsten 


j2  1.    Über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

Blüthe  gediehene  Bildung  von  Indien  herüber  einheimisch  ge- 
worden. Die  Malayischen  Stämme  haben  sich  dieselbe  zum  Theil 
in  ihrer  ganzen  Fülle  angeeignet.  Dabei  sind  sie  sichtbar  Stamm- 
verwandte der,  gegen  diese  Bildung,  als  Wilde  zu  betrachtenden 
Bewohner  der  Südsee -Inseln,  und  es  ist  noch  zweifelhaft,  ob 
wenigstens  ihre  Sprache  der  negerartigen  Race  ganz  fremd  ist. 
Sie  haben  sich  in  einer  ihnen  eigenthümlichen  Gestalt  und  in 
einer,  in  ihrer  Vollendung,  nur  ihnen  angehörenden  Sprachform, 
die  sich  in  bestimmten  Umrissen  darstellen  lässt,  von  jenen  rohen 
Stämmen  abgesondert  erhalten.  Diejenige  Bevölkerung  des  grossen 
Archipels,  die  sich,  nach  den  bis  jetzt  bekannten  Angaben,  auf 
dem  Asiatischen  Continente  nicht  nachweisen  lässt,  befindet  sich, 
wenn  wir  den  fremden  Einfluss  abrechnen,  mehr  oder  weniger, 
entweder  in  einem  ganz  rohen  und  wilden  Zustande,  oder  auf 
der  Civilisationsstufe  beginnender  Gesellschaft.  Dies  ist  vorzüglich 
dann  genau  wahr,  wenn  wir  bloss  die  negerartige  Race  und  die 
Südsee-Bewohner  im  Auge  behalten,  und  die  im  engeren  Ver- 
stände Malayisch  zu  nennenden  Stämme  davon  absondern,  ob- 
gleich kein  ganz  hinreichender  Grund  vorhanden  ist,  diesen,  vor 
allem  Indischen  Einfluss,  einen  sehr  viel  höheren  Culturgrad  zuzu- 
schreiben. Wir  treffen  ja  noch  heute  bei  den  Batta's  auf  Sumatra, 
in  deren  Mythen  und  Religion  sogar  Indischer  Einfluss  unver- 
kennbar ist,  die  barbarische  Sitte  an,  bei  gewissen  Gelegenheiten 
Menschenfleisch  zu  essen.  Der  grosse  Archipel  dehnt  sich  aber 
unter  der  ganzen  Länge  Asiens  hin,  und  überflügelt  sie,  westlich 
und  östlich  von  Afrika  und  Amerika  eingeschlossen,  zu  beiden 
Seiten.  Seine  Mitte  befindet  sich  in  einer,  für  die  Schiffahrt  immer 
nur  massigen  Entfernung  selbst  von  den  äussersten  Endpunkten 
Asiatischen  Festlands.  Es  haben  daher  auch  die  drei  grossen 
Brennpunkte  der  frühesten  Geistesbildung  des  Menschengeschlechts : 
China,  Indien  und  die  Sitze  des  Semitischen  Sprachstamms  in 
verschiedenen  Zeiten  auf  ihn  eingewirkt.  In  verhältnissmässig 
späterer  hat  er  von  allen  Einfluss  erfahren.  Auf  seine  frühere 
Gestaltung  aber  hat  nur  Indien  wahrhaft  tief  eingewirkt,  Arabien, 
wenn  man,  was  doch,  der  Zeitbestimmung  nach,  auch  zweifelhaft 
bleibt,  Madagascar  ausnimmt,  gar  nicht,  und  ebenso  wenig  be- 
deutend, seiner  frühen  Ansiedlungen  ungeachtet,  China.  Selbst 
eine  Verwandtschaft  Chinesischer  Sprache  mit  den  Mundarten  der 
Südsee,  auf  welche  ein  gewisser  Gebrauch  partikelartiger  Wörter 
führen  könnte,  ist  bis  jetzt  nicht  gezeigt  worden. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     I.  2.     lo 

Eine  solche  Lage  und  ein  solches  Verhältniss  der  Völker  und 
Sprachen  gegen  einander  bietet  ethnographischen  und  linguistischen 
Untersuchungen  die  wichtigsten,  aber  auch  schwierigsten  Probleme 
dar.  In  die  Erörterung  dieser  einzugehen,  ist  hier  meine  Absicht 
nicht.  Es  kann  dies  nur,  insofern  sich  etwas  irgend  Genügendes 
darüber  ausmachen  lässt,  der  Gegenstand  von  Schlussbemerkungen 
nach  gehöriger  Darlegung  der  Thatsachen  seyn.  Um  aber  diese 
von  dem  Punkte  zu  beginnen,  wo  die  geschichtlichen  Data  am 
klarsten  und  gewissesten  vorliegen,  werde  ich  die  Untersuchung 
in  den  beiden  ersten  Büchern  dieser  Schrift  bei  der  Epoche  auf- 
nehmen, wo  der  Indische  EinÜuss  am  tiefsten  und  eingreifendsten 
in  die  Malayische  Bildung  eingewirkt  hat.  Dieser  Culminations- 
punkt  ist  offenbar  die  Blüthe  der  Kawi-Sprache,  als  der  innigsten 
Verzweigung  Indischer  und  einheimischer  Bildung  auf  der  Insel, 
welche  die  frühesten  und  zahlreichsten  Indischen  Ansiedelungen 
besass.  Ich  werde  dabei  immer  vorzugsweise  auf  das  einheimische 
Element  in  dieser  Sprach  Verbindung  hinsehn,  dies  aber  aus  er- 
weitertem Gesichtspunkte  in  seiner  ganzen  Stammverknüpfung 
betrachten,  und  seine  Entwicklung  bis  zu  dem  Punkte  verfolgen, 
wo  ich  seinen  Charakter  in  der  Tagalischen  Sprache  in  seiner 
grössten  und  reinsten  Entfaltung  zu  finden  glaube.  Im  dritten 
Buche  werde  ich  mich,  soweit  es  die  vorhandenen  Hülfsmittel  er- 
lauben, über  den  ganzen  Archipel  verbreiten,  auf  die  so  eben  an- 
gedeuteten Probleme  zurückkommen,  und  so  versuchen,  ob  dieser 
Weg,  verbunden  mit  dem  bis  dahin  Erörterten,  zu  einer  richtigeren 
Beunheilung  des  Völker-  und  Sprachverhältnisses  der  ganzen  Insel- 
menge zu  führen  vermag? 


Gegenstand  dieser  Einleitung. 

Die  gegenwärtige  Einleitung  glaube  ich  allgemeineren  Be- 
trachtungen widmen  zu  müssen,  deren  Entwicklung  den  Ueber- 
gang  zu  den  Thatsachen  und  historischen  Untersuchungen  ange- 
messener vorbereiten  wird.  Die  Venheilung  des  Menschengeschlechts 
in  Völker  und  Völkerstämme  und  die  Verschiedenheit  seiner 
Sprachen  und  Mundarten  hängen  zwar  unmittelbar  mit  einander 
zusammen,  stehen  aber  auch  in  Verbindung  und  unter  Abhängig- 
keit einer  dritten,  höheren  Erscheinung,  der  Erzeugung  mensch- 
licher Geisteskraft  in  immer  neuer  und  oft  gesteigerter  Gestaltung. 


JA  I.    Über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

Sie  finden  darin  ihre  Würdigung,  aber  auch,  soweit  die  Forschung 
in  sie  einzudringen  und  ihren  Zusammenhang  zu  fassen  vermag, 
ihre  Erklärung.  Diese  in  dem  Laufe  der  Jahrtausende  und  in  dem 
Umfange  des  Erdkreises,  dem  Grade  und  der  Art  nach,  verschieden- 
artige Offenbarwerdung  der  menschUchen  Geisteskraft  ist  das 
höchste  Ziel  aller  geistigen  Bewegung,  die  letzte  Idee,  welche  die 
Weltgeschichte  klar  aus  sich  hervorgehen  zu  lassen  streben  muss. 
Denn  diese  Erhöhung  oder  Erweiterung  des  inneren  Daseyns  ist 
das  Einzige,  was  der  Einzelne,  insofern  er  daran  Theil  nimmt,  als 
ein  unzerstörbares  Eigenthum  ansehen  kann,  und  in  einer  Nation 
dasjenige,  woraus  sich  unfehlbar  wieder  grosse  Individualitäten 
entwickeln.  Das  vergleichende  Sprachstudium,  die  genaue  Er- 
gründung  der  Mannigfaltigkeit,  in  welcher  zahllose  Völker  dieselbe 
in  sie,  als  Menschen,  gelegte  Aufgabe  der  Sprachbildung  lösen, 
verliert  alles  höhere  Interesse,  wenn  sie  sich  nicht  an  den  Punkt 
anschliesst,  in  welchem  die  Sprache  mit  der  Gestaltung  der  natio- 
nellen  Geisteskraft  zusammenhängt.  Aber  auch  die  Einsicht  in 
das  eigentliche  Wesen  einer  Nation  und  in  den  inneren  Zusammen- 
hang einer  einzelnen  Sprache,  so  wie  in  das  Verhältniss  derselben 
zu  den  Sprachforderungen  überhaupt,  hängt  ganz  und  gar  von 
der  Betrachtung  der  gesammten  Geisteseigenthümlichkeit  ab.  Denn 
nur  durch  diese,  wie  die  Natur  sie  gegeben  und  die  Lage  darauf 
eingewirkt  hat,  schliesst  sich  der  Charakter  der  Nation  zusammen, 
auf  dem  allein,  was  sie  an  Thaten,  Einrichtungen  und  Gedanken 
hervorbringt,  beruht  und  in  dem  ihre  sich  wieder  auf  die  Indi- 
viduen fortvererbende  Kraft  und  Würde  liegt.  Die  Sprache  auf 
der  andren  Seite  ist  das  Organ  des  inneren  Seyns,  dies  Seyn  selbst, 
wie  es  nach  und  nach  zur  inneren  Erkenntniss  und  zur  Aeusse- 
rung  gelangt.  Sie  schlägt  daher  alle  feinste  Fibern  ihrer  Wurzeln 
in  die  nationeile  Geisteskraft;  und  je  angemessener  diese  auf  sie 
zurückwirkt,  desto  gesetzmässiger  und  reicher  ist  ihre  Entwicklung. 
Da  sie  in  ihrer  zusammenhängenden  Verwebung  nur  eine  Wirkung 
des  nationellen  Sprachsinns  ist,  so  lassen  sich  gerade  die  Fragen, 
welche  die  Bildung  der  Sprachen  in  ihrem  innersten  Leben  be- 
treffen, und  woraus  zugleich  ihre  wichtigsten  Verschiedenheiten 
entspringen,  gar  nicht  gründlich  beantworten,  wenn  man  nicht 
bis  zu  diesem  Standpunkte  hinaufsteigt.  Man  kann  allerdings  dort 
nicht  Stoff  für  das,  seiner  Natur  nach,  nur  historisch  zu  behandelnde 
vergleichende  Sprachstudium  suchen,  man  kann  aber  nur  da  die 
Einsicht  in   den   ursprünglichen  Zusammenhang  der  Thatsachen 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     2.  3.      x  - 

und  die  Durchschauung  der  Sprache,  als  eines  innerlich  zusammen- 
hängenden Organismus,  gewinnen,  was  alsdann  wieder  die  richtige 
Würdigung  des  Einzelnen  befördert. 

Die  Betrachtung  des  Zusammenhanges  der  Sprachverschieden- 
heit und  Völker\^ertheilung  mit  der  Erzeugung  der  menschlichen 
Geisteskraft,  als  einer  sich  nach  und  nach  in  wechselnden  Graden 
und  neuen  Gestaltungen  entwickelnden,  insofern  sich  diese  beiden 
Erscheinungen  gegenseitig  aufzuhellen  vermögen,  ist  dasjenige,  was 
mich  in  dieser  Schrift  beschäftigen  wird. 


Allgemeine  Betrachtung  des  menschlichen 
Entwicklungsganges. 

.  Die  genauere  Betrachtung  des  heutigen  Zustandes  der  politi-  3. 
sehen,  künstlerischen  und  wissenschaftlichen  Bildung  führt  auf 
eine  lange,  durch  viele  Jahrhunderte  hinlaufende  Kette  einander 
gegenseitig  bedingender  Ursachen  und  Wirkungen.  Man  wird 
aber  bei  Verfolgung  derselben  bald  gewahr,  dass  darin  zwei  ver- 
schiedenartige Elemente  obwalten,  mit  welchen  die  Untersuchung 
nicht  auf  gleiche  Weise  glücklich  ist.  Denn  indem  man  einen 
Theil  der  fortschreitenden  Ursachen  und  Wirkungen  genügend 
aus  einander  zu  erklären  vermag,  so  stösst  man,  wie  dies  jeder 
Versuch  einer  Culturgeschichte  des  Menschengeschlechts  beweist, 
von  Zeit  zu  Zeit  gleichsam  auf  Knoten,  welche  der  weiteren  Lösung 
widerstehen.  Es  liegt  dies  eben  in  jener  geistigen  Kraft,  die  sich 
in  ihrem  Wiesen  nicht  ganz  durchdringen  und  in  ihrem  Wirken 
nicht  vorher  berechnen  lässt.  Sie  tritt  mit  dem  vor  ihr  und  um 
sie  Gebildeten  zusammen,  behandelt  und  formt  es  aber  nach  der 
in  sie  gelegten  Eigenthümlichkeit.  Von  jedem  grossen  Individuum 
einer  Zeit  aus  könnte  man  die  weltgeschichtliche  Entwicklung  be- 
ginnen, auf  welcher  Grundlage  es  aufgetreten  ist  und  wie  die  Arbeit 
der  vorausgegangenen  Jahrhunderte  diese  nach  und  nach  aufgebaut 
hat.  Allein  die  Art,  wie  dasselbe  seine  so  bedingte  und  unterstützte 
Thätigkeit  zu  demjenigen  gemacht  hat,  was  sein  eigenthümliches 
Gepräge  bildet,  lässt  sich  wohl  nachweisen,  und  auch  w^eniger  dar- 
stellen als  empfinden,  jedoch  nicht  wieder  aus  einem  Anderen  ab- 
leiten. Es  ist  dies  die  natürliche  und  überall  wiederkehrende  Er- 
scheinung des  menschlichen  Wirkens.  Ursprünglich  ist  alles  in 
ihm   innerlich,   die   Empfindung,   die  Begierde,   der  Gedanke,   der 


iß  1.    über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

Entschluss,  die  Sprache  und  die  That.  x\ber  wie  das  Innerliche 
die  Welt  berühn,  wirkt  es  für  sich  fort,  und  bestimmt  durch  die 
ihm  eigne  Gestalt  anderes,  inneres  oder  äusseres  Wirken.  Es 
bilden  sich  in  der  vorrückenden  Zeit  Sicherungsmittel  des  zuerst 
flüchtig  Gewirkten,  und  es  geht  immer  weniger  von  der  Arbeit 
der  verflossenen  Jahrhunderte  für  die  folgenden  verloren.  Dies 
ist  nun  das  Gebiet,  worin  die  Forschung  Stufe  nach  Stute  ver- 
folgen kann.  Es  ist  aber  immer  zugleich  von  der  Wirkung  neuer 
und  nicht  zu  berechnender  innerlicher  Kräfte  durchkreuzt,  und 
ohne  eine  richtige  Absonderung  und  Erwägung  dieses  doppelten 
Elementes,  von  welchem  der  Stoft  des  einen  so  mächtig  werden 
kann,  dass  er  die  Kraft  des  andren  zu  erdrücken  Gefahr  droht, 
ist  keine  wahre  Würdigung  des  Edelsten  möglich,  was  die  Ge- 
schichte aller  Zeiten  aufzuweisen  hat. 

Je  tiefer  man  in  die  Vorzelt  hinabsteigt,  desto  mehr  schmilzt 
natürlich  die  Masse  des  von  den  auf  einander  folgenden  Ge- 
schlechtern fortgetragenen  Stoffes.  Man  begegnet  aber  auch  dann 
einer  andren,  die  Untersuchung  gewissermassen  auf  ein  neues 
Feld  versetzenden  Erscheinung.  Die  sicheren,  durch  ihre  äusseren 
Lebenslagen  bekannten  Individuen  stehen  seltner  und  ungewisser 
vor  uns  da;  ihre  Schicksale,  ihre  Namen  selbst,  schwanken,  ja  es 
wird  ungewiss,  ob,  was  man  ihnen  zuschreibt,  allein  ihr  Werk, 
oder  ihr  Name  nur  der  Vereinigungspunkt  der  Werke  Mehrerer  ist? 
sie  verlieren  sich  gleichsam  in  eine  Glasse  von  Schattengestalten. 
Dies  ist  der  Fall  in  Griechenland  mit  Orpheus  und  Homer,  in 
Indien  mit  Manu,  Wyäsa,  W^älmiki,  und  mit  andren  gefeierten 
Namen  des  Alterthums.  Die  bestimmte  Individualität  schwindet 
aber  noch  mehr,  wenn  man  noch  weiter  zurückschreitet.  Eine  so 
abgerundete  Sprache,  wie  die  Homerische,  muss  schön  lange  in 
den  Wogen  des  Gesanges  hin  und  her  gegangen  seyn,  schon  Zeit- 
alter hindurch,  von  denen  uns  keine  Kunde  geblieben  ist.  Noch 
deutlicher  zeigt  sich  dies  an  der  ursprünglichen  Form  der  Sprachen 
selbst.  Die  Sprache  ist  tief  in  die  geistige  Entwicklung  der  Mensch- 
heit verschlungen,  sie  begleitet  dieselbe  auf  jeder  Stufe  ihres  localen 
Vor-  oder  Rückschreitens,  und  der  jedesmalige  Culturzustand  wird 
auch  in  ihr  erkennbar.  Es  giebt  aber  eine  Epoche,  in  der  wir 
nur  sie  erblicken,  wo  sie  nicht  die  geistige  Entwicklung  bloss 
begleitet,  sondern  ganz  ihre  Stelle  einnimmt.  Die  Sprache  ent- 
springt zwar  aus  einer  Tiefe  der  Menschheit,  welche  überall  ver- 
bietet,  sie   als   ein  eigentliches  Werk  und  als  eine  Schöpfung  der 


und   ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     3.4.      i  - 

Völker  zu  betrachten.  Sie  besitzt  eine  sich  uns  sichtbar  offen- 
barende, wenn  auch  in  ihrem  Wesen  unerklärliche,  Selbstthätigkeit, 
und  ist,  von  dieser  Seite  betrachtet,  kein  Erzeugniss  der  Thätigkeit, 
sondern  eine  unwillkührliche  Emanation  des  Geistes,  nicht  ein  Werk 
der  Nationen,  sondern  eine  ihnen  durch  ihr  inneres  Geschick  zu- 
gefallene Gabe.  Sie  bedienen  sich  ihrer,  ohne  zu  wissen,  wie  sie 
dieselbe  gebildet  haben.  Demungeachtet  müssen  sich  die  Sprachen 
doch  immer  mit  und  an  den  aufblühenden  Völkerstämmen  ent- 
wickelt, aus  ihrer  Geisteseigenthümlichkeit,  die  ihnen  manche  Be- 
schränkungen aufgedrückt  hat,  herausgesponnen  haben.  Es  ist 
kein  leeres  Wortspiel,  wenn  man  die  Sprache  als  in  Selbstthätig- 
keit nur  aus  sich  entspringend  und  göttlich  frei,  die  Sprachen  aber 
als  gebunden  und  von  den  Nationen,  welchen  sie  angehören,  ab- 
hängig darstellt.  Denn  sie  sind  dann  in  bestimmte  Schranken  ein- 
getreten.*) Indem  Rede  und  Gesang  zuerst  frei  strömten,  bildete 
sich  die  Sprache  nach  dem  Mass  der  Begeisterung  und  der  Frei- 
heit und  Stärke  der  zusammenwirkenden  Geisteskräfte.  Dies  konnte 
aber  nur  von  allen  Individuen  zugleich  ausgehn,  jeder  Einzelne 
musste  darin  von  dem  Andren  getragen  werden,  da  die  Begeiste- 
rung nur  durch  die  Sicherheit,  verstanden  und  empfunden  zu  seyn, 
neuen  Aufflug  gewinnt.  Es  eröffnet  sich  daher  hier,  wenn  auch 
nur  dunkel  und  schwach,  ein  Blick  in  eine  Zeit,  wo  für  uns  die 
Individuen  sich  in  der  Masse  der  Völker  verlieren  und  wo  die 
Sprache  selbst  das  Werk  der  intellectuellen  schaffenden  Kraft  ist. 

In  jeder  Ueberschauung  der  Weltgeschichte  liegt  ein,  auch  4. 
hier  angedeutetes  Fortschreiten.  Es  ist  jedoch  keinesweges  meine 
Absicht,  ein  System  der  Zwecke  oder  bis  ins  Unendliche  gehenden 
Vervollkommnung  aufzustellen;  ich  befinde  mich  vielmehr  im  Gegen- 
theil  hier  auf  einem  ganz  verschiednen  Wege.  V^ölker  und  Indivi- 
duen wuchern  gleichsam,  sich  vegetativ,  wie  Pflanzen,  über  den  Erd- 
boden verbreitend,  und  geniessen  ihr  Daseyn  in  Glück  und  Thätig- 
keit. Dies,  mit  jedem  Einzelnen  hinsterbende  Leben  geht  ohne 
Rücksicht  auf  Wirkungen  für  die  folgenden  Jahrhunderte  ungestört 
fort;  die  Bestimmung  der  Natur,  dass  alles,  was  athmet,  seine 
Bahn  bis  zum  letzten  Hauche  vollende,  der  Zweck  wohlthätig 
ordnender  Güte,  dass  jedes  Geschöpf  zum  Genüsse  seines  Lebens 
gelange,  werden  erreicht,  und  jede  neue  Generation  durchläuft 
denselben   Kreis    freudigen    oder   leidvollen   Dase3^ns,  gelingender 


*)  Man  vergleiche  weiter  unten  §.  9.   10.  35. 
W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII. 


]3  !•    über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

oder  gehemmter  Thätigkeit.  Wo  aber  der  Mensch  auftritt,  wirkt 
er  menschlich,  verbindet  sich  gesellig,  macht  Einrichtungen,  giebt 
sich  Gesetze ;  und  wo  dies  auf  unvollkommnere  Weise  geschehen 
ist,  verpflanzen  das  an  andren  Orten  besser  Gelungene  hinzu- 
kommende Individuen  oder  Völkerhaufen  dahin.  So  ist  mit  dem 
Entstehen  des  Menschen  auch  der  Keim  der  Gesittung  gelegt  und 
wächst  mit  seinem  sich  fortentwickelnden  Daseyn.  Diese  Ver- 
menschlichung können  wir  in  steigenden  Fortschritten  wahrnehmen, 
ja  es  liegt  theils  in  ihrer  Natur  selbst,  theils  in  dem  Umfange,  zu 
welchem  sie  schon  gediehen  ist,  dass  ihre  weitere  Vervollkomm- 
nung kaum  wesentlich  gestört  werden  kann. 

In  den  beiden  hier  ausgeführten  Punkten  liegt  eine  nicht  zu 
verkennende  Planmässigkeit;  sie  wird  auch  in  andren,  wo  sie  uns 
nicht  auf  diese  Weise  entgegentritt,  vorhanden  seyn.  Sie  darf  aber 
nicht  vorausgesetzt  werden,  wenn  nicht  ihr  Aufsuchen  die  Er- 
gründung  der  Thatsachen  irre  führen  soll.  Dasjenige,  wovon  wir 
hier  eigentlich  reden,  lässt  sich  am  wenigsten  ihr  untenverfen.  Die 
Erscheinung  der  geistigen  Kraft  des  Menschen  in  ihrer  verschieden- 
artigen Gestaltung  bindet  sich  nicht  an  Fortschritte  der  Zeit  und 
an  Sammlung  des  Gegebenen.  Ihr  Ursprung  ist  ebenso  wenig 
zu  erklären,  als  ihre  Wirkung  zu  berechnen,  und  das  Höchste  in 
dieser  Gattung  ist  nicht  gerade  das  Späteste  in  der  Erscheinung. 
Will  man  daher  hier  den  Bildungen  der  schaffenden  Natur  nach- 
spähen, so  muss  man  ihr  nicht  Ideen  unterschieben,  sondern  sie 
nehmen,  wie  sie  sich  zeigt.  In  allen  ihren  Schöpfungen  bringt  sie 
eine  gewisse  Zahl  von  Formen  hervor,  in  welchen  sich  das  aus- 
spricht, was  von  jeder  Gattung  zur  Wirklichkeit  gediehen  ist  und 
zur  Vollendung  ihrer  Idee  genügt.  Man  kann  nicht  fragen,  warum 
es  nicht  mehr  oder  andre  Formen  giebt?  es  sind  nun  einmal 
nicht  andre  vorhanden,  —  würde  die  einzige  naturgemässe  Ant- 
wort seyn.  Man  kann  aber  nach  dieser  Ansicht,  was  in  der  geistigen 
und  körperlichen  Natur  lebt,  als  die  Wirkung  einer  zum  Grunde 
liegenden,  sich  nach  uns  unbekannten  Bedingungen  entwickelnden 
Kraft  ansehen.  Wenn  man  nicht  auf  alle  Entdeckung  eines  Zu- 
sammenhanges der  Erscheinungen  im  Menschengeschlecht  Verzicht 
leisten  will,  muss  man  doch  auf  irgend  eine  selbstständige  und 
ursprüngliche,  nicht  selbst  wieder  bedingt  und  vorübergehend  er- 
scheinende Ursach  zurückkommen.  Dadurch  aber  wird  man  am 
natürlichsten  auf  ein  inneres,  sich  in  seiner  Fülle  frei  entwickeln- 
des  Lebensprincip   geführt,    dessen   einzelne  Entfaltungen   darum 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengesclilechts.     4.       jq 

nicht  in  sich  unverknüpft  sind,  weil  ihre  äusseren  Erscheinungen 
isolirt  dastehen.  Diese  Ansicht  ist  gänzlich  von  der  der  Zwecke 
verschieden,  da  sie  nicht  nach  einem  gesteckten  Ziele  hin,  sondern 
von  einer,  als  unergründlich  anerkannten  Ursach  ausgeht.  Sie 
nun  ist  es,  welche  mir  allein  auf  die  verschiedenartige  Gestaltung 
der  menschlichen  Geisteskraft  anwendbar  scheint,  da,  wenn  es 
erlaubt  ist  so  abzutheilen,  durch  die  Kräfte  der  Natur  und  das 
gleichsam  mechanische  Fortbilden  der  menschlichen  Thätigkeit  die 
gewöhnlichen  Forderungen  der  Menschheit  befriedigend  erfüllt 
werden,  aber  das  durch  keine  eigentlich  genügende  Herleitung 
erklärbare  Auftauchen  grösserer  Individualität  in  Einzelnen  und  in 
Völkermassen  dann  wieder  plötzlich  und  unvorhergesehen  in  jenen 
sichtbarer  durch  Ursach   und  Wirkung  bedingten  Weg   eingreift. 

Dieselbe  Ansicht  ist  nun  natürlich  gleich  anwendbar  auf  die 
Hauptwirksamkeiten  der  menschlichen  Geisteskraft,  namentlich, 
wobei  wir  hier  stehen  bleiben  w^ollen,  auf  die  Sprache.  Ihre  Ver- 
schiedenheit lässt  sich  als  das  Streben  betrachten,  mit  welchem  die 
in  den  Menschen  allgemein  gelegte  Kraft  der  Rede,  begünstigt 
oder  gehemmt  durch  die  den  Völkern  beiwohnende  Geisteskraft, 
mehr  oder  weniger  glücklich  hen^orbricht. 

Denn  wenn  man  die  Sprachen  genetisch,  als  eine  auf  einen 
bestimmten  Zweck  gerichtete  Geistesarbeit  betrachtet,  so  fällt  es 
von  selbst  in  die  Augen,  dass  dieser  Zweck  in  minderem  oder 
höherem  Grade  erreicht  werden  kann,  ja  es  zeigen  sich  sogar  die 
verschiedenen  Hauptpunkte,  in  welchen  diese  Ungleichheit  der  Er- 
reichung des  Zweckes  bestehen  wird.  Das  bessere  Gelingen  kann 
nemlich  in  der  Stärke  und  Fülle  der  auf  die  Sprache  wirkenden 
Geisteskraft  überhaupt,  dann  aber  auch  in  der  besonderen  Ange- 
messenheit derselben  zur  Sprachbildung  liegen,  also  z.  B.  in  der 
besonderen  Klarheit  und  Anschaulichkeit  der  Vorstellungen,  in  der 
Tiefe  der  Eindringung  in  das  Wesen  eines  Begriffs,  um  aus  dem- 
selben gleich  das  am  meisten  bezeichnende  Merkmal  loszureissen, 
in  der  Geschäftigkeit  und  der  schaffenden  Stärke  der  Phantasie, 
in  dem  richtig  empfundenen  Gefallen  an  Harmonie  und  Rhythmus 
der  Töne,  wohin  also  auch  Leichtigkeit  und  Gewandtheit  der  Laut- 
organe und  Schärfe  und  Feinheit  des  Ohres  gehören.  Ferner  aber 
ist  auch  die  Beschaffenheit  des  überkommenen  Stoffs  und  der  ge- 
schichtlichen Mitte  zu  beachten,  in  welcher  sich,  zwischen  einer 
auf  sie  einwirkenden  Vorzeit  und  den  in  ihr  selbst  ruhenden 
Keimen  fernerer   Entwicklung,    eine  Nation  in   der  Epoche  einer 


20  !•    Über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

bedeutenden  Sprachumgestaltung  befindet.     Es   giebt  auch  Dinge 
in  den  Sprachen,   die  sich  in  der  That  nur  nach  dem  auf  sie  ge- 
richteten Streben,  nicht  gleich  gut  nach  den  Erfolgen  dieses  Strebens 
beurtheilen  lassen.    Denn   nicht  immer   gelingt  es  den  Sprachen, 
ein,  auch  noch  so  klar  in  ihnen  angedeutetes  Streben  vollständig 
durchzuführen.    Hierhin  gehört  z.  B.  die  ganze  Frage  über  Flexion 
und  Agglutination,  über  w^elche  sehr  viel  Misverständniss  geherrscht 
hat   und    noch   fortwährend   herrscht.      Dass   nun  Nationen  von 
glückhcheren   Gaben   und   unter  günstigeren  Umständen  vorzüg- 
lichere Sprachen,  als  andere,  besitzen,  liegt  in  der  Natur  der  Sache 
selbst.    Wir  werden  aber  auch  auf  die  eben  angeregte  tiefer  liegende 
Ursach  geführt.     Die  Hervorbringung  der  Sprache  ist  ein  inneres 
Bedürfniss  der  Menschheit,  nicht  bloss  ein  äusserliches  zur  Unter- 
haltung  gemeinschaftlichen  Verkehrs,   sondern  ein  in  ihrer  Natur 
selbst  liegendes,   zur  Entwicklung  ihrer  geistigen  Kräfte  und  zur 
Gewinnung  einer  Weltanschauung,  zu  welcher  der  Mensch   nur 
gelangen  kann,  indem  er  sein  Denken  an  dem  gemeinschaftlichen 
Denken  mit  Anderen  zur  Klarheit  und  Bestimmtheit  bringt,  unent- 
behrliches. Sieht  man  nun,  wie  man  kaum  umhin  kann  zu  thun, 
jede  Sprache   als   einen  Versuch,  und  wenn  man  die  Reihe  aller 
Sprachen  zusammennimmt,  als  einen  Beitrag  zur  Ausfüllung  dieses 
Bedürfnisses  an;   so   lässt  sich  wohl   annehmen,   dass  die  sprach- 
bildende Kraft  in  der  Menschheit  nicht  ruht,  bis  sie,  sey  es  einzeln, 
sey  es  im  Ganzen,  das  hervorgebracht  hat,  was  den  zu  machenden 
Forderungen  am   meisten   und  am  vollständigsten  entspricht.    Es 
kann  sich  also,  im  Sinne  dieser  Voraussetzung,  auch  unter  Sprachen 
und  Sprachstämmen,  welche  keinen  geschichtlichen  Zusammenhang 
verrathen,    ein    stufenweis    verschiednes  Vorrücken   des   Princips 
ihrer  Bildung  auffinden  lassen.    Wenn   dies   aber  der  Fall  ist,   so 
muss  dieser  Zusammenhang  äusserlich  nicht  verbundener  Erschei- 
nungen in   einer  allgemeinen   inneren  Ursach  liegen,   welche  nur 
die  Entwicklung  der  wirkenden  Kraft  seyn  kann.    Die  Sprache  ist 
eine    der   Seiten,   von   welchen    aus    die    allgemeine   menschliche 
Geisteskraft  in   beständig  thätige  Wirksamkeit  tritt.    Anders  aus- 
gedrückt,  erblickt  man   darin   das  Streben,   der  Idee   der  Sprach- 
vollendung Daseyn   in   der   Wirklichkeit   zu   gewinnen.     Diesem 
Streben   nachzugehen   und  dasselbe  darzustellen,  ist  das  Geschäft 
des  Sprachforschers  in  seiner  letzten,  aber  einfachsten  Auflösung.*) 


*)  Man  vergleiche    meine  Abhandlung   über    die  Aufgabe    des  Geschichtschreibers 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     4.      2 1 

Das  Sprachstudium  bedarf  übrigens  dieser,  vielleicht  zu  hypo- 
thetisch scheinenden  Ansicht  durchaus  nicht  als  einer  Grundlage. 
Allein  es  kann  und  muss  dieselbe  als  eine  Anregung  benutzen,  zu 
versuchen,  ob  sich  in  den  Sprachen  ein  solches  stufenweis  fort- 
schreitendes Annähern  an  die  ^^ollendung  ihrer  Bildung  entdecken 
lässt.  Es  könnte  nemlich  eine  Reihe  von  Sprachen  einfacheren 
und  zusammengesetzteren  Baues  geben,  welche,  bei  der  Ver- 
gleichung  mit  einander,  in  den  Principien  ihrer  Bildung  eine  fort- 
schreitende Annäherung  an  die  Erreichung  des  gelungensten  Sprach- 
baues verriethen.  Der  Organismus  dieser  Sprachen  müsste  dann, 
selbst  bei  verwickelten  Formen,  in  Consequenz  und  Einfachheit 
die  Art  ihres  Strebens  nach  Sprachvollendung  leichter  erkennbar, 
als  es  in  andren  der  Fall  ist,  an  sich  tragen.  Das  Fortschreiten 
auf  diesem  Wege  würde  sich  in  solchen  Sprachen  vorzüglich  zuerst 
in  der  Geschiedenheit  und  vollendeten  Articulation  ihrer  Laute, 
daher  in  der  davon  abhängigen  Bildung  der  Sylben,  der  reinen 
Sonderung  derselben  in  ihre  Elemente,  und  im  Baue  der  ein- 
fachsten Wörter  finden;  ferner  in  der  Behandlung  der  Wörter, 
als  Lautganze,  um  dadurch  wirkliche  Worteinheit,  entsprechend 
der  Begriffseinheit,  zu  erhalten ;  endlich  in  der  angemessnen 
Scheidung  desjenigen,  was  in  der  Sprache  selbstständig  und  was 
nur,  als  Form,  am  Selbstständigen  erscheinen  soll,  w^ozu  natürlich 
ein  Verfahren  erfordert  wird,  das  in  der  Sprache  bloss  an  einander 
Geheftete  von  dem  symbolisch  Verschmolznen  zu  unterscheiden. 
Auch  hierin  gehe  ich,  aus  den  eben  angegebenen  Gründen,  nicht 
näher  ein,  sondern  wünsche  nur,  dass  man  an  den  eben  auf- 
gestellten Gesichtspunkten  diejenigen  erkennen  möge,  welche  mich 
auch  bei  der  gleich  jetzt  vorzunehmenden  Bestimmung  des  Stand- 
punktes des  Kawi  im  Malayischen  Sprachstamme  geleitet  haben. 
In  dieser  Betrachtung  der  Sprachen  sondre  ich  aber  die  Verände- 
rungen, die  sich  in  jeder,  ihren  Schicksalen  nach,  aus  einander 
entwickeln  lassen,  gänzlich  von  ihrer  für  uns  ersten,  ursprüng- 
lichen Form  ab.  Der  Kreis  dieser  Urformen  scheint  geschlossen 
zu  seyn,  und  in  der  Lage,  in  der  wir  die  Entwicklung  der  mensch- 
lichen Ivräfte  jetzt  finden,  nicht  wiederkehren  zu  können.  Denn 
so  innerlich  auch  die  Sprache  durchaus  ist,  so  hat  sie  dennoch 
zugleich   ein   unabhängiges,   äusseres,   gegen  den  Menschen  selbst 

in  den  Abhandlungen  der  historisch-philologischen  Classe    der  Berliner  Akademie   1820 
bis  1821.     S.  322. 1) 

V   Vgl.  Band  4,  56. 


22  !•    Über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

Gewalt  ausübendes  Daseyn.  Die  Entstehung  solcher  Urformen 
würde  daher  eine  Geschiedenheit  der  Völker  voraussetzen,  die  sich 
jetzt,  und  vorzüglich  verbunden  mit  regerer  Geisteskraft,  nicht 
mehr  denken  lässt,  wenn  auch  nicht,  was  noch  wahrscheinlicher 
ist,  dem  Hervorbrechen  neuer  Sprachen  überhaupt  eine  bestimmte 
Epoche  im  Menschengeschlechte,  wie  im  einzelnen  Menschen,  an- 
gewiesen war.  ^) 

^) Einwirkung   ausserordentlicher   Geisteskraft. 
Civilisation,  Cultur  und  Bildung. 

6.  Die  aus  ihrer  inneren  Tiefe  und  Fülle  in  den  Lauf  der  Welt- 

begebenheiten eingreifende  Geisteskraft  ist  das  wahrhaft  ^)  schaffende 


V  Hier  ist  folgender  mit  dem  Titel  „Aufstellung  drei  vorläufiger  Fragen^^ 
und  der  Paragraphenzahl  5  versehener  Absatz  gestrichen :  „Ich  habe  hier,  um  den 
Kreis  von  Ideen,  nach  welchen  ich  die  Sprachen  und  die  Völkervertheilung  des 
Menschengeschlechts  beurtheilen  zu  müssen  glaube,  im  Allgemeinen  zu  bezeichnen, 
die  geistige  Entwicklung  der  Menschheit  in  ihren  Anfängen  und  in  ihrer  heutigen 
Gestalt  berühren  müssen.  Was  ich  aber  eigentlich  hier  näher  auszuführen  wünsche, 
fordert  bei  weitem  keine  solche  Ausdehnung.  Es  führt  vielmehr,  und  zwar  allein 
vermittelst  der  Durchforschimg  des  Baues  der  Sprachen  selbst,  als  des  einzigen 
noch  geschichtlich  bis  dahin  gebahnten  Weges,  nur  auf  den  ganz  engen  Kreis, 
wo  die  Sprachen  als  der  wesentlichste  Theil  der  geistigen  Wirksamkeit  der  Völker 
erscheinen,  in  die  Anfangs-,  eigentlicher  die  Vorperiode  aller  Literatur.  Denn 
nur  in  der  in  jeder  Sprache  zu  entdeckenden  ursprünglichsten  Form  kann  ihr 
Zusammenhang  mit  der  Geisteskraft  der  Nation  wahrhaft  sichtbar  werden.  Ehe 
ich  aber,  um.  das  so  vorgesteckte  Ziel  so  weit  zu  erreichen,  als  es  meine  Kräfte  und 
meine  in  der  Richtung  dieser  Ideen  über  Sprachen,  die  von  einem  sehr  contrastirenden 
Cultur  zustande  zeugen,  verbreiteten  Studien  gestatten,  in  die  nähere  Erörterung 
des  Sprachbaues  selbst  eingehe,  bieten  sich  der  Untersuchung  folgende  drei  vor- 
läufige Fragen  dar: 

1.  in  welchem  Begriff  und  Umfange  wird  hier  der  Ausdruck  mensch- 
liche Geisteskraft  genommen? 

2.  inwiefern  kann  diese  geistige  Kraft  zugleich  in  Individuen  imd  Völker- 
massen, und  wie  abgesondert  in  jedem  von  beiden  wirksam  seyn  ? 

j.  inwiefern  ist  sie  als  oberstes  Erklärung sprincip  der  Sprachen  und 
als  Bestimmungsgrund  der  besonderen  Form  derselben  anzusehen?" 
Der  vierte  Satz  hieß  ursprünglich:  „Denn  in  diesem  Kreise  liegen  alle  That- 
sachen  und  Ideen,  durch  welche  sich  die  Sprache  überhaupt  als  ein  Ausßuss  der 
menschlichen  Geisteskraß,  ihre  verschiedenartige  Form  als  in  Verbindung  mit  der 
Individualität  dieser,  mithin  die  Geisteskraft  selbst  als  Grundlage  der  Sprach- 
verschiedenheit, und  die  Vereinigung  beider  als  Grundlage  aller  weiteren  geistigen 
Entwicklungen  der  Menschheit  darstellen  lässt." 

^)  Vor  „Einwirkung"  gestrichen :.  „Beleuchtung  der  ersten  Frage." 
^)  „Die  —  wahrhaft"  verbessert  aus:  „Die  Kraft,  von  welcher  ich  hier  rede, 
ist  das  waltende  und". 


und  iliren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     4 — 6.     o"? 

Frincip  in  dem  verborgenen  und  gleichsam  gelieimnissvoUen  Ent- 
\vicklungsgange  der  Menschheit,  von  dem  ich  oben,  im  Gegen- 
satz mit  dem  offenbaren,  sichtbar  durch  Ursach  und  Wirkung  ver- 
ketteten gesprochen  habe.  Es  ist  die  ausgezeichnete,  den  Begriff 
menschlicher  Intellectualität  erweiternde  Geisteseigenthümlichkeit, 
welche  unerwartet  und  in  dem  Tiefsten  ihrer  Erscheinung  uner- 
klärbar hervortritt.  Sie  unterscheidet  sich  besonders  dadurch,  dass 
ihre  Werke  nicht  bloss  Grundlagen  werden,  auf  die  man  fort- 
bauen kann,  sondern  zugleich  den  wieder  entzündenden  Hauch  in 
sich  tragen,  der  sie  erzeugt.  Sie  pflanzen  Leben  fort,  weil  sie  aus 
vollem  Leben  her^orgehn.  Denn  die  sie  hervorbringende  Kraft 
wirkt  mit  der  Spannung  ihres  ganzen  Strebens  und  in  ihrer  vollen 
Einheit,  zugleich  aber  wahrhaft  schöpferisch,  ihr  eignes  Erzeugen 
als  ihr  selbst  unerklärliche  Natur  betrachtend;  sie  hat  nicht  bloss 
zufällig  Neues  ergriffen  oder  bloss  an  bereits  Bekanntes  angeknüpft. 
So  entstand  die  Aeg}'ptische  plastische  Kunst,  der  es  gelang,  die 
menschliche  Gestalt  aus  dem  organischen  Mittelpunkt  ihrer  Ver- 
hältnisse heraus  aufzubauen,  und  die  dadurch  zuerst  ihren  Werken 
das  Gepräge  ächter  Kunst  aufdrückte.  In  dieser  Art  tragen,  bei 
sonst  naher  Verwandtschaft,  Indische  Poesie  und  Philosophie  und 
das  classische  Alterthum  einen  verschiednen  Charakter  an  sich, 
und  in  dem  letzteren  wiederum  Griechische  und  Römische  Denk- 
weise und  Darstellung.  Ebenso  entsprang  in  späterer  Zeit  aus 
der  Romanischen  Poesie  und  dem  geistigen  Leben,  das  sich  mit 
dem  Untergange  der  Römischen  Sprache  plötzlich  in  dem  nun 
selbstständig  gewordenen  Europäischen  Abendland  entwickelte, 
der  hauptsächlichste  Theil  der  modernen  Bildung.  Wo  solche 
Erscheinungen  nicht  auftraten,  oder  durch  widrige  Umstände  er- 
stickt wurden,  da  vermochte  auch  das  Edelste,  einmal  in  seinem 
natürlichen  Gange  gehemmt,  nicht  wieder  grosses  Neues  zu  ge- 
stalten, wie  wir  es  an  der  Griechischen  Sprache  und  so  vielen 
Ueberresten  Griechischer  Kunst  in  dem  Jahrhunderte  lang,  ohne 
seine  Schuld,  in  Barbarei  gehaltenen  Griechenland  sehen.  Die 
alte  Form  der  Sprache  wird  dann  zerstückt  und  mit  Fremdem  ver- 
mischt, ihr  wahrer  Organismus  zerfällt,  und  die  gegen  ihn  an- 
dringenden Kräfte  vermögen  nicht,  ihn  zum  Beginnen  einer  neuen 
Bahn  umzuformen  und  ihm  ein  neu  begeisterndes  Lebensprincip 
einzuhauchen.  Zur  Erklärung  aller  solcher  Erscheinungen  lassen 
sich  begünstigende  und  hemmende,  vorbereitende  und  verzögernde 
Umstände  nachweisen.    Der  Mensch  knüpft  immer  an  Vorhandenes 


2A.  !•    Über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

an.  Bei  jeder  Idee,  deren  Entdeckung  oder  Ausführung  dem 
menschlichen  Bestreben  einen  neuen  Schwung  verleiht,  lässt  sich 
durch  scharfsinnige  und  sorgfältige  Forschung  zeigen,  wie  sie  schon 
früher  und  nach  und  nach  wachsend  in  den  Köpfen  vorhanden 
gewesen.  Wenn  aber  der  anfachende  Odem  des  Genies  in  Einzelnen 
oder  Völkern  fehlt,  so  schlägt  das  Helldunkel  dieser  glimmenden 
Kohlen  nie  in  leuchtende  Flammen  auf.  Wie  wenig  auch  die 
Natur  dieser  schöpferischen  Kräfte  sie  eigentlich  zu  durchschauen 
gestattet,  so  bleibt  doch  soviel  offenbar,  dass  in  ihnen  immer  ein 
Vermögen  obwaltet,  den  gegebenen  Stoff  von  innen  heraus  zu  be- 
herrschen, in  Ideen  zu  verwandeln  oder  Ideen  unterzuordnen.  Schon 
in  seinen  frühesten  Zuständen  geht  der  Mensch  über  den  Augen- 
blick der  Gegenwart  hinaus  und  bleibt  nicht  bei  bloss  sinnlichem 
Genüsse.  Bei  den  rohesten  Völkerhorden  finden  sich  Liebe  zum 
Putz,  Tanz,  Musik  und  Gesang,  "dann  aber  auch  Ahndungen  über- 
irdischer Zukunft,  darauf  gegründete  Hoffnungen  und  Besorgnisse, 
Ueberlieferungen  und  Mährchen,  die  gewöhnlich  bis  zur  Entstehung 
des  Menschen  und  seines  Wohnsitzes  hinabsteigen.  Je  kräftiger 
und  heller  die  nach  ihren  Gesetzen  und  Anschauungsformen 
selbstthätig  wirkende  Geisteskraft  ihr  Licht  in  diese  Welt  der  Vorzeit 
und  Zukunft  ausgiesst,  mit  welcher  der  Mensch  sein  augenblickliches 
Daseyn  umgiebt,  desto  reiner  und  mannigfaltiger  zugleich  gestaltet 
sich  die  Masse.  So  entsteht  die  Wissenschaft  und  die  Kunst,  und 
immer  ist  daher  das  Ziel  des  sich  entwickelnden  Fortschreitens 
des  Menschengeschlechts  die  Verschmelzung  des  aus  dem  Innern 
selbstthätig  Erzeugten  mit  dem  von  aussen  Gegebenen,  jedes  in 
seiner  Reinheit  und  Vollständigkeit  aufgefasst  und  in  der  Unter- 
ordnung verbunden,  welche  das  jedesmalige  Bestreben,  seiner  Natur 
nach,  erheischt. 

Wie  wir  aber  hier  die  geistige  Individualität  als  etwas  Vor- 
zügliches und  Ausgezeichnetes  dargestellt  haben,  so  kann  und  so 
muss  man  sogar  dieselbe,  auch  wo  sie  die  höchste  Stufe  erreicht 
hat,  doch  zugleich  wieder  als  eine  Beschränkung  der  allgemeinen 
Natur,  eine  Bahn,  in  w^elche  der  Einzelne  eingezwängt  ist,  ansehen, 
da  jede  Eigenthümlichkeit  dies  nur  durch  ein  vorherrschendes  und 
daher  ausschliessendes  Princip  zu  seyn  vermag.  Aber  gerade  auch 
durch  die  Einengung  wird  die  Kraft  erhöht  und  gespannt,  und 
die  Ausschliessung  kann  dennoch  dergestalt  von  einem  Princip 
der  Totalität  geleitet,  werden,  dass  mehrere  solche  Eigenthümlich- 
keiten  sich  wieder  in  ein  Ganzes  zusammenfügen.    Hierauf  beruht 


und  ihren   Einfluß   auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     6.       2C. 

in  ihren  innersten  Gründen  jede  höhere  Menschenverbindung  in 
Freundschaft,  Liebe  oder  grossartigem,  dem  Wohl  des  Vaterlandes 
und  der  Menschheit  gewidmeten  Zusammenstreben.  Ohne  die 
Betrachtung  weiter  zu  verfolgen,  wie  gerade  die  Beschränkung  der 
Individualität  dem  Menschen  den  einzigen  Weg  eröffnet,  der  uner- 
reichbaren Totalität  immer  näher  zu  kommen,  genügt  es  mir  hier, 
nur  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  die  Kraft,  die  den 
Menschen  eigentlich  zum  Menschen  macht,  und  also  die  schlichte 
Definition  seines  Wesens  ist,  in  ihrer  Berührung  mit  der  Welt, 
in  dem,  wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist,  vegetativen  und  sich  auf 
gegebener  Bahn  gewissermassen  mechanisch  fortentwickelnden 
Leben  des  Menschengeschlechts,  in  einzelnen  Erscheinungen  sich 
selbst  und  ihre  vielfältigen  Bestrebungen  in  neuen,  ihren  Begriff 
erweiternden  Gestalten  offenbart.  So  war  z.  B.  die  Erfindung  der 
Algebra  eine  solche  neue  Gestaltung  in  der  mathematischen  Rich- 
tung des  menschlichen  Geistes,  und  so  lassen  sich  ähnliche  Bei- 
spiele in  jeder  Wissenschaft  und  Kunst  nachweisen.  In  der  Sprache 
werden  wir  sie  weiter  unten  ausführlicher  aufsuchen. 

Sie  beschränken  sich  aber  nicht  bloss  auf  die  Denk-  und  Dar- 
stellungsweise, sondern  finden  sich  auch  ganz  vorzüglich  in  der 
Charakterbildung.  Denn  was  aus  dem  Ganzen  der  menschlichen 
Kraft  herv^orgeht,  darf  nicht  ruhen,  ehe  es  nicht  wieder  in  die  ganze 
zurückkehrt,  und  die  Gesammtheit  der  inneren  Erscheinung,  Em- 
pfindung und  Gesinnung,  verbunden  mit  der  von  ihr  durchstrahlten 
äusseren,  muss  wahrnehmen  lassen,  dass  sie,  vom  Einflüsse  jener 
erweiterten  einzelnen  Bestrebungen  durchdrungen,  auch  die  ganze 
menschliche  Natur  in  erweiterter  Gestalt  offenbart.  Gerade  daraus 
entspringt  die  allgemeinste  und  das  Menschengeschlecht  am  wür- 
digsten emporhebende  Wirkung.  Gerade  die  Sprache  aber,  der 
Mittelpunkt,  in  welchem  sich  die  verschiedensten  Individualitäten 
durch  Mittheilung  äusserer  Bestrebungen  und  innerer  Wahr- 
nehmungen vereinigen,  steht  mit  dem  Charakter  in  der  engsten 
und  regsten  Wechselwirkung.  Die  kraftvollsten  und  die  am  leisesten 
berührbaren,  die  eindringendsten  und  die  am  fruchtbarsten  in  sich 
lebenden  Gemüther  giessen  in  sie  ihre  Stärke  und  Zartheit,  ihre 
Tiefe  und  Innerlichkeit,  und  sie  schickt  zur  Fortbildung  der  gleichen 
Stimmungen  die  verwandten  Klänge  aus  ihrem  Schoosse  herauf. 
Der  Charakter,  je  mehr  er  sich  veredelt  und  verfeinert,  ebnet  und 
vereinigt  die  einzelnen  Seiten  des  Gemüths  und  giebt  ihnen,  gleich 
der  bildenden  Kunst,  eine  in  ihrer  Einheit  zu  fassende,   aber  den 


2(5  I.    über  die  Verschiedenheiten   des  menschlichen  Sprachbaues 

jedesmaligen  Umriss  immer  reiner  aus  dem  Innern  hervorbildende 
Gestalt.  Diese  Gestaltung  ist  aber  die  Sprache  durch  die  feine, 
oft  im  Einzelnen  unsichtbare,  aber  in  ihr  ganzes  wundervolles 
symbolisches  Gewebe  verflochtene  Harmonie  darzustellen  und  zu 
befördern  geeignet.  Die  Wirkungen  der  Charakterbildung  sind 
nur  ungleich  schwerer  zu  berechnen,  als  die  der  bloss  intellectuellen 
Fortschritte,  da  sie  grossentheils  auf  den  geheimnissvollen  Ein- 
flüssen beruhen,  durch  welche  eine  Generation  mit  der  andren 
zusammenhängt. 

Es  giebt  also  in  dem  Entwicklungsgange  des  Menschen- 
geschlechts Fortschritte,  die  nur  erreicht  werden,  weil  eine  unge- 
wöhnliche Kraft  unerwartet  ihren  Aufflug  bis  dahin  nimmt,  Fälle, 
wo  man  an  die  Stelle  gewöhnlicher  Erklärung  der  hervor- 
gebrachten Wirkung  die  Annahme  einer  ihr  entsprechenden  Kraft- 
äusserung  setzen  muss.  Alles  geistige  Vorrücken  kann  nur  aus 
innerer  Kraftäusserung  hervorgehen,  und  hat  insofern  immer  einen 
verborgenen  und,  weil  er  selbstthätig  ist,  unerklärlichen  Grund. 
Wenn  aber  diese  innere  Kraft  plötzlich  aus  sich  selbst  hervor 
so  mächtig  schafft,  dass  sie  durch  den  bisherigen  Gang  gar  nicht 
dahin  geführt  werden  konnte,  so  hört  eben  dadurch  alle  Möglich- 
keit der  Erklärung  von  selbst  auf.  Ich  wünsche  diese  Sätze  bis 
zur  Ueberzeugung  deutlich  gemacht  zu  haben,  w^eil  sie  in  der 
Anwendung  wichtig  sind.  Denn  es  folgt  nun  von  selbst,  dass, 
wo  sich  gesteigerte  Erscheinungen  derselben  Bestrebung  wahr- 
nehmen lassen,  wenn  es  nicht  die  Thatsachen  unabv/eislich  ver- 
langen, kein  allmähliches  Fortschreiten  vorausgesetzt  werden  darf, 
da  jede  bedeutende  Steigerung  vielmehr  einer  eigenthümlich  schaf- 
fenden Kraft  angehört.  Ein  Beispiel  kann  der  Bau  der  Chinesischen 
und  der  Sanskrit-Sprache  liefern.  Eis  Hesse  sich  wohl  hier  ein 
allmählicher  Fortgang  von  dem  einen  zum  andren  denken.  Wenn 
man  aber  das  Wesen  der  Sprache  überhaupt  und  dieser  beiden 
insbesondere  wahrhaft  fühlt,  wenn  man  bis  zu  dem  Punkte  der 
Verschmelzung  des  Gedanken  mit  dem  Laute  in  beiden  vordringt, 
so  entdeckt  man  in  ihm  das  von  innen  heraus  schaffende  Princip 
ihres  verschiednen  Organismus.  Man  wird  alsdann,  die  Möglich- 
keit allmählicher  Entwicklung  einer  aus  der  andren  aufgebend,  jeder 
ihren  eignen  Grund  in  dem  Geiste  der  Volksstämme  anweisen,  und 
nur  in  dem  allgemeinen  Triebe  der  Sprachentwicklung,  also  nur 
ideal  sie  als  Stufen  gelungener  Sprachbildung  betrachten.  Durch 
die  Verabsäumung  der  hier   aufgestellten   sorgfältigen   Trennung 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     6.  7.     2'" 

des  zu  berechnenden  stufenartigen  und  des  nicht  vorauszusehenden 
unmittelbar  schöpferischen  Fortschreitens  der  menschlichen  Geistes- 
kraft verbannt  man  ganz  eigentlich  aus  der  ^^'eltgeschichte  die 
Wirkungen  des  Genies,  das  sich  ebensowohl  in  einzelnen  Mo- 
menten in  Völkern,  als  in  Individuen  offenbart. 

Man  läuft  aber  auch  Gefahr,  die  verschiednen  Zustände  der 
menschlichen  Gesellschaft  unrichtig  zu  würdigen.  So  wird  der 
Civilisation  und  der  Cultur  oft  zugeschrieben,  was  aus  ihnen  durch- 
aus nicht  hervorgehen  kann,  sondern  durch  eine  Kraft  gewirkt 
wird,  welcher  sie  selbst  ihr  Daseyn  verdanken.  ^) 

In  Absicht  der  Sprachen  ist  es  eine  ganz  gewöhnliche  Vor- 
stellung, alle  ihre  Vorzüge  und  jede  Erw^eiterung  ihres  Gebiets 
ihnen  beizumessen,  gleichsam  als  käme  es  nur  auf  den  Unterschied 
gebildeter  und  ungebildeter  Sprachen  an.  Zieht  man  die  Geschichte 
zu  Rathe,  so  bestätigt  sich  eine  solche  Macht  der  Civilisation  und 
Cultur  über  die  Sprache  keinesweges.  Java  erhielt  höhere  Civili- 
sation und  Cultur  offenbar  von  Indien  aus,  und  beide  in  be- 
deutendem Grade,  aber  darum  änderte  die  einheimische  Sprache 
nicht  ihre  unvollkommnere  und  den  Bedürfnissen  des  Denkens 
weniger  angemessne  Form,  sondern  beraubte  vielmehr  das  so  un- 
gleich edlere  Sanskrit  der  seinigen,  um  es  in  die  ihrige  zu  zwängen. 
Auch  Indien  selbst,  mochte  es  noch  so  früh  und  nicht  durch  fremde 
Mittheilung  civilisirt  seyn,  erhielt  seine  Sprache  nicht  dadurch, 
sondern  das  tief  aus  dem  ächtesten  Sprachsinn  geschöpfte  Princip 
derselben  floss,  wie  jene  Civilisation  selbst,  aus  der  genialischen 
Geistesrichtung  des  Volks.  Darum  stehen  auch  Sprache  und  Civili- 
sation durchaus  nicht  immer  im  gleichen  Verhältniss  zu  einander. 
Peru  war,  welchen  Zweig  seiner  Einrichtungen  unter  den  Incas 
man  betrachten  mag,  leicht  das  am  meisten  civilisirte  Land  in 
Amerika;  gewiss  wird  aber  kein  Sprachkenner  der  allgemeinen 
Peruanischen  Sprache,  die  man  durch  Kriege  und  Eroberungen 
auszubreiten  versuchte,  ebenso  den  Vorzug  vor  den  übrigen  des 
neuen  Welttheils  einräumen.  Sie  steht  namentlich  der  Mexi- 
canischen,   meiner  Ueberzeugung  zufolge,  bedeutend  nach.    Auch 


V  Nach  „verdanken"  gestrichen:  „Der  Sprache  können  sie  zahlreiche  neue 
Ausdrücke,  bestimmtere  und  mehr  abgeschliffene  Redefügungen  zuführen.  Was 
aber  tiefer  in  ihren  Bau  eingeht,  wesentlicher  zu  ihrer  Totalwirkung  beiträgt, 
kann  sie  nur  von  der  Geisteseigenthümlichkeit  der  Nation  oder  einzelner  Schrift- 
steller empfangen." 


o§  1.    über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

angeblich  rohe  und  ungebildete  Sprachen  können  hervorstechende 
Trefflichkeiten  in  ihrem  Baue  besitzen  und  besitzen  dieselben 
wirklich,  und  es  wäre  nicht  unmöglich,  dass  sie  darin  höher  ge- 
bildete überträfen.  Schon  die  Vergleichung  der  Barmanischen,  in 
welche  das  Pali  unläugbar  einen  Theil  Indischer  Gultur  verwebt 
hat,  mit  der  Delaware-Sprache,  geschweige  denn  mit  der  Mexi- 
canischen,  dürfte  das  Urtheil  über  den  Vorzug  der  letzteren  kaum 
zweifelhaft  lassen. 

Die  Sache  ist  aber  zu  wichtig,  um  sie  nicht  näher  und  aus 
ihren  innren  Gründen  zu  erörtern.  Insofern  Civilisation  und 
Cultur  den  Nationen  ihnen  vorher  unbekannte  Begriffe  aus  der 
Fremde  zuführen  oder  aus  ihrem  Innren  entwickeln,  ist  jene  An- 
sicht auch  von  einer  Seite  unläugbar  richtig.  Das  Bedürfniss  eines 
Begriffs  und  seine  daraus  entstehende  Verdeutlichung  muss  immer 
dem  Worte,  das  bloss  der  Ausdruck  seiner  vollendeten  Klarheit 
ist,  vorausgehn.  Wenn  man  aber  bei  dieser  Ansicht  einseitig 
stehen  bleibt  und  die  Unterschiede  in  den  Vorzügen  der  Sprachen 
allein  auf  diesem  Wege  zu  entdecken  glaubt,  so  verfällt  man  in 
einen,  der  wahren  Beurtheilung  der  Sprache  verderblichen  Irrthum. 
Es  ist  schon  an  sich  sehr  mislich,  den  Kreis  der  Begriffe  eines 
Volks  in  einer  bestimmten  Epoche  aus  seinem  W^örterbuche  be- 
urtheilen  zu  wollen.  Ohne  hier  die  offenbare  UnZweckmässigkeit 
zu  rügen,  dies  nach  den  unvollständigen  und  zufälligen  Wörter- 
sammlungen zu  versuchen,  die  wir  von  so  vielen  Ausser-Euro- 
päischen  Nationen  besitzen,  muss  es  schon  von  selbst  in  die  Augen 
fallen,  dass  eine  grosse  Zahl,  besonders  unsinnlicher  Begriffe,  auf 
die  sich  jene  Behauptungen  vorzugsweise  beziehen,  durch  uns  un- 
gewöhnliche und  daher  unbekannte  Metaphern  oder  auch  durch 
Umschreibungen  ausgedrückt  seyn  können.  Es  liegt  aber,  und 
dies  ist  hier  bei  weitem  entscheidender,  auch  sowohl  in  den  Be- 
griffen, als  in  der  Sprache  jedes,  noch  so  ungebildeten  Volkes  eine, 
dem  Umfange  der  unbeschränkten  menschlichen  Bildungsfähigkeit 
entsprechende  Totalität,  aus  welcher  sich  alles  Einzelne,  was  die 
Menschheit  umfasst,  ohne  fremde  Beihülfe,  schöpfen  lässt;  und 
man  kann  der  Sprache  nicht  fremd  nennen,  was  die  auf  diesen 
Punkt  gerichtete  Aufmerksamkeit  unfehlbar  in  ihrem  Schoosse  an- 
trifft. Einen  factischen  Beweis  hiervon  liefern  solche  Sprachen 
uncultivirter  Nationen,  welche,  wie  z.  B.  die  Philippinischen  und 
Amerikanischen,  lange  von  Missionarien  bearbeitet  worden  sind. 
Auch  sehr  abstracte  Begriffe  findet  man  in  ihnen,   ohne  die  Hin- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     7.      2C) 

Zukunft  fremder  Ausdrücke,  bezeichnet.  Es  wäre  allerdings  inter- 
essant, zu  wissen,  wie  die  Eingebornen  diese  Wörter  verstehen. 
Da  sie  aber  aus  Elementen  ihrer  Sprache  gebildet  sind,  so  müssen 
sie  nothwendig  mit  ihnen  irgend  einen  analogen  Sinn  verbinden. 
Worin  jedoch  jene  eben  erwähnte  Ansicht  hauptsächlich  irre  fühn, 
ist,  dass  sie  die  Sprache  viel  zu  sehr  als  ein  räumliches,  gleichsam 
durch  Eroberungen  von  aussen  her  zu  erweiterndes  Gebiet  be- 
trachtet und  dadurch  ihre  wahre  Natur  in  ihrer  wesentlichsten 
Eigenthümlichkeit  verkennt.  Es  kommt  nicht  gerade  darauf  an, 
wie  viele  Begriffe  eine  Sprache  mit  eignen  Wörtern  bezeichnet. 
Dies  findet  sich  von  selbst,  wenn  sie  sonst  den  wahren,  ihr  von 
der  Natur  vorgezeichneten  Weg  verfolgt,  und  es  ist  nicht  dies  die 
Seite,  von  welcher  sie  zuerst  beurtheilt  werden  muss.  Ihre  eigent- 
liche und  wesentliche  Wirksamkeit  im  Menschen  geht  auf  seine 
denkende  und  im  Denken  schöpferische  Kraft  selbst  und  ist  in 
viel  tieferem  Sinne  immanent  und  constitutiv.  Ob  und  inwiefern 
sie  die  Deutlichkeit  und  richtige  Anordnung  der  Begriffe  befördert 
oder  ihr  Schwierigkeiten  in  den  Weg  legt?  den  aus  der  Welt- 
ansicht in  die  Sprache  übergetragenen  \^orstellungen  die  ihnen 
beiwohnende  sinnliche  Anschaulichkeit  erhält  ?  durch  den  Wohllaut 
ihrer  Töne  harmonisch  und  besänftigend,  und  wieder  energisch 
und  erhebend  auf  die  Empfindung  und  die  Gesinnung  einwirkt? 
darin  und  in  vielen  andren  solchen  Stimmungen  der  ganzen  Denk- 
weise und  Sinnesart  liegt  dasjenige,  was  ihre  wahren  ^^orzüge 
ausmacht  und  ihren  Einfluss  auf  die  Geistesentwicklung  bestimmt. 
Dies  aber  beruht  auf  der  Gesammtheit  ihrer  ursprünglichen  An- 
lagen, auf  ihrem  organischen  Bau,  ihrer  individuellen  Form.  Auch 
hieran  gehen  die  selbst  erst  spät  eintretende  Civilisation  und  Cultur 
nicht  fruchtlos  vorüber.  Durch  den  Gebrauch  zum  Ausdruck  er- 
weiterter und  veredelter  Ideen  gewinnt  die  Deutlichkeit  und  die 
Präcision  der  Sprache,  die  Anschaulichkeit  läutert  sich  in  einer 
auf  höhere  Stufe  gestiegenen  Phantasie,  und  der  Wohllaut  gewinnt 
vor  dem  Urtheile  und  den  erhöhten  Forderungen  eines  geübteren 
Ohrs.  Allein  dies  ganze  Fortschreiten  gesteigerter  Sprachbildung 
kann  sich  nur  in  den  Gränzen  fortbewegen,  welche  ihr  die  ur- 
sprüngliche Sprachanlage  vorschreibt.  Eine  Nation  kann  eine  un- 
vollkommnere  Sprache  zum  Werkzeuge  einer  Ideenerzeugung 
machen,  zu  welcher  sie  die  ursprüngliche  Anregung  nicht  gegeben 
haben  würde,  sie  kann  aber  die  inneren  Beschränkungen  nicht 
aufheben,   die   einmal  tief  in  ihr  gegründet  sind.    Insofern   bleibt 


oQ  I.    Über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 

auch  die  höchste  Ausbildung  unwirksam.  Selbst  was  die  Folgezeit 
von  aussen  hinzufügt,  eignet  sich  die  ursprüngliche  Sprache  an  und 
modificirt  es  nach  ihren  Gesetzen. 

Von  dem  Standpunkt  der  innren  Geisteswürdigung  aus  kann 
man  auch  Civilisation  und  Cultur  nicht  als  den  Gipfel  ansehen,  zu 
welchem  der  menschliche  Geist  sich  zu  erheben  vermag.  Beide 
sind  in  der  neuesten  Zeit  bis  auf  den  höchsten  Punkt  und  zu  der 
grössten  Allgemeinheit  gediehen.  Ob  aber  darum  zugleich  die 
innere  Erscheinung  der  menschlichen  Natur,  wie  wir  sie  z.  ß.  in 
einigen  Epochen  des  Alterthums  erblicken,  auch  gleich  häufig  und 
mächtig  oder  gar  in  gesteigerten  Graden  zurückgekehrt  ist?  dürfte 
man  schon  schwerlich  mit  gleicher  Sicherheit  behaupten  wollen, 
und  noch  weniger,  ob  dies  gerade  in  den  Nationen  der  Fall  ge- 
wesen ist,  welchen  die  Verbreitung  der  Civilisation  und  einer  ge- 
wissen Cultur  am  meisten  verdankt? 

Die  Civilisation  ist  die  Vermenschlichung  der  Völker  in  ihren 
äusseren  Einrichtungen  und  Gebräuchen  und  der  darauf  Bezug 
habenden  innren  Gesinnung.  Die  Cultur  fügt  dieser  Veredlung 
des  gesellschaftlichen  Zustandes  Wissenschaft  und  Kunst  hinzu. 
Wenn  wir  aber  in  unsrer  Sprache  Bildung  sagen,  so  meinen 
wir  damit  etwas  zugleich  Höheres  und  mehr  Innerliches,  nemlich 
die  Sinnesart,  die  sich  aus  der  Erkenntniss  und  dem  Gefühle  des 
gesammten  geistigen  und  sittlichen  Strebens  harmonisch  auf  die 
Empfindung  und  den  Charakter  ergiesst. 

Die  Civilisation  kann  aus  dem  Inneren  eines  Volkes  hervor- 
gehen und  zeugt  alsdann  von  jener,  nicht  immer  erklärbaren 
Geisteserhebung.  Wenn  sie  dagegen  aus  der  Fremde  in  eine 
Nation  verpflanzt  wird,  verbreitet  sie  sich  schneller,  durchdringt 
auch  vielleicht  mehr  alle  Verzweigungen  des  geselligen  Zustandes, 
wirkt  aber  auf  Geist  und  Charakter  nicht  gleich  energisch  zurück. 
Es  ist  ein  schönes  Vorrecht  der  neuesten  Zeit,  die  Civilisation  in 
die  entferntesten  Theile  der  Erde  zu  tragen,  dies  Bemühen  an  jede 
Unternehmung  zu  knüpfen  und  hierauf,  auch  fern  von  andren 
Zwecken,  Kraft  und  Mittel  zu  verwenden.  Das  hierin  waltende 
Princip  allgemeiner  Humanität  ist  ein  Fortschritt,  zu  dem  sich 
erst  unsre  Zeit  wahrhaft  emporgeschwungen  hat,  und  alle  grossen 
Erfindungen  der  letzten  Jahrhunderte  streben  dahin  zusammen,  es 
zur  Wirklichkeit  zu  bringen.  Die  Colonien  der  Griechen  und 
Römer  waren  hierin  weit  weniger  wirksam.  Es  lag  dies  allerdings 
in  der  Entbehrung  so  vieler  äusserer  Mittel  der  Länderverknüpfung 


und  ihren   Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     7.       o  1 

und  der  Civilisirung  selbst.  Es  fehlte  ihnen  aber  auch  das  innre 
Princip,  aus  dem  allein  diesem  Streben  das  wahre  Leben  er- 
wachsen kann.  Sie  besassen  einen  klaren  und  tief  in  ihre  Em- 
pfindung und  Gesinnung  verwebten  Begriff  hoher  und  edler  mensch- 
licher Individualität;  aber  der  Gedanke,  den  Menschen  bloss  darum 
zu  achten,  weil  er  Mensch  ist,  hatte  nie  Geltung  in  ihnen  erhalten, 
und  noch  viel  weniger  das  Gefühl  daraus  entspringender  Rechte 
und  Verpflichtungen.  Dieser  wichtige  Theil  allgemeiner  Gesittung 
war  dem  Gange  ihrer  zu  nationeilen  Entwicklung  fremd  geblieben. 
Selbst  in  ihren  Golonien  vermischten  sie  sich  wohl  weniger  mit 
den  Eingebornen,  als  sie  dieselben  nur  aus  ihren  Gränzen  zurück- 
drängten; aber  ihre  Pflanzvölker  selbst  bildeten  sich  in  den  ver- 
änderten Umgebungen  verschieden  aus,  und  so  entstanden,  wie 
wir  an  Gross-Griechenland,  Sicilien  und  Iberien  sehen,  in  entfernten 
Ländern  neue  N'ölkergestaltungen  in  Gharakter,  politischer  Ge- 
sinnung und  wissenschaftlicher  Entwicklung.  Ganz  vorzugsweise  ver- 
standen es  die  Indier,  die  eigne  Kraft  der  Völker,  denen  sie  sich 
beigesellten,  anzufachen  und  fruchtbar  zu  machen.  Der  Indische 
Archipel  und  gerade  Java  geben  uns  hien^on  einen  merkwürdigen 
Beweis.  Denn  wir  sehen  da,  indem  wir  auf  Indisches  stossen, 
auch  gewöhnlich,  wie  das  Einheimische  sich  dessen  bemächtigte 
und  darauf  fortbaute.  Zugleich  mit  ihren  vollkommneren  äusseren 
Einrichtungen,  ihrem  grösseren  Reichthum  an  Mitteln  zu  erhöhetem 
Lebensgenuss,  ihrer  Kunst  und  Wissenschaft,  trugen  die  Indischen 
Ansiedler  auch  den  lebendigen  Hauch  in  die  Fremde  hinüber, 
durch  dessen  beseelende  Kraft  sich  bei  ihnen  selbst  alles  dies  erst 
gestaltet  hatte.  Alle  einzelnen  geselligen  Bestrebungen  waren  bei 
den  Alten  ^)  noch  nicht  so  geschieden,  als  bei  uns;  sie  konnten, 
was  sie  besassen,  viel  weniger  ohne  den  Geist  mittheilen,  der  es 
geschaffen  hatte.  Weil  sich  dies  jetzt  bei  uns  durchaus  anders  ver- 
hält, und  eine  in  unsrer  eignen  Civilisation  liegende  Gewalt  uns 
immer  bestimmter  in  dieser  Richtung  forttreibt,  so  bekommen 
unter  unserem  Einfluss  die  \'ölker  eine  viel  gleichförmigere  Ge- 
stalt, und  die  Ausbildung  der  originellen  Volkseigenthümlichkeit 
wird  oft,  auch  da,  wo  sie  vielleicht  statt  gefunden  hätte,  im  Auf- 
keimen erstickt. 


V  „den  Alten"  verbessert  aus  „ihnen  selbst". 


I.    über  die  Verschiedenheiten  des  menschlichen  Sprachbaues 


Zusammenwirken  der  Individuen  und  Nationen. 

Wir  haben  in  dem  Ueberblick  der  geistigen  Entwicklung  des 
Menschengeschlechts  bis  hierher  dieselbe  in  ihrer  Folge  durch  die 
verschiednen  Generationen  hindurch  betrachtet  und  darin  vier  sie 
hauptsächlich  bestimmende  Momente  bezeichnet :  das  ruhige  Leben 
der  Völker  nach  den  natürlichen  Verhältnissen  ihres  Daseyns  auf 
dem  Erdboden,  ihre  bald  durch  Absicht  geleitete  oder  aus  Leiden- 
schaft und  innerem  Drange  entspringende,  bald  ihnen  gewaltsam 
abgenöthigte  Thätigkeit  in  Wanderungen,  Kriegen  u.  s.  f.,  die 
Reihe  geistiger  Fortschritte,  welche  sich  gegenseitig  als  Ursachen 
und  Wirkungen  an  einander  ketten,  endlich  die  geistigen  Erschei- 
nungen, die  nur  in  der  Kraft  ihre  Erklärung  finden,  die  sich  in 
ihnen  offenbart.  Es  bleibt  uns  jetzt  die  zweite  Betrachtung,  wie 
jene  Entwicklung  in  jeder  einzelnen  Generation  bewirkt  wird, 
welche  den  Grund  ihres  jedesmaligen  Fortschrittes  enthält. 

Die  Wirksamkeit  des  Einzelnen  ist  immer  eine  abgebrochene, 
aber,  dem  Anschein  nach  und  bis  auf  einen  gewissen  Punkt  auch 
in  Wahrheit,  eine  sich  mit  der  des  ganzen  Geschlechts  in  derselben 
Richtung  bewegende,  da  sie,  als  bedingt  und  wieder  bedingend, 
in  ungetrenntem  Zusammenhange  mit  der  vergangenen  und  nach- 
folgenden Zeit  steht.  In  andrer  Rücksicht  aber  und  ihrem  tiefer 
durchschauten  Wiesen  nach,  ist  die  Richtung  des  E^inzelnen  gegen 
die  des  ganzen  Geschlechts  doch  eine  divergirende ,  so  dass  das 
Gewebe  der  Weltgeschichte,  insofern  sie  den  innren  Menschen 
betrifft,  aus  diesen  beiden,  einander  durchkreuzenden,  aber  zu- 
gleich sich  eng  verkettenden  Richtungen  besteht.  Die  Divergenz 
ist  unmittelbar  daran  sichtbar,  dass  die  Schicksale  des  Geschlechts, 
unabhängig  von  dem  Hinschwinden  der  Generationen,  ungetrennt 
fortgehen,  wechselnd,  aber,  soviel  wir  es  übersehen  können,  doch 
im  Ganzen  in  steigender  Vollkommenheit,  der  Einzelne  dagegen 
nicht  bloss  und  oft  unerwartet  mitten  in  seinem  bedeutendsten 
Wirken  von  allem  Antheil  an  jenen  Schicksalen  ausscheidet,  son- 
dern auch  darum,  seinem  inneren  Bewusstseyn,  seinen  Ahndungen 
und  Leberzeugungen  nach,  doch  nicht  am  Ende  seiner  Laufbahn 
zu  stehen  glaubt.  Er  sieht  also  diese  als  von  dem  Gange  jener 
Schicksale  abgesondert  an,  und  es  entsteht  in  ihm,  auch  schon  im 
Leben,  ein  Gegensatz  der  Selbstbildung  und  derjenigen  Welt- 
gestaltung, mit  der  jeder  in  seinem  Kreise  in  die  Wirklichkeit  ein- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     8.     o"? 

greift.  Dass  dieser  Gegensatz  weder  der  Entwicklung  des  Ge- 
schlechts noch  der  individuellen  Bildung  verderblich  werde,  ver- 
bürgt die  Einrichtung  der  menschlichen  Natur.  Die  Selbstbildung 
kann  nur  an  der  Weltgestaltung  fortgehen,  und  über  sein  Leben 
hinaus  knüpfen  den  Menschen  Bedürfnisse  des  Herzens  und  Bilder 
der  Phantasie,  Familienbande,  Streben  nach  Ruhm,  freudige  Aus- 
sicht auf  die  Entwicklung  gelegter  Keime  in  folgenden  Zeiten  an 
die  Schicksale,  die  er  verlässt.  Es  bildet  sich  aber  durch  jenen 
Gegensatz,  und  liegt  demselben  sogar  ursprünglich  zum  Grunde 
eine  Innerlichkeit  des  Gemüths,  auf  welcher  die  mäclitigsten  und 
heiligsten  Gefühle  beruhen.  Sie  wirkt  um  so  eingreifender,  als 
der  Mensch  nicht  bloss  sich,  sondern  alle  seines  Geschlechts  als 
ebenso  bestimmt  zur  einsamen,  sich  über  das  Leben  hinaus  er- 
streckenden Selbstentwicklung  betrachtet,  und  als  dadurch  alle 
Bande,  die  Gemüth  an  Gemüth  knüpfen,  eine  andre  und  höhere 
Bedeutung  gewinnen.  Aus  den  verschiednen  Graden,  zu  welchen 
sich  jene,  das  Ich,  auch  selbst  in  der  Verknüpfung  damit,  doch 
von  der  Wirklichkeit  absondernde  Innerlichkeit  erhebt,  und  aus 
ihrer  mehr  oder  minder  ausschliesslichen  Herrschaft  entspringen 
für  alle  menschliche  Entwicklung  wichtige  Nuancen.  Indien  gerade 
giebt  von  der  Reinheit,  zu  welcher  sie  sich  zu  läutern  vermag, 
aber  auch  von  den  schroffen  Contrasten,  in  welche  sie  ausarten 
kann,  ein  merkwürdiges  Beispiel,  und  das  Indische  Alterthum 
lässt  sich  hauptsächlich  von  diesem  Standpunkte  aus  erklären.  Auf 
die  Sprache  übt  diese  Seelenstimmung  einen  besondren  Einfluss. 
Sie  gestaltet  sich  anders  in  einen!  Volke,  das  gern  die  einsamen 
Wege  abgezogenen  Nachdenkens  verfolgt,  und  in  Nationen,  die 
des  vermittelnden  Verständnisses  hauptsächlich  zu  äusserem  Treiben 
bedürfen.  Das  Symbolische  wird  ganz  anders  von  den  ersteren 
erfasst,  und  ganze  Theile  des  Sprachgebiets  bleiben  bei  den  letzteren 
unangebaut.  Denn  die  Sprache  muss  erst  durch  ein  noch  dunkles 
und  unentwickeltes  Gefühl  in  die  Kreise  eingeführt  werden,  über 
die  sie  ihr  Licht  ausgiessen  soll.  Wie  sich  dies  hier  abbrechende 
Dase}^  der  Einzelnen  mit  der  fortgehenden  Entwicklung  des  Ge- 
schlechts vielleicht  in  einer  uns  unbekannten  Region  vereinigt? 
bleibt  ein  undurchdringliches  Geheimniss.  Aber  die  Wirkung  des 
Gefühls  dieser  Undurchdringlichkeit  ist  vorzüglich  ein  wichtiges 
Moment  in  der  inneren  individuellen  Ausbildung,  indem  sie  die 
ehrfurchtsvolle  Scheu  vor  etwas  Unerkanntem  weckt,  das  doch 
nach   dem  Verschwinden   alles   Erkennbaren  übrigbleibt.     Sie   ist 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  3 


9A  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

dem  Eindruck  der  Nacht  vergleichbar,  in  der  auch  nur  das  einzeln 
zerstreute  Funkeln  uns  unbekannter  Körper  an  die  Stelle  alles  ge- 
wohnten Sichtbaren  tritt. 

Sehr  bedeutend  auch  wirkt  das  Fortgehen  der  Schicksale  des 
Geschlechts  und  das  Abbrechen  der  einzelnen  Generationen  durch 
die  verschiedne  Geltung,  welche  dadurch  für  jede  der  letzteren 
die  Vorzeit  bekommt.  Die  später  eintretenden  befinden  sich  gleich- 
sam und  vorzüglich  durch  die  Vervollkommnung  der  die  Kunde 
der  Vergangenheit  aulbewahrenden  Mittel  vor  eine  Bühne  gestellt, 
auf  welcher  sich  ein  reicheres  und  heller  erleuchtetes  Drama  ent- 
faltet. Der  fortreissende  Strom  der  Begebenheiten  versetzt  auch, 
scheinbar  zufällig,  Generationen  in  dunklere  und  in  verhängniss- 
schwerere, oder  in  hellere  und  leichter  zu  durchlebende  Perioden. 
Für  die  wirkliche,  lebendige,  individuelle  Ansicht  ist  dieser  Unter- 
schied minder  gross,  als  er  in  der  geschichtlichen  Betrachtung  er- 
scheint. Es  fehlen  viele  Punkte  der  Vergleichung,  man  erlebt  in 
jedem  Augenblick  nur  einen  Theil  der  Entwicklung,  greift  mit 
Genuss  und  Thätigkeit  ein,  und  die  Rechte  der  Gegenwart  führen 
über  ihre  Unebenheiten  hinweg.  Gleich  den  sich  aus  Nebel  hervor- 
ziehenden Wolken,  nimmt  ein  Zeitalter  erst  aus  der  Ferne  gesehen 
eine  rings  begränzte  Gestalt  an.  Allein  in  der  Einwirkung,  die 
jedes  auf  das  nachfolgende  ausübt,  wird  diejenige  deutlich,  welche 
es  selbst  von  seiner  Vorzeit  erfahren  hat.  Unsre  moderne  Bildung 
z.  B.  beruht  grossentheils  auf  dem  Gegensatz,  in  welchem  uns 
das  classische  Alterthum  gegenübersteht.  Es  würde  schwer  und 
betrübend  zu  sagen  seyn,  was  von  ihr  zurückbleiben  möchte,  wenn 
wir  uns  von  Allem  trennen  sollten,  was  diesem  Alterthum  angehört. 
Wenn  wir  den  Zustand  der  Völker,  die  dasselbe  ausmachten,  in 
allen  ihren  geschichtlichen  Einzelheiten  erforschen,  so  entsprechen 
auch  sie  nicht  eigentlich  dem  Bilde,  das  wir  von  ihnen  in  der 
Seele  tragen.  Was  auf  uns  die  mächtige  Wirkung  ausübt ,  ist 
unsre  Auffassung,  die  von  dem  Mittelpunkt  ihrer  grössten  und 
reinsten  Bestrebungen  ausgeht,  mehr  den  Geist,  als  die  Wirk- 
lichkeit ihrer  Einrichtungen  heraushebt,  die  contrastirenden  Punkte 
unbeachtet  lässt  und  keine,  nicht  mit  der  von  ihnen  aufgenommenen 
Idee  übereinstimmende  Forderung  an  sie  macht.  Zu  einer  solchen 
Auffassung  ihrer  Eigenthümlichkeit  führt  aber  keine  Willkühr.  Die 
Alten  berechtigen  zu  derselben;  sie  wäre  von  keinem  andren 
Zeitalter  möglich.  Das  tiefe  Gefühl  ihres  Wesens  verleiht  uns 
selbst  erst  die  Fähigkeit,  uns  zu  ihr  zu  erheben.    Weil  bei  ihnen 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     8.      o^ 

die  Wirklichkeit  immer  mit  glücklicher  Leichtigkeit  in  die  Idee 
und  die  Phantasie  übergieng  und  sie  mit  beiden  auf  dieselbe  zurück- 
wirkten, so  versetzen  wir  sie  mit  Recht  ausschliesslich  in  dies  Ge- 
biet. Denn  dem ,  auf  ihren  Schriften ,  ihren  Kunstwerken  und 
thatenreichen  Bestrebungen  ruhenden  Geiste  nach,  beschreiben  sie, 
wenn  auch  die  Wirklichkeit  bei  ihnen  nicht  überall  dem  entsprach, 
den  der  Menschheit  in  ihren  freiesten  Entwicklungen  angewiesenen 
Kreis  in  vollendeter  Reinheit,  Totalität  und  Harmonie  und  hinter- 
liessen  auf  diese  Weise  ein  auf  uns,  wie  erhöhte  Menschennatur, 
idealisch  wirkendes  Bild.  Wie  zwischen  sonnigem  und  bewölktem 
Himmel,  liegt  ihr  Vorzug  gegen  uns  nicht  sowohl  in  den  Gestalten 
des  Lebens  selbst,  als  in  dem  wundervollen  Licht,  das  sich  bei 
ihnen  über  sie  ergoss.  Den  Griechen  selbst,  wenn  man  auch  einen 
noch  so  grossen  Einfluss  früherer  Völker  auf  sie  annimmt,  fehlte 
eine  solche  Erscheinung,  die  ihnen  aus  der  Fremde  herüber- 
geleuchtet hätte,  offenbar  gänzlich.  In  sich  selbst  hatten  sie  etwas 
Aehnliches  in  den  Homerischen  und  den  sich  an  diese  anreihen- 
den Gesängen.  Wie  sie  uns  als  Natur  und  in  den  Gründen  ihrer 
Gestaltung  unerklärbar  erscheinen,  uns  Muster  der  Nacheiferung, 
Quelle  für  eine  grosse  Menge  von  Geistesbereicherungen  werden, 
so  war  für  sie  jene  dunkle  und  doch  in  so  einzigen  Vorbildern 
ihnen  entgegenstrahlende  Zeit.  Für  die  Römer  wurden  sie  nicht 
ebenso  zu  etwas  Aehnlichem,  als  sie  uns  sind.  Auf  die  Römer 
wirkten  sie  nur  als  eine  gleichzeitige,  höher  gebildete  Nation,  die 
eine  von  früher  Zeit  her  beginnende  Literatur  besitzt.  Indien 
geht  für  uns  in  zu  dunkle  Ferne  hinauf,  als  dass  wir  über  seine 
Vorzeit  zu  urtheilen  im  Stande  wären.  Auf  das  Abendland  wirkte 
es,  da  sich  eine  solche  Einwirkung  nicht  hätte  so  spurlos  ver- 
wischen lassen,  in  der  ältesten  Zeit  wenigstens  nicht  durch  die 
eigenthümliche  Form  seiner  Geisteswerke,  sondern  höchstens  durch 
einzelne  herübergekommene  Meinungen,  Erfindungen  und  Sagen. 
Wie  wichtig  aber  dieser  Unterschied  des  geistigen  Einflusses  der 
Völker  auf  einander  ist,  habe  ich  in  meiner  Schrift  über  die  Kawi- 
Sprache  (i.  Buch.  S.  i.  2.)  Gelegenheit  gehabt  näher  zu  berühren. 
Ihr  eignes  Alterthum  wird  den  Indiern  in  ähnlicher  Gestalt,  als 
den  Griechen  das  ihrige  erschienen  seyn.  Sehr  viel  deutlicher 
aber  ist  dies  in  China  durch  den  Einfluss  und  den  Gegensatz  der 
Werke  des  alten  Styls  und  der  darin  enthaltenen  philosophischen 
Lehre. 

Da   die  Sprachen    oder  wenigstens   ihre  Elemente   (ein  nicht 


oß  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

unbeachtet  zu  lassender  Unterschied)  von  einem  Zeitalter  dem 
anderen  überliefert  werden  und  wir  nur  mit  gänzlicher  Ueber- 
schreitung  unsres  Erfahrungsgebiets  von  neu  beginnenden  Sprachen 
reden  können,  so  greift  das  Verhältniss  der  Vergangenheit  zu  der 
Gegenwart  in  das  Tiefste  ihrer  Bildung  ein.  Der  Unterschied,  in 
welche  Lage  ein  Zeitalter  durch  den  Platz  gesetzt  wird,  den  es  in 
der  Reihe  der  uns  bekannten  einnimmt,  wird  aber  auch  bei  schon 
ganz  geformten  Sprachen  unendlich  mächtig,  weil  die  Sprache 
zugleich  eine  Auffassungsweise  der  gesammten  Denk-  und 
Empfindungsart  ist,  und  diese,  sich  einem  Volke  aus  entfernter 
Zeit  her  darstellend,  nicht  auf  dasselbe  einwirken  kann,  ohne  auch 
für  dessen  Sprache  einflussreich  zu  werden.  So  würden  unsre 
heutigen  Sprachen  doch  eine  in  mehreren  Stücken  andre  Gestalt 
angenommen  haben,  wenn,  statt  des  classischen  Alterthums,  das 
Indische  so  anhaltend  und  eindringlich  auf  uns  eingewirkt  hätte. 
Der  einzelne  Mensch  hängt  immer  mit  einem  Ganzen  zu- 
sammen, mit  dem  seiner  Nation,  des  Stammes,  zu  welchem  diese 
gehört,  und  des  gesammten  Geschlechts.  Sein  Leben,  von  welcher 
Seite  man  es  betrachten  mag,  ist  nothwendig  an  Geselligkeit  ge- 
knüpft, und  die  äussere  untergeordnete  und  innre  höhere  An- 
sicht führen  auch  hier,  wie  wir  es  in  einem  ähnlichen  Falle  weiter 
oben  gesehen  haben,  auf  denselben  Punkt  hin.  In  dem  gleich- 
sam nur  vegetativen  Daseyn  des  Menschen  auf  dem  Erdboden  treibt 
die  Hülfsbedürftigkeit  des  Einzelnen  zur  Verbindung  mit  Anderen 
und  fordert  zur  Möglichkeit  gemeinschaftlicher  Unternehmungen 
das  Verständniss  durch  Sprache.  Ebenso  aber  ist  die  geistige  Aus- 
bildung, auch  in  der  einsamsten  Abgeschlossenheit  des  Gemüths, 
nur  durch  diese  letztere  möglich,  und  die  Sprache  verlangt,  an 
ein  äusseres,  sie  verstehendes  Wesen  gerichtet  zu  werden.^)  Der 
articulirte  Laut  reisst  sich ")  aus  der  Brust  los ,  um  in  einem 
andren  Individuum  einen  zum  Ohre  zurückkehrenden  Anklang 
zu  wecken.  Zugleich  macht  dadurch  der  Mensch  die  Entdeckung, 
dass  es  Wesen  gleicher  innerer  Bedürfnisse  und  daher  fähig,  der 


V  Nach  „werden"  gestrichen:  „Ihr  wesentlichster  innerer  Zweck  ist  die  Ob- 
jectivirung  der  dunklen  und  verwirj-t  angeregten  Vorstellungen  in  dem,  einen  be- 
stimmten Begriff  darstellenden  Worte.  Diese  Objectivität  ist  aber  erst  vollendet, 
wenn  die  Gewissheit,  dass  der  Begriff  und  das  Wort  ebenso  von  einem  andern, 
gleich  selbstthätigen  Wesen  aufgenommen  worden  sind,  aus  der  Erwiedrung 
hervorgeht." 

^)  Nach  „sich"  gestrichen:  „daher  nur". 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     8.   9.     nn 

in  seinen  Empfindungen  liegenden  mannigfachen  Sehnsucht  zu 
begegnen,  um  ihn  her  giebt.  Denn  das  Ahnden  einer  Totalität 
und  das  Streben  danach  ist  unmittelbar  mit  dem  Gefühle  der 
Individualität  gegeben  und  verstärkt  sich  in  demselben  Grade,  als 
das  letztere  geschärft  wird,  da  doch  jeder  Einzelne  das  Gesammt- 
wesen  des  Menschen,  nur  auf  einer  einzelnen  Entwicklungsbahn, 
in  sich  trägt.  Wir  haben  auch  nicht  einmal  die  entfernteste  Ahn- 
dung eines  andren  als  eines  individuellen  Bewusstsej^ns.  Aber 
jenes  Streben  und  der  durch  den  Begriff  der  Menschheit  selbst 
in  uns  gelegte  Keim  unauslöschlicher  Sehnsucht  lassen  die  Ueber- 
zeugung  nicht  untergehen,  dass  die  geschiedne  Individualität 
überhaupt  nur  eine  Erscheinung  bedingten  Daseyns  geistiger 
Wesen  ist. 

Der  Zusammenhang  des  Einzelnen  mit  einem,  die  Kraft  und 
die  Anregung  verstärkenden  Ganzen  ist  ein  zu  wichtiger  Punkt 
in  der  geistigen  Oekonomie  des  Menschengeschlechts,  wenn  ich 
mir  diesen  Ausdruck  erlauben  darf,  als  dass  er  nicht  hier  hätte 
bestimmt  angedeutet  werden  müssen.  Die  allemal  zugleich  Ab- 
sonderung her\'-orrufende  Verbindung  der  Nationen  und  Volks- 
Stämme  hängt  allerdings  zunächst  von  geschichtlichen  Ereignissen, 
grossentheils  selbst  von  der  Beschaffenheit  ihrer  Wohn-  und 
Wanderungsplätze  ab.  Wenn  man  aber  auch,  ohne  dass  ich  diese 
Ansicht  geradezu  rechtfertigen  möchte,  allen  Einfluss  innerer,  auch 
nur  instinctartiger  Uebereinstimmung  oder  Abstossung  davon 
trennen  will ,  so  kann  und  muss  doch  jede  Nation ,  noch  abge- 
sondert von  ihren  äussren  A^erhältnissen,  als  eine  menschliche  In- 
dividualität, die  eine  innere  eigenthümliche  Geistesbahn  verfolgt, 
betrachtet  werden.  Je  mehr  man  einsieht,  dass  die  Wirksamkeit 
der  Einzelnen,  auf  welche  Stufe  sie  auch  ihr  Genius  gestellt  haben 
möchte,  doch  nur  in  dem  Grade  eingreifend  und  dauerhaft  ist,  in 
welchem  sie  zugleich  durch  den  in  ihrer  Nation  liegenden  Geist 
emporgetragen  werden,  und  diesem  wiederum  von  ihrem  Stand- 
punkte aus  neuen  Schwung  zu  ertheilen  vermögen,  desto  mehr 
leuchtet  die  Nothwendigkeit  ein,  den  Erklärungsgrund  unserer  heu- 
tigen Bildungsstufe  in  diesen  nationeilen  geistigen  Individualitäten  zu 
suchen.  Die  Geschichte  bietet  sie  uns  auch  überall,  wo  sie  uns 
die  Data  zur  Beurtheilung  der  innren  Bildung  der  Völker  über- 
liefert, in  bestimmten  Umrissen  dar.  Civilisation  und  Cultur  heben 
die  grellen  Contraste  der  Völker  allmählich  auf,  und  noch  mehr 
gelingt  das   Streben  nach  allgemeinerer  sittlicher  Form   der   tiefer 


og  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

eindringenden,  edleren  Bildung.  Damit  stimmen  auch  die  Fort- 
schritte der  Wissenschaft  und  Kunst  überein,  die  immer  nach  all- 
gemeineren, von  nationeilen  Ansichten  entfesselten  Idealen  hin- 
streben. Wenn  aber  das  Gleiche  gesucht  wird,  kann  es  doch  nur 
in  verschiednem  Geiste  errungen  werden,  und  die  Mannigfaltig- 
keit, in  welcher  sich  die  menschliche  Eigenthümlichkeit,  ohne 
fehlerhafte  Einseitigkeit,  auszusprechen  vermag,  geht  ins  Unend- 
liche. Gerade  von  dieser  Verschiedenheit  hängt  aber  das  GeHngen 
des  allgemein  Erstrebten  unbedingt  ab.  Denn  dieses  erfordert  die 
ganze,  ungetrennte  Einheit  der,  in  ihrer  Vollständigkeit  nie  zu  er- 
klärenden, aber  notwendig  in  ihrer  schärfsten  Individualität  wir- 
kenden Kraft.  Es  kommt  daher,  um  in  den  allgemeinen  Bildungs- 
gang fruchtbar  und  mächtig  einzugreifen,  in  einer  Nation  nicht 
allein  auf  das  Gelingen  in  einzelnen  wissenschaftlichen  Bestrebungen, 
sondern  vorzüglich  auf  die  gesammte  Anspannung  in  demjenigen 
an,  was  den  Mittelpunkt  des  menschlichen  Wesens  ausmacht,  sich 
am  klarsten  und  vollständigsten  in  der  Philosophie,  Dichtung  und 
Kunst  ausspricht  und  sich  von  da  aus  über  die  ganze  Vorstellungs- 
weise und  Sinnesart  des  Volkes  ergiesst. 

Vermöge  des  hier  betrachteten  Zusammenhangs  des  Einzelnen 
mit  der  ihn  umgebenden  Masse  gehört,  jedoch  nur  mittelbar 
und  gewissermassen,  jede  bedeutende  Geistesthätigkeit  des  ersteren 
zugleich  auch  der  letzteren  an.  Das  Daseyn  der  Sprachen  beweist 
aber,  dass  es  auch  geistige  Schöpfungen  giebt,  welche  ganz  und 
gar  nicht  von  Einem  Individuum  aus  auf  die  übrigen  übergehen, 
sondern  nur  aus  der  gleichzeitigen  Selbstthätigkeit  Aller  hervor- 
brechen können.  In  den  Sprachen  also  sind,  da  dieselben  immer 
eine  nationeile  Form  haben,  die  Nationen,  als  solche,  eigentlich 
und  unmittelbar  schöpferisch. 

Doch  muss  man  sich  wohl  hüten,  diese  Ansicht  ohne  die  ihr 
gebührende  Beschränkung  aufzufassen.  Da  die  Sprachen  unzer- 
trennlich mit  der  innersten  Natur  des  Menschen  verwachsen  sind 
und  weit  mehr  selbstthätig  aus  ihr  hervorbrechen,  als  willkührlich 
von  ihr  erzeugt  werden,  so  könnte  man  die  intellectuelle  Eigen- 
thümlichkeit der  Völker  ebensowohl  ihre  Wirkung  nennen.  Die 
Wahrheit  ist,  dass  beide  zugleich  und  in  gegenseitiger  Ueberein- 
stimmung  aus  unerreichbarer  Tiefe  des  Gemüths  hervorgehen. 
Aus  der  Erfahrung  kennen  wir  eine  solche  Sprachschöpfung  nicht, 
es  bietet  sich  uns  auch  nirgends  eine  Analogie  zu  ihrer  Beurtheilung 
dar.    W^enn  wir  von   ursprünglichen  Sprachen  reden,   so  sind  sie 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     9.      qq 

dies  nur  für  unsre  Unkenntniss  ihrer  früheren  Bestandtheile.  Eine 
zusammenhängende  Kette  von  Sprachen  hat  sich  Jahrtausende  lang 
fortgewälzt,  ehe  sie  an  den  Punkt  gekommen  ist,  den  unsre 
dürftige  Kunde  als  den  ältesten  bezeichnet.  Nicht  bloss  aber  die 
primitive  Bildung  der  wahrhaft  ursprünglichen  Sprache,  sondern 
auch  die  secundären  Bildungen  späterer,  die  wir  recht  gut  in  ihre 
Bestandtheile  zu  zerlegen  verstehen,  sind  uns,  gerade  in  dem 
Punkte  ihrer  eigentlichen  Erzeugung,  unerklärbar.  Alles  Werden 
in  der  Natur,  vorzüglich  aber  das  organische  und  lebendige  ent- 
zieht sich  unsrer  Beobachtung.  Wie  genau  wir  die  vorbereitenden 
Zustände  erforschen  mögen,  so  befindet  sich  zwischen  dem  letzten 
und  der  Erscheinung  immer  die  Kluft,  welche  das  Etwas  vom 
Nichts  trennt;  und  ebenso  ist  es  bei  dem  Momente  des  Aufhörens. 
Alles  Begreifen  des  Menschen  liegt  nur  in  der  Mitte  von  beiden. 
In  den  Sprachen  liefert  uns  eine  Entstehungs-Epoche,  aus  ganz  zu- 
gänglichen Zeiten  der  Geschichte,  ein  auffallendes  Beispiel.  Man 
kann  einer  vielfachen  Reihe  von  Veränderungen  nachgehen,  welche 
die  Römische  Sprache  in  ihrem  Sinken  und  Untergang  erfuhr, 
man  kann  ihnen  die  Mischungen  durch  einwandernde  Völker- 
haufen hinzufügen :  man  erklärt  sich  darum  nicht  besser  das  Ent- 
stehen des  lebendigen  Keims,  der  in  verschiedenartiger  Gestalt  sich 
wieder  zum  Organismus  neu  aufblühender  Sprachen  entfaltete.  Ein 
inneres,  neu  entstandenes  Princip  fügte,  in  jeder  auf  eigne  Art, 
den  zerfallenden  Bau  wieder  zusammen ,  und  wir,  die  wir  uns 
immer  nur  auf  dem  Gebiete  seiner  Wirkungen  befinden,  werden 
seiner  Umänderungen  nur  an  der  Masse  derselben  gewahr.  Es 
mag  daher  scheinen,  dass  man  diesen  Punkt  lieber  ganz  unberührt 
Hesse.  Dies  ist  aber  unmöglich,  wenn  man  den  Entwicklungsgang 
des  menschlichen  Geistes  auch  nur  in  den  gröbsten  Umrissen  zeichnen 
will,  da  die  Bildung  der  Sprachen,  auch  der  einzelnen  in  allen 
Arten  der  Ableitung  oder  Zusammensetzung,  eine  denselben  am 
wesentlichsten  bestimmende  Thatsache  ist,  und  sich  in  dieser  das 
Zusammenwirken  der  Individuen  in  einer  sonst  nicht  vorkommen- 
Gestalt  zeigt.  Indem  man  also  bekennt,  dass  man  an  einer  Gränze 
steht,  über  welche  weder  die  geschichtliche  Forschung,  noch  der 
freie  Gedanke  hinüberzuführen  vermögen,  muss  man  doch  die 
Thatsache  und  die  unmittelbaren  Folgerungen  aus  derselben  getreu 
aufzeichnen. 

Die  erste  und  natürlichste  von  diesen  ist,  dass  jener  Zusammen- 
hang des  Einzelnen  mit  seiner  Nation  gerade  in  dem  Mittelpunkte 


Ao  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

ruht,  von  w^elchem  aus  die  gesammte  geistige  Kraft  alles  Denken, 
Empfinden  und  Wollen  bestimmt.  Denn  die  Sprache  ist  mit  Allem 
in  ihr,  dem  Ganzen  wie  dem  Einzelnen  verwandt,  nichts  davon 
ist  oder  bleibt  ihr  je  fremd.  Sie  ist  zugleich  nicht  bloss  passiv, 
Eindrücke  empfangend,^)  sondern  folgt  aus  der  unendlichen 
Mannigfaltigkeit  möglicher  intellectueller  Richtungen  Einer  be- 
stimmten und  modificirt  durch  innre  Selbstthätigkeit  jede  auf  sie 
geübte  äussre  Einwirkung.  Sie  kann  aber  gegen  die  Geistes- 
eigenthümlichkeit  gar  nicht  als  etwas  von  ihr  äusserlich  Geschie- 
denes angesehen  werden  und  lässt  sich  daher,  wenn  es  auch  auf 
den  ersten  Anblick  anders  erscheint,  nicht  eigentlich  lehren,  sondern 
nur  im  Gemüthe  wecken,  man  kann  ihr  nur  den  Faden  hingeben, 
an  dem  sie  sich  von  selbst  entwickelt.  Indem  die  Sprachen  nun 
also  in  dem  von  allem  Misverständniss  befreiten  Sinne  des  Worts  *) 
Schöpfungen  der  Nationen  sind,  bleiben  sie  doch  Selbst 
Schöpfungen  der  Individuen,  indem  sie  sich  nur  in  jedem  Ein- 
zelnen, in  ihm  aber  nur  so  erzeugen  können,  dass  jeder  das  Ver- 
ständniss  aller  voraussetzt  und  alle  dieser  Erwartung  genügen. 
Mag  man  nun  die  Sprache  als  eine  Weltanschauung  oder  als  eine 
Gedankenverknüpfung,  da  sie  diese  beiden  Richtungen  in  sich  ver- 
einigt, betrachten,  so  beruht  sie  immer  nothwendig  auf  der  Ge- 
sammtkraft  des  Menschen ;  es  lässt  sich  nichts  von  ihr  ausschliessen, 
da  sie  alles  umfasst. 

Diese  Kraft  nun  ist  in  den  Nationen,  sowohl  überhaupt,  als  in 
verschiednen  Epochen,  dem  Grade  und  der  in  der  gleichen  all- 
gemeinen Richtung  möglichen  eigenen  Bahn  nach,  individuell  ver- 
schieden. Die  Verschiedenheit  muss  aber  an  dem  Resultate,  der 
Sprache,  sichtbar  werden,  und  wird  es  natürlich  vorzüglich  durch 
das  Ueberge wicht  der  äussren  Einwirkung  oder  der  innren 
Selbstthätigkeit.  Es  tritt  daher  auch  hier  der  Fall  ein,  dass,  wenn 
man  die  Reihe  der  Sprachen  vergleichend  verfolgt,  die  Erklärung 
des  Baues  der  einen  aus  der  andren  mehr  oder  minder  leichten 
Fortgang  gewinnt,  allein  auch  Sprachen  dastehen,  die  durch  eine 
wirkliche  Kluft  von   den   übrigen  getrennt  erscheinen.    Wie  Indi- 


*)  Man  vergleiche  oben  S.   l6.   17.  unten  §.  35. 

V  „mit  allem  —  empfangend"  verbessert  aus  „kein  Werk  des  vollendet  da- 
stehenden menschlichen  Vermögens,  sie  ist  eine  Nothwendigkeit  iinsrer  Intellec- 
iualität,  zugleich  unwillkührlich,  da  sie  nicht  zurückgedrängt  werden  kann,  aber 
ein  evidenter  Act  der  Freiheit". 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.    9.  10.     AI 

viduen  durch  die  Kraft  ihrer  Eigenthümlichkeit  dem  menschlichen 
Geiste  einen  neuen  Schwung  in  bis  dahin  unentdeckt  gebliebener 
Richtung  ertheiien,  so  können  dies  Nationen  der  Sprachbildung. 
Zwischen  dem  Sprachbaue  aber  und  dem  Gelingen  aller  andren 
Arten  intellectueller  Thätigkeit  besteht  ein  unläugbarer  Zusammen- 
hang. Er  liegt  vorzüglich,  und  wir  betrachten  ihn  hier  allein  von 
dieser  Seite,  in  dem  begeisternden  Hauche,  den  die  sprachbildende 
Kraft  der  Sprache  in  dem  Acte  der  Verwandlung  der  Welt  in 
Gedanken  dergestalt  einflösst,  dass  er  sich  durch  alle  Theile  ihres 
Gebietes  harmonisch  verbreitet.  Wenn  man  es  als  möglich  denken 
kann,  dass  eine  Sprache  in  einer  Nation  gerade  auf  die  Weise  ent- 
steht, wie  sich  das  Wort  am  sinnvollsten  und  anschaulichsten  aus 
der  Weltansicht  entwickelt,  sie  am  reinsten  wieder  darstellt  und 
sich  selbst  so  gestaltet,  um  in  jede  Fügung  des  Gedanken  am 
leichtesten  und  am  körperlosesten  einzugehen;  so  muss  diese 
Sprache,  so  lange  sich  nur  irgend  ihr  Lebensprincip  erhält,  dieselbe 
Kraft  in  derselben  Richtung  gleich  gelingend  in  jedem  Einzelnen 
hervorrufen.  Der  Eintritt  einer  solchen  oder  auch  nur  einer  ihr 
nahe  kommenden  Sprache  in  die  Weltgeschichte  muss  daher  eine 
wichtige  Epoche  in  dem  menschlichen  Entwicklungsgange  und 
gerade  in  seinen  höchsten  und  wundervollsten  Erzeugungen  be- 
gründen. Gewisse  Bahnen  des  Geistes  und  ein  gewisser,  ihn  auf 
denselben  forttragender  Schwung  lassen  sich  nicht  denken,  ehe 
solche  Sprachen  entstanden  sind.  Sie  machen  daher  einen  wahren 
Wendepunkt  in  der  inneren  Geschichte  des  Menschengeschlechts 
aus ;  wenn  man  sie  als  den  Gipfel  der  Sprachbildung  ansehen 
muss,  so  sind  sie  die  Anfangsstufe  seelenvoller  und  phantasie- 
reicher Bildung,  und  es  ist  insofern  ganz  richtig  zu  behaupten, 
dass  das  Werk  der  Nationen  den  Werken  der  Individuen  voraus- 
gehen müsse,  obgleich  gerade  das  hier  Gesagte  unumstösslich  be- 
weist, wie  gleichzeitig  in  diesen  Schöpfungen  die  Thätigkeit  beider 
in  einander  verschlungen  ist. 

Uebergang    zur    näheren    Betrachtung    der    Sprache. 

Wir  sind  jetzt   bis  zu  dem  Punkte  gelangt,   auf  dem  wir  in  lo. 
der  primitiven  Bildung  des  Menschengeschlechts  die  Sprachen  als 
die  erste  nothwendige  Stufe  erkennen,  von  der  aus  die  Nationen 
erst  jede   höhere   menschliche  Richtung   zu   verfolgen   im  Stande 
sind.     Sie  wachsen  auf  gleich  bedingte  Weise  mit  der  Geisteskraft 


A2  1.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

empor  und  bilden  zugleich  das  belebend  anregende  Princip  der- 
selben. Beides  aber  geht  nicht  nach  einander  und  abgesondert 
vor  sich,  sondern  ist  durchaus  und  unzertrennlich  dieselbe  Hand- 
lung des  intellectuellen  Vermögens.  Indem  ein  Volk  der  Ent- 
wicklung seiner  Sprache,  als  des  Werkzeuges  jeder  menschlichen 
Thätigkeit  in  ihm,  aus  seinem  Inneren  Freiheit  erschafft,  sucht 
und  erreicht  es  zugleich  die  Sache  selbst,  also  etwas  Anderes  und 
Höheres;  und  indem  es  auf  dem  Wege  dichterischer  Schöpfung 
und  grübelnder  Ahndung  dahin  gelangt,  wirkt  es  zugleich  wieder 
auf  die  Sprache  zurück.  Wenn  man  die  ersten,  selbst  rohen  und 
ungebildeten  Versuche  des  intellectuellen  Strebens  mit  dem  Namen 
der  Literatur  belegt,  so  geht  die  Sprache  immer  den  gleichen 
Gang  mit  ihr,  und  so  sind  beide  unzertrennlich  mit  einander  ver- 
bunden. 

Die  Geisteseigenthümlichkeit  und  die  Sprachgestaltung  eines 
Volkes  stehen  in  solcher  Innigkeit  der  Verschmelzung  in  einander, 
dass,  wenn  die  eine  gegeben  wäre,  die  andre  müsste  vollständig 
aus  ihr  abgeleitet  werden  können.  Denn  die  Intellectualität  und 
die  Sprache  gestatten  und  befördern  nur  einander  gegenseitig  zu- 
sagende Formen.  Die  Sprache  ist  gleichsam  die  äusserliche  Er- 
scheinung des  Geistes  der  Völker;  ihre  Sprache  ist  ihr  Geist  und 
ihr  Geist  ihre  Sprache,  man  kann  sich  beide  nie  identisch  genug 
denken.  Wie  sie  in  Wahrheit  mit  einander  in  einer  und  eben- 
derselben, unserem  Begreifen  unzugänglichen  Quelle  zusammen- 
kommen, bleibt  uns  unerklärlich  verborgen.  Ohne  aber  über  die 
Priorität  der  einen  oder  andren  entscheiden  zu  wollen,  müssen 
wir  als  das  reale  Erklärungsprincip  und  als  den  wahren  Be- 
stimmungsgrund der  Sprachverschiedenheit  die  geistige  Kraft  der 
Nationen  ansehen,  weil  sie  allein  lebendig  selbstständig  vor  uns 
steht,  die  Sprache  dagegen  nur  an  ihr  haftet.  Denn  insofern  sich 
auch  diese  uns  in  schöpferischer  Selbstständigkeit  offenbart,  verliert 
sie  sich  über  das  Gebiet  der  Erscheinungen  hinaus  in  ein  ideales 
Wesen.  Wir  haben  es  historisch  nur  immer  mit  dem  wirklich 
sprechenden  Menschen  zu  thun,  dürfen  aber  darum  das  wahre 
Verhältniss  nicht  aus  den  Augen  lassen.  Wenn  wir  Intellectualität 
und  Sprache  trennen,  so  existirt  eine  solche  Scheidung  in  der 
Wahrheit  nicht.  Wenn  uns  die  Sprache  mit  Recht  als  etwas 
Höheres  erscheint,  als  dass  sie  für  ein  menschliches  Werk,  gleich 
andren  Geisteserzeugnissen,  gelten  könnte;  so  würde  sich  dies 
anders  verhalten,  wenn  uns  die  menschliche  Geisteskraft  nicht  bloss 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     lo.   ii.     ao 

in  einzelnen  Erscheinungen  begegnete,  sondern  ihr  Wesen  selbst 
uns  in  seiner  unergründlichen  Tiefe  entgegenstrahlte  und  wir  den 
Zusammenhang  der  menschlichen  Individualität  einzusehen  ver- 
möchten, da  auch  die  Sprache  über  die  Geschiedenheit  der  Indi- 
viduen hinausgeht.  Für  die  praktische  Anwendung  besonders 
wichtig  ist  es  nur,  bei  keinem  niedrigeren  Erklärungsprincipe  der 
Sprachen  stehen  zu  bleiben,  sondern  wirklich  bis  zu  diesem  höchsten 
und  letzten  hinaufzusteigen  und  als  den  festen  Punkt  der  ganzen 
geistigen  Gestaltung  den  Satz  anzusehen,  dass  der  Bau  der  Sprachen 
im  Menschengeschlechte  darum  und  insofern  verschieden  ist,  weil 
und  als  es  die  Geisteseigenthümlichkeit  der  Nationen  selbst  ist. 

Gehen  wir  aber,  wie  wir  uns  nicht  entbrechen  können  zu 
thun,  in  die  Art  dieser  Verschiedenheit  der  einzelnen  Gestaltung 
des  Sprachbaues  ein,  so  können  wir  nicht  mehr  die  Erforschung 
der  geistigen  Eigenthümlichkeit ,  erst  abgesondert  für  sich  ange- 
stellt, auf  die  Beschaffenheiten  der  Sprache  anwenden  wollen.  In 
den  frühen  Epochen,  in  welche  uns  die  gegenwänigen  Betrach- 
tungen zurückversetzen,  kennen  wir  die  Nationen  überhaupt  nur 
durch  ihre  Sprachen,  wissen  nicht  einmal  immer  genau,  welches 
Volk  wir  uns,  der  Abstammung  und  "\"erknüpfung  nach,  bei  jeder 
Sprache  zu  denken  haben.  So  ist  das  Zend  wirklich  für  uns  die 
Sprache  einer  Nation,  die  wir  nur  auf  dem  Wege  der  Vermuthung 
genauer  bestimmen  können.  Unter  allen  Aeusserungen,  an  welchen 
Geist  und  Charakter  erkennbar  sind,  ist  aber  die  Sprache  auch 
die  allein  geeignete,  beide  bis  in  ihre  geheimsten  Gänge  und  Falten 
darzulegen.  Wenn  man  also  die  Sprachen  als  einen  Erklärungs- 
grund der  successiven  geistigen  Entwicklung  betrachtet,  so  muss 
man  zwar  dieselben  als  durch  die  intellectuelle  Eigenthümlichkeit 
entstanden  ansehen,  allein  die  Art  dieser  Eigenthümlichkeit  bei 
jeder  einzelnen  in  ihrem  Baue  aufsuchen,  so  dass,  wenn  die  hier 
eingeleiteten  Betrachtungen  zu  einiger  \^ollständigkeit  durchgeführt 
werden  sollen,  es  uns  jetzt  obliegt,  in  die  Natur  der  Sprachen  und 
die  Möglichkeit  ihrer  rückwirkenden  ^^erschiedenheiten  näher  ein- 
zugehen, um  auf  diese  Weise  das  vergleichende  Sprachstudium  an 
seinen  letzten  und  höchsten  Beziehungspunkt  anzuknüpfen. 

Form  der  Sprachen. 

^)Es  gehört  aber  allerdings   eine   eigne  Richtung  der  Sprach- u. 
forschung  dazu,   den  im  Obigen  vorgezeichneten  Weg  mit  Glück 

V  Vor  „Es"  ist  folgender  Absatz  gestrichen:  „Wenn  wir  hier  die  Erkennt- 


AA  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

ZU  verfolgen.  Man  muss  die  Sprache  nicht  sowohl  wie  ein  todtes 
Erzeugtes,  sondern  weit  mehr  wie  eine  Erzeugung  ansehen,  mehr 
von  demjenigen  abstrahiren,  was  sie  als  Bezeichnung  der  Gegen- 
stände und  Vermittlung  des  Verständnisses  wirkt,  und  dagegen 
sorgfältiger  auf  ihren  mit  der  innren  Geistesthätigkeit  eng  ver- 
webten Ursprung  und  ihren  gegenseitigen  Einfluss  zurückgehen. 
Die  Fortschritte,  welche  das  Sprachstudium  den  gelungenen 
Bemühungen  der  letzten  Jahrzehnde  ^)  verdankt ,  erleichtern  die 
Uebersicht  desselben  in  der  Totalität  seines  Umfangs.^)  Man  kann 
nun  dem  Ziele  näher  rücken,  die  einzelnen  Wege  anzugeben,  auf 
welchen  in  den  mannigfach  abgetheilten,  isolirten  und  verbundenen 
Völkerhaufen  des  Menschengeschlechts  das  Geschäft  der  Sprach- 
erzeugung zur  Vollendung  gedeiht.  Hierin  aber  liegt  gerade  so- 
wohl die  Ursach  der  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprach- 
baues, als  ihr  Einfluss  auf  den  Entwicklungsgang  des  Geistes,  also 
der  ganze  uns  hier  beschäftigende  Gegenstand. 

Gleich  bei  dem  ersten  Betreten  dieses  Forschungsweges  stellt 
sich  uns  jedoch  eine  wichtige  Schwierigkeit  in  den  Weg.  Die 
Sprache  bietet  uns  eine  Unendlichkeit  von  Einzelnheiten  dar,  in 
Wörtern,  Regeln,  Analogieen  und  Ausnahmen  aller  Art,  und  wir 
gerathen  in  nicht  geringe  Verlegenheit,  wie  wir  diese  Menge,  die 


tiiss  der  nationellen  Geisteskraft  ausserhalb  der  Sprache  aufsuchen  wollten,  würden 
wir  nicht  allein  etwas  unmögliches  unternehmen,  sondern  auch  vergebens  diese 
Kraft  als  das  oberste  Erklärung sprincip  der  Sprachen  ansehen,  so  unumstösslich 
gewiss  auch  diese  Ansicht  übrigens  ist.  In  der  frühen  Epoche,  in  welche  uns  die 
gegenwärtigen  Betrachtungen  zurückversetzen,  kennen  wir  die  Nationen  überhaupt 
nicht  anders,  als  durch  ihre  Sprachen.  Wie  viele  andre  Angaben  aber  wir  auch 
über  ihren  intellectuellen  Chat-akter  besitzen  möchten,  so  könnten  uns. doch  die  hier 
in  Betrachtung  kommenden  Seiten  desselben  nur  in  ihren  Wirkungen,  dem  Baue 
der  Sprache,  offenbar  werden.  Es  liegt  auch  kein  irre  führender  Cirkel  darin,. 
diesen  als  das  Werk  der  Geisteskraft  des  Volkes  anzusehen  und  zugleich  die 
letztere  erst  aus  ihm  erkennen  zu  wollen.  Denn  da  jene  eigenthümliche  Kraft 
sich  nur  an  der  Leitung  und  Mithülfe  der  Sprache  entwickelt,  so  kann  diese  kein 
andres  Gepräge,  als  das  ihrige  an  sich  tragen." 

^)  „der  letzten  Jahrzehnde"  verbessert  aus  „einiger  trefflichen  und  für 
dasselbe  glücklich  organisirten  Köpfe,  unter  welchen  Grimm  und  Bopp  die  erste 
Stelle  gebührt". 

^)  Nach  „Umfangs"  gestrichen:  „Man  hat  nicht  nur  die  Analogieen  der 
wichtigsten  Sprachstämme  in  ihrem  vollständigen  Zusammenhange  dargelegt, 
sondern  auch  die  Gründe  der  Erscheinungen  bis  in  die  Eigenthümlichkeiten  und 
Verwandtschaften  der  einzelnen  Laute  erforscht.  Es  ist  nun  möglich,  dies  in  die 
einfachen  Formen  der  Sprachen  zusammenzufassen,  und". 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.      II.   12.     ac 

uns,  der  schon  in  sie  gebrachten  Anordnung  ungeachtet,  doch 
noch  als  verwirrendes  Chaos  erscheint,  mit  der  Einheit  des  Bildes 
der  menschlichen  Geisteskraft  in  beurtheilende  Vergleichung  bringen 
sollen.  Wenn  man  sich  auch  im  Besitze  alles  nöthigen  lexicalischen 
und  grammatischen  Details  zweier  wichtigen  Sprachstämme,  z.  B. 
des  Sanskritischen  und  Semitischen,  befindet ;  so  wird  man  dadurch 
doch  noch  wenig  in  dem  Bemühen  gefördert,  den  Charakter  eines 
jeden  von  beiden  in  so  einfache  Umrisse  zusammenzuziehen,  dass 
dadurch  eine  fruchtbare  \"ergleichung  derselben  und  die  Bestimmung 
der  ihnen,  nach  ihrem  ^^erhältniss  zur  Geisteskraft  der  Nationen, 
gebührenden  Stelle  in  dem  allgemeinen  Geschäfte  der  Sprach- 
erzeugung möglich  wird.  Dies  erfordert  noch  ein  eignes  Auf- 
suchen der  gemeinschaftlichen  Quellen  der  einzelnen  Eigenthüm- 
lichkeiten,  das  Zusammenziehen  der  zerstreuten  Züge  in  das  Bild 
eines  organischen  Ganzen.  Erst  dadurch  gewinnt  man  eine  Hand- 
habe, an  der  man  die  Einzelnheiten  festzuhalten  vermag.^)  Um 
daher  verschiedne  Sprachen  in  Bezug  auf  ihren  charakteristischen 
Bau  fruchtbar  mit  einander  zu  vergleichen,  muss  man  der  Form 
einer  jeden  derselben  sorgfältig  nachforschen  und  sich  auf  diese 
Weise  vergewissern,  aufweiche  Art  jede  die  hauptsächlichen  Fragen 
löst,  welche  aller  Spracherzeugung  als  Aufgaben  vorliegen.  Da 
aber  dieser  Ausdruck  der  Form  in  Sprachuntersuchungen  in 
mehrfacher  Beziehung  gebraucht  wird,  so  glaube  ich  ausführlicher 
entwickeln  zu  müssen,  in  welchem  Sinne  ich  ihn  hier  genommen 
wünsche.  Dies  erscheint  um  so  nothwendiger,  als  wir  hier  nicht 
von  der  Sprache  überhaupt,  sondern  von  den  einzelnen  ver- 
schiedner  Völkerschaften  reden,  und  es  daher  auch  darauf  an- 
kommt, abgränzend  zu  bestimmen,  was  unter  einer  einzelnen 
Sprache,  im  Gegensatz  auf  der  einen  Seite  des  Sprachstammes, 
auf  der  andren  des  Dialektes,  und  was  unter  Einer  da  zu  ver- 
stehen ist,  wo  die  nemliche  in  ihrem  Verlaufe  wesentliche  Ver- 
änderungen erfährt. 

Die  Sprache,  in  ihrem  wirklichen  Wesen  aufgefasst,  ist  etwas  12. 
beständig  und    in   jedem   Augenblicke   Vorübergehendes.      Selbst 
ihre  Erhaltung  durch  die  Schrift  ist  immer  nur  eine  unvollständige, 
mumienartige  Aufbewahrung,  die  es  doch  erst  wieder  bedarf,  dass 


V  Nach  „vermag"  gestrichen:  „und  in  der  That  lassen  sich  die  Sprachen, 
da  sie  aus  dem  Organismus  der  Seelenkräße  hervorgehen,  nach  den  Gesetzen 
organischer  Wesen  behandeln." 


aQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

man  dabei  den  lebendigen  Vortrag  zu  versinnlichen  sucht.  Sie 
selbst  ist  kein  Werk  (Ergon),  sondern  eine  Thätigkeit  (Energeia). 
Ihre  wahre  Definition  kann  daher  nur  eine  genetische  seyn.  Sie 
ist  nemlich  die  sich  ewig  wiederholende  Arbeit  des  Geistes,  den 
articulirten  Laut  zum  Ausdruck  des  Gedanken  fähig  zu  machen. 
Unmittelbar  und  streng  genommen,  ist  dies  die  Definition  des 
jedesmaligen  Sprechens;  aber  im  wahren  und  wesentlichen  Sinne 
kann  man  auch  nur  gleichsam  die  Totalität  dieses  Sprechens  als 
die  Sprache  ansehen.  Denn  in  dem  zerstreuten  Chaos  von  Wörtern 
und  Regeln,  welches  wir  wohl  eine  Sprache  zu  nennen  pflegen, 
ist  nur  das  durch  jenes  Sprechen  hervorgebrachte  Einzelne  vor- 
handen und  dies  niemals  vollständig,  auch  erst  einer  neuen  Arbeit 
bedürftig,  um  daraus  die  Art  des  lebendigen  Sprechens  zu  er- 
kennen und  ein  wahres  Bild  der  lebendigen  Sprache  zu  geben. 
Gerade  das  Höchste  und  Feinste  lässt  sich  an  jenen  getrennten 
Elementen  nicht  erkennen  und  kann  nur  (was  um  so  mehr  be- 
weist, dass  die  eigentliche  Sprache  in  dem  Acte  ihres  wirklichen 
Hervorbringens  liegt)  in  der  verbundenen  Rede  wahrgenommen 
oder  geahndet  werden.  Nur  sie  muss  man  sich  überhaupt  in 
allen  Untersuchungen,  welche  in  die  lebendige  Wesenheit  der 
Sprache  eindringen  sollen,  immer  als  das  Wahre  und  Erste  denken. 
Das  Zerschlagen  in  Wörter  und  Regeln  ist  nur  ein  todtes  Mach- 
werk wissenschaftlicher  Zergliederung. 

Die  Sprachen  als  eine  Arbeit  des  Geistes  zu  bezeichnen,  ist 
schon  darum  ein  vollkommen  richtiger  und  adäquater  Ausdruck, 
weil  sich  das  Daseyn  des  Geistes  überhaupt  nur  in  Thätigkeit  und 
als  solche   denken  lässt.  ^)    Die  zu   ihrem  Studium  unentbehrliche 


V  Nach  „lässt"  gestrichen:  „Die  Misdeutung  muss  man  aber  allerdings 
vermeiden,  sich  darunter  eine  mit  Bewusstseyn  und  auch  im  Einzelnen  des  Ver- 
fahrens allmählich  vorgehende  Arbeit  vorzustellen.  Dies  passt  gerade  durchaus 
nicht  auf  die  Sprache,  und  will  man  diese  Seite  ihrer  imerklärlichen  Selbstständig- 
keit an  ihr  herausheben,  so  muss  man  sie  nicht  eine  Arbeit  oder  Thätigkeit,  sondern 
eine,  wenn  man  die  augenblickliche  Bildung  beachtet,  gleichsam  umvillkührliche 
Emanation  des  Geistes  nennen.  Sie  ist  nicht  sowohl  ein  Werk  der  Nationen,  als 
eine  ihnen  durch  ihr  inneres  Geschick  zugefallene  Gabe;  sie  besitzen  sie,  ohne  zu 
wissen,  wie  sie  dieselbe  gebildet  haben.  Die  Sprache  kann  und  muss  sogar  als 
die  äusserliche  Erscheinung  des  Geistes  der  Völker  angesehen  werden,  ihre  Sprache 
ist  ihr  Geist  und  ihr  Geist  ihre  Sprache;  man  kann  sich  beide  nie  identisch  genug 
denken.  Die  Sprache  auf  diese  Weise  und  ausführlicher  zu  charakterisiren,  sind 
wir  schon  oben  (S.  40.J  veranlasst  worden,  wo  wir  den  Antheil  zu  bestimmen  ver- 
suchten, den  die  Individuen  und  die  Nationen  an  ihrem  Entstehen  nehmen." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     12.     An 

Zergliederung  ihres  Baues  nöthigt  uns  sogar  sie  als  ein  Verfahren 
2U  betrachten,  das  durch  bestimmte  Mittel  zu  bestimmten  Zwecken 
vorschreitet,  und  sie  insofern  wirklich  als  Bildungen  der  Nationen 
anzusehen.  Der  hierbei  möglichen  Misdeutung  ist  schon'  oben*) 
hinlänglich  vorgebeugt  worden,  und  so  können  jene  Ausdrücke 
der  Wahrheit  keinen  Eintrag  thun. 

Ich  habe  schon  im  Obigen  (S.  3g.)  darauf  aufmerksam  ge- 
macht, dass  wir  uns,  w^enn  ich  mich  so  ausdrücken  darf,  mit 
unsrem  Sprachstudium  durchaus  in  eine  geschichtliche  Mitte  ver- 
setzt befinden,  und  dass  weder  eine  Nation  noch  eine  Sprache 
unter  den  uns  bekannten  ursprünglich  genannt  werden  kann.  Da 
jede  schon  einen  Stoff  von  früheren  Geschlechtern  aus  uns  unbe- 
kannter Vorzeit  empfangen  hat,  so  ist  die,  nach  der  obigen  Er- 
klärung, den  Gedankenausdruck  hervorbringende  geistige  Thätig- 
keit  immer  zugleich  auf  etwas  schon  Gegebenes  gerichtet,  nicht 
rein  erzeugend,  sondern  umgestaltend. 

Diese  Arbeit  nun  wirkt  auf  eine  constante  und  gleichförmige 
Weise.  Denn  es  ist  die  gleiche,  nur  innerhalb  gewisser,  nicht 
weiter  Gränzen  verschiedne  geistige  Kraft,  welche  dieselbe  ausübt. 
Sie  hat  zum  Zweck  das  Verständniss.  Es  darf  also  Niemand  auf 
andre  Weise  zum  Andren  reden,  als  dieser,  unter  gleichen  Um- 
ständen, zu  ihm  gesprochen  haben  würde.  Endlich  ist  der  über- 
kommene Stoff  nicht  bloss  der  nemliche,  sondern  auch,  da  er 
selbst  wieder  einen  gleichen  Ursprung  hat,  ein  mit  der  Geistes- 
richtung durchaus  nahe  verwandter.  Das  in  dieser  Arbeit  des 
Geistes,  den  articulirten  Laut  zum  Gedankenausdruck  zu  erheben, 
liegende  Beständige  und  Gleichförmige,  so  vollständig,  als  möglich, 
in  seinem  Zusammenhange  aufgefasst  und  systematisch  dargestellt, 
macht  die  Form  der  Sprache  aus. 

In  dieser  Definition  erscheint  dieselbe  als  ein  durch  die  Wissen- 
schaft gebildetes  Abstractum.  Es  würde  aber  durchaus  unrichtig 
seyn,  sie  auch  an  sich  bloss  als  ein  solches  daseynloses  Gedanken- 
wesen anzusehen.  In  der  That  ist  sie  vielmehr  der  durchaus  in- 
dividuelle Drang,  vermittelst  dessen  eine  Nation  dem  Gedanken 
und  der  Empfindung  Geltung  in  der  Sprache  verschafft.  Nur  weil 
uns  nie  gegeben  ist,  diesen  Drang  in  der  ungetrennten  Gesammt- 
heit  seines  Strebens,  sondern  nur  in  seinen  jedesmal  einzelnen 
Wirkungen  zu  sehen,  so  bleibt  uns  auch  bloss  übrig,   die  Gleich- 


*)  S.   16.   17.  40.  41 — 43.  und  weiter  unten  §.  35. 


A^  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

artigkeit   seines  Wirkens  in   einen  todten   allgemeinen  Begriff  zu- 
sammenzufassen.    In  sich  ist  jener  Drang  Eins  und  lebendig. 

Die  Schwierigkeit  gerade  der  wichtigsten  und  feinsten  Sprach- 
untersuchungen liegt  sehr  häufig  darin,  dass  etwas  aus  dem  Ge- 
sammteindruck  der  Sprache  Fliessendes  zwar  durch  das  klarste 
und  überzeugendste  Gefühl  wahrgenommen  wird,  dennoch  aber 
die  Versuche  scheitern,  es  in  genügender  Vollständigkeit  einzeln 
darzulegen  und  in  bestimmte  Begriffe  zu  begränzen.  Mit  dieser 
nun  hat  man  auch  hier  zu  kämpfen.  Die  charakteristische  Form 
der  Sprachen  hängt  an  jedem  einzelnen  ihrer  kleinsten  Elemente ; 
jedes  wird  durch  sie,  wie  unmerklich  es  im  Einzelnen  sey,  auf 
irgend  eine  Weise  bestimmt.  Dagegen  ist  es  kaum  möglich,  Punkte 
aufzufinden,  von  denen  sich  behaupten  Messe,  dass  sie  an  ihnen, 
einzeln  genommen,  entscheidend  haftete.  Wenn  man  daher  irgend 
eine  gegebene  Sprache  durchgeht,  so  findet  man  Vieles,  das  man 
sich,  dem  Wesen  ihrer  Form  unbeschadet,  auch  wohl  anders 
denken  könnte,  und  wird,  um  diese  rein  geschieden  zu  erblicken, 
zu  dem  Gesammteindruck  zurückgewiesen.  Hier  nun  tritt  sogleich 
das  Gegentheil  ein.  Die  entschiedenste  Individualität  fällt  klar  in 
die  Augen,  drängt  sich  unabweisbar  dem  Gefühl  auf.  Die  Sprachen 
können  hierin  noch  am  wenigsten  unrichtig  mit  den  menschlichen 
Gesichtsbildungen  verglichen  werden.  Die  Individualität  steht  un- 
abläugbar  da,  Aehnlichkeiten  werden  erkannt,  aber  kein  Messen 
und  kein  Beschreiben  der  Theile,  im  Einzelnen  und  in  ihrem  Zu- 
sammenhange, vermag  die  Eigenthümlichkeit  in  einen  Begriff  zu- 
sammenzufassen. Sie  ruht  auf  dem  Ganzen  und  in  der  wieder 
individuellen  Auffassung,  daher  auch  gewiss  jede  Physiognomie 
jedem  anders  erscheint.  Da  die  Sprache,  in  welcher  Gestalt  man 
sie  aufnehmen  möge,  immer  ein  geistiger  Aushauch  eines  nationell 
individuellen  Lebens  ist,  so  muss  beides  auch  bei  ihr  eintreffen. 
Wie  viel  man  in  ihr  heften  und  verkörpern,  vereinzeln  und  zer- 
ghedern  möge,  so  bleibt  immer  etwas  unerkannt  in  ihr  übrig,  und 
gerade  dies  der  Bearbeitung  Entschlüpfende  ist  dasjenige,  worin 
sie  Einheit  und  der  Odem  eines  Lebendigen  ist.  Bei  dieser  Be- 
schaffenheit der  Sprachen  kann  daher  die  Darstellung  der  Form 
irgend  einer  in  dem  hier  angegebenen  Sinne  niemals  ganz  voll- 
ständig, sondern  immer  nur  bis  auf  einen  gewissen,  jedoch  zur 
Uebersicht  des  Ganzen  genügenden  Grad  gelingen.  Darum  ist 
aber  dem  Sprachforscher  durch  diesen  Begriff  nicht  minder  die 
Bahn  vorgezeichnet,  in  welcher  er  den  Geheimnissen  der  Sprache 


und  ihren   Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.      12.       aq 

nachspüren  und  ihr  Wesen  zu  enthüllen  suchen  muss.  Bei  der 
Vernachlässigung  dieses  Weges  übersieht  er  unfehlbar  eine  Menge 
von  Punkten  der  Forschung,  muss  sehr  vieles  wirklich  Erklärbares 
unerklärt  lassen  und  hält  für  isolirt  dastehend,  was  durch  leben- 
digen Zusammenhang  verknüpft  ist. 

Es  ergiebt  sich  schon  aus  dem  bisher  Gesagten  von  selbst, 
dass  unter  Form  der  Sprache  hier  durchaus  nicht  bloss  die  so- 
genannte grammatische  Form  verstanden  wird.  Der  Unterschied, 
welchen  wir  zwischen  Grammatik  und  Lexicon  zu  machen  pflegen, 
kann  nur  zum  praktischen  Gebrauche  der  Erlernung  der  Sprachen 
dienen,  allein  der  wahren  Sprachforschung  weder  Gränze  noch 
Regel  vorschreiben.  Der  Begriff  der  Form  der  Sprachen  dehnt 
sich  weit  über  die  Regeln  der  Redefügung  und  selbst  über  die 
der  Wortbildung  hin  aus,  insofern  man  unter  der  letzteren  die  An- 
wendung gewisser  allgemeiner  logischer  Kategorieen  des  Wirkens, 
des  Gewirkten,  der  Substanz,  der  Eigenschaft  u.  s.  w.  auf  die 
Wurzeln  und  Grundwörter  versteht.  Er  ist  ganz  eigentlich  auf 
die  Bildung  der  Grundwörter  selbst  anwendbar  und  muss  in  der 
That  möglichst  auf  sie  angewandt  werden,  wenn  das  Wesen  der 
Sprache  wahrhaft  erkennbar  seyn  soll. 

Der  Form  steht  freilich  ein  Stoif  gegenüber;  um  aber  den 
Stoff  der  Sprachform  zu  finden,  muss  man  über  die  Gränzen  der 
Sprache  hinausgehen.  Innerhalb  derselben  lässt  sich  etwas  nur 
beziehungsweise  gegen  etwas  andres  als  Stoff  betrachten,  z.  B. 
die  Grundwörter  in  Beziehung  auf  die  Declination.  In  andren 
Beziehungen  aber  wird,  was  hier  Stoff  ist,  wieder  als  Form  er- 
kannt. Eine  Sprache  kann  auch  aus  einer  fremden  Wörter  ent- 
lehnen und  wirklich  als  Stoff"  behandeln.  Aber  alsdann  sind  die- 
selben dies  wiederum  in  Beziehung  auf  sie.  nicht  an  sich.  Absolut 
betrachtet,  kann  es  innerhalb  der  Sprache  keinen  ungeformten  Stoff 
geben,  da  alles  in  ihr  auf  einen  bestimmten  Zweck,  den  Gedanken- 
ausdruck, gerichtet  ist,  und  diese  Arbeit  schon  bei  ihrem  ersten 
Element,  dem  articulirten  Laute,  beginnt,  der  ja  eben  durch  Formung  ^) 
2um  articulirten  wird.  Der  wirkliche  Stoff  der  Sprache  ist  auf  der 
einen  Seite  der  Laut  überhaupt,  auf  der  andren  die  Gesammtheit  der 
sinnlichen  Eindrücke  und  selbstthätigen  Geistesbewegungen,  welche 
der  Bildung  des  Begriffs  mit  Hülfe  der  Sprache  vorausgehen. 

Es  versteht  sich   daher  von  selbst,  dass  die  reelle  Beschaffen- 


V  Nach  „Formung"  gestrichen:  „(absichtliche  Geistesrichtung)". 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  4 


50 


I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


heit  der  Laute,  um  eine  Vorstellung  von  der  Form  einer  Sprache 
zu  erhalten,  ganz  vorzugsweise  beachtet  werden  muss.  Gleich 
mit  dem  Alphabete  beginnt  die  Erforschung  der  Form  einer 
Sprache,  und  durch  alle  Theile  derselben  hindurch  wird  dies  als 
ihre  hauptsächlichste  Grundlage  behandelt.  Ueberhaupt  wird  durch 
den  BegriiF  der  Form  nichts  Factisches  und  Individuelles  aus- 
geschlossen, sondern  alles  nur  wirklich  historisch  zu  Begründende, 
so  wie  das  Allerindividuellste,  gerade  in  diesen  Begriff  befasst  und 
eingeschlossen.  Sogar  werden  alle  Einzelnheiten  nur,  wenn  man 
die  hier  bezeichnete  Bahn  verfolgt,  mit  Sicherheit  in  die  Forschung 
aulgenommen,  da  sie  sonst  leicht  übersehen  zu  werden  Gefahr 
laufen.  Dies  führt  freilich  in  eine  mühvolle,  oft  ins  Kleinliche 
gehende  Elementaruntersuchung;  es  sind  aber  auch  lauter  in  sich 
kleinliche  Einzelnheiten,  aufweichen  der  Totaleindruck  der  Sprachen 
beruht,  und  nichts  ist  mit  ihrem  Studium  so  unverträglich,  als 
in  ihnen  bloss  das  Grosse,  Geistige,  Vorherrschende  aufsuchen  zu 
wollen.  Genaues  Eingehen  in  jede  grammatische  Sübtilität  und 
Spalten  der  Wörter  in  ihre  Elemente  ist  durchaus  nothwendig, 
um  sich  nicht  in  allen  Urtheilen  über  sie  Irrthümern  auszusetzen. 
Es  versteht  sich  indess  von  selbst,  dass  in  den  Begriff  der  Form 
der  Sprachen  keine  Einzelnheit  als  isolirte  Thatsache,  sondern 
immer  nur  insofern  aufgenommen  werden  darf,  als  sich  eine  Methode 
der  Sprachbildung  an  ihr  entdecken  lässt.  Man  muss  durch  die 
Darstellung  der  Form  den  specifischen  Weg  erkennen,  welchen 
die  Sprache  und  mit  ihr  die  Nation,  der  sie  angehört,  zum  Ge- 
dankenausdruck einschlägt.  Man  muss  zu  übersehen  im  Stande 
seyn,  wie  sie  sich  zu  andren  Sprachen,  sowohl  in  den  bestimmten 
ihr  vorgezeichneten  Zwecken,  als  in  der  Rückwirkung  auf  die 
geistige  Thätigkeit  der  Nation,  verhält.  Sie  ist  in  ihrer  Natur 
selbst  eine  Auffassung  der  einzelnen,  im  Gegensatze  zu  ihr  als 
Stoff  zu  betrachtenden  Sprachelemente  in  geistiger  Einheit.  Denn 
in  jeder  Sprache  liegt  eine  solche,  und  durch  diese  zusammen- 
fassende Einheit  macht  eine  Nation  die  ihr  von  ihren  Vorfahren 
überlieferte  Sprache  zu  der  ihrigen.  Dieselbe  Einheit  muss  sich 
also  in  der  Darstellung  wiederfinden ;  und  nur  wenn  man  von  den 
zerstreuten  Elementen  bis  zu  dieser  Einheit  hinaufsteigt,  erhält 
man  wahrhaft  einen  Begriff  von  der  Sprache  selbst,  da  man,  ohne 
ein  solches  Verfahren,  offenbar  Gefahr  läuft,  nicht  einmal  jene 
Elemente  in  ihrer  wahren  Eigenthümlichkeit  und  noch  weniger 
in  ihrem  realen  Zusammenhange  zu  verstehen. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     I2.     ti 

Die  Identität,  um  dies  hier  im  Voraus  zu  bemerken,  so  wie  die 
Ven\'andtschaft  der  Sprachen  muss  auf  der  Identität  und  der  Ver- 
wandtschaft ihrer  Formen  beruhen,  da  die  Wirkung  nur  der  Ur- 
sach gleich  seyn  kann.  Die  Form  entscheidet  daher  allein,  zu 
welchen  andren  eine  Sprache,  als  stammverwandte,  gehört.  Dies 
findet  sogleich  eine  Anwendung  auf  das  Kawi,  das,  wie  viele 
Sanskritwörter  es  auch  in  sich  aufnehmen  möchte,  darum  nicht 
aufhört,  eine  Malayische  Sprache  zu  seyn.  Die  Formen  mehrerer 
Sprachen  können  in  einer  noch  allgemeineren  Form  zusammen- 
kommen, und  die  Formen  aller  thun  dies  in  der  That,  insofern 
man  überall  bloss  von  dem  Allgemeinsten  ausgeht:  von  den  Ver- 
hältnissen und  Beziehungen  der  zur  Bezeichnung  der  Begriffe  und 
zur  Redefügung  nothwendigen  Vorstellungen,  von  der  Gleichheit 
der  Lautorgane,  deren  Umfang  und  Natur  nur  eine  bestimmte 
Zahl  articulirter  Laute  zulässt,  von  den  Beziehungen  endlich, 
welche  zwischen  einzelnen  Consonant-  und  Vocallauten  und  ge- 
wissen sinnlichen  Eindrücken  obwalten,  woraus  dann  Gleichheit 
der  Bezeichnung,  ohne  Stammverwandtschaft,  entspringt.  Denn 
so  wundervoll  ist  in  der  Sprache  die  Individualisirung  innerhalb 
der  allgemeinen  Uebereinstimmung,  dass  man  ebenso  richtig  sagen 
kann,  dass  das  ganze  Menschengeschlecht  nur  Eine  Sprache,  als 
dass  jeder  Mensch  eine  besondere  besitzt.  Unter  den  durch  nähere 
Analogieen  verbundenen  Sprachähnlichkeiten  aber  zeichnet  sich  vor 
allen  die  aus  Stammverwandtschaft  der  Nationen  entstehende  aus. 
Wie  gross  und  von  welcher  Beschaffenheit  eine  solche  Aehnlich- 
keit  seyn  muss,  um  zur  Annahme  von  Stammverwandtschaft  da 
zu  berechtigen,  wo  nicht  geschichtliche  Thatsachen  dieselbe  ohne- 
hin begründen,  ist  es  hier  nicht  der  Ort  zu  untersuchen.  Wir  be- 
schäftigen uns  hier  nur  mit  der  Anwendung  des  eben  entwickelten 
Begriffs  der  Sprachform  auf  stammverwandte  Sprachen.  Bei  dieser 
ergiebt  sich  nun  natürlich  aus  dem  Vorigen,  dass  die  Form  der 
einzelnen  stammverwandten  Sprachen  sich  in  der  des  ganzen 
Stammes  wiederfinden  muss.  Es  kann  in  ihnen  nichts  enthalten 
seyn,  was  nicht  mit  der  allgemeinen  Form  in  Einklang  stände; 
vielmehr  wird  man  in  der  Regel  in  dieser  jede  ihrer  Eigenthümlich- 
keiten  auf  irgend  eine  Weise  angedeutet  finden.  In  jedem  Stamme 
wird  es  auch  eine  oder  die  andre  Sprache  geben,  welche  die  ur- 
sprüngliche Form  reiner  und  vollständiger  in  sich  enthält.  Denn 
es  ist  hier  nur  von  aus  einander  entstandenen  Sprachen  die  Rede, 
wo  also  ein  wirklich  gegebener  Stoff  (dies  W^ort  immer,  nach  den 


[12  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

obigen  Erklärungen,  beziehungsweise  genommen)  von  einem  Volke 
zum  andren  in  bestimmter  Folge,  die  sich  jedoch  nur  selten  genau 
nachweisen  lässt,  übergeht  und  umgestaltet  wird.  Die  Umgestaltung 
selbst  aber  kann  bei  der  ähnlichen  Vorstellungsweise  und  Ideen- 
richtung der  sie  bewirkenden  Geisteskraft,  bei  der  Gleichheit  der 
Sprachorgane  und  der  überkommenen  Lautgewohnheiten,  endlich 
bei  vielen  zusammentreifenden  historischen  äusserlichen  Einflüssen 
immer  nur  eine  nah  verwandte  bleiben. 


Natur  und  Beschaffenheit  der  Sprache  überhaupt. 

Da  der  Unterschied  der  Sprachen  auf  ihrer  Form  beruht, 
und  diese  mit  den  Geistesanlagen  der  Nationen  und  der  sie 
im  Augenblicke  der  Erzeugung  oder  neuen  Auflassung  durch- 
dringenden Kraft  in  der  engsten  Verbindung  steht,  so  ist  es 
nunmehr  nothwendig,  diese  Begriffe  mehr  im  Einzelnen  zu  ent- 
wickeln und  wenigstens  einige  der  Hauptrichtungen  der  Sprache 
näher  zu  verfolgen.  Ich  wähle  dazu  die  am  meisten  folgenreichen 
aus,  welche  am  deutlichsten  zeigen,  wie  die  innere  Kraft  auf  die 
Sprache  ein-  und  diese  auf  sie  zurückwirkt. 

Zwei  Principe  treten  bei  dem  Nachdenken  über  die  Sprache 
im  Allgemeinen  und  der  Zergliedrung  der  einzelnen,  sich  deutlich 
von  einander  absondernd,  an  das  Licht :  die  Lautform  und  der 
von  ihr  zur  Bezeichnung  der  Gegenstände  und  Verknüpfung  der 
Gedanken  gemachte  Gebrauch.  Der  letztere  gründet  sich  auf  die 
Forderungen,  welche  das  Denken  an  die  Sprache  bindet,  woraus 
die  allgemeinen  Gesetze  dieser  entspringen;  und  dieser  Theil  ist 
daher  in  seiner  ursprünglichen  Richtung,  bis  auf  die  Eigenthümlich- 
keit  ihrer  geistigen  Naturanlagen  oder  nachherigen  Entwicklungen, 
in  allen  Menschen,  als  solchen,  gleich.  Dagegen  ist  die  Lautform 
das  eigentlich  constitutive  und  leitende  Princip  der  ^)  Verschieden- 
heit der  Sprachen,  sowohl  an  sich,  als  in  der  befördernden  oder 
hemmenden  Kraft,  welche  sie  der  ^)  inneren  Sprachtendenz  gegen- 
überstellt. Sie  hängt  natürlich,  als  ein  in  enger  Beziehung  auf  die 
innere  Geisteskraft  stehender  Theil  des  ganzen  menschlichen  Organis- 
mus, ebenfalls  genau  mit  der  Gesammtanlage  der  Nation  zusammen ; 
aber  die  Art   und  die  Gründe  dieser  Verbindung  sind   in,   kaum 


y  Nach  „der"  gestrichen:  „Individualität  und  mithin  der", 
y  Nach  „der"  gestrichen:  „allgemeinen". 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.    I2 — 14.     c.'i 

irgend  eine  Aufldärung  erlaubendes  Dunkel  gehüllt.  Aus  diesen 
beiden  Principien  nun,  zusammengenommen  mit  der  Innigkeit 
ihrer  gegenseitigen  Durchdringung,  geht  die  individuelle  Form 
jeder  Sprache  hervor,  und  sie  machen  die  Punkte  aus,  welche  die 
Sprachzergliedrung  zu  erforschen  und  in  ihrem  Zusammenhange 
darzustellen  versuchen  muss.  Das  Unerlasslichste  hierbei  ist,  dass 
dem  Unternehmen  eine  richtige  und  würdige  Ansicht  der  Sprache, 
der  Tiefe  ihres  Ursprungs  und  der  Weite  ihres  Umfangs  zum 
Grunde  gelegt  werde;  und  bei  der  Aufsuchung  dieser  haben  wir 
daher  hier  noch  zunächst  zu  verweilen.^) 

Ich  nehme  hier  das  Verfahren  der  Sprache  in  seiner  weitesten  14- 
Ausdehnung,  nicht  bloss  in  der  Beziehung  derselben  auf  die  Rede 
und  den  A'orrath  ihrer  Wortelemente,  als  ihr  unmittelbares  Er- 
zeugniss,  sondern  auch  in  ihrem  ^"erhaltniss  zu  dem  Denk-  und 
Empfindungsvermögen.  Der  ganze  Weg  kommt  in  Betrachtung, 
auf  dem  sie,  vom  Geiste   ausgehend,   auf  den  Geist  zurückwirkt. 

Die  Sprache  ist  das  bildende  Organ  des  Gedanken.  Die  in- 
tellectuelle  Thätigkeit,  durchaus  geistig,  durchaus  innerlich  und 
gewissermassen  spurlos  vorübergehend,  wird  durch  den  Laut  in 
der  Rede  äusserlich  und  wahrnehmbar  für  die  Sinne.  Sie  und 
die  Sprache  sind  daher  Eins  und  unzertrennlich  von  einander.  Sie 
ist  aber  auch  in  sich  an  die  Xothwendigkeit  geknüpft,  eine  Ver- 
bindung mit  dem  Sprachlaute  einzugehen;  das  Denken  kann  sonst 
nicht  zur  Deutlichkeit  gelangen,  die  Vorstellung  nicht  zum  Begriff 
werden.  Die  unzertrennliche  Verbindung  des  Gedanken,  der 
Stimmwerkzeuge  und  des  Gehörs  zur  Sprache  liegt  unabänderlich 
in  der  ursprünglichen,  nicht  weiter  zu  erklärenden  Einrichtung  der 
menschlichen  Natur.  Die  Uebereinstimmung  des  Lautes  mit  dem 
Gedanken  fällt  indess  auch  klar  in  die  Augen.  Wie  der  Gedanke, 
einem  Blitze  oder  Stosse  vergleichbar,  die  ganze  \'orstellungskraft 
in  Einen  Punkt  sammelt  und  alles  Gleichzeitige  ausschliesst,  so 
erschallt  der  Laut  in  abgerissener  Schärfe  und  Einheit.  Wie  der 
Gedanke  das  ganze  Gemüth  ergreift,  so  besitzt  der  Laut  vorzugs- 
weise eine  eindringende,  alle  Nerven  erschütternde  Kraft.  Dies 
ihn  von  allen  übrigen  sinnlichen  Eindrücken  Unterscheidende  be- 
ruht sichtbar  darauf,   dass  das  Ohr  (was  bei  den  übrigen  Sinnen 


V  Nach  „verweilen"  gestrichen:  „Ehe  ich  aber  diesen  Weg  weiter  verfolge, 
muss  ich  einige  Worte  über  die  Sprache  überhaupt  hinzufügen,  über  ihren  ein- 
fachsten Act  und  den  Umfang  ihrer  Gesammtheit." 


rA  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

nicht  immer  oder  anders  der  Fall  ist)  den  Eindruck  einer  Be- 
wegung, ja  bei  dem  der  Stimme  entschallenden  Laut  einer  wirk- 
lichen Handlung  empfängt,  und  diese  Handlung  hier  aus  dem  Innern 
eines  lebenden  Geschöpfs,  im  articulirten  Laut  eines  denkenden, 
im  unarticulirten  eines  empfindenden,  hervorgeht.  Wie  das  Denken 
in  seinen  menschlichsten  Beziehungen  eine  Sehnsucht  aus  dem 
Dunkel  nach  dem  Licht,  aus  der  Beschränkung  nach  der  Unend- 
lichkeit ist,  so  strömt  der  Laut  aus  der  Tiefe  der  Brust  nach 
aussen  und  findet  einen  ihm  wundervoll  angemessenen,  vermitteln- 
den Stoff  in  der  Luft,  dem  feinsten  und  am  leichtesten  bewegbaren 
aller  Elemente,  dessen  scheinbare  Unkörperlichkeit  dem  Geiste 
auch  sinnlich  entspricht.  Die  schneidende  Schärfe  des  Sprachlauts 
ist  dem  Verstände  bei  der  Auffassung  der  Gegenstände  unent- 
behrlich. Sowohl  die  Dinge  in  der  äusseren  Natur,  als  die  inner- 
lich angeregte  Thätigkeit  dringen  auf  den  Menschen  mit  einer 
Menge  von  Merkmalen  zugleich  ein.  Er  aber  strebt  nach  Ver- 
gleichung,  Trennung  und  Verbindung  und  in  seinen  höheren 
Zwecken  nach  Bildung  immer  mehr  umschliessender  Einheit.  Er 
verlangt  also  auch,  die  Gegenstände  in  bestimmter  Einheit  auf- 
zufassen, ^)  und  fordert  die  Einheit  des  Lautes,  um  ihre  Stelle 
zu  vertreten.  Hierbei  verdrängt  dieser  aber  keinen  der  andren" 
Eindrücke,  welche  die  Gegenstände  auf  den  äusseren  oder  inneren 
Sinn  hervorzubringen  fähig  sind,  sondern  wird  ihr  Träger  und 
fügt  in  seiner  individuellen,  mit  der  des  Gegenstandes  und  zwar 
gerade  nach  der  Art,  wie  ihn  die  individuelle  Empfindungsweise 
des  Sprechenden  auffasst ,  zusammenhängenden  Beschaffenheit 
einen  neuen  bezeichnenden  Eindruck  hinzu.  Zugleich  erlaubt  die 
Schärfe  des  Lauts  eine  unbestimmbare  Menge  sich  doch  vor  der 
Vorstellung  genau  absondernder  und  in  der  Verbindung  nicht 
vermischender  Modificationen,  was  bei  keiner  anderen  sinnlichen 
Einwirkung  in  gleichem  Grade  der  Fall  ist.  Da  das  intellectuelle 
Streben  nicht  bloss  den  Verstand  beschäftigt,  sondern  den  ganzen 
Menschen  anregt,  so  wird  auch  dies  vorzugsweise  durch  den  Laut 
der  Stimme  befördert.  Denn  sie  geht,  als  lebendiger  Klang,  wie 
das  athmende  Dase3^n  selbst,  aus  der  Brust  hervor,  begleitet,  auch 
ohne  Sprache,  Schmerz  und  Freude,  Abscheu  und  Begierde,  und 


V  Nach  „aufzufassen"  gestrichen :  „Diese  Auffassung  gewährt  keiner  seiner 
Sinne  in  dem  Grade  und  der  Vollkommenheit  als  das  Ohr  in  der  schneidenden 
Schärfe  des  Lauts." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklimg  des  Menschengeschlechts.     14.     -r 

haucht  also  das  Leben,  aus  dem  sie  hervorströmt,  in  den  Sinn, 
der  sie  aufnimmt,  so  wie  auch  die  Sprache  selbst  immer  zugleich 
mit  dem  dargestellten  Object  die  dadurch  hervorgebrachte  Em- 
pfindung wiedergiebt  und  in  immer  v^iederholten  Acten  die  Weit 
mit  dem  Menschen  oder,  anders  ausgedrückt,  seine  Selbstthätig- 
keit  mit  seiner  Empfänglichkeit  in  sich  zusammenknüpft.  Zum 
Sprachlaut  endlich  passt  die,  den  Thieren  versagte  aufrechte  Stellung 
des  Menschen,  der  gleichsam  durch  ihn  emporgerufen  vv'ird.  Denn 
die  Rede  will  nicht  dumpf  am  Boden  verhallen,  sie  verlangt,  sich 
frei  von  den  Lippen  zu  dem,  an  den  sie  gerichtet  ist,  zu  ergiessen, 
von  dem  Ausdruck  des  Blickes  und  der  Mienen,  so  vAe  der  Ge- 
berde der  Hände  begleitet  zu  werden  und  sich  so  zugleich  mit 
Allem  zu  umgeben,  w^as  den  Ixlenschen  menschlich  bezeichnet. 

Nach  dieser  vorläufigen  Betrachtung  der  Angemessenheit  des 
Lautes  zu  den  Operationen  des  Geistes  können  wir  nun  genauer 
in  den  Zusammenhang  des  Denkens  mit  der  Sprache  eingehen. 
Subjective  Thätigkeit  bildet  im  Denken  ein  Object.  Denn  keine 
Gattung  der  Vorstellungen  kann  als  ein  bloss  empfangendes  Be- 
schauen eines  schon  vorhandenen  Gegenstandes  betrachtet  werden. 
Die  Thätigkeit  der  Sinne  muss  sich  mit  der  inneren  Handlung  des 
Geistes  synthetisch  verbinden,  und  aus  dieser  Verbindung  reisst 
sich  die  Vorstellung  los,  wird,  der  subjectiven  Kraft  gegenüber, 
zum  Object  und  kehrt,  als  solches  auf  neue  wahrgenommen,  in 
jene  zurück.  Hierzu  aber  ist  die  Sprache  unentbehrlich.  Denn 
indem  in  ihr  das  geistige  Streben  sich  Bahn  durch  die  Lippen 
bricht,  kehrt  das  Erzeugniss  desselben  zum  eignen  Ohre  zurück. 
Die  Vorstellung  wird  also  in  wirkliche  Objectivität  hinüberversetzt, 
ohne  darum  der  Subjectivität  entzogen  zu  w^erden.  Dies  vermag 
nur  die  Sprache:  und  ohne  diese,  wo  Sprache  mitwirkt,  auch  still- 
schw^eigend  immer  vorgehende  Versetzung  in  zum  Subject  zurück- 
kehrende Objectivität  ist  die  Bildung  des  Begriffs,  mithin  alles 
wahre  Denken  unmöglich.  Ohne  daher  irgend  auf  die  Mittheilung 
zwischen  Menschen  und  ^lenschen  zu  sehn,  ist  das  Sprechen 
eine  nothwendige  Bedingung  des  Denkens  des  Einzelnen  in  ab- 
geschlossener Einsamkeit.  In  der  Erscheinung  entwickelt  sich 
jedoch  die  Sprache  nur  gesellschaftlich,  und  der  Mensch  versteht 
sich  selbst  nur,  indem  er  die  \>rstehbarkeit  seiner  Worte  an 
Andren  versuchend  geprüft  hat.^)    Denn  die  Objectivität  wird  ge- 


V  Nach   „hat"  gestrichen:  „Dies  liegt  schon   in  dem  allgemeinen  Grunde, 


rQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Steigert,  wenn  das  selbstgebildete  Wort  aus  fremdem  Munde  wieder- 
tönt. Der  Subjectivität  aber  wird  nichts  geraubt,  da  der  Mensch 
sich  immer  Eins  mit  dem  Menschen  fühlt;  ja  auch  sie  wird  ver- 
stärkt, da  die  in  Sprache  verwandelte  Vorstellung  nicht  mehr  aus- 
schliessend  Einem  Subject  angehört.  Indem  sie  in  andre  über- 
geht, schliesst  sie  sich  an  das  dem  ganzen  menschlichen  Geschlechte 
Gemeinsame  an,  von  dem  jeder  Einzelne  eine,  das  Verlangen  nach 
Vervollständigung  durch  die  andren  in  sich  tragende  Modiiication 
besitzt.  Je  grösser  und  bewegter  das  gesellige  Zusammenwirken 
auf  eine  Sprache  ist,  desto  mehr  gewinnt  sie  unter  übrigens 
gleichen  Umständen.  Was  die  Sprache  in  dem  einfachen  Acte 
der  Gedankenerzeugung  nothwendig  macht,  das  wiederholt  sich 
auch  unauthörlich  im  geistigen  Leben  des  Menschen;  die  gesellige 
Mittheilung  durch  Sprache  gewährt  ihm  Ueberzeugung  und  An- 
regung. Die  Denkkraft  bedarf  etwas  ihr  Gleiches  und  doch  von 
ihr  Geschiednes.  Durch  das  Gleiche  wird  sie  entzündet,  durch 
das  von  ihr  Geschiedne  erhält  sie  einen  Prüfstein  der  Wesenheit 
ihrer  innren  Erzeugungen.  Obgleich  der  Erkenntnissgrund  der 
Wahrheit,  des  unbedingt  Festen,  für  den  Menschen  nur  in  seinem 
Inneren  liegen  kann,  so  ist  das  Anringen  seines  geistigen  Strebens 
an  sie  immer  von  Gefahren  der  Täuschung  umgeben.  Klar  und 
unmittelbar  nur  seine  veränderliche  Beschränktheit  fühlend,  muss 
er  sie  sogar  als  etwas  ausser  ihm  Liegendes  ansehn;  und  eines 
der  mächtigsten  Mittel,  ihr  nahe  zu  kommen,  seinen  Abstand  von 
ihr  zu  messen,  ist  die  gesellige  Mittheilung  an  Andre.  Alles 
Sprechen,  von  dem  einfachsten  an,  ist  ein  Anknüpfen  des  einzeln 
Empfundenen  an  die  gemeinsame  Natur  der  Menschheit. 

Mit  dem  Verstehen  verhält  es  sich  nicht  anders,  l^s  kann  in 
der  Seele  nichts,  als  durch  eigne  Thätigkeit  vorhanden  seyn,  und 
Verstehen  und  Sprechen  sind  nur  verschiedenartige  Wirkungen 
der  nemlichen  Sprachkraft.  Die  gemeinsame  Rede  ist  nie  mit  dem 
Uebergeben  eines  Stoffes  vergleichbar.  In  dem  Verstehenden,  wie 
im  Sprechenden,  muss  derselbe  aus  der  eignen,  innren  Kraft 
entwickelt  werden;  und  was  der  erstere  empfängt,  ist  nur  die 
harmonisch  stimmende  Anregung.  Es  ist  daher  dem  Menschen 
auch    so    natürlich,    das    eben  Verstandene    gleich   wieder  auszu- 


dass  kein  menschliches  Vermögen  sich  in  ungeselliger  Vereinzelung  entwickelt, 
worauf  wir  in  der  Folge  zurückkommen  werden.  Es  lässt  sich  aber  auch  aus 
dem  eben  Gesagten  erklären." 


und  ihren  Einflui3  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     14.     cn 

sprechen.  Auf  diese  Weise  liegt  die  Sprache  in  jedem  Menschen 
in  ihrem  ganzen  Umfange,  was  aber  nichts  Andres  bedeutet,  als 
dass  jeder  ein,  durch  eine  bestimmt  modificirte  Kraft,  anstossend 
und  beschränkend,  geregeltes  Streben  besitzt,  die  ganze  Sprache, 
wie  es  äussere  oder  innere  Veranlassung  herbeiführt,  nach  und 
nach  aus  sich  hervorzubringen  und  hervorgebracht  zu  verstehen. 
Das  Verstehen  könnte  jedoch  nicht,  so  wie  wir  es  eben 
gefunden  haben,  auf  innerer  Selbstthätigkeit  beruhen,  und  das 
gemeinschaftliche  Sprechen  müsste  etwas  Andres,  als  bloss  gegen- 
seitiges Wecken  des  Sprachvermögens  des  Hörenden  seyn,  wenn 
nicht  in  der  A^erschiedenheit  der  Einzelnen  die,  sich  nur  in  ab- 
gesonderte Individualitäten  spaltende  Einheit  der  menschlichen 
Natur  läge.  Das  Begreifen  von  Wörtern  ist  durchaus  etwas  Andres, 
als  das  Verstehen  unarticulirter  Laute,  und  fasst  weit  mehr  in  sich, 
als  das  blosse  gegenseitige  Hen'orrufen  des  Lauts  und  des  an- 
gedeuteten Gegenstandes.  Das  Wort  kann  allerdings  auch  als 
untheilbares  Ganzes  genommen  werden,  wie  man  selbst  in  der 
Schrift  wohl  den  Sinn  einer  Wortgruppe  erkennt,  ohne  noch  ihrer 
alphabetischen  Zusammensetzung  gewiss  zu  seyn,  und  es  wäre  mög- 
lich, dass  die  Seele  des  Kindes  in  den  ersten  Anfängen  des  Verstehens 
so  verführe.  So  wie  aber  nicht  bloss  das  thierische  Empfindungs- 
vermögen, sondern  die  menschliche  Sprachkraft  angeregt  wird  (und 
es  ist  viel  wahrscheinlicher,  dass  es  auch  im  Kinde  keinen  Moment 
giebt,  wo  dies,  wenn  auch  noch  so  schwach,  nicht  der  Fall  wäre),  so 
wird  auch  das  Wort,  als  articulirt,  vernommen.  Nun  ist  aber  das- 
jenige, was  die  Articulation  dem  blossen  Hervorrufen  seiner  Be- 
deutung (welches  natürlich  auch  durch  sie  in  höherer  Vollkommen- 
heit geschieht)  hinzufügt,  dass  sie  das  Wort  unmittelbar  durch  seine 
Form  als  einen  Theil  eines  unendlichen  Ganzen,  einer  Sprache,  dar- 
stellt. Denn  es  ist  durch  sie,  auch  in  einzelnen  Wörtern,  die  Mög- 
lichkeit gegeben,  aus  den  Elementen  dieser  eine  wirklich  bis  ins 
Unbestimmte  gehende  Anzahl  anderer  Wörter  nach  bestimmenden 
Gefühlen  und  Regeln  zu  bilden  und  dadurch  unter  allen  Wörtern 
eine  \"erwandtschaft,  entsprechend  der  Verwandschaft  der  Begriffe, 
zu  stiften.  Die  Seele  würde  aber  von  diesem  künstlichen  Mechanis- 
mus gar  keine  Ahndung  erhalten,  die  Articulation  ebensowenig,  als 
der  Blinde  die  Farbe  begreifen,  wenn  ihr  nicht  eine  Kraft  bei- 
wohnte, jene  Möglichkeit  zur  Wirklichkeit  zu  bringen.  Denn  die 
Sprache  kann  ja  nicht  als  ein  da  liegender,  in  seinem  Ganzen  über- 
sehbarer  oder   nach  und  nach  mittheilbarer  Stoff,   sondern   muss 


rg  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

als  ein  sich  ewig  erzeugender  angesehen  werden,  wo  die  Gesetze 
der  Erzeugung  bestimmt  sind,  aber  der  Umfang  und  gewisser- 
massen  auch  die  Art  des  Erzeugnisses  gänzlich  unbestimmt  bleiben. 
Das  Sprechenlernen  der  Kinder  ist  nicht  ein  Zumessen  von  Wörtern, 
Niederlegen  im  Gedächtniss  und  Wiedernachlallen  mit  den  Lippen, 
sondern  ein  Wachsen  des  Sprachvermögens  durch  Alter  und  Uebung. 
Das  Gehörte  thut  mehr,  als  bloss  sich  mitzutheilen;  es  schickt 
die  Seele  an,  auch  das  noch  nicht  Gehörte  leichter  zu  verstehen, 
macht  längst  Gehörtes,  aber  damals  halb  oder  gar  nicht  Ver- 
standenes, indem  die  Gleichartigkeit  mit  dem  eben  Vernommenen 
der  seitdem  schärfer  gewordenen  Kraft  plötzlich  einleuchtet,  klar 
und  schärft  den  Drang  und  das  Vermögen,  aus  dem  Gehörten 
immer  mehr  und  schneller  in  das  Gedächtniss  hinüberzuziehen, 
immer  weniger  davon  als  blossen  Klang  vorüberrauschen  zu  lassen. 
Die  Fortschritte  beschleunigen  sich  daher  auch  nicht,  v/ie  etwa 
beim  Vocabellernen,  in  gleichmässigem,  nur  durch  die  verstärkte 
Uebung  des  Gedächtnisses  vv^achsendem  Verhäitniss,  sondern  in 
beständig  sich  selbst  steigerndem  Verhäitniss,  da  die  Erhöhung 
der  Kraft  und  die  Gewinnung  des  Stoffs  sich  gegenseitig  ver- 
stärken und  erweitern.  Dass  bei  den  Kindern  nicht  ein  mecha- 
nisches Lernen  der  Sprache,  sondern  eine  Entwicklung  der  Sprach- 
kraft vorgeht,  beweist  auch,  dass,  da  den  hauptsächlichsten  mensch- 
lichen Kräften  ein  gewisser  Zeitpunkt  im  Lebensalter  zu  ihrer 
Entwicklung  angewiesen  ist,  alle  Kinder  unter  den  verschieden- 
artigsten Umständen  ungefähr  in  demselben,  nur  innerhalb  eines 
kurzen  Zeitraums  schw^ankenden  Alter  sprechen  und  verstehen. 
Wie  aber  könnte  sich  der  Hörende  bloss  durch  das  Wachsen  seiner 
eignen,  sich  abgeschieden  in  ihm  entwickelnden  Kraft  des  Ge- 
sprochenen bemeistern,  wenn  nicht  in  dem  Sprechenden  und 
Hörenden  dasselbe,  nur  individuell  und  zu  gegenseitiger  Ange- 
messenheit getrennte  Wesen  wäre,  so  dass  ein  so  feines,  aber 
gerade  aus  der  tiefsten  und  eigentlichsten  Natur  desselben  ge- 
schöpftes Zeichen,  wie  der  articulirte  Laut  ist,  hinreicht,  beide  auf 
übereinstimmende  Weise  vermittelnd  anzuregen? 

Man  könnte  gegen  das  hier  Gesagte  einwenden  wollen,  dass 
Kinder  jedes  Volkes,  ehe  sie  sprechen,  unter  jedes  fremde  versetzt, 
ihr  Sprachvermögen  an  dessen  Sprache  entwickeln.  Diese  unläug- 
bare  Thatsache,  könnte  man  sagen,  beweist  deutlich,  dass  die 
Sprache  bloss  ein  Wiedergeben  des  Gehörten  ist  und,  ohne  Rück- 
sicht auf  Einheit   oder  Verschiedenheit  des  Wesens,    allein   vom 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     I4.     cg 

geselligen  Umgänge  abhängt.  Man  hat  aber  schwerlich  in  Fällen 
dieser  Art  mit  hinlänglicher  Genauigkeit  bemerken  können,  mit 
welcher  Schwierigkeit  die  Stammanlage  hat  überwunden  werden 
müssen,  und  wie  sie  doch  vielleicht  in  den  feinsten  Nuancen  un- 
besiegt zurückgeblieben  ist.  Ohne  indess  auch  hierauf  zu  achten, 
erklärt  sich  jene  Erscheinung  hinlänglich  daraus,  dass  der  Mensch 
überall  Eins  mit  dem  Menschen  ist,  und  die  Entwicklung  des 
Sprachvermögens  daher  mit  Hülfe  jedes  gegebenen  Individuum 
vor  sich  gehen  kann.  Sie  geschieht  darum  nicht  minder  aus  dem 
eignen  Innern;  nur  weil  sie  immer  zugleich  der  äusseren  An- 
regung bedarf,  muss  sie  sich  derjenigen  analog  erweisen,  die  sie 
gerade  erfährt,  und  kann  es  bei  der  Uebereinstimmung  aller 
menschlichen  Sprachen.  Die  Gewalt  der  Abstammung  über  diese 
liegt  demungeachtet  klar  genug  in  ihrer  \"ertheilung  nach  Nationen 
vor  Augen.  Sie  ist  auch  an  sich  leicht  begreiflich,  da  die  Ab- 
stammung so  vorherrschend  mächtig  auf  die  ganze  Individualität 
einwirkt,  und  mit  dieser  wieder  die  jedesmalige  besondre  Sprache 
auf  das  innigste  zusammenhängt.  Träte  nicht  die  Sprache  durch 
ihren  Ursprung  aus  der  Tiefe  des  menschlichen  Wesens  auch  mit 
der  physischen  Abstammung  in  wahre  und  eigentliche  ^^erbindung, 
warum  würde  sonst  für  den  Gebildeten  und  Ungebildeten  die 
vaterländische  eine  so  viel  grössere  Stärke  und  Innigkeit  besitzen, 
als  eine  fremde,  dass  sie  das  Ohr,  nach  langer  Entbehrung,  mit 
einer  Art  plötzlichen  Zaubers  begrüsst  und  in  der  Ferne  Sehn- 
sucht erweckt?  Es  beruht  dies  sichtbar  nicht  auf  dem  Geistigen 
in  derselben,  dem  ausgedrückten  Gedanken  oder  Gefühle,  sondern 
gerade  auf  dem  Unerklärlichsten  und  Individuellsten,  auf  ihrem 
Laute;  es  ist  uns,  als  wenn  wir  mit  dem  heimischen  einen  Theil 
unseres  Selbst  vernähmen. 

Auch  bei  der  Betrachtung  des  durch  die  Sprache  Erzeugten 
wird  die  Vorstellungsart,  als  bezeichne  sie  bloss  die  schon  an  sich 
wahrgenommenen  Gegenstände,  nicht  bestätigt.  Man  würde  viel- 
mehr niemals  durch  sie  den  tiefen  und  vollen  Gehalt  der  Sprache 
erschöpfen.  Wie,  ohne  diese,  kein  Begriff  möglich  ist,  so  kann 
es  für  die  Seele  auch  kein  Gegenstand  se^^n,  da  ja  selbst  jeder 
äussere  nur  vermittelst  des  Begriffes  für  sie  vollendete  Wesenheit 
erhält.  In  die  Bildung  und  in  den  Gebrauch  der  Sprache  geht 
aber  nothwendig  die  ganze  Art  der  subjectiven  Wahrnehmung  der 
Gegenstände  über.  Denn  das  W^ort  entsteht  eben  aus  dieser 
Wahrnehmung,   ist  nicht   ein  Abdruck  des  Gegenstandes  an  sich, 


ßo  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

sondern  des  von  diesem  in  der  Seele  erzeugten  Bildes.  Da  aller 
objectiven  Wahrnehmung  unvermeidlich  Subjectivität  beigemischt 
ist,  so  kann  man,  schon  unabhängig  von  der  Sprache,  jede  mensch- 
liche Individualität  als  einen  eignen  Standpunkt  der  Weltansicht 
betrachten.  Sie  wird  aber  noch  viel  mehr  dazu  durch  die  Sprache, 
da  das  Wort  sich  der  Seele  gegenüber  auch  wieder,  wie  wir  weiter 
unten  sehen  werden,  mit  einem  Zusatz  von  Selbstbedeutung  zum 
Object  macht  und  eine  neue  Eigenthümlichkeit  hinzubringt.  In 
dieser,  als  der  eines  Sprachlauts,  herrscht  nothwendig  in  derselben 
Sprache  eine  durchgehende  Analogie ;  und  da  auch  auf  die  Sprache 
in  derselben  Nation  eine  gleichartige  Subjectivität  einwirkt,  so  liegt 
in  jeder  Sprache  eine  eigenthümliche  Weltansicht.  Wie  der  ein- 
zelne Laut  zwischen  den  Gegenstand  und  den  Menschen,  so  tritt 
die  ganze  Sprache  zwischen  ihn  und  die  innerlich  und  äusserlich 
auf  ihn  einwirkende  Natur.  Er  umgiebt  sich  mit  einer  Welt  von 
Lauten,  um  die  Welt  von  Gegenständen  in  sich  aufzunehmen  und 
zu  bearbeiten.  Diese  Ausdrücke  überschreiten  auf  keine  Weise 
das  Mass  der  einfachen  Wahrheit.  Der  Mensch  lebt  mit  den 
Gegenständen  hauptsächlich,  ja,  da  Empfinden  und  Handien  in 
ihm  von  seinen  Vorstellungen  abhängen,  sogar  ausschliesslich  so, 
wie  die  Sprache  sie  ihm  zuführt.  Durch  denselben  Act,  vermöge 
dessen  er  die  Sprache  aus  sich  herausspinnt,  spinnt  er  sich  in  die- 
selbe ein,  und  jede  zieht  um  das  Volk,  welchem  sie  angehört, 
einen  Kreis,  aus  dem  es  nur  insofern  hinauszugehen  möglich  ist, 
als  man  zugleich  in  den  Kreis  einer  andren  hinübertritt.  Die  Er- 
lernung einer  fremden  Sprache  sollte  daher  die  Gewinnung  eines 
neuen  Standpunkts  in  der  bisherigen  Weltansicht  seyn  und  ist  es 
in  der  That  bis  auf  einen  gewissen  Grad,  da  jede  Sprache  das 
ganze  Gewebe  der  Begriffe  und  die  Vorstellungsweise  eines  Theils 
der  Menschheit  enthält.  Nur  weil  man  in  eine  fremde  Sprache 
immer,  mehr  oder  weniger,  seine  eigne  Welt-,  ja  seine  eigne 
Sprachansicht  hinüberträgt,  so  wird  dieser  Erfolg  nicht  rein  und 
vollständig  empfunden. 

Selbst  die  Anfänge  der  Sprache  darf  man  sich  nicht  auf  eine 
so  dürftige  Anzahl  von  Wörtern  beschränkt  denken,  als  man  wohl 
zu  thun  pflegt,  indem  man  ihre  Entstehung,  statt  sie  in  dem  ur- 
sprünglichen Berufe  zu  freier,  menschlicher  Geselligkeit  zu  suchen, 
vorzugsweise  dem  Bedürfniss  gegenseitiger  Hülfsleistung  beimisst 
und  die  Menschheit  in  einen  eingebildeten  Naturstand  versetzt. 
Beides  gehört  zu  den  irrigsten  Ansichten,  die  man  über  die  Sprache 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     14.     5l 

fassen  kann.  Der  Mensch  ist  nicht  so  bedürftig,  und  zur  Hülfs- 
leistung  hätten  unarticulirte  Laute  ausgereicht.  Die  Sprache  ist 
auch  in  ihren  Anfängen  durchaus  menschlich  und  dehnt  sich  ab- 
sichtslos auf  alle  Gegenstände  zufälliger  sinnlicher  Wahrnehmung 
und  innerer  Bearbeitung  aus.  Auch  die  Sprache  der  sogenannten 
Wilden,  die  doch  einem  solchen  Naturstande  näher  kommen 
müssten,  zeigen  gerade  eine  überall  über  das  Bedürfniss  über- 
schiessende  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  von  Ausdrücken.  Die 
Worte  entquillen  freiwillig,  ohne  Xoth  und  Absicht,  der  Brust, 
und  es  mag  wohl  in  keiner  Einöde  eine  wandernde  Horde  gegeben 
haben,  die  nicht  schon  ihre  Lieder  besessen  hätte.  Denn  der  Mensch, 
als  Thiergattung,  ist  ein  singendes  Geschöpf,  aber  Gedanken  mit 
den  Tönen  verbindend. 

Die  Sprache  verpflanzt  aber  nicht  bloss  eine  unbestimmbare 
Menge  stoflFartiger  Elemente  aus  der  Natur  in  die  Seele,  sie  führt 
ihr  auch  dasjenige  zu,  was  uns  als  Form  aus  dem  Ganzen  ent- 
gegenkommt. Die  Natur  entfaltet  vor  uns  eine  bunte  und  nach 
allen  sinnlichen  Eindrücken  hin  gestaltenreiche  Mannigfaltigkeit, 
von  lichtvoller  Klarheit  umstrahlt;  unser  Nachdenken  entdeckt 
in  ihr  eine  unsrer  Geistesform  zusagende  Gesetzmässigkeit;  ab- 
gesondert von  dem  körperlichen  Daseyn  der  Dinge,  hängt  an  ihren 
Umrissen,  wie  ein  nur  für  den  Menschen  bestimmter  Zauber, 
äussere  Schönheit,  in  welcher  die  Gesetzmässigkeit  mit  dem  sinn- 
lichen Stoff'  einen  uns,  indem  wir  von  ihm  ergriffen  und  hinge- 
rissen werden,  doch  unerklärbar  bleibenden  Bund  eingeht.  Alles 
dies  linden  wir  in  analogen  iVnklängen  in  der  Sprache  wieder, 
und  sie  vermag  es  darzustellen.  Denn  indem  wir  an  ihrer  Hand 
in  eine  Welt  von  Lauten  übergehen,  verlassen  wir  nicht  die  uns 
wirklich  umgebende;  mit  der  Gesetzmässigkeit  der  Natur  ist  die 
ihres  eignen  Baues  verwandt,  und  indem  sie  durch  diesen  den 
Menschen  in  der  Thätigkeit  seiner  höchsten  und  menschlichsten 
Ivräfte  anregt,  bringt  sie  ihn  auch  überhaupt  dem  Verständniss 
des  formalen  Eindrucks  der  Natur  näher,  da  diese  doch  auch  nur 
als  eine  wenngleich  unerklärliche  Entwicklung  geistiger  Kräfte 
betrachtet  werden  kann;  durch  die  dem  Laute  in  seinen  Ver- 
knüpfungen eigenthümliche  rhythmische  und  musikalische  Form 
erhöht  die  Sprache,  ihn  in  ein  andres  Gebiet  versetzend,  den  Schön- 
heitseindruck der  Natur,  wirkt  aber,  auch  unabhängig  von  ihm,  durch 
den  blossen  Fall  der  Rede  auf  die  Stimmung  der  Seele  ein. 

Von  dem  jedesmal  Gesprochenen  ist  die  Sprache,  als  die  Masse 


52  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

seiner  Erzeugnisse,  verschieden;  und  wir  müssen,  ehe  wir  diesen 
Abschnitt  verlassen,  noch  bei  der  näheren  Betrachtung  dieser  Ver- 
schiedenheit verweilen.  Eine  Sprache  in  ihrem  ganzen  Umfange 
enthält  alles  durch  sie  in  Laute  Verwandelte.  Wie  aber  der  Stoff 
des  Denkens  und  die  Unendlichkeit  der  Verbindungen  desselben 
niemals  erschöpft  werden,  so  kann  dies  ebensowenig  mit  der 
Menge  des  zu  Bezeichnenden  und  zu  Verknüpfenden  in  der 
Sprache  der  Fall  seyn.  Die  Sprache  besteht  daher,  neben  den 
schon  geformten  Elementen,  ganz  vorzüglich  auch  aus  Methoden, 
die  Arbeit  des  Geistes,  welcher  sie  die  Bahn  und  die  Form  vor- 
zeichnet, weiter  fortzusetzen.  Die  einmal  fest  geformten  Elemente 
bilden  zwar  eine  gewissermassen  todte  Masse,  diese  Masse  trägt 
aber  den  lebendigen  Keim  nie  endender  Bestimmbarkeit  in  sich. 
Auf  jedem  einzelnen  Punkt  und,  in  jeder  einzelnen  Epoche  er- 
scheint daher  die  Sprache,  gerade  wie  die  Natur  selbst,  dem 
Menschen,  im  Gegensatze  mit  allem  ihm  schon  Bekannten  und 
von  ihm  Gedachten,  als  eine  unerschöpfliche  Fundgrube,  in  welcher 
der  Geist  immer  noch  Unbekanntes  entdecken  und  die  Empfindung 
noch  nicht  auf  diese  Weise  Gefühltes  wahrnehmen  kann.  In  jeder 
Behandlung  der  Sprache  durch  eine  wahrhaft  neue  und  grosse 
Genialität  zeigt  sich  diese  Erscheinung  in  der  Wirklichkeit;  und 
der  Mensch  bedarf  es  zur  Begeisterung  in  seinem  immer  fort- 
arbeitenden intellectuellen  Streben  und  der  fortschreitenden  Ent- 
faltung seines  geistigen  LebensstofFes ,  dass  ihm,  neben  dem  Ge- 
biete des  schon  Errungenen,  der  Blick  in  eine  unendliche,  allmählich 
weiter  zu  entwirrende  Masse  offen  bleibe.  Die  Sprache  enthält 
aber  zugleich  nach  zwei  Richtungen  hin  eine  dunkle,  unenthüllte 
Tiefe.  Denn  auch  rückwärts  fliesst  sie  aus  unbekanntem  Reich- 
thum  hervor,  der  sich  nur  bis  auf  eine  gewisse  Weite  noch  er- 
kennen lässt,  dann  aber  sich  schliesst  und  nur  das  Gefühl  seiner 
Unergründlichkeit  zurücklässt.  Die  Sprache  hat  diese  anfangs- 
und  endlose  Unendlichkeit  für  uns,  denen  nur  eine  kurze  Ver- 
gangenheit Licht  zuwirft,  mit  dem  ganzen  Daseyn  des  Menschen- 
geschlechts gemein.  Man  fühlt  und  ahndet  aber  in  ihr  deutlicher 
und  lebendiger,  wie  auch  die  ferne  Vergangenheit  sich  noch  an 
das  Gefühl  der  Gegenwart  knüpft,  da  die  Sprache  durch  die  Em- 
pfindungen der  früheren  Geschlechter  durchgegangen  ist  und 
ihren  Anhauch  bewahrt  hat,  diese  Geschlechter  aber  uns  in  den- 
selben Lauten  der  Muttersprache ,  die  auch  uns  Ausdruck  unsrer 
Gefühle  wird,  nationell  und  familienartig  verwandt  sind. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     14.     Qo 

Dies  theils  Feste,  theils  Flüssige  in  der  Sprache  bringt  ein 
eignes  Verhältniss  zwischen  ihr  und  dem  redenden  Geschlechte 
hervor.  Es  erzeugt  sich  in  ihr  ein  Vorrath  von  Wörtern  und  ein 
System  von  Regeln,  durch  welche  sie  in  der  Folge  der  Jahr- 
tausende zu  einer  selbstständigen  Macht  anwächst.  Wir  sind  im 
Vorigen  darauf  aufmerksam  geworden,  dass  der  in  Sprache  auf- 
genommene Gedanke  für  die  Seele  zum  Object  wird  und  insofern 
eine  ihr  fremde  Wirkung  auf  sie  ausübt.  Wir  haben  aber  das 
Object  vorzüglich  als  aus  dem  Subject  entstanden,  die  Wirkung 
als  aus  demjenigen,  worauf  sie  zurückw^irkt,  hervorgegangen  be- 
trachtet. Jetzt  tritt  die  entgegengesetzte  Ansicht  ein,  nach  welcher 
die  Sprache  wirklich  ein  fremdes  Object,  ihre  Wirkung  in  der 
That  aus  etwas  andrem,  als  worauf  sie  wirkt,  hervorgegangen  ist. 
Denn  die  Sprache  muss  nothwendig  (S.  56.  57.)  zweien  angehören 
und  ist  wahrhaft  ein  Eigenthum  des  ganzen  Menschengeschlechts. 
Da  sie  nun  auch  in  der  Schrift  den  schlummernden  Gedanken 
dem  Geiste  erweckbar  erhält,  so  bildet  sie  sich  ein  eigenthüm- 
liches  Daseyn,  das  zwar  immer  nur  in  jedesmaligem  Denken  Gel- 
tung erhalten  kann,  aber  in  seiner  Totalität  von  diesem  unab- 
hängig ist.  Die  beiden  hier  angeregten,  einander  entgegengesetzten 
Ansichten,  dass  die  Sprache  der  Seele  fremd  und  ihr  angehörend, 
von  ihr  unabhängig  und  abhängig  ist,  verbinden  sich  wirklich  in 
ihr  und  machen  die  Eigenthümlichkeit  ihres  Wesens  aus.  Es 
muss  dieser  Widerstreit  auch  nicht  so  gelöst  werden,  dass  sie  zum 
Theil  fremd  und  unabhängig  und  zum  Theil  beides  nicht  sey. 
Die  Sprache  ist  gerade  insofern  objectiv  einwirkend  und  selbst- 
ständig, als  sie  subjectiv  gewirkt  und  abhängig  ist.  Denn  sie  hat 
nirgends,  auch  in  der  Schrift  nicht,  eine  bleibende  Stätte,  ihr 
gleichsam  todter  Theil  muss  immer  im  Denken  aufs  neue  erzeugt 
werden,  lebendig  in  Rede  oder  Verständniss,  und  folglich  ganz  in 
das  Subject  übergehen ;  es  liegt  aber  in  dem  Act  dieser  Erzeugung, 
sie  gerade  ebenso  zum  Object  zu  machen:  sie  erfährt  auf  diesem 
W^ege  jedesmal  die  ganze  Einwirkung  des  Individuum;  aber  diese 
Einwirkung  ist  schon  in  sich  durch  das,  was  sie  wirkt  und  ge- 
wirkt hat,  gebunden.  Die  wahre  Lösung  jenes  Gegensatzes  liegt 
in  der  Einheit  der  menschlichen  Natur.  Was  aus  dem  stammt, 
was  eigentlich  mit  mir  Eins  ist,  darin  gehen  die  Begriffe  des  Sub- 
jects  und  Objects,  der  Abhängigkeit  und  Unabhängigkeit  in  ein- 
ander über.  Die  Sprache  gehört  mir  an,  weil  ich  sie  so  hen/or- 
bringe,  als  ich  thue ;  und  da  der  Grund  hiervon  zugleich  in  dem 


ßA  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Sprechen  und  Gesprochenhaben  aller  Menschengeschlechter  liegt, 
soweit  Sprachmittheilung  ohne  Unterbrechung  unter  ihnen  ge- 
wesen seyn  mag,  so  ist  es  die  Sprache  selbst,  von  der  ich  dabei 
Einschränkung  erfahre.  Allein  was  mich  in  ihr  beschränkt  und 
bestimmt,  ist  in  sie  aus  menschlicher,  mit  mir  innerlich  zusammen- 
hängender Natur  gekommen,  und  das  Fremde  in  ihr  ist  daher 
dies  nur  für  meine  augenblicklich  individuelle,  nicht  meine  ur- 
sprünglich wahre  Natur. 

Wenn  man  bedenkt,  wie  auf  die  jedesmalige  Generation  in 
einem  Volke  alles  dasjenige  bildend  einwirkt,  was  die  Sprache 
desselben  alle  vorigen  Jahrhunderte  hindurch  erfahren  hat,  und 
wie  damit  nur  die  Kraft  der  einzelnen  Generation  in  Berührung 
tritt  und  diese  nicht  einmal  rein,  da  das  aufwachsende  und  ab- 
tretende Geschlecht  untermischt ,  neben  einander  leben,  so  wird 
klar,  wie  gering  eigentlich  die  Kraft  des  Einzelnen  gegen  die 
Macht  der  Sprache  ist.  Nur  durch  die  ungemeine  Bildsamkeit 
der  letzteren,  durch  die  Möglichkeit,  ihre  Formen,  dem  all- 
gemeinen Verständniss  unbeschadet,  auf  sehr  verschiedene  Weise 
aufzunehmen,  und  durch  die  Gewalt,  welche  alles  lebendig  Geistige 
über  das  todt  Ueberlieferte  ausübt,  wird  das  Gleichgewicht  wieder 
einigermassen  hergestellt.  Doch  ist  es  immer  die  Sprache,  in 
welcher  jeder  Einzelne  am  lebendigsten  fühlt,  dass  er  nichts  als 
ein  Ausfluss  des  ganzen  Menschengeschlechts  ist.  Weil  indess 
doch  jeder  einzeln  und  unaufhörlich  auf  sie  zurückwirkt,  bringt 
demungeachtet  jede  Generation  eine  Veränderung  in  ihr  hervor, 
die  sich  nur  oft  der  Beobachtung  entzieht.  Denn  die  Veränderung 
liegt  nicht  immer  in  den  Wörtern  und  Formen  selbst,  sondern 
bisweilen  nur  in  dem  anders  modificirten  Gebrauche  derselben; 
und  dies  letztere  ist,  wo  Schrift  und  Literatur  mangeln,  schwieriger 
wahrzunehmen.  Die  Rückwirkung  des  Einzelnen  auf  die  Sprache 
wird  einleuchtender,  wenn  man,  was  zur  scharfen  Begrenzung  der 
Begriffe  nicht  fehlen  darf,  bedenkt,  dass  die  Individualität  einer 
Sprache  (wie  man  das  Wort  gewöhnlich  nimmt)  auch  nur  ver- 
gleichungsweise  eine  solche  ist,  dass  aber  die  wahre  Individualität 
nur  in  dem  jedesmal  Sprechenden  liegt.  Erst  im  Individuum  er- 
hält die  Sprache  ihre  letzte  Bestimmtheit.  Keiner  denkt  bei  dem 
Wort  gerade  und  genau  das,  was  der  andre,  und  die  noch  so 
kleine  Verschiedenheit  zittert,  wie  ein  Kreis  im  Wasser,  durch  die 
ganze  Sprache  fort.  Alles  Verstehen  ist  daher  immer  zugleich  ein 
Nicht-Verstehen,  alle  Uebereinstimmung  in  Gedanken  und  Gefühlen 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.      14.   15.     ßc 

zugleich  ein  Auseinandergehen.  In  der  Art,  wie  sich  die  Sprache 
in  jedem  Individuum  modificirt,  offenbart  sich,  ihrer  im  \'origen 
dargestellten  Macht  gegenüber,  eine  Gewalt  des  Menschen  über 
sie.  Ihre  Macht  kann  man  (wenn  man  den  Ausdruck  auf  geistige 
Kraft  anwenden  will)  als  ein  ph^'siologisches  Wirken  ansehen ;  die 
von  ihm  ausgehende  Gewalt  ist  ein  rein  dynamisches.  In  dem 
auf  ihn  ausgeübten  Einfluss  liegt  die  Gesetzmässigkeit  der  Sprache 
und  ihrer  Formen,  in  der  aus  ihm  kommenden  Rückwirkung  ein 
Princip  der  Freiheit.  Denn  es  kann  im  Menschen  etwas  aufsteigen, 
dessen  Grund  kein  Verstand  in  den  vorhergehenden  Zuständen 
aufzufinden  vermag;  und  man  würde  die  Natur  der  Sprache  ver- 
kennen und  gerade  die  geschichtliche  Wahrheit  ihrer  Entstehung 
und  Umänderung  verletzen,  wenn  man  die  Möglichkeit  solcher 
unerklärbaren  Erscheinungen  von  ihr  ausschliessen  wollte.  Ist 
aber  auch  die  Freiheit  an  sich  unbestimmbar  und  unerklärlich,  so 
lassen  sich  doch  vielleicht  ihre  Gränzen  innerhalb  eines  gewissen 
ihr  allein  gewährten  Spielraums  auffinden;  und  die  Sprachunter- 
suchung muss  die  Erscheinung  der  Freiheit  erkennen  und  ehren, 
aber  auch  gleich  sorgfältig  ihren  Gränzen  nachspüren. 


Lautsystem  der  Sprachen.    Natur  des  articulirten 

Lautes. 

Der  Mensch  nöthigt  den  articulirten  Laut,  die  Grundlage  und  15. 
das  Wesen  alles  Sprechens,  seinen  körperlichen  Werkzeugen  durch 
den  Drang  seiner  Seele  ab,  und  das  Thier  würde  das  Nemliche 
zu  thun  vermögen,  wenn  es  von  dem  gleichen  Drange  beseelt 
wäre.  So  ganz  und  ausschliesslich  ist  die  Sprache  schon  in  ihrem 
ersten  und  unentbehrlichsten  Elemente  in  der  geistigen  Natur 
des  Menschen  gegründet,  dass  ihre  Durchdringung  hinreichend, 
aber  nothwendig  ist,  den  thierischen  Laut  in  articulirten  zu  ver- 
wandeln. Denn  die  Absicht  und  die  Fähigkeit  zur  Bedeutsamkeit, 
und  zwar  nicht  zu  dieser  überhaupt,  sondern  zu  der  bestimmten 
durch  Darstellung  eines  Gedachten,  macht  allein  den  articulirten 
Laut  aus,  und  es  lässt  sich  nichts  andres  angeben,  um  seinen 
Unterschied  auf  der  einen  Seite  vom  thierischen  Geschrei,  auf  der 
andren  vom  musikalischen  Ton  zu  bezeichnen.  Er  kann  nicht 
seiner  Beschaffenheit,  sondern  nur  seiner  Erzeugung  nach  be- 
schrieben werden,  und   dies  liegt  nicht  im  Mangel  unsrer  Fähig- 

W.  V.  Humboldt.  Werke.     VII.  5 


ßß  I,    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

keit,  sondern  charakterisirt  ihn  in  seiner  eigenthümlichen  Natur, 
da  er  eben  nichts,  als  das  absichtliche  Verfahren  der  Seele,  ihn 
hervorzubringen,  ist  und  nur  so  viel  Körper  enthält,  als  die  äussere 
Wahrnehmung  nicht  zu  entbehren  vermag. 

Dieser  Körper,  der  hörbare  Laut,  lässt  sich  sogar  gewisser- 
massen  von  ihm  trennen  und  die  Articulation  dadurch  noch  reiner 
herausheben.  Dies  sehen  wir  an  den  Taubstummen.  Durch  das 
Ohr  ist  jeder  Zugang  zu  ihnen  verschlossen;  sie  lernen  aber  das 
Gesprochene  an  der  Bewegung  der  Sprachwerkzeuge  des  Reden- 
den und  an  der  Schrift,  deren  Wesen  die  Articulation  schon  ganz 
ausmacht,  verstehen ;  sie  sprechen  selbst,  indem  man  die  Lage  und 
Bewegung  ihrer  Sprachwerkzeuge  lenkt.  Dies  kann  nur  durch 
das,  auch  ihnen  beiwohnende  Articulationsvermögen  geschehen, 
indem  sie,  durch  den  Zusammejihang  ihres  Denkens  mit  ihren 
Sprachwerkzeugen,  im  Andren  aus  dem  einen  Gliede,  der  Be- 
wegung seiner  Sprachwerkzeuge,  das  andre,  sein  Denken,  errathen 
lernen.  Der  Ton,  den  wir  hören,  offenbart  sich  ihnen  durch  die 
Lage  und  Bewegung  der  Organe  und  durch  die  hinzukommende 
Schrift,  sie  vernehmen  durch  das  Auge  und  das  angestrengte  Be- 
mühen des  Selbstsprechens  seine  Articulation  ohne  sein  Geräusch. 
Es  geht  also  in  ihnen  eine  merkwürdige  Zerlegung  des  articulirten 
Lautes  vor.  Sie  verstehen,  da  sie  alphabetisch  lesen  und 
schreiben  und  selbst  reden  lernen,  wirklich  die  Sprache,  er- 
kennen nicht  bloss  angeregte  Vorstellungen  an  Zeichen  oder  Bildern. 
Sie  lernen  reden,  nicht  bloss  dadurch,  dass  sie  Vernunft,  wie  andre 
Menschen,  sondern  ganz  eigenthch  dadurch,  dass  sie  auch  Sprach- 
fähigkeit besitzen,  Uebereinstimmung  ihres  Denkens  mit  ihren 
Sprachwerkzeugen,  und  Drang,  beide  zusammenwirken  zu  lassen, 
das  eine  und  das  andere  wesentlich  gegründet  in  der  menschlichen, 
wenn  auch  von  einer  Seite  verstümmelten  Natur.  Der  Unterschied 
zwischen  ihnen  und  uns  ist,  dass  ihre  Sprachwerkzeuge  nicht 
durch  das  Beispiel  eines  fertigen  articulirten  Lautes  zur  Nach- 
ahmung geweckt  werden,  sondern  die  Aeusserung  ihrer  Thätig- 
keit  auf  einem  naturwidrigen,  künstlichen  Umwege  erlernen  müssen. 
Es  erweist  sich  aber  auch  an  ihnen,  wie  tief  und  enge  die  Schrift, 
selbst  wo  die  Vermittlung  des  Ohres  fehlt,  mit  der  Sprache  zu- 
sammenhängt. 

Die  Articulation  beruht  auf  der  Gewalt  des  Geistes  über  die 
Sprachwerkzeuge,  sie  zu  einer  der  Form  seines  Wirkens  ent- 
sprechenden Behandlung  des  Lautes  zu  nöthigen.    Dasjenige,  worin 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     15.     ßn 

sich  diese  Form  und  die  Articulation,  wie  in  einem  verknüpfenden 
Mittel,  begegnen,  ist,  dass  beide  ihr  Gebiet  in  Grundtheile  zer- 
legen, deren  Zusammenfügung  lauter  solche  Ganze  bildet,  welche 
das  Streben  in  sich  tragen,  Theile  neuer  Ganze  zu  werden.  Das 
Denken  fordert  ausserdem  Zusammenfassung  des  Mannigfaltigen 
in  Einheit.  Die  nothwendigen  Merkmale  des  articulirten  Lautes 
sind  daher  scharf  zu  vernehmende  Einheit  und  eine  Beschaffen- 
heit, die  sich  mit  andren  und  allen  denkbaren  articulirten  Lauten 
in  ein  bestimmtes  Verhältniss  zu  stellen  vermag.  Die  Geschieden- 
heit des  Lautes  von  allen  ihn  verunreinigenden  Nebenklängen  ist 
zu  seiner  Deutlichkeit  und  der  Möglichkeit  zusammentönenden 
Wohllauts  unentbehrlich,  fliesst  aber  auch  unmittelbar  aus  der 
Absicht,  ihn  zum  Elemente  der  Rede  zu  machen.  Er  steht  von 
selbst  rein  da,  w^enn  diese  wahrhaft  energisch  ist,  sich  von  ver- 
wirrtem und  dunklem  thierischen  Geschrei  losmacht  und  als  Er- 
zeugniss  rein  menschlichen  Dranges  und  menschlicher  Absicht 
hervortritt.  Die  Einpassung  in  ein  System,  vermöge  dessen  jeder 
articulirte  Laut  etwas  an  sich  trägt,  in  Beziehung  worauf  andre 
ihm  zur  Seite  oder  gegenüber  stehen,  wird  durch  die  Art  der  Er- 
zeugung bewirkt.  Denn  jeder  einzelne  Laut  wird  in  Beziehung 
auf  die  übrigen,  mit  ihm  gemeinschaftlich  zur  freien  Vollständig- 
keit der  Rede  nothwendigen  gebildet.  Ohne  dass  sich  angeben 
Hesse,  wie  dies  zugeht,  brechen  aus  jedem  Volke  gerade  die 
articulirten  Laute  und  in  derjenigen  Beziehung  auf  einander  her- 
vor, welche  und  wie  sie  das  Sprachsystem  desselben  erfordert.  Die 
ersten  Hauptunterschiede  bildet  die  Verschiedenheit  der  Sprach- 
werkzeuge und  des  räumlichen  Ortes  in  jedem  derselben,  wo  der 
articulirte  Laut  hervorgebracht  wird.  Es  gesellen  sich  dann  zu 
ihm  Nebenbeschaffenheiten ,  die  jedem,  ohne  Rücksicht  auf  die 
Verschiedenheit  der  Organe,  eigen  seyn  können,  wie  Hauch,  Zischen, 
Nasenton  u.  s.  w.  Von  diesen  droht  jedoch  der  reinen  Geschiedenheit 
der  Laute  Gefahr,  und  es  ist  ein  doppelt  starker  Beweis  des  Vor- 
waltens  richtigen  Sprachsinns,  wenn  ein  Alphabet  diese  Laute 
dergestalt  durch  die  Aussprache  gezügelt  enthält,  dass  sie  vollständig 
und  doch  dem  feinsten  Ohre  unvermischt  und  rein  hervortönen. 
Diese  Nebenbeschaffenheiten  müssen  alsdann  mit  der  ihnen  zum 
Grunde  liegenden  Articulation  in  eine  eigne  Modification  des 
Hauptlautes  zusammenschmelzen  und  auf  jede  andre,  ungeregelte 
Weise  durchaus  verbannt  seyn. 

Die    consonantisch    gebildeten    articulirten    Laute   lassen   sich 

5* 


gg  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

nicht  anders,  als  von  einem  Klang  gebenden  Luftzuge  begleitet 
aussprechen.  Dies  Ausströmen  der  Luft  giebt  nach  dem  Orte, 
wo  es  erzeugt  wird,  und  nach  der  Oeffnung,  durch  die  es  strömt, 
ebenso  bestimmt  verschiedne  und  gegen  einander  in  festen  Ver- 
hältnissen stehende  Laute,  als  die  der  Consonantenreihe.  Durch 
dies  gleichzeitig  zwiefache  Lautverfahren  wird  die  Sylbe  gebildet. 
In  dieser  aber  liegen  nicht,  wie  es,  nach  unsrer  Art  zu  schreiben, 
scheinen  sollte,  zwei  oder  mehrere  Laute,  sondern  eigentlich  nur 
Ein  auf  eine  bestimmte  Weise  herausgestossener.  Die  Theilung 
der  einfachen  Sylbe  in  einen  Consonanten  und  Vocal,  insofern 
man  sich  beide  als  selbstständig  denken  will,  ist  nur  eine  künst- 
liche. In  der  Natur  bestimmen  sich  Consonant  und  Vocal  der- 
gestalt gegenseitig,  dass  sie  für  das  Ohr  eine  durchaus  unzertrenn- 
liche Einheit  ausmachen-  Soll  daher  auch  die  Schrift  diese  natür- 
liche Beschaffenheit  bezeichnen ,  so  ist  es  richtiger ,  so  wie  es 
mehrere  Asiatische  Alphabete  thun,  die  Vocale  gar  nicht  als  eigne 
Buchstaben,  sondern  bloss  als  Modificationen  der  Consonanten  zu 
behandeln.  Genau  genommen,  können  auch  die  Vocale  nicht  allein 
ausgesprochen  werden.  Der  sie  bildende  Luftstrom  bedarf  eines 
ihn  hörbar  machenden  Anstosses;  und  giebt  diesen  kein  klar  an 
lautender  Consonant,  so  ist  dazu  ein,  auch  noch  so  leiser  Hauch 
erforderlich,  den  einige  Sprachen  auch  in  der  Schrift  jedem  An- 
fangsvocal  vorausgehen  lassen.  Dieser  Hauch  kann  sich  gradweise 
bis  zum  wirklich  gutturalen  Consonanten  verstärken,  und  die 
Sprache  kann  die  verschiednen  Stufen  dieser  Verhärtung,  als  eigne 
Buchstaben,  bezeichnen.  Der  Vocal  verlangt  dieselbe  reine  Ge- 
schiedenheit, als  der  Consonant,  und  die  Sylbe  muss  diese  doppelte 
an  sich  tragen.  Sie  ist  aber  im  V^ocalsystem,  obgleich  der  A^oUen- 
dung  der  Sprache  nothwendiger,  dennoch  schwieriger  zu  bewahren. 
Der  Vocal  verbindet  sich  nicht  bloss  mit  einem  ihm  vorangehenden, 
sondern  ebensowohl  mit  einem  ihm  nachfolgenden  Laute,  der  ein 
reiner  Consonant,  aber  auch  ein  blosser  Hauch,  wie  das  Sanskritische 
Wisarga  und  in  einigen  Fällen  das  Arabische  schliessende  Elif 
seyn  kann.  Gerade  dort  aber  ist  die  Reinheit  des  Lautes,  vor- 
züglich wenn  sich  kein  eigentlicher  Consonant,  sondern  nur  eine 
Nebenbeschaffenheit  der  articulirten  Laute  an  den  Vocal  anschliesst, 
für  das  Ohr  schwieriger,  als  beim  Anlaute  zu  erreichen,  so  dass 
die  Schrift  einiger  Völker  von  dieser  Seite  her  sehr  mangelhaft 
erscheint.  Durch  die  zwei,  sich  immer  gegenseitig  bestimmenden, 
aber  doch   sowohl   durch   das  Ohr,   als   die  Abstraction  bestimmt 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     15.     ßg 

unterschiedenen  Consonanten-  und  Vocalreihen  entsteht  nicht  nur 
eine  neue  Mannigfaltigkeit  von  Verhältnissen  im  Alphabete,  sondern 
auch  ein  Gegensatz  dieser  beiden  Reihen  gegen  einander,  von 
welchem  die  Sprache  vielfachen  Gebrauch  macht. 

In  der  Summe  der  articulirten  Laute  lässt  sich  also  bei  jedem 
Alphabete  ein  Zvv^iefaches  unterscheiden,  wodurch  dasselbe  mehr 
oder  weniger  wohlthätig  auf  die  Sprache  einwirkt,  nemlich  der 
absolute  Reichthum  desselben  an  Lauten  und  das  relative  Ver- 
hältniss  dieser  Laute  zu  einander  und  zu  der  Vollständigkeit  und 
Gesetzmässigkeit  eines  vollendeten  Lauts\^stems.  Ein  solches  System 
enthält  nemlich,  seinem  Schema  nach,  als  ebenso  viele  Classen  der 
Buchstaben,  die  Arten,  wie  die  articulirten  Laute  sich  in  Verwandt- 
schaft an  einander  reihen  oder  in  Verschiedenheit  einander  gegen 
überstellen,  Gegensatz  und  Verwandtschaft  von  allen  den  Bezie- 
hungen aus  genommen,  in  welchen  sie  statt  finden  können.  Bei 
Zergliederung  einer  einzelnen  Sprache  fragt  es  sich  nun  zuerst, 
ob  die  Verschiedenartigkeit  ihrer  Laute  vollständig  oder  mangel- 
haft die  Punkte  des  Schemas  besetzt,  welche  die  \'erwandtschaft 
oder  der  Gegensatz  angeben,  und  ob  daher  der,  oft  nicht  zu  ver- 
kennende Reichthum  an  Lauten  nach  einem  dem  Sprachsinne 
des  Volks  in  allen  seinen  Theilen  zusagenden  Bilde  des  ganzen 
Lautsystems  gleichmässig  vertheilt  ist  oder  Classen  Mangel  leiden, 
indem  andre  Ueberfluss  haben?  Die  wahre  Gesetzmässigkeit,  der 
das  Sanskrit  in  der  That  sehr  nahe  kommt,  würde  erfordern,  dass 
jeder  nach  dem  Ort  seiner  Bildung  verschiedenartige  articulirte 
Laut  durch  alle  Classen,  mithin  durch  alle  Laut-Modificationen 
durchgeführt  se}',  welche  das  Ohr  in  den  Sprachen  zu  unterscheiden 
pflegt.  Bei  diesem  ganzen  Theile  der  Sprachen  kommt  es,  wie 
man  leicht  sieht,  vor  allem  auf  eine  glückliche  Organisation  des 
Ohrs  und  der  Sprachwerkzeuge  an.  Es  ist  aber  auch  keinesweges 
gleichgültig,  wie  klangreich  oder  lautarm,  gesprächig  oder  schweig- 
sam ein  Volk  seinem  Naturell  und  seiner  Empfindungsweise  nach 
sey.  Denn  das  Gefallen  am  articulirt  hervorgebrachten  Laute  giebt 
demselben  Reichthum  und  Mannigfaltigkeit  an  Verknüpfungen. 
Selbst  dem  unarticulirten  Laute  kann  ein  gewisses  freies  und  da- 
her edleres  Gefallen  an  seiner  Hervorbringung  nicht  immer  ab- 
gesprochen werden.  Oft  entpresst  ihn  zwar,  wie  bei  widrigen 
Empfindungen,  die  Noth;  in  andren  Fällen  liegt  ihm  Absicht  zum 
Grunde,  indem  er  lockt,  warnt  oder  zur  Hülfe  herbeiruft.  Aber 
er  entströmt  auch,  ohne  Noth  und  Absicht,   dem  frohen  Gefühle 


nQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

des  Daseyns  und  nicht  bloss  der  rohen  Lust,  sondern  auch  dem 
zarteren  Gefallen  am  kunstvolleren  Schmettern  der  Töne.  Dies 
Letzte  ist  das  Poetische,  ein  aufglimmender  Funke  in  der  thierischen 
Dumpfheit.  Diese  verschiednen  Arten  der  Laute  sind  unter  die 
mehr  oder  minder  stummen  und  klangreichen  Geschlechter  der 
Thiere  sehr  ungleich  vertheilt,  und  verhältnissmässig  wenigen  ist 
die  höhere  und  freudigere  Gattung  geworden.  Es  wäre,  auch  für 
die  Sprache,  belehrend,  bleibt  aber  vielleicht  immer  unergründet, 
woher  diese  Verschiedenheit  stammt.  Dass  die  Vögel  allein  Gesang 
besitzen,  Hesse  sich  vielleicht  daraus  erklären,  dass  sie  freier,  als 
alle  andre  Thiere,  in  dem  Elemente  des  Tons  und  in  seinen 
reineren  Regionen  leben,  wenn  nicht  so  viele  Gattungen  derselben, 
gleich  den  auf  der  Erde  wandelnden  Thieren,  an  wenige  einförmige 
Laute  gebunden  wären. 

In  der  Sprache  entscheidet  jedoch  nicht  gerade  der  Reichthum 
an  Lauten,  es  kommt  vielmehr  im  Gegentheil  auf  keusche  Be- 
schränkung auf  die  der  Rede  nothwendigen  Laute  und  auf  das 
richtige  Gleichgewicht  zwischen  denselben  an.  Der  Sprachsinn 
muss  daher  noch  etwas  andres  enthalten,  was  wir  uns  nicht  im 
Einzelnen  zu  erklären  vermögen,  ein  instinctartiges  Vorgefühl  des 
ganzen  Systems,  dessen  die  Sprache  in  dieser  ihrer  individuellen 
Form  bedürfen  wird.  Was  sich  eigentlich  in  der  ganzen  Sprach- 
erzeugung wiederholt,  tritt  auch  hier  ein.  Man  kann  die  Sprache 
mit  einem  ungeheuren  Gewebe  vergleichen,  in  dem  jeder  Theil 
mit  dem  andren  und  alle  mit  dem  Ganzen  in  mehr  oder  weniger 
deutlich  erkennbarem  Zusammenhange  stehen.  Der  Mensch  berührt 
im  Sprechen,  von  welchen  Beziehungen  man  ausgehen  mag,  immer 
nur  einen  abgesonderten  Theil  dieses  Gewebes,  thut  dies  aber 
instinctartig  immer  dergestalt,  als  wären  ihm  zugleich  alle,  mit 
welchen  jener  einzelne  nothwendig  in  Uebereinstimmung  stehen 
muss,  im  gleichen  Augenblick  gegenwärtig. 


Lautsystem  der  Sprachen.     Lautveränderungen. 

i6.  Die  einzelnen  Articulationen  machen  die  Grundlage  aller  Laut- 
verknüpfungen der  Sprache  aus.  Die  Gränzen,  in  welche  diese 
dadurch  eingeschlossen  werden,  erhalten  aber  zugleich  ihre  noch 
nähere  Bestimmung  durch  die  den  meisten  Sprachen  eigenthümliche 
Lautumformung,   die  auf  besondren  Gesetzen  und  Gewohnheiten 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.      15.    16.     -yj 

beruht.  Sie  geht  sowohl  die  Consonanten-,  als  Vocalreihe  an,  und 
einige  Sprachen  unterscheiden  sich  noch  dadurch,  dass  sie  von 
der  einen  oder  andren  dieser  Reihen  vorzugsweise  oder  zu  ver- 
schiednen  Zwecken  Gebrauch  machen.  Der  wesentliche  Nutzen 
dieser  Umformung  besteht  darin,  dass,  indem  der  absolute  Sprach- 
reichthum  und  die  Laut-Mannigfaltigkeit  dadurch  vermehrt  werden, 
dennoch  an  dem  umgeformten  Element  sein  Urstamm  erkannt 
werden  kann.  Die  Sprache  wird  dadurch  in  den  Stand  gesetzt, 
sich  in  grösserer  Freiheit  zu  bewegen,  ohne  dadurch  den  dem 
Verständnisse  und  dem  Aufsuchen  der  Verwandtschaft  der  Begriffe 
nothwendigen  Faden  zu  verlieren.  Denn  diese  folgen  der  Ver- 
änderung der  Laute  oder  gehen  ihr  gesetzgebend  voran,  und  die 
Sprache  gewinnt  dadurch  an  lebendiger  Anschaulichkeit.  Mangelnde 
Lautumformung  setzt  dem  Wiedererkennen  der  bezeichneten  Be- 
griffe an  den  Lauten  Hindernisse  entgegen,  eine  Schwierigkeit,  die 
im  Chinesischen  noch  fühlbarer  seyn  würde,  w^enn  nicht  dort  sehr 
häufig,  in  Ableitung  und  Zusammensetzung,  die  Analogie  der 
Schrift  an  die  Stelle  der  Laut-Analogie  träte.  Die  Lautumformung 
unterliegt  aber  einem  zwiefachen,  sich  oft  gegenseitig  unter- 
stützenden, allein  auch  in  andren  Fällen  einander  entgegen- 
kämpfenden Gesetze.  Das  eine  ist  ein  bloss  organisches,  aus  den 
Sprachwerkzeugen  und  ihrem  Zusammenwirken  entstehend,  von 
der  Leichtigkeit  und  Schwierigkeit  der  Aussprache  abhängend  und 
daher  der  natürlichen  Verwandtschaft  der  Laute  folgend.  Das 
andre  wird  durch  das  geistige  Princip  der  Sprache  gegeben, 
hindert  die  Organe,  sich  ihrer  blossen  Neigung  oder  Trägheit  zu 
überlassen,  und  hält  sie  bei  Lautverbindungen  fest,  die  ihnen  an 
sich  nicht  natürlich  seyn  würden.  Bis  auf  einen  gewissen  Grad 
stehen  beide  Gesetze  in  Harmonie  mit  einander.  Das  geistige 
muss  zur  Beförderung  leichter  und  fliessender  Aussprache  dem 
andren,  soviel  es  möglich  ist,  nachgebend  huldigen,  ja  bisweilen, 
um  von  einem  Laute  zum  andren,  wenn  eine  solche  Verbindung 
durch  die  Bezeichnung  als  nothwendig  erachtet  wird,  zu  gelangen, 
andre,  bloss  organische  Uebergänge  ins  Werk  richten.  In  gewisser 
Absicht  aber  stehen  beide  Gesetze  einander  so  entgegen,  dass, 
wenn  das  geistige  in  der  Kraft  seiner  Einwirkung  nachlässt,  das 
organische  das  Uebergewicht  gewinnt,  so  wie  im  thierischen  Körper 
beim  Erlöschen  des  Lebensprincips  die  chemischen  Affinitäten  die 
Herrschaft  erhalten.  Das  Zusammenwirken  und  der  Widerstreit 
dieser   beiden    Gesetze   bringt   sowohl    in    der    uns    ursprünglich 


•^2  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

scheinenden  Form  der  Sprachen,  als  in  ihrem  Verfolge  mannig- 
faltige Erscheinungen  hervor,  welche  die  genaue  grammatische  Zer- 
gliederung entdeckt  und  aufzählt. 

Die  Lautumformung,  von  der  wir  hier  reden,  kommt  haupt- 
sächlich in  zwei  oder  wenn  man  will,  in  drei  Stadien  der  Sprach- 
bildung vor:  bei  den  Wurzeln,  den  daraus  abgeleiteten  Wörtern 
und  deren  weiterer  Ausbildung  in  die  verschiednen  allgemeinen, 
in  der  Natur  der  Sprache  liegenden  Formen.  Mit  dem  eigen- 
thümlichen  Systeme,  welches  jede  Sprache  hierin  annimmt,  muss 
ihre  Schilderung  beginnen.  Denn  es  ist  gleichsam  das  Bett,  in 
welchem  ihr  Strom  von  Zeitalter  zu  Zeitalter  fliesst;  ihre  allge- 
meinen Richtungen  werden  dadurch  bedingt  und  ihre  individuellsten 
Erscheinungen  weiss  eine  beharrliche  Zergliederung  auf  diese  Grund- 
lage zurückzuführen. 


Lautsystem    der    Sprachen.      Vertheilung    der    Laute 
unter  die  Begriffe.  • 

17.  .  Unter  Wörtern  versteht  man  die  Zeichen  der  einzelnen  Be- 
griffe. Die  Sylbe  bildet  eine  Einheit  des  Lautes;  sie  wird  aber 
erst  zum  Worte,  wenn  sie  für  sich  Bedeutsamkeit  erhält,  wozu 
oft  eine  Verbindung  mehrerer  gehört.  Es  kommt  daher  in  dem 
Worte  allemal  eine  doppelte  Einheit,  des  Lautes  und  des  Begriffes, 
zusammen.  Dadurch  werden  die  Wörter  zu  den  wahren  Elementen 
der  Rede,  da  die  der  Bedeutsamkeit  ermangelnden  Sylben  nicht 
eigentlich  so  genannt  werden  können.  Wenn  man  sich  die  Sprache 
als  eine  zweite,  von  dem  Menschen  nach  den  Eindrücken,  die  er 
von  der  wahren  empfängt,  aus  sich  selbst  heraus  objectivirte  Welt 
vorstellt,  so  sind  die  Wörter  die  einzelnen  Gegenstände  darin, 
denen  daher  der  Charakter  der  Individualität,  auch  in  der  Form, 
erhalten  werden  muss.  Die  Rede  läuft  zwar  in  ungetrennter 
Stätigkeit  fort,  und  der  Sprechende,  ehe  auf  die  Sprache  gerichtete 
Reflexion  hinzutritt,  hat  darin  nur  das  Ganze  des  zu  bezeichnen- 
den Gedanken  im  Auge.  Man  kann  sich  unmöglich  die  Entstehung 
der  Sprache  als  von  der  Bezeichnung  der  Gegenstände  durch 
Wörter  beginnend  und  von  da  zur  Zusammenfügung  übergehend 
denken.  In  der  Wirklichkeit  wird  die  Rede  nicht  aus  ihr  voran- 
gegangenen Wörtern  zusammengesetzt,  sondern  die  Wörter  gehen 
umgekehrt  aus  dem  Ganzen  der  Rede  hervor.  Sie  werden  aber 
auch  schon  ohne  eigentliche  Reflexion  und  selbst  in  dem  rohesten 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     l6.    17.     nn 

und  ungebildetsten  Sprechen  empfunden,  da  die  Wortbildung  ein 
wesentliches  Bedürfniss  des  Sprechens  ist.  Der  Umfang  des  Worts 
ist  die  Gränze,  bis  zu  welcher  die  Sprache  selbstthätig  bildend  ist. 
Das  einfache  Wort  ist  die  vollendete,  ihr  entknospende  Blüthe.  In 
ihm  gehört  ihr  das  fertige  Erzeugniss  selbst  an.  Dem  Satz  und 
der  Rede  bestimmt  sie  nur  die  regelnde  Form  und  überlässt  die 
individuelle  Gestaltung  der  Willkühr  des  Sprechenden.  Die  Wörter 
erscheinen  auch  oft  in  der  Rede  selbst  isolirt,  allein  ihre  wahre 
Herausiindung  aus  dem  Continuum  derselben  gelingt  nur  der 
Schärfe  des  schon  mehr  vollendeten  Sprachsinnes ;  und  es  ist  dies 
gerade  ein  Punkt,  in  welchem  die  \^orzüge  und  Mängel  einzelner 
Sprachen  vorzüglich  sichtbar  werden. 

Da  die  Wörter  immer  Begriffen  gegenüberstehen,  so  ist  es 
natürlich,  verwandte  Begriffe  mit  verwandten  Lauten  zu  bezeichnen. 
Wenn  man  die  Abstammung  der  Begriffe,  mehr  oder  weniger 
deutlich,  im  Geiste  wahrnimmt,  so  muss  ihr  eine  Abstammung 
in  den  Lauten  entsprechen,  so  dass  ^Verwandtschaft  der  Begriffe 
und  Laute  zusammentrifft.  Die  Lautverwandtschaft,  die  doch  nicht 
zu  Einerleiheit  des  Lautes  werden  soll,  kann  nur  daran  sichtbar 
sevn.  dass  ein  Theil  des  Wortes  einen,  gewissen  Regeln  unter- 
worfenen Wechsel  erfährt,  ein  anderer  Theil  dagegen  ganz  un- 
verändert oder  nur  in  leicht  erkennbarer  Veränderung  bestehen 
bleibt.  Diese  festen  Theile  der  Wörter  und  Wortformen  nennt 
man  die  wurzelhaften  und  w^enn  sie  abgesondert  dargestellt 
werden,  die  Wurzeln  der  Sprache  selbst.  Diese  Wurzeln ^)  er- 
scheinen in  ihrer  nackten  Gestalt  in  der  zusammengefügten  Rede 
in  einigen  Sprachen  selten,  in  anderen  gar  nicht.  Sondert  man 
die  Begriffe  genau,  so  ist  das  letztere  sogar  immer  der  Fall.  Denn 
so  wie  sie  in  die  Rede  eintreten,  nehmen  sie  auch  in  Gedanken 
eine  ihrer  Verbindung  entsprechende  Kategorie  an  und  enthalten 
daher  nicht  mehr  den  nackten  und  formlosen  Wurzelbegriflf.  Auf 
der  andren  Seite  kann  man  sie  aber  auch  nicht  in  allen  Sprachen 
ganz  als  eine  Frucht  der  blossen  Reflexion  und  als  das  letzte 
Resultat  der  Wortzergliederung,  also  lediglich  wie  eine  Arbeit  der 
Grammatiker  ansehen.-)  In  Sprachen,  welche  bestimmte  Ableitungs- 
gesetze  in   grosser  Mannigfaltigkeit  von  Lauten   und  Ausdrücken 

V  Nach  „Wurzeln"  gestrichen:  „kann  man  nicht  geradezu  als  einen  Theil 
der  Sprache  ausmachend  ansehen.    Denn  sie". 

'^)  Nach  „ansehen"  gestrichen:  „Die  Sache  selbst  verhält  sich  wohl folgender- 
gestalt." 


i-jA  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

besitzen,  müssen  die  wurzelliaften  Laute  sich  in  der  Phantasie  und 
dem  Gedächtniss  der  Redenden  leicht  als  die  eigentlich  ursprüng- 
lich, aber,  bei  ihrer  Wiederkehr  in  so  vielen  Abstufungen  der  Be 
griffe,  als  die  allgemein  bezeichnenden  herausheben.  Prägen  sie 
sich  als  solche  dem  Geiste  tief  ein,  so  werden  sie  leicht  auch  in 
die  verbundene  Rede  unverändert  eingeflochten  werden  und  mit- 
hin der  Sprache  auch  in  wahrer  Wortform  angehören.  Sie  können 
aber  auch  schon  in  uralter  Zeit  in  der  Periode  des  Aufsteigens 
zur  Formung  auf  diese  Weise  gebräuchlich  gewesen  sej^n,  so  dass 
sie  wirklich  den  Ableitungen  vorausgegangen  und  Bruchstücke 
einer  später  erweiterten  und  umgeänderten  Sprache  wären.  Auf 
diese  Weise  lässt  sich  erklären,  wie  wir  z.  B.  im  Sanskrit,  wenn 
wir  die  uns  bekannten  Schriften  zu  Rathe  ziehen,  nur  gewisse 
Wurzeln  gewöhnlich  in  die  Rede -eingefügt  finden.  Denn  in  diesen 
Dingen  waltet  natürlich  in  den  Sprachen  auch  der  Zufall  mit ;  und 
wenn  die  Indischen  Grammatiker  sagen ,  dass  jede  ihrer  angeb- 
lichen Wurzeln  so  gebraucht  werden  könne,  so  ist  dies  wohl  nicht 
eine  aus  der  Sprache  entnommene  Thatsache,  sondern  eher  ein 
ihr  eigenmächtig  gegebenes  Gesetz.  Sie  scheinen  überhaupt,  auch 
bei  den  Formen,  nicht  bloss  die  gebräuchlichen  gesammelt,  son- 
dern jede  Form  durch  alle  Wurzeln  durchgeführt  zu  haben;  und 
dies  System  der  Verallgemeinerung  ist  auch  in  andren  Theilen 
der  Sanskrit-Grammatik  genau  zu  beachten.  Die  Aufzählung  der 
Wurzeln  beschäftigte  die  Grammatiker  vorzüglich,  und  die  voll- 
ständige Zusammenstellung   derselben  ist   unstreitig  ihr  Werk.*)  ^) 


*)  Hieraus  erklärt  sich  nun  auch,  warum  in  der  Form  der  Sanskrit- Wurzeln  keine 
Rücksicht  auf  die  Wohllautsgesetze  genommen  wird.  Die  auf  uns  gekommenen  Wurzel- 
verzeichnisse tragen  in  Allem  das  Gepräge  einer  Arbeit  der  Grammatiker  an  sich,  und 
eine  ganze  Zahl  von  Wurzeln  mag  nur  ihrer  Abstraction  ihr  Daseyn  verdanken.*)  Pott's 
treffliche  Forschungen  (Etymologische  Forschungen.  1833.)  haben  schon  sehr  viel  in 
diesem  Gebiete  aufgeräumt,  und  man  darf  sich  noch  viel  mehr  von  der  Fortsetzung 
derselben  versprechen. 

\}  Nach  „Werk"  gestrichen:  „Darum  sind  aber  die  Wurzeln  nicht  weniger 
ein  wirklicher  Theil  der  Sprache  selbst,  und  der  Unterschied  besteht  nur  darin, 
ob  eine  Sprache  sie  bloss  als  wurzelhafte  Laute  oder  wenigstens  einzeln,  auch  als 
in  Wortform  erscheinende  Wurzeln  besitzt.  In  grossen  Sprachstämmen,  wo  die 
Bildung  der  einzelnen  Sprachen  sehr  verschiedenen  Epochen  angehören  kann, 
scheint  es  begreiflich,  dass,  wenn  auch  die  Zerliederung  in  allen  bis  zu  den 
Wurzellauten  hinaufsteigen  kann,  diese  doch  nicht  in  allen  späteren  in  der  Rede 
selbst  in  nackter  Gestalt  hervorkommen,  sondern  in  einigen  in  der  That  nur  Ab- 
stractionen  der  Sprachforschung  sind." 

y  Nach  „verdanken"  gestrichen:   „Wenn  aber  Bopp   (Abh.  der  Akad.  d. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     17.    18.     nr 

Es  giebt  aber  auch  Sprachen,  die  in  dem  hier  angenommenen 
Sinn  wirklich  keine  Wurzeln  haben,  weil  es  ihnen  an  Ableitungs- 
gesetzen und  Lautumformung  von  einfacheren  Lautverknüpfungen 
aus  fehlt.  Alsdann  fallen,  wie  im  Chinesischen,  Wurzeln  und 
Wörter  zusammen,  da  sich  die  letzteren  in  keine  Formen  aus- 
einander legen  oder  erweitern ;  die  Sprache  besitzt  bloss  Wurzeln. 
Von  solchen  Sprachen  aus  wäre  es  denkbar,  dass  andere,  den 
Wörtern  jene  Lautumformung  hinzufügende  entstanden  wären,  so 
dass  die  nackten  Wurzeln  der  letzteren  den  Wortvorrath  einer 
älteren,  in  ihnen  aus  der  Rede  ganz  oder  zum  Theil  verschwun- 
denen Sprache  ausmachten.  Ich  führe  dies  aber  bloss  als  eine 
Möglichkeit  an;  dass  es  sich  wirklich  mit  irgend  einer  Sprache 
also  verhielte,  könnte  nur  geschichtlich  erwiesen  werden. 

Wir  haben  die  Wörter  hier,  zum  Einfachen  hinaufgehend,  von 
den  Wurzeln  gesondert.  Wir  können  sie  aber  auch,  zum  noch  Ver- 
wickelteren hinabsteigend,  von  den  eigentlich  grammatischen  Formen 
unterscheiden.  Die  Wörter  müssen  nemlich,  um  in  die  Rede  ein- 
gefugt zu  werden,  verschiedene  Zustände  andeuten,  und  die  Be- 
zeichnung dieser  kann  an  ihnen  selbst  geschehen,  so  dass  dadurch 
eine  dritte,  in  der  Regel  erweiterte  Lautform  entspringt,  Ist  die 
hier  angedeutete  Trennung  scharf  und  genau  in  einer  Sprache,  so 
können  die  Wörter  der  Bezeichnung  dieser  Zustände  nicht  ent- 
behren und  also,  insofern  dieselben  durch  Lautverschiedenheit  be 
zeichnet  sind,  nicht  unverändert  in  die  Rede  eintreten,  sondern 
höchstens  als  Theile  andrer,  diese  Zeichen  an  sich  tragender  Wörter 
darin  erscheinen.  Wo  dies  nun  in  einer  Sprache  der  Fall  ist, 
nennt  man  diese  Wörter  Grundwörter;  die  Sprache  besitzt  alsdann 
wirklich  eine  Lautform  in  dreifach  sich  erweiternden  Stadien,  und 
dies  ist  der  Zustand,  in  welchem  sich  ihr  LautS3'^stem  zu  dem 
grössten  Umfange  ausdehnt. 

Die  Vorzüge  einer  Sprache  in  Absicht  ihres  Lauts3'stems  be-  ü 
ruhen  aber,  ausser  der  Feinheit  der  Sprachwerkzeuge  und  des 
Ohrs  und  ausser  der  Neigung,  dem  Laute  die  grösste  Mannig- 
faltigkeit und  die  vollendetste  Ausbildung  zu  geben,  ganz  besonders 
noch  auf  der  Beziehung  desselben  zur  Bedeutsamkeit.  Die  äusseren, 
zu  allen  Sinnen  zugleich  sprechenden  Gegenstände  und  die  innren 


Wissensch.  zu  Berlin,  hist.  philolog.  Classe.  1824.  S.  12g.  Anm.  2.)  aus  diesem 
Grunde  die  Wurzeln  überhaupt  für  grammatische  Abstractionen  erklärt,  so  kann 
ich  dieser  Meinung  nur  unter  den  oben  angegebenen  Modißcationen  beitreten." 


-iß  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Bewegungen  des  Gemüths  bloss  durch  Eindrücke  auf  das  Ohr 
darzustellen,  ist  eine  im  Einzelnen  grossentheils  unerklärbare 
Operation.  Dass  Zusammenhang  zwischen  dem  Laute  und  dessen 
Bedeutung  vorhanden  ist,  scheint  gewiss ;  die  Beschaffenheit  dieses 
Zusammenhanges  aber  lässt  sich  selten  vollständig  angeben,  oft 
nur  ahnden  und  noch  viel  öfter  gar  nicht  errathen.  Wenn  man 
bei  den  einfachen  Wörtern  stehen  bleibt,  da  von  den  zusammen- 
gesetzten hier  nicht  die  Rede  seyn  kann,  so  sieht  man  einen  drei- 
fachen Grund,  gewisse  Laute  mit  gewissen  Begriffen  zu  verbinden, 
fühlt  aber  zugleich,  dass  damit,  besonders  in  der  Anwendung,  bei 
weitem  nicht  Alles  erschöpft  ist.  Man  kann  hiernach  eine  drei- 
fache Bezeichnung  der  Begriffe  unterscheiden: 

1.  Die  unmittelbar  nachahmende,  wo  der  Ton,  welchen  ein 
tönender  Gegenstand  hervorbringt,  in  dem  Worte  so  weit  nach- 
gebildet wird,  als  articulirte  Laute  unarticulirte  wiederzugeben 
im  Stande  sind.  Diese  Bezeichnung  ist  gleichsam  eine  malende; 
so  wie  das  Bild  die  Art  darstellt,  wie  der  Gegenstand  dem  Auge 
erscheint,  zeichnet  die  Sprache  die,  wie  er  vom  Ohre  vernommen 
wird.  Da  die  Nachahmung  hier  immer  unarticulirte  Töne  triift, 
so  ist  die  Articulation  mit  dieser  Bezeichnung  gleichsam  im  Wider- 
streite; und  je  nachdem  sie  ihre  Natur  zu  wenig  oder  zu  heftig 
in  diesem  Zwiespalte  geltend  macht,  bleibt  entweder  zu  viel  des 
Unarticulirten  übrig,  oder  es  verwischt  sich  bis  zur  Unkennbarkeit. 
Aus  diesem  Grunde  ist  diese  Bezeichnung,  wo  sie  irgend  stark 
hervortritt,  nicht  von  einer  gewissen  Rohheit  freizusprechen, 
kommt  bei  einem  reinen  und  kräftigen  Sprachsinn  wenig  hervor 
und  veriiert  sich  nach  und  nach  in  der  fortschreitenden  Ausbildung 
der  Sprache. 

2.  Die  nicht  unmittelbar,  sondern  in  einer  dritten,  dem  Laute 
und  dem  Gegenstande  gemeinschaftlichen  Beschaffenheit  nach- 
ahmende Bezeichnung.  Man  kann  diese,  obgleich  der  Begriff 
des  Symbols  in  der  Sprache  viel  weiter  geht,  die  symboUsche 
nennen.  Sie  wählt  für  die  zu  bezeichnenden  Gegenstände  Läute 
aus,  welche  theils  an  sich,  theils  in  \'ergleichung  mit  andren  für 
das  Ohr  einen  dem  des  Gegenstandes  auf  die  Seele  ähnlichen  Ein- 
druck hervorbringen,  wie  stehen,  stätig,  starr  den  Eindruck  des 
Festen,  das  Sanskritische  li,  schmelzen,  auseinandergehen, 
den  des  Zerfliessenden,  nicht,  nagen,  Neid  den  des  fein  und 
scharf  Abschneidenden.  Auf  diese  Weise  erhalten  ähnliche  Eindrücke 
hervorbringende  Gegenstände  Wörter  mit  vorherrschend  gleichen 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     l8.     »y- 

Lauten,  wie  wehen,  Wind,  Wolke,  wirren,  Wunsch,  in 
welchen  allen  die  schwankende,  unruhige,  vor  den  Sinnen  undeut- 
lich durcheinandergehende  Bewegung  durch  das  aus  dem,  an  sich 
schon  dumpfen  und  hohlen  u  verhärtete  w  ausgedrückt  wird. 
Diese  Art  der  Bezeichnung,  die  auf  einer  gewissen  Bedeutsamkeit 
jedes  einzelnen  Buchstaben  und  ganzer  Gattungen  derselben  be- 
ruht, hat  unstreitig  auf  die  primitive  Wortbezeichnung  eine  grosse, 
vielleicht  ausschliessliche  Herrschaft  ausgeübt.  Ihre  nothwendige 
Folge  musste  eine  gewisse  Gleichheit  der  Bezeichnung  durch  alle 
Sprachen  des  Menschengeschlechts  hindurch  seyn,  da  die  Eindrücke 
der  Gegenstände  überall  mehr  oder  weniger  in  dasselbe  Verhält- 
niss  zu  denselben  Lauten  treten  mussten.  Vieles  von  dieser  Art 
lässt  sich  noch  heute  in  den  Sprachen  erkennen  und  muss  billiger- 
weise abhalten,  alle  sich  antreffende  Gleichheit  der  Bedeutung  und 
Laute  sogleich  für  Wirkung  gemeinschaftlicher  Abstammung  zu 
halten.  Will  man  aber  daraus,  statt  eines  bloss  die  geschicht- 
liche Herleitung  beschränkenden  oder  die  Entscheidung  durch  einen 
nicht  zurückzuweisenden  Zweifel  aufhaltenden,  ein  constitutives 
Princip  machen  und  diese  Art  der  Bezeichnung  als  eine  durch- 
gängige an  den  Sprachen  beweisen,  so  setzt  man  sich  grossen  Ge- 
fahren aus  und  verfolgt  einen  in  jeder  Rücksicht  schlüpfrigen 
Pfad.  Es  ist,  andrer  Gründe  nicht  zu  gedenken,  schon  viel  zu 
ungewiss,  was  in  den  Sprachen  sowohl  der  ursprüngliche  Laut, 
als  die  ursprüngliche  Bedeutung  der  Wörter  gewesen  ist;  und 
doch  kommt  hierauf  Alles  an.  Sehr  häufig  tritt  ein  Buchstabe 
nur  durch  organische  oder  gar  zufällige  Verwechslung  an  die 
Stelle  eines  andren,  wie  n  an  die  von  /,  d  von  r,  und  es  ist  jetzt 
nicht  immer  sichtbar,  wo  dies  der  Fall  gewesen  ist.  Da  mithin 
dasselbe  Resultat  verschiednen  LTrsachen  zugeschrieben  werden 
kann,  so  ist  selbst  grosse  Willkührlichkeit  von  dieser  Erklärungs- 
art nicht  auszuschliessen. 

3.  Die  Bezeichnung  durch  Lautähnlichkeit  nach  der  ^^erwandt- 
schaft  der  zu  bezeichnenden  Begrifte.^)  Wörter,  deren  Bedeutungen 
einander  nahe  liegen,  erhalten  gleichfalls  ähnliche  Laute;  es  wird 
aber  nicht,  wie  bei  der  eben  betrachteten  Bezeichnungsart,  auf 
den  in  diesen  Lauten  selbst  liegenden  Charakter  gesehen.  Diese 
Bezeichnungsweise  setzt,  um  recht  an  den  Tag  zu  komm.en,  in 
dem  Lautsysteme  Wortganze   von   einem   gewissen  Umfange  vor- 


V  Nach  „Begriff &'■  gestrichen:  „wie  Gischt  und  Geist". 


nf^  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

aus  oder  kann  wenigstens  nur  in  einem  solchen  Systeme  in 
grösserer  Ausdehnung  angewendet  werden.  Sie  ist  aber  die  frucht- 
barste von  allen,  und  die  am  klarsten  und  deutlichsten  den  ganzen 
Zusammenhang  des  intellectuell  Erzeugten  in  einem  ähnlichen  Zu- 
sammenhange der  Sprache  darstellt.  Man  kann  diese  Bezeichnung, 
in  welcher  die  Analogie  der  Begriffe  und  der  Laute,  jeder  in 
ihrem  eignen  Gebiete,  dergestalt  verfolgt  wird,  dass  beide  gleichen 
Schritt  halten  müssen,  die  analogische  nennen. 

Lautsystem  der  Sprachen.    Bezeichnung  allgemeiner 

Beziehungen. 

19.  In  dem  ganzen  Bereiche  des  in  der  Sprache  zu  Bezeichnen- 
den unterscheiden  sich  zwei  Gattungen  wesentlich  von  einander: 
die  einzelnen  Gegenstände  oder  Begriffe  und  solche  allgemeine 
Beziehungen,  die  sich  mit  vielen  der  ersteren  theils  zur  Bezeich- 
nung neuer  Gegenstände  oder  Begriffe,  theils  zur  Verknüpfung 
der  Rede  verbinden  lassen.  Die  allgemeinen  Beziehungen  gehören 
grösstentheils  den  Formen  des  Denkens  selbst  an  und  bilden,  in- 
dem sie  sich  aus  einem  ursprünglichen  Princip  ableiten  lassen, 
geschlossene  Systeme.  In  diesen  wird  das  Einzelne  sowohl  in 
seinem  Verhältniss  zu  einander,  als  zu  der  das  Ganze  zusammen- 
fassenden Gedankenform  durch  intellectuelle  Nothwendigkeit  be- 
stimmt. Tritt  nun  in  einer  Sprache  ein  ausgedehntes,  Mannig- 
faltigkeit erlaubendes  Lautsystem  hinzu,  so  können  die  Begriffe 
dieser  Gattung  und  die  Laute  in  einer  sich  fortlaufend  begleitenden 
Analogie  durchgeführt  werden.  Bei  diesen  Beziehungen  sind  von 
den  drei  im  Vorigen  (S.  75.)  aufgezählten  Bezeichnungsarten  vorzugs- 
weise die  S3^mbolische  und  analogische  anwendbar  und  lassen  sich 
wirklich  in  mehreren  Sprachen  deutlich  erkennen.  Wenn  z.  B. 
im  Arabischen  eine  sehr  gewöhnliche  Art  der  Bildung  der  Collectiva 
die  Einschiebung  eines  gedehnten  Vocals  ist,  so  wird  die  zu- 
sammengefasste  Menge  durch  die  Länge  des  Lautes  symbolisch 
dargestellt.  Man  kann  dies  aber  schon  als  eine  Verfeinerung  durch 
höher  gebildeten  Articulationssinn  betrachten.  Denn  einige  rohere 
Sprachen  deuten  Aehnliches  durch  eine  wahre  Pause  zwischen  den 
Sylben  des  Wortes  oder  auf  eine  Art  an,  die  der  Gebehrde  nahe 
kommt,  so  dass  alsdann  die  Andeutung  noch  mehr  körperlich 
nachahmend  wird.*)  Von  ähnlicher  Art  ist  die  unmittelbare  Wieder- 


*)  Einige  besonders  merkwürdige  Beispiele  dieser  Art  finden  sich   in    meiner  Ab- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     l8.    19.     nq 

holung  der  gleichen  Sylbe  zu  vielfacher  Andeutung,  namentlich 
auch  zu  der  der  Mehrheit,  so  wie  der  vergangenen  Zeit.  Es  ist 
merkwürdig,  im  Sanskrit,  zum  Theil  auch  schon  im  Malayischen 
Sprachstamme  zu  sehen,  wie  edle  Sprachen  die  Sylbenverdopplung, 
indem  sie  dieselbe  in  ihr  Lautsystem  verflechten,  durch  Wohl- 
lautsgesetze verändern  und  ihr  dadurch  das  rohere,  symbolisch 
nachahmende  Sylbengeklingel  nehmen.  Sehr  fein  und  sinnvoll 
ist  die  Bezeichnung  der  intransitiven  Verba  im  Arabischen  durch 
das  schwächere,  aber  zugleich  schneidend  eindringende  /,  im  Gegen- 
satz des  a  der  activen,  und  in  einigen  Sprachen  des  Mala3ischen 
Stammes  durch  die  Einschiebung  des  dumpfen,  gewissermassen 
mehr  in  dem  Inneren  verhaltenen  Nasenlauts.  Dem  Nasenlaute 
muss  hier  ein  Vocal  vorausgehen.  Die  Wahl  dieses  Vocals  folgt 
aber  wieder  der  Analogie  der  Bezeichnung;  dem  m  wird,  die 
w^enigen  Fälle  ausgenommen,  wo  durch  eine  vom  Laute  über  die 
Bedeutsamkeit  geübte  Gewalt  dieser  Vocal  sich  dem  der  folgenden 
Sylbe  assimilirt,  das  hohle,  aus  der  Tiefe  der  Sprachwerkzeuge 
kommende  u  vorausgeschickt,  so  dass  die  eingeschobene  Sylbe 
zmi  die  intransitive  Charakteristik  ausmacht. 

Da  sich  aber  die  Sprachbildung  hier  in  einem  ganz  in- 
tellectuellen  Gebiete  befindet,  so  entwickelt  sich  hier  auch  auf 
ganz  vorzügliche  Weise  noch  ein  andres  höheres  Princip,  nem- 
lich  der  reine  und,  wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist,  gleichsam 
nackte  Articulationssinn.  So  wie  das  Streben,  dem  Laute  Be- 
deutung zu  geben,  die  Natur  des  articulirten  Lautes,  dessen  Wesen 
ausschliesslich  in  dieser  Absicht  besteht,  überhaupt  schafft,  so  wirkt 
dasselbe  Streben  hier  auf  eine  bestimmte  Bedeutung  hin.  Diese 
Bestimmtheit  ist  um  so  grösser,  als  das  Gebiet  des  zu  Bezeichnen- 
den, indem  die  Seele  selbst  es  erzeugt,  wenn  es  auch  nicht  immer 
in  seiner  Totalität  in  die  Klarheit  des  Bewusstseyns  tritt,  doch  dem 
Geiste  wirksam  vorschwebt.  Die  Sprachbildung  kann  also  hier 
reiner  von  dem  Bestreben,  das  Aehnliche  und  Unähnliche  der 
Begriffe  bis  in  die  feinsten  Grade  durch  Wahl  und  Abstufung 
der  Laute  zu  unterscheiden,  geleitet  werden.  Je  reiner  und  klarer 
die  intellectuelle  Ansicht  des  zu  bezeichnenden  Gebietes  ist,  desto 
mehr  fühlt  sie  sich  gedrungen,  sich  von  diesem  Principe  leiten  zu 


handlung  über  das  Entstehen  der  grammatischen  Formen.     Abhandlungen  der  Akademie 
der   Wissenschaften   zu    Berlin.    1822.    1823.     Historisch-philologische    Classe.  S.  413.^) 
V  Vgl.  Band  4,  2g6. 


gQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

lassen,  und  ihr  vollendeter  Sieg  in  diesem  Theil  ihres  Geschäftes 
ist  die  vollständige  und  sichtbare  Herrschaft  desselben.  In  der 
Stärke  und  Reinheit  dieses  Articulationssinnes  liegt  daher,  wenn 
wir  die  Feinheit  der  Sprachorgane  und  des  Ohres,  so  wie  des 
Gefühls  für  Wohllaut  als  den  ersten  ansehen,  ein  zweiter  wichtiger 
Vorzug  der  sprachbildenden  Nationen.  Es  kommt  hier  Alles 
darauf  an,  dass  die  Bedeutsamkeit  den  Laut  wahrlich  durchdringe, 
und  dass  dem  sprachempfänglichen  Ohre,  zugleich  und  ungetrennt, 
in  dem  Laute  nichts  als  seine  Bedeutung  und,  von  dieser  aus- 
gegangen, der  Laut  gerade  und  einzig  für  sie  bestimmt  erscheine. 
Dies  setzt  natürlich  eine  grosse  Schärfe  der  abgegränzten  Bezie- 
hungen, da  wir  vorzüglich  von  diesen  hier  reden,  aber  auch  eine 
gleiche  in  den  Lauten  voraus.  Je  bestimmter  und  körperloser 
diese  sind,  desto  schärfer  setzen  sie  sich  von  einander  ab.  Durch 
die  Herrschaft  des  Articulationssinnes  wird  die  Empfänghchkeit 
sowohl,  als  die  Selbstthätigkeit  der  sprachbildenden  Kraft  nicht 
bloss  gestärkt,  sondern  auch  in  dem  allein  richtigen  Gleise  er- 
halten; und  da  diese,  wie  ich  schon  oben  (S.  70.)  bemerkt  habe, 
jedes  Einzelne  in  der  Sprache  immer  so  behandelt,  als  wäre  ihr 
zugleich  instinctartig  das  ganze  Gewebe,  zu  dem  das  Einzelne 
gehört,  gegenwärtig,  so  ist  auch  in  diesem  Gebiete  dieser  Instinct 
im  Verhältniss  der  Stärke  und  Reinheit  des  Articulationssinnes 
wirksam  und  fühlbar. 


Lautsystem   der   Sprachen.     Laut  form   der  Sprachen. 

Die  Lautform  ist  der  Ausdruck,  welchen  die .  Sprache  dem 
Gedanken  erschafft.  Sie  kann  aber  auch  als  ein  Gehäuse  betrachtet 
werden,  in  welches  sie  sich  gleichsam  hineinbaut.  Das  Schaffen, 
wenn  es  ein  eigentliches  und  vollständiges  seyn  soll,  könnte  nur 
von  der  ursprünglichen  Spracherfindung,  also  von  einem  Zustande 
gelten,  den  wir  nicht  kennen,  sondern  nur  als  nothwendige  Hypo- 
these voraussetzen.  Die  Anwendung  schon  vorhandener  Lautform 
auf  die  innren  Zwecke  der  Sprache  aber  lässt  sich  in  mittleren 
Perioden  der  Sprachbildung  als  möglich  denken.  Ein  Volk  könnte, 
durch  innre  Erleuchtung  und  Begünstigung  äusserer  Umstände, 
der  ihm  überkommenen  Sprache  so  sehr  eine  andre  Form  er- 
theilen,  dass  sie  dadurch  zu  einer  ganz  andren  und  neuen  würde. 
Dass  dies  bei  Sprachen  von  gänzlich  verschiedener  Form  möglich 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     19.  20.     3j; 

sey,  lässt  sich  mit  Grunde  bezweifeln.^)  Dagegen  ist  es  unläugbar, 
dass  Sprachen  durch  die  klarere  und  bestimmtere  Einsicht  der 
innern  Sprachform  geleitet  werden,  mannigfaltigere  und  schärfer 
abgegränzte  Nuancen  zu  bilden,  und  dazu  nun  ihre  vorhandene 
Lautform,  erweiternd  oder  verfeinernd,  gebrauchen.  In  Sprach- 
stämmen lehrt  alsdann  die  Vergleichung  der  verwandten  einzelnen 
Sprachen,  welche  den  andren  auf  diese  Weise  vorgeschritten  ist. 
Mehrere  solcher  Fälle  finden  sich  im  Arabischen,  wenn  man  es 
mit  dem  Hebräischen  vergleicht;  und  eine,  meiner  Schrift  über 
das  Kawi  vorbehaltene  interessante  Untersuchung  wird  es  seyn, 
ob  und  auf  welche  Weise  man  die  Sprachen  der  Südsee-Inseln  als 
die  Grundform  ansehen  kann,  aus  welcher  sich  die  im  engeren 
Verstände  Malayischen  des  Indischen  Archipelagus  und  Madagascars 
nur  weiter  entwickelt  haben? 

Die  Erscheinung  im  Ganzen  erklärt  sich  vollständig  aus  dem 
natürlichen  Verlauf  der  Spracherzeugung.  Die  Sprache  ist,  wie 
es  aus  ihrer  Natur  selbst  hervorgeht,  der  Seele  in  ihrer  Totalität 
gegenwärtig,  d.  h.  jedes  Einzelne  in  ihr  verhält  sich  so,  dass  es 
Andrem,  noch  nicht  deutlich  Gewordenem  und  einem  durch  die 
Summe  der  Erscheinungen  und  die  Gesetze  des  Geistes  gegebenen 
oder  vielmehr  zu  schaffen  möglichen  Ganzen  entspricht.  Allein 
die  wirkliche  Entwicklung  geschieht  allmählich,  und  das  neu  Hinzu- 
tretende bildet  sich  analogisch  nach  dem  schon  Vorhandenen.  Von 
diesen  Grundsätzen  muss  man  nicht  nur  bei  aller  Spracherklärung 
ausgehen,  sondern  sie  springen  auch  so  klar  aus  der  geschicht- 
lichen Zergliederung  der  Sprachen  hervor,  dass  man  es  mit  völliger 
Sicherheit  zu  thun  vermag.  Das  schon  in  der  Lautform  Gestaltete 
reisst  gewissermassen  gewaltsam  die  neue  Formung  an  sich  und 
erlaubt  ihr  nicht,  einen  wesentlich  andren  Weg  einzuschlagen. 
Die  verschiednen  Gattungen  des  Verbum  in  den  Malayischen 
Sprachen  werden  durch  Sylben  angedeutet,  welche  sich  vorn  an 
das  Grundwort  anschliessen.  Dieser  Sylben  hat  es  sichtbar  nicht 
immer  so  viele  und  fein  unterschiedne  gegeben,  als  man  bei  den 
Tagalischen  Grammatikern  findet.    Aber  die  nach  und  nach  hinzu- 


V  Statt  dieses  Satzes  hieß  es  ursprünglich:  „Ich  werde  in  der  Folge  zu  der 
Frage  zurückkehren,  ob  eine  solche  Annahme  an  sich  zulässig  und  durch  That- 
sachen  unterstützt  ist?  ob  es  sich  z.  B.  denken  lässt,  dass  ein  Volk  aus  einer  Sprache, 
welche,  nach  Art  der  Chinesischen,  mit  bloss  einsylbigen  Wörtern,  weder  durch 
innere  Veränderung  noch  äussere  Zusammenfügung  erweiterte  Wortformen  bildet, 
■zu  solchen  aus  sich  selbst  gelange?'^ 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  6 


§2  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

gekommenen  behalten  immer  dieselbe  Stellung  unverändert  bei. 
Ebenso  ist  es  in  den  Fällen,  wo  das  Arabische  von  der  älteren 
Semitischen  Sprache  unbezeichnet  gelassene  Unterschiede  zu  be- 
zeichnen sucht.  Es  entschliesst  sich  eher,  für  die  Bildung  einiger 
Tempora  Hülfsverba  herbeizurufen,  als  dem  Worte  selbst  eine 
dem  Geiste  des  Sprachstammes  nicht  gemässe  Gestalt  durch  Sylben- 
anfügung  zu  geben. 

Es  v^ird  daher  sehr  erklärbar,  dass  die  Lautform  hauptsächlich 
dasjenige  ist,  wodurch  der  Unterschied  der  Sprachen  begründet 
wird.  Es  liegt  dies  an  sich  in  ihrer  Natur,  da  der  körperliche, 
wirklich  gestaltete  Laut  allein  in  Wahrheit  die  Sprache  ausmacht, 
der  Laut  auch  eine  w^eit  grössere  Mannigfaltigkeit  der  Unterschiede 
erlaubt,  als  bei  der  inneren  Sprachform,  die  nothwendig  mehr 
Gleichheit  mit  sich  führt,  statt  linden  kann.  Ihr  mächtigerer  Ein- 
fluss  entsteht  aber  zum  Theil  auch  aus  dem,  welchen  sie  auf  die 
innere  Form  selbst  ausübt.  Denn  wenn  man  sich,  v^ie  man  noth- 
wendig muss  und  wie  es  weiter  unten  noch  ausführlicher  ent- 
wickelt werden  wird,  die  Bildung  der  Sprache  immer  als  ein 
Zusammenwirken  des  geistigen  Strebens,  den  durch  den  innren 
Sprachzweck  geforderten  Stoff  zu  bezeichnen,  und  des  Hervor- 
bringens des  entsprechenden  articulirten  Lautes  denkt,  so  muss 
das  schon  wirklich  gestaltete  Körperliche  und  noch  mehr  das 
Gesetz,  auf  welchem  seine  Mannigfaltigkeit  beruht,  nothwendig 
leicht  das  Uebergewicht  über  die  erst  durch  neue  Gestaltung  klar 
zu  werden  versuchende  Idee  gewinnen. 

Man  muss  die  Sprachbildung  überhaupt  als  eine  Erzeugung 
ansehen,  in  welcher  die  innere  Idee,  um  sich  zu  manifestiren,  eine 
Schwierigkeit  zu  überwinden  hat.  Diese  Schwierigkeit  ist  der  Laut^ 
und  die  Ueberwindung  gelingt  nicht  immer  in  gleichem  Grade. 
In  solch  einem  Fall  ist  es  oft  leichter,  in  den  Ideen  nachzugeben 
und  denselben  Laut  oder  dieselbe  Lautform  für  eigentlich  ver- 
schiedne  anzuwenden,  wie  wenn  Sprachen  Futurum  und  Con- 
junctivus,  wegen  der  in  beiden  liegenden  Ungewissheit,  auf  gleiche 
Weise  gestalten  (s.  unten  §.  21.).  Allerdings  ist  alsdann  immer 
auch  Schwäche  der  lauterzeugenden  Ideen  im  Spiel,  da  der  wahr- 
haft kräftige  Sprachsinn  die  Schwierigkeit  allemal  siegreich  über- 
windet. Aber  die  Lautform  benutzt  seine  Schwäche  und  be- 
meistert sich  gleichsam  der  neuen  Gestaltung.  In  allen  Sprachen 
finden  sich  Fälle,  wo  es  klar  wird,  dass  das  innre  Streben,  in 
welchem  man  doch,   nach  einer  andren  und   richtigeren  Ansicht^ 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     20.     go 

die  wahre  Sprache  aufsuchen  muss,  in  der  Annahme  des  Lautes 
von  seinem  ursprüngHchen  Wege  mehr  oder  weniger  abgebeugt 
wird.  Von  denjenigen,  wo  die  Sprachwerkzeuge  einseitigenveise 
ihre  Natur  geltend  machen  und  die  wahren  Stammlaute,  welche 
die  Bedeutung  des  Wortes  tragen,  verdrängen,  ist  schon  oben 
(S.  70.  71.)  gesprochen  worden.  Es  ist  hier  und  da  merkwürdig 
zu  sehen,  wie  der  von  innen  heraus  arbeitende  Sprachsinn  sich 
dies  oft  lange  gefallen  lässt,  dann  aber  in  einem  einzelnen  Fall 
plötzlich  durchdringt  und,  ohne  der  Lautneigung  nachzugeben, 
sogar  an  einem  einzelnen  Vocal  unverbrüchlich  fest  hält.  In  andren 
Fällen  wird  eine  neue  von  ihm  geforderte  Formung  zwar  ge- 
schaffen, allein  auch  im  nemlichen  Augenblick  von  der  Laut- 
neigung, zwischen  der  und  ihm  gleichsam  ein  vermittelnder  Ver- 
trag entsteht,  modificirt.  Im  Grossen  aber  üben  wesentlich  ver- 
schiedne  Lautformen  einen  entscheidenden  Einfiuss  auf  die  ganze 
Erreichung  der  inneren  Sprachzwecke  aus.  Im  Chinesischen  z.  B. 
konnte  keine,  die  Verbindung  der  Rede  leitende  Wortbeugung 
entstehen,  da  sich  der,  die  Sylben  starr  auseinander  haltende  Laut- 
bau, ihrer  Umformung  und  Zusammenfügung  widerstrebend,  fest- 
gesetzt hatte.  Die  ursprünglichen  Ursachen  dieser  Hindernisse 
können  aber  ganz  entgegengesetzter  Natur  seyn.  Im  Chinesischen 
scheint  es  mehr  an  der  dem  Volke  mangelnden  Neigung  zu  liegen, 
dem  Laute  phantasiereiche  Mannigfaltigkeit  und  die  Harmonie  be- 
fördernde Abwechslung  zu  geben;  und  wo  dies  fehlt  und  der 
Geist  nicht  die  Möglichkeit  sieht,  die  verschiedenen  Beziehungen 
des  Denkens  auch  mit  gehörig  abgestuften  Nuancen  des  Lauts  zu 
umkleiden,  geht  er  in  die  feine  Unterscheidung  dieser  Beziehungen 
weniger  ein.  Denn  die  Neigung,  eine  Vielfachheit  fein  und  scharf 
abgegränzter  Articulationen  zu  bilden,  und  das  Streben  des  Ver- 
standes, der  Sprache  so  viele  und  bestimmt  gesonderte  Formen 
zu  schaffen,  als  sie  deren  bedarf,  um  den  in  seiner  unendlichen 
Mannigfaltigkeit  flüchtigen  Gedanken  zu  fesseln,  wecken  sich  immer 
gegenseitig.  Ursprünglich,  in  den  unsichtbaren  Bewegungen  des 
Geistes,  darf  man  sich,  was  den  Laut  angeht  und  was  der  innere 
Sprachzweck  erfordert,  die  bezeichnenden  und  die  das  zu  Be- 
zeichnende erzeugenden  Kräfte  auf  keine  Weise  geschieden  denken. 
Beide  vereint  und  umfasst  das  allgemeine  Sprachvermögen.  Wie 
aber  der  Gedanke,  als  Wort,  die  Aussenwelt  berührt,  wie  durch 
die  Ueberlieferung  einer  schon  vorhandenen  Sprache  dem  Menschen, 
der  sie   doch   in   sich   immer  wieder  selbstthätig  erzeugen  muss. 


^Ä  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

die  Gewalt  eines  schon  geformten  Stoffes  entgegentritt,  kann  die 
Scheidung  entstehen,  welche  uns  berechtigt  und  verpflichtet,  die 
Spracherzeugung  von  diesen  zwei  verschiedenen  Seiten  zu  be- 
trachten. In  den  Semitischen  Sprachen  dagegen  ist  vielleicht  das 
Zusammentreffen  des  organischen  Unterscheidens  einer  reichen 
Mannigfaltigkeit  von  Lauten  und  eines  zum  Theil  durch  die  Art 
dieser  Laute  motivirten  feinen  Articulationssinnes  der  Grund,  dass 
diese  Sprachen  weit  mehr  eine  künstliche  und  sinnreiche  Lautform 
besitzen,  als  sie  sogar  nothwendige  und  hauptsächliche  grammatische 
Begriffe  mit  Klarheit  und  Bestimmtheit  unterscheiden.  Der  Sprach- 
sinn hat,  indem  er  die  eine  Richtung  nahm,  die  andere  vernach- 
lässigt. Da  er  dem  wahren,  naturgemässen  Zweck  der  Sprache 
nicht  mit  gehöriger  Entschiedenheit  nachstrebte,  wandte  er  sich 
zur  Erreichung  eines  auf  dem  Wege  liegenden  Vorzugs,  sinnvoll 
und  mannigfaltig  bearbeiteter  Lautform.  Hierzu  aber  führte  ihn 
die  natürliche  Anlage  derselben.  Die  Wurzelwörter,  in  der  Regel 
zweisylbig  gebildet,  erhielten  Raum,  ihre  Laute  innerlich  umzu- 
formen, und  diese  Formung  forderte  vorzugsweise  Vocale.  Da 
nun  diese  offenbar  feiner  und  körperloser,  als  die  Consonanten 
sind,  so  weckten  und  stimmten  sie  auch  den  inneren  Articulations- 
sinn  zu  grösserer  Feinheit.*) 


Lautsystem  der  Sprachen.    Technik  derselben. 

Auf  eine  andre  Weise  lässt  sich  noch  ein,  den  Charakter  der 
Sprachen  bestimmendes  Uebergewicht  der  Lautform,  ganz  eigent- 
lich als  solcher  genommen,  denken.  Man  kann  den  Inbegriff  aller 
Mittel,  deren  sich  die  Sprache  zur  Erreichung  ihrer  Zwecke  be- 
dient, ihre  Technik  nennen  und  diese  Technik  wieder  in  die 
phonetische  und  intellectuelle  eintheilen.  Unter  der  ersteren  ver- 
stehe ich  die  Wort-  und  Formenbildung,  insofern  sie  bloss  den 
Laut  angeht  oder  durch  ihn  motivirt  wird.     Sie  ist  reicher,  wenn 

*)  Den  Einfluss  der  Zweisylbigkeit  der  Semitischen  Wurzelwörter  hat  Ewald  in 
seiner  Hebräischen  Grammatik  (S.  144.  §.  93.  S.  165.  §.  95.)  nicht  nur  ausdrücklich 
bemerkt,  sondern  durch  die  ganze  Sprachlehre  in  dem  in  ihr  waltenden  Geiste  meister- 
haft dargethan.  Dass  die  Semitischen  Sprachen  dadurch,  dass  sie  ihre  Wortformen  und 
zum  Theil  ihre  Wortbeugungen  fast  ausschliesslich  durch  Veränderungen  im  Schoosse 
der  Wörter  selbst  bilden,  einen  eignen  Charakter  erhalten,  ist  von  Bopp  ausführlich 
entwickelt  und  auf  die  Eintheilung  der  Sprachen  in  Classen  auf  eine  neue  und  scharf 
sinnige  Weise  angewandt  worden.     (Vergleichende  Grammatik.  S.   107 — 113.) 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     20.     g^ 

die  einzelnen  Formen  einen  weiteren  und  volltönenderen  Umfang 
besitzen,  so  wie  wenn  sie  für  denselben  Begriff  oder  dieselbe  Be- 
ziehung sich  bloss  durch  den  Ausdruck  unterscheidende  Formen 
angiebt.  Die  intellectuelle  Technik  begreift  dagegen  das  in  der 
Sprache  zu  Bezeichnende  und  zu  Unterscheidende.  Zu  ihr  gehört 
es  also  z.  B.,  wenn  eine  Sprache  Bezeichnung  des  Genus,  des  DuaHs, 
der  Tempora  durch  alle  Möglichkeiten  der  Verbindung  des  Begriffes 
der  Zeit  mit  dem  des  Verlaufes  der  Handlung  u.  s.  f.  besitzt. 

In  dieser  Ansicht  erscheint  die  Sprache  als  ein  Werkzeug  zu 
einem  Zwecke.  Da  aber  dies  Werkzeug  offenbar  die  rein  geistigen, 
so  wie  die  edelsten  sinnlichen  Kräfte  durch  die,  sich  in  ihm  aus- 
prägende Ideenordnung,  Klarheit  und  Schärfe,  so  wie  durch  den 
Wohllaut  und  Rhythmus  anregt,  so  kann  das  organische  Sprach- 
gebäude, die  Sprache  an  sich  und  gleichsam  abgesehen  von  ihrem 
Zwecke,  die  Begeisterung  der  Nationen  an  sich  reissen  und  thut 
dies  in  der  That.  Die  Technik  überwächst  alsdann  die  Erforder- 
nisse zur  Erreichung  des  Zwecks;  und  es  lässt  sich  ebensowohl 
denken,  dass  Sprachen  hierin  über  das  Bedürfniss  hinausgehen, 
als  dass  sie  hinter  demselben  zurückbleiben.  Wenn  man  die  Eng- 
lische, Persische  und  eigentlich  Malayische  Sprache  mit  dem  Sans- 
krit und  dem  Tagalischen  vergleicht,  so  nimmt  man  eine  solche, 
hier  angedeutete  Verschiedenheit  des  Umfangs  und  des  Reich- 
thums  der  Sprachtechnik  wahr,  bei  welcher  doch  der  unmittelbare 
Sprachzweck,  die  Wiedergebung  des  Gedanken,  nicht  leidet,  da 
alle  diese  drei  Sprachen  ihn  nicht  nur  überhaupt,  sondern  zum 
Theil  in  beredter  und  dichterischer  Mannigfaltigkeit  erreichen.  Auf 
das  Uebergewicht  der  Technik  überhaupt  und  im  Ganzen  behalte 
ich  mir  vor  in  der  Folge  zurückzukommen.  Hier  wollte  ich  nur 
desjenigen  erwähnen,  das  sich  die  phonetische  über  die  intellec- 
tuelle anmassen  kann.  Welches  alsdann  auch  die  Vorzüge  des 
Lauts3^stems  seyn  möchten,  so  beweist  ein  solches  Misverhältniss 
immer  einen  Mangel  in  der  Stärke  der  sprachbildenden  Kraft,  da, 
was  in  sich  Eins  und  energisch  ist,  auch  in  seiner  Wirkung  die 
in  seiner  Natur  liegende  Harmonie  unverletzt  bewahrt.  Wo  das 
Mass  nicht  durchaus  überschritten  ist,  lässt  sich  der  Lautreichthum 
in  den  Sprachen  mit  dem  Colorit  in  der  Malerei  vergleichen.  Der 
Eindruck  beider  bringt  eine  ähnliche  Empfindung  hervor;  und 
auch  der  Gedanke  wirkt  anders  zurück,  wenn  er,  einem  blossen 
Umrisse  gleich,  in  grösserer  Nacktheit  auftritt  oder,  wenn  der 
Ausdruck   erlaubt  ist,   mehr  durch  die  Sprache  gefärbt  erscheint. 


35  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


Innere  Sprachform. 

21.  Alle  Vorzüge  noch  so  kunstvoller  und  tonreicher  Lautformen, 
auch  verbunden  mit  dem  regesten  Articulationssinn,  bleiben  aber 
unvermögend,  dem  Geiste  v^ürdig  zusagende  Sprachen  hervorzu- 
bringen, wenn  nicht  die  strahlende  Klarheit  der  auf  die  Sprache 
Bezug  habenden  Ideen  sie  mit  ihrem  Lichte  und  ihrer  Wärme 
durchdringt.  Dieser  ihr  ganz  innerer  und  rein  intellectueller  Theil 
macht  eigentlich  die  Sprache  aus ;  er  ist  der  Gebrauch,  zu  welchem 
die  Spracherzeugung  sich  der  Lautform  bedient,  und  auf  ihm  be- 
ruht es,  dass  die  Sprache  Allem  Ausdruck  zu  verleihen  vermag, 
was  ihr,  bei  fortrückender  Ideenbildung,  die  grössten  Köpfe  der 
spätesten  Geschlechter  anzuvertrauen  streben.  Diese  ihre  Be- 
schaffenheit hängt  von  der  Uebereinstimmung  und  dem  Zu- 
sammenwirken ab,  in  welchem  die  sich  in  ihr  offenbarenden  Ge- 
setze unter  einander  und  mit  den  Gesetzen  des  Anschauens, 
Denkens  und  Fühlens  überhaupt  stehen.  Das  geistige  Vermögen 
hat  aber  sein  Daseyn  allein  in  seiner  Thätigkeit,  es  ist  das  auf 
einander  folgende  Aufflammen  der  Kraft  in  ihrer  ganzen  Totalität, 
aber  nach  einer  einzelnen  Richtung  hin  bestimmt.  Jene  Gesetze 
sind  also  nichts  anders,  als  die  Bahnen,  in  welchen  sich  die  geistige 
Thätigkeit  in  der  Spracherzeugung  bewegt,  oder  in  einem  andren 
Gleichniss  als  die  Formen,  in  welchen  diese  die  Laute  ausprägt. 
Es  giebt  keine  Kraft  der  Seele,  welche  hierbei  nicht  thätig  wäre; 
nichts  in  dem  Inneren  des  Menschen  ist  so  tief,  so  fein,  so  weit 
umfassend,  das  nicht  in  die  Sprache  übergienge  und  in  ihr  erkenn- 
bar wäre.  Ihre  intellectuellen  Vorzüge  beruhen  daher  ausschliess- 
lich auf  der  wohlgeordneten,  festen  und  klaren  Geistes-Organisa- 
tion  der  Völker  in  der  Epoche  ihrer  Bildung  oder  Umgestaltung 
und  sind  das  Bild,  ja  der  unmittelbare  Abdruck  derselben. 

Es  kann  scheinen,  als  müssten  alle  Sprachen  in  ihrem  intellec- 
tuellen Verfahren  einander  gleich  se3^n.  Bei  der  Lautform  ist  eine 
unendliche,  nicht  zu  berechnende  Mannigfaltigkeit  begreiflich,  da 
das  sinnlich  und  körperlich  Individuelle  aus  so  verschiedenen  Ur- 
sachen entspringt,  dass  sich  die  Möglichkeit  seiner  Abstufungen 
nicht  überschlagen  lässt.  Was  aber,  wie  der  intellectuelle  Theil 
der  Sprache,  allein  auf  geistiger  Selbstthätigkeit  beruht,  scheint 
auch  bei  der  Gleichheit  des  Zwecks  und  der  Mittel  in  allen 
Menschen  gleich  seyn  zu  müssen ;  und  eine  grössere  Gleichförmig- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     21.     ^n 

keit  bewahrt  dieser  Theil  der  Sprache  allerdings.  Aber  auch  in 
ihm  entspringt  aus  mehreren  Ursachen  eine  bedeutende  Ver- 
schiedenheit. Einestheils  wird  sie  durch  die  vielfachen  Abstufungen 
herv'orgebracht,  in  welchen,  dem  Grade  nach,  die  spracherzeugende 
Kraft,  sowohl  überhaupt,  als  in  dem  gegenseitigen  Verhältniss  der 
in  ihr  hervortretenden  Thätigkeiten,  wirksam  ist.  Andrentheils 
sind  aber  auch  hier  Kräfte  geschäftig,  deren  Schöpfungen  sich 
nicht  durch  den  Verstand  und  nach  blossen  Begriffen  ausmessen 
lassen.  Phantasie  und  Gefühl  bringen  individuelle  Gestaltungen 
herv^or,  in  welchen  wieder  der  individuelle  Charakter  der  Nation 
hervonritt  und  wo,  wie  bei  allem  Individuellen,  die  Mannigfaltig- 
keit der  Art,  vv'ie  sich  das  Nemliche  in  immer  verschiedenen  Be- 
stimmungen darstellen  kann,  ins  Unendliche  geht. 

Doch  auch  in  dem  bloss  ideellen,  von  den  Verknüpfungen  des 
Verstandes  abhängenden  Theile  finden  sich  Verschiedenheiten,  die 
aber  alsdann  fast  immer  aus  unrichtigen  oder  mangelhaften  Com- 
binationen  herrühren.  Um  dies  zu  erkennen,  darf  man  nur  bei 
den  eigentlich  grammatischen  Gesetzen  stehen  bleiben.  Die  ver- 
schiedenen Formen  z,  B.,  welche,  dem  Bedürfniss  der  Rede  ge- 
mäss, in  dem  Baue  des  Verbum  abgesondert  bezeichnet  werden 
müssen,  sollten,  da  sie  durch  blosse  Ableitung  von  Begriffen  ge- 
funden werden  können,  in  allen  Sprachen  auf  dieselbe  Weise  voll- 
ständig aufgezählt  und  richtig  geschieden  seyn.  Vergleicht  man 
aber  hierin  das  Sanskrit  mit  dem  Griechischen,  so  ist  es  auffallend, 
dass  in  dem  ersteren  der  Begriff  des  Modus  nicht  allein  offenbar 
unentwickelt  geblieben,  sondern  auch  in  der  Erzeugung  der 
Sprache  selbst  nicht  wahrhaft  gefühlt  und  nicht  rein  von  dem  des 
Tempus  unterschieden  worden  ist.  Er  ist  daher  nicht  mit  dem 
der  Zeit  gehörig  verknüpft  und  gar  nicht  vollständig  durch  den- 
selben durchgeführt  worden.*)     Dasselbe  findet  bei  dem  Infinitivus 

*)  Bopp  hat  (Jahrbücher  für  wissenschaftliche  Kritik.  1834.  II.  Band.  S.  465.)  zuerst 
bemerkt,  dass  der  gewöhnliche  Gebrauch  des  Potentialis  darin  besteht,  allgemein 
kategorische  Behauptungen,  getrennt  und  unabhängig  von  jeder  besondren  Zeitbestim- 
mung, auszudrücken.  Die  Richtigkeit  dieser  Bemerkung  bestätigt  sich  durch  eine  Menge 
von  Beispielen,  besonders  in  den  moralischen  Sentenzen  des  Hitöpadesa.  Wenn  man 
aber  genauer  über  den  Grund  dieser,  auf  den  ersten  Anblick  auffallenden  Anwendung 
dieses  Tempus  nachdenkt,  so  findet  man,  dass  dasselbe  doch  in  ganz  eigentlichem 
Sinne  in  diesen  Fällen  als  Conjunctivus  gebraucht  wird,  nur  dass  die  ganze  Redensart 
elliptisch  erklärt  werden  muss.  Anstatt  zu  sagen :  der  Weise  handelt  nie  anders, 
sagt  man:  der  Weise  würde  so  handeln,  und  versteht  darunter  die  ausgelassenen 
Worte :  unter  allen  Bedingungen  und  zu  jeder  Zeit.     Ich  möchte   daher    den  Potentialis 


§3  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Statt,  der  noch  ausserdem,  mit  gänzlicher  Verkennung  seiner  Verbal- 
natur, zu.  dem  Nomen  herübergezogen  worden  ist.  Bei  aller,  noch 
so  gerechten  Vorliebe  für  das  Sanskrit  muss  man  gestehen,  dass 
es  hierin  hinter  der  jüngeren  Sprache  zurückbleibt.  Die  Natur 
der  Rede  begünstigt  indess  Ungenauigkeiten  dieser  Art,  indem  sie 
dieselben  für  die  wesentliche  Erreichung  ihrer  Zwecke  unschädlich 
zu  machen  versteht.  Sie  lässt  eine  Form  die  Stelle  der  anderen 
vertreten,*)  oder  bequemt  sich  zu  Umschreibungen,  wo  es  ihr  an 
dem  eigentlichen  und  kurzen  Ausdruck  gebricht.  Darum  bleiben 
aber  solche  Fälle  nicht  weniger  fehlerhafte  Unvollkommenheiten 
und  zwar  gerade  in  dem  rein  intellectuellen  Theile  der  Sprache. 
Ich  habe  schon  oben  (S.  82.)  bemerkt,  dass  hiervon  bisweilen  die 
Schuld  auf  die  Lautform  fallen  kann,  welche,  einmal  an  gewisse 
Bildungen  gewöhnt,  den  Geist  verleitet,  auch  neue  Gattungen  der 
Bildung  fordernde  Begriffe  in  diesen  ihren  Bildungsgang  zu  ziehen. 
Immer  aber  ist  dies  nicht  der  Fall.  Was  ich  so  eben  von  der 
Behandlung  des  Modus  und  Infinitivs  im  Sanskrit  gesagt  habe, 
dürfte  man  wohl  auf  keine  Weise  aus  der  Lautform  erklären 
können.  Ich  wenigstens  vermag  in  dieser  nichts  der  Art  zu  ent- 
decken. Ihr  Reichthum  an  Mitteln  ist  auch  hinlänglich,  um  der 
Bezeichnung  genügenden  Ausdruck  zu  leihen.  Die  Ursach  ist 
offenbar  eine  mehr  innerliche.  Der  ideelle  Bau  des  V^erbum,  sein 
innerer,  vollständig  in  seine  verschiednen  Theile  gesonderter 
Organismus  entfaltete  sich  nicht  in  hinreichender  Klarheit  vor 
dem  bildenden  Geiste  der  Nation.  Dieser  Mangel  ist  jedoch  um 
so  wunderbarer,   als  übrigens   keine  Sprache  die  wahrhafte  Natur 


wegen  dieses  Gebrauches  keinen  Nothwendigkeits-Modus  nennen.  Er  scheint  mir  viel- 
mehr hier  der  ganz  reine  und  einfache,  von  allen  materiellen  Nebenbegriffen  des  Könnens, 
Mögens,  Sollens  u.  s.  w.  geschiedne  Conjunctivus  zu  seyn.  Das  Eigenthümliche  dieses 
Gebrauchs  liegt  in  der  hinzugedachten  Ellipse  und  nur  insofern  im  sogenannten  Poten- 
tialis,  als  dieser  gerade  durch  die  Ellipse,  vorzugsweise  vor  dem  Indicativus,  motivirt 
wird.  Denn  es  ist  nicht  zu  läugnen,  dass  der  Gebrauch  des  Conjunctivus,  gleichsam 
durch  die  Abschneidung  aller  andren  Möglichkeiten,  hier  stärker  wirkt,  als  der  einfach 
aussagende  Indicativ.  Ich  erwähne  dies  ausdrücklich,  weil  es  nicht  unwichtig  ist,  den 
reinen  und  gewöhnlichen  Sinn  grammatischer  Formen  so  weit  beizubehalten  und  zu 
schützen,  als  man  nicht  unvermeidlich  zum  Gegentheile  gezwungen  wird. 

*)  Von  dieser  Verwechslung  einer  grammatischen  Form  mit  der  andren  habe  ich 
in  meiner  Abhandlung  über  das  Entstehen  der  grammatischen  Formen  ausführlicher  ge- 
handelt. Abhandl.  d.  Akad.  d.  Wissensch.  zu  Berl.  1822.  1823.  Hist.-philol.  Classe. 
S.  404— 407. 1) 

V  Vgl.  Band  4,  288. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     21.     ^q 

des  Verbum,  die  reine  Synthesis  des  Seyns  mit  dem  Begriff,  so 
wahrhaft  und  so  ganz  eigentlich  geflügelt  darstellt,  als  das  Sanskrit, 
welches  gar  keinen  anderen,  als  einen  nie  ruhenden,  immer  be- 
stimmte einzelne  Zustände  andeutenden  Ausdruck  für  dasselbe 
kennt.  Denn  die  Wurzelwörter  können  durchaus  nicht  als  Verba, 
nicht  einmal  ausschliesslich  als  Verbalbegriffe  angesehen  werden. 
Die  Ursach  einer  solchen  mangelhaften  Entwicklung  oder  un- 
richtigen Auffassung  eines  Sprachbegriffs  möge  aber,  gleichsam 
äusseriich,  in  der  Lautform  oder  inneriich  in  der  ideellen  Auf- 
fassung gesucht  werden  müssen,  so  Hegt  der  Fehler  immer  in 
mangelnder  Kraft  des  erzeugenden  Sprachvermögens.  Eine  mit 
der  erforderlichen  Kraft  geschleuderte  Kugel  lässt  sich  nicht  durch 
entgegenwirkende  Hindernisse  von  ihrer  Bahn  abbringen,  und 
ein  mit  gehöriger  Stärke  ergriffener  und  bearbeiteter  Ideenstoff 
entwickelt  sich  in  gleichförmiger  Vollendung  bis  in  seine  feinsten 
und  nur  durch  die  schärfste  Absonderung  zu  trennenden  Glieder. 
Wie  bei  der  Lautform  als  die  beiden  hauptsächlichsten  zu 
beachtenden  Punkte  die  Bezeichnung  der  Begriffe  und  die  Ge- 
setze der  Redefügung  erschienen,  ebenso  ist  es  in  dem  inneren, 
intellectuellen  Theil  der  Sprache.  Bei  der  Bezeichnung  tritt  auch 
hier,  wie  dort,  der  Unterschied  ein,  ob  der  Ausdruck  ganz 
individueller  Gegenstände  gesucht  wird  oder  Beziehungen  dar- 
gestellt werden  sollen,  welche,  auf  eine  ganze  Zahl  einzelner  an- 
wendbar, diese  gleichförmig  in  einen  allgemeinen  Begriff  ver- 
sammeln, so  dass  eigentlich  drei  Fälle  zu  unterscheiden  sind. 
Die  Bezeichnung  der  Begriffe,  unter  welche  die  beiden  ersteren 
gehören,  machte  bei  der  Lautform  die  Wortbildung  aus,  welcher 
hier  die  Begriffsbildung  entspricht.  Denn  es  muss  innerlich  jeder 
Begriff  an  ihm  selbst  eigenen  Merkmalen  oder  an  Beziehungen 
auf  andere  festgehalten  werden,  indem  der  Articulationssinn  die 
bezeichnenden  Laute  auffindet.  Dies  ist  selbst  bei  äusseren,  körper- 
lichen, geradezu  durch  die  Sinne  wahrnehmbaren  Gegenständen 
der  Fall.  Auch  bei  ihnen  ist  das  Wort  nicht  das  Aequivalent  des 
den  Sinnen  vorschwebenden  Gegenstandes,  sondern  der  Auffassung 
desselben  durch  die  Spracherzeugung  im  bestimmten  Augenblicke 
der  Worterfindung.  Es  ist  dies  eine  vorzügliche  Quelle  der  Viel- 
fachheit von  Ausdrücken  für  die  nemlichen  Gegenstände ;  und  wenn 
z.  B.  im  Sanskrit  der  Elephant  bald  der  zweimal  Trinkende,  bald 
der  Zweizahnige,  bald  der  mit  einer  Hand  Versehene  heisst,  so 
sind    dadurch,   wenn    auch    immer   derselbe  Gegenstand    gemeint 


QO  Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

ist,  ebenso  viele  verschiedene  Begriffe  bezeichnet.  Denn  die 
Sprache  stellt  niemals  die  Gegenstände,  sondern  immer  die  durch 
den  Geist  in  der  Spracherzeugung  selbstthätig  von  ihnen  gebildeten 
Begriffe  dar;  und  von  dieser  Bildung,  insofern  sie  als  ganz  inner- 
lich, gleichsam  dem  Articulationssinne  vorausgehend  angesehen 
werden  muss,  ist  hier  die  Rede.  Freilich  gilt  aber  diese  Scheidung 
nur  für  die  Sprachzergliederung  und  kann  nicht  als  in  der  Natur 
vorhanden  betrachtet  vv^erden. 

Von  einem  anderen  Gesichtspunkte  aus  stehen  die  beiden 
letzten  der  drei  oben  unterschiedenen  Fälle  einander  näher.  Die 
allgemeinen,  an  den  einzelnen  Gegenständen  zu  bezeichnenden 
Beziehungen  und  die  grammatischen  Wortbeugungen  beruhen 
beide  grösstentheils  auf  den  allgemeinen  Formen  der  Anschauung 
und  der  logischen  Anordnung'  der  Begriffe.  Es  liegt  daher  in 
ihnen  ein  übersehbares  S3^stem,  mit  welchem  sich  das  aus  jeder 
besondren  Sprache  hervorgehende  vergleichen  lässt,.  und  es  fallen 
dabei  wieder  die  beiden  Punkte  ins  Auge :  die  Vollständigkeit  und 
richtige  Absonderung  des  zu  Bezeichnenden  und  die  für  jeden 
solchen  Begriff  ideell  gewählte  Bezeichnung  selbst.  Denn  es  trifft 
hier  gerade  das  schon  oben  Ausgeführte  ein.  Da  es  hier  aber 
immer  die  Bezeichnung  unsinnlicher  Begriffe,  ja  oft  blosser  Ver- 
hältnisse gilt,  so  muss  der  Begriff  für  die  Sprache  oft,  wenn  nicht 
immer  bildlich  genommen  werden;  und  hier  zeigen  sich  nun  die 
eigentlichen  Tiefen  des  Sprachsinnes  in  der  Verbindung  der  die  ganze 
Sprache  von  Grund  aus  beherrschenden  einfachsten  Begriffe.  Per- 
son, mithin  Pronomen,  und  Raumverhältnisse  spielen  hierin  die 
wichtigste  Rolle  und  oft  lässt  es  sich  nachweisen,  wie  dieselben 
auch  auf  einander  bezogen  und  in  einer  noch  einfacheren  Wahr- 
nehmung verknüpft  sind.  Es  offenbart  sich  hier  das,  was  die 
Sprache,  als  solche,  am  eigenthümlichsten  und  gleichsam  instinct- 
artig  im  Geiste  begründet.  Der  individuellen  Verschiedenheit 
dürfte  hier  am  wenigsten  Raum  gelassen  se3^n  und  der  Unterschied 
der  Sprachen  in  diesem  Punkte  mehr  bloss  darauf  beruhen,  dass 
in  einigen  theils  ein  fruchtbarerer  Gebrauch  davon  gemacht,  theils 
die  aus  dieser  Tiefe  geschöpfte  Bezeichnung  klarer  und  dem  Be- 
wusstseyn  zugänglicher  angedeutet  ist. 

Tiefer  in  die  sinnliche  Anschauung,  die  Phantasie,  das  Ge- 
fühl und,  durch  das  Zusammenwirken  von  diesen,  in  den  Charakter 
überhaupt  dringt  die  Bezeichnung  der  einzelnen  inneren  und 
äusseren  Gegenstände  ein,   da   sich    hier  wahrhaft  die  Natur  mit 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     21.     qi 

dem  Menschen,  der  zum  Theil  wirklich  materielle  Stoff  mit  dem 
formenden  Geiste  verbindet.  In  diesem  Gebiete  leuchtet  daher 
vorzugsweise  die  nationelle  Eigenthümlichkeit  hervor.  Denn  der 
Mensch  naht  sich  auffassend  der  äusseren  Natur  und  entwickelt 
selbstthätig  seine  inneren  Empfindungen  nach  der  Art,  wie  seine 
geistigen  Kräfte  sich  in  verschiedenem  Verhältniss  gegen  einander 
abstufen,  und  dies  prägt  sich  ebenso  in  der  Spracherzeugung  aus, 
insofern  sie  innerlich  die  Begriffe  dem  Worte  entgegenbildet.  Die 
grosse  Gränzlinie  ist  auch  hier,  ob  ein  Volk  in  seine  Sprache  mehr 
objective  Realität  oder  mehr  subjective  Innerlichkeit  legt.  Ob- 
gleich sich  dies  immer  erst  allmähhch  in  der  fortschreitenden  Bildung 
deutlicher  entwickelt,  so  liegt  doch  schon  der  Keim  dazu  in  un- 
verkennbarem Zusammenhange  in  der  ersten  Anlage  und  auch 
die  Lautform  trägt  das  Gepräge  davon.  Denn  je  mehr  Helle  und 
Klarheit  der  Sprachsinn  in  der  Darstellung  sinnlicher  Gegenstände 
und  je  reiner  und  körperloser  umschriebene  Bestimmtheit  er  bei 
geistigen  Begriffen  fordert,  desto  schärfer,  da  in  dem  Innern  der 
Seele,  was  wir  reflectirend  sondern,  ungetrennt  Eins  ist,  zeigen 
sich  auch  die  articulirten  Laute  und  desto  volltönender  reihen 
sich  die  Sylben  zu  Wörtern  an  einander.  Dieser  Unterschied 
mehr  klarer  und  fester  Objectivität  und  tiefer  geschöpfter  Sub- 
jectivität  springt  bei  sorgfältiger  Vergleichung  des  Griechischen 
mit  dem  Deutschen  in  die  Augen.  Man  bemerkt  aber  diesen 
Einfluss  der  nationeilen  Eigenthümlichkeit  in  der  Sprache  auf  eine 
zwiefache  Weise:  an  der  Bildung  der  einzelnen  Begriffe  und  an 
dem  verhältnissmässig  verschiedenen  Reichthum  der  Sprache  an 
Begriffen  gewisser  Gattung.  In  die  einzelne  Bezeichnung  geht 
sichtbar  bald  die  Phantasie  und  das  Gefühl,  von  sinnlicher  An- 
schauung geleitet,  bald  der  fein  sondernde  Verstand,  bald  der 
kühn  verknüpfende  Geist  ein.  Die  gleiche  Farbe,  welche  dadurch 
die  Ausdrücke  für  die  mannigfaltigsten  Gegenstände  erhalten, 
zeigt  die  der  Naturauffassung  der  Nation.  Nicht  minder  deutlich 
ist  das  Uebergewicht  der  Ausdrücke,  die  einer  einzelnen  Geistes- 
richtung angehören.  Ein  solches  ist  z.  B.  im  Sanskrit  an  der 
vorw^altenden  Zahl  religiös  philosophischer  Wörter  sichtbar,  in 
der  sich  vielleicht  keine  andere  Sprache  mit  ihr  messen  kann. 
Man  muss  hierzu  noch  hinzufügen,  dass  diese  Begriffe  grössten- 
theils  in  möglichster  Nacktheit  nur  aus  ihren  einfachen  Ur- 
elementen  gebildet  sind,  so  dass  der  tief  abstrahirende  Sinn  der 
Nation  auch  daraus  noch  Idarer  her^^orstrahlt.    Die  Sprache  trägt 


Q2  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

dadurch  dasselbe  Gepräge  an  sich,  das  man  in  der  ganzen  Dichtung 
und  geistigen  Thätiglieit  des  Indischen  Alterthums,  ja  in  der  äusseren 
Lebensweise  und  Sitte  wiederfindet.  Sprache,  Literatur  und  Ver- 
fassung bezeugen  einstimmig,  dass  im  Inneren  die  Richtung  auf 
die  ersten  Ursachen  und  das  letzte  Ziel  des  menschlichen  Daseyns, 
im  Aeusseren  der  Stand,  welcher  sich  dieser  ausschliesslich  wid- 
mete, also  Nachdenken  und  Aufstreben  zur  Gottheit  und  Priester- 
thum  die  vorherrschenden,  die  Nationalität  bezeichnenden  Züge 
waren.  Eine  Nebenfärbung  in  allen  diesen  drei  Punkten  war  das 
oft  in  Nichts  auszugehen  drohende,  ja  nach  diesem  Ziele  wirklich 
strebende  Grübeln  und  der  Wahn,  die  Gränzen  der  Menschheit 
durch  abenteuerliche   Uebungen  überschreiten  zu  können. 

Es  wäre  jedoch  eine  einseitige  Vorstellung,  zu  denken,  dass 
sich  die  nationelle  Eigenthümlichkeit  des  Geistes  und  des  Charakters 
allein  in  der  Begriffsbildung  offenbarte ;  sie  übt  einen  gleich  grossen 
Einfluss  auf  die  Redefügung  aus  und  ist  an  ihr  gleich  erkennbar. 
Es  ist  auch  begreiflich,  wie  sich  das  in  dem  Innern  heftiger  oder 
schwächer,  flammender  oder  dunkler,  lebendiger  oder  langsamer 
lodernde  Feuer  in  den  Ausdruck  des  ganzen  Gedanken  und  der 
ausströmenden  Reihe  der  Empfindungen  vorzugsweise  so  ergiesst, 
dass  seine  eigenthümliche  Natur  daraus  unmittelbar  hervorleuchtet. 
Auch  in  diesem  Punkte  führt  das  Sanskrit  und  das  Griechische 
zu  anziehenden  und  belehrenden  Vergleichungen.  Die  Eigen- 
thümlichkeiten  in  diesem  Theile  der  Sprache  prägen  sich  aber  nur 
zum  kleinsten  Theile  in  einzelnen  Formen  und  in  bestimmten 
Gesetzen  aus  und  die  Sprachzergliederung  findet  daher  hier  ein 
schwierigeres  und  mühevolleres  Geschäft.  Auf  der  anderen  Seite 
hängt  die  Art  der  syntaktischen  Bildung  ganzer  Ideenreihen  sehr 
genau  mit  demjenigen  zusammen,  wovon  wir  weiter  oben  sprachen, 
mit  der  Bildung  der  grammatischen  Formen.  Denn  Armuth  und 
Unbestimmtheit  der  Formen  verbietet,  den  Gedanken  in  zu  weitem 
Umfange  der  Rede  schweifen  zu  lassen,  und  nöthigt  zu  einem 
einfachen,  sich  an  wenigen  Ruhepunkten  begnügenden  Periodenbau. 
Allein  auch  da,  wo  ein  Reichthum  fein  gesonderter  und  scharf 
bezeichneter  grammatischer  Formen  vorhanden  ist,  muss  doch, 
wenn  die  Redefügung  zur  Vollendung  gedeihen  soll,  noch  ein 
innerer,  lebendiger  Trieb  nach  längerer,  sinnvoller  verschlungner, 
mehr  begeisterter  Satzbildung  hinzukommen.  ^)  Dieser  Trieb  musste 


V  Statt  „Denn  —  hinzukommen'^  hieß  es  ursprünglich:  „Denn  wenn  diese 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     21. 


93 


in  der  Epoche,  in  welcher  das  Sanskrit  die  Form  seiner  uns  be- 
kannten Producte  erhielt,  minder  energisch  wirken,  da  er  sich 
sonst,  wie  es  dem  Genius  der  Griechischen  Sprache  gelang,  auch 
gewissermassen  vorahnend  die  Möglichkeit  dazu  geschaffen  hätte, 
die  sich  uns  jetzt  wenigstens  selten  in  seiner  Redefügung  durch 
die  That  offenbart. 

Vieles  im  Periodenbaue  und  der  Redefügung  lässt  sich  aber 
nicht  auf  Gesetze  zurückführen,  sondern  hängt  von  dem  jedesmal 
Redenden  oder  Schreibenden  ab.  Die  Sprache  hat  dann  das  Ver- 
dienst, der  Mannigfaltigkeit  der  Wendungen  Freiheit  und  Reich- 
thum  an  Mitteln  zu  gewähren,  wenn  sie  oft  auch  nur  die  Möglich- 
keit darbietet,  diese  in  jedem  Augenblick  selbst  zu  erschaffen.  Ohne 
die  Sprache  in  ihren  Lauten  und  noch  weniger  in  ihren  Formen 
und  Gesetzen  zu  verändern,  führt  die  Zeit  durch  wachsende  Ideen- 
entwicklung, gesteigerte  Denkkraft  und  tiefer  eindringendes  Em- 
pfindungsvermögen oft  in  sie  ein,  was  sie  früher  nicht  besass.  Es 
wird  alsdann  in  dasselbe  Gehäuse  ein  anderer  Sinn  gelegt,  unter 
demselben  Gepräge  etwas  Verschiedenes  gegeben,  nach  den  gleichen 
Verknüpfungsgesetzen  ein  anders  abgestufter  Ideengang  angedeutet. 
Es  ist  dies  eine  beständige  Frucht  der  Literatur  eines  Volkes,  in 
dieser  aber  vorzüglich  der  Dichtung  und  Philosophie.  Der  Aus- 
bau der  übrigen  Wissenschaften  liefert  der  Sprache  mehr  ein 
einzelnes  Material  oder  sondert  und  bestimmt  fester  das  vor- 
handene; Dichtung  und  Philosophie  aber  berühren  in  einem  noch 
ganz  andren  Sinne  den  innersten  Menschen  selbst  und  wirken 
daher  auch  stärker  und  bildender  auf  die  mit  diesem  innig  ver- 
wachsene Sprache.  Auch  der  Vollendung  in  ihrem  Fortgange 
sind  daher  die  Sprachen  am  meisten  fähig,  in  welchen  poetischer 
und  philosophischer  Geist  wenigstens  in  einer  Epoche  vorgewaltet 


auch  in  der  That  aus  den  blossen  Grundbegriffen  z.  B.  des  Verbum  und  Nomen 
in  Klarheit  und  Vollständigkeit  sich  zu  entwickeln  vermag,  so  scheint  es  doch, 
als  müsse,  damit  dies  wirklich  geschehe,  auch  der  Trieb  nach  längerer,  sinnvoller 
verschlungener,  mehr  begeisterter  Satzbildimg  hinzukojjimen.  Denn  eijie  sehr 
einfache  und  sich  an  kurzen  Ruhepunkten  begnügeyide  bedarf  einer  geringeren 
Anzahl  von  Formen  und  nüancirter  Verknüpfungsmittel.  Man  kann  nun  zwar 
sagen,  dass  ein  so  beschränkter  Periodenbau  einer  Sprache  durch  den  Mangel 
gewisser  Formen  imd  Verknüpfungsmittel  abgenöthigt  wird,  und  also  die  Ursach 
in  das  legen,  was  ich  hier  als  die  Wirkung  geschildert  habe.  Indess  würde  der 
Trieb  nach  weitem  Umfange  des  Periodenbaues  immer  solche  Schwierigkeiten  zu 
überwinden  gewusst  haben  " 


Q^  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

hat,  und  doppelt  mehr,  wenn  dies  Vorwalten  aus  eignem  Triebe 
entsprungen,  nicht  dem  Fremden  nachgeahmt  ist.  Bisweilen  ist 
auch  in  ganzen  Stämmen,  wie  im  Semitischen  und  Sanskritischen 
der  Dichtergeist  so  lebendig,  dass  der  einer  früheren  Sprache  des 
Stammes  in  einer  späteren  gleichsam  wieder  neu  ersteht.  Ob  der 
Reichthum  sinnlicher  Anschauung  auf  diese  Weise  in  den  Sprachen 
einer  Zunahme  fähig  ist,  möchte  schwer  zu  entscheiden  seyn. 
Dass  aber  intellectuelle  Begriffe  und  aus  innerer  Wahrnehmung 
geschöpfte  den  sie  bezeichnenden  Lauten  im  fortschreitenden  Ge- 
brauche einen  tieferen,  seelenvolleren  Gehalt  mittheilen,  zeigt  die 
Erfahrung  an  allen  Sprachen,  die  sich  Jahrhunderte  hindurch  fort- 
gebildet haben.  Geistvolle  Schriftsteller  geben  den  Wörtern  diesen 
gesteigerten  Gehalt  und  eine  regsam  empfängliche  Nation  nimmt 
ihn  auf  und  pflanzt  ihn  fort.  Dagegen  nutzen  sich  Metaphern, 
welche  den  jugendlichen  Sinn  der  Vorzeit,  wie  die  Sprachen  selbst 
die  Spuren  davon  an  sich  tragen,  wunderbar  ergriffen  zu  haben 
scheinen,  im  täglichen  Gebrauch  so  ab,  dass  sie  kaum  noch  em- 
pfunden werden.  In  diesem  gleichzeitigen  Fortschritt  und  Rück- 
gang üben  die  Sprachen  den  der  fortschreitenden  Entwicklung 
angemessenen  Einfluss  aus,  der  ihnen  in  der  grossen  geistigen 
Oekonomie  des  Menschengeschlechts  angewiesen  ist. 


Verbindung  des  Lautes  mit  der  inneren  Sprachform. 

Die  Verbindung  der  Lautform  mit  den  inneren  Sprachgesetzen 
bildet  die  Vollendung  der  Sprachen,  und  der  höchste  Punkt  dieser 
ihrer  Vollendung  beruhet  darauf,  dass  diese  Verbindung,  immer 
in  gleichzeitigen  Acten  des  spracherzeugenden  Geistes  vor  sich 
gehend,  zur  wahren  und  reinen  Durchdringung  werde.  Von  dem 
ersten  Elemente  an  ist  die  Erzeugung  der  Sprache  ein  synthetisches 
Verfahren  und  zwar  ein  solches  im  ächtesten  Verstände  des  Worts, 
wo  die  Synthesis  etwas  schafft,  das  in  keinem  der  verbundenen 
Theile  für  sich  liegt.  Das  Ziel  wird  daher  nur  erreicht,  wenn 
auch  der  ganze  Bau  der  Lautform  und  der  inneren  Gestaltung 
ebenso  fest  und  gleichzeitig  zusammenfliessen.  Die  daraus  ent- 
springende, wohlthätige  Folge  ist  dann  die  völlige  Angemessenheit 
des  einen  Elements  zu  dem  andren,  so  dass  keins  über  das  andere 
gleichsam  überschiesst.  Es  wird,  wenn  dieses  Ziel  erreicht  ist, 
weder   die   innere   Sprachentwicklung   einseitige  Pfade    verfolgen, 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     21. 


y.-) 


auf  denen  sie  von  der  phonetischen  Formenerzeugung  verlassen 
wird,  noch  wird  der  Laut  in  wuchernder  Ueppigkeit  über  das 
schöne  Bedürfniss  des  Gedanken  hinaus  walten.  Er  wird  dagegen 
gerade  durch  die  inneren,  die  Sprache  in  ihrer  Erzeugung  vor- 
bereitenden Seelenregungen  zu  Euphonie  und  Rhythmus  hingeleitet 
werden,  in  beiden  ein  Gegengewicht  gegen  das  blosse,  klingelnde 
Sylbengetön  finden  und  durch  sie  einen  neuen  Pfad  entdecken, 
auf  dem,  wenn  eigentlich  der  Gedanke  dem  Laute  die  Seele  ein- 
haucht, dieser  ihm  wieder  aus  seiner  Natur  ein  begeisterndes 
Princip  zurückgiebt.  Die  feste  Verbindung  der  beiden  constitutiven 
Haupttheile  der  Sprache  äussert  sich  vorzüglich  in  dem  sinnlichen 
und  phantasiereichen  Leben,  das  ihr  dadurch  aufblüht,  da  hingegen 
einseitige  \^erstandesherrschaft,  Trockenheit  und  Nüchternheit  die 
unfehlbaren  Folgen  sind,  wenn  sich  die  Sprache  in  einer  Epoche 
intellectueller  erweitert  und  verfeinert,  wo  der  Bildungstrieb  der 
Laute  nicht  mehr  die  erforderliche  Stärke  besitzt  oder  wo  gleich 
anfangs  die  Kräfte  einseitig  gewirkt  haben.  Im  Einzelnen  sieht 
man  dies  an  den  Sprachen,  in  denen  einige  Tempora,  wie  im 
Arabischen  nur  durch  getrennte  Hülfsverba  gebildet  werden,  wo 
also  die  Idee  solcher  Formen  nicht  mehr  wirksam  von  dem  Triebe 
der  Lautformung  begleitet  gewesen  ist.  Das  Sanskrit  hat  in 
einigen  Zeitformen  das  Verbum  seyn  wirklich  mit  dem  Verbal- 
begrifif  in  Worteinheit  verbunden. 

Weder  dies  Beispiel  aber  noch  auch  andre  ähnlicher  Art,  die 
man  leicht,  besonders  auch  aus  dem  Gebiete  der  Wortbildung 
aufzählen  könnte,  zeigen  die  volle  Bedeutung  des  hier  ausge- 
sprochnen  Erfordernisses.  Nicht  aus  Einzelnheiten,  sondern  aus 
der  ganzen  Beschaffenheit  und  Form  der  Sprache  geht  die  voll- 
endete Synthesis,  von  der  hier  die  Rede  ist,  hervor.  Sie  ist  das 
Product  der  Kraft  im  Augenblicke  der  Spracherzeugung  und  be- 
zeichnet genau  den  Grad  ihrer  Stärke.  Wie  eine  stumpf  ausge- 
prägte Münze  zwar  alle  Umrisse  und  Einzelnheiten  der  Form 
wiedergiebt,  aber  des  Glanzes  ermangelt,  der  aus  der  Bestimmt- 
heit und  Schärfe  hen^orspringt,  ebenso  ist  es  auch  hier.  Ueber- 
haupt  erinnert  die  Sprache  oft,  aber  am  meisten  hier,  in  dem 
tiefsten  und  unerklärbarsten  Theile  ihres  Verfahrens,  an  die  Kunst. 
Auch  der  Bildner  und  Maler  vermählt  die  Idee  mit  dem  Stoff 
und  auch  seinem  Werke  sieht  man  es  an,  ob  diese  Verbindung, 
in  Innigkeit  der  Durchdringung,  dem  wahren  Genius  in  Freiheit 
entstrahlt   oder   ob  die  abgesonderte  Idee  mühevoll  und  ängstlich 


qQ  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

mit  dem  Meissel  oder  dem  Pinsel  gleichsam  abgeschrieben  ist. 
Aber  auch  hier  zeigt  sich  dies  letztere  mehr  in  der  Schwäche  des 
Totaleindrucks,  als  in  einzelnen  Mängeln.  Wie  sich  nun  eigentlich 
das  geringere  Gelingen  der  nothwendigen  Synthesis  der  äusseren 
und  inneren  Sprachform  an  einer  Sprache  offenbart,  werde  ich 
zwar  weiter  unten  an  einigen  einzelnen  grammatischen  Punkten 
zu  zeigen  bemüht  seyn;  die  Spuren  eines  solchen  Mangels  aber 
bis  in  die  äussersten  Feinheiten  des  Sprachbaues  zu  verfolgen,  ist 
nicht  allein  schwierig,  sondern  bis  auf  einen  gewissen  Grad  un- 
möglich. Noch  weniger  kann  es  gelingen,  denselben  überall  in 
Worten  darzustellen.  Das  Gefühl  aber  täuscht  sich  darüber  nicht 
und  noch  klarer  und  deutlicher  äussert  sich  das  Fehlerhafte  in 
den  Wirkungen.  Die  wahre  Synthesis  entspringt  aus  der  Be- 
geisterung, welche  nur  die  hohe  und  energische  Kraft  kennt.  Bei 
der  unvollkommenen  hat  diese  Begeisterung  gefehlt,  und  ebenso 
übt  auch  eine  so  entstandene  Sprache  eine  minder  begeisternde 
Kraft  in  ihrem  Gebrauch  aus.  Dies  zeigt  sich  in  ihrer  Literatur, 
die  weniger  zu  den  Gattungen  hinneigt,  welche  einer  solchen  Be- 
geisterung bedürfen,  oder  den  schwächeren  Grad  derselben  an  der 
Stirn  trägt.  Die  geringere  nationelle  Geisteskraft,  welcher  die 
Schuld  dieses  Mangels  anheimfällt,  bringt  dann  wieder  eine  solche 
durch  den  Einfluss  einer  unvollkommneren  Sprache  in  den  nach- 
folgenden Geschlechtern  hervor  oder  vielmehr  die  Schwäche  zeigt 
sich  durch  das  ganze  Leben  einer  solchen  Nation,  bis  durch  irgend 
einen  Anstoss  eine   neue  Geistesumformung   derselben   entsteht.^) 


V  Hier  ist  folgender  mit  der  Paragraphenzahl  2j  versehener  Absatz  ge- 
strichen: „Ich  habe  im  Vorigen  das  Verfahren,  welches  alleji  Sprachen  zum 
Grunde  liegen  muss,  in  seinen  allgemeinsten  und  einfachsten  Richtungen  zusammen- 
zufassen versucht.  Ich  müsste  nun  jede  einzelne  darin  berührte  Seite  weiter  zer- 
gliedern und  zur  Bildung  aller  Bestandtheile  der  Sprache  herabsteigen.  Dies 
verlangt  aber  der  Zweck  dieser  einleitenden  Betrachtungen  nicht.  Dagegen  fordert 
er  allerdings,  um  nicht  zu  sehr  im  Allgemeinen  zu  bleiben,  die  nähere  Beleuch- 
timg einiger  Haupttendenzen  der  Sprachen,  welche,  wie  grosse  physiologische 
Gesetze,  durch  sie  durchgehen  und  ihren  ganzen  inneren  Bau  behetTSchen.  Ich 
hebe  als  solche  viere  heraus,  die  sich  mir,  bei  sorgfältiger  praktischer  Prüfung 
mehrerer  Sprachen,  als  vorzugsweise  wichtig  und  die  Verschiedenheit  des  Sprach- 
organismns  char akter isirend,  erwiesen  haben.    Es  sind  diese: 

1.  die  Bildimg  der  Worteinheit, 

2.  das  Streben  nach  Flection, 

ß.  die  Gränzen,  innerhalb  welcher  die  Sprachen,  deren  Organismus  ganz 
auf  Absonderung  und  Verschmelzung  der  .... 

4.  die  Bezeichnung  des  Verbum,  als  Mittelpunkt  des  Satzes." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     22 — 24.     q-t 


Genauere  Darlegung  des  Sprachverfahrens. 

Der  Zweck  dieser  Einleitung,  die  Sprachen  in  der  Verschieden-  24. 
artigkeit  ihres  Baues,  als  die  nothwendige  Grundlage  der  Fort- 
bildung des  menschlichen  Geistes  darzustellen  und  den  wechsel- 
seitigen Einfluss  der  einen  auf  die  andre  näher  zu  erörtern,  hat  mich 
genöthigt,  in  die  Natur  der  Sprache  überhaupt  einzugehen.  Jenen 
Standpunkt  genau  festhaltend,  muss  ich  diesen  Weg  weiter  ver- 
folgen. Ich  habe  im  Vorigen  das  Wesen  der  Sprache  nur  in 
seinen  allgemeinsten  Grundzügen  dargelegt  und  wenig  mehr  ge- 
than,  als  ihre  Definition  ausführlicher  zu  entwickeln.  Wenn  man 
ihr  Wesen  in  der  Laut-  und  Ideenform  und  der  richtigen  und 
energischen  Durchdringung  beider  sucht,  so  bleibt  dabei  eine  zahl- 
lose Menge  die  Anwendung  verwirrender  Einzelnheiten  zu  be- 
stimmen übrig.  Um  daher,  wie  es  hier  meine  Absicht  ist,  der 
individuell  historischen  Sprachvergleichung  durch  vorbereitende 
Betrachtungen  den  Weg  zu  bahnen,  ist  es  zugleich  nothwendig, 
das  Allgemeine  mehr  auseinanderzulegen  und  das  dann  hen'or- 
tretende  Besondere  dennoch  mehr  in  Einheit  zusammenzuziehen. 
Eine  solche  Mitte  zu  erreichen,  bietet  die  Natur  der  Sprache  selbst 
die  Hand.  Da  sie,  in  unmittelbarem  Zusammenhange  mit  der 
Geisteskraft,  ein  vollständig  durchgeführter  Organismus  ist,  so 
lassen  sich  in  ihr  nicht  bloss  Theile  unterscheiden,  sondern  auch 
Gesetze  des  Verfahrens  oder,  da  ich  überall  hier  gern  Ausdrücke 
wähle,  welche  der  historischen  Forschung  auch  nicht  einmal 
scheinbar  vorgreifen,  vielmehr  Richtungen  und  Bestrebungen  des- 
selben. Man  kann  diese,  wenn  man  den  Organismus  der  Körper 
dagegen  halten  will,  mit  den  physiologischen  Gesetzen  vergleichen, 
deren  wissenschaftliche  Betrachtung  sich  auch  wesentlich  von  der 
zergliedernden  Beschreibung  der  einzelnen  Theile  unterscheidet. 
Es  wird  daher  hier  nicht  einzeln  nach  einander,  wie  in  unsren 
Grammatiken,  vom  Lautsysteme,  Nomen,  Pronomen  u.  s.  f.,  son- 
dern von  Eigenthümlichkeiten  der  Sprachen  die  Rede  seyn,  welche 
durch  alle  jene  einzelnen  Theile,  sie  selbst  näher  bestimmend, 
durchgehen.  Dies  Verfahren  wird  auch  von  einem  andren  Stand- 
punkte aus  hier  zweckmässiger  erscheinen.  Wenn  das  oben  an- 
gedeutete Ziel  erreicht  werden  soll,  muss  die  Untersuchung  hier 
gerade  vorzugsweise  eine  solche  Verschiedenheit  des  Sprachbaues 
im  Auge  behalten,  welche  sich  nicht  auf  Einerleiheit  eines  Sprach- 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  7 


q3  über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Stammes  zurückführen  lässt.  Diese  nun  wird  man  vorzüglich  da 
suchen  müssen,  wo  sich  das  Verfahren  der  Sprache  am  engsten 
in  ihren  endlichen  Bestrebungen  zusammenknüpft.^)  Dies  führt 
uns  wieder,  aber  in  andrer  Beziehung  zur  Bezeichnung  der  Be- 
griffe und  zur  Verknüpfung  des  Gedanken  im  Satze.  Beide  fliessen 
aus  dem  Zwecke  der  inneren  Vollendung  des  Gedanken  und  des 
äusseren  Verständnisses.  Gewissermassen  unabhängig  hiervon 
bildet  sich  in  ihr  zugleich  ein  künstlerisch  schaffendes  Princip  aus, 
das  ganz  eigentlich  ihr  selbst  angehört.  Denn  die  Begriffe  werden 
in  ihr  von  Tönen  getragen  und  der  Zusammenklang  aller  geistigen 
Kräfte  verbindet  sich  also  mit  einem  musikalischen  Element,  das, 
in  sie  eintretend,  seine  Natur  nicht  aufgiebt,  sondern  nur  modificirt. 
Die  künstlerische  Schönheit  der  Sprache  wird  ihr  daher  nicht  als 
ein  zufälliger  Schmuck  verliehen;  sie  ist,  gerade  im  Gegentheil, 
eine  in  sich  nothwendige  Folge  ihres  übrigen  Wesens,  ein  un- 
trüglicher Prüfstein  ihrer  inneren  und  allgemeinen  Vollendung. 
Denn  die  innere  Arbeit  des  Geistes  hat  sich  erst  dann  auf  die 
kühnste  Höhe  geschwungen,  wenn  das  Schönheitsgefühl  seine 
Klarheit  darüber  ausgiesst.-) 

Das  Verfahren  der  Sprache  ist  aber  nicht  bloss  ein  solches, 
wodurch  eine  einzelne  Erscheinung  zu  Stande  kommt;  es  muss 
derselben  zugleich  die  Möglichkeit  eröffnen,   eine   unbestimmbare 


^J  Nach  „ziisammenknüpß"  gestrichen:  „Diesen  Punkt  glücklich  zu  finden, 
ist  daher  ein  Haupterforderniss  des  Gelingens  der  gegenwärtigen  Untersuchung. 
Dies  Gelingen  wird  aber  am  meisten  gesichert,  wenn  man  ganz  einfach  die  End- 
punkte näher  beleuchtet,  welche  die  Sprachen  sowohl  in  der  Erzeugung  ihrer  all- 
gemeinen Eigenthümlichkeit ,  als  in  ihrer  sich  im  täglichen  Gebrauche  immer 
wiederholenden  Thätigkeit  zu  erstreben  bemüht  sind.  Sie  lassen  sich  auf  drei 
zurückführen,  welche  der  Sprache  dadurch  ein  die  Gegenstände  bezeichnendes^ 
den  Gedanken  zum  Satze  verknüpfendes  und  künstlerisch  schaffendes  Verfahren 
anweisen.  Die  beiden  ersten  fliessen  aus  dem  Zwecke  der  inneren  Vollendung 
des  Gedanken  und  des  äusseren  Verständnisses.  Was  in  der  Seele  vorgeht,  soll 
Andren  mittheilbar  werden  und  in  vollendeter  Bestimmtheit  zu  ihr  selbst  zurück- 
kehren. Das  dritte  Verfahren  hingegen  kann  unabhängig  von  diesen  ihren 
äusseren  Zwecken  betrachtet  werden  und  gehört  ganz  eigentlich  ihr  selbst  an. 
Denn  sie  hat  in  der  jedesmaligen  Rede  eine  selbstständige  Gestalt  und  tritt  in 
dieser  aus  dem  Redenden  hervor.  Sie  macht  ein  Gewebe  die  Begriffe  tragender 
Töne  aus  und  ist  also,  gleich  jedem  andren  Kunstwerk,  in  höherem  oder  ge- 
ringerem Grade  auch  der  künstlerischen  Wirkung  fähig." 

y  Nach  „ausgiesst"  gestrichen:  „und  etwanige  Hindernisse  der  organischen 
und  zufälligen,  hierbei  zur  Mitwirkimg  kommenden  Bedingungen  werden,  so  wie 
die  innere  Kraft  wahrhaft  überwiegend  ist,  imjner  besiegt." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     24.   25.     qq 

Menge  solcher  Erscheinungen  und  unter  allen,  ihr  von  dem  Ge- 
danken gestellten  Bedingungen  hen-orzubringen.  Denn  sie  steht 
ganz  eigentlich  einem  unendlichen  und  wahrhaft  gränzenlosen 
Gebiete,  dem  Inbegriff  alles  Denkbaren  gegenüber.  Sie  muss 
daher  von  endlichen  Mitteln  einen  unendlichen  Gebrauch  machen, 
und  vermag  dies  durch  die  Identität  der  Gedanken-  und  Sprache- 
erzeugenden Kraft.  Es  liegt  hierin  aber  auch  nothwendig,  dass 
sie  nach  zwei  Seiten  hin  ihre  Wirkung  zugleich  ausübt,  indem 
diese  zunächst  aus  sich  heraus  auf  das  Gesprochene  geht,  dann 
aber  auch  zurück  auf  die  sie  erzeugenden  Kräfte.  Beide  Wirkungen 
modificiren  sich  in  jeder  einzelnen  Sprache  durch  die  in  ihr  be- 
obachtete Methode  und  müssen  daher  bei  der  Darstellung  und 
Beurtheilung  dieser  zusammengenommen  werden. 


Wortverwandtschaft  und  Wortform. 

Wir  haben  schon  im  Vorigen  gesehen,  dass  die  Worterfindung  25. 
im  Allgemeinen  nur  darin  besteht,  nach  der  in  beiden  Gebieten 
aufgefassten  Verwandtschaft  analogen  Begriffen  analoge  Laute  zu 
wählen  und  die  letzteren  in  eine  mehr  oder  weniger  bestimmte 
Form  zu  giessen.  Es  kommen  also  hier  zwei  Dinge,  die  Wort- 
form und  die  Wortverwandtschaft  in  Betrachtung.  Die  letztere 
ist,  weiter  zergliedert,  eine  dreifache,  nemlich  die  der  Laute,  die 
logische  der  Begriffe  und  die  aus  der  Rückwirkung  der  Wörter 
auf  das  Gemüth  entstehende.  Da  die  Verwandtschaft,  insofern  sie 
logisch  ist,  auf  Ideen  beruht,  so  erinnert  man  sich  hier  zuerst  an 
denjenigen  Theil  des  Wortvorraths,  in  welchem  Wörter  nach  Be- 
griffen allgemeiner  Verhältnisse  zu  andren  Wörtern,  concrete  zu 
abstracten,  einzelne  Dinge  andeutende  zu  coUectiven  u.  s.  f.  um- 
gestempelt werden.  Ich  sondre  ihn  aber  hier  ab,  da  die  charakte- 
ristische Modification  dieser  Wörter  sich  ganz  enge  an  diejenige 
anschliesst,  welche  dasselbe  Wort  in  den  verschiednen  Verhält- 
nissen zur  Rede  annimmt.  In  diesen  Fällen  wird  ein  sich  immer 
gleich  bleibender  Theil  der  Bedeutung  des  Wortes  mit  einem  andren, 
wechselnden  verbunden.  Dasselbe  findet  aber  auch  sonst  in  der 
Sprache  statt.  Sehr  oft  lässt  sich  in  dem,  in  der  Bezeichnung  ver- 
schiedenartiger Gegenstände  gemeinschaftlichen  Begriffe  ein  stamm- 
hafter Grundtheil  des  Wortes  erkennen,  und  das  Verfahren  der 
Sprache  kann  diese  Erkennung  befördern  oder  erschweren,  den 
Stammbegriff  und   das  A^erhältniss   seiner  Modificationen   zu   ihm 

7* 


IQQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

herausheben  oder  verdunkeln.  Die  Bezeichnung  des  Begriffs  durch 
den  Laut  ist  eine  Verknüpfung  von  Dingen,  deren  Natur  sich  v^ahr- 
haft  niemals  vereinigen  kann.  Der  Begriff  vermag  sich  aber  eben- 
sowenig von  dem  Worte  abzulösen,  als  der  Mensch  seine  Gesichts- 
züge ablegen  kann.  Das  Wort  ist  seine  individuelle  Gestaltung 
und  er  kann,  wenn  er  diese  verlassen  will,  sich  selbst  nur  in 
andren  Worten  wiederfinden.  Dennoch  muss  die  Seele  immerfort 
versuchen,  sich  von  dem  Gebiete  der  Sprache  unabhängig  zu  machen, 
da  das  Wort  allerdings  eine  Schranke  ihres  inneren,  immer  mehr 
enthaltenden  Empfindens  ist  und  oft  gerade  sehr  eigenthümliche 
Nuancen  desselben  durch  seine  im  Laut  mehr  materielle,  in  der 
Bedeutung  zu  allgemeine  Natur  zu  ersticken  droht.  Sie  muss  das 
Wort  mehr  wie  einen  Anhaltspunkt  ihrer  inneren  Thätigkeit  be- 
handeln, als  sich  in  seinen  Granzen  gefangen  halten  lassen.  Was 
sie  aber  auf  diesem  Wege  schützt  und  erringt,  fügt  sie  wieder 
dem  Worte  hinzu,  und  so  geht  aus  diesem  ihrem  fortwährenden 
Streben  und  Gegenstreben,  bei  gehöriger  Lebendigkeit  der  geistigen 
Kräfte,  eine  immer  grössere  Verfeinerung  der  Sprache,  eine  wach- 
sende Bereicherung  derselben  an  seelenvollem  Gehalte  hervor,  die 
ihre  Forderungen  in  eben  dem  Grade  höher  steigert,  in  dem  sie 
besser  befriedigt  werden.  Die  Wörter  erhalten,  wie  man  an  allen 
hoch  gebildeten  Sprachen  sehen  kann,  in  dem  Grade,  in  welchem 
Gedanke  und  Empfindung  einen  höheren  Schwung  nehmen,  eine 
mehr  umfassende  oder  tiefer  eingreifende  Bedeutung. 

Die  Verbindung  der  verschiedenartigen  Natur  des  Begriffs 
und  des  Lautes  fordert,  auch  ganz  abgesehen  vom  körperlichen 
Klange  des  letzteren  und  bloss  vor  der  Vorstellung  selbst,  die 
Vermittlung  beider  durch  etwas  Drittes,  in  dem  sie  zusammen- 
treffen können.  Dies  Vermittelnde  ist  nun  allemal  sinnlicher  Natur, 
wie  in  Vernunft  die  Vorstellung  des  Nehmens,  in  Verstand  die 
des  Stehens,  in  Blüthe  die  des  Hervorquellens  liegt;  es  gehört 
der  äusseren  oder  inneren  Empfindung  oder  Thätigkeit  an.  Wenn 
die  Ableitung  es  richtig  entdecken  lässt,  kann  man,  immer  das 
Concretere  mehr  davon  absondernd,  es  entweder  ganz  oder  neben 
seiner  individuellen  Beschaffenheit  auf  Extension  oder  Intension 
oder  Veränderung  in  beiden  zurückführen,  so  dass  man  in  die 
allgemeinen  Sphären  des  Raumes  und  der  Zeit  und  des  Empfin- 
dungsgrades gelangt.  Wenn  man  nun  auf  diese  Weise  die  Wörter 
einer  einzelnen  Sprache  durchforscht,  so  kann  es,  wenn  auch  mit 
Ausnahme  vieler  einzelnen  Punkte,  gelingen,  die  Fäden  ihres  Zu- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     25.      iqi 

sammenhanges  zu  erkennen  und  das  allgemeine  Verfahren  in  ihr 
individuaiisirt,  wenigstens  in  seinen  Hauptumrissen,  zu  zeichnen. 
Man  versucht  alsdann,  von  den  concreten  Wörtern  zu  den  gleich- 
sam wurzelhaften  Anschauungen  und  Empfindungen  aufzusteigen, 
durch  welche  jede  Sprache,  nach  dem  sie  beseelenden  Genius,  in 
ihren  Wörtern  den  Laut  mit  dem  Begriffe  vermittelt.  Diese  Ver- 
gleichung  der  Sprache  mit  dem  ideellen  Gebiete,  als  demjenigen, 
dessen  Bezeichnung  sie  ist,  scheint  jedoch  umgekehrt  zu  fordern, 
von  den  Begriffen  aus  zu  den  Wörtern  herabzusteigen,  da  nur 
die  Begriffe,  als  die  Urbilder,  dasjenige  enthalten  können,  was  zur 
Beurtheilung  der  Wortbezeichnung,  ihrer  Gattung  und  ihrer  Voll- 
ständigkeit nach,  nothwendig  ist.  Das  Verfolgen  dieses  Weges 
wird  aber  durch  ein  inneres  Hinderniss  gehemmt,  da  die  Begriffe, 
so  wie  man  sie  mit  einzelnen  Wörtern  stempelt,  nicht  mehr  bloss 
etwas  Allgemeines,  erst  naher  zu  Individualisirendes  darstellen 
können.  Versucht  man  aber,  durch  Aufstellung  von  Kategorieen 
zum  Zweck  zu  gelangen,  so  bleibt  zv^dschen  der  engsten  Kategorie 
und  dem  durch  das  Wort  individualisirten  Begriff  eine  nie  zu 
überspringende  Kluft.  Inwiefern  also  eine  Sprache  die  Zahl  der 
zu  bezeichnenden  Begriife  erschöpft  und  in  welcher  Festigkeit 
der  Methode  sie  von  den  ursprünglichen  Begritfen  zu  den  abge- 
leiteten besonderen  herabsteigt,  lässt  sich  im  Einzelnen  nie  mit 
einiger  \^ollständigkeit  darstellen,  da  der  Weg  der  Begriffsver- 
zweigung nicht  durchführbar  ist  und  der  der  Wörter  wohl  das 
Geleistete,  nicht  aber  das  zu  Fordernde  zeigt. 

Man  kann  den  Wortvorrath  einer  Sprache  auf  keine  Weise 
als  eine  fertig  daliegende  Masse  ansehen.  Er  ist,  auch  ohne  aus- 
schliesslich der  beständigen  Bildung  neuer  Wörter  und  Wortformen 
zu  gedenken,  so  lange  die  Sprache  im  Munde  des  Volks  lebt,  ein 
fortgehendes  Erzeugniss  und  Vvledererzeugniss  des  wortbildenden 
Vermögens,  zuerst  in  dem  Stamme,  dem  die  Sprache  ihre  Form 
verdankt,  dann  in  der  kindischen  Erlernung  des  Sprechens  und 
endlich  im  täglichen  Gebrauche  der  Rede.  Die  unfehlbare  Gegen- 
wart des  jedesmal  nothwendigen  W^ortes  in  dieser  ist  gewiss 
nicht  bloss  Werk  des  Gedächtnisses.  Kein  menschliches  Gedächt- 
niss  reichte  dazu  hin,  wenn  nicht  die  Seele  instinctartig  zugleich 
den  Schlüssel  zur  Bildung  der  Wörter  selbst  in  sich  trüge.  Auch 
eine  fremde  erlernt  man  nur  dadurch,  dass  man  sich  nach  und 
nach,  sey  es  auch  nur  durch  Uebung,  dieses  Schlüssels  zu  ihr  be- 
meistert,  nur  vermöge   der  Einerleiheit   der  Sprachanlagen  über- 


J02  *•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

haupt  und  der  besonderen  zwischen  einzelnen  Vollmern  bestehenden 
Verwandtschaft  derselben.  Mit  den  todten  Sprachen  verhält  es 
sich  nur  um  Weniges  anders.  Ihr  Wortvorrath  ist  allerdings  nach 
unserer  Seite  hin  ein  geschlossenes  Ganze,  in  dem  nur  glückliche 
Forschung  in  ferner  Tiefe  liegende  Entdeckungen  zu  machen  im 
Stande  ist.  Allein  ihr  Studium  kann  auch  nur  durch  Aneignung 
des  ehemals  in  ihnen  lebendig  gewesenen  Princips  gelingen;  sie 
erfahren  ganz  eigentlich  eine  wirkliche  augenblickliche  Wieder- 
belebung. Denn  eine  Sprache  kann  unter  keiner  Bedingung  wie 
eine  abgestorbene  Pflanze  erforscht  werden.  Sprache  und  Leben 
sind  unzertrennliche  Begriffe  und  die  Erlernung  ist  in  diesem 
Gebiete  immer  nur  Wiedererzeugung. 

Von  dem  hier  gefassten  Standpunkte  aus  zeigt  sich  nun  die 
Einheit  des  Wortvorrathes  jeder  Sprache  am  deutlichsten.  Er  ist 
ein  Ganzes,  weil  Eine  Kralt  ihn  erzeugt  hat  und  diese  Erzeugung 
in  unzertrennlicher  Verkettung  fortgeführt  worden  ist.  Seine  Ein- 
heit beruht  auf  dem,  durch  die  Verwandtschaft  der  Begriffe  ge- 
leiteten Zusammenhange  der  vermittelnden  Anschauungen  und  der 
Laute,  Dieser  Zusammenhang  ist  es  daher,  den  wir  hier  zunächst 
zu  betrachten  haben. 

Die  Indischen  Grammatiker  bauten  ihr  gewiss  zu  künstliches, 
aber  in  seinem  Ganzen  von  bewundrungswürdigem  Scharfsinn 
zeugendes  S^^stem  auf  die  Voraussetzung,  dass  sich  der  ihnen  vor- 
liegende Wortschatz  ihrer  Sprache  ganz  durch  sich  selbst  erklären 
lasse.  Sie  sahen  dieselbe  daher  als  eine  ursprüngliche  an  und 
schlössen  auch  alle  Möglichkeit  im  ^^erlaufe  der  Zeit  aufgenommener 
fremder  Wörter  aus.  Beides  war  unstreitig  falsch.  Denn  aller 
historischen  oder  aus  der  Sprache  selbst  aufzufindenden  Gründe 
nicht  zu  gedenken,  ist  es  auf  keine  Weise  wahrscheinlich,  dass 
sich  irgend  eine  wahrhaft  ursprüngliche  Sprache  in  ihrer  Urform 
bis  auf  uns  erhalten  habe.  Vielleicht  hatten  die  Indischen  Gram- 
matiker bei  ihrem  Verfahren  auch  nur  mehr  den  Zweck  im  Auge, 
die  Sprache  zur  Bequemlichkeit  der  Erlernung  in  systematische 
Verbindung  zu  bringen,  ohne  sich  gerade  um  die  historische 
Richtigkeit  dieser  Verbindung  zu  kümmern.  Es  mochte  aber 
auch  den  Indiern  in  diesem  Punkte  wie  den  meisten  Nationen 
bei  dem  Aufblühen  ihrer  Geistesbildung  ergehen.  Der  Mensch 
sucht  immer  die  Verknüpfung,  auch  der  äusseren  Erscheinungen, 
zuerst  im  Gebiete  der  Gedanken  auf;  die  historische  Kunst  ist 
immer  die  späteste  und  die  reine  Beobachtung,   noch  weit  mehr 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     25.      103 

aber  der  \'ersuch  folgen  erst  in  weiter  Entfernung  idealischen 
oder  phantastischen  Systemen  nach.  Zuerst  versucht  der  Mensch 
die  Natur  von  der  Idee  aus  zu  beherrschen.  Dies  zugestanden, 
zeugt  aber  jene  Voraussetzung  der  Erklärlichkeit  des  Sanskrits 
durch  sich  allein  von  einem  richtigen  und  tiefen  Blick  in  die 
Natur  der  Sprache  überhaupt.  Denn  eine  wahrhaft  ursprüngliche 
und  von  fremder  Einmischung  rein  geschiedene  müsste  wirklich 
einen  solchen  thatsächlich  nachzuweisenden  Zusammenhang  ihres 
gesammten  Wortvorraths  in  sich  bewahren.  Es  war  überdies  ein 
schon  durch  seine  Kühnheit  Achtung  verdienendes  Unternehmen, 
sich  gerade  mit  dieser  Beharrlichkeit  in  die  Wortbildung,  als  den 
tiefsten  und  geheimnissvollsten  Theil  aller  Sprachen  zu  versenken. 

Das  Wesen  des  Lautzusammenhanges  der  Wörter  beruht 
darauf,  dass  eine  massige  Anzahl  dem  ganzen  Wortvorrathe  zum 
Grunde  liegender  Wurzellaute  durch  Zusätze  und  Veränderungen 
auf  immer  bestimmtere  und  mehr  zusammengesetzte  Begriffe  an- 
gewendet wird.  Die  Wiederkehr  desselben  Stammlauts  oder  doch 
die  Möglichkeit,  ihn  nach  bestimmten  Regeln  zu  erkennen,  und 
die  Gesetzmässigkeit  in  der  Bedeutsamkeit  der  moditicirenden  Zu- 
sätze oder  innren  Umänderungen  bestimmen  alsdann  diejenige  Er- 
klärlichkeit der  Sprache  durch  sich  selbst,  die  man  eine  mecha- 
nische oder  technische  nennen  kann. 

Es  giebt  aber  einen,  sich  auch  auf  die  Wurzelwörter  be- 
ziehenden, wichtigen,  noch  bisher  sehr  vernachlässigten  Unter- 
schied unter  den  Wörtern  in  Absicht  auf  ihre  Erzeugung.  Die 
grosse  Anzahl  derselben  ist  gleichsam  erzählender  oder  beschrei- 
bender Natur,  bezeichnet  Bewegungen,  Eigenschaften  und  Gegen- 
stände an  sich,  ohne  Beziehung  auf  eine  anzunehmende  oder  ge- 
fühlte Persönlichkeit ;  bei  andren  hingegen  macht  gerade  der  Aus- 
druck dieser  oder  die  schlichte  Beziehung  auf  dieselbe  das  aus- 
schliessliche Wesen  der  Bedeutung  aus.  Ich  glaube  in  einer 
früheren  Abhandlung*)  richtig  gezeigt  zu  haben,  dass  die  Personen- 
wörter die  ursprünglichen  in  jeder  Sprache  seyn  müssen  und  dass 
es   eine   ganz   unrichtige  Vorstellung  ist,   das   Pronomen   als   den 


*)  Ueber  die  Verwandtschaft  der  Ortsadverbien  mit  dem  Pronomen  in  einigen 
Sprachen,  in  den  Abhandlungen  der  historisch-philologischen  Classe  der  Berliner 
Akademie  der  Wissenschaften  aus  dem  Jahre  1829.  S.  1—6.  Man  vergleiche  auch  die 
Abhandlung  über  den  Dualis,  ebendaselbst  aus  dem  Jahre   1827.    S.   182 — 185.^) 

V  Vgl.  Band  6,  J04.  26. 


J04  '•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

spätesten  Redetheil  in  der  Sprache  anzusehen.  Eine  eng  gram- 
matische Vorstellungsart  der  Vertretung  des  Nomen  durch  das 
Pronomen  hat  hier  die  tiefer  aus  der  Sprache  geschöpfte  An- 
sicht verdrängt.  Das  Erste  ist  natürlich  die  Persönlichkeit  des 
Sprechenden  selbst,  der  in  beständiger  unmittelbarer  Berührung 
mit  der  Natur  steht  und  unmöglich  unterlassen  kann,  auch  in  der 
Sprache  ihr  den  Ausdruck  seines  Ichs  gegenüberzustellen.  Im  Ich 
aber  ist  von  selbst  auch  das  Du  gegeben,  und  durch  einen  neuen 
Gegensatz  entsteht  die  dritte  Person,  die  sich  aber,  da  nun  der 
Kreis  der  Fühlenden  und  Sprechenden  verlassen  wird,  auch  zur 
todten  Sache  erweitert.  Die  Person,  namentlich  das  Ich  steht,  wenn 
man  von  jeder  concreten  Eigenschaft  absieht,  in  der  äusseren  Be- 
ziehung des  Raumes  und  der  inneren  der  Empfindung.  Es  schliessen 
sich  also  an  die  Personenwörter  Praepositionen  und  Interjectionen 
an.  Denn  die  ersten  sind  Beziehungen  des  Raumes  oder  der  als 
Ausdehnung  betrachteten  Zeit  auf  einen  bestimmten,  von  ihrem 
Begriff  nicht  zu  trennenden  Punkt,  die  letzteren  sind  blosse  Aus- 
brüche des  Lebensgefühls.  Es  ist  sogar  wahrscheinlich,  dass  die 
wirklich  einfachen  Personenwörter  ihren  Ursprung  selbst  in  einer 
Raum-  oder  Empfindungsbeziehung  haben. 

Der  hier  gemachte  Unterschied  ist  aber  fein  und  muss  genau 
in  seiner  bestimmten  Sonderung  genommen  werden.  Denn  auf 
der  einen  Seite  werden  alle,  die  inneren  Empfindungen  bezeich- 
nenden Wörter,  wie  die  für  die  äusseren  Gegenstände,  beschrei- 
bend und  allgemein  objectiv  gebildet.  Der  obige  Unterschied  be- 
ruht nur  darauf,  dass  der  wirkliche  Empfindungsausbruch  einer 
bestimmten  Individualität  das  Wesen  der  Bezeichnung  ausmacht. 
Auf  der  andren  Seite  kann  es  in  den  Sprachen  Pronomina  und 
Praepositionen  geben  und  giebt  deren  wirklich,  die  von  ganz  con- 
creten Eigenschaftswörtern  hergenommen  sind.  Die  Person  kann 
durch  etwas  mit  ihrem  Begriff  Verbundenes  bezeichnet  werden, 
die  Praeposition  auf  eine  ähnliche  Weise  durch  ein  mit  ihrem  Be- 
griff verwandtes  Nomen,  wie  hinter  durch  Rücken,  vor  durch 
Brust  u.  s.  f.  Wirklich  so  entstandene  Wörter  können  durch  die 
Zeit  so  unkenntlich  werden,  dass  die  Entscheidung  schwer  fällt, 
ob  sie  so  abgeleitete  oder  ursprüngliche  Wörter  sind.  Wenn  hier- 
über aber  auch  in  einzelnen  Fällen  hin  und  her  gestritten  werden 
kann,  so  bleibt  darum  nicht  abzuläugnen,  dass  jede  Sprache  ur- 
sprünglich solche  dem  unmittelbaren  Gefühl  der  Persönlichkeit 
entstammte  Wörter  gehabt  haben  muss.     Bopp  hat  das  wichtige 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     25.      joR 

Verdienst,  diese  zwiefache  Gattung  der  Wurzelwöner  zuerst  unter- 
schieden und  die  bisher  unbeachtet  gebliebene  in  die  Wort-  und 
Formenbildung  eingeführt  zu  haben.  Wir  werden  aber  gleich 
weiter  unten  sehen,  auf  welche  sinnvolle,  auch  von  ihm  zuerst 
an  den  Sanskritformen  entdeckte  Weise  die  Sprache  beide,  jede 
in  einer  verschiedenen  Geltung,  zu  ihren  Zwecken  verbindet. 

Die  hier  unterschiednen  objectiven  und  subjectiven  Wurzeln 
der  Sprache  (wenn  ich  mich  der  Kürze  wegen  dieser,  allerdings 
bei  weitem  nicht  erschöpfenden  Bezeichnung  derselben  bedienen 
darf)  theilen  indess  nicht  ganz  die  gleiche  Natur  mit  einander 
und  können  daher,  genau  genommen,  auch  nicht  auf  dieselbe 
W^eise  als  Grundlaute  betrachtet  werden.  Die  objectiven  tragen 
das  Ansehen  der  Entstehung  durch  Anal3^se  an  sich ;  man  hat  die 
Nebenlaute  abgesondert,  die  Bedeutung,  um  alle  darunter  geord- 
nete Wörter  zu  umfassen,  zu  schwankendem  Umfange  erweitert 
und  so  Formen  gebildet,  die  in  dieser  Gestalt  nur  uneigentlich 
Wörter  genannt  werden  können.  Die  subjectiven  hat  sichtbar 
die  Sprache  selbst  geprägt.  Ihr  Begriff  erlaubt  keine  Weite,  ist 
vielmehr  überall  Ausdruck  scharfer  Individualität;  er  war  dem 
Sprechenden  unentbehrlich  und  konnte  bis  zur  Vollendung  all- 
mählicher Spracherweiterung  gewissermassen  ausreichen.  Er  deutet 
daher,  wie  wir  gleich  in  der  Folge  näher  untersuchen  werden,  auf 
einen  primitiven  Zustand  der  Sprachen  hin,  was,  ohne  bestimmte 
historische  Beweise,  von  den  objectiven  Wurzeln  nur  mit  grosser 
Behutsamkeit  angenommen  werden  kann. 

Mit  dem  Namen  der  Wurzeln  können  nur  solche  Grundlaute 
belegt  werden,  welche  sich  unmittelbar,  ohne  Dazwischenkunft 
anderer,  schon  für  sich  bedeutsamer  Laute,  dem  zu  bezeichnenden 
Begriffe  anschliessen.  In  diesem  strengen  Verstände  des  Worts 
brauchen  die  Wurzeln  nicht  der  wahrhaften  Sprache  anzugehören, 
und  in  Sprachen,  deren  Form  die  Umkleidung  der  Wurzeln  mit 
Nebenlauten  mit  sich  führt,  kann  dies  sogar  überhaupt  kaum 
oder  doch  nur  unter  bestimmten  Bedingungen  der  Fall  seyn. 
Denn  die  wahre  Sprache  ist  nur  die  in  der  Rede  sich  offen- 
barende und  die  Spracherfindung  lässt  sich  nicht  auf  demselben 
Wege  abwärts  schreitend  denken,  den  die  Analyse  aufwärts  ver- 
folgt. Wenn  in  einer  solchen  Sprache  eine  Wurzel  als  Wort  er- 
scheint, wie  im  Sanskrit  j>7^öy/,  Kampf,  oder  als  Theil  einer  Zu- 
sammensetzung, wie  in  dharmawtd,  gerechtigkeitskundig,  so 
sind  dies  Ausnahmen,  die  ganz  und  gar  nicht  zu  der  Voraussetzung 


jo6  '•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

eines  Zustandes  berechtigen,  wo  auch,  gleichsam,  wie  im  Chine- 
sischen, die  unbekleideten  Wurzeln  sich  mit  der  Rede  verbanden. 
Es  ist  sogar  viel  wahrscheinlicher,  dass,  je  mehr  die  Stammlaute 
dem  Ohre  und  dem  Bewusstseyn  der  Sprechenden  geläufig  wurden, 
solche  einzelnen  Fälle  ihrer  nackten  Anwendung  dadurch  ein- 
traten.^) Indem  aber  durch  die  Zergliederung  auf  die  Stammlaute 
zurückgegangen  wird,  fragt  es  sich,  ob  man  überall  bis  zu  dem 
wirklich  Einfachen  gelangt  ist?  Im  Sanskrit  ist  schon  mit  glück- 
lichem Scharfsinn  von  Bopp  und  in  einer  schon  oben  erwähnten, 
wichtigen  Arbeit,  die  gewiss  zur  Grundlage  weiterer  Forschungen 
dienen  wird,  von  Pott  gezeigt  worden,  dass  mehrere  angebliche 
Wurzeln  zusammengesetzt  oder  durch  Reduplication  abgeleitet 
sind.  Aber  auch  auf  solche,  die  wirklich  einfach  scheinen,  kann 
der  Zweifel  ausgedehnt  werden.  Ich  meine  hier  besonders  die, 
welche  von  dem  Bau  der  einfachen  oder  doch  den  Vocal  nur  mit 
solchen  Consonantenlauten,  die  sich  bis  zu  schwieriger  Trennung 
mit  ihm  verschmelzen,  umkleidenden  Sylben  abweichen.  Auch  in 
ihnen  können  unkenntlich  gewordene  und  phonetisch  durch  Zu- 
sammenziehung, Abwerfung  von  Vocalen  oder  sonst  veränderte 
Zusammensetzungen  versteckt  seyn.  Ich  sage  dies  nicht,  um  leere 
Muthmassungen  an  die  Stelle  von  Thatsachen  zu  setzen,  wohl 
aber,  um  der  historischen  Forschung  nicht  willkührlich  das  weitere 
Vordringen  in  noch  nicht  gehörig  durchschaute  Sprachzustände 
zu  verschliessen,  und  weil  die  uns  hier  beschäftigende  Frage  des 
Zusammenhanges  der  Sprachen  mit  dem  Bildungsvermögen  es 
nothwendig  macht,  alle  Wege  aufzusuchen,  welche  die  Entstehung 
des  Sprachbaues  genommen  haben  kann. 

Insofern  sich  die  Wurzellaute  durch  ihre  stätige  Wiederkehr 
in  sehr  abwechselnden  Formen  kenntlich  machen,  müssen  sie  in 
dem  Grade  mehr  zur  Klarheit  gelangen,  in  welchem  eine  Sprache 
den  Begriff  des  Verbum  seiner  Natur  gemässer  in  sich  ausgebildet 
hat.  Denn  bei  der  Flüchtigkeit  und  Beweglichkeit  dieses,  gleich- 
sam nie  ruhenden  Redetheils  zeigt  sich  nothwendig  dieselbe  Wurzel- 
sylbe  mit  immer  wechselnden  Nebenlauten.  Die  Indischen  Gram- 
matiker verfuhren  daher  nach  einem  ganz  richtigen  Gefühl   ihrer 


V  Nach  „eintraten"  gestrichen :  „Der  Ausspruch  der  Indischen  Grammatiker, 
dass  jede  Wurzel  als  schliessendes  Element  eines  Compositum  erscheinen  könne, 
ist  daher  wohl  gewiss  eher  eine  spätere  Erweiterung  der  Sprache,  als  ein  aus 
ihrem  früheren,  uns  minder  bekannten  Zustande  geschöpftes  Gesetz." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     25.      jQ-y 

Sprache,  indem  sie  alle  Wurzeln  als  Verbalwurzeln  behandelten 
und  jede  bestimmten  Conjugationen  zuwiesen.  Es  liegt  aber  auch 
in  der  Natur  der  Sprachentwicklung  selbst,  dass,  sogar  geschicht- 
lich, die  Bewegungs-  und  Beschatfenheitsbegriffe  die  zuerst  be- 
zeichneten seyn  werden,  da  nur  sie  natürlich  wieder  gleich  und 
oft  in  dem  nemlichen  Acte  die  bezeichnenden  der  Gegenstände 
seyn  können,  insofern  diese  einfache  Wörter  ausmachen.  Bewegung 
und  Beschaffenheit  stehen  einander  aber  an  sich  nahe  und  ein 
lebhafter  Sprachsinn  reisst  die  letztere  noch  häufiger  zu  der 
ersteren  hin.  Dass  die  Indischen  Grammatiker  auch  diese  wesent- 
liche Verschiedenheit  der  Bewegung  und  Beschaffenheit  und  der 
selbstständige  Sachen  andeutenden  Wörter  empfanden,  beweist 
ihre  Unterscheidung  der  Krit-  und  Unädi-Suffixe.  Durch  beide 
werden  Wörter  unmittelbar  von  den  Wurzellauten  abgeleitet. 
Die  ersteren  aber  bilden  nur  solche,  in  welchen  der  Wurzelbegriö 
selbst  bloss  mit  allgemeinen ,  auf  mehrere  zugleich  passenden 
Modificationen  versehen  wird.  Wirkliche  Substanzen  finden  sich 
bei  ihnen  seltener  und  nur  insofern,  als  die  Bezeichnung  der- 
selben von  dieser  bestimmten  Art  ist.  Die  Unädi-Suffixe  be- 
greifen gerade  im  Gegentheil  nur  Benennungen  concreter  Gegen- 
stände und  in  den  durch  sie  gebildeten  Wörtern  ist  der  dunkelste 
Theil  gerade  das  Suffix  selbst,  welches  den  allgemeineren,  den 
Wurzellaut  modificirenden  Begriff  enthalten  sollte.  Es  ist  nicht 
zu  läugnen,  dass  ein  grosser  Theil  dieser  Bildungen  erzwungen 
und  offenbar  ungeschichtlich  ist.  Man  erkennt  zu  deutlich  ihre  ab- 
sichtliche Entstehung  aus  dem  Princip,  alle  Wörter  der  Sprache, 
ohne  Ausnahme,  auf  die  einmal  angenommenen  Wurzeln  zurück- 
zubringen. Unter  diesen  Benennungen  concreter  Gegenstände 
können  einestheils  fremde  in  die  Sprache  aufgenommene,  andren- 
theils  aber  unkenntlich  gewordene  Zusammensetzungen  liegen, 
wie  es  von  den  letzteren  in  der  That  erkennbare  bereits  unter 
den  Unädi- Wörtern  giebt.  Es  ist  dies  natürlich  der  dunkelste 
Theil  aller  Sprachen  und  man  hat  daher  mit  Recht  neuerlich 
vorgezogen,  aus  einem  grossen  Theile  der  Unädi-Wörter  eine 
eigne  Glasse  dunkler  und  ungewisser  Herleitung  zu  bilden. 

Das  Wesen  des  Lautzusammenhanges  beruht  auf  der  Kennt- 
lichkeit der  Stamms3'lbe,  die  von  den  Sprachen  überhaupt  nach 
dem  Grade  der  Richtigkeit  ihres  Organismus  mit  mehr  oder 
minder  sorgfältiger  Schonung  behandelt  wird.  In  denen  eines 
sehr  vollkommenen  Baues  schliessen  sich  aber  an  den  Stammlaut, 


Io8  J-    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

als  den  den  Begriff  individualisirenden,  Nebenlaute,  als  allgemeine, 
modificirende  an.  Wie  nun  in  der  Aussprache  der  Wörter  in  der 
Regel  jedes  nur  Einen  Hauptaccent  hat  und  die  unbetonten  Sylben 
gegen  die  betonte  sinken  (s.  unten  §.  28.),  so  nehmen  auch  in  den 
einfachen,  abgeleiteten  Wörtern  die  Nebenlaute  in  richtig  organi- 
sirten  Sprachen  einen  kleineren,  obgleich  sehr  bedeutsamen  Raum 
ein.  Sie  sind  gleichsam  die  scharfen  und  kurzen  Merkzeichen  für 
den  Verstand,  wohin  er  den  Begriff  der  mehr  und  deutlicher  sinn- 
lich ausgeführten  Stammsylbe  zu  setzen  hat.  Dies  Gesetz  sinn- 
licher Unterordnung,  das  auch  mit  dem  rhythmischen  Baue  der 
Wörter  in  Zusammenhang  steht,  scheint  durch  sehr  rein  organi- 
sirte  Sprachen  auch  formell,  ohne  dass  dazu  die  Veranlassung  von 
den  Wörtern  selbst  ausgeht,  allgemein  zu  herrschen,  und  das  Be- 
streben der  Indischen  Grammatiker,  alle  Wörter  ihrer  Sprache' 
danach  zu  behandeln,  zeugt  wenigstens  von  richtiger  Einsicht  in 
den  Geist  ihrer  Sprache.  Da  sich  die  Unädi  Suffixa  bei  den 
früheren  Grammatikern  nicht  gefunden  haben  sollen,  so  scheint 
man  aber  hierauf  erst  später  gekommen  zu  seyn.  In  der  That 
zeigt  sich  in  den  meisten  Sanskrit- Wörtern  für  concrete  Gegen- 
stände dieser  Bau  einer  kurz  abfallenden  Endung  neben  einer 
vorherrschenden  Stammsylbe  und  dies  lässt  sich  sehr  füglich  mit 
dem  oben  über  die  Möglichkeit  unkenntlich  gewordener  Zu- 
sammensetzung Gesagten  vereinen.  Der  gleiche  Trieb  hat,  wie 
auf  die  Ableitung,  so  auch  auf  die  Zusammensetzung  gewirkt 
und  gegen  den  individueller  oder  sonst  bestimmt  bezeichnenden 
Theil  den  anderen  im  Begriff"  und  im  Laute  nach  und  nach  fallen 
lassen.  Denn  wenn  wir  in  den  Sprachen,  ganz  dicht  neben  ein- 
ander, beinahe  unglaublich  scheinende  Verwischungen  und  Ent- 
stellungen der  Laute  durch  die  Zeit  und  wieder  ein,  Jahrhunderte 
hindurch  zu  verfolgendes,  beharrliches  Halten  an  ganz  einzelnen 
und  einfachen  antreffen,  so  liegt  dies  wohl  meistentheils  an  dem 
durch  irgend  einen  Grund  motivirten  Streben  oder  Aufgeben  des 
inneren  Sprachsinnes.  Die  Zeit  verlöscht  nicht  an  sich,  sondern 
nur  in  dem  Masse,  als  er  vorher  einen  Laut  absichtlich  oder 
gleichgültig  fallen  lässt. 

Isolirung  der  W^örter.     Flexion  und  Agglutination. 

26.         Ehe  wir  jetzt  zu  den  wechselseitigen  Beziehungen  der  Worte 
in  der  zusammenhängenden  Rede  übergehen,  muss  ich  eine  Eigen- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.    25.  26.     iqQ 

Schaft  der  Sprachen  erwähnen,  welche  sich  zugleich  über  diese 
Beziehungen  und  über  einen  Theil  der  Wortbildung  selbst  ver- 
breitet. Ich  habe  schon  im  Vorigen  (S.  99.  108.)  die  Aehnlichkeit 
des  Falles  erwähnt,  wenn  ein  Wort  durch  die  Hinzufügung  eines 
allgemeinen,  auf  eine  ganze  Classe  von  Wörtern  anwendbaren  Be- 
griffs aus  der  Wurzel  abgeleitet  und  wenn  dasselbe  auf  diese 
Weise,  seiner  Stellung  in  der  Rede  nach,  bezeichnet  wird.  Die 
hier  wirksame  oder  hemmende  Eigenschaft  der  Sprachen  ist  nemlich 
die,  welche  man  unter  den  Ausdrücken:  Isolirung  der  Wörter, 
Flexion  und  Agglutination  zusammenzubegreifen  pflegt.  Sie  ist 
der  Angelpunkt,  um  welchen  sich  die  Vollkommenheit  des  Sprach- 
organismus drehet,  und  wir  müssen  sie  daher  so  betrachten,  dass 
wir  nach  einander  untersuchen,  aus  welcher  innren  Forderung 
sie  in  der  Seele  entspringt,  wie  sie  sich  in  der  Lautbehandlung 
äussert  und  wie  jene  innren  Forderungen  durch  diese  Aeusserung 
erfüllt  werden  oder  unbefriedigt  bleiben?  immer  der  oben  ge- 
machten Eintheilung  der  in  der  Sprache  zusammenwirkenden 
Thätigkeiten  folgend. 

In  allen  hier  zusammengefassten  Fällen  liegt  in  der  inner- 
lichen Bezeichnung  der  Wörter  ein  Doppeltes,  dessen  ganz  ver- 
schiedene Natur  sorgfältig  getrennt  werden  muss.  Es  gesellt  sich 
nemlich  zu  dem  Acte  der  Bezeichnung  des  Begriffes  selbst  noch 
eine  eigne,  ihn  in  eine  bestimmte  Kategorie  des  Denkens  oder 
Redens  versetzende  Arbeit  des  Geistes,  und  der  volle  Sinn  des 
Wortes  geht  zugleich  aus  jenem  Begriffsausdruck  und  dieser  modi- 
ficirenden  Andeutung  hervor.  Diese  beiden  Elemente  aber  liegen 
in  ganz  verschiedenen  Sphären.  Die  Bezeichnung  des  Begriffs 
gehört  dem  immer  mehr  objectiven  Verfahren  des  Sprachsinnes 
an.  Die  Versetzung  desselben  in  eine  bestimmte  Kategorie  des 
Denkens  ist  ein  neuer  Act  des  sprachlichen  Selbstbewusstseyns, 
durch  welchen  der  einzelne  Fall,  das  individuelle  Wort,  auf  die 
Gesammtheit  der  möglichen  Fälle  in  der  Sprache  oder  Rede  be- 
zogen wird.  Erst  durch  diese,  in  möglichster  Reinheit  und  Tiefe 
vollendete  und  der  Sprache  selbst  fest  einverleibte  Operation  ver- 
bindet sich  in  derselben,  in  der  gehörigen  Verschmelzung  und 
Unterordnung,  ihre  selbstständige,  aus  dem  Denken  entspringende 
und  ihre  mehr  den  äusseren  Eindrücken  in  reiner  Empfänglichkeit 
folgende  Thätigkeit. 

Es  giebt  daher  natürlich  Grade,  in  welchen  die  verschiedenen 
Sprachen   diesem  Erfordernisse   genügen,   da  in   der   innerlichen 


l  jo  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Sprachgestaltung  keine  dasselbe  ganz  unbeachtet  zu  lassen  vermag. 
Allein  auch  in  denen,  wo  dasselbe  bis  zur  äusserlichen  Bezeich- 
nung durchdringt,  kommt  es  auf  die  Tiefe  und  Lebendigkeit  an, 
in  welcher  sie  wirklich  zu  den  ursprünglichen  Kategorieen  des 
Denkens  aufsteigen  und  denselben  in  ihrem  Zusammenhange 
Geltung  verschaffen.  Denn  diese  Kategorieen  bilden  wieder  ein 
zusammenhängendes  Ganzes  unter  sich,  dessen  systematische  Voll- 
ständigkeit die  Sprachen  mehr  oder  weniger  durchstrahlt.  Die 
Neigung  der  Classificirung  der  Begriffe,  der  Bestimmung  der  indi- 
viduellen durch  die  Gattung,  welcher  sie  angehören,  kann  aber 
auch  aus  einem  Bedürfniss  der  Unterscheidung  und  der  Bezeich- 
nung entstehen,  indem  man  den  Gattungsbegriff  an  den  individuellen 
anknüpft.  Sie  lässt  daher  an  sich  und  nach  diesem  oder  dem 
reineren  Ursprünge  aus  dem  Bedürfniss  des  Geistes  nach  lichtvoller 
logischer  Ordnung  verschiedene  Stufen  zu.  Es  giebt  Sprachen, 
welche  den  Benennungen  der  lebendigen  Geschöpfe  regelmässig 
den  Gattungsbegriff  hinzufügen,  und  unter  diesen  solche,  wo  die 
Bezeichnung  dieses  Gattungsbegriffs  zum  wirklichen,  nur  durch 
Zergliederung  erkennbaren  Suffixe  gew^orden  ist.  Diese  Fälle  hängen 
zwar  noch  immer  mit  dem  oben  Gesagten  zusammen,  insofern 
auch  in  ihnen  ein  doppeltes  Princip,  ein  objectives  der  Bezeich- 
nung und  ein  subjectives  logischer  Eintheilung,  sichtbar  wird. 
Sie  entfernen  sich  aber  auf  der  andren  Seite  gänzlich  dadurch 
davon,  dass  hier  nicht  mehr  Formen  des  Denkens  und  der  Rede, 
sondern  nur  verschiedene  Classen  wirklicher  Gegenstände  in  die 
Bezeichnung  eingehen.  So  gebildete  Wörter  werden  nun  den- 
jenigen ganz  ähnlich,  in  welchen  zwei  Elemente  einen  zusammen- 
gesetzten Begriff  bilden.  Was  dagegen  in  der  innerlichen  Ge- 
staltung dem  Begriffe  der  Flexion  entspricht,  unterscheidet  sich 
gerade  dadurch,  dass  gar  nicht  zwei  Elemente,  sondern  nur  Eines, 
in  eine  bestimmte  Kategorie  versetztes  das  Doppelte  ausmacht, 
von  dem  wir  bei  der  Bestimmung  dieses  Begriffs  ausgiengen.  Dass 
dies  Doppelte,  wenn  man  es  auseinanderlegt,  nicht  gleicher,  sondern 
verschiedner  Natur  ist  und  verschiednen  Sphären  angehört,  bildet 
gerade  hier  das  charakteristische  Merkmal.  Nur  dadurch  können 
rein  organisirte  Sprachen  die  tiefe  und  feste  Verbindung  der  Selbst- 
thätigkeit  und  Empfänglichkeit  erreichen,  aus  der  hernach  in  ihnen 
eine  Unendlichkeit  von  Gedankenverbindungen  hervorgeht,  welche 
alle  das  Gepräge  ächter,  die  Forderungen  der  Sprache  überhaupt 
rein  und  voll  befriedigender  Form  an  sich  tragen.    Dies  schliesst 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     26.      m 

in  der  Wirklichkeit  nicht  aus,  dass  in  den  auf  diese  Weise  ge- 
bildeten W^örtern  nicht  auch  bloss  aus  der  Erfahrung  geschöpfte 
Unterschiede  Platz  finden  könnten.  Sie  sind  aber  alsdann  in 
Sprachen,  die  einmal  in  diesem  Theile  ihres  Baues  von  dem  rich- 
tigen geistigen  Principe  ausgehen,  allgemeiner  gefasst  und  schon 
durch  das  ganze  übrige  Verfahren  der  Sprache  auf  eine  höhere 
Stufe  gestellt.  So  würde  z.  B.  der  Begriff  des  Geschlechtsunter- 
schiedes nicht  haben  ohne  die  wirkliche  Beobachtung  entstehen 
können,  wenn  er  sich  gleich  durch  die  allgemeinen  Begriffe  der 
Selbstthätigkeit  und  Empfänglichkeit  an  die  ursprünglichen  Ver- 
schiedenheiten denkbarer  Kräfte  gleichsam  von  selbst  anreiht.  Zu 
dieser  Höhe  nun  wird  er  in  der  That  in  Sprachen  gesteigert,  die 
ihn  ganz  und  vollständig  in  sich  aufnehmen  und  ihn  auch  auf 
ganz  ähnliche  Weise,  als  die  aus  den  bloss  logischen  Verschieden- 
heiten der  Begriffe  entstehenden  Wörter  bezeichnen.  Man  knüpft 
nun  nicht  zwei  Begriffe  an  einander,  man  versetzt  bloss  einen, 
durch  eine  innere  Beziehung  des  Geistes,  in  eine  Classe,  deren 
Begriff"  durch  viele  Naturwesen  durchgeht,  aber  als  Verschieden- 
heit wechselseitig  thätiger  Kräfte  auch  unabhängig  von  einzelner 
Beobachtung  aufgefasst  werden  könnte. 

Das  lebhaft  im  Geiste  Empfundene  verschafft  sich  in  den 
sprachbildenden  Perioden  der  Nationen  auch  allemal  Geltung  in 
den  entsprechenden  Lauten.  Wie  daher  zuerst  innerlich  das  Ge- 
fühl der  Nothwendigkeit  aufstieg,  dem  Worte,  nach  dem  Bedürf- 
niss  der  wechselnden  Rede  oder  seiner  dauernden  Bedeutung, 
seiner  Einfachheit  unbeschadet,  einen  zwiefachen  Ausdruck  bei- 
zugeben, so  entstand  von  innen  hen-or  Flexion  in  den  Sprachen. 
Wir  aber  können  nur  den  entgegengesetzten  Weg  verfolgen,  nur 
von  den  Lauten  und  ihrer  Zergliederung  in  den  inneren  Sinn  ein- 
dringen. Hier  nun  finden  wir,  wo  diese  Eigenschaft  ausgebildet 
ist,  in  der  That  ein  Doppeltes,  eine  Bezeichnung  des  Begriffs  und 
eine  Andeutung  der  Kategorie,  in  die  er  versetzt  wird.  Denn  auf 
diese  Weise  lässt  sich  vielleicht  am  bestimmtesten  das  zwiefache 
Streben  unterscheiden,  den  Begriff"  zugleich  zu  stempeln  und  ihm 
das  Merkzeichen  der  Art  beizugeben,  in  der  er  gerade  gedacht 
werden  soll.  Die  Verschiedenheit  dieser  Absicht  muss  aber  aus 
der  Behandlung  der  Laute  selbst  hervorspringen. 

Das  Wort  lässt  nur  auf  zwei  Wegen  eine  L^mgestaltung 
zu:  durch  innere  Veränderung  oder  äusseren  Zuv^achs.  Beide 
sind    unmöglich,    wo    die    Sprache    alle    Wörter    starr    in    ihre 


JJ2  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Wurzelform,  ohne  Möglichkeit  äusseren  Zuwachses,  einschliesst 
und  auch  in  ihrem  Inneren  keiner  Veränderung  Raum  giebt. 
Wo  dagegen  innere  Veränderung  möglich  ist  und  sogar  durch 
den  Wortbau  befördert  wird,  ist  die  Unterscheidung  der  An- 
deutung von  der  Bezeichnung,  um  diese  Ausdrücke  festzuhalten, 
auf  diesem  Wege  leicht  und  unfehlbar.  Denn  die  in  diesem  Ver- 
fahren liegende  Absicht,  dem  Worte  seine  Identität  zu  erhalten 
und  dasselbe  doch  als  verschieden  gestaltet  zu  zeigen,  wird  am 
besten  durch  die  innere  Umänderung  erreicht.  Ganz  anders  ver- 
hält es  sich  mit  dem  äusseren  Zuwachs.  Er  ist  allemal  Zusammen- 
setzung im  weiteren  Sinne  und  es  soll  hier  der  Einfachheit  des 
Wortes  kein  Eintrag  geschehen,  es  sollen  nicht  zwei  Begriffe  zu 
einem  dritten  verknüpft.  Einer  soll  in  einer  bestimmten  Beziehung 
gedacht  werden.  Es  ist  daher  hier  ein  scheinbar  künstlicheres  Ver- 
fahren erforderlich,  das  aber  durch  die  Lebendigkeit  der  im  Geiste 
empfundenen  Absicht  von  selbst  in  den  Lauten  hervortritt.  Der 
andeutende  Theil  des  Wortes  muss  mit  der  in  ihn  zugleich  ge- 
legten Lautschärfe  gegen  das  Uebergewicht  des  bezeichnenden  auf 
eine  andre  Linie,  als  dieser  gestellt  erscheinen;  der  ursprüngliche 
bezeichnende  Sinn  des  Zuwachses,  wenn  ihm  ein  solcher  beige- 
wohnt hat,  muss  in  der  Absicht,  ihn  nur  andeutend  zu  benutzen, 
untergehen,  und  der  Zuwachs  selbst  muss,  verbunden  mit  dem 
Worte,  nur  als  ein  nothwendiger  und  abhängiger  Theil  desselben, 
nicht  als  für  sich  der  Selbstständigkeit  fähig  behandelt  werden. 
Geschieht  dies,  so  entsteht,  ausser  der  inneren  Veränderung  und 
der  Zusammensetzung,  eine  dritte  Umgestaltung  der  Wörter 
durch  Anbildung  und  wir  haben  alsdann  den  wahren  Begriff 
eines  Suffixes.  Die  fortgesetzte  Wirksamkeit  des  Geistes  auf  den 
Laut  verwandelt  dann  von  selbst  die  Zusammensetzung  in  An- 
bildung. In  beiden  liegt  ein  entgegengesetztes  Princip.  Die  Zu- 
sammensetzung ist  für  die  Erhaltung  der  mehrfachen  Stammsylben 
in  ihren  bedeutsamen  Lauten  besorgt,  die  Anbildung  strebt,  ihre 
Bedeutung,  wie  dieselbe  an  sich  ist,  zu  vernichten,  und  unter 
dieser  entgegenstreitenden  Behandlung  erreicht  die  Sprache  hier 
ihren  zwiefachen  Zweck,  durch  die  Bewahrung  und  die  Zer- 
störung der  Erkennbarkeit  der  Laute.  Die  Zusammensetzung 
wird  erst  dunkel,  wenn,  wie  wir  im  Vorigen  sahen,  die  Sprache, 
einem   anderen   Gefühle   folgend,   sie   als  Anbildung   behandelt.^) 


V  Nach  „behandelt"  gestrichen :  „Die  Bedeutung  der  Zuwächse  durch  An- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     26.      j  j  •> 

Ich  habe  jedoch  der  Zusammensetzung  hier  mehr  darum  erwähnt, 
weil  die  Anbildung  hätte  irrig  mit  ihr  verwechselt  werden  können, 
als  weil  sie  wirklich  mit  ihr  in  Eine  Classe  gehörte.  Dies  ist 
immer  nur  scheinbar  der  Fall,  und  auf  keine  Weise  darf  man 
sich  die  Anbildung  mechanisch,  als  absichtliche  Verknüpfung  des 
an  sich  Abgesonderten  und  Ausglättung  der  Verbindungsspuren 
durch  Worteinheit  denken.  Das  durch  Anbildung  flectirte  Wort 
ist  ebenso  Eins,  als  die  verschiedenen  Theile  einer  aufknospenden 
Blume  es  sind,  und  was  hier  in  der  Sprache  vorgeht,  ist  rein 
organischer  Natur.  Das  Pronomen  möge  noch  so  deutlich  an  der 
Person  des  Verb  um  haften,  so  wurde  in  acht  flectirenden  Sprachen 
es  nicht  an  dasselbe  geknüpft.  Das  Verbum  wurde  nicht  abge- 
sondert gedacht,  sondern  stand  als  individuelle  Form  vor  der 
Seele  da,  und  ebenso  gieng  der  Laut  als  Eins  und  untheilbar  über 
die  Lippen.  Durch  die  unerforschliche  Selbstthätigkeit  der  Sprache 
brechen  die  Suffixa  aus  der  Wurzel  hervor  und  dies  geschieht  so 
lange  und  so  weit,  als  das  schöpferische  Vermögen  der  Sprache 
ausreicht.  Erst  wenn  dies  nicht  mehr  thätig  ist,  kann  mechanische 
Anfügung  eintreten.  Um  die  Wahrheit  des  wirklichen  Vorgangs 
nicht  zu  verletzen  und  die  Sprache  nicht  zu  einem  blossen  Ver- 
standesverfahren niederzuziehen,  muss  man  die  hier  zuletzt  ge- 
wählte Vorstellungsweise  immer  im  Auge  behalten.  Man  darf 
sich  aber  nicht  verhehlen,  dass  eben  darum,  weil  sie  auf  das  Un- 
erklärliche hingeht,  sie  nichts  erklärt,  dass  die  Wahrheit  nur  in 
der  absoluten  Einheit  des  zusammen  Gedachten  und  im  gleich- 
zeitigen Entstehen  und  in  der  symbolischen  Uebereinkunft  der 
inneren  Vorstellung  mit  dem  äusseren  Laute  liegt,  dass  sie  aber 
übrigens  das  nicht  zu  erhellende  Dunkel  unter  bildlichem  Ausdruck 
verhüllt.  Denn  wenn  auch  die  Laute  der  Wurzel  oft  das  Suffix 
modificiren,  so  thun  sie  dies  nicht  immer  und  nie  lässt  sich  anders, 
als  bildlich  sagen,  dass  das  letztere  aus  dem  Schoosse  der  Wurzel 
hen^orbricht.  Dies  kann  immer  nur  heissen,  dass  der  Geist  sie 
untrennbar  zusammen  denkt  und  der  Laut,  diesem  zusammen 
Denken  folgsam,  sie  auch  vor  dem  Ohre  in  Eins  giesst.  Ich  habe 
daher  die  oben  gewählte  Darstellung  vorgezogen  und  werde  sie 
auch  in  der  Folge  dieser  Blätter  beibehalten.  Mit  der  Verwahrung 
gegen  alle  Einmischung  eines  mechanischen  Verfahrens   kann  sie 


Jügung  hüllt  sich,  je  vollkomviener  sie  gelingt,  desto  mehr  in  schwer  zu  durch- 
dringendes Dunkel." 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  8 


IIA  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

nicht  zu  Misverständnissen  Anlass  geben.  Für  die  Anwendung 
auf  die  wirldichen  Sprachen  aber  ist  die  Zerlegung  in  Anbildung 
und  Worteinheit  passender,  weil  die  Sprache  technische  Mittel 
für  beide  besitzt,  besonders  aber,  weil  sich  die  Anbildung  in  ge- 
wissen Gattungen  von  Sprachen  nicht  rein  und  absolut,  sondern 
nur  dem  Grade  nach  von  der  wahren  Zusammensetzung  abscheidet. 
Der  Ausdruck  der  Anbildung,  der  nur  den  durch  Zuwachs  acht 
flectirenden  Sprachen  gebührt,  sichert  schon,  verglichen  mit  dem 
der  Anfügung,  die  richtige  Auffassung  des  organischen  Vorgangs. 

Da  die  Aechtheit  der  Anbildung  sich  vorzüglich  in  der  Ver- 
schmelzung des  Suffixes  mit  dem  Worte  offenbart,  so  besitzen 
die  flectirenden  Sprachen  zugleich  wirksame  Mittel  zur  Bildung 
der  Worteinheit.  Die  beiden  Bestrebungen,  den  Wörtern  durch 
feste  Verknüpfung  der  Sylben ,  in  ihrem  Innren  eine  äusserlich 
bestimmt  trennende  Form  zu  geben  und  Anbildung  von  Zu- 
sammensetzung zu  sondern,  befördern  gegenseitig  einander.  Dieser 
Verbindung  wegen  habe  ich  hier  nur  von  Suffixen,  Zuwächsen 
am  Ende  des  Wortes,  nicht  von  Affixen  überhaupt  geredet.  Das 
hier  die  Einheit  des  Wortes  Bestimmende  kann,  im  Laute  und 
in  der  Bedeutung,  nur  von  der  Stammsylbe,  von  dem  bezeich- 
nenden Theile  des  Wortes  ausgehen  und  seine  Wirksamkeit  im 
Laute  hauptsächlich  nur  über  das  ihm  Nachfolgende  erstrecken. 
Die  vorn  zuwachsenden  Sylben  verschmelzen  immer  in  geringerem 
Grade  mit  dem  Worte,  so  wie  auch  in  der  Betonung  und  der 
metrischen  Behandlung  die  Gleichgültigkeit  der  Sylben  vorzugs- 
weise in  den  vorschlagenden  liegt  und  der  wahre  Zwang  des 
Metrum  erst  mit  der  dasselbe  eigentlich  bestimmenden  Tactsylbe 
angeht.  Diese  Bemerkung  scheint  mir  für  die  Beurtheilung  der- 
jenigen Sprachen  besonders  wichtig,  die  den  Wörtern  die  ihnen 
zuwachsenden  Sylben  in  der  Regel  am  Anfange  anschliessen.  Sie 
verfahren  mehr  durch  Zusammensetzung,  als  durch  Anbildung 
und  das  Gefühl  wahrhaft  gelungener  Beugung  bleibt  ihnen  fremd. 
Das,  alle  Nuancen  der  Verbindung  des  zart  andeutenden  Sprach- 
sinnes mit  dem  Laute  so  vollkommen  wiedergebende  Sanskrit 
setzt  andre  Wohllautsregeln  für  die  Anschliessung  der  suffigirten 
Endungen  und  der  praefigirten  Praepositionen  fest.  Es  behandelt 
die  letzteren  wie  die  Elemente  zusammengesetzter  Wörter. 

Das  Suffix  deutet  die  Beziehung  an,  in  welcher  das  Wort 
genommen  werden  soll;  es  ist  also  in  diesem  Sinne  keinesweges 
bedeutungslos.    Dasselbe   gilt  von  der  inneren  Umänderung   der 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     26.      uz. 

Wörter,  also  von  der  Flexion  überhaupt.  Zwischen  der  inneren 
Umänderung  aber  und  dem  Suffixe  ist  der  wichtige  Unterschied 
der,  dass  der  ersteren  ursprünglich  gar  keine  andere  Bedeutung 
zum  Grunde  gelegen  haben  kann,  die  zuwachsende  Sylbe  dagegen 
wohl  meistentheils  eine  solche  gehabt  hat.  Die  innere  Umände- 
rung ist  daher  allemal,  wenn  wir  uns  auch  nicht  immer  in  das 
Gefühl  davon  versetzen  können ,  symbolisch.  In  der  Art  der 
Umänderung,  dem  Uebergange  von  einem  helleren  zu  einem 
dunkleren,  einem  schärferen  zu  einem  gedehnteren  Laute  besteht 
eine  Analogie  mit  dem,  was  in  beiden  Fällen  ausgedrückt  werden 
soll.  Bei  dem  Suffixe  waltet  dieselbe  Möglichkeit  ob.  Es  kann 
ebensowohl  ursprünglich  und  ausschliesslich  symbolisch  seyn  und 
diese  Eigenschaft  kann  alsdann  bloss  in  den  Lauten  liegen.  Es 
ist  aber  keinesweges  nothwendig,  dass  dies  immer  so  sey,  und  es 
ist  eine  unrichtige  Verkennung  der  Freiheit  und  Vielfachheit  der 
Wege,  welche  die  Sprache  in  ihren  Bildungen  nimmt,  wenn  man 
nur  solche  zuwachsenden  Svlben  Beugungssylben  nennen  will, 
denen  durchaus  niemals  eine  selbstständige  Bedeutung  beigewohnt 
hat  und  die  ihr  Daseyn  in  den  Sprachen  überhaupt  nur  der  auf 
Flexion  gerichteten  Absicht  verdanken.  Wenn  man  sich  Absicht 
des  Verstandes  unmittelbar  schaffend  in  den  Sprachen  denkt,  so 
ist  dies,  meiner  innersten  Ueberzeugung  nach,  überhaupt  immer 
eine  irrige  Vorstellungsweise.  Insofern  das  erste  Bewegende  in 
der  Sprache  allemal  im  Geiste  gesucht  werden  muss,  ist  aller- 
dings Alles  in  ihr  und  die  Ausstossung  des  articulirten  Lautes 
selbst  Absicht  zu  nennen.  Der  Weg  aber,  auf  dem  sie  verfährt, 
ist  immer  ein  andrer  und  ihre  Bildungen  entspringen  aus  der 
Wechselwirkung  der  äusseren  Eindrücke  und  des  inneren  Gefühls, 
bezogen  auf  den  allgemeinen,  Subjectivität  mit  Objecti\fität  in  der 
Schöpfung  einer  idealen,  aber  weder  ganz  innerlichen  noch  ganz 
äusserlichen  Welt  verbindenden  Sprachzweck.  Das  nun  an  sich 
nicht  bloss  Symbolische  und  bloss  Andeutende,  sondern  wirklich 
Bezeichnende  verliert  diese  letztere  Natur  da,  wo  es  das  Bedürf- 
niss  der  Sprache  verlangt,  durch  die  Behandlungsart  im  Ganzen. 
Man  braucht  z.  B.  nur  das  selbstständige  Pronomen  mit  dem  in 
den  Personen  des  Verbum  angebildeten  zu  vergleichen.  Der 
Sprachsinn  unterscheidet  richtig  Pronomen  und  Person  und  denkt 
sich  unter  der  letzteren  nicht  die  selbstständige  Substanz,  sondern 
eine  der  Beziehungen,  in  welchen  der  Grundbegriff"  des  flectirten 
Verbum    nothwendig    erscheinen    muss.      Er  behandelt   sie    also 


llß  I.    über  die  Verschiedenheit  des  measchlichen  Sprachbaues 

lediglich  als  einen  Theil  von  diesem  und  gestattet  der  Zeit,  sie 
zu  entstellen  und  abzuschleifen,  sicher,  dem  durch  sein  ganzes 
Verfahren  befestigten  Sinne  solcher  Andeutungen  vertrauend,  dass 
die  Entstellung  der  Laute  dennoch  die  Erkennung  der  Andeutung 
nicht  verhindern  wird.  Die  Entstellung  mag  nun  wirklich  statt 
gefunden  haben  oder  das  angefügte  Pronomen  grösstentheils  un- 
verändert geblieben  seyn,  so  ist  der  Fall  und  der  Erfolg  immer 
der  nemliche.  Das  Symbolische  beruht  hier  nicht  auf  einer  un- 
mittelbaren Analogie  der  Laute,  es  geht  aber  aus  der  in  sie  auf 
kunstvollere  Weise  gelegten  Ansicht  der  Sprache  hervor.  Wenn 
es  unbezweifelt  ist,  dass  nicht  bloss  im  Sanskrit,  sondern  auch  in 
andren  Sprachen  die  Anbildungssylben  mehr  oder  weniger  aus 
dem  Gebiete  der  oben  erwähnten,  sich  unmittelbar  auf  den 
Sprechenden  beziehenden  Wurzelstämme  genommen  sind,  so  ruht 
das  Symbolische  darin  selbst.  Denn  die  durch  die  Anbildungs- 
sylben angedeutete  Beziehung  auf  die  Kategorieen  des  Denkens 
und  Redens  kann  keinen  bedeutsameren  Ausdruck  finden,  als  in 
Lauten,  die  unmittelbar  das  Subject  zum  Ausgangs-  oder  End- 
punkt ihrer  Bedeutung  haben.  Hierzu  kann  sich  hernach  auch 
die  Analogie  der  Töne  gesellen,  wie  Bopp  so  vortrefflich  an  der 
Sanskritischen  Nominativ-  und  Accusativ-Endung  gezeigt  hat.  Im 
Pronomen  der  dritten  Person  ist  der  helle  j'-Laut  dem  Lebendigen, 
der  dunkle  des  m  dem  geschlechtslosen  Neutrum  offenbar  sym- 
bolisch beigegeben,  und  derselbe  Buchstabenwechsel  der  Endungen 
unterscheidet  nun  das  in  Handlung  gestellte  Subject,  den  Nominativ, 
von  dem  Accusativ,  dem  Gegenstande  der  Wirkung. 

Die  ursprünglich  selbstständige  Bedeutsamkeit  der  Suffixe  ist 
daher  kein  nothwendiges  Hinderniss  der  Reinheit  ächter  Flexion. 
Mit  solchen  Beugungssylben  gebildete  Wörter  erscheinen  ebenso 
bestimmt,  als  wo  innere  Umänderung  statt  findet,  nur  als  einfache, 
in  verschiedne  Formen  gegossne  Begriffe  und  erfüllen  daher 
genau  den  Zweck  der  Flexion.  Allein  diese  Bedeutsamkeit  fordert 
allerdings  grössere  Stärke  des  inneren  Flexionssinnes  und  ent- 
schiednere  Lautherrschaft  des  Geistes,  die  bei  ihr  die  Ausartung 
der  grammatischen  Bildung  in  Zusammensetzung  zu  überwinden 
hat.  Eine  Sprache,  die  sich,  wie  das  Sanskrit,  hauptsächlich 
solcher  ursprünglich  selbstständig  bedeutsamen  Beugungssylben 
bedient,  zeigt  dadurch  selbst  das  Vertrauen,  das  sie  in  die  Macht 
des  sie  belebenden  Geistes  setzt. 

Das  phonetische  Vermögen   und   die  sich   daran   knüpfenden 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     26.      nn 

Lautgewohnheiten  der  Nationen  wirken  aber  auch  in  diesem  Theile 
der  Sprache  bedeutend  mit.  Die  Geneigtheit,  die  Elemente  der 
Rede  mit  einander  zu  verbinden,  Laute  an  Laute  anzuknüpfen, 
wo  es  ihre  Natur  erlaubt,  einen  in  den  andren  zu  verschmelzen 
und  überhaupt  sie,  ihrer  Beschaftenheit  gemäss,  in  der  Berührung 
zu  verändern,  erleichtert  dem  Flexionssinne  sein  Einheit  be- 
z\\^eckendes  Geschäft,  so  wie  das  strengere  Auseinanderhalten  der 
Töne  einiger  Sprachen  seinem  Gelingen  entgegenwirkt.  Befördert 
nun  das  Lautvermögen  das  innerliche  Erforderniss,  so  wird  der 
ursprüngliche  Articulationssinn  rege  und  es  kommt  auf  diese 
Weise  das  bedeutsame  Spalten  der  Laute  zu  Stande,  vermöge 
dessen  auch  ein  einzelner  zum  Träger  eines  formalen  Verhält- 
nisses werden  kann,  was  hier  gerade,  mehr  als  in  irgend  einem 
andren  Theile  der  Sprache,  entscheidend  ist,  da  hier  eine  Geistes- 
richtung angedeutet,  nicht  ein  Begriff  bezeichnet  werden  soll.  Die 
Schärfe  des  Articulationsvermögens  und  die  Reinheit  des  Flexions- 
sinnes stehen  daher  in  einem  sich  wechselseitig  verstärkenden  Zu- 
sammenhange. 

Zwischen  dem  Mangel  aller  Andeutung  der  Kategorieen  der 
Wörter,  wie  er  sich  im  Chinesischen  zeigt,  und  der  wahren  Flexion 
kann  es  kein  mit  reiner  Organisation  der  Sprachen  verträgliches 
Drittes  geben.  Das  einzige  dazwischen  Denkbare  ist  als  Beugung 
gebrauchte  Zusammensetzung,  also  beabsichtigte,  aber  nicht  zur 
Vollkommenheit  gediehene  Flexion,  mehr  oder  minder  mechanische 
Anfügung,  nicht  rein  organische  Anbildung.  Dies,  nicht  immer 
leicht  zu  erkennende  Zwitterwesen  hat  man  in  neuerer  Zeit 
Agglutination  genannt.  Diese  Art  der  Anknüpfung  von  bestim- 
menden Nebenbegriffen  entspringt  auf  der  einen  Seite  allemal  aus 
Schwäche  des  innerlich  organisirenden  Sprachsinnes  oder  aus 
Vernachlässigung  der  wahren  Richtung  desselben,  deutet  aber 
auf  der  andren  dennoch  das  Bestreben  an,  sowohl  den  Kategorieen 
der  Begriffe  auch  phonetische  Geltung  zu  verschaffen,  als  dieselben 
in  diesem  Verfahren  nicht  durchaus  gleich  mit  der  wirklichen 
Bezeichnung  der  Begriffe  zu  behandeln.  Indem  also  eine  solche 
Sprache  nicht  auf  die  grammatische  Andeutung  Verzicht  leistet, 
bringt  sie  dieselbe  nicht  rein  zu  Stande,  sondern  verfälscht  sie  in 
ihrem  Wesen  selbst.  Sie  kann  daher  scheinbar  und  bis  auf  einen 
gewissen  Grad  sogar  wirklich  eine  Menge  von  grammatischen 
Formen  besitzen  und  doch  nirgends  den  Ausdruck  des  wahren 
Begriffs  einer  solchen  Form  v^^irklich  erreichen.     Sie  kann  übrigens 


jjg  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

einzeln  auch  wirkliche  Flexion  durch  innere  Umänderung  der 
Wörter  enthalten  und  die  Zeit  kann  ihre  ursprünglich  wahren 
Zusammensetzungen  scheinbar  in  Flexionen  verwandeln,  so  dass 
es  schwer  wird,  ja  zum  Theil  unmöglich  bleibt,  jeden  einzelnen 
Fall  richtig  zu  beurtheilen.  Was  aber  wahrhaft  über  das  Ganze 
entscheidet,  ist  die  Zusammenfassung  aller  zusammen  gehörenden 
Fälle.  Aus  der  allgemeinen  Behandlung  dieser  ergiebt  sich  als- 
dann, in  welchem  Grade  der  Stärke  oder  Schwäche  das  flectirende 
Bestreben  des  inneren  Sinnes  über  den  Bau  der  Laute  Gewalt 
ausübte.  Hierin  allein  kann  der  Unterschied  gesetzt  werden. 
Denn  diese  sogenannten  agglutinirenden  Sprachen  unterscheiden 
sich  von  den  flectirenden  nicht  der  Gattung  nach,  wie  die  alle 
Andeutung  durch  Beugung  zurückweisenden,  sondern  nur  durch 
den  Grad,  in  welchem  ihr  dunkles  Streben  nach  derselben  Rich- 
tung hin  mehr  oder  weniger  mislingt. 

Wo  Helle  und  Schärfe  des  Sprachsinns  in  der  Bildungsperiode 
den  richtigen  Weg  eingeschlagen  hat  —  und  er  ergreift  mit 
diesen  Eigenschaften  keinen  falschen  —  ergiesst  sich  die  innere 
Klarheit  und  Bestimmtheit  über  den  ganzen  Sprachbau  und  die 
hauptsächlichsten  Aeusserungen  seiner  Wirksamkeit  stehen  in  un- 
getrenntem Zusammenhange  mit  einander.  So  haben  wir  die  un- 
auflösliche Verbindung  des  Flexionssinnes  mit  dem  Streben  nach 
Worteinheit  und  dem,  Laute  bedeutsam  spaltenden  Articulations- 
vermögen  gesehen.  Die  Wirkung  kann  nicht  dieselbe  da  seyn, 
wo  nur  einzelne  Funken  der  reinen  Bestrebungen  dem  Geiste 
entsprühen,  und  der  Sprachsinn  hat,  worauf  wir  gleich  in  der 
Folge  kommen  werden,  alsdann  gewöhnlich  einen  einzelnen,  vom 
richtigen  ablenkenden,  allein  oft  von  gleich  grossem  Scharfsinne 
und  gleich  feinem  Gefühl  zeugenden  Weg  ergriffen.  Dies  äussert 
alsdann  seine  Wirkung  auch  oft  auf  den  einzelnen  Fall.  So  ist 
in  diesen  Sprachen,  die  man  nicht  als  flectirende  zu  bezeichnen 
berechtigt  ist,  die  innere  Umgestaltung  der  Wörter,  wo  es  eine 
solche  giebt,  meistentheils  von  der  Art,  dass  sie  dem  inneren  an- 
gedeuteten Verfahren  gleichsam  durch  eine  rohe  Nachbildung  des 
Lautes  folgt,  den  Plural  und  das  Praeteritum  z.  B.  durch  materielles 
Aufhalten  der  Stimme  oder  durch  heftig  aus  der  Kehle  hervor- 
gestossenen  Hauch  bezeichnet  und  gerade  da,  wo  rein  gebildete 
Sprachen,  wie  die  Semitischen,  die  grösste  Schärfe  des  Articu- 
lationssinnes  durch  symbolische  Veränderung  des  Vocals,  zwar 
nicht  gerade   in   den   genannten,   aber  in   andren  grammatischen 


und  ihren  Einflufl  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     26.  27.    i  ig 

Umgestaltungen  beweisen,  das  Gebiet  der  Articulation  beinahe 
verlassend,  auf  die  Gränzen  des  Naturlauts  zurückkehrt.  Keine 
Sprache  ist,  meiner  Erfahrung  nach,  durchaus  agglutinirend  und 
bei  den  einzelnen  Fällen  lässt  sich  oft  nicht  entscheiden,  wie  viel 
oder  wenig  Antheil  der  Flexionssinn  an  dem  scheinbaren  Suffix 
hat.  In  allen  Sprachen,  die  in  der  That  Neigung  zur  Laut- 
verschmelzung äussern  oder  doch  dieselbe  nicht  starr  zurück- 
weisen, ist  einzeln  Flexionsbestreben  sichtbar.  Ueber  das  Ganze 
der  Erscheinung  aber  kann  nur  nach  dem  Organismus  des  ge- 
sammten  Baues  einer  solchen  Sprache  ein  sicheres  Unheil  gefällt 
werden. 


Nähere   Betrachtung   der  Worteinheit.  ^)     Einver- 
leibungssystem  der   Sprachen. 

Wie  jede  aus  der  inneren  Auffassung  der  Sprache  entspringende  27. 
Eigenthümlichkeit  derselben  in  ihren  ganzen  Organismus  ein- 
greift, so  ist  dies  besonders  mit  der  Flexion  der  Fall.  Sie  steht 
namentlich  mit  zwei  verschiedenen  und  scheinbar  entgegengesetzten, 
allein  in  der  That  organisch  zusammenwirkenden  Stücken,  mit 
der  Worteinheit  und  der  angemessenen  Trennung  der  Theile  des 
Satzes,  durch  welche  seine  Gliederung  möglich  wird,  in  der  engsten 
Verbindung.  Ihr  Zusammenhang  mit  der  Worteinheit  wird  von 
selbst  begreiflich,  da  ihr  Streben  ganz  eigentlich  auf  Bildung 
einer  Einheit,  sich  nicht  bloss  an  einem  Ganzen  begnügend,  hin- 
ausgeht. Sie  befördert  aber  auch  die  angemessene  Gliederung 
des  Satzes  und  die  Freiheit  seiner  Bildung,  indem  sie  in  ihrem 
eigentlich  grammatischen  Verfahren  die  Wörter  mit  Merlvzeichen 
versieht,  welchen  man  das  Wiedererkennen  ihrer  Beziehung  zum 
Ganzen  des  Satzes  mit  Sicherheit  anvertrauen  kann.  Sie  hebt 
dadurch  die  Aengstlichkeit  auf,  ihn  wie  ein  einzelnes  Wort  zu- 
sammenzuhalten, und  ermuthigt  zu  der  Kühnheit,  ihn  in  seine 
Theile  zu  zerschlagen.  Sie  weckt  aber,  was  noch  weit  wichtiger 
ist,  durch  den  in  ihr  liegenden  Rückblick  auf  die  Formen  des 
Denkens,  insofern  diese  auf  die  Sprache  bezogen  werden,  eine 
richtigere  und  anschaulichere  Einsicht  in  seine  Zusammenfügungen. 
Denn  eigentlich  entspringen  alle  drei  hier  genannten  Eigenthüm- 


V  „Nähere  —  Worteinheii"  verbessert  aus  „Gliederung  des  Satzes". 


J20  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

lichkeiten  der  Sprache  aus  Einer  Quelle,  aus  der  lebendigen  Auf- 
fassung des  Verhältnisses  der  Rede  zur  Sprache.  Flexion,  Wort- 
einheit und  angemessene  Gliederung  des  Satzes  sollten  daher  in 
der  Betrachtung  der  Sprache  nie  getrennt  werden.  Die  Flexion 
erscheint  erst  durch  die  Hinzufügung  dieser  andren  Punkte  in 
ihrer  wahren,  wohlthätig  einwirkenden  Kraft. 

Die  Rede  fordert,  gehörig  zu  der  Möglichkeit  ihres  gränzen- 
losen,  in  keinem  Augenblick  messbaren  Gebrauchs  zugerichtete 
Elemente,  und  diese  Forderung  wächst  an  intensivem  und  exten- 
sivem Umfang,  je  höher  die  Stufe  ist,  auf  welche  sie  sich  stellt. 
Denn  in  ihrer  höchsten  Erhebung  wird  sie  zur  Ideenerzeugung 
und  gesammten  Gedankenentwicklung  selbst.  Ihre  Richtung 
geht  aber  allemal  im  Menschen,  auch  wo  die  wirkliche  Entwick- 
lung noch  so  viele  Hemmungen  -erfährt,  auf  diesen  letzten  Zweck 
hin.  Sie  sucht  daher  immer  die  Zurichtung  der  Sprachelemente, 
welche  den  lebendigsten  Ausdruck  der  Formen  des  Denkens  ent- 
hält, und  darum  sagt  ihr  vorzugsweise  die  Flexion  zu,  deren  Cha- 
rakter es  gerade  ist,  den  Begriff  immer  zugleich  nach  seiner 
äussren  und  nach  der  innren  Beziehung  zu  betrachten,  welche 
das  Fortschreiten  des  Denkens  durch  die  Regelmässigkeit  des  ein- 
geschlagenen Weges  erleichtert.  Mit  diesen  Elementen  aber  will 
die  Rede  die  zahllosen  Combinationen  des  geflügelten  Gedanken, 
ohne  in  ihrer  Unendlichkeit  beschränkt  zu  werden,  erreichen. 
Dem  Ausdrucke  aller  dieser  Verknüpfungen  liegt  die  Satzbildung 
zum  Grunde,  und  es  ist  jener  freie  Aufflug  nur  möglich,  wenn 
die  Theile  des  einfachen  Satzes  nach  aus  seinem  Wesen  ge- 
schöpfter Nothwendigkeit,  nicht  mit  mehr  oder  weniger  Willkühr 
an  einander  gelassen  oder  getrennt  sind. 

Die  Ideenentwicklung  erfordert  ein  zwiefaches  Verfahren,  ein 
Vorstellen  der  einzelnen  Begriffe  und  eine  Verknüpfung  derselben 
zum  Gedanken.  Beides  tritt  auch  in  der  Rede  hervor.  Ein  Be- 
griff wird  in  zusammengehörende,  ohne  Zerstörung  der  Bedeutung 
nicht  trennbare  Laute  eingeschlossen  und  empfängt  Kennzeichen 
seiner  Beziehung  zur  Construction  des  Satzes.  Das  so  gebildete 
Wort  spricht  die  Zunge,  indem  sie  es  von  andren,  in  dem  Ge- 
danken mit  ihm  verbundenen  trennt,  als  ein  Ganzes  zusammen 
aus,  hebt  aber  dadurch  nicht  die  gleichzeitige  Verschlingung  aller 
Worte  der  Periode  auf.  Hierin  zeigt  sich  die  Worteinheit  im 
engsten  Verstände,  die  Behandlung  jedes  Wortes  als  eines  Indi- 
viduums, welches,    ohne   seine   Selbstständigkeit   aufzugeben,   mit 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     27.      121 

andren  in  verschiedene  Grade  der  Berührung  treten  kann.  Wir 
haben  aber  oben  gesehen,  dass  sich  auch  innerhalb  der  Sphäre 
desselben  Begriffs,  mithin  desselben  Wortes  bisweilen  ein  ver- 
bundenes Verschiedenes  findet,  und  hieraus  entspringt  eine  andre 
Gattung  der  W^orteinheit ,  die  man  zum  Unterschiede  von  der 
obigen  äusseren  eine  innere  nennen  kann.  Je  nachdem  nun  das 
Verschiedene  gleichartig  ist  und  sich  bloss  zum  zusammengesetzten 
Ganzen  verbindet  oder  ungleichanig  (Bezeichnung  und  Andeutung) 
den  Begriff  als  mit  bestimmtem  Gepräge  versehen  darstellen  muss, 
hat  die  innere  Vvorteinheit  eine  weitere  und  engere  Bedeutung.^) 
Die  Worteinheit  in  der  Sprache  hat  eine  doppelte  Quelle,  in 
dem  innren,  sich  auf  das  Bedürfnis  der  Gedankenentwicklung 
beziehenden  Sprachsinn  und  in  dem  Laute.  Da  alles  Denken  in 
Trennen  und  Verknüpfen  besteht,  so  muss  das  Bedürfniss  des 
Sprachsinnes,  alle  verschiedenen  Gattungen  der  Einheit  der  Be- 
griffe symbolisch  in  der  Rede  darzustellen,  von  selbst  wach 
werden  und  nach  Massgabe  seiner  Regsamkeit  und  geordneten 
Gesetzmässigkeit  in  der  Sprache  ans  Licht  kommen.  Auf  der 
andren  Seite  sucht  der  Laut  seine  verschiedenen,  in  Berührung 
tretenden  Modificationen  in  ein,  der  Aussprache  und  dem  Ohre 
zusagendes  Verhältniss  zu  bringen.  Oft  gleicht  er  dadurch  nur 
Schwierigkeiten  aus  oder  folgt  organisch  angenommenen  Ge- 
wohnheiten. Er  geht  aber  auch  Vv'eiter,  bildet  Rhythmus-Ab- 
schnitte und  behandelt  diese  als  Ganze  für  das  Ohr.  Beide  nun 
aber,  der  innere  Sprachsinn  und  der  Laut,  wirken,  indem  sich 
der  letztere  an  die  Forderungen  des  ersteren  anschliesst,  zu- 
sammen und  die  Behandlung  der  Lauteinheit  wird  dadurch  zum 
Symbole  der  gesuchten  bestimmten  Begriftseinheit.  Diese,  da- 
durch in  die  Laute  gelegt,  ergiesst  sich  als  geistiges  Princip  über 
die  Rede  und  die  melodisch  und  rhythmisch  künstlerisch  be- 
handelte Lautformung  weckt,  zurückwirkend,  in  der  Seele  eine 
engere  Verbindung  der  ordnenden  Verstandeskräfte  mit  bildlich 
schaffender  Phantasie,  woraus  also  die  Verschlingung  der  sich 
nach  aussen  und  nach  innen,  nach  dem  Geist  und  nach  der  Natur 
hin  bewegenden  Kräfte  ein  erhöhtes  Leben  und  eine  harmonische 
Regsamkeit  schöpft. 


^J  Nach  „Bedeutimg"  gestrichen:  „Im  praegnantesten  Sinne  wird  sie  ge- 
nommen, wo  der  bezeichnende  Begriff  mit  seiner  inneren  Auffassung  in  Ein 
Gepräge  verschmilzt." 


J22  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


Bezeichnungsmittel   der  Worteinheit.     Pause. 

Die  Bezeichnungsmittel  der  Worteinheit  in  der  Rede  sind 
Pause,  Buchstabenveränderung  und  Accent. 

Die  Pause  kann  nur  zur  Andeutung  der  äusseren  Einheit 
dienen ;  innerhalb  des  Wortes  würde  sie,  gerade  umgekehrt,  seine 
Einheit  zerstören.  In  der  Rede  aber  ist  ein  flüchtiges,  nur  dem 
geübten  Ohre  merkbares  Innehalten  der  Stimme  am  Ende  der 
Wörter,  um  die  Elemente  des  Gedanken  kenntlich  zu  machen, 
natürlich.  Indess  steht  mit  dem  Streben  nach  der  Bezeichnung 
der  Einheit  des  Begriffs  das  gleich  nothwendige  nach  der  Ver- 
schlingung des  Satzes,  die  lautbar  werdende  Einheit  des  Begriffs 
mit  der  Einheit  des  Gedanken'  im  Gegensatz,  und  Sprachen,  in 
welchen  sich  ein  richtig  und  fein  fühlender  Sinn  offenbart,  machen 
die  doppelte  Absicht  kund  und  ebnen  jenen  Gegensatz,  oft  noch 
indem  sie  ihn  verstärken,  wieder  durch  andre  Mittel.  Ich  werde 
die  erläuternden  Beispiele  hier  immer  aus  dem  Sanskrit  her- 
nehmen,*) weil  diese  Sprache  glücklicher  und  erschöpfender,  als 
irgend  eine  andere  die  Worteinheit  behandelt  und  auch  ein 
Alphabet  besitzt,  das  mehr,  als  die  unsrigen  die  genaue  Aus- 
sprache vor  dem  Ohre  auch  dem  Auge  graphisch  darzustellen 
bemüht  ist.  Das  Sanskrit  nun  gestattet  nicht  jedem  Buchstaben, 
ein  Wort  zu  beschliessen,  und  erkennt  also  dadurch  schon  die 
selbstständige  Individualität  des  Wortes  an,  sanctionirt  auch  seine 
Absonderung  in  der  Rede  dadurch,  dass  es  die  Veränderungen 
in  Berührung  tretender  Buchstaben  bei  den  schliessenden  und  an- 


*)  Ich  entlehne  die  einzelnen  in  dieser  Schrift  über  den  Sanskritischen  Sprachbau 
erwähnten  Data,  auch  wo  ich  die  Stellen  nicht  besonders  anführe,  aus  Bopp's  Grammatik 
und  gestehe  gern,  dass  ich  die  klarere  Einsicht  in  denselben  allein  diesem  classischen 
Werke  verdanke,  da  keine  der  früheren  Sprachlehren,  wie  verdienstvoll  auch  einige  in 
andrer  Hinsicht  sind,  sie  in  gleichem  Grade  gewährt.  Sowohl  die  Sanskrit-Grammatik 
in  ihren  verschiednen  Ausgaben,  als  die  später  erschienene  vergleichende  und  die 
einzelnen  akademischen  Abhandlungen,  welche  eine  ebenso  fruchtbare,  als  talentvolle 
Vergleichung  des  Sanskrits  mit  den  verwandten  Sprachen  enthalten,  werden  immer 
wahre  Muster  tiefer  und  glücklicher  Durchschauung,  ja  oft  kühner  Ahndung  der  Analogie 
der  grammatischen  Formen  bleiben,  und  das  Sprachstudium  verdankt  ihnen  schon  jetzt 
die  bedeutendsten  Fortschritte  in  einer  zum  Theil  neu  eröffneten  Bahn.  Schon  im 
Jahre  1816.  legte  Bopp  in  seinem  Conjugationssystem  der  Indier  den  Grund  zu  den 
Untersuchungen ,  die  er  später  und  immer  in  der  nemlichen  Richtung  so  glücklich 
verfolgte. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     27.      J2Q 

fangenden  anders,  als  in  der  Mitte  der  Wörter  regelt.  Zugleich 
aber  folgt  in  ihr  mehr,  als  in  einer  andren  Sprache  ihres  Stammes 
der  Verschlingung  des  Gedanken  auch  die  Verschmelzung  der 
Laute,  so  dass,  auf  den  ersten  Anblick,  die  Worteinheit  durch  die 
Gedankeneinheit  zerstört  zu  werden  scheint.  Wenn  sich  der  End- 
und  der  Anfangsvocal  in  einen  dritten  verwandeln,  so  entsteht 
dadurch  unläugbar  eine  Lauteinheit  beider  Wörter.  Wo  Endcon- 
sonanten  sich  vor  Anfangsvocalen  verändern,  ist  dies  zwar  wohl 
darum  nicht  der  Fall,  weil  der  Anfangsvocal,  immer  von  einem 
gelinden  Hauche  begleitet,  sich  nicht  in  dem  Verstände  an  den 
Endconsonanten  anschliesst,  in  welchem  das  Sanskrit  den  Con- 
sonanten  mit  dem  in  derselben  Sylbe  auf  ihn  folgenden  Vocal 
als  unlösbar  Eins  betrachtet.  Indess  stört  diese  Consonantenver- 
änderung  immer  die  Andeutung  der  Trennung  der  einzelnen 
Wörter.  Diese  leise  Störung  kann  aber  dieselbe  im  Geiste  des 
Hörers  nie  wirklich  aufheben,  nicht  einmal  die  Anerkennung  der- 
selben bedeutend  schwächen.  Denn  einestheils  finden  gerade  die 
beiden  Hauptgesetze  der  Veränderung  zusammenstossender  Wörter, 
die  Verschmelzung  der  Vocale  und  die  Verwandlung  dumpfer 
Consonanten  in  tönende  vor  Vocalen,  innerhalb  desselben  Wortes 
nicht  statt,  andrentheils  aber  ist  im  Sanskrit  die  innere  Wortein- 
heit so  klar  und  bestimmt  geordnet,  dass  man  in  aller  Lautver- 
schlingung  der  Rede  nie  verkennen  kann,  dass  es  selbstständige 
Lauteinheiten  sind,  die  nur  in  unmittelbare  Berührung  mit  ein- 
ander treten.  Wenn  übrigens  die  Lautverschlingung  der  Rede 
für  die  feine  Empfindlichkeit  des  Ohres  und  für  das  lebendige 
Dringen  auf  die  symbolische  Andeutung  der  Einheit  des  Gedanken 
spricht,  so  ist  es  doch  merkwürdig,  dass  auch  andre  Indische 
Sprachen,  namentlich  die  Telingische,  welchen  man  keine,  aus 
ihnen  selbst  entsprungene,  grosse  Cultur  zuschreiben  kann,  diese, 
mit  den  innersten  Lautgewohnheiten  eines  \^olks  zusammen- 
hängende und  daher  wohl  nicht  leicht  bloss  aus  einer  Sprache  in 
die  andre  übergehende  Eigenthümlichkeit  besitzen.  An  sich  ist 
das  Verschlingen  aller  Laute  der  Rede  in  dem  ungebildeten  Zu- 
stande der  Sprache  natürlicher,  da  das  Wort  erst  aus  der  Rede 
abgeschieden  werden  muss ;  im  Sanskrit  aber  ist  diese  Eigenthüm- 
lichkeit zu  einer  inneren  und  äusseren  Schönheit  der  Rede  ge- 
worden, die  man  darum  nicht  geringer  schätzen  darf,  weil  sie, 
gleichsam  als  ein  dem  Gedanken  nicht  nothwendiger  Luxus,  ent- 
behrt werden  könnte.    Es  giebt  offenbar  eine,  von  dem  einzelnen 


J24  ^*    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Ausdruck  verschiedene  Rückwirkung  der  Sprache  auf  den  Ge- 
danken erzeugenden  Geist  selbst  und  für  diese  geht  keiner  ihrer, 
auch  einzeln  entbehrlich  scheinenden  Vorzüge  verloren. 


Bezeichnungsmittel    der   Worteinheit.     Buchstaben- 
veränderung. 

Die  innere  Worteinheit  kann  v^ahrhaft  nur  in  Sprachen  zum 
Vorschein  kommen,  welche  durch  Umkleidung  des  Begriffs  mit 
seinen  Nebenbestimmungen  den  Laut  zur  Mehrsylbigkeit  er- 
weitern und  innerhalb  dieser  mannigfaltige  Buchstabenverände- 
rungen zulassen.  Der  auf  die  Schönheit  des  Lauts  gerichtete 
Sprachsinn  behandelt  alsdann  diese  innere  Sphäre  des  Wortes 
nach  allgemeinen  und  besondren  Gesetzen  des  Wohllauts  und  des 
Zusammenklanges.  Allein  auch  der  Articulationssinn  wirkt  und 
zwar  hauptsächlich  auf  diese  Bildungen  mit,  indem  er  bald  Laute 
zu  verschiedener  Bedeutsamkeit  umändert,  bald  aber  auch  solche, 
die  auch  selbstständige  Geltung  besitzen,  dadurch,  dass  sie  nun 
bloss  als  Zeichen  von  Nebenbestimmungen  gebraucht  werden,  in 
sein  Gebiet  herüberzieht.  Denn  ihre  ursprünglich  sachliche  Be- 
deutung wird  jetzt  zu  einer  symbolischen,  der  Laut  selbst  wird 
durch  die  Unterordnung  unter  einen  Hauptbegriff  oft  bis  zum 
einfachen  Elemente  abgeschliffen  und  erhält  daher,  auch  bei  ver- 
schiedenem Ursprünge,  eine  ähnliche  Gestalt  mit  den  durch  den 
Articulationssinn  wirklich  gebildeten,  rein  symbolischen.  Je  reger 
und  thätiger  der  Articulationssinn  in  der  beständigen  Verschmel- 
zung des  Begriffs  mit  dem  Laute  ist,  desto  schneller  geht  diese 
Operation  von  statten. 

Vermittelst  dieser,  hier  zusammenwirkenden  Ursachen  ent- 
springt nun  ein,  zugleich  den  Verstand  und  das  ästhetische  Ge- 
fühl befriedigender  Wortbau,  in  welchem  eine  genaue  Zergliede- 
rung, von  dem  Stammworte  ausgehend,  von  jedem  hinzugekom- 
menen, ausgestossenen  oder  veränderten  Buchstaben  aus  Gründen 
der  Bedeutsamkeit  oder  des  Lauts  Rechenschaft  zu  geben  bemüht 
seyn  muss.  Sie  kann  aber  dies  Ziel  auch  wirklich  wenigstens  in- 
sofern erreichen,  als  sie  jeder  solcher  Veränderung  erklärende 
Analogieen  an  die  Seite  zu  stellen  vermag.  Der  Umfang  und  die 
Mannigfaltigkeit  dieses  Wortbaues  ist  in  den  Sprachen  am  grössten 
und   am  befriedigendsten  für  den  Verstand  und  das  Ohr,   welche 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     27.      12!; 

den  ursprünglichen  Wortformen  kein  einförmig  bestimmtes  Ge- 
präge aufdrücken  und  sich  zur  Andeutung  der  Nebenbestim- 
mungen, vorzugsweise  vor  der  inneren  rein  symbolischen  Buch- 
stabenveränderung,  der  Anbildung  bedienen.  Das,  wenn  man  es 
mit  mechanischer  Anfügung  verwechselt,  ursprünglich  roher  und 
ungebildeter  scheinende  Mittel  übt,  durch  die  Stärke  des  Flexions- 
sinns auf  eine  höhere  Stufe  gestellt,  unläugbar  hierin  einen  Vor- 
zug vor  dem  in  sich  feineren  und  kunsrv'olleren  aus.  Es  liegt 
gewiss  grossentheils  in  dem  zweisylbigen  Wurzelbaue  und  in  der 
Scheu  vor  Zusammensetzung,  dass  der  ^^^ortbau  in  den  Semitischen 
Sprachen,  ungeachtet  des  sich  in  ihm  so  bewundrungswürdig 
mannigfaltig  und  sinnreich  offenbarenden  Flexions-  und  Articula- 
tionssinnes,  doch  bei  weitem  nicht  der  Mannigfaltigkeit,  dem  Um- 
fange und  der  Angemessenheit  zu  dem  gesammten  Zweck  der 
Sprache  des  Sanskritischen  gleichkommt. 

Das  Sanskrit  bezeichnet  durch  den  Laut  die  verschiedenen 
Grade  der  Einheit,  zu  deren  Unterscheidung  der  innere  Sprach- 
sinn ein  ßedürfniss  fühlt.  Es  bedient  sich  dazu  hauptsächlich  einer 
verschiedenartigen  Behandlung  der  als  verschiedene  Begriffsele- 
mente in  demselben  Wort  zusammentretenden  S^dben  und  ein- 
zelnen Laute  in  den  Buchstaben,  in  welchen  sich  dieselben  be- 
rühren. Ich  habe  schon  oben  angeführt,  dass  diese  Behandlung 
eine  verschiedene  bei  getrennten  Worten  und  in  der  Wortmitte 
ist.  Denselben  Weg  verfolgt  die  Sprache  nun  weiter,  und  wenn 
man  die  Regeln  für  diese  beiden  Fälle  als  zwei  grosse  einander 
entgegengesetzte  Classen  bildend  ansieht,  so  deutet  die  Sprache, 
von  der  mehr  lockren  zur  festeren  Verbindung  hin,  die  Wort- 
einheit in  folgenden  Abstufungen  an: 

bei  zusammengesetzten  Wörtern, 

bei  mit  Praefixen  verbundenen,  meistentheils  Verben, 

bei   solchen,   die   durch   Suffixa   (Taddhita-Suffixa)   aus   in 

der  Sprache  vorhandenen  Grundwörtern   gebildet  sind, 
bei  solchen  (Kridanta- Wörtern),  welche  durch  Suffixa  aus 

Wurzeln,   also   aus  Wörtern,   die   eigentlich   ausserhalb 

der  Sprache  liegen,  abgeleitet  werden, 
bei   den    grammatischen   Declinations-    und    Conjugations- 

formen. 
Die   beiden   zuerst   genannten   Gattungen   der  Wörter  folgen 
im    Ganzen    den   Anfügungsregeln    getrennter   Wörter,    die    drei 
letzten  denen  der  Wortmitte.    Doch  giebt  es  hierin,  wie  sich  von 


J26  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

selbst  versteht,  einzelne  Ausnahmen,  und  der  ganzen  hier  auf- 
gestellten Abstufung  liegt  natürlich  keine  für  jede  Classe  absolute 
Verschiedenheit  der  Regeln,  sondern  nur  ein,  aber  sehr  ent- 
schiedenes, grösseres  oder  geringeres  Annähern  an  die  beiden 
Hauptclassen  zum  Grunde.  In  den  Ausnahmen  selbst  aber  ver- 
räth  sich  oft  wieder  auf  sinnvolle  Weise  die  Absicht  festerer  Ver- 
einigung. So  übt  bei  getrennten  Wörtern  eigentlich,  wenn  man 
Eine,  nur  scheinbare  Ausnahme  hinwegnimmt,  der  Endconsonant 
eines  vorhergehenden  Worts  niemals  eine  Veränderung  des  An- 
fangsbuchstaben des  nachfolgenden ;  dagegen  findet  dies  bei  einigen 
zusammengesetzten  Wörtern  und  bei  Praefixen  auf  eine  Weise 
statt,  die  bisweilen  noch  auf  den  zweiten  Anfangsconsonanten 
Einfluss  hat,  wie  wenn  aus  ag7ii,  Feuer,  und  stoma,  Opfer,  ver- 
bunden agntshtöjna,  Brandopfer,  wird.  Durch  diese  Entfernung 
von  den  Anfügungsregeln  getrennter  Wörter  deutet  die  Sprache 
offenbar  ihr  Gefühl  der  Forderung  der  Worteinheit  an.  Dennoch 
ist  es  nicht  zu  läugnen,  dass  die  zusammengesetzten  Wörter  im 
Sanskrit  durch  die  übrige  und  allgemeinere  Behandlung  der  sich 
in  ihnen  berührenden  End-  und  Anfangsbuchstaben  und  durch 
den  Mangel  von  Verbindungslauten,  deren  sich  die  Griechische 
Sprache  immer  in  diesem  Falle  bedient,  den  getrennten  Wörtern 
zu  sehr  gleichkommen.  Die,  uns  freilich  unbekannte  Betonung 
kann  dies  kaum  aufgehoben  haben.  Wo  das  erste  GHed  der  Zu- 
sammensetzung seine  grammatische  Beugung  beibehält,  liegt  die 
Verbindung  wirklich  allein  im  Sprachgebrauch,  der  entweder  diese 
Wörter  immer  verknüpft  oder  sich  des  letzten  Gliedes  niemals 
einzeln  bedient.  Allein  auch  der  Mangel  der  Beugungen  be- 
zeichnet die  Einheit  dieser  Wörter  mehr  nur  vor  dem  Verstände, 
ohne  dass  sie  durch  Verschmelzung  der  Laute  vor  dem  Ohre 
Gültigkeit  erhält.  Wo  Grundform  und  Casusendung  im  Laute 
zusammenfallen,  lässt  es  die  Sprache  ohne  ausdrückliche  Bezeich- 
nung, ob  ein  Wort  für  sich  steht  oder  Element  eines  zusammen- 
gesetzten ist.  Ein  langes  Sanskritisches  Compositum  ist  daher, 
der  ausdrücklichen  grammatischen  Andeutung  nach,  weniger  ein 
einzelnes  Wort,  als  eine  Reihe  beugungslos  an  einander  gestellter 
Wörter,  und  es  ist  ein  richtiges  Gefühl  der  Griechischen  Sprache, 
ihr  Compositum  nie  durch  zu  grosse  Länge  dahin  ausarten  zu 
lassen.  Allein  auch  das  Sanskrit  beweist  wieder  in  andren  Eigen- 
thümlichkeiten ,  wie  sinnvoll  es  bisweilen  die  Einheit  dieser 
Wörter  anzudeuten  versteht,  so  z.  B.,  wenn  es  zwei  oder  mehrere 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     27.      127 

Substantiva,   welches   Geschlechts    sie    seyn    mögen,   in   Ein    ge- 
schlechtsloses zusammenfasst. 

Unter  den  Classen  von  Wörtern,  welche  den  Anfügungs- 
gesetzen der  Wortmitte  folgen,  stehen  die  Kridanta- Wörter  und 
die  grammatisch  flectirten  einander  am  nächsten,  und  wenn  es 
zwischen  denselben  Spuren  noch  innigerer  Verbindung  giebt,  so 
liegen  sie  eher  in  dem  Unterschiede  der  Casus-  und  Verbal- 
endungen. Die  Ivrit-Suffixa  verhalten  sich  durchaus  wie  die 
letzteren.  Denn  sie  bearbeiten  unmittelbar  die  Wurzel,  die  sie 
erst  eigentlich  in  die  Sprache  einführen,  indess  die  Gasusendungen, 
hierin  den  Taddhita-Suffixen  gleich,  sich  an  schon  durch  die 
Sprache  selbst  gegebene  Grundwörter  anschliessen.  Am  festesten 
ist  die  Innigkeit  der  Lautverschmelzung  mit  Recht  in  den  Beu- 
gungen des  A^erbum,  da  sich  der  Verbalbegriff  auch  vor  dem  Ver- 
stände am  wenigsten  von  seinen  Nebenbestimmungen  trennen  lässt. 

Ich  habe  hier  nur  zu  zeigen  bezweckt,  auf  welche  Weise  die 
Wohllautsgesetze  bei  sich  berührenden  Buchstaben,  nach  den 
Graden  der  inneren  Worteinheit,  von  einander  abweichen.  Man 
muss  sich  aber  wohl  hüten,  etwas  eigentlich  Absichtliches  hierin 
zu  finden,  so  wie  überhaupt  das  Wort  Absicht,  von  Sprachen 
gebraucht,  mit  Vorsicht  verstanden  werden  muss.  Insofern  man 
sich  darunter  gleichsam  Verabredung  oder  auch  nur  vom  Willen 
ausgehendes  Streben  nach  einem  deutlich  vorgestellten  Ziele  denkt, 
ist,  woran  man  nicht  zu  oft  erinnern  kann,  Absicht  den  Sprachen 
fremd.  Sie  äussert  sich  immer  nur  in  einem  ursprünglich  in- 
stinctartigen  Gefühl.  Ein  solches  Gefühl  der  Begriffseinheit  nun 
ist  hier,  meiner  Ueberzeugung  nach,  allerdings  in  den  Laut  über- 
gegangen, und  eben  weil  es  ein  Gefühl  ist,  nicht  überall  in 
gleichem  Masse  und  gleicher  Consequenz.  Mehrere  der  einzelnen 
Abweichungen  der  Anfügungsgesetze  von  einander  entspringen 
zwar  phonetisch  aus  der  Natur  der  Buchstaben  selbst.  Da  nun 
alle  grammatisch  geformten  Wörter  immer  in  derselben  Verbin- 
dung der  Anfangs-  und  Endbuchstaben  dieser  Elemente  vor- 
kommen, bei  getrennten  und  selbst  bei  zusammengesetzten  Wörtern 
aber  dieselbe  Berührung  nur  wechselnd  und  einzeln  wiederkehrt, 
so  bildet  sich  bei  den  ersteren  natürlich  leicht  eine  eigne,  alle 
Elemente  inniger  verschmelzende  Aussprache  und  man  kann  da- 
her das  Gefühl  der  Worteinheit  in  diesen  Fällen  als  hieraus,  mit- 
hin auf  dem  umgekehrten  Wege,  als  ich  es  oben  gethan,  ent- 
standen  ansehen.     Indess   bleibt  doch   der  Einfluss   jenes  inneren 


J28  ^-    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Einheitsgefühls  der  primitive,  da  es  aus  ihm  herausfliesst,  dass 
überhaupt  die  grammatischen  Anfügungen  dem  Stammwort  ein- 
verleibt werden  und  nicht,  wie  in  einigen  Sprachen,  abgesondert 
stehen  bleiben.  Für  die  phonetische  Wirkung  ist  es  von  wich- 
tigem Einfluss,  dass  sowohl  die  Casusendungen  als  die  Suffixa 
nur  mit  gewissen  Consonanten  anfangen  und  daher  nur  eine  be 
stimmte  Anzahl  von  Verbindungen  eingehen  können,  die  bei  den 
Gasusendungen  am  beschränktesten,  bei  den  Krit-Suffixen  und 
Verbalendungen  grösser  ist,  bei  den  Taddhita-Suffixen  aber  sich 
noch  mehr  erweitert. 

Ausser  der  Verschiedenheit  der  Anfügungsgesetze  der  sich  in 
der  Wortmitte  berührenden  Consonanten  giebt  es  in  den  Sprachen 
noch  eine  andere,  seine  innere  Einheit  noch  bestimmter  bezeich- 
nende Lautbehandlung  des  Wortes,  nemlich  diejenige,  welche 
seiner  Gesammtbildung  Einfluss  auf  die  Veränderung  der  einzelnen 
Buchstaben,  namentlich  der  Vocale  verstattet.  Dies  geschieht, 
wenn  die  Anschliessung  mehr  oder  weniger  gewichtiger  Sylben 
auf  die,  schon  im  Wort  vorhandenen  Vocale  Einfluss  ausübt,  wenn 
ein  beginnender  Zuwachs  des  Wortes  Verkürzungen  oder  Aus- 
stossungen  am  Ende  desselben  hervorbringt,  wenn  anwachsende 
Sylben  ihren  Vocal  denen  des  Wortes  oder  diese  sich  ihnen  assi- 
miliren,  oder  wenn  Einer  Sylbe  durch  Lautverstärkung  oder  durch 
Lautveränderung  ein  die  übrigen  des  Wortes  vor  dem  Ohre  be- 
herrschendes Uebergewicht  gegeben  wird.  Jeder  dieser  Fälle 
kann,  wo  er  nicht  rein  phonetisch  ist,  als  unmittelbar  symbolisch 
für  die  innere  Worteinheit  betrachtet  werden.  Im  Sanskrit  er- 
scheint diese  Lautbehandlung  in  mehrfacher  Gestalt  und  immer 
mit  merkwürdiger  Rücksicht  auf  die  Klarheit  der  logischen  und 
die  Schönheit  der  ästhetischen  Form.  Das  Sanskrit  assimilirt 
daher  nicht  die  Stammsylbe,  deren  Festigkeit  erhalten  werden 
muss,  den  Endungen;  es  erlaubt  sich  aber  wohl  Erweiterungen 
des  Stammvocals ,  aus  deren  regelmässiger  Wiederkehr  in  der 
Sprache  das  Ohr  den  ursprünglichen  leicht  wiedererkennt.  Es 
ist  dies  eine  von  feinem  Sprachsinn  zeugende  Bemerkung  Bopp's, 
die  er  sehr  richtig  so  ausdrückt,  dass  die  hier  in  Rede  stehende 
Veränderung  des  Stammvocals  im  Sanskrit  nicht  qualitativ,  sondern 
quantitativ  ist.*)     Die   qualitative  Assimilation   entsteht  aus  Nach- 


*)  Jahrbücher  für  wissenschaftliche  Kritik.    1827.   S.  281.     Bopp  macht  diese  Be- 
merkung nur  bei  Gelegenheit  der  unmittelbar  anfügenden  Abwandlungen.      Das  Gesetz 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     27.       12Q 

lässigkeit  der  Aussprache  oder  aus  Gefallen  an  gleichförmig 
klingenden  Sylben;  in  der  quantitativen  Umstellung  des  Zeit- 
masses  spricht  sich  ein  höheres  und  feineres  Wohllautsgefühl  aus. 
In  jener  wird  der  bedeutsame  Stammvocal  geradezu  dem  Laute 
geopfert,  in  dieser  bleibt  er  in  der  Erweiterung  dem  Ohre  und 
dem  Verstände  gleich  gegenwärtig. 

Einer  Sylbe  eines  Worts  in  der  Aussprache  ein  das  ganze 
Wort  beherrschendes  Uebergewicht  zu  geben,  besitzt  das  Sanskrit 
im  Guna  und  Wriddhi  zwei  so  kunstvoll  ausgebildete  und  mit  der 
übrigen  Lautverwandtschaft  so  eng  verknüpfte  Mittel,  dass  sie  in 
dieser  Ausbildung  und  in  diesem  Zusammenhange  ihm  ausschliess- 
lich eigenthümlich  geblieben  sind.  Keine  der  Schwestersprachen 
hat  diese  Lautveränderungen,  ihrem  Systeme  und  ihrem  Geiste 
nach,  in  sich  aufgenommen;  nur  einzelne  Bruchstücke  sind  als 
fertige  Resultate  in  einige  übergegangen.  Guna  und  Wriddhi 
bilden  bei  a  eine  Verlängerung,  aus  /  und  u  die  Diphthongen  e 
und  (9,  ändern  das  Vocal-r  in  aj-  und  är  um,*)  und  verstärken  e 
und  6  durch  neue  Diphthongisirung  zu  äi  und  äu.  Wenn  auf 
das  durch  Guna  und  Wriddhi  entstandene  e  und  äi,  6  und  äu 
ein  Vocal  folgt,  so  lösen  sich  diese  Diphthongen  in  ay  und  äy, 
azü  und  äw  auf.  Hierdurch  entsteht  eine  doppelte  Reihe  fünf- 
facher Lautveränderungen,  w^elche  durch  bestimmte  Gesetze  der 
Sprache  und  durch  ihre  beständige  Rückkehr  im  Gebrauche  der- 
selben dennoch  immer  zu  dem  gleichen  Urlaute  zurückführen. 
Die  Sprache  erhält  dadurch  eine  Mannigfaltigkeit  wohltönender 
Lautverknüpfungen,  ohne  dem  Verständniss  im  mindesten  Eintrag 
zu  thun.     Im  Guna  und  Wriddhi  tritt  jedesmal   ein  Laut   an   die 


scheint  mir  aber  allgemein  durchgehend  zu  seyn.  Selbst  die  scheinbarste  Einwendung 
dagegen ,  die  Verwandlung  des  ?*-Vocals  in  ur  in  den  gunalosen  Beugungen  des 
Verbum  kri  [kurutas),  lässt  sich  anders  erklären. 

*)  Herr  Dr.  Lepsius  erklärt  auf  eine  die  Analogie  dieser  Lautumstellungen  sinn- 
reich erweiternde  Weise  ar  und  är  für  Diphthongen  des  r-Vocals.')  Man  lese  hierüber 
seine,  der  Sprachforschung  eine  neue  Bahn  vorzeichnende,  an  scharfsinnigen  Erörte- 
rungen reichhaltige  Schrift :  Paläographie  als  Mittel  für  die  Sprachforschung.  S.  46 — 49, 
§.  36 — 39.  selbst  nach. 

V  Nach  „T-Vocals"  gestricheil :  „Unser  Ohr  kann  sich  freilich  einen  solchen 
Diphthongen  kautn  vorstellen  und  der  Unterschied  der  Schreibung  von  karmana 
und  karana  Hesse  sich  wohl  dadurch  erklären,  dass  in  dem  eisten  Worte  das  r 
mit  dem  vorhergehenden  Vocal  zusammenschmilzt,  bei  dem  letzteren  aber  in  der 
Aussprache  den  nachfolgenden  anlautete." 

VV.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  9 


joQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Stelle  eines  andren.  Doch  darf  man  darum  Guna  und  Wriddhi 
nicht  als  einen  blossen,  sonst  in  vielen  Sprachen  gewöhnlichen 
Vocalwechsel  ansehen.  Der  wichtige  Unterschied  zwischen  beiden 
liegt  darin,  dass  bei  dem  Vocalwechsel  der  Grund  des  an  die  Stelle 
eines  andren  gesetzten  Vocals  immer,  wenigstens  zum  Theil,  dem 
ursprünglichen  der  veränderten  Sylbe  fremd  ist,  bald  in  gramma- 
tisch unterscheidendem  Streben,  bald  im  Assimilationsgesetz  oder 
in  irgend  einer  andren  Ursach  gesucht  werden  muss,  und  dass 
daher  der  neue  Laut  nach  Verschiedenheit  der  Umstände  wechseln 
kann,  da  er  bei  Guna  und  Wriddhi  immer  gleichförmig  aus  dem 
Urlaut  der  veränderten  Sylbe  selbst,  ihr  allein  angehörend,  ent- 
springt. Wenn  man  daher  den  Guna-Laut  wedmi  und  den,  nach 
der  Boppschen  Erklärung,  durch  Assimilation  entstehenden  tenima 
mit  einander  vergleicht,  so  ist  das  hineingekommene  e  in  der 
ersteren  Form  aus  dem  i  der  veränderten,  in  der  letzteren  aus 
dem  der  nachfolgenden  Sylbe  entstanden. 

Guna  und  Wriddhi  sind  Verstärkungen  des  Grundlauts  und 
zwar  nicht  bloss  gegen  diesen,  sondern  auch  gegen  einander  selbst, 
gleichsam  wie  Comparativus  und  Superlativus,  in  gleichem  quanti- 
tativen Masse  steigende  Verstärkungen  des  einfachen  Vocals.  In 
der  Breite  der  Aussprache  und  dem  Laute  vor  dem  Ohre  ist  diese 
Steigerung  unverkennbar ;  sie  zeigt  sich  aber  in  einem  schlagenden 
Beispiel  auch  in  der  Bedeutung  bei  dem  durch  Anhängung  von 
ya  gebildeten  Participium  des  Passiv-Futurum.  Denn  der  einfache 
Begriff  fordert  dort  nur  Guna,  der  verstärkte,  mit  Nothwendigkeit 
verknüpfte  aber  W^riddhi:  stawya,  ein  Preiswürdiger,  stäwya^ 
ein  nothwendig  und  auf  alle  Weise  zu  Preisender. 
Der  Begriff  der  Verstärkung  erschöpft  aber  nicht  die  besondre 
Natur  dieser  Lautveränderungen.  Zwar  muss  man  hier  das  Wriddhi 
von  a  ausnehmen,  das  aber  auch  nur  gewissermassen  in  seiner  gram- 
matischen Anwendung,  durchaus  nicht  seinem  Laut  nach  in  diese 
Classe  gehört.  Bei  allen  übrigen  Vocalen  und  Diphthongen  liegt 
das  Charakteristische  dieser  Verstärkungen  darin,  dass  durch  sie 
eine,  vermittelst  der  Verbindung  ungleichartiger  Vocale  oder  Diph- 
thongen hervorgebrachte  Umbeugung  des  Lautes  entsteht.  Denn 
allem  Guna  und  Wriddhi  liegt  eine  Verbindung  von  a  mit  den 
übrigen  Vocalen  oder  Diphthongen  zum  Grunde,  man  mag  nun 
annehmen,  dass  im  Guna  ein  kurzes,  im  Wriddhi  ein  langes  a 
vor  den  einfachen  Vocal  oder  dass  immer  ein  kurzes  a^  im  Guna 
vor  den  einfachen  Vocal,  im  Wriddhi  vor  den  schon  durch  Guna 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     27.      iqj 

verstärkten  tritt.*)  Die  blosse  Entstehung  verlängerter  Vocale 
durch  Verbindung  gleichartiger  wird,  soviel  mir  bekannt  ist,  das 
einzige  a  ausgenommen,  auch  von  den  Indischen  Grammatikern 
nicht  zum  Wriddhi  gerechnet.  Da  nun  in  Guna  und  Wriddhi 
immer  ein  sehr  verschieden  auf  das  Ohr  einw^irkender  Laut  ent- 
steht und  seinen  Grund  ausschliesslich  in  dem  Urlaut  der  Sylbe 
selbst  findet,  so  gehen  die  Guna-  und  Wriddhi-Laute  auf  eine,  mit 
Worten  nicht  zu  beschreibende,  aber  dem  Ohre  deutlich  vernehm- 
bare Weise  aus  der  inneren  Tiefe  der  Sylbe  selbst  hervor.  Wenn 
daher  Guna,  das  im  Verbum  so  häufig  die  Stammsylbe  verändert, 
eine  bestimmte  Charakteristik  gewisser  grammatischer  Formen 
wäre,  so  würde  man  diese,  auch  der  sinnlichen  Erscheinung  nach, 
buchstäblich  Entfaltungen  aus  dem  Innren  der  Wurzel  und  in 
praegnanterem  Sinne,  als  in  den  Semitischen  Sprachen,  wo  bloss 
symbolischer  Vocalwechsel  vorgeht,  nennen  können.**)  Es  ist 
dies  aber  durchaus  nicht  der  Fall,  da  das  Guna  nur  eine  der 
Nebengestaltungen    ist,   welche    das    Sanskrit    den  Verbalformen, 


*)  Bopp  vertheidigt  (Lateinische  Sanskrit-Grammatik,  r.  33.)  die  erstere  dieser 
Meinungen.  Wenn  es  mir  aber  erlaubt  ist,  von  diesem  gründlichen  Forscher  abzu- 
weichen, so  möchte  ich  mich  für  die  letztere  erklären.  Bei  der  Boppschen  Annahme 
lässt  sich  kaum  noch  der  enge  Zusammenhang  des  Guna  und  Wriddhi  mit  den  all- 
gemeinen Lautgesetzen  der  Sprache  retten,  da  ungleiche  einfache  Vocale,  ohne  dass 
es  irgend  auf  ihre  Länge  oder  Kürze  ankommt,  immer  in  die,  allerdings  schwächeren 
Diphthongen  des  Guna  übergehen.  Da  die  Natur  des  Diphthongen  auch  wesentlich 
nur  in  der  Ungleichartigkeit  der  Töne  liegt,  so  ist  es  begreiflich,  dass  Länge  und  Kürze 
von  dem  neuen  Laute,  ohne  zurückbleibenden  Unterschied,  verschlungen  werden.  Erst 
wenn  eine  neue  Ungleichartigkeit  in  das  Spiel  tritt,  entsteht  eine  Verstärkung  des  Diph- 
thongen. Ich  glaube  daher  nicht,  dass  die  Guna-Diphthongen  ursprünglich  gerade  aus 
kurzen  Vocalen  zusammenschmelzen.  Dass  sie  gegen  die  Diphthongen  des  Wriddhi 
bei  ihrer  Auflösung  ein  kurzes  a  annehmen  (ciy,  aw  gegen  äy,  ätv),  lässt  sich  auf 
andere  Weise  erklären.  Da  der  Unterschied  der  beiden  Lauterweiterungen  nicht  am 
Halbvocal  kenntlich  gemacht  werden  konnte,  so  musste  er  in  die  Quantität  des  Vocals 
der  neuen  Sylbe  fallen.     Dasselbe  gilt  vom  Vocal-r. 

**)  Dies  hat  vielleicht  wesentlich  beigetragen,  Friedrich  Schlegel  zu  seiner,  aller- 
dings nicht  zu  billigenden  Theorie  einer  Eintheilung  aller  Sprachen  (Sprache  und 
Weisheit  der  Indien  S.  50.)  zu  führen.  Es  ist  aber  bemerkenswerth  und,  wie  es  niir 
scheint,  zu  wenig  anerkannt,  dass  dieser  tiefe  Denker  und  geistvolle  Schriftsteller  der 
erste  Deutsche  war,  der  uns  auf  die  merkwürdige  Erscheinung  des  Sanskrits  aufmerksam 
machte,  und  dass  er  schon  in  einer  Zeit  bedeutende  Fortschritte  darin  gethan  hatte, 
wo  man  von  allen  jetzigen  zahlreichen  Hülfsmitteln  zur  Erlernung  der  Sprache  entblösst 
war.  Selbst  Wilkins  Grammatik  erschien  erst  in  demselben  Jahre,  als  die  angeführte 
Schlegelsche  Schrift. 

9* 


\Q2  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

ausser  ihren  wahren  Charakteristiken,  nach  bestimmten  Gesetzen 
beigiebt.  Es  ist,  seiner  Natur  nach,  eine  rein  phonetische  und, 
soweit  wir  seine  Gründe  einzusehen  vermögen,  auch  allein  aus 
den  Lauten  erklärbare  Erscheinung  und  nicht  einzeln  bedeutsam 
oder  symbolisch.  Der  einzige  Fall  in  der  Sprache,  den  man  hier- 
von ausnehmen  muss,  ist  die  Gunirung  des  Verdoppelungsvocals 
in  den  Intensiwerben.  Diese  zeigt  um  so  mehr  den  verstärkenden 
Ausdruck  an,  welchen  die  Sprache,  auf  eine  sonst  ungewöhnliche 
Weise,  in  diese  Formen  zu  legen  beabsichtigt,  als  die  Verdoppe- 
lung sonst  den  langen  Vocal  zu  verkürzen  pflegt  und  als  das 
Guna  hier  auch,  wie  sonst  nicht,  bei  langen  Mittelvocalen  der 
Wurzel  statt  findet. 

Dagegen  kann  man  es  wohl  in  vielen  Fällen  als  S^^mbol  der 
inneren  Worteinheit  ansehen,  indem  diese,  sich  stufenweis  in  der 
Vocalsphäre  bewegenden  Lautveränderungen  eine  weniger  materielle, 
entschiednere  und  enger  verbundene  Wortverschmelzung  hen^or- 
bringen,  als  die  Veränderungen  sich  berührender  Consonanten. 
Sie  gleichen  hierin  gewissermassen  dem  Accent,  indem  die  gleiche 
Wirkung,  das  Uebergewicht  einer  vorherrschenden  Sylbe,  im  Accent 
durch  die  Tonhöhe,  im  Guna  und  Wriddhi  durch  die  erweiterte 
Lautumbeugung  hervorgebracht  wird.  Wenn  sie  daher  auch  nur 
in  bestimmten  Fällen  die  innere  Worteinheit  begleiten,  so  sind  sie 
doch  immer  einer  der  verschiedenen  Ausdrücke,  deren  sich  die, 
bei  weitem  nicht  immer  dieselben  Wege  verfolgende  Sprache  zur 
Andeutung  derselben  bedient.  Es  mag  auch  hierin  liegen,  dass 
sie  den  sylbenreichen,  langen  Formen  der  zehnten  Verbalclasse 
und  der  mit  dieser  verwandten  Causalverben  ganz  besonders  eigen- 
thümlich  sind.  Wenn  sie  sich  freilich  auf  der  andren  Seite  auch 
bei  ganz  kurzen  finden,  so  ist  darum  doch  nicht  zu  läugnen,  dass 
sie  bei  den  langen  das  abgebrochene  Auseinanderfallen  der  Sylben 
verhindern  und  die  Stimme  nöthigen,  sie  fest  zusammenzuhalten. 
Sehr  bedeutsam  scheint  es  auch  in  dieser  Beziehung,  dass  das 
Guna  in  den  Wortgattungen  der  festesten  Einheit,  den  Kridanta- 
Wörtern  und  Verbalendungen  herrschend  ist  und  in  ihnen  ge- 
wöhnlich die  Wurzelsylbe  trifft,  dagegen  nie  auf  der  Stammsylbe 
der  Declinationsbeugungen  oder  der  durch  Taddhita-Suffixa  ge- 
bildeten Wörter  vorkommt. 

Das  Wriddhi  findet  eine  doppelte  Anwendung.  Auf  der  einen 
Seite  ist  es,  wie  das  Guna,  rein  phonetisch  und  steigert  dasselbe 
entweder  nothwendig  oder  nach   der  Willkühr  des  Sprechenden; 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     27.       j^g 

auf  der  andren  Seite  ist  es  bedeutsam  und  rein  symbolisch.  In 
der  ersteren  Gestalt  trifft  es  vorzugsweise  die  Endvocale,  so  wie 
auch  die  langen  unter  diesen,  was  sonst  nicht  geschieht,  Guna 
annehmen.  Es  entsteht  dies  daraus,  dass  die  Erweiterung  eines 
Endvocals  keine  Beschränkung  vor  sich  rindet.  Es  ist  dasselbe 
Princip,  das  im  Javanischen  im  gleichen  Falle  das  dem  Consonanten 
einverleibte  a  als  dunkles  o  auslauten  lässt.  Die  Bedeutsamkeit 
des  Wriddhi  zeigt  sich  besonders  bei  den  Taddhita-Suffixen  und 
scheint  ihren  ursprünglichen  Sitz  in  den  Geschlechtsbenennungen, 
den  Collectiv-  und  abstracten  Substantiven  zu  haben.  In  allen 
diesen  Fällen  erweitert  sich  der  ursprünglich  einfache  concrete 
Begriff.  Dieselbe  Erweiterung  wird  aber  auch  metaphorisch  auf 
andre  Fälle,  wenn  auch  nicht  in  gleicher  Beständigkeit  über- 
getragen. Daher  mag  es  kommen,  dass  die  durch  Taddhita-Sufrixe 
gebildeten  Adjectiva  bald  Wriddhi  annehmen,  bald  den  Vocal  un- 
verändert lassen.  Denn  das  Adjectivum  kann  als  concrete  Be- 
schaffenheit, aber  auch  als  die  ganze  Menge  von  Dingen,  an 
welchen  es  erscheint,  unter  sich  befassend  angesehen  werden. 

Die  Annahme  oder  der  Mangel  des  Guna  bildet  im  Verbum 
in  grammatisch  genau  bestimmten  Fällen  einen  Gegensatz  zwischen 
gunirten  und  gunalosen  Formen  der  Abwandlung.  Bisweilen,  aber 
viel  seltener  wird  ein  gleicher  Gegensatz  durch  den  bald  noth- 
wendigen,  bald  willkührlichen  Gebrauch  des  Wriddhi  gegen  Guna 
hervorgebracht.  Bopp  hat  zuerst  diesen  Gegensatz  auf  eine  Weise, 
die,  wenn  sie  auch  einige  Fälle  gewissermassen  als  Ausnahme 
übersehen  muss,  doch  gewiss  im  Ganzen  vollkommen  befriedigend 
erscheint,  aus  der  Wirkung  der  Lautschwere  oder  Lautleichtigkeit 
der  Endungen  auf  den  Wurzelvocal  erklärt.  Die  erstere  verhindert 
nemlich  seine  Erweiterung,  welche  die  letztere  hen-orzulocken 
scheint,  und  das  Eine  und  das  Andere  findet  überall  da  statt,  wo 
sich  die  Endung  unmittelbar  an  die  Wurzel  anschliesst  oder  auf 
ihrem  Wege  dahin  einen  des  Guna  fähigen  Vocal  antrifft.  Wo 
aber  der  Einfluss  der  Beugungssylbe  durch  einen  andren,  da- 
zwischentretenden Vocal  oder  einen  Consonanten  gehemmt  wird, 
mithin  die  Abhängigkeit  des  Wurzelvocals  von  ihr  aufhört,  lässt 
sich  der  Gebrauch  und  Nichtgebrauch  des  Guna,  obgleich  er  auch 
da  in  bestimmten  Fällen  regelmässig  eintritt,  auf  keine  Weise  aus 
den  Lauten  erklären  und  dieser  Unterschied  der  Wurzelsylbe  sich 
also  überhaupt  in  der  Sprache  auf  kein  ganz  allgemeines  Gesetz 
zurückführen.      Die   wahrhafte   Erklärung    der   Anwendung   und 


jo^  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Nichtanwendung  des  Guna  überhaupt  scheint  mir  nur  aus  der 
Geschichte  der  Abwandlungsformen  des  Verbum  geschöpft  werden 
zu  können.  Dies  ist  aber  ein  noch  sehr  dunkles  Gebiet,  in  dem 
wir  nur  fragmentarisch  Einzelnes  zu  errathen  vermögen.  Viel- 
leicht gab  es  ehemals,  nach  Verschiedenheit  der  Dialekte  oder 
Zeiten,  zweierlei  Gattungen  der  Abwandlung  mit  und  ohne  Guna, 
aus  deren  Mischung  die  jetzige  Gestaltung  in  der  uns  vorliegenden 
Niedersetzung  der  Sprache  entsprang.  In  der  That  scheinen  auf 
eine  solche  Vermuthung  einige  Classen  der  Wurzeln  zu  führen, 
die  sich  zugleich  und  grösstentheils  in  der  nemlichen  Bedeutung 
mit  und  ohne  Guna  abwandeln  lassen  oder  ein  durchgängiges 
Guna  annehmen,  wo  die  übrige  Analogie  der  Sprache  den  oben 
erwähnten  Gegensatz  erfordern  würde.  Dies  letztere  geschieht 
nur  in  einzelnen  Ausnahmen;  das  erstere  aber  findet  bei  allen 
Verben  statt,  die  zugleich  nach  der  ersten  und  sechsten  Classe 
conjugirt  werden,  so  wie  in  denjenigen  der  ersten  Classe,  welche 
ihr  vielförmiges  Praeteritum  nach  der  sechsten  Gestaltung,  bis  auf 
das  fehlende  Guna  ganz  gleichförmig  mit  ihrem  Augment-Praete- 
ritum  bilden.  Diese  ganze,  dem  Griechischen  zweiten  Aorist  ent- 
sprechende, sechste  Gestaltung  dürfte  wohl  nichts  andres,  als  ein 
wahres  Augment-Praeteritum  einer  gunalosen  Abwandlung  seyn, 
neben  welcher  eine  mit  Guna  (unser  jetziges  Augment-Praeteritum 
der  Wurzeln  der  ersten  Classe)  bestanden  hat.  Denn  es  ist  mir 
sehr  wahrscheinlich,  dass  es  im  wahren  Sinne  des  Wortes  im 
Sanskrit  nur  zwei,  nicht,  wie  wir  jetzt  zählen,  drei  Praeterita  giebt, 
so  dass  die  Bildungen  des  angeblich  dritten,  nemlich  des  viel- 
förmigen  nur  Nebenformen,  aus  anderen  Epochen  der  Sprache 
herstammend,  sind. 

Wenn  man  auf  diese  Weise  eine  ursprünglich  zwiefache  Con- 
jugation  mit  und  ohne  Guna  in  der  Sprache  annimmt,  so  ent- 
steht gewissermassen  die  Frage,  ob  da,  wo  die  Gewichtigkeit  der 
Endungen  einen  Gegensatz  hervorbringt,  das  Guna  verdrängt 
oder  angenommen  worden  ist?  und  man  muss  sich  unbedenklich 
für  das  erstere  erklären.  Lautveränderungen,  wie  Guna  und 
Wriddhi,  lassen  sich  nicht  einer  Sprache  einimpfen,  sie  gehen, 
nach  Grimm's  vom  deutschen  i\blaut  gebrauchtem  glücklichem 
Ausdruck,  ^)  bis  auf  den  Grund  und  Boden  derselben  und  können 
in   ihrem   Ursprünge    sich    aus    den   dunklen    und   breiten   Diph- 


V  Vgl.  Band  6,  4^2. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     27.      joc 

thongen,  die  wir  auch  in  andren  Sprachen  antreffen,  erklären 
lassen.  Das  Wohllautsgefühl  kann  diese  gemildert  und  zu  einem 
quantitativ  bestimmten  Verhältniss  geregelt  haben.  Dieselbe  Neigung 
der  Sprachwerkzeuge  zur  Vocalerweiterung  kann  aber  auch  in 
einem  glücklich  organisirten  Volksstamm  unmittelbar  in  rh3'-th- 
mischer  Haltung  hervorgebrochen  seyn.  Denn  es  ist  nicht  noth- 
wendig  und  kaum  einmal  rathsam,  sich  jede  Trefflichkeit  einer 
gebildeten  Sprache  als  stufenartig  und  allmählich  entstanden  zu 
denken. 

Der  Unterschied  zwischen  rohem  Xaturlaut  und  geregeltem 
Ton  zeigt  sich  noch  bei  weitem  deutlicher  an  einer  andren,  zur 
inneren  Wortausbildung  wesentlich  beitragenden  Lautform,  der 
Reduplication.  Die  Wiederholung  der  Anfangssylbe  eines  Wortes 
oder  auch  des  ganzen  W"'ortes  selbst  ist,  bald  in  verstärkender 
Bedeutsamkeit  zu  mannigfachem  Ausdruck,  bald  als  blosse  Laut- 
gewohnheit, den  Sprachen  vieler  ungebildeten  Völker  eigen.  In 
anderen,  wie  in  einigen  des  Malayischen  Stammes,  verräth  sie 
schon  dadurch  einen  Einfluss  des  Lautgefühls,  dass  nicht  immer 
der  Wurzelvocal,  sondern  gelegentlich  ein  verwandter  wiederholt 
wird.  Im  Sansloit  aber  wird  die  Reduplication  so  genau  dem 
jedesmaligen  inneren  Wortbau  angemessen  modificirt,  dass  man 
fünf  oder  sechs  verschiedene,  durch  die  Sprache  vertheilte  Ge- 
staltungen derselben  zählen  kann.  Alle  aber  fliessen  aus  dem 
doppelten  Gesetz  der  Anpassung  dieser  Vorschlagssylbe  an  die 
besondere  Form  des  Wortes  und  aus  dem  der  Beförderung  der 
inneren  Worteinheit.  Einige  sind  zugleich  für  bestimmte  gram- 
matische Formen  bezeichnend.  Die  Anpassung  ist  bisweilen  so 
künstlich,  dass  die  eigentlich  dem  Worte  voranzugehen  bestimmte 
Sylbe  dasselbe  spaltet  und  sich  zwischen  seinen  Anfangsvocal 
und  Endconsonanten  stellt,  was  vielleicht  darin  seinen  Grund  hat, 
dass  dieselben  Formen  auch  den  Vorschlag  des  Augments  ver- 
langen und  diese  beiden  Vorschlagssylben  sich,  als  solche,  an 
vocalisch  anlautenden  Wurzeln  nicht  hätten  auf  unterscheidbare 
Weise  andeuten  lassen.  Die  Griechische  Sprache,  in  welcher 
Augment  und  Reduplication  wirklich  in  diesen  Fällen  im  aiipnen- 
tum  temporale  zusammenfliessen ,  hat  zur  Erreichung  desselben 
Zweckes   ähnliche   Formen    entwickelt.*)     Es  ist   dies   ein   merk- 


*)  In  einer,  von  mir  im  Jahre   1828.  im  Französischen  Institute  gelesenen  Abhand- 
limg :  über  die  Verwandtschaft  des  Griechischen  Plusquamperfectum,  der  reduplicirenden 


|o5  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

würdiges  Beispiel,  wie,  bei  regem  und  lebendigem  Articulations- 
sinn,  die  Lautformung  sich  eigne  und  wunderbar  scheinende 
Bahnen  bricht,  um  den  innerlich  organisirenden  Sprachsinn  in 
allen  seinen  verschiedenen  Richtungen,  jede  kenntlich  erhaltend, 
zu  begleiten.*) 

Die  Absicht,  das  Wort  fest  mit  dem  Vorschlage  zu  verbinden, 
äussert  sich  im  Sanskrit  bei  den  consonantischen  Wurzeln  durch 
die  Kürze  des  Wiederholungsvocals ,  auch  gegen  einen  langen 
Wurzellaut,  so  dass  der  Vorschlag  vom  Worte  übertönt  werden 
soll.  Die  einzigen  zwei  Ausnahmen  von  dieser  Verkürzung  in 
der  Sprache  haben  wieder  ihren  eigenthümlichen,  den  allgemeinen 
überwiegenden  Grund,  bei  den  Intensiwerben  die  Andeutung 
ihrer  Verstärkung,  bei  dem  vielförmigen  Praeteritum  der  Causal- 
verba  das  euphonisch  geforderte  Gleichgewicht  zwischen  dem 
Wiederholungs-  und  Wurzelvocal.  Bei  vocalisch  anlautenden 
Wurzeln  fällt  da,  wo  sich  die  Reduplication  durch  Verlängerung 
des  Anfangsvocals  ankündigt,  das  Uebergewicht  des  Lautes  auf 
die  Anfangssylbe  und  befördert  dadurch,  wie  wir  es  beim  Guna 
gesehen,  die  enge  Verbindung  der  übrigen  dicht  an  sie  ange- 
schlossenen Sylben.  Die  Reduplication  ist  in  den  meisten  Fällen 
ein  wirkliches  Kennzeichen  bestimmter  grammatischer  Formen 
oder  doch  eine,  sie  charakteristisch  begleitende  Lautmodification. 
Nur  in  einem  kleinen  Theil  der  Verben  (in  denen  der  dritten 
Classe)  ist  sie  diesen  an  sich  eigen.  Aber  auch  hier,  wie  beim 
Guna,  wird  man  auf  die  Vermuthung  geführt,  dass  sich  in  einer 
früheren  Zeit  der  Sprache  Verba  mit  und  ohne  Reduplication  ab- 
wandeln Hessen,  ohne  dadurch  weder  in  sich  noch  in  ihrer  Be- 
deutung eine  Veränderung  zu  erfahren.  Denn  das  Augment-Prae- 
teritum  und  das  vielförmige  einiger  Verba  der  dritten  Classe 
unterscheiden  sich  bloss  durch  die  Anwendung  oder  den  Mangel 
der  Reduplication.  Dies  erscheint  bei  dieser  Lautform  noch 
natürlicher,   als   bei   dem  Guna.    Denn   die  Verstärkung  der  Aus- 


Aoriste und  der  Attischen  Perfecta  mit  einer  Sanskritischen  Tempusbildung,  habe  ich 
die  Uebereinstimmung  und  die  Verschiedenheit  beider  Sprachen  in  diesen  Formen  aus- 
führlich auseinandergesetzt  und  dieselbe  aus  ihren  Gründen  herzuleiten  versucht. 

V  Nach  „begleiten"  gesU-ichen :  „Die  wundervolle  Künstlichkeit  dieser  Formen 
wird  dadurch  vollendet,  dass  das  euphonische  Gefühl  nach  einem  rhythmischen 
Gleichgewicht  bald  und  nicht  immer  durchaus  willkührlich  jambisch  aufsteigend, 
bald  sich  [trochaeisch]  senkend  die  Längen  und  Kürzen  des  Wiederholungs-  und 
Wurzelvocals  in  ihnen  festsetzt." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     27.       j  nn 

sage  durch  den  Laut  vermittelst  der  Wiederholung  kann  ursprüng- 
lich nur  die  Wirkung  der  Lebendigkeit  des  individuellen  Gefühls 
seyn  und  daher,  auch  wenn  sie  allgemeiner  und  geregelter  wird, 
leicht  2u  wechselndem  Gebrauche  Anlass  geben. 

Das,  in  seiner  Andeutung  der  vergangenen  Zeit  der  Redupli- 
cation  ven\'andte  Augment  wird  gleichfalls  auf  eine,  die  Wortein- 
heit befördernde  Weise  bei  Wurzeln  mit  anlautenden  \'ocalen 
behandelt  und  zeigt  darin  einen  merkwürdigen  Gegensatz  gegen 
den,  Verneinung  andeutenden  gleichlautenden  ^'orschlag.  Denn 
da  das  x\lpha  privativum  sich  bloss  mit  Einschiebung  eines  n  vor 
diese  Wurzeln  stellt,  verschmilzt  das  Augment  mit  ihrem  An- 
fangsvocal  und  zeigt  also  schon  dadurch  die  ihm,  als  Verbalform, 
bestimmte  grössere  Innigkeit  der  Verbindung  an.  Es  überspringt 
aber  in  dieser  A'erschmelzung  das  durch  dieselbe  entstehende 
Guna  und  erweitert  sich  zu  Wriddhi,  wohl  offenbar  darum,  weil 
das  Gefühl  für  die  innere  Worteinheit  diesem  das  Wort  zusam- 
menhaltenden Anfangsvocal  ein  so  grosses  Uebergewicht.  als  mög- 
lich, geben  will.  Zwar  trifft  man  in  einer  andren  Verbalform,  im 
reduplicirten  Praeteritum  in  einigen  Wurzeln  auch  die  Einschiebung 
des  n  an;  der  Fall  steht  aber  ganz  einzeln  in  der  Sprache  da  und 
die  Anfügung  ist  mit  einer  A^erlängerung  des  Vorschlagsvocals 
verbunden. 

Ausser  den  hier  kurz  berührten  besitzen  tonreiche  Sprachen 
noch  eine  Reihe  andrer  Mittel,  die  alle  das  Gefühl  des  Bedürf- 
nisses ausdrücken,  dem  Worte  einen,  innere  Fülle  und  Wohllaut 
vereinenden  organischen  Bau  zu  geben.  Man  kann  im  Sanskrit 
hierher  die  Vocalverlängerung,  den  \'ocalwechsel,  die  Verwand- 
lung des  Vocals  in  einen  Halbvocal,  die  Erweiterung  desselben 
zur  Sj'lbe  durch  nachfolgenden  Halbvocal  und  gewissermassen  die 
Einschiebung  eines  Nasenlautes  rechnen,  ohne  der  Veränderungen 
zu  gedenken,  welche  die  allgemeinen  Gesetze  der  Sprache  in  den, 
sich  in  der  Wortmitte  berührenden  Buchstaben  her^-orbringen.  In 
allen  diesen  Fällen  entspringt  die  letzte  Bildung  des  Lautes  zu- 
gleich aus  der  Beschaffenheit  der  Wurzel  und  der  Natur  der 
grammatischen  Anfügungen.  Zugleich  äussern  sich  aber  die 
Selbstständigkeit  und  Festigkeit,  die  Verwandtschaft  und  der 
Gegensatz  und  das  Lautgewicht  der  einzelnen  Buchstaben  bald 
in  ursprünghcher  Harmonie,  bald  in  einem,  immer  von  dem 
organisirenden  Sprachsinn  schön  geschlichteten  Widerstreite.  Noch 
deutlicher  verräth  sich  die  auf  die  Bildung  des  Ganzen  des  Wortes 


158  l-    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

gerichtete  Sorgfalt  in  dem  Compensationsgeseize,  nach  welchem 
in  einem  Theile  des  Worts  vorgefallene  Verstärkung  oder 
Schwächung,  zur  Herstellung  des  Gleichgewichts,  eine  entgegen- 
gesetzte Veränderung  in  einem  anderen  Theile  desselben  nach 
sich  zieht.  Hier,  in  dieser  letzten  Ausbildung,  v^ird  von  der  qua- 
litativen Beschaffenheit  der  Buchstaben  abgesehen.  Der  Sprach- 
sinn hebt  nur  die  körperlosere  quantitative  heraus  und  behandelt 
das  Wort,  gleichsam  metrisch,  als  eine  rhythmische  Reihe.  Das 
Sanskrit  enthält  hierin  so  merkwürdige  Formen,  als  sich  nicht 
leicht  in  anderen  Sprachen  antreffen  lassen.  Das  vielförmige  Prae- 
teritum  der  Gausalverba  (die  siebente  Bildung  bei  Bopp),  zugleich 
versehen  mit  Augment  und  Reduplication,  liefert  hierzu  ein  in 
jeder  Rücksicht  merkwürdiges  Beispiel.  Da  in  den  Formen  dieser 
Gestaltung  dieses  Tempus  auf 'das,  immer  kurze  Augment  bei 
consonantisch  anlautenden  Wurzeln  unmittelbar  die  Wieder- 
holungs-  und  W^urzelsylbe  auf  einander  folgen,  so  bemüht  sich 
die  Sprache,  den  Vocalen  dieser  beiden  ein  bestimmtes  metrisches 
Verhältniss  zu  geben.  Mit  wenigen  Ausnahmen,  wo  diese  beiden 
Sylben  pyrrhichisch  {ajagadam,  wwv^w,  von  gad,  reden)  oder 
spondaeisch  {adadhrädavi,  ^y__^_/,  von  dhräd,  abfallen,  welken) 
klingen,  steigen  sie  entv/eder  jambisch  {adudüsham,  wv^_^,  von  diisJi, 
sündigen,  sich  beflecken)  auf  oder  senken  sich,  was  die 
Mehrheit  der  Fälle  ausmacht,  trochaeisch  [achikalam,  w_ww,  von  kal, 
schleudern,  schwingen)  und  lassen  bei  denselben  Wurzeln 
selten  der  Aussprache  die  Wahl  zwischen  diesem  doppelten  Vocalmass. 
Untersucht  man  nun  das,  auf  den  ersten  Anblick  sehr  verwickelte 
quantitative  Verhältniss  dieser  Formen,  so  findet  man,  dass  die 
Sprache  dabei  ein  höchst  einfaches  Verfahren  befolgt.'  Sie  wendet 
nemlich,  indem  sie  eine  Veränderung  mit  der  Wurzelsylbe  vor- 
nimmt, lediglich  das  Gesetz  der  Lautcompensation  an.  Denn  sie 
stellt,  nach  einer  vorgenommenen  Verkürzung  der  Wurzelsylbe, 
bloss  das  Gleichgewicht  durch  Verlängerung  der  Wiederholungs- 
sylbe  wieder  her,  woraus  die  trochaeische  Senkung  entsteht,  an 
welcher  die  Sprache,  wie  es  scheint,  hier  ein  besonderes  Wohl- 
gefallen fand.  Die  Veränderung  der  Quantität  der  Wurzelsylbe 
scheint  das  höhere,  auf  die  Erhaltung  der  Stammsylben  gerichtete 
Gesetz  zu  verletzen.  Genauere  Nachforschung  aber  zeigt,  dass 
dies  keinesweges  der  Fall  ist.  Denn  diese  Praeterita  werden  nicht 
aus  der  primitiven,  sondern  aus  der  schon  grammatisch  ver- 
änderten Causalwurzel   gebildet.     Die   verkürzte   Länge   ist  daher 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.    27.  28.     i  oq 

in  der  Regel  nur  der  Causalwurzel  eigen.  Wo  die  Sprache  in 
diesen  Bildungen  auf  eine  primitiv  stammhafte  Länge  oder  gar 
auf  einen  solchen  Diphthongen  stösst,  giebt  sie  ihr  Vorhaben  auf, 
lässt  die  Wurzelsylbe  unverändert  und  verlängert  nun  auch  nicht 
die,  der  allgemeinen  Regel  nach,  kurze  Wiederholungssylbe.  Aus 
dieser,  sich  dem  in  diesen  Formen  eigentlich  beabsichtigten  Ver- 
fahren entgegenstellenden  Schwierigkeit  entspringt  der  jambische 
Aufschwung,  der  das  natürliche,  unveränderte  Quantitäts-Verhält- 
niss  ist.  Zugleich  beachtet  die  Sprache  die  Fälle,  wo  die  Länge 
der  Sylbe  nicht  aus  der  Natur  des  Vocals,  sondern  aus  dessen 
Stellung  vor  zwei  auf  einander  folgenden  Consonanten  herfliesst. 
Sie  häuft  nicht  zwei  Verlängerungsmittel  und  lässt  also  auch  in 
der  trochaeischen  Senkung  den  Wiederholungsvocal  vor  zwei  An- 
fangsconsonanten  der  Wurzel  unverlängert.  Bemerkenswerth  ist 
es,  dass  auch  die  eigentlich  Malayische  Sprache  eine  solche  Sorg- 
falt, die  Einheit  des  Worts  bei  grammatischen  Anfügungen  zu 
erhalten  und  dasselbe  als  ein  euphonisches  Lautganzes  zu  be- 
handeln ,  durch  Quantitäts-Versetzung  der  Wurzelsylben  zeigt. 
Die  angeführten  Sanskritischen  Formen  sind,  ihrer  Sylbenfüile 
und  ihres  Wohllauts  wegen,  die  deutlichsten  Beispiele,  was  eine 
Sprache  aus  einsylbigen  Wurzeln  zu  entfalten  vermag,  wenn  sie 
mit  einem  reichen  Alphabete  ein  festes  und  durch  Feinheit  des 
Ohres  den  zartesten  Anklängen  der  Buchstaben  folgendes  Laut- 
system verbindet  und  Anbildung  und  innere  Veränderung,  wieder 
nach  bestimmten  Regeln  aus  mannigfaltigen  und  fein  unter- 
schiedenen grammatischen  Gründen,  hinzutreten.*) 


Bezeichnungsmittel   der  Worteinheit.    Accent. 

Eine   andere,   der  Natur  der  Sache   nach   allen  Sprachen   ge-28. 
meinschaftliche,   in   den   todten   aber  uns  nur  da  noch  kenntliche 


*)  Was  ich  hier  über  diese  Form  des  Praeteritum  der  Causalverba  sage,  habe  ich 
aus  einer  ausführlichen,  schon  vor  Jahren  über  diese  Tempusformen  ausgearbeiteten 
Abhandlung  ausgezogen.  Ich  bin  in  derselben  alle  Wurzeln  der  Sprache,  nach  An- 
leitung der  zu  solchen  Arbeiten  vortrefflichen  Forsterschen  Grammatik,  durchgegangen, 
habe  die  verschiedenen  Bildungen  auf  ihre  Gründe  zurückzuführen  gesucht  imd  auch 
die  einzelnen  Ausnahmen  angemerkt.  Die  Arbeit  ist  aber  ungedruckt  geblieben,  weil 
es  mir  schien,  dass  eine  so  specielle  Ausführung  sehr  selten  vorkommender  Formen 
nur  sehr  wenige  Leser  interessiren  könnte. 


j^O  l-    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Worteinheit,  wo  die  Flüchtigkeit  der  Aussprache  durch  uns  ver- 
ständliche Zeichen  festgehalten  wird,  liegt  im  Accent.  Man  kann 
nemlich  an  der  Sylbe  dreierlei  phonetische  Eigenschaften  unter- 
scheiden: die  eigenthümliche  Geltung  ihrer  Laute,  ihr  Zeitmass 
und  ihre  Betonung.  Die  beiden  ersten  werden  durch  ihre  eigne 
Natur  bestimmt  und  machen  gleichsam  ihre  körperliche  Gestalt 
aus;  der  Ton  aber  (unter  welchem  ich  hier  immer  den  Sprach- 
ton, nicht  die  metrische  Arsis  verstehe)  hängt  von  der  Freiheit 
des  Redenden  ab,  ist  eine  ihr  von  ihm  mitgetheilte  Kraft  und 
gleicht  einem  ihr  eingehauchten  fremden  Geist.  Er  schwebt,  wie 
ein  noch  seelenvolleres  Princip,  als  die  materielle  Sprache  selbst 
ist,  über  der  Rede  und  ist  der  unmittelbare  Ausdruck  der  Geltung, 
welche  der  Sprechende  ihr  und  jedem  ihrer  Theile  aufprägen 
will.  An  sich  ist  jede  Sylbe  der  Betonung  fähig.  Wenn  aber 
unter  mehreren  nur  Eine  den  Ton  wirklich  erhält,  wird  dadurch 
die  Betonung  der  sie  unmittelbar  begleitenden,  wenn  der  Sprechende 
nicht  auch  unter  diesen  eine  ausdrücklich  vorlauten  lässt,  auf- 
gehoben und  diese  Aufhebung  bringt  eine  Verbindung  der  tonlos 
werdenden  mit  der  betonten  und  dadurch  vorwaltenden  und  sie 
beherrschenden  hervor.  Beide  Erscheinungen,  die  Tonaufhebung 
und  die  Sylbenverbindung  bedingen  einander  und  jede  zieht  un- 
mittelbar und  von  selbst  die  andre  nach  sich.  So  entsteht  der 
Wortaccent  und  die  durch  ihn  bewirkte  Worteinheit.  Kein  selbst- 
ständiges Wort  lässt  sich  ohne  einen  Accent  denken  und  jedes 
Wort  kann  nicht  mehr  als  Einen  Hauptaccent  haben.  Es  zerfiele 
mit  zweien  in  zwei  Ganze  und  würde  mithin  zu  zwei  Wörtern. 
Dagegen  kann  es  allerdings  in  einem  Worte  Nebenaccente  geben, 
die  entweder  aus  der  rhythmischen  Beschaffenheit  'des  Wortes 
oder  aus  Nüancirungen  der  Bedeutung  entspringen.*) 


*)  Die  sogenannten  accentlosen  Wörter  der  Griechischen  Sprache  scheinen  mir 
dieser  Behauptung  nicht  zu  widersprechen.  Es  würde  mich  aber  zu  weit  von  meinem 
Hauptgegenstande  abführen,  wenn  ich  hier  zu  zeigen  versuchte,  wie  sie  meistentheils 
sich,  als  dem  Accent  des  nachfolgenden  Wortes  vorangehende  Sylben,  vorn  an  das- 
selbe anschliessen,  in  den  Wortstellungen  aber,  welche  eine  solche  Erklärung  nicht 
zulassen  (wie  ovy.  in  Sophocles.  Oedipiis  Rex.  v.  334 — 336.  Ed.  Brunckii),  wohl  in 
der  Aussprache  eine  schwache,  nur  nicht  bezeichnete  Betonung  besassen.  Dass  jedes 
Wort  nur  Einen  Hauptaccent  haben  kann,  sagen  die  Lateinischen  Grammatiker  aus- 
drücklich. Cicero.  Orat.  18.  natura,  quasi  modularetur  hominum  orationem,  in 
omni  verbo  posuit  acutam  vocem  nee  una  plus.  Die  Griechischen  Grammatiker 
behandeln    die  Betonung   überhaupt   mehr   wie    eine  Beschaffenheit    der  Sylbe,    als    des 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     28.      j^j 

Die  Betonung  unterliegt  mehr,  als  irgend  ein  anderer  Theil 
der  Sprache  dem  doppelten  Einfluss  der  Bedeutsamkeit  der  Rede 
und  der  metrischen  Beschaffenheit  der  Laute.  Ursprünglich  und 
in  ihrer  wahren  Gestalt  geht  sie  unstreitig  aus  der  ersteren  her- 
vor. Je  mehr  aber  der  Sinn  einer  Nation  auch  auf  rhythmische 
und  musikalische  Schönheit  gerichtet  ist,  desto  mehr  Einfluss  wird 
auch  diesem  Erforderniss  auf  die  Betonung  verstattet.  Es  liegt 
aber  in  dem  Betonungstriebe,  wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist, 
weit  mehr,  als  die  auf  das  blosse  ^^erständniss  gehende  Bedeut- 
samkeit. Es  drückt  sich  darin  ganz  vorzugsweise  auch  der  Drang 
aus,  die  intellectuelle  Stärke  des  Gedanken  und  seiner  Theile  weit 
über  das  Mass  des  blossen  Bedürfnisses  hinaus  zu  bezeichnen. 
Dies  ist  in  keiner  andren  Sprache  so  sichtbar,  als  in  der  Eng- 
lischen, wo  der  Accent  sehr  häufig  das  Zeitmass  und  sogar  die 
eigenthümliche  Geltung  der  Sylben  verändernd  mit  sich  fortreisst. 
Nur  mit  dem  höchsten  Unrecht  würde  man  dies  einem  Mangel 
an  Wohllautsgefühl  zuschreiben.  Es  ist  im  Gegentheil  nur  die, 
mit  dem  Charakter  der  Nation  zusammenhängende  intellectuelle 
Energie,  bald  die  rasche  Gedanken-Entschlossenheit,  bald  die  ernste 
Feierlichkeit,  welche  das,  durch  den  Sinn  hervorgehobene  Element 
auch  in  der  Aussprache  über  alle  andren  überwiegend  zu  be- 
zeichnen strebt.  Aus  der  Verbindung  dieser  Eigenthümlichkeit 
mit  den,  oft  in  grosser  Reinheit  und  Schärfe  aufgefassten  Wohl- 
lautsgesetzen entspringt  der  in  Absicht  auf  Betonung  und  Aus- 
sprache wahrhaft  wundervolle  Englische  Wortbau.  Wäre  das  Be- 
dürfniss  starker  und  scharf  nüancirter  Betonung  nicht  so  tief  in 
dem  Englischen  Charakter  gegründet,  so  würde  auch  das  Bedürf- 
niss  der  öffentlichen  Beredsamkeit  nicht  zur  Erklärung  der  grossen 
Aufmerksamkeit  hinreichen,  welche  auf  diesen  Theil  der  Sprache 
in  England  so  sichtbar  gewandt  wird.  Wenn  alle  andren  Theile 
der  Sprache  mehr  mit  den  intellectuellen  Eigenthümlichkeiten  der 
Nationen  in  Verbindung  stehen,  so  hängt  die  Betonung  zugleich 
näher  und  auf  innigere  Weise  mit  dem  Charakter  zusammen. 


Wortes.  In  ihnen  ist  mir  keine  Stelle  bekannt,  welche  die  Accent-Einheit  des  letzteren 
als  allgemeinen  Canon  ausspräche.  Vielleicht  Hessen  sie  sich  durch  die  Fälle  irre 
machen,  in  welchen  ein  Wort  wegen  enklitischer  Sylben  zwei  Accentzeichen  erhält,  wo 
aber  wohl  das  der  Anlehnung  zugehörende  immer  nur  einen  Nebenaccent  bildete. 
Dennoch  fehlt  es  auch  bei  ihnen  nicht  an  bestimmten  Andeutungen  jener  nothwendigen 
Einheit.  So  sagt  Arcadius  (tis^I  röian'.  Ed.  Barkeri.  p.  190.)  von  Aristophanes : 
rof  fisv  o^i'f  TÖi'ov  sv  uTtavTi  ficoet  y.nd'aocö  rövov  äTta;  lufaivEodiu  doy.iudaag. 


IA2  ^-    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Die  Verknüpfung  der  Rede  bietet  auch  Fälle  dar,  wo  gewicht- 
losere Wörter  sich  an  gewichtigere  durch  die  Betonung  an- 
schliessen,  ohne  doch  mit  ihnen  in  eines  zu  verschmelzen.  Dies 
ist  der  Zustand  der  Anlehnung,  der  Griechischen  €yy.Xioig.  Das 
gewichtlosere  Wort  giebt  alsdann  seine  Unabhängigkeit,  nicht 
aber  seine  Selbstständigkeit,  als  getrenntes  Element  der  Rede,  auf. 
Es  verliert  seinen  Accent  und  fällt  in  das  Gebiet  des  Accents  des 
gewichtigeren  Wortes.  Erhält  aber  dies  Gebiet  durch  diesen  Zu- 
wachs eine,  den  Gesetzen  der  Sprache  zuwiderlaufende  Ausdeh- 
nung, so  verwandelt  das  gewichtigere  Wort,  indem  es  zwei  Ac- 
cente  annimmt,  seine  tonlose  Endsylbe  in  eine  scharfbetonte  und 
schliesst  dadurch  das  gewichtlosere  an  sich  an.*)  Durch  diese 
Anschliessung  soll  aber  die  natürliche  Wortabtheilung  nicht  ge- 
stört werden ;  dies  beweist  deutlich  das  Verfahren  der  enklitischen 
Betonung  in  einigen  besonderen  Fällen.  Wenn  zwei  enklitische 
Wörter  auf  einander  folgen,  so  fällt  das  letztere,  seiner  Betonung 
nach,  nicht,  wie  das  erstere,  in  das  Gebiet  des  gewichtigeren 
Worts,  sondern  das  erstere  nimmt  für  das  letztere  die  scharfe  Be- 
tonung auf  sich  auf.  Das  enklitische  Wort  wird  also  nicht  über- 
sprungen, sondern  als  ein  selbstständiges  Wort  geehrt  und 
schliesst  ein  andres  an  sich  an.  Die  besondre  Eigenthümlich- 
keit  eines  solchen  enklitischen  Wortes  macht  sogar,  was  das  eben 
Gesagte  noch  mehr  bestätigt,  ihren  Einfluss  auf  die  Art  der  Be- 
tonung geltend.  Denn  da  ein  Circumflex  sich  nicht  in  einen 
Acutus  verwandeln  kann,  so  wird,  wenn  von  zwei  auf  einander 
folgenden  enklitischen  Wörtern  das  erste  circumfiectirt  ist,  das 
ganze  Anlehnungsverfahren  unterbrochen  und  das  zweite  enkli- 
tische Wort  behält  alsdann  seine  ursprüngliche  Betonung.**)  Ich 
habe  diese  Einzelnheiten  nur  angeführt,  um  zu  zeigen,  wie  sorg- 
fältig Nationen,  welche  die  Richtung  ihres  Geistes  auf  sehr  hohe 
und  feine  Ausbildung  ihrer  Sprache  geführt  hat,  auch  die  ver- 
schiedenen Grade  der  Worteinheit  bis  zu  den  Fällen  herab  an- 
deuten, wo  weder  die  Trennung  noch  die  Verschmelzung  voll- 
ständig und  entschieden  ist. 


*)  Dies  nennen  die  Griechischen  Grammatiker  den  schlummernden  Ton  der 
Sylbe  erwecken.  Sie  bedienen  sich  auch  des  Ausdrucks  des  Zurückwerfens  des  Tones 
[avaßißä^eiv  rov  tövov).  Diese  letztere  Metapher  ist  aber  weniger  glücklich.  Der 
ganze  Zusammenhang  der  Griechischen  Accentlehre  zeigt,  dass  das,  was  hier  wirklich 
vorgeht,  das  oben  Beschriebene  ist. 

**)  z.  B.  Ilias.  I.  V.   178.     d'EÖs  Ttov  ool  toy    ^sScoxev. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.   28.29  a.    j^o 


Einverleibungssystem   der  Sprachen.     Gliederung 

des  Satzes. 

Das  grammatisch  gebildete  Wort,  wie  wir  es  bis  hierher  in29.»- 
der  Zusammenfügung  seiner  Elemente  und  in  seiner  Einheit,  als 
ein  Ganzes  betrachtet  haben,  ist  bestimmt,  wieder  als  Element 
in  den  Satz  einzutreten.  Die  Sprache  muss  also  hier  eine  zweite, 
höhere  Einheit  bilden,  höher,  nicht  bloss  weil  sie  von  grösserem 
Umfange  ist,  sondern  auch  weil  sie,  indem  der  Laut  nur  neben- 
her auf  sie  einwirken  kann,  ausschliesslicher  von  der  ordnenden 
inneren  Form  des  Sprachsinnes  abhängt.  Sprachen,  die,  wie  das 
Sanskrit,  schon  in  die  Einheit  des  Wortes  seine  Beziehungen  zum 
Satze  verflechten,  lassen  den  letzteren  in  die  Theile  zerfallen,  in 
welchen  er  sich,  seiner  Natur  nach,  vor  dem  Verstände  darstellt; 
sie  bauen  aus  diesen  Theilen  seine  Einheit  gleichsam  auf.  Sprachen, 
die,  wie  die  Chinesische,  jedes  Stammwort  veränderungslos  starr 
in  sich  einschliessen,  thun  zwar  dasselbe  und  fast  in  noch  stren- 
gerem Verstände,  da  die  Wörter  ganz  vereinzelt  dastehen;  sie 
kommen  aber  bei  dem  Aufbau  der  Einheit  des  Satzes  dem  Ver- 
stände nur  durch  lautlose  Mittel,  wie  z.  B.  die  Stellung  ist,  oder 
durch  eigne,  wieder  abgesonderte  Wörter  zu  Hülfe.  Es  giebt 
aber,  wenn  man  jene  beiden  zusammennimmt,  ein  zweites,  beiden 
entgegengesetztes  Mittel,  das  wir  hier  jedoch  besser  als  ein  drittes 
betrachten ,  die  Einheit  des  Satzes  für  das  Verständniss  festzu- 
halten, nemlich  ihn  mit  allen  seinen  nothwendigen  Theilen  nicht 
wie  ein  aus  Worten  zusammengesetztes  Ganzes,  sondern  wirklich 
als  ein  einzelnes  Wort  zu  behandeln. 

Wenn  man,  wie  es  ursprünglich  richtiger  ist,  da  jede,  noch 
so  unvollständige  Aussage  in  der  Absicht  des  Sprechenden  wirk- 
lich einen  geschlossenen  Gedanken  ausmacht,  vom  Satze  ausgeht, 
so  zerschlagen  Sprachen,  die  sich  dieses  Mittels  bedienen,  die  Ein- 
heit des  Satzes  gar  nicht,  sondern  streben  vielmehr  in  ihrer  Aus- 
bildung, sie  immer  fester  zusammenzuknüpfen.  Sie  verrücken 
aber  sichtbar  die  Gränzen  der  Worteinheit,  indem  sie  dieselbe  in 
das  Gebiet  der  Satzeinheit  hinüberziehen.  Die  richtige  Unter- 
scheidung beider  geht  daher  allein,  da  die  Chinesische  Methode 
das  Gefühl  der  Satzeinheit  zu  schwach  in  die  Sprache  überführt, 
von  den  wahren  Flexionssprachen  aus,  und  die  Sprachen  beweisen 
nur   dann,   dass   die  Flexion  in   ihrem   wahren  Geiste  ihr  ganzes 


144 


I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


Wesen  durchdrungen  hat,  wenn  sie  auf  der  einen  Seite  die  Wort- 
einheit bis  zur  Vollendung  ausbilden,  auf  der  andren  aber  zu- 
gleich dieselbe  in  ihrem  eigentlichen  Gebiete  festhalten,  den  Satz 
in  alle  seine  nothwendigen  Theile  trennen  und  erst  aus  ihnen 
seine  Einheit  wieder  aufbauen.  Insofern  gehören  Flexion,  Wort- 
einheit und  Gliederung  des  Satzes  dergestalt  enge  zusammen,  dass 
eine  unvollkommene  Ausbildung  des  einen  oder  des  andren  dieser 
Stücke  immer  sicher  beweist,  dass  keines  in  seinem  ganz  reinen, 
ungetrübten  Sinn  in  der  Sprachbildung  vorgewaltet  hat.  Jenes 
dreifache  Verfahren  nun,  das  sorgfältige  grammatische  Zurichten 
des  Wortes  zur  Satzverknüpfung,  die  ganz  indirecte  und  grössten- 
theils  lautlose  Andeutung  derselben  und  das  enge  Zusammen- 
halten des  ganzes  Satzes,  soviel  es  immer  möglich  ist,  in  Einer 
zusammen  ausgesprochenen  F^rm,  erschöpft  die  Art,  wie  die 
Sprachen  den  Satz  aus  Wörtern  zusammenfügen.  Von  allen  drei 
Methoden  finden  sich  in  den  meisten  Sprachen  einzelne,  stärkere 
oder  schwächere  Spuren.  Wo  aber  eine  derselben  bestimmt  vor- 
waltet und  zum  Mittelpunkt  des  Organismus  wird,  da  lenkt  sie 
auch  den  ganzen  Bau,  in  strengerer  oder  loserer  Consequenz,  nach 
sich  hin.  Als  Beispiele  des  stärksten  Vorwaltens  jeder  derselben 
lassen  sich  das  Sanskrit,  die  Chinesische  und,  wie  ich  gleich  aus- 
führen werde,  die  Mexicanische  Sprache  aufstellen. 

Um    die   Verknüpfung    des    einfachen    Satzes    in   Eine    laut- 
verbundene Form  hervorzubringen,  hebt  die  letztere*)  das  Verbum, 


*)  Ich  erlaube  mir  hier  eine  Bemerkung  über  die  Aussprache  des  Namens  Mexico. 
Wenn  wir  dem  X  in  diesem  Worte  den  bei  uns  üblichen  Laut  geben,  so  ist  dies  freilich 
unrichtig.  Wir  würden  uns  aber  noch  weiter  von  der  wahren  einheimischen  Aussprache 
entfernen,  wenn  wir  der  Spanischen,  in  der  neuesten,  noch  tadelnswürdigeren  Schreibung 
Mejico  ganz  unwiderruflich  gewordenen  durch  den  Gurgellaut  ch  folgten.  Der  ein- 
heimischen Aussprache  gemäss  ist  der  dritte  Buchstabe  des  Namens  des  Kriegsgottes 
Mexitil  und  des  davon  herkommenden  der  Stadt  Mexico  ein  starker  Zischlaut,  wenn 
sich  auch  nicht  genau  angeben  lässt,  in  welchem  Grade  derselbe  sich  unserm  seh  nähert. 
Hierauf  wurde  ich  zuerst  dadurch  geführt,  dass  Castilien  auf  Mexicanische  Weise  Caxtil, 
und  in  der  verwandten  Cora-Sprache  das  Spanische  pesar,  wägen,  pexuvi  geschrieben 
wird.  Noch  deutlicher  fand  ich  diese  Muthmassung  bestätigt  durch  Gilij's  Art,  das  im 
Mexicanischen  gebrauchte  x  Italienisch  durch  sc  wiederzugeben.  [Saggio  di  storia 
Americana.  III.  343-)  Da  ich  denselben  oder  einen  ähnlichen  Zischlaut  auch  in 
mehreren  anderen  Amerikanischen  Sprachen  von  den  Spanischen  Sprachlehrern  mit  x 
geschrieben  fand,  so  erklärte  ich  mir  diese  Sonderbarkeit  aus  dem  Mangel  des  sch- 
Lauts  in  der  Spanischen  Sprache.  Da  die  Spanischen  Grammatiker  in  ihrem  eignen 
Alphabete  keinen   ihm    entsprechenden    fanden,    so    wählten    sie    zu    seiner  Bezeichnung 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.    29a.     jaz 

als  den  wahren  Mittelpunkt  desselben  heraus,  fügt,  soviel  es  möglich 
ist,  die  regierenden  und  regierten  Theile  des  Satzes  an  dasselbe 
an    und   giebt   dieser  Verknüpfung  durch   Lautformung  das   Ge- 

1231        3  2 

präge  eines  verbundenen  Ganzen:   ni-naca-qua,  ich  esse  Fleisch. 

Man  könnte  diese  Verbindung  des  Substantivs  mit  dem  \^erbum 
als  ein  zusammengesetztes  Verbum,  gleich  dem  Griechischen 
xQ€iücpayeit),  ansehen;  slie  Sprache  nimmt  es  aber  offenbar  anders. 
Denn  wenn  aus  irgend  einem  Grunde  das  Substantivum  nicht 
selbst  einverleibt  wird,  so  ersetzt  sie  es  durch  das  Pronomen  der 
dritten  Person,  zum  deutlichen  Beweise,  dass  sie  mit  dem  Verbum 
und  in  ihm  enthalten  zugleich   das  Schema   der  Construction  zu 

12345  I  3        2        4  5 

haben  verlangt:  ni-c-qua  in  nacatl,  ich   esse   es,  das  Fleisch. 

Der  Satz  soll,  seiner  Form  nach,  schon  im  Verbum  abgeschlossen 
erscheinen  und  wird  nur  nachher,  gleichsam  durch  Apposition, 
näher  bestimmt.  Das  Verbum  lässt  sich  gar  nicht  ohne  diese 
verv^ollständigenden  Nebenbestimmungen  nach  Mexicanischer  Vor- 
stellungsweise denken.  Wenn  daher  kein  bestimmtes  Object  da- 
steht, so  verbindet  die  Sprache  mit  dem  Verbum  ein  eignes,  in 
doppelter    Form   für   Personen    und    Sachen    gebrauchtes,   unbe- 

I    2     3        I         3  2  1234 

stimmtes  Pronomen:   ni-tla-qiia,  ich   esse   etwas,  ni-ie-tla-inaca, 

14.2  3 

ich  gebe  jemandem  etwas.  Ihre  Absicht,  diese  Zusammen- 
fügungen als  ein  Ganzes  erscheinen  zu  lassen,  bekundet  die  Sprache 
auf  das  deutlichste.  Denn  wenn  ein  solches,  den  Satz  selbst  oder 
gleichsam  sein  Schema  in  sich  fassendes  Verbum  in  eine  vergangene 
Zeit  gestellt  wird  und  dadurch  das  Augment  o  erhält,  so  stellt 
sich  dieses  an  den  Anfang  der  Zusammenfügung,  was  klar  anzeigt, 
dass  jene  Nebenbestimmungen  dem  Verbum  immer  und  noth- 
wendig  angehören,  das  Augment   aber  ihm   nur  gelegentlich,   als 


das  bei  ihnen  zweideutige  und  ihrer  Sprache  selbst  fremde  x.  Späterhin  fand  ich  die- 
selbe Erklärung  dieser  Buchstabenverwechslung  bei  dem  Exjesuiten  Camano,  der  ge- 
radezu den  in  der  Chiquitischen  Sprache  (im  Innren  von  Südamerika)  mit  x  geschrie- 
benen Laut  mit  dem  Deutschen  seh  und  dem  Französischen  ch  vergleicht  und  den- 
selben Grund  für  den  Gebrauch  des  x  angiebt.  Diese  Aeusserung  findet  sich  in  seiner 
sehr  systematischen  und  vollständigen  handschriftlichen  Chiquitischen  Grammatik,  die 
ich  der  Güte  des  Etatsraths  von  Schlözer  als  ein  Geschenk  aus  dem  Nachlasse  seines 
Vaters  verdanke.  Um  der  einheimischen  Aussprache  nahe  zu  bleiben,  müsste  man  also 
die  Hauptstadt  Neuspaniens  ungefähr  wie  die  Italiäner  aussprechen,  genauer  genommen 
aber  so,  dass  der  Laut  zwischen  Messico  und  Meschico  fiele. 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  IG 


lAß  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Vergangenheits-Andeutung  hinzutritt.  So  ist  von  m'-nemt,  ich  lebe, 
das  als  ein  intransitives  Verbum  keine  andren  Pronomina  mit  sich 
führen  kann,  das  Perfectum  o-ni-nen,  ich  habe  gelebt,  von  maca, 
geben,  o-ni-c-te-maca-c,  ich  habe  es  jemandem  gegeben.  Noch 
wichtiger  aber  ist  es,  dass  die  Sprache  für  die  zur  Einverleibung 
gebrauchten  Wörter  sehr  sorgfältig  eine  absolute  und  eine  Ein- 
verleibungsform unterscheidet,  eine  Vorsicht,  ohne  welche  diese 
ganze  Methode  mislich  für  das  Verständniss  werden  würde  und 
die  man  daher  als  die  Grundlage  derselben  anzusehen  hat.  Die 
Nomina  legen  in  der  Einverleibung,  ebenso  wie  in  zusammen- 
gesetzten Wörtern  die  Endungen  ab,  welche  sie  im  absoluten 
Zustande  immer  begleiten  und  sie  als  Nomina  charakterisiren. 
Fleisch,  das  wir  im  Vorigen  einverleibt  als  7taca  fanden,  heisst 
absolut  nacatl*)  Von  den  einverleibten  Pronominen  wird  keines 
in  gleicher  Form  abgesondert  gebraucht.    Die  beiden  unbestimmten 


*)  Der  Endlaut  dieses  Worts,  der  durch  seine  häufige  Wiederkehr  gewissermassen 
zum  charakteristischen  der  Mexicanischen  Sprache  wird,  findet  sich  bei  den  Spanischen 
Sprachlehrern  durchaus  mit  Ü  geschrieben.  Tapia  Zenteno  {Arte  novissima  de  lenguo. 
Mexicana.  1753.  p-  2.  3.)  nur  bemerkt,  dass  die  beiden  Consonanten  zwar  im  Anfange 
und  in  der  Mitte  der  Wörter  wie  im  Spanischen  ausgesprochen  würden,  dagegen  am 
Ende  nur  Einen,  sehr  schwer  zu  erlernenden  Laut  bildeten.  Nachdem  er  diesen  sehr  un- 
deutlich beschrieben  hat,  tadelt  er  ausdrücklich,  wenn  tlatlacolli,  Sünde,  und  tlamantli, 
Schicht,  claclacolli  und  claniancli  ausgesprochen  würden.  Da  ich  aber,  durch  die  ge- 
fällige Vermittlung  meines  Bruders,  Herrn  Alaman  und  Herrn  Castorena,  einen  Mexi- 
canischen Eingebornen,  über  diesen  Punkt  schriftlich  befragte,  erhielt  ich  zur  Antwort, 
dass  die  heutige  Aussprache  des  tl  allgemein  und  in  allen  Fällen  die  von  cl  ist.  Der 
Cora-Sprache  fehlt  das  /  und  sie  nimmt  daher  bei  Mexicanischen  Wörtern  nur  den 
ersten  Buchstaben  des  tl  in  sich  auf.  Aber  auch  die  Spanischen  Grammatiker  dieser 
Sprache  setzen  dann  immer  ein  t  (nie  ein  c),  so  dass  tlatoani,  Gouverneur,  tatoani 
lautet.  Ich  schrieb  den  Herren  Alaman  und  Castorena  noch  einmal  und  stellte  ihnen 
die  aus  der  Cora-Sprache  hervorgehende  Einwendung  entgegen.  Die  Antwort  blieb 
aber  dieselbe,  als  zuvor.  An  der  heutigen  Aussprache  ist  daher  nicht  zu  zweifeln. 
Man  geräth  nur  in  Verlegenheit,  ob  man  annehmen  soll,  dass  die  Aussprache  sich  mit 
der  Zeit  verändert  hat,  von  t  zn  k  übergegangen  ist,  oder  ob  die  Ursach  darin  liegt, 
dass  der  dem  /  vorhergehende  Laut  ein  dunkler  zwischen  t  und  A'  schwebender  ist  ? 
Auch  in  der  Aussprache  von  Eingebornen  von  Tahiti  und  den  Sandwich-Inseln  habe 
ich  selbst  erprobt,  dass  diese  Laute  kaum  von  einander  zu  unterscheiden  sind.  Ich 
halte  den  zuletzt  angedeuteten  Grund  für  den  richtigen.  Die  Spanier,  welche  sich 
zuerst  ernsthaft  mit  der  Sprache  beschäftigten,  mochten  den  dunklen  Laut  wie  ein  t 
auffassen,  und  da  sie  ihn  auf  diese  Weise  in  ihre  Schreibung  aufnahmen,  so  mag  man 
hierbei  stehen  geblieben  seyn.  Auch  aus  Tapia  Zenteno's  Aeusserung  scheint  eine  ge- 
wisse Unenlschiedenheit  des  Lauts  hervorzugehen,  die  er  nur  nicht  in  ein  nach  Spani- 
scher Weise  deutliches  cl  ausarten  lassen  will. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     29  a.      j^n 

kommen  im  absoluten  Zustande  gar  nicht  in  der  Sprache  vor. 
Die  auf  ein  bestimmtes  Object  gehenden  haben  eine  von  ihrer 
selbstständigen  mehr  oder  weniger  verschiedene  Form.  Die  be- 
schriebene Methode  zeigt  aber  schon  von  selbst,  dass  die  Einver- 
leibungsform eine  doppelte  seyn  müsse,  eine  für  das  regierende 
und  eine  für  das  regierte  Pronomen.  Die  selbstständigen  persön- 
lichen Pronomina  können  zwar  den  hier  geschilderten  Formen  zu 
besonderem  Nachdruck  vorgesetzt  werden,  die  sich  auf  sie  be- 
ziehenden einverleibten  bleiben  aber  darum  nicht  weg.  Das  in 
einem  eignen  Worte  ausgedrückte  Subject  des  Satzes  wird  nicht 
einverleibt;  sein  Vorhandenseyn  zeigt  sich  aber  an  der  Form  da- 
durch, dass  in  dieser  allemal  bei  der  dritten  Person  ein  sie  an- 
deutendes regierendes  Pronomen  fehlt. 

Wenn  man  die  Verschiedenheit  der  Art  überschlägt,  in  w^elcher 
sich  auch  der  einfache  Satz  dem  Verstände  darstellen  kann,  so 
sieht  man  leicht  ein,  dass  das  strenge  Einverleibungssystem  nicht 
durch  alle  verschiednen  Fälle  durchgeführt  werden  kann.  Es 
müssen  daher  oft  Begriffe  in  einzelnen  Wörtern  aus  der  Form, 
welche  sie  nicht  alle  umschliessen  kann,  herausgestellt  werden. 
Die  Sprache  verfolgt  aber  hierbei  immer  die  einmal  gewählte  Bahn 
und  ersinnt,  wo  sie  auf  Schwierigkeiten  stösst,  neue  künstliche 
Abhelfungsmittel.  Wenn  also  z.  B.  eine  Sache  in  Beziehung  auf 
einen  andren,  für  oder  wider  ihn  geschehen  soll  und  nun  das 
bestimmte  regierte  Pronomen,  da  es  sich  auf  zwei  Objecte  be- 
ziehen müsste,  Undeutlichkeit  erregen  würde,  so  bildet  sie,  ver- 
mittelst einer  zuwachsenden  Endung,  eine  eigne  Gattung  solcher 
Verben  und  verfähn  übrigens  wie  gewöhnlich.  Das  Schema  des 
Satzes  liegt  nun  wieder  vollständig  in  der  verknüpften  Form,  die 
Andeutung  einer  verrichteten  Sache  im  regierten  Pronomen,  die 
Nebenbeziehung  auf  einen  andren  in  der  Endung  und  sie  kann 
jetzt  mit  Sicherheit  des  Verständnisses  diese  beiden  Objecte,  ohne 
sie  mit  Kennzeichen  ihrer  Beziehung  auszustatten,  ausserhalb  nach- 
folgen lassen:  chihua,  machen,  chihui-lia,  für  oder  wider 
jemand  machen,  mit  Veränderung  des  a  in  i  nach  dem  Assi- 
123       456        7.89,1  3  2 

milationsgesetz,  ni-c-chihui-Ua  in  no-pützin  ce  calli,  ich  mache  es 

456  789 

für  der  mein   Sohn   ein   Haus. 

Die    Mexicanische    Einverleibungsmethode    zeugt    darin    von 
einem  richtigen   Gefühle    der  Bildung   des   Satzes,    dass    sie    die 


j^g  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Bezeichnung  seiner  Beziehungen  gerade  an  das  Verbum  anknüpft, 
also  an  den  Punkt,  in  welchem  sich  derselbe  zur  Einheit  zusammen- 
schlingt. Sie  unterscheidet  sich  dadurch  wesentlich  und  vortheilhaft 
von  der  Chinesischen  Andeutungslosigkeit,  in  welcher  das  Verbum 
nicht  einmal  sicher  durch  seine  Stellung,  sondern  oft  nur  materiell 
an  seiner  Bedeutung  kenntlich  ist.  In  den  bei  verwickeiteren  Sätzen 
ausserhalb  des  Verbum  stehenden  Theilen  aber  kommt  sie  der 
letzteren  wieder  vollkommen  gleich.  Denn  indem  sie  ihre  ganze 
Andeutungs-Geschäftigkeit  auf  das  Verbum  wirft,  lässt  sie  das 
Nomen  durchaus  beugungslos.  Dem  Sanskritischen  Verfahren 
nähert  sie  sich  zwar  insofern,  als  sie  den,  die  Theile  des  Satzes 
verknüpfenden  Faden  wirklich  angiebt;  übrigens  aber  steht  sie 
mit  demselben  in  einem  merkwürdigen  Gegensatz.  Das  Sanskrit 
bezeichnet  auf  ganz  einfache  und  natürliche  Weise  jedes  Wort 
als  constitutiven  Theil  des  Satzes.  Die  Einverleibungsmethode 
thut  dies  nicht,  sondern  lässt,  wo  sie  nicht  Alles  in  Eins  zusammen- 
schlagen kann,  aus  dem  Mittelpunkte  des  Satzes  Kennzeichen, 
gleichsam  wie  Spitzen  ausgehen,  die  Richtungen  anzuzeigen,  in 
welchen  die  einzelnen  Theile,  ihrem  Verhältniss  zum  Satze  gemäss, 
gesucht  werden  müssen.  Des  Suchens  und  Rathens  wird  man 
nicht  überhoben,  vielmehr  durch  die  bestimmte  Art  der  Andeutung 
in  das  entgegengesetzte  System  der  Andeutungslosigkeit  zurück- 
geworfen. Wenn  aber  auch  dies  Verfahren  auf  diese  Weise  etwas 
mit  den  beiden  übrigen  gemein  hat,  so  würde  man  seine  Natur 
dennoch  verkennen,  wenn  man  es  als  eine  Mischung  von  beiden 
ansehen  oder  es  so  auffassen  wollte,  als  hätte  nur  der  innere 
Sprachsinn  nicht  die  Kraft  besessen,  das  Andeutungssystem  durch 
alle  Theile  der  Sprache  durchzuführen.  Es  liegt  vielmehr  offenbar 
in  dieser  Mexicanischen  Satzbildung  eine  eigenthümliche  Vor- 
stellungsweise. Der  Satz  soll  nicht  construirt,  nicht  aus  Theilen 
allmählich  aufgebaut,  sondern  als  zur  Einheit  geprägte  Form  auf 
Einmal  hingegeben  werden. 

Wenn  man  es  wagt,  in  die  Uranfänge  der  Sprache  hinab- 
zusteigen, so  verbindet  zwar  der  Mensch  gewiss  immer  mit  jedem, 
als  Sprache  ausgestossenen  Laute  innerlich  einen  vollständigen 
Sinn,  also  einen  geschlossenen  Satz,  stellt  nicht  bloss,  seiner  Ab- 
sicht nach,  ein  vereinzeltes  Wort  hin,  wenn  auch  seine  Aussage 
nach  unserer  Ansicht  nur  ein  solches  enthält.  Darum  aber  kann 
man  sich  das  ursprüngliche  Verhältniss  des  Satzes  zum  Worte 
nicht  so  denken,  als  würde   ein   schon   in   sich  vollständiger   und 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     29  a.       mq 

ausführlicher  nur  nachher  durch  Abstraction  in  Wörter  zerlegt. 
Denkt  man  sich,  wie  es  doch  das  NatürUchste  ist,  die  Sprach- 
bildung successiv,  so  muss  man  ihr,  wie  allem  Entstehen  in  der 
Natur,  ein  Evolutionssystem  unterlegen.  Das  sich  im  Laut  äussernde 
Gefühl  enthält  Alles  im  Keime,  im  Laute  selbst  aber  ist  nicht 
Alles  zugleich  sichtbar.  Nur  wie  das  Gefühl  sich  klarer  ent- 
wickelt, die  Articulation  Freiheit  und  Bestimmtheit  gewinnt  und 
das  mit  Glück  versuchte  gegenseitige  Verständniss  den  A'luth  er- 
höht, werden  die  erst  dunkel  eingeschlossenen  Theile  nach  und 
nach  heller  und  treten  in  einzelnen  Lauten  hervor.  Mit  diesem 
Gange  hat  das  Mexicanische  Verfahren  eine  gewisse  Aehnlichkeit. 
Es  stellt  zuerst  ein  verbundenes  Ganzes  hin,  das  formal  vollständig 
und  genügend  ist ;  es  bezeichnet  ausdrücklich  das  noch  nicht  indi- 
viduell Bestimmte  als  ein  unbestimmtes  Etwas  durch  das  Pronomen, 
malt  aber  nachher  dies  unbestimmt  Gebliebene  einzeln  aus.^)  Es 
folgt  aus  diesem  Gange  von  selbst,  dass,  da  den  einverleibten 
Wörtern  die  Endungen  fehlen,  welche  sie  im  selbstständigen  Zu- 
stande besitzen,  man  sich  dies  in  der  Wirklichkeit  der  Sprach- 
erfindung nicht  als  ein  Abwerfen  der  Endungen  zum  Behuf  der 
Einverleibung,  sondern  als  ein  Hinzufügen  im  Zustande  der  Selbst- 
ständigkeit denken  muss.  Man  darf  mich  darum  nicht  so  mis- 
verstehen,  als  schiene  mir  deshalb  der  Mexicanische  Sprachbau 
jenen  Uranfängen  näher  zu  liegen.  Die  Anwendung  von  Zeit- 
begriffen auf  die  Entwicklung  einer  so  ganz  im  Gebiete  der 
nicht  zu  berechnenden  ursprünglichen  Seelenvermögen  liegenden 
menschlichen  Eigenthümlichkeit,  als  die  Sprache,  hat  immer  etwas 
sehr  Misliches.  Offenbar  ist  auch  die  Mexicanische  Satzbildung 
schon  eine  sehr  kunstvoll  und  oft  bearbeitete  Zusammenfügung, 
die  von  jenen  Urbildungen  nur  den  allgemeinen  Typus  beibehalten 
hat,  übrigens  aber  schon  durch  die  regelmässige  Absonderung  der 
verschiedenen  Arten  des  Pronomen  an  eine  Zeit  erinnert,  in 
welcher  eine  klarere  grammatische  Vorstellungsweise  herrscht. 
Denn  diese  Zusammenfügungen  am  Verbum  haben  sich  schon 
harmonisch  und  in  gleichem  Grade,  wie  die  Zusammenbildung 
in  eine  Worteinheit  und  die  Beugungen  des  Verbum  selbst  aus- 
gebildet.    Das  Unterscheidende  liegt  nur  darin,  dass,  was  in  den 


V  Nach  „aus"  gestrichen:  „Wenn  die  nachgebrachten  Theile  des  Satzes 
sonst  an  sich  unbezeichnet  gelassen  werden,  so  geschieht  es,  weil  schon  ihre  un- 
bestimmte Andeutung  hinreichend  bezeichnend  scheint." 


jrrv  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Uranfängen  gleichsam  die  unentwickelt  in  sich  schliessende  Knospe 
ausmacht,  in  der  Mexicanischen  Sprache  als  ein  zusammengebildetes 
Ganzes  vollständig  und  unzertrennbar  hingelegt  wird,  da  die  Chi- 
nesische es  ganz  dem  Hörer  überlässt,  die,  kaum  irgend  durch 
Laute  angedeutete  Zusammenfügung  aufzusuchen,  und  die  leben- 
digere und  kühnere  Sanskritische  sich  gleich  den  Theil  in  seiner 
Beziehung  zum  Ganzen,  sie  fest  bezeichnend,  vor  Augen  stellt. 

Die  Malayischen  Sprachen  folgen  zwar  nicht  dem  Einver- 
leibungssysteme, haben  aber  darin  mit  demselben  eine  gewisse 
Aehnlichkeit,  dass  sie  die  Richtungen,  welche  der  Gang  des  Satzes 
nimmt,  durch  sorgfältige  Bezeichnung  der  intransitiven,  transitiven 
oder  causalen  Natur  des  Verbum  angeben  und  dadurch  den 
Mangel  an  Beugungen  für  das  Yerständniss  des  Satzes  zu  ersetzen 
suchen.  Einige  von  ihnen  häufen  Bestimmungen  aller  Art  auf 
diese  Weise  am  Verbum,  so  dass  sie  sogar  gewissermassen  daran 
ausdrücken,  ob  es  im  Singularis  oder  Pluralis  steht.  Es  wird 
daher  auch  durch  Bezeichnung  am  Verbum  der  Wink  gegeben, 
wie  man  die  anderen  Theile  des  Satzes  darauf  beziehen  soll. 
Auch  ist  das  Verbum  bei  ihnen  nicht  durchaus  beugungslos.  ^) 
Der  Mexicanischen  kann  man  am  Verbum,  in  welchem  die  Zeiten 
durch  einzelne  Endbuchstaben  und  zum  Theil  offenbar  symbolisch 
bezeichnet  werden,  Flexionen  und  ein  gewisses  Streben  nach  Sans- 
kritischer Worteinheit  nicht  absprechen. 

Ein  gleichsam  geringerer  Grad  des  Einverleibungsverfahrens 
ist  es,  wenn  Sprachen  zwar  dem  Verbum  nicht  zumuthen,  ganze 
Nomina  in  den  Schooss  seiner  Beugungen  aufzunehmen,  allein 
doch  an  ihm  nicht  bloss  das  regierende  Pronomen,  sondern 
auch  das  regierte  ausdrücken.  Auch  hierin  giebt  es  verschiedene 
Nuancen,  je  nachdem  diese  Methode  sich  mehr  oder  weniger  tief 
in  der  Sprache  festgesetzt  hat  und  je  nachdem  diese  Andeutung 
auch  da  gefordert  wird,  wo  der  ausdrückliche  Gegenstand  der 
Handlung  selbstständig  nachfolgt.  Wo  diese  Beugungsart  des 
Verbum  mit  dem,  in  dasselbe  verwebten,  nach  verschiedenen 
Richtungen  hin  bedeutsamen  Pronomen  seine  volle  Ausbildung 
erreicht  hat,  wie  in  einigen  Nordamerikanischen  Sprachen  und  in 
der  Vaskischen,  da  wuchert  eine   schwer  zu   übersehende  Anzahl 


V  Dieser  Satz  hieß  ursprünglich:  „Da  aber  das  Verbum  selbst  fast  ganz 
beugungslos  ist,  so  stehen  diese  Sprachen  dem  Chinesischen  Verfahren  bei 
weitem  näher." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     29a.      j- j 

von   verbalen   Beugungsformen   auf.     Mit   bewundrungswürdiger 
Sorgfalt  aber  ist  die  Analogie  ihrer  Bildung  dergestalt  festgehalten, 
dass    das  Verständniss    an   einem   leicht   zu    erkennenden    Faden 
durch  dieselben  hindurchläuft.    Da  in  diesen  Formen  häufig   die- 
selbe Person   des   Pronomen    in    verschiedenen   Beziehungen    als 
handelnd,   als   directer  und   indirecter   Gegenstand   der  Handlung 
wiederkehrt  und  diese  Sprachen  grösstentheils   aller  Declinations- 
beugungen  ermangeln,  so  muss  es  entweder  dem  Laut  nach  ver- 
schiedene Pronominal-Affixa  in  ihnen  geben  oder  auf  irgend  eine 
andre  Weise  dem  möglichen  Misverständniss  vorgebeugt  werden. 
Hierdurch  entsteht  nun  oft  ein   höchst   kunstvoller  Bau   des  Ver- 
bum.    Als  ein  vorzügliches  Beispiel  eines  solchen   kann  man  die 
Massachusetts-Sprache  in  Neu-England,   einen  Zweig  des  grossen 
Delaware-Stamms  anführen.    Mit  den  gleichen  Pronominal-Affixen, 
zwischen  denen  sie  nicht,  wie  die  Mexicanische,  einen  Lautunter- 
schied macht,  bestimmt  sie  in  ihrer  verwickelten  Conjugation  alle 
vorkommenden  Beugungen.     Sie  bedient  sich   dazu   hauptsächlich 
des  Mittels,  in  bestimmten  Fällen  die  leidende  Person  zu   praefi- 
giren,  so  dass  man,  wenn  man  einmal  die  Regel   eingesehen  hat, 
meistentheils  gleich  am  Anfangsbuchstaben  der  Form  die  Gattung 
erkennt,  zu  welcher  sie  gehört.     Da   aber  auch   dies  Mittel   nicht 
vollkommen  ausreicht,  so  verbindet  sie  damit  andere,   namentlich 
einen  Endungslaut,   der,   wenn   die   beiden   ersten  Personen   die 
leidenden  sind,  die  dritte  als  wirkend  bezeichnet.     Dieser  Umstand, 
die  verschiedene  Bedeutung  des  Pronomen  durch  den  Ort  seiner 
Stellung  im  Verbum  anzudeuten,  hat  mir  immer  sehr  merkwürdig 
geschienen,  indem  er  entweder  eine   bestimmte  Vorstellungsweise 
in  dem  Geiste  des  Volkes  voraussetzt  oder  darauf  hinführt,   dass 
das   Ganze   der   Conjugation  gleichsam   dunkel    dem   Sprachsinne 
vorgeschwebt  habe  und  dieser  nun  w^llkührlich  sich  der  Stellung 
als  Unterscheidungsmittels  bediente.     Mir   ist  jedoch   das  Erstere 
bei   weitem   wahrscheinlicher.      Zwar   scheint   es   auf  den   ersten 
Anblick   in    der  That  willkührlich ,    wenn   die   erste   Person,   als 
regierte,  da  suffigirt  wird,  wo   die   zweite   die  handelnde   ist,   da- 
gegen dem  Verbum  da  vorangeht,  wo  die  dritte  als  wirkend  auf- 
tritt, wenn   man   mithin   immer  du   greifst   mich   und  mich 
greift   er,  nicht  umgekehrt  sagt.     Indess  mag   doch   ein  Grund 
darin  liegen,  dass  die  beiden  ersten  Personen  einen  höheren  Grad 
von   Lebendigkeit  vor  der  Phantasie    des   Volkes    ausübten    und 
dass    das   Wesen    dieser   Formen,   wie    es    nicht    unnatürlich   zu 


jr2  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

denken  ist,  von  der  betroffenen,  leidenden  Person  ausgieng.  Unter 
den  beiden  ersten  scheint  wieder  die  zweite  das  Uebergewicht  zu 
haben;  denn  die  dritte  wird,  als  leidende,  nie  praefigirt  und  die 
zweite  hat  in  demselben  Zustand  nie  eine  andre  Stellung.  Wo 
aber  die  zweite,  als  wirkend  mit  der  ersten,  als  leidenden  zu- 
sammenkommt, behauptet  die  zweite,  indem  die  Sprache  auf  andre 
Weise  für  die  Vermeidung  der  Verwechslung  sorgt,  dennoch  ihren 
vorzüglicheren  Platz.  Auch  spricht  für  diese  Ansicht,  dass  in  der 
Sprache  des  Hauptzweiges  des  Delaware-Stammes,  in  der  Lenni 
Lenape-Sprache ,  die  Stellung  des  Pronomen  in  diesen  Formen 
dieselbe  ist.  Auch  die  Mundart  der  unter  uns  durch  den  geist- 
vollen Cooperschen  Roman  bekannt  gewordenen  Mohegans  (eigent- 
lich Muhhekaneew)  scheint  sich  hiervon  nicht  zu  entfernen.  Immer 
aber  bleibt  das  Gewebe  dieser  Cönjugation  so  künstlich,  dass  man 
sich  des  Gedanken  nicht  erwehren  kann,  dass  auch  hier,  wie  schon 
weiter  oben  von  der  Sprache  überhaupt  bemerkt  worden  ist,  die 
Bildung  jedes  Theiles  in  Beziehung  auf  das  dunkel  gefühlte  Ganze 
gemacht  worden  sey.  Die  Grammatiken  geben  bloss  Paradigmen 
und  enthalten  keine  Zergliederung  des  Baues.  Ich  habe  mich  aber 
durch  eine  solche  genaue,  in  weitläuftige  Tabellen  gebrachte  aus 
Eliot's*)  Paradigmen  vollständig  von  der  in  dem  anscheinenden 
Chaos  herrschenden  Regelmässigkeit  überzeugt.  Die  Mangelhaftig- 
keit der  Hülfsmittel  erlaubt  der  Zergliederung  nicht  immer,  durch 
alle  Theile  jeder  Form  durchzudringen,  und  besonders  nicht,  das, 
was  die  Grammatiker  nur  als  Wohllautsbuchstaben  ansehen,  von 
allen  charakteristischen  zu  scheiden.  Durch  den  grössten  Theil 
der  Beugungen  aber  führen  die  erkannten  Regeln,  und  wo  hier- 
nach Fälle  zweifelhaft  bleiben,  lässt  sich  die  Bedeutung  der  Form 
doch  immer  dadurch  zeigen,  dass  sie  aus  bestimmt  anzugebenden 
Gründen  keine  andere  seyn  kann.  Dennoch  ist  es  kein  glücklicher 
Wurf,  wenn  die  innere  Organisation  eines  Volkes,  verbunden  mit 
äusseren  Umständen,  den  Sprachbau  auf  diese  Bahn  führt.  Die 
grammatischen  Formen  fügen  sich  für  den  Verstand  und  den  Laut 
in  zu  grosse  und  unbehülf  liehe  Massen  zusammen.  Die  Freiheit  der 
Rede  fühlt  sich  gebunden,  indem  sie  sich,   anstatt  den   in   seinen 


*)  John  Eliot's  Massachusetts  Grammar,  herausgegeben  von  John  Pickering. 
Boston.  1822.  Man  vergleiche  auch  David  Zeisberger's  Delaware  Grammar,  übersetzt 
von  Du  Ponceau.  Philadelphia.  1827.  und  Jonath.  Edwards  observations  on  the  language 
of  the  Muhhekaneew  Indians,  herausgegeben  von  John  Pickering.   1823. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     29  a.      j  -  o 

Verknüpfungen  wechselnden  Gedanken  aus  einzelnen  Elementen 
zusammenzusetzen,  grossentheils  ein  für  allemal  gestempelter  Aus- 
drücke bedienen  muss,  von  welchen  sie  nicht  einmal  aller  Theile 
in  jedem  Augenblicke  bedarf.  Dabei  ist  die  Verbindung  innerhalb 
dieser  zusammengesetzten  Formen  doch  zu  locker  und  zu  lose, 
als  dass  ihre  einzelnen  Theile  zu  wahrer  Worteinheit  in  einander 
verschmelzen  könnten. 

So  leidet  die  Verbindung  bei  nicht  organisch  richtig  vorge- 
nommener Trennung.  Der  hier  erhobene  Vorwurf  trifft  das  ganze 
Einverleibungsverfahren.  Die  Mexicanische  Sprache  macht  zw^ar 
dadurch  die  Worteinheit  wieder  stärker,  dass  sie  weniger  Be- 
stimmungen durch  Pronomina  in  die  Verbalbeugungen  verwebt, 
niemals  auf  diese  Weise  zwei  bestimmte  regierte  Gegenstände  an- 
deutet, sondern  die  Bezeichnung  der  indirecten  Beziehung,  wenn 
zugleich  eine  directe  da  ist,  in  die  Endung  des  Verbum  selbst 
legt;  allein  sie  verknüpft  immer  auch,  was  besser  unverbunden 
wäre.  In  Sprachen,  welche  einen  hohen  Sinn  für  die  Worteinheit 
verrathen,  ist  zwar  auch  bisweilen  die  Andeutung  des  regierten 
Pronomen  an  der  Verbalform  eingedrungen,  wie  z.  B.  im 
Hebräischen  diese  regierten  Pronomina  suftigirt  werden.  Allein 
die  Sprache  giebt  hier  selbst  zu  erkennen,  welchen  Unterschied 
sie  zwischen  diesen  Pronominen  und  denen  der  handelnden  Per- 
sonen, welche  wesentlich  zur  Natur  des  Verbum  selbst  gehören, 
macht.  Denn  indem  sie  diese  letzteren  in  die  allerengste  Ver- 
bindung mit  dem  Stamme  setzt,  hängt  sie  die  ersteren  locker  an, 
ja  trennt  sie  bisweilen  gänzlich  vom  Verbum  und  stellt  sie  für 
sich  hin. 

Die  Sprachen,  welche  auf  diese  Weise  die  Gränzen  der  Wort- 
und  Satzbildung  in  einander  überführen,  pflegen  der  Declination 
zu  ermangeln,  entweder  gar  keine  Casus  zu  haben  oder,  wie  die 
A^askische,  den  Xominativus  nicht  immer  im  Laut  vom  Accusa- 
tivus  zu  unterscheiden.  Man  darf  aber  dies  nicht  als  die  Ursache 
jener  Einfügung  des  regierten  Objects  ansehen,  als  w^ollten  sie 
gleichsam  der  aus  dem  Declinationsmangel  entstehenden  Undeut- 
lichkeit  vorbeugen.  Dieser  Mangel  ist  vielmehr  die  Folge  jenes 
Verfahrens.  Denn  der  Grund  dieser  ganzen  Verwechslung  dessen, 
was  dem  Theile  und  was  dem  Ganzen  des  Satzes  gebührt,  liegt 
darin,  dass  dem  Geiste  bei  der  Organisation  der  Sprache  nicht 
der  richtige  Begriff  der  einzelnen  Redetheile  vorgeschwebt  hat. 
Aus  diesem  würde  unmittelbar  selbst  zugleich  die  Declination  des 


IZA  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Nomen  und  die  Beschränkung  der  Verbalformen  auf  ihre  wesent- 
lichen Bestimmungen  hervorgesprungen  seyn.  Gerieth  man  aber 
statt  dessen  zuerst  auf  den  Weg,  das  bloss  in  der  Construction 
Zusammengehörende  auch  im  Worte  eng  zusammenzuhalten,  so 
erschien  natürlich  die  Ausbildung  des  Nomen  minder  nothwendig. 
Sein  Bild  war  in  der  Phantasie  des  Volkes  nicht  als  Theil  des 
Satzes  vorherrschend,  sondern  wurde  bloss  als  erklärender  Be- 
griff nachgebracht.  Das  Sanskrit  hat  sich  von  dieser  Verwebung 
regierter  Pronomina  in  das  Verbum  durchaus  frei  erhalten. 

Ich  habe  bisher  einer  andren  Verbindung  des  Pronomen  in 
Fällen,  wo  es  natürlicher  unverbunden  steht,  nemlich  des  Besitz- 
pronomen mit  dem  Nomen  nicht  erwähnt,  weil  derselben  zu- 
gleich und  sogar  hauptsächlich  etwas  anderes,  als  das,  wovon 
wir  hier  reden,  zum  Grunde  liegt.  Die  Mexicanische  Sprache  hat 
eine  eigen  für  das  Besitzpronomen  bestimmte  Abkürzung  und 
das  Pronomen  umschlingt  auf  diese  Weise  in  zwei  abgesonderten 
Formen  die  beiden  Haupttheile  der  Sprache.  Im  Mexicanischen 
und  nicht  bloss  in  dieser  Sprache  hat  diese  Verbindung  zugleich 
eine  syntaktische  Anwendung  und  gehört  daher  genau  hierher. 
Man  bedient  sich  nemlich  der  Zusammenfügung  des  Pronomen 
der  dritten  Person  mit  dem  Nomen  als  einer  Andeutung  des 
Genitiv- Verhältnisses,  indem  man  das  im  Genitiv  stehende  Nomen 
nachfolgen  lässt,  sein  Haus  der  Gärtner  statt  das  Haus  des 
Gärtners  sagt.  Man  sieht,  dass  dies  gerade  dasselbe  Verfahren, 
als  bei  dem,  ein  nachgesetztes  Substantiv  regierenden  A^erbum  ist. 

Die  Verbindungen  mit  dem  Besitzpronomen  sind  im  Mexica- 
nischen nicht  bloss  überhaupt  viel  häutiger,  als  die  Hinzufügung 
desselben  unsrer  Vorstellungsweise  nothwendig  erscheint,  sondern 
mit  gewissen  Begriffen,  z.  B.  denen  der  Verwandtschaftsgrade  und 
der  Glieder  des  menschlichen  Körpers  ist  dies  Pronomen  gleich- 
sam unablöslich  verwachsen.  Wo  keine  einzelne  Person  zu  be- 
stimmen ist,  fügt  man  dem  Verwandtschaftsgrade  das  unbestimmte 
persönliche  Pronomen,  den  Gliedmassen  des  Körpers  das  der  ersten 
Person  des  Plurals  hinzu.  Man  sagt  daher  nicht  leicht  nantli,  d  i  e 
Mutter,  sondern  gewöhnlich  te-nan,  jemandes  Mutter,  und 
ebensowenig  maitl,  die  Hand,  sondern  to-ma,  unsere  Hand. 
Auch  in  vielen  andren  Amerikanischen  Sprachen  geht  das  An- 
knüpfen dieser  Begriffe  an  das  Besitzpronomen  bis  zur  anschei- 
nenden Unmöglichkeit  der  Trennung  davon.  Hier  ist  der  Grund 
nun  wohl  offenbar  kein  syntaktischer,  sondern  liegt  vielmehr  noch 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschleciits.     29a.      j-- 

tiefer  in  der  Vorstellungsweise  des  Volks.  Wo  der  Geist  noch 
wenig  an  Abstraction  gewöhnt  ist,  fasst  er  in  Eins,  was  er  oft  an 
einander  anknüpft,  und  was  der  Gedanke  schwer  oder  überall 
nicht  zu  sondern  vermag,  das  verbindet  die  Sprache,  wo  sie  über- 
haupt zu  solchen  ^^erknüpfungen  hinneigt,  in  Ein  Wort.  Solche 
Wörter  erhalten  nachher,  als  ein  für  allemal  gestempelte  Gepräge, 
Umlauf  und  die  Sprechenden  denken  nicht  mehr  daran,  ihre 
Elemente  zu  trennen.  Die  beständige  Beziehung  der  Sache  auf 
die  Person  liegt  überdies  in  der  ursprünglicheren  Ansicht  des 
Menschen  und  beschränkt  sich  erst  bei  steigender  Cultur  auf  die 
Fälle,  in  welchen  sie  wirklich  nothwendig  ist.  In  allen  Sprachen, 
welche  stärkere  Spuren  jenes  früheren  Zustandes  enthalten,  spielt 
daher  das  persönliche  Pronomen  eine  wichtigere  Rolle.  In  dieser 
Ansicht  bestätigen  mich  auch  einige  andere  Erscheinungen.  Im 
Mexicanischen  bemächtigen  sich  die  Besitzpronomina  dergestalt 
des  Wortes,  dass  die  Endungen  desselben  gewöhnlich  verändert 
werden  und  diese  Verknüpfungen  durchaus  eine  ihnen  eigne 
Pluralendung  haben.  Eine  solche  Umgestaltung  des  ganzen 
Wortes  beweist  sichtbar,  dass  es  auch  innerlich  als  ein  neuer 
individueller  Begriff,  nicht  als  eine  bloss  gelegentlich  in  der  Rede 
vorkommende  Verknüpfung  zweier  verschiedener  angesehen  wird. 
In  der  Hebräischen  Sprache  zeigt  sich  der  Einfluss  der  verschie- 
denen Festigkeit  der  Begritfsverknüpfung  auf  die  Wortv^erknüpfung 
in  besonders  bedeutsamen  Nuancen.  Am  festesten  und  engsten 
schliessen  sich,  wie  schon  oben  bemerkt  worden  ist,  an  den  Stamm 
die  Pronomina  der  handelnden  Person  des  Verbum  an,  weil  dieses 
gar  nicht  ohne  sie  gedacht  werden  kann.  Die  dann  folgende 
festere  Verbindung  gehört  dem  Besitzpronom.en  an  und  am 
losesten  tritt  das  Pronomen  des  Objects  des  Verbum  zu  dem 
Stamme  hinzu.  Nach  rein  logischen  Gründen  sollte  bei  den 
beiden  letzten  Fällen,  wenn  man  überhaupt  in  ihnen  einen  Unter- 
schied gestatten  wollte,  die  grössere  Festigkeit  auf  der  Seite  des 
vom  Verbum  regienen  Objects  seyn.  Denn  offenbar  wird  dieses 
nothwendiger  vom  transitiven  Verbum,  als  das  Besitzpronomen 
im  Allgemeinen  vom  Nomen  gefordert.  Dass  die  Sprache  hier 
den  entgegengesetzten  Weg  wählt,  kann  kaum  einen  andren  Grund, 
ds  den  haben,  dass  dies  Verhältniss  in  den  Fällen,  die  es  am 
häufigsten  mit  sich  führt,  sich  dem  Volke  in  individueller  Einheit 
darstellte. 

Wenn  man  zu  dem  Einverleibungssysteme,  wie   man   streng 


j  rQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

genommen  thun  muss,  alle  die  Fälle  rechnet,  wo  dasjenige,  was 
einen  eignen  Satz  bilden  könnte,  in  eine  Wortform  zusammen- 
gezogen wird,  so  finden  sich  Beispiele  desselben  auch  in  Sprachen, 
die  ihm  übrigens  fremd  sind.  Sie  kommen  aber  alsdann  gewöhn- 
licher so  vor,  dass  sie  in  zusammengesetzten  Sätzen  zur  Vermei- 
dung von  Zwischensätzen  gebraucht  werden.  Wie  die  Einver- 
leibung im  einfachen  Satze  mit  der  Beugungslosigkeit  des  Nomen 
zusammenhängt,  so  ist  dies  hier  entweder  mit  dem  Mangel  eines 
Relativpronomen  und  gehöriger  Conjunctionen  oder  mit  der  ge- 
ringeren Gewohnheit  der  Fall,  sich  dieser  Verbindungsmittel  zu 
bedienen.  In  den  Semitischen  Sprachen  ist  der  Gebrauch  des 
s^aius  co7istriictus  auch  in  diesen  Fällen  weniger  auffallend,  da  sie 
überhaupt  der  Einverleibung  nicht  abgeneigt  sind.  Allein  auch 
im  Sanskrit  brauche  ich  hier  nur  an  die  in  twä  und  ya  ausgehenden 
sogenannten  beugungslosen  Participia  und  selbst  an  die  Composita 
zu  erinnern,  die,  wie  die  Bahuwrihi's,  ganze  Relativsätze  in  sich 
schliessen.  Die  letzteren  sind  nur  in  geringerem  Masse  in  die 
Griechische  Sprache  übergegangen,  welche  überhaupt  auch  von 
dieser  Art  der  Einverleibung  einen  weniger  häufigen  Gebrauch 
macht.  Sie  bedient  sich  mehr  des  Mittels  verknüpfender  Con- 
junctionen. Sie  vermehrt  sogar  lieber  die  Arbeit  des  Geistes 
durch  unverbunden  gelassene  Constructionen,  als  sie  durch  allzu 
grosse  Zusammenziehungen  dem  Periodenbau  eine  gewisse  Un- 
gelenkigkeit  aufbürdet,  von  welcher,  in  Vergleichung  mit  ihr,  das 
Sanskrit  nicht  immer  ganz  frei  zu  sprechen  ist.  Es  ist  hier  der 
nemliche  Fall,  als  da,  wo  die  Sprachen  überhaupt  als  Eins  ge- 
prägte Wortformen  in  Sätze  auflösen.  Nur  braucht  der  Grund 
zu  diesem  Verfahren  nicht  immer  die  Abstumpfung  der  Formen 
bei  geschwächter  Bildungskraft  der  Sprachen  zu  seyn.  Auch  da, 
wo  sich  eine  solche  nicht  annehmen  lässt,  kann  die  Gewöhnung 
an  richtigere  und  kühnere  Trennung  der  Begriffe  auflösen,  was, 
zwar  sinnlich  und  lebendig,  allein  dem  Ausdruck  der  wechselnden 
und  geschmeidigen  Gedankenverknüpfung  weniger  angemessen,  in 
Eins  zusammengegossen  war.  Die  Gränzbestimmung,  was  und 
wie  viel  in  Einer  Form  verbunden  werden  kann,  erfordert  einen 
zarten  und  feinen  grammatischen  Sinn,  wie  er  unter  allen  Nationen 
wohl  vorzugsweise  den  Griechen  ursprünglich  eigen  war  und  sich 
in  ihrem,  durchaus  mit  reichem  und  sorgfältigem  Gebrauche  der 
Sprache  verschlungenen  Leben  bis  zur  höchsten  Verfeinerung 
ausbildete. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     29  a.  b.    j :: -' 


Congruenz   der  Lautformen   der  Sprache   mit   den 
grammatischen   Forderungen. 

Die  grammatische  Formung  entspringt  aus  den  Gesetzen  des  29."- 
Denkens  durch  Sprache  und  beruht  auf  der  Congruenz  der  Laut- 
formen mit  denselben.  Eine  solche  Congruenz  muss  auf  irgend 
eine  Weise  in  Jeder  Sprache  vorhanden  seyn;  der  Unterschied  liegt 
nur  in  den  Graden  und  die  Schuld  mangelnder  \'ollendung  kann 
das  nicht  gehörig  deutliche  Hen^orspringen  jener  Gesetze  in  der 
Seele  oder  die  nicht  ausreichende  Geschmeidigkeit  des  Laut- 
systemes  treffen.  Der  Mangel  in  dem  einen  Punkte  wirkt  aber 
immer  zugleich  auf  den  andren  zurück.  Die  Vollendung  der 
Sprache  fordert,  dass  jedes  Wort  als  ein  bestimmter  Redetheil 
gestempelt  sey  und  diejenigen  Beschaffenheiten  an  sich  trage, 
welche  die  philosophische  Zergliederung  der  Sprache  an  ihm  er- 
kennt. Sie  setzt  dadurch  selbst  Flexion  voraus.  Es  fragt  sich 
nun  also,  auf  welche  Weise  der  einfachste  Theil  der  vollendeten 
Sprachbildung,  die  Ausprägung  eines  Wortes  zum  Redetheil  durch 
Flexion  in  dem  Geiste  eines  Volkes  vor  sich  gehend  gedacht 
werden  kann?  Reiiectirendes  Bewusstseyn  der  Sprache  lässt  sich 
bei  ihrem  Ursprünge  nicht  voraussetzen  und  würde  auch  keine 
schöpferische  Kraft  für  die  Lautformung  in  sich  tragen.  Jeder 
Vorzug,  den  eine  Sprache  in  diesen  wahrhaft  vitalen  Theilen  ihres 
Organismus  besitzt,  geht  ursprünglich  aus  der  lebendigen,  sinn- 
lichen Weltanschauung  hervor.  Weil  aber  die  höchste  und  von 
der  Wahrheit  am  wenigsten  abirrende  Kraft  aus  der  reinsten  Zu- 
sammenstimmung aller  Geistesvermögen,  deren  idealischste  Blüthe 
die  Sprache  selbst  ist,  entspringt,  so  wirkt  das  aus  der  Welt- 
anschauung Geschöpfte  von  selbst  auf  die  Sprache  zurück.  So 
ist  es  nun  auch  hier.  Die  Gegenstände  der  äusseren  Anschauung, 
so  wie  der  innren  Empfindung  stellen  sich  in  zwiefacher  Be- 
ziehung dar,  in  ihrer  besondren  qualitativen  Beschaffenheit,  welche 
sie  individuell  unterscheidet,  und  in  ihrem  allgemeinen,  sich  für 
die  gehörig  regsame  Anschauung  immer  auch  durch  etwas  in  der 
Erscheinung  und  dem  Gefühl  offenbarenden  GattungsbegriflP;  der 
Flug  eines  Vogels  z.  B.  als  diese  bestimmte  Bewegung  durch 
Flügelkraft,  zugleich  aber  als  die  unmittelbar  vorübergehende  und 
nur  an  diesem  Vorübergehen  festzuhaltende  Handlung,  und  auf 
ähnliche  Weise  in  allen  andren  Fällen.     Eine  aus  der  regsten  und 


jrg  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

harmonischsten  Anstrengung  der  Kräfte  hervorgehende  Anschau- 
ung erschöpft  alles,  sich  in  dem  Angeschauten  Darstellende  und 
vermischt  nicht  das  Einzelne,  sondern  legt  es  in  Klarheit  aus  ein- 
ander. Aus  dem  Erkennen  jener  doppelten  Beziehung  der  Gegen- 
stände nun,  dem  Gefühle  ihres  richtigen  Verhältnisses  und  der 
Lebendigkeit  des  von  jeder  einzelnen  hervorgebrachten  Eindrucks 
entspringt,  wie  von  selbst,  die  Flexion,  als  der  sprachliche  Aus- 
druck des  Angeschauten  und  Gefühlten. 

Es  ist  aber  zugleich  merkwürdig  zu  sehen,  auf  welchem  ver- 
schiedenen Wege  die  geistige  Ansicht  hier  zur  Satzbildung  gelangt. 
Sie  geht  nicht  von  seiner  Idee  aus,  setzt  ihn  nicht  mühevoll  zu- 
sammen, sondern  gelangt  zu  ihm,  ohne  es  noch  zu  ahnden,  indem 
sie  nur  dem  scharf  und  vollständig  aufgenommenen  Eindruck  des 
Gegenstandes  Gestaltung  im  Laute  ertheilt.  Indem  dies  jedesmal 
richtig  und  nach  demselben  Gefühle  geschieht,  ordnet  sich  der 
Gedanke  aus  den  so  gebildeten  Wörtern  zusammen.  In  ihrem 
wahren,  inneren  Wesen  ist  die  hier  erwähnte  geistige  Verrichtung 
ein  unmittelbarer  Ausfluss  der  Stärke  und  Reinheit  des  ursprüng- 
lich im  Menschen  liegenden  Sprachvermögens.  Anschauung  und 
Gefühl  sind  nur  gleichsam  die  Handhaben,  an  welchen  sie  in  die 
äussere  Erscheinung  herübergezogen  wird,  und  dadurch  ist  es 
begreiflich,  dass  in  ihrem  letzten  Resultate  so  unendlich  mehr 
liegt,  als  diese,  an  sich  betrachtet,  darzubieten  scheint.  Die  Ein- 
verleibungsmethode befindet  sich,  streng  genommen,  in  ihrem 
Wesen  selbst  in  wahrem  Gegensatze  mit  der  Flexion,  indem  diese 
vom  Einzelnen,  sie  aber  vom  Ganzen  ausgeht.  Nur  theilweise 
kann  sie  durch  den  siegreichen  Einfluss  des  inneren  Sprachsinnes 
wieder  zu  ihr  zurückkehren.  Immer  aber  verräth  sich  in  ihr,  dass 
durch  seine  geringere  Stärke  die  Gegenstände  sich  nicht  in  gleicher 
Klarheit  und  Sonderung  der  in  ihnen  das  Gefühl  einzeln  be- 
rührenden Punkte  vor  der  Anschauung  darlegen.  Indem  sie  aber 
dadurch  auf  ein  anderes  Verfahren  geräth,  erlangt  sie  durch  das 
lebendige  Verfolgen  dieser  neuen  Bahn  wieder  eine  eigen- 
thümliche  Kraft  und  Frische  der  Gedankenverknüpfung.  Die 
Beziehung  der  Gegenstände  auf  ihre  allgemeinsten  Gattungs- 
begriffe, welchen  die  Redetheile  entsprechen,  ist  eine  ideale 
und  ihr  allgemeinster  und  reinster  symbolischer  Ausdruck  wird 
von  der  Persönlichkeit  hergenommen,  die  sich  zugleich,  auch 
sinnlich,  als  ihre  natürlichste  Bezeichnung  darstellt.  So  knüpft 
sich  das   weiter   oben   von    der   sinnvollen  Verwebung    der  Pro- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     29  b.      l^Q 

nominalstämme    in    die    grammatischen   Formen   Gesagte    wieder 
hier  an. 

Ist  einmal  Flexion  in  einer  Sprache  wahrhaft  vorwaltend,  so 
folgt  die  fernere  Ausspinnung  des  Flexionss3'stems  nach  vollendeter 
grammatischer  Ansicht  von  selbst  und  es  ist  schon  oben  ange- 
deutet worden,  wie  die  weitere  Entwicklung  sich  bald  neue  Formen 
schafft,  bald  sich  in  vorhandene,  aber  bis  dahin  nicht  in  verschie- 
dener Bedeutsamkeit  gebrauchte,  auch  bei  Sprachen  desselben 
Stammes,  hineinbaut.  Ich  darf  hier  nur  an  die  Entstehung  des 
Griechischen  Plusquamperfectum  aus  einer  bloss  verschiedenen 
Form  eines  Sanskritischen  Aoristes  erinnern.  Denn  bei  dem,  nie 
zu  übergehenden  Einfluss  der  Lautformung  auf  diesen  Punkt  darf 
man  nicht  mit  einander  verwechseln,  ob  die  letztere  auf  die  Unter- 
scheidung der  mannigfaltigen  grammatischen  Begriffe  beschränkend 
einwirkt  oder  dieselben  nur  nicht  vollständig  in  sich  aufgenommen 
hat.  Es  kann,  auch  bei  der  richtigsten  Sprachansicht,  in  früherer 
Periode  der  Sprache  ein  Uebergewicht  der  sinnlichen  Formen- 
schöpfung geben,  in  welchem  einem  und  demselben  grammatischen 
Begriff  eine  Mannigfaltigkeit  von  Formen  entspricht.  Die  Wörter 
stellten  sich  in  diesen  früheren  Perioden,  wo  der  innerlich  schöpfe- 
rische Geist  des  Menschen  ganz  in  die  Sprache  versenkt  war,  selbst 
als  Gegenstände  dar,  ergriffen  die  Einbildungskraft  durch  ihren 
Klang  und  machten  ihre  besondere  Natur  in  Vielförmigkeit  vor- 
herrschend geltend.  Erst  später  und  allmählich  gewann  die  Be- 
stimmtheit und  die  Allgemeinheit  des  grammatischen  Begriffs 
Ivraft  und  Gewicht,  bemächtigte  sich  der  Wörter  und  unterwarf 
sie  ihrer  Gleichförmigkeit.  Auch  im  Griechischen,  besonders  in 
der  Homerischen  Sprache  haben  sich  bedeutende  Spuren  jenes 
früheren  Zustandes  erhalten.  Im  Ganzen  aber  zeigt  sich  gerade 
in  diesem  Punkte  der  merkwürdige  Unterschied  zwischen  dem 
Griechischen  und  dem  Sanskrit,  dass  das  erstere  die  Formen  ge- 
nauer nach  den  grammatischen  Begriffen  umgränzt  und  ihre 
Mannigfaltigkeit  sorgfältiger  benutzt,  feinere  Abstufungen  der- 
selben zu  bezeichnen,  w^ogegen  das  Sanskrit  die  technischen  Be- 
zeichnungsmittel mehr  heraushebt,  sie  auf  der  einen  Seite  in 
grösserem  Reichthum  anwendet,  auf  der  andren  aber  dennoch 
besser,  einfacher  und  mit  weniger  zahlreichen  Ausnahmen 
festhält. 


iQq  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


Hauptunterschied    der  Sprachen    nach    der   Reinheit 
ihres   Bildungsprincips. 

Da  die  Sprache,  wie  ich  bereits  öfter  im  Obigen  bemerkt 
habe,  immer  nur  ein  ideales  Daseyn  in  den  Köpfen  und  Gemüthern 
der  Menschen,  niemals,  auch  in  Stein  oder  Erz  gegraben,  ein 
materielles  besitzt  und  auch  die  Kraft  der  nicht  mehr  gesprochenen, 
insofern  sie  noch  von  uns  empfunden  werden  kann,  grossentheils  von 
der  Stärke  unsres  eignen  Wiederbelebungsgeistes  abhängt,  so  kann 
es  in  ihr  ebensowenig,  als  in  den  unaufhörlich  fortflammenden  Ge- 
danken der  Menschen  selbst  einen  Augenblick  wahren  Stillstandes 
geben.  Es  ist  ihre  Natur,  ein  fortlaufender  Entwicklungsgang 
unter  dem  Einflüsse  der  jedesmaligen  Geisteskraft  der  Redenden 
zu  seyn.  In  diesem  Gange  entstehen  natürlich  zwei  bestimmt  zu 
unterscheidende  Perioden,  die  eine,  wo  der  lautschaffende  Trieb 
der  Sprache  noch  im  Wachsthum  und  in  lebendiger  Thätigkeit 
ist,  die  andre,  wo,  nach  vollendeter  Gestaltung  wenigstens  der 
äussren  Sprachform,  ein  scheinbarer  Stillstand  eintritt  und  dann 
eine  sichtbare  Abnahme  jenes  schöpferischen  sinnlichen  Triebes 
folgt.  Allein  auch  aus  der  Periode  der  Abnahme  können  neue 
Lebensprincipe  und  neu  gelingende  Umgestaltungen  der  Sprache 
hervorgehen,  wie  ich  in  der  Folge  näher  berühren  werde. 

In  dem  Entwicklungsgange  der  Sprachen  überhaupt  wirken 
zwei  sich  gegenseitig  beschränkende  Ursachen  zusammen,  das  ur- 
sprünglich die  Richtung  bestimmende  Princip  und  der  Einfluss 
des  schon  hervorgebrachten  Stoffes,  dessen  Gewalt  immer  in  um- 
gekehrtem Verhältniss  mit  der  sich  geltend  machenden  Kraft  des 
Princips  steht.  An  dem  Vorhandenseyn  eines  solchen  Princips  in 
jeder  Sprache  kann  nicht  gezweifelt  werden.  So  wie  ein  Volk 
oder  eine  menschliche  Denkkraft  überhaupt  Sprachelemente  in 
sich  aufnimmt,  muss  sie  dieselben,  selbst  unwillkührlich  und  ohne 
zum  deutlichen  Bewusstseyn  davon  zu  gelangen,  in  eine  Einheit 
verbinden,  da  ohne  diese  Operation  weder  ein  Denken  durch 
Sprache  im  Individuum  noch  ein  gegenseitiges  Verständniss  möglich 
wäre.  Eben  dies  müsste  man  annehmen,  wenn  man  bis  zu  einem 
ersten  Hervorbringen  einer  Sprache  aufsteigen  könnte.  Jene  Einheit 
aber  kann  nur  die  eines  ausschliesslich  vorwaltenden  Princips  seyn. 
Nähert  sich  dies  Princip  dem  allgemeinen  sprachbildenden  Principe 
im  Menschen  so  weit,  als  dies  die   nothwendige  Individualisirung 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     30.       ißi 

■desselben  erlaubt,  und  durchdringt  es  die  Sprache  in  voller  und 
ungeschwächter  Kraft,  so  wird  diese  alle  Stadien  ihres  Entwick- 
lungsganges dergestalt  durchlaufen,  dass  an  die  Stelle  einer  schwin- 
denden Kraft  immer  wieder  eine  neue,  der  sich  fortschlingenden 
Bahn  angemessene  eintritt.  Denn  es  ist  jeder  intellectuellen  Ent- 
wicklung eigen,  dass  die  Kraft  eigentlich  nicht  abstirbt,  sondern 
nur  in  ihren  Functionen  wechselt  oder  eines  ihrer  Organe  durch 
ein  anderes  ersetzt.  Mischt  sich  aber  schon  dem  ersten  Principe 
etwas  nicht  in  der  Nothwendigkeit  der  Sprachform  Gegründetes 
bei  oder  durchdringt  das  Princip  nicht  wahrhaft  den  Laut  oder 
schliesst  sich  an  einen  nicht  rein  organischen  Stoff  zu  noch 
grösserer  Abweichung  anderes  gleich  Verbildetes  an,  so  stellt  sich 
dem  natürlichen  Entwicklungsgange  eine  fremde  Gewalt  gegen- 
über und  die  Sprache  kann  nicht,  wie  es  sonst  bei  jeder  richtigen 
Entwicklung  intellectueller  Kräfte  der  Fall  seyn  muss,  durch  die 
Verfolgung  ihrer  Bahn  selbst  neue  Stärke  gewinnen.  Auch  hier,  wie 
bei  der  Bezeichnung  der  mannigfaltigen  Gedankenverknüpfungen, 
bedarf  die  Sprache  der  Freiheit  und  man  kann  es  als  ein  sicheres 
Merkmal  des  reinsten  und  gelungensten  Sprachbaues  ansehen,  wenn 
in  demselben  die  Formung  der  Wörter  und  der  Fügungen  keine 
andren  Beschränkungen  erleidet,  als  nothwendig  sind,  mit  der 
Freiheit  auch  Gesetzmässigkeit  zu  verbinden,  d.  h.  der  Freiheit 
durch  Schranken  ihr  eignes  Daseyn  zu  sichern.  Mit  dem  richtigen 
Entwicklungsgange  der  Sprache  steht  der  des  intellectuellen  \er- 
mögens  überhaupt  in  natüriichem  Einklänge.  Denn  da  das  Be- 
dürfniss  des  Denkens  die  Sprache  im  Menschen  weckt,  so  muss, 
was  rein  aus  ihrem  Begriffe  abfliesst,  auch  nothwendig  das  ge- 
lingende Fortschreiten  des  Denkens  befördern,  ^^ersänke  aber 
auch  eine  mit  solcher  Sprache  begabte  Nation  durch  andere  Ur- 
sachen in  Geistesträgheit  und  Schwäche,  so  würde  sie  sich  immer 
an  ihrer  Sprache  selbst  leichter  aus  diesem  Zustande  hervorarbeiten 
können.  Umgekehrt  muss  das  intellectuelle  Vermögen  aus  sich 
selbst  Hebel  seines  Aufschwunges  finden,  wenn  ihm  eine,  von 
jenem  richtigen  und  natürlichen  Entwicklungsgange  abweichende 
Sprache  zur  Seite  steht.  Es  wird  alsdann  durch  die  aus  ihm 
selbst  geschöpften  Mittel  auf  die  Sprache  einwirken,  nicht  zwar 
schaffend,  da  ihre  Schöpfungen  nur  das  Werk  ihres  eignen  Lebens- 
triebes seyn  können,  allein  in  sie  hineinbauend,  ihren  Formen  einen 
Sinn  leihend  und  eine  Anwendung  verstattend,  den  sie  nicht  hinein- 
gelegt und  zu  der  sie  nicht  geführt  hatte. 

W.  V.  Humboldt,  Werke.    VII.  II 


l52  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Wir  können  nun  in  der  zahllosen  Mannigfaltigkeit  der  vor- 
handenen und  untergegangenen  Sprachen  einen  Unterschied  fest- 
stellen, der  für  die  fortschreitende  Bildung  des  Menschengeschlechts 
von  entschiedner  Wichtigkeit  ist,  nemlich  den  zwischen  Sprachen, 
die  sich  aus  reinem  Principe  in  gesetzmässiger  Freiheit  kräftig  und 
consequent  entwickelt  haben,  und  zwischen  solchen,  die  sich  dieses 
Vorzuges  nicht  rühmen  können.  Die  ersten  sind  die  gelungenen 
Früchte  des  in  mannigfaltiger  Bestrebung  im  Menschengeschlecht 
wuchernden  Sprachtriebes.  Die  letzten  haben  eine  abweichende 
Form,  in  welcher  zwei  Dinge  zusammentreffen,  Mangel  an  Stärke 
des  ursprünglich  immer  im  Menschen  rein  liegenden  Sprachsinnes 
und  eine  einseitige,  aus  dem  Umstände  entspringende  Verbildung,, 
dass  an  eine  nicht  aus  der  Sprache  nothwendig  herfiiessende  Laut- 
form andere,  durch  sie  an  sich-  gerissene   angeschlossen  werden^ 

Die  obigen  Untersuchungen  geben  einen  Leitfaden  an  die 
Hand,  dies  in  den  wirklichen  Sprachen,  wie  sehr  man  auch  an- 
fangs in  ihnen  eine  verwirrende  Menge  von  Einzelnheiten  zu  sehen 
glaubt,  zu  erforschen  und  in  einfacher  Gestalt  darzustellen.  Denn 
wir  haben  gesucht  zu  zeigen,  worauf  es  in  den  höchsten  Principien 
ankommt,  und  dadurch  Punkte  festzustellen,  zu  welchen  sich  die 
Sprachzergliederung  erheben  kann.  Wie  auch  diese  Bahn  noch 
wird  erhellt  und  geebnet  werden  können,  so  begreift  man  die 
Möglichkeit,  in  jeder  Sprache  die  Form  aufzufinden,  aus  welcher 
die  Beschaffenheit  ihres  Baues  fliesst,  und  sieht  nun  in  dem  eben 
Entwickelten  den  Massstab  ihrer  Vorzüge  und  ihrer  Mängel. 

Wenn  es  mir  gelungen  ist,  die  Flexionsmethode  in  ihrer 
ganzen  Vollständigkeit  zu  schildern,  wie  sie  allein  dem  Worte 
vor  dem  Geiste  und  dem  Ohre  die  wahre  innere  Festigkeit  ver- 
leiht und  zugleich  mit  Sicherheit  die  Theile  des  Satzes,  der  noth- 
wendigen  Gedankenverschlingung  gemäss  ,  auseinander  wirft ,  so 
bleibt  es  unzweifelhaft,  dass  sie  ausschliesslich  das  reine  Princip 
des  Sprachbaues  in  sich  bewahrt.  Da  sie  jedes  Element  der  Rede  in 
seiner  zwiefachen  Geltung,  seiner  objectiven  Bedeutung  und  seiner 
subjectiven  Beziehung  auf  den  Gedanken  und  die  Sprache  nimmt 
und  dies  Doppelte  in  seinem  verhältnissmässigen  Gewichte  durch 
darnach  zugerichtete  Lautformen  bezeichnet,  so  steigert  sie  das 
ursprünglichste  Wesen  der  Sprache,  die  Articulation  und  die 
Symbolisirung,  zu  ihren  höchsten  Graden.  Es  kann  daher  nur 
die  Frage  seyn,  in  welchen  Sprachen  diese  Methode  am  conse- 
quentesten,  vollständigsten  und  freiesten  bewahrt  ist.    Den  Gipfel 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     30.       iß*? 

hierin  mag  keine  wirkliche  Sprache  erreicht  haben.  Allein  einen 
Unterschied  des  Grades  sahen  war  oben  zwischen  den  Sanskri- 
tischen und  Semitischen  Sprachen:  in  den  letzteren  die  Flexion 
in  ihrer  wahrsten  und  unverkennbarsten  Gestalt  und  verbunden 
mit  der  feinsten  Symbolisirung,  allein  nicht  durchgeführt  durch 
alle  Theile  der  Sprache  und  beschränkt  durch  mehr  oder  minder 
zufällige  Gesetze,  die  zweisylbige  Wortform,  die  ausschliesslich 
zu  Flexionsbezeichnung  verwendeten  Vocale,  die  Scheu  vor  Zu- 
sammensetzung; in  den  ersteren  die  Flexion  durch  die  Festigkeit 
der  Worteinheit  von  jedem  Verdachte  der  Agglutination  gerettet, 
durch  alle  Theile  der  Sprache  durchgeführt  und  in  der  höchsten 
Freiheit  in  ihr  waltend. 

Verglichen  mit  dem  einverleibenden  und  ohne  wahre  Wort- 
einheit lose  anfügenden  Verfahren,  erscheint  die  Flexionsmethode 
als  ein  geniales,  aus  der  wahren  Intuition  der  Sprache  hervor- 
gehendes Princip.  Denn  indem  solche  Sprachen  ängstlich  bemüht 
sind,  das  Einzelne  zum  Satz  zu  vereinigen  oder  den  Satz  gleich 
auf  einmal  vereint  darzustellen,  stempelt  sie  unmittelbar  den  Theil 
der  jedesmaligen  Gedankenfügung  gemäss  und  kann,  ihrer  Natur 
nach,  in  der  Rede  gar  nicht  sein  Verhältniss  zu  dieser  von  ihm 
trennen.  Schwäche  des  sprachbildenden  Triebes  lässt  bald,  wie 
im  Chinesischen,  die  Flexionsmethode  nicht  in  den  Laut  über- 
gehen, bald,  wie  in  den  Sprachen,  welche  einzeln  ein  Einver- 
leibungsverfahren befolgen,  nicht  frei  und  allein  vorwalten.  Die 
Wirkung  des  reinen  Princips  kann  aber  auch  zugleich  durch  ein- 
seitige Verbildung  gehemmt  werden,  wenn  eine  einzelne  Bildungs- 
form, wie  z.  B.  im  Malayischen  die  Bestimmung  des  Verbum 
durch  modificirende  Praefixe  bis  zur  Vernachlässigung  aller  andren 
herrschend  wird. 

Wie  verschieden  aber  auch  die  Abweichungen  von  dem  reinen 
Principe  seyn  mögen,  so  wird  man  jede  Sprache  doch  immer  dar- 
nach charakterisiren  können,  inwiefern  in  ihr  der  Mangel  von  Be- 
ziehungs-Bezeichnungen, das  Streben,  solche  hinzuzufügen  und  zu 
Beugungen  zu  erheben,  und  der  Nothbehelf,  als  Wort  zu  stempeln, 
was  die  Rede  als  Satz  darstellen  sollte,  sichtbar  ist.  Aus  der 
Mischung  dieser  Principe  wird  das  Wesen  einer  solchen  Sprache 
hervorgehen,  allein  in  der  Regel  sich  aus  der  Anwendung  der- 
selben eine  noch  individuellere  Form  entwickeln.  Denn  wo  die 
volle  Energie  der  leitenden  Kraft  nicht  das  richtige  Gleichgewicht 
bewahrt,  da  erlangt  leicht  ein  Theil  der  Sprache  vor  dem  andren 


j/^^  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

ungerechterweise  eine  unverhältnissmässige  Ausbildung.    Hieraus 
und  aus  anderen  Umständen  können  einzelne  Trefflichkeiten  auch 
in  Sprachen  entstehen,  in  welchen  man   sonst  nicht  gerade   den 
Charakter  erkennen  kann,  vorzüglich  geeignete  Organe  des  Denkens 
2U  seyn.    Niemand  kann  läugnen,  dass  das  Chinesische  des  alten 
St3'ls  dadurch,  dass  lauter  gewichtige  Begriffe  unmittelbar  an  ein- 
ander treten,  eine  ergreifende  Würde  mit  sich  führt  und  dadurch 
eine   einfache   Grösse   erhält,   dass   es  gleichsam,  mit  Abwerfung 
aller  unnützen  Nebenbeziehungen,  nur  zum  reinen  Gedanken  ver- 
mittelst der  Sprache  zu  entfliehen  scheint.    Das   eigentlich  Malay- 
ische  wird  wegen  seiner  Leichtigkeit  und  der  grossen  Einfachheit 
seiner  Fügungen   nicht   mit   Unrecht  gerühmt.     Die   Semitischen 
Sprachen  bewahren  eine  bewundernswürdige  Kunst  in  der  feinen 
Unterscheidung  der  Bedeutsaml<:eit  vieler  Vocalabstufungen.    Das 
Vaskische  besitzt  im  Wortbau   und  in   der  Redefügung  eine   be- 
sondere, aus  der  Kürze  und  der  Kühnheit  des  Ausdrucks  hervor- 
gehende Kraft.    Die  Delaware-Sprache  und  auch   andre  Amerika- 
nische verbinden  mit    einem   einzigen  Wort   eine   Zahl  von  Be- 
griffen, zu   deren  Ausdruck  wir  vieler   bedürfen   würden.     Alle 
diese  Beispiele  beweisen  aber  nur,  dass  der  menschliche  Geist,  in 
w-elche  Bahn  er  sich   auch   einseitig  wirft,  immer  etwas  Grosses 
und  auf  ihn  befruchtend  und  begeisternd  Zurückwirkendes  hervor- 
zubringen vermag.    Ueber  den  Vorzug  der  Sprachen  vor  einander 
entscheiden  diese  einzelnen  Punkte  nicht.    Der  wahre  Vorzug  einer 
Sprache  ist  nur  der,  sich  aus  einem  Princip  und  in  einer  Freiheit 
zu  entwickeln,  die  es  ihr  möglich  machen,  alle  intellectuelle  Ver- 
mögen des  Menschen  in  reger  Thätigkeit  zu  erhalten,  ihnen  zum 
genügenden  Organ  zu  dienen  und  durch  die  sinnliche  Fülle  und 
geistige  Gesetzmässigkeit,  welche  sie  bewahrt,  ewig  anregend   auf 
sie   einzuwirken.      In   dieser   formalen  Beschaffenheit  liegt  Alles, 
was   sich  wohlthätig  für  den  Geist  aus   der  Sprache   entwickeln 
lässt.     Sie  ist  das  Bett,  in  welchem   er  seine  Wogen  im  sichren 
Vertrauen  fortbewegen   kann,   dass   die  Quellen,  welche   sie  ihm 
zuführt,   niemals   versiegen  werden.     Denn  wirldich   schwebt  er 
auf  ihr,  wie   auf  einer  unergründlichen  Tiefe,   aus   der  er  aber 
immer  mehr  zu  schöpfen  vermag,  je  mehr  ihm  schon  daraus  zu- 
geflossen ist.     Diesen  formalen  Massstab  also  kann  man  allein  an 
die  Sprachen  anlegen,  wenn  man  sie   unter  eine  allgemeine  Ver- 
gleichung  zu  bringen  versucht. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     30.  31.    ißc 


Charakter   der  Sprachen. 

Mit  dem  grammatischen  Baue,  wie  wir  ihn  bisher  im  Ganzen  31- 
und  Grossen  betrachtet  haben,  und  der  äusserlichen  Structur  der 
Sprache  überhaupt  ist  jedoch  ihr  Wesen  bei  weitem  nicht  erschöpft 
und  ihr  eigentHcher  und  wahrer  Charakter  beruht  noch  auf  etwas 
viel  Feinerem,  tiefer  Verborgenem  und  der  Zergliederung  weniger 
Zugänglichem.  Immer  aber  bleibt  jenes,  vorzugsweise  bis  hierher 
Betrachtete  die  nothwendige,  sichernde  Grundlage,  in  welcher  das 
Feinere  und  Edlere  Wurzel  fassen  kann.  Um  dies  deutlicher  dar- 
zustellen, ist  es  nothwendig,  einen  Augenblick  wieder  auf  den  all- 
gemeinen Entwicklungsgang  der  Sprachen  zurückzublicken.  In  der 
Periode  der  Formenbildung  sind  die  Nationen  mehr  mit  der  Sprache^ 
als  mit  dem  Zw^ecke  derselben,  mit  dem,  w^as  sie  bezeichnen  sollen, 
beschäftigt.  Sie  ringen  mit  dem  Gedankenausdruck  und  dieser 
Drang,  verbunden  mit  der  begeisternden  Anregung  des  Gelungenen, 
bewirkt  und  erhält  ihre  schöpferische  Kraft.  Die  Sprache  entsteht, 
wenn  man  sich  ein  Gleichniss  erlauben  darf,  wie  in  der  physischen 
Natur  ein  Krystall  an  den  andren  anschiesst.  Die  Bildung  geschieht 
allmählich,  aber  nach  einem  Gesetz.  Diese  anfänglich  stärker  vor- 
herrschende Richtung  auf  die  Sprache,  als  auf  die  lebendige  Er- 
zeugung des  Geistes  liegt  in  der  Natur  der  Sache;  sie  zeigt  sich 
aber  auch  an  den  Sprachen  selbst,  die,  je  ursprünglicher  sie  sind,, 
desto  reichere  Formenfülle  besitzen.  Diese  schiesst  in  einigen 
sichtbar  über  das  Bedürfniss  des  Gedanken  über  und  mässigt 
sich  daher  in  den  Umwandlungen,  welche  die  Sprachen  gleichen 
Stammes  unter  dem  Einfluss  reiferer  Geistesbildung  erfahren. 
Wenn  diese  Krystallisation  geendigt  ist,  steht  die  Sprache  gleich- 
sam fertig  da.  Das  Werkzeug  ist  vorhanden  und  es  fällt  nun 
dem  Geiste  anheim,  es  zu  gebrauchen  und  sich  hineinzubauen. 
Dies  geschieht  in  der  That  und  durch  die  verschiedene  Weise, 
wie  er  sich  durch  dasselbe  ausspricht,  empfängt  die  Sprache  Farbe 
und  Charakter.  \ 

Man  würde  indess  sehr  irren,  wenn  man,  was  ich  hier  mit 
Absicht  zur  deutlichen  Unterscheidung  grell  von  einander  gesondert 
habe,  auch  in  der  Natur  für  so  geschieden  halten  w^ollte.  Auch 
auf  die  wahre  Structur  der  Sprache  und  den  eigentlichen  Formen- 
bau hat  die  fortwährende  Arbeit  des  Geistes  in  ihrem  Gebrauche 
einen   bestimmten    und   fortlaufenden  Einfluss;   nur   ist   derselbe 


ißß  1.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

feiner  und  entzieht  sich  bisweilen  dem  ersten  Anblick.  Auch 
kann  man  keine  Periode  des  Menschengeschlechtes  oder  eines 
Volkes  als  ausschliesslich  und  absichtlich  sprachentwickelnd  an- 
sehen. Die  Sprache  wird  durch  Sprechen  gebildet  und  das 
Sprechen  ist  Ausdruck  des  Gedanken  oder  der  Empfindung.  Die 
Denk-  und  Sinnesart  eines  Volkes,  durch  welche,  wie  ich  eben 
sagte,  seine  Sprache  Farbe  und  Charakter  erhält,  wirkt  schon  von 
den  ersten  Anfängen  auf  dieselbe  ein.  Dagegen  ist  es  gewiss, 
dass,  je  weiter  eine  Sprache  in  ihrer  grammatischen  Structur  vor- 
gerückt ist,  sich  immer  weniger  Fälle  ergeben,  welche  einer  neuen 
Entscheidung  bedürfen.  Das  Ringen  mit  dem  Gedankenausdruck 
wird  daher  geringer,  und  je  mehr  sich  der  Geist  nur  des  schon 
Geschaffenen  bedient,  desto  mehr  erschlafft  sein  schöpferischer  Trieb 
und  mit  ihm  auch  seine  schöpferische  Kraft.  Auf  der  andren 
Seite  wächst  die  Menge  des  in  Lauten  hervorgebrachten  Stoffs 
und  diese  nun  auf  den  Geist  zurückwirkende  äussere  Masse 
macht  ihre  eigenthümlichen  Gesetze  geltend  und  hemmt  die  freie 
und  selbstständige  Einwirkung  der  Intelligenz.  In  diesen  zwei 
Punkten  liegt  dasjenige,  was  in  dem  oben  erwähnten  Unterschiede 
nicht  der  subjectiven  Ansicht,  sondern  dem  wirklichen  Wesen  der 
Sache  angehört.  Man  muss  also,  um  die  Verflechtung  des  Geistes 
in  die  Sprache  genauer  zu  verfolgen,  dennoch  den  grammatischen 
und  lexicalischen  Bau  der  letzteren  gleichsam  als  den  festen  und 
äusseren  von  dem  inneren  Charakter  unterscheiden,  der  wie  eine 
Seele  in  ihr  wohnt  und  die  Wirkung  hervorbringt,  mit  welcher 
uns  jede  Sprache,  so  wie  wir  nur  anfangen,  ihrer  mächtig  zu 
werden,  eigenthümlich  ergreift.  Es  ist  damit  auf  keine  Weise 
gemeint,  dass  diese  Wirkung  dem  äusseren  Baue  fremd  sey.  Das 
individuelle  Leben  der  Sprache  erstreckt  sich  durch  alle  Fibern 
derselben  und  durchdringt  alle  Elemente  des  Lautes.  Es  soll  nur 
darauf  aufmerksam  gemacht  werden,  dass  jenes  Reich  der  Formen 
nicht  das  einzige  Gebiet  ist,  das  der  Sprachforscher  zu  bearbeiten 
hat,  und  dass  er  wenigstens  nicht  verkennen  muss,  dass  es  noch 
etwas  Höheres  und  Ursprünglicheres  in  der  Sprache  giebt,  von 
dem  er,  wo  das  Erkennen  nicht  mehr  ausreicht,  doch  das  Ahnden 
in  sich  tragen  muss.  In  Sprachen  eines  weit  verbreiteten  und 
vielfach  getheilten  Stammes  lässt  sich  das  hier  Gesagte  mit  ein- 
fachen Beispielen  belegen.  Sanskrit,  Griechisch  und  Lateinisch 
haben  eine  nahe  verwandte  und  in  sehr  vielen  Stücken  gleiche 
Organisation  der  Wortbildung  und   der  Redefügung.    Jeder  aber 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.      i^T 

fühlt  die  Verschiedenheit  ihres  individuellen  Charakters,  die  nicht 
bloss  eine,  in  der  Sprache  sichtbar  werdende  des  Charakters  der 
Nationen  ist,  sondern,  tief  in  die  Sprachen  selbst  eingewachsen, 
den  eigenthümlichen  Bau  jeder  bestimmt.  Ich  werde  daher  bei 
diesem  Unterschiede  zwischen  dem  Principe,  aus  welchem  sich 
nach  dem  Obigen  die  Structur  der  Sprache  entwickelt,  und  dem 
eigentlichen  Charakter  dieser  hier  noch  venA'eilen  und  schmeichle 
mir,  sicher  seyn  zu  können,  dass  dieser  Unterschied  weder  als  zu 
schneidend  angesehen  noch  auf  der  andren  Seite  als  bloss  sub- 
jectiv  verkannt  werde. 

Um  den  Charakter  der  Sprachen,  insofern  wir  ihn  dem  Orga- 
nismus entgegensetzen,  genauer  zu  betrachten,  müssen  wir  auf 
den  Zustand  nach  Vollendung  ihres  Baues  sehen.  Das  freudige 
Staunen  über  die  Sprache  selbst,  als  ein  immer  neues  Erzeugniss 
des  Augenblicks  mindert  sich  allmählich.  Die  Thätigkeit  der  Nation 
geht  von  der  Sprache  mehr  auf  ihren  Gebrauch  über  und  diese 
beginnt  mit  dem  eigenthümlichen  Volksgeiste  eine  Laufbahn,  in 
der  keiner  beider  Theile  sich  von  dem  andren  unabhängig  nennen 
kann,  jeder  aber  sich  der  begeisternden  Hülfe  des  andren  erfreut. 
Die  Bewunderung  und  das  Gefallen  wenden  sich  nun  zu  Einzelnem, 
glücklich  Ausgedrücktem.  Lieder,  Gebetsformeln,  Sprüche,  Er- 
zählungen erregen  die  Begierde,  sie  der  Flüchtigkeit  des  vorüber- 
eilenden Gesprächs  zu  entreissen,  werden  aufbewahrt,  umgeändert 
und  nachgebildet.  Sie  werden  die  Grundlagen  der  Literatur  und 
diese  Bildung  des  Geistes  und  der  Sprache  geht  allmählich  von 
der  Gesammtheit  der  Nation  auf  Individuen  über  und  die  Sprache 
kommt  in  die  Hände  der  Dichter  und  Lehrer  des  Volkes,  welchen 
sich  dieses  nach  und  nach  gegenüberstellt.  Dadurch  gewinnt 
die  Sprache  eine  zwiefache  Gestalt,  aus  welcher,  so  lange  der 
Gegensatz  sein  richtiges  Verhältniss  behält,  für  sie  zwei  sich  gegen- 
seitig ergänzende  Quellen  der  Kraft  und  der  Läuterung  entspringen. 

Neben  diesen  lebendig  in  ihren  Werken  die  Sprache  gestal- 
tenden Bildnern  stehen  dann  die  eigentlichen  Grammatiker  auf 
und  legen  die  letzte  Hand  an  die  ^^ollendung  des  Organismus. 
Es  ist  nicht  ihr  Geschäft,  zu  schaffen;  durch  sie  kann  in  einer 
Sprache,  der  es  sonst  daran  fehlt,  weder  Flexion  noch  Ver- 
schlingung der  End-  und  Anfangslaute  volksmässig  werden.  Aber 
sie  werfen  aus,  verallgemeinern,  ebnen  Ungleichheiten  und  füllen 
übrig  gebliebene  Lücken.  Von  ihnen  kann  man  mit  Recht  in 
Flexionssprachen  das  Schema  der  Conjugationen  und  Declinationen 


jgg  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

herleiten,  indem  sie  erst  die  Totalität  der  darunter  begriffenen 
Fälle  zusammengestellt  vor  das  Auge  bringen.  In  diesem  Gebiete 
werden  sie,  indem  sie  selbst  aus  dem  unendlichen  Schatze  der 
vor  ihnen  liegenden  Sprache  schöpfen,  gesetzgebend.  Da  sie 
eigentlich  zuerst  den  Begriff  solcher  Schemata  in  das  Bewusstse3'n 
einführen,  so  können  dadurch  Formen,  die  alles  eigentlich  Be- 
deutsame verloren  haben,  bloss  durch  die  Stelle,  die  sie  in  dem 
Schema  einnehmen,  wieder  bedeutsam  werden.  Solche  Bearbei- 
tungen einer  und  derselben  Sprache  können  in  verschiedenen 
Epochen  auf  einander  folgen ;  immer  aber  muss,  wenn  die  Sprache 
zugleich  volksthümlich  und  gebildet  bleiben  soll,  die  Regelmässig- 
keit ihrer  Strömung  von  dem  Volke  zu  den  Schriftstellern  und 
Grammatikern  und  von  diesen  zurück  zu  dem  Volke  ununter- 
brochen fortrollen. 

So  lange  der  Geist  eines  Volks  in  lebendiger  Eigenthümlich- 
keit  in  sich  und  auf  seine  Sprache  fortwirkt,  erhält  diese  Ver- 
feinerungen und  Bereicherungen,  die  wiederum  einen  anregenden 
Einfluss  auf  den  Geist  ausüben.  Es  kann  aber  auch  hier  in  der 
Folge  der  Zeit  eine  Epoche  eintreten,  wo  die  Sprache  gleichsam 
den  Geist  überwächst  und  dieser  in  eigner  Erschlaffung,  nicht 
mehr  selbstschöpferisch,  mit  ihren  aus  wahrhaft  sinnvollem  Ge- 
brauch hervorgegangenen  Wendungen  und  Formen  ein  immer 
mehr  leeres  Spiel  treibt.  Dies  ist  dann  ein  zweites  Ermatten  der 
Sprache,  wenn  man  das  Absterben  ihres  äusseren  Bildungstriebes 
als  das  erste  ansieht.  Bei  dem  zweiten  welkt  die  Blüthe  des 
Charakters,  von  diesem  aber  können  Sprachen  und  Nationen 
wieder  durch  den  Genius  einzelner  grosser  Männer  geweckt  und 
emporgerissen  werden. 

Ihren  Charakter  entwickelt  die  Sprache  vorzugsweise  in  den 
Perioden  ihrer  Literatur  und  in  der  vorbereitend  zu  dieser  hin- 
führenden. Denn  sie  zieht  sich  alsdann  mehr  von  den  Alltäglich- 
keiten des  materiellen  Lebens  zurück  und  erhebt  sich  zu  reiner 
Gedankenentwicklung  und  freier  Darstellung.  Es  scheint  aber 
wunderbar,  dass  die  Sprachen  ausser  demjenigen,  den  ihnen  ihr 
äusserer  Organismus  giebt,  sollten  einen  eigenthümlichen  Charakter 
besitzen  können,  da  jede  bestimmt  ist,  den  verschiedensten  Indivi- 
dualitäten zum  Werkzeug  zu  dienen.  Denn  ohne  des  Unterschiedes 
der  Geschlechter  und  des  Alters  zu  gedenken,  so  umschliesst  eine 
Nation  wohl  alle  Nuancen  menschlicher  Eigenthümlichkeit.  Auch 
diejenigen,   die,  von   derselben  Richtung  ausgehend,  das   gleiche 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.      i(5q 

Geschäft  treiben,  unterscheiden  sich  in  der  Art  es  zu  ergreifen 
und  auf  sich  zurückwirken  zu  lassen.  Diese  Verschiedenheit 
wächst  aber  noch  für  die  Sprache,  da  diese  in  die  geheimsten 
Falten  des  Geistes  und  des  Gemüthes  eingeht.  Jeder  nun  braucht 
dieselbe  zum  Ausdruck  seiner  besondersten  Eigenthümlichkeit; 
denn  sie  geht  immer  von  dem  Einzelnen  aus  und  jeder  bedient 
sich  ihrer  zunächst  nur  für  sich  selbst.  Dennoch  genügt  sie  jedem 
dazu,  insofern  überhaupt  immer  dürftig  bleibende  Worte  dem 
Drange  des  Ausdrucks  der  innersten  Gefühle  zusagen.  Es  lässt 
sich  auch  nicht  behaupten,  dass  die  Sprache,  als  allgemeines  Organ, 
diese  Unterschiede  mit  einander  ausgleicht.  Sie  baut  wohl  Brücken 
von  einer  Individualität  zur  andren  und  vermittelt  das  gegenseitige 
Verständniss ;  den  Unterschied  selbst  aber  vergrössert  sie  eher,  da 
sie  durch  die  Verdeutlichung  und  Verfeinerung  der  Begriffe  klarer 
ins  Bewusstseyn  bringt,  wie  er  seine  Wurzeln  in  die  ursprüngliche 
Geistesanlage  schlägt.  Die  Möglichkeit,  so  verschiedenen  Indivi- 
dualitäten zum  Ausdruck  zu  dienen,  scheint  daher  eher  in  ihr 
selbst  vollkommene  Charakterlosigkeit  vorauszusetzen,  die  sie 
doch  aber  sich  auf  keine  Weise  zu  Schulden  kommen  lässt.  Sie 
umfasst  in  der  That  die  beiden  entgegengesetzten  Eigenschaften, 
sich  als  Eine  Sprache  in  derselben  Nation  in  unendlich  viele  zu 
theilen  und  als  diese  vielen  gegen  die  Sprachen  andrer  Nationen 
mit  bestimmtem  Charakter  als  Eine  zu  vereinigen.  Wie  ver- 
schieden jeder  dieselbe  Muttersprache  nimmt  und  gebraucht,  findet 
man,  wenn  es  nicht  schon  das  gewöhnliche  Leben  deutlich  zeigte, 
in  der  Vergleichung  bedeutender  Schriftsteller,  deren  jeder  sich 
seine  eigne  Sprache  bildet.  Die  Verschiedenheit  des  Charakters 
mehrerer  Sprachen  ergiebt  sich  aber  beim  ersten  Anblick,  wie 
z.  B.  beim  Sanskrit,  dem  Griechischen  und  Lateinischen  aus  ihrer 
Vergleichung. 

Untersucht  man  nun  genauer,  wie  die  Sprache  diesen  Gegen- 
satz vereinigt,  so  liegt  die  Möglichkeit,  den  verschiedensten  Indivi- 
dualitäten zum  Organe  zu  dienen,  in  dem  tiefsten  Wesen  ihrer  Natur. 
Ihr  Element,  das  Wort,  bei  dem  wir  der  Vereinfachung  wegen 
stehen  bleiben  können,  theilt  nicht,  wie  eine  Substanz,  etwas  schon 
Hervorgebrachtes  mit,  enthält  auch  nicht  einen  schon  geschlossenen 
Begriff,  sondern  regt  bloss  an,  diesen  mit  selbstständiger  Kraft, 
nur  auf  bestimmte  Weise  zu  bilden.  Die  Menschen  verstehen 
einander  nicht  dadurch,  dass  sie  sich  Zeichen  der  Dinge  wirklich 
hingeben,  auch  nicht  dadurch,  dass  sie  sich  gegenseitig  bestimmen, 


IHQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

genau  und  vollständig  denselben  Begriff  hervorzubringen,  sondern 
dadurch,  dass  sie  gegenseitig  in  einander  dasselbe  Glied  der  Kette 
ihrer  sinnlichen  Vorstellungen  und  inneren  Begrifl'serzeugungen 
berühren,  dieselbe  Taste  ihres  geistigen  Instruments  anschlagen, 
worauf  alsdann  in  jedem  entsprechende,  nicht  aber  dieselben  Be- 
griffe hervorspringen.  Nur  in  diesen  Schranken  und  mit  diesen 
Divergenzen  kommen  sie  auf  dasselbe  Wort  zusammen.  Bei  der 
Nennung  des  gewöhnlichsten  Gegenstandes,  z.  B.  eines  Pferdes 
meinen  sie  alle  dasselbe  Thier,  jeder  aber  schiebt  dem  Worte 
eine  andere  Vorstellung,  sinnlicher  oder  rationeller,  lebendiger,  als 
einer  Sache  oder  näher  den  todten  Zeichen  u.  s.  f.  unter.  Daher 
entstehen  in  der  Periode  der  Sprachbildung  in  einigen  Sprachen 
die  Menge  der  Ausdrücke  für,  denselben  Gegenstand.  Es  sind 
ebenso  viele  Eigenschaften,  unter  welchen  er  gedacht  worden  ist 
und  deren  Ausdruck  man  an  seine  Stelle  gesetzt  hat.  Wird  nun 
aber  auf  diese  Weise  das  Glied  der  Kette,  die  Taste  des  Instru- 
mentes berührt,  so  erzittert  das  Ganze,  und  was,  als  Begriff  aus 
der  Seele  hervorspringt,  steht  in  Einklang  mit  allem,  was  das 
einzelne  Glied  bis  auf  die  weiteste  Entfernung  umgiebt.  Die  von 
dem  Worte  in  Verschiedenen  geweckte  Vorstellung  trägt  das  Ge- 
präge der  Eigenthümlichkeit  eines  jeden,  wird  aber  von  allen  mit 
demselben  Laute  bezeichnet. 

Die  sich  innerhalb  derselben  Nation  befindenden  Individualitäten 
umschliesst  aber  die  nationeile  Gleichförmigkeit,  die  wiederum  jede 
einzelne  Sinnesart  von  der  ihr  ähnlichen  in  einem  andren  Volke 
unterscheidet.  Aus  dieser  Gleichförmigkeit  und  aus  der  besonderen, 
jeder  Sprache  eignen  Anregung  entspringt  der  Gharakter  der  letz- 
teren. Jede  Sprache  empfängt  eine  bestimmte  Eigenthümlichkeit 
durch  die  der  Nation  und  wirkt  gleichförmig  bestimmend  auf 
diese  zurück.  Der  nationeile  Charakter  wird  zwar  durch  Gemein- 
schaft des  Wohnplatzes  und  des  Wirkens  unterhalten,  verstärkt, 
ja  bis  zu  einem  gewissen  Grad  hervorgebracht;  eigentlich  aber 
beruht  er  auf  der  Gleichheit  der  Naturanlage,  die  man  gewöhnlich 
aus  Gemeinschaft  der  Abstammung  erklärt.  In  dieser  liegt  auch 
gewiss  das  undurchdringliche  Geheimniss  der  tausendfältig  ver- 
schiedenen Verknüpfung  des  Körpers  mit  der  geistigen  Kraft, 
welche  das  Wesen  jeder  menschlichen  Individualität  ausmacht. 
Es  kann  nur  die  Frage  seyn,  ob  es  keine  andere  Erklärungsweise 
der  Gleichheit  der  Naturanlagen  geben  könne?  und  auf  keinen 
Fall  darf  man  hier  die  Sprache  ausschliessen.    Denn  in  ihr  ist  die 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.      j-ji 

Verbindung  des  Lautes  mit  seiner  Bedeutung  etwas  mit  jener 
Anlage  gleich  Unerforschliches.  Man  kann  Begriffe  spalten,  Wörter 
zergliedern,  so  weit  man  es  vermag,  und  man  tritt  darum  dem 
Geheimniss  nicht  näher,  wie  eigentlich  der  Gedanke  sich  mit  dem 
Worte  verbindet.  In  ihrer  ursprünglichsten  Beziehung  auf  das 
Wesen  der  Individualität  sind  also  der  Grund  aller  Nationalität 
und  die  Sprache  einander  unmittelbar  gleich.  Allein  die  letztere 
wirkt  augenscheinlicher  und  stärker  darauf  ein  und  der  Begriff 
einer  Nation  muss  vorzugsweise  auf  sie  gegründet  werden.  Da 
die  Entwicklung  seiner  menschlichen  Natur  im  Menschen  von  der 
der  Sprache  abhängt,  so  ist  durch  diese  unmittelbar  selbst  der 
Begriff  der  Nation  als  der  eines  auf  bestimmte  Weise  sprach- 
bildenden Menschenhaufens  gegeben. 

Die  Sprache  aber  besitzt  auch  die  Kraft,  zu  entfremden  und 
einzuverleiben,  und  theilt  durch  sich  selbst  den  nationeilen  Cha- 
rakter, auch  bei  verschiedenartiger  Abstammung,  mit.  Dies  unter- 
scheidet namentlich  eine  Familie  und  eine  Nation.  In  der  ersteren 
ist  unter  den  Gliedern  factisch  erkennbare  Verv^^andtschaft ;  auch 
kann  dieselbe  Familie  in  zwei  verschiedenen  Nationen  fortblühen. 
Bei  den  Nationen  kann  es  noch  zweifelhaft  scheinen  und  macht 
bei  w^eit  verbreiteten  Stämmen  eine  wichtige  Betrachtung  aus,  ob 
alle  dieselben  Sprachen  Redenden  einen  gemeinschaftlichen  Ursprung 
haben  oder  ob  diese  ihre  Gleichförmigkeit  aus  uranfänglicher  Natur- 
anlage, verbunden  mit  Verbreitung  über  einen  gleichen  Erdstrich, 
unter  dem  Einfluss  gleichförmig  wirkender  Ursachen  entstanden 
ist?  Welche  Bewandtniss  es  aber  auch  mit  den,  uns  unerforsch- 
lichen  ersten  Ursachen  haben  möge,  so  ist  es  gewiss,  dass  die 
Entwicklung  der  Sprache  die  nationeilen  Verschiedenheiten  erst 
in  das  hellere  Gebiet  des  Geistes  überführt.  Sie  werden  durch 
sie  zum  Bewusstseyn  gebracht  und  erhalten  von  ihr  Gegenstände, 
in  denen  sie  sich  nothwendig  ausprägen  müssen,  die  der  deut- 
lichen Einsicht  zugänglicher  sind  und  an  welchen  zugleich  die 
Verschiedenheiten  selbst  feiner  und  bestimmter  ausgesponnen  er- 
scheinen. Denn  indem  die  Sprache  den  Menschen  bis  auf  den 
ihm  erreichbaren  Punkt  intellectuahsirt,  wird  immer  mehr  der 
dunklen  Region  der  unentwickelten  Empfindung  entzogen.  Da- 
durch nun  erhalten  die  Sprachen,  welche  die  Werkzeuge  dieser 
Entwicklung  sind,  selbst  einen  so  bestimmten  Charakter,  dass  der 
der  Nation  besser  an  ihnen,  als  an  den  Sitten,  Gewohnheiten  und 
Thaten  jener  erkannt  werden  kann.     Es. entspringt  hieraus,  wenn 


172 


I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


Völker,  welchen  eine  Literatur  mangelt  und  in  deren  Sprach- 
gebrauch wir  nicht  tief  genug  eindringen,  uns  oft  gleichförmiger 
erscheinen,  als  sie  sind.  Wir  erkennen  nicht  die  sie  unterschei- 
denden Züge,  weil  nicht  das  Medium  sie  uns  zuführt,  das  sie 
uns  sichtbar  machen  würde. 

Wenn  man  den  Charakter  der  Sprachen  von  ihrer  äusseren 
Form,  unter  welcher  allein  eine  bestimmte  Sprache  gedacht  werden 
kann,  absondert  und  beide  einander  gegenüberstellt,  so  besteht 
er  in  der  Art  der  Verbindung  des  Gedanken  mit  den  Lauten. 
Er  ist,  in  diesem  Sinne  genommen,  gleichsam  der  Geist,  der  sich 
in  der  Sprache  einheimisch  macht  und  sie,  wie  einen  aus  ihm 
herausgebildeten  Körper  beseelt.  Er  ist  eine  natürliche  Folge  der 
fortgesetzten  Einwirkung  der  geistigen  Eigenthümlichkeit  der  Nation. 
Indem  diese  die  allgemeinen  Bedeutungen  der  Wörter  immer  auf 
dieselbe  individuelle  Weise  aufnimmt  und  mit  den  gleichen  Neben- 
ideen und  Empfindungen  begleitet,  nach  denselben  Richtungen  hin 
Ideenverbindungen  eingeht  und  sich  der  Freiheit  der  Redefügungen 
in  demselben  Verhältniss  bedient,  in  welchem  das  Mass  ihrer 
intellectuellen  Kühnheit  zu  der  Fähigkeit  ihres  Verständnisses  steht, 
ertheilt  sie  der  Sprache  eine  eigenthümliche  Farbe  und  Schattirung, 
welche  diese  fixirt  und  so  in  demselben  Gleise  zurückwirkt.  Aus 
jeder  Sprache  lässt  sich  daher  auf  den  Nationalcharakter  zurück- 
schliessen.^)  Auch  die  Sprachen  roher  und  ungebildeter  Völker 
tragen  diese  Spuren  in  sich  und  lassen  dadurch  oft  Blicke  in 
intellectuelle  Eigenthümlichkeiten  werfen,  die  man  auf  dieser  Stufe 
mangelnder  Bildung  nicht  erwarten  sollte.  Die  Sprachen  der 
Amerikanischen  Eingebornen  sind  reich  an  Beispielen  dieser 
Gattung,  an  kühnen  Metaphern,  richtigen,  aber  unerwarteten  Zu- 
sammenstellungen von  Begriffen,  an  Fällen,  wo  leblose  Gegen- 
stände durch  eine  sinnreiche  Ansicht  ihres  auf  die  Phantasie 
wirkenden  Wesens  in  die  Reihe  der  lebendigen  versetzt  werden, 
u.  s.  f.  Denn  da  diese  Sprachen  grammatisch  nicht  den  Unter- 
schied der  Geschlechter,  wohl  aber  und  in  sehr  ausgedehntem 
Umfange  den  lebloser  und  lebendiger  Gegenstände  beachten,  so 
geht  ihre  Ansicht  hiervon  aus  der  grammatischen  Behandlung 
hervor.  Wenn  sie  die  Gestirne  mit  dem  Menschen  und  den 
Thieren  grammatisch   in   dieselbe  Classe   versetzen,  so   sehen  sie 


V  Nach  „zurückschliessen"  gestrichen:  „und  es  bedarf  dazu  nicht  gerade 
literarischer  Werke,  wie  sie  sich  nur  bei  gebildeten  Nationen  finden.'^ 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.       ly^ 

offenbar  die  ersteren  als  sich  durch  eigne  Kraft  bewegende  und 
wahrscheinlich  auch  als  die  menschlichen  Schicksale  von  oben 
herab  leitende,  mit  Persönlichkeit  begabte  Wesen  an.  In  diesem 
Sinn  die  Wörterbücher  der  Mundarten  solcher  Völker  durch- 
zugehen, gewährt  ein  eignes,  auf  die  mannigfaltigsten  Betrach- 
tungen führendes  Vergnügen,  und  wenn  man  zugleich  bedenkt, 
dass  die  ^^ersuche  beharrlicher  Zergliederung  der  Formen  solcher 
Sprachen,  wie  wir  im  Vorigen  gesehen  haben,  die  geistige  Organi- 
sation entdecken  lassen,  aus  welcher  ihr  Bau  entspringt,  so  ver- 
schwindet alles  Trockne  und  Nüchterne  aus  dem  Sprachstudium. 
In  jedem  seiner  Theile  führt  es  zu  der  inneren  geistigen  Gestal- 
tung zurück,  welche  alle  Menschenalter  hindurch  die  Trägerin 
der  tiefsten  Ansichten,  der  reichsten  Gedankenfülle  und  der 
edelsten  Gefühle  ist. 

Bei  den  Völkern  aber,  bei  denen  wir  nur  in  den  einzelnen 
Elementen  ihrer  Sprache  die  Kennzeichen  ihrer  Eigenthümlich- 
keit  auffinden  können,  lässt  sich  selten  oder  nie  ein  zusammen- 
hängendes Bild  von  der  letzteren  entwerfen.  Wenn  dies  überall 
ein  schwieriges  Geschäft  ist,  so  wird  es  nur  da  wahrhaft  möglich, 
wo  Nationen  in  einer  mehr  oder  weniger  ausgedehnten  Literatur 
ihre  Weltansicht  niedergelegt  und  in  zusammenhängender  Rede 
der  Sprache  eingeprägt  haben.  Denn  die  Rede  enthält  auch  in 
Absicht  der  Geltung  ihrer  einzelnen  Elemente  und  in  den  Nuancen 
ihrer  Fügungen,  die  sich  nicht  gerade  auf  grammatische  Regeln 
zurückführen  lassen,  unendlich  viel,  was,  wenn  sie  in  die  einzelnen 
Elemente  zerschlagen  ist,  nicht  mehr  an  diesen  erkennbar  zu 
haften  vermag.  Ein  Wort  hat  meistentheils  seine  vollständige 
Geltung  erst  durch  die  Verbindung,  in  der  es  erscheint.  Diese 
Gattung  der  Sprachforschung  erfordert  daher  eine  kritisch  genaue 
Bearbeitung  der  in  einer  Sprache  vorhandenen  schriftlichen  Denk- 
mäler und  findet  einen  meisterhaft  vorbereiteten  Stoff  in  der  philo- 
logischen Behandlung  der  Griechischen  und  Lateinischen  Schrift- 
steller. Denn  wenn  auch  immer  bei  dieser  das  Studium  der 
ganzen  Sprache  selbst  der  höchste  Gesichtspunkt  ist,  so  geht  sie 
dennoch  zunächst  von  den  in  ihr  übrigen  Denkmälern  aus,  strebt, 
dieselben  in  möglichster  Reinheit  und  Treue  herzustellen  und  zu 
bewahren  und  sie  zu  zuverlässiger  Kenntniss  des  Alterthums  zu 
benutzen.  So  enge  auch  die  Zergliederung  der  Sprache,  die  Auf- 
suchung ihres  Zusammenhanges  mit  verwandten  und  die  nur  auf 
diesem   Wege    erreichbare   Erklärung   ihres    Baues    mit    der    Be- 


inA  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

arbeitung  der  Sprachdenkmäler  verbunden  bleiben  muss,  so  sind 
es  doch  sichtbar  zwei  verschiedene  Richtungen  des  Sprachstudiums, 
die  verschiedene  Talente  erfordern  und  unmittelbar  auch  ver- 
schiedene Resultate  hervorbringen.  Es  wäre  vielleicht  nicht  un- 
richtig, auf  diese  Weise  Linguistik  und  Philologie  zu  unter- 
scheiden und  ausschliesslich  der  letzteren  die  engere  Bedeutung 
zu  geben,  die  man  bisher  damit  zu  verbinden  pflegte,  die  man 
aber  in  den  letztverflossenen  Jahren,  besonders  in  Frankreich  und 
England  auf  jede  Beschäftigung  mit  irgend  einer  Sprache  ausge- 
dehnt hat.  Gewiss  ist  es  wenigstens,  dass  die  Sprachforschung, 
von  welcher  hier  die  Rede  ist,  sich  nur  auf  eine  in  dem  hier 
.aufgestellten  Sinne  wahrhaft  philologische  Behandlung  der  Sprach- 
denkmäler stützen  kann.  Indem  die  grossen  Männer,  welche  dies 
Fach  der  Gelehrsamkeit  in  den-  letzten  Jahrhunderten  verherrlicht 
haben,  mit  gewissenhafter  Treue  und  bis  zu  den  kleinsten  Modi- 
ficationen  des  Lautes  herab  den  Sprachgebrauch  jedes  Schrift- 
stellers feststellen,  zeigt  sich  die  Sprache  beständig  unter  dem 
beherrschenden  Einfluss  geistiger  Individualität  und  gewährt  eine 
Ansicht  dieses  Zusammenhanges,  durch  die  es  zugleich  möglich 
wird,  die  einzelnen  Punkte  aufzusuchen,  an  welchen  er  haftet.  Man 
lernt  zugleich,  was  dem  Zeitalter,  der  Localität  und  dem  Individuum 
angehört  und  wie  die  allgemeine  Sprache  alle  diese  Unterschiede 
umfasst.  Das  Erkennen  der  Einzelnheiten  aber  ist  immer  von  dem 
Eindruck  eines  Ganzen  begleitet,  ohne  dass  die  Erscheinung  durch 
Zergliederung  etwas  an  ihrer  Eigenthümlichkeit  verliert. 

Sichtbar  wirkt  auf  die  Sprache  nicht  bloss  die  ursprüngliche 
Anlage  der  Nationaleigenthümlichkeit  ein,  sondern  jede  durch  die 
Zeit  herbeigeführte  Abänderung  der  inneren  Richtung  und  jedes 
äussere  Ereigniss,  welches  die  Seele  und  den  Geistesschwung  der 
Nation  hebt  oder  niederdrückt,  vor  allem  aber  der  Impuls  aus- 
gezeichneter Köpfe.')  Ewige  Vermittlerin  zwischen  dem  Geiste 
und  der  Natur,  bildet  sie  sich  nach  jeder  Abstufung  des  ersteren 
um,  nur  dass  die  Spuren  davon  immer  feiner  und  schwieriger 
im  Einzelnen  zu  entdecken   werden  und   die  Thatsache   sich   nur 


^)  Nach  „Köpfe"  gestrichen:  „Dennoch  würde  es  irrig  seyn,  diese  Ver- 
änderungen nur  als  Veränderungen  des  Nationalcharakters  anzusehen,  welche 
die  Sprache,  die  ihnen  gewissermassen  nur  den  Körper  leiht,  wenig  oder  gar 
nicht  angehen.  Die  Sprache,  wenn  man  in  ihr  auch  nichts  erkennen  wollte,  was 
über  die  Bedeutung  der  Wörter  und  die  grammatischen  Regeln  und  Formen 
hinausgeht,  bleibt  bei  diesen   Veränderungen  keinesweges  gleichgültig." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.      i-yc 

im  Totaleindruck  offenbart.  Keine  Nation  könnte  die  Sprache 
einer  andren  mit  dem  ihr  selbst  eignen  Geiste  beleben  und 
befruchten,  ohne  sie  eben  dadurch  zu  einer  verschiedenen  umzu- 
bilden.^) Was  aber  schon  weiter  oben  von  aller  Individualität 
bemerkt  worden  ist,  gilt  auch  hier.  Darum,  dass  unter  verschie- 
denen jede,  weil  sie  Eine  bestimmte  Bahn  verfolgt,  alle  andren 
ausschliesst,  können  dennoch  mehrere  in  einem  allgemeinen  Ziele 
zusammentreffen.  Der  Charakterunterschied  der  Sprachen  braucht 
daher  nicht  nothwendig  in  absoluten  Vorzügen  der  einen  vor  der 
andren  zu  bestehen.  Die  Einsicht  in  die  Möglichkeit  der  Bildung 
eines  solchen  Charakters  erfordert  aber  noch  eine  genauere  Betrach- 
tung des  Standpunktes,  aus  dem  eine  Nation  ihre  Sprache  innerlich 
behandeln  muss,  um  ihr  ein  solches  Gepräge  aufzudrücken. 

Wenn  eine  Sprache  bloss  und  ausschliesslich  zu  den  Alltags- 
bedürfnissen des  Lebens  gebraucht  würde,  so  gälten  die  Worte 
bloss  als  Repräsentanten  des  auszudrückenden  Entschlusses  oder 
Begehrens  und  es  wäre  von  einer  inneren,  die  Möglichkeit  einer 
Verschiedenheit  zulassenden  Auffassung  gar  nicht  in  ihr  die  Rede. 
Die  materielle  Sache  oder  Handlung  träte  in  der  Vorstellung  des 
Sprechenden  und  Erwiedernden  sogleich  und  unmittelbar  an  die 
Stelle  des  Wortes.  Eine  solche  wirkliche  Sprache  kann  es  nun 
glücklicherweise  unter  immer  doch  denkenden  und  empfindenden 
Menschen  nicht  geben.  Es  Hessen  sich  höchstens  mit  ihr  die 
Sprachmischungen  vergleichen,  welche  der  Verkehr  unter  Per- 
sonen von  ganz  verschiedenen  Nationen  und  Mundarten  hitr  und 
dort,  vorzüglich  in  Seehäfen,  wie  die  lingiia  franca  an  den  Küsten 
des  Mittelmeeres,  bildet.  Ausserdem  behaupten  die  individuelle 
Ansicht  und  das  Gefühl  immer  zugleich  ihre  Rechte.  Ja  es  ist 
sogar  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  erste  Gebrauch  der  Sprache,. 
wenn  man  bis  zu  demselben  hinaufzusteigen  vermöchte,  ein  blosser 
Empfindungsausdruck  gewesen  sey.  Ich  habe  mich  schon  weiter 
oben  (S.  60.)  gegen  die  Erklärung  des  Ursprungs  der  Sprachen 
aus  der  Hülflosigkeit  des  Einzelnen  ausgesprochen.-)     Nicht  einmal 


V  ISiach  „umzubilden"  gestrichelt:  „Ein  Sanskritischer  Homer  oder  ein 
Griechischer  Tacitus  lassen  sich  ebensowenig  denken,  als  Centauren  und  Tritonen 
[in]  diese  Wirklichkeit  herabsteigen  können." 

-)  Dieser  Satz  hieß  ursprünglich:  „Den  Ursprung  der  Sprachen  aus- 
schliesslich oder  auch  nur  vorzugsweise  dem  aus  der  Hülflosigkeit  des  Einzelneit 
entspringenden  Bedürfniss  zuzuschreiben  hat  mir  immer  eine  sehr  einseitige  Vor- 
stellung geschienen." 


InQ  1.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

der  Trieb  der  Geselligkeit  entspringt  unter  den  Geschöpfen  aus 
der  Hülflosigkeit.  Das  stärkste  Thier,  der  Elephant,  ist  zugleich 
das  geselligste.  Ueberall  in  der  Natur  entwickelt  sich  Leben  und 
Thätigkeit  aus  innerer  Freiheit,  deren  Urquell  man  vergeblich  im 
Gebiete  der  Erscheinungen  sucht.  In  jeder  Sprache  aber,  auch  der 
am  höchsten  gebildeten  kommt  einzeln  der  hier  erwähnte  Ge- 
brauch derselben  vor.  Wer  einen  Baum  zu  fällen  befiehlt,  denkt 
sich  nichts,  als  den  bezeichneten  Stamm  bei  dem  Worte;  ganz 
anders  aber  ist  es,  wenn  dasselbe,  auch  ohne  Beiwort  und  Zusatz, 
in  einer  Naturschilderung  oder  einem  Gedichte  erscheint.  Die 
Verschiedenheit  der  auffassenden  Stimmung  giebt  denselben  Lauten 
eine  auf  verschiedene  Weise  gesteigerte  Geltung  und  es  ist,  als 
wenn  bei  jedem  Ausdruck  etwas  durch  ihn  nicht  absolut  Be- 
stimmtes gleichsam  überschwahkte. 

Dieser  Unterschied  liegt  sichtbar  darin,  ob  die  Sprache  auf 
ein  inneres  Ganzes  des  Gedankenzusammenhanges  und  der  Em- 
pfindung bezogen  oder  mit  vereinzelter  Seelenthätigkeit  einseitig 
zu  einem  abgeschlossnen  Zwecke  gebraucht  wird.  Von  dieser 
Seite  wird  sie  ebensowohl  durch  bloss  wissenschaftlichen  Ge- 
brauch, wenn  dieser  nicht  unter  dem  leitenden  Einlluss  höherer 
Ideen  steht,  als  durch  das  Alltagsbedürfniss  des  Lebens,  ja,  da 
sich  diesem  Empfindung  und  Leidenschaft  beimischen,  noch  stärker 
beschränkt.  Weder  in  den  Begriffen  noch  in  der  Sprache  selbst 
steht  irgend  etwas  vereinzelt  da.  Die  Verknüpfungen  wachsen 
aber  den  Begriffen  nur  dann  wirklich  zu,  wenn  das  Gemüth  in 
innerer  Einheit  thätig  ist,  wenn  die  volle  Subjectivität  einer  voll- 
endeten Objectivität  entgegenstrahlt.  Dann  wird  keine  Seite,  von 
welcher  der  Gegenstand  einwirken  kann,  vernachlässigt  und  jede 
dieser  Einwirkungen  lässt  eine  leise  Spur  in  der  Sprache  zurück. 
Wenn  in  der  Seele  wahrhaft  das  Gefühl  erwacht,  dass  die  Sprache 
nicht  bloss  ein  Austauschungsmittel  zu  gegenseitigem  Verständniss, 
sondern  eine  wahre  Welt  ist,  welche  der  Geist  zwischen  sich  und 
die  Gegenstände  durch  die  innere  Arbeit  seiner  Kraft  setzen  muss, 
so  ist  sie  auf  dem  wahren  Wege,  immer  mehr  in  ihr  zu  finden 
und  in  sie  zu  legen.^) 

y  Statt  dieses  Absatzes  stand  iirspi'ünglich  folgender:  „Die  Verschiedenheit 
der  auffassenden  Stimmung  giebt  denselben  Lauten  verschiedene  Geltung.  Unter- 
sucht man  diese  Fälle  genauer,  so  zeigt  sich,  dass  der  wahre  Unterschied  darin 
liegt,  ob  das  Wort  als  das  vollendete  Zeichen  des  Begriffs  oder  nur  als  ein  An- 
stoss  diesen  Begriff  hervorzubringen  angesehen  wird.    Ich  hatte  schon  oben  darauf 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.      inn 

Wo  ein  solches  Zusammenwirken  der  in  bestimmte  Laute  ein- 
geschlossenen Sprache  und  der  ihrer  Natur  nach  immer  weiter 
greifenden  inneren  Auffassung  lebendig  ist,  da  betrachtet  der 
Geist  die  Sprache,  wie  sie  denn  in  der  That  in  ewiger  Schöpfung 
b.egritfen  ist,  nicht  als  geschlossen,  sondern  strebt  unaufhörlich, 
Neues  zuzuführen,  um  es,  an  sie  geheftet,  wieder  auf  sich  zurück- 
wirken zu  lassen.  Dies  setzt  aber  ein  Zwiefaches  voraus,  ein  Ge- 
fühl, dass  es  etwas  giebt,  das  die  Sprache  nicht  unmittelbar  ent- 
hält, sondern  der  Geist,  von  ihr  angeregt,  ergänzen  muss, .  und 
den  Trieb,  wiederum  alles,  was  die  Seele  empfindet,  mit  dem 
Laut  zu  verknüpfen.  Beides  entquillt  der  lebendigen  Ueberzeugung, 
dass  das  Wesen  des  Menschen  Ahndung  eines  Gebietes  besitzt, 
welches  über  die  Sprache  hinausgeht  und  das  durch  die   Sprache 


aufmerksam  gemacht,  dass  bei  jedem  Ausdruck  etwas  nicht  absolut  Bestimmtes 
gleichsam  überschwankt.  Es  hängt  also  davon  ab,  ob  in  der  Individualität  des 
Redenden  das  zarte  Gefühl  des  nicht  absolut  in  der  allgemeinen  Bezeichnung  des 
Ausdrucks  Enthaltenen  bis  zu  dem,  Grade  vorwaltend  ist,  dass  es  dasselbe  in 
Fällen,  welche  nicht  ganz  entschieden  das  Eine  oder  das  Andre  verlangen,  ver- 
letzt oder  begünstigt.  Es  ist  aber  nicht  bloss  das  Alltag sbedürfniss  des  Lebens, 
das  dahin  führt,  den  Ausdruck  als  geschlossen  zu  betrachten.  Auch  dem.  bloss 
wissenschaftlichen  Gebrauche  kann  es  genügen,  ja  nothwendig  seyn,  das  zu  Be- 
zeichnende so  bestimmt  in  den  Ausdruck  zu  fassen,  dass  durchaus  nicht  mehr 
oder  weniger  bei  demselben  gedacht  werden  kann.  Ueberall  dagegen,  wo  eine 
höhere  Freiheit  herrscht  und  es  nicht  auf  etwas  Aeusseres  oder  wenigstens  nicht 
allein  ankoirnnt,  wird  die  subjective  Individualität  angeregt  und  mischt  sich  zu- 
gleich dem  Gebrauch  und  dem  Verständniss  der  Sprache  bei.  Das  unbestimmt 
Gelassene,  innerlich  zu  Ergänzende  beruht  nemlich  einerseits  auf  der  nicht  ganz 
vollendeten  Abgränzung  des  Begriffs  durch  das  Wort,  andrerseits  aber  auf  der 
durch  beide  geweckten  Empfindung.  Das  Erstere  muss  allerdings  richtig  ver- 
standen werden.  Jedes  richtig  gebildete  Wort  muss  allerdings  den  Begriff  im 
Ganzen  genommen  bestimmt  und  vollständig  wecken.  In  seinen  individuellen 
Lauten,  ihrer  eignen  Natur,  ihrem  Abstammungsverhältniss  und  ihrer  ganzen 
Verbindung  mit  der  übrigen  Sprache  gemäss,  kamt  es  dies  aber  Jiicht  von  allen 
den  Eindrücken  aus,  mit  welchen  der  Gegenstand  auf  den  Menschen  eindringt. 
Insofern  es  wirklich  durch  sich  selbst,  nicht  bloss  Cojivention  ist,  wenn  gleich  ver- 
möge des  Gebrauchs  durch  die  schon  Jahrhunderte  hindurch  daran  geknüpft 
gewesene  Vorstellung  und  Empfindung,  beschränkt  es  sich  nothwendig  auf  eine 
bestimmte  Vorstellung  des  Gegenstandes.  Dies  geschieht  hier  von  Seiten  der 
Laute.  Von  Seiten  der  inneren  Auffassung  aber  kann  in  dem  Gebrauche  der 
Sprache  mehr  oder  weniger  Lebendigkeit  und  Vielseitigkeit  liegen  und  gleichsam 
an  den  Faden  des  Ausdrucks  die  Vorstellung  des  Gegenstandes  niit  Einwirkungen 
und  Beschaffenheiten  aus  dem  Gebiete  der  Anschauung  herausgezogen  werden, 
welche  das  Wort  bei  grösserer  Trägheit  der  Auffassimg  der  Seele  nicht  zuzu- 
führen vermöchte." 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  12 


2-^3  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

eigentlich  beschränkt  wird,  dass  aber  wiederum  sie  das  einzige 
Mittel  ist,  dies  Gebiet  zu  erforschen  und  zu  befruchten,  und  dass 
sie  gerade  durch  technische  und  sinnliche  Vollendung  einen  immer 
grösseren  Theil  desselben  in  sich  zu  verwandeln  vermag.  Diese 
Stimmung  ist  die  Grundlage  des  Charakterausdrucks  in  den 
Sprachen,  und  je  lebendiger  dieselbe  in  der  doppelten  Richtung, 
nach  der  sinnlichen  Form  der  Sprache  und  nach  der  Tiefe  des 
Gemüths  hin  wirkt,  desto  klarer  und  bestimmter  stellt  sich  die 
Eigenthümlichkeit  in  der  Sprache  dar.  Sie  gewinnt  gleichsam  an 
Durchsichtigkeit  und  lässt  in  das  Innere  des  Sprechenden  schauen. 
Dasjenige,  was  auf  diese  Weise  durch  die  Sprache  durch- 
scheint, kann  nicht  etwas  einzeln,  objectiv  und  qualitativ  An- 
deutendes seyn.  Denn  jede  Sprache  würde  alles  andeuten  können, 
wenn  das  Volk,  dem  sie  angehört,  alle  Stufen  seiner  Bildung  durch- 
liefe. Jede  hat  aber  einen  Theil,  der  entweder  nur  noch  jetzt  ver- 
borgen ist  oder,  wenn  sie  früher  untergeht,  ewig  verborgen  bleibt. 
Jede  ist,  wie  der  Mensch  selbst,  ein  sich  in  der  Zeit  allmählich 
entwickelndes  Unendliches.  Jenes  Durchschimmernde  ist  daher 
etwas  alle  Andeutungen  subjectiv  und  eher  quantitativ  Modi- 
ficirendes.  Es  erscheint  darin  nicht  als  Wirkung,  sondern  die 
wirkende  Kraft  äussert  sich  unmittelbar  als  solche  und  eben 
darum  auf  eine  eigne,  schwerer  zu  erkennende  Weise,  die  Wir- 
kungen gleichsam  nur  mit  ihrem  Hauche  umschwebend.  Der 
Mensch  stellt  sich  der  Welt  immer  in  Einheit  gegenüber.  Es  ist 
immer  dieselbe  Richtung,  dasselbe  Ziel,  dasselbe  Mass  der  Be- 
wegung, in  welchen  er  die  Gegenstände  erfasst  und  behandelt. 
Auf  dieser  Einheit  beruht  seine  Individualität.  Es  liegt  aber  in 
dieser  Einheit  ein  Zwiefaches,  obgleich  wieder  einander  Bestim- 
mendes, nemlich  die  Beschaffenheit  der  wirkenden  Kraft  und  die 
ihrer  Thätigkeit,  wie  sich  in  der  Körperwelt  der  sich  bewegende 
Körper  von  dem  Impulse  unterscheidet,  der  die  Heftigkeit, 
Schnelligkeit  und  Dauer  seiner  Bewegung  bestimmt.  Das  Erstere 
haben  wir  im  Sinn,  wenn  wir  einer  Nation  mehr  lebendige  An- 
schaulichkeit und  schöpferische  Einbildungskraft,  mehr  Neigung 
zu  abgezogenen  Ideen  oder  eine  bestimmtere  praktische  Richtung 
zuschreiben,  das  Letztere,  wenn  wir  eine  vor  der  andren  heftig, 
veränderlich,  schneller  in  ihrem  Ideengange,  beharrender  in  ihren 
Empfindungen  nennen.  In  Beidem  unterscheiden  wir  also  das 
Seyn  von  dem  Wirken  und  stellen  das  erstere,  als  unsichtbare 
Ursach   dem  in   die  Erscheinung   tretenden  Denken,   Empfinden 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.      jnQ 

und  Handeln  gegenüber.  Wir  meinen  aber  dann  nicht  dieses 
oder  jenes  einzelne  Seyn  des  Individuums,  sondern  das  allgemeine, 
das  in  jedem  einzelnen  bestimmend  hervortritt.  Jede  erschöpfende 
Charakterschilderung  muss  dies  Seyn  als  Endpunkt  ihrer  Forschung 
vor  Augen  haben. 

Wenn  man  nun  die  gesammte  innere  und  äussere  Thätigkeit 
des  Menschen  bis  zu  ihren  einfachsten  Endpunkten  verfolgt,  so 
findet  man  diese  in  der  Art,  wie  er  die  W^irklichkeit  als  Object, 
das  er  aufnimmt,  oder  als  Materie,  die  er  gestaltet,  mit  sich  ver- 
knüpft oder  auch  unabhängig  von  ihr  sich  eigene  W^ge  bahnt. 
Wie  tief  und  auf  welche  Weise  der  Mensch  in  die  Wirklichkeit 
Wurzel  schlägt,  ist  das  ursprünglich  charakteristische  Merkmal 
seiner  Individualität.  Die  Arten  jener  Verknüpfung  können  zahllos 
seyn,  je  nachdem  sich  die  Wirklichkeit  oder  die  Innerlichkeit,  deren 
keine  die  andre  ganz  zu  entbehren  vermag,  von  einander  zu  trennen 
versuchen  oder  sich  mit  einander  in  verschiedenen  Graden  und 
Richtungen  verbinden. 

Man  darf  aber  nicht  glauben,  dass  ein  solcher  Massstab  bloss 
bei  schon  intellectuell  gebildeten  Nationen  anwendbar  sey.  In  den 
Aeusserungen  der  Freude  eines  Haufens  von  Wilden  wird  sich 
unterscheiden  lassen,  wie  weit  sich  dieselbe  von  der  blossen  Be- 
friedigung der  Begierde  unterscheidet  und  ob  sie,  als  ein  wahrer 
Götterfunke,  aus  dem  inneren  Gemüthe  als  wahrhaft  menschliche 
Empfindung,  bestimmt,  einmal  in  Gesang  und  Dichtung  aufzu- 
blühen, hervorbricht.  Wenn  aber  auch,  wie  daran  kein  Zweifel 
seyn  kann,  der  Charakter  der  Nation  sich  an  allem  ihr  wahrhaft 
Eigenthümlichen  offenbart,  so  leuchtet  er  vorzugsweise  durch  die 
Sprache  durch.  Indem  sie  mit  allen  Aeusserungen  des  Gemüths 
verschmilzt,  bringt  sie  schon  darum  das  immer  sich  gleich  blei- 
bende, individuelle  Gepräge  öfter  zurück.  Sie  ist  aber  auch  selbst 
durch  so  zarte  und  innige  Bande  mit  der  Individualität  verknüpft, 
dass  sie  immer  wieder  eben  solche  an  das  Gemüth  des  Hörenden 
heften  muss,  um  vollständig  verstanden  zu  werden.  Die  ganze  Indivi- 
dualität des  Sprechenden  wird  daher  von  ihr  in  den  Andren  über- 
getragen, nicht  um  seine  eigne  zu  verdrängen,  sondern  um  aus  der 
fremden  und  eignen  einen  neuen,  fruchtbaren  Gegensatz  zu  bilden.^) 


V  Nach  „bilden"  gestrichen:  „wie  alles  in  der  Sprache  zugleich  Selbst- 
ständigkeit und  Wechselwirkung,  iminer  beruhend  auf  detn  Gegensatz  des  Ich 
und  des  Du  der  Anrede  und  der  Erwiderung  ist." 


jgQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Das  Gefühl  des  Unterschiedes  zwischen  dem  Stoff,  den  die 
Seele  aufnimmt  und  erzeugt,  und  der  in  dieser  doppelten  Thätig- 
keit  treibenden  und  stimmenden  Kraft,  zwischen  der  Wirkung  und 
dem  wirkenden  Seyn,  die  richtige  und  verhältnissmässige  Würdi- 
gung beider  und  die  gleichsam  hellere  Gegenwart  des  dem  Grade 
nach  obenan  stehenden  vor  dem  Bewusstseyn  liegt  nicht  gleich 
stark  in  jeder  nationellen  Eigenthümlichkeit.  Wenn  man  den 
Grund  des  Unterschiedes  hiervon  tiefer  untersucht,  so  findet  man 
ihn  in  der  mehr  oder  minder  empfundenen  Nothwendigkeit  des 
Zusammenhanges  aller  Gedanken  und  Empfindungen  des  Indivi- 
duums durch  die  ganze  Zeit  seines  Daseyns  und  des  gleichen  in 
der  Natur  geahndeten  und  geforderten.  Was  die  Seele  hervor- 
bringen mag,  so  ist  es  nur  Bruchstück,  und  je  beweglicher  und 
lebendiger  ihre  Thätigkeit  ist,  desto  mehr  regt  sich  alles,  in  ver- 
schiedenen Abstufungen  mit  dem  Hervorgebrachten  Verwandte. 
Ueber  das  Einzelne  schiesst  also  immer  etwas,  minder  bestimmt 
Auszudrückendes  über  oder  vielmehr  an  das  Einzelne  hängt  sich 
die  Forderung  weiterer  Darstellung  und  Entwicklung,  als  in  ihm 
unmittelbar  liegt,  und  geht  durch  den  Ausdruck  in  der  Sprache 
in  den  Andren  über,  der  gleichsam  eingeladen  wird,  in  seiner  Auf- 
fassung das  Fehlende  harmonisch  mit  dem  Gegebenen  zu  ergänzen. 
Wo  der  Sinn  hierfür  lebendig  ist,  erscheint  die  Sprache  mangel- 
haft und  dem  vollen  Ausdruck  ungenügend,  da  im  entgegen- 
gesetzten Fall  kaum  die  Ahndung  entsteht,  dass  über  das  Ge- 
gebene hinaus  noch  etwas  fehlen  könne.  Zwischen  diesen  beiden 
Extremen  aber  befindet  sich  eine  zahllose  Menge  von  Mittelstufen 
und  sie  selbst  gründen  sich  offenbar  auf  vorherrschende  Richtung 
nach  dem  Inneren  des  Gemüths  und  nach  der  äusseren  Wirk- 
lichkeit. 

Die  Griechen,  die  in  diesem  ganzen  Gebiete  das  lehrreichste 
Beispiel  abgeben,  verbanden  in  ihrer  Dichtung  überhaupt,  be- 
sonders aber  in  der  lyrischen,  mit  den  Worten  Gesang,  Instru- 
mentalmusik, Tanz  und  Geberde.  Dass  sie  dies  aber  nicht  bloss 
thaten,  um  den  sinnlichen  Eindruck  zu  vermehren  und  zu  ver- 
vielfachen, sieht  man  deutlich  daraus,  dass  sie  allen  diesen  ein- 
zelnen Einwirkungen  einen  gleichförmigen  Charakter  beigaben. 
Musik,  Tanz  und  die  Rede  im  Dialekte  mussten  sich  einer  und 
ebenderselben  ursprünglich  nationellen  Eigenthümlichkeit  unter- 
werfen. Dorisch,  Aeolisch  oder  von  einer  andren  Tonart  und 
andrem   Dialekte    seyn.      Sie    suchten    also    das    Treibende    und 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.      i3j 

Stimmende  in  der  Seele  auf,  um  die  Gedanken  des  Liedes  in 
einer  bestimmten  Bahn  zu  ertialten  und  durch  die,  nicht  als  Idee 
geltende  Regung  des  Gemüthes  in  dieser  Bahn  zu  beleben  und 
zu  verstärken.  Denn  wie  in  der  Dichtung  und  dem  Gesänge  die 
Worte  und  ihr  Gedankengehalt  vorwalten  und  die  begleitende 
Stimmung  und  Anregung  ihnen  nur  zur  Seite  steht,  so  verhält 
es  sich  umgekehrt  in  der  Musik.  Das  Gemüth  wird  nur  zu  Ge- 
danken, Empfindungen  und  Handlungen  angefeuert  und  begeistert. 
Diese  müssen  in  eigner  Freiheit  aus  dem  Schoosse  dieser  Be- 
geisterung hen^orgehen  und  die  Töne  bestimmen  sie  nur  insofern, 
als  in  den  Bahnen,  in  welche  sie  die  Regung  einleiten,  sich  nur 
bestimmte  entwickeln  können.  Das  Gefühl  des  Treibenden  und 
Stimmenden  im  Gemüth  ist  aber  nothwendig  immer,  wie  es  sich 
hier  bei  den  Griechen  zeigt,  ein  Gefühl  vorhandener  oder  ge- 
forderter Individualität,  da  die  Kraft,  welche  alle  Seelenthätigkeit 
umschliesst,  nur  eine  bestimmte  seyn  und  nur  in  einer  solchen 
Richtung  wirken  kann. 

Wenn  ich  daher  im  Vorigen  von  etwas  über  den  Ausdruck 
Ueberschiessendem,  ihm  selbst  Mangelnden  sprach,  so  darf  man 
sich  darunter  durchaus  nichts  Unbestimmtes  denken.  Es  ist  viel- 
mehr das  Allerbestimmteste,  weil  es  die  letzten  Züge  der  Indivi- 
dualität vollendet,  was  das  seiner  Abhängigkeit  vom  Objecte  und 
der  von  ihm  geforderten  allgemeinen  Gültigkeit  wegen  immer 
minder  individualisirende  Wort  vereinzelt  nicht  zu  thun  vermag. 
Wenn  daher  auch  dasselbe  Gefühl  eine  mehr  innerliche,  sich  nicht 
auf  die  Wirklichkeit  beschränkende  Stimmung  voraussetzt  und 
nur  aus  einer  solchen  entspringen  kann,  so  führt  es  darum  nicht 
von  der  lebendigen  Anschauung  in  abgezogenes  Denken  zurück. 
Es  weckt  vielmehr,  da  es  von  der  eignen  Individualität  ausgeht, 
die  Forderung  der  höchsten  IndividuaUsirung  des  Objects,  die  nur 
durch  das  Eindringen  in  alle  Einzelnheiten  der  sinnlichen  Auf- 
fassung und  durch  die  höchste  AnschauHchkeit  der  Darstellung 
erreichbar  ist.  Dies  zeigen  eben  wieder  die  Griechen.  Ihr  Sinn 
gieng  vorzugsweise  auf  das,  was  die  Dinge  sind  und  wie  sie  er- 
scheinen, nicht  einseitig  auf  dasjenige  hin,  w^ofür  sie  im  Gebrauche 
der  Wirklichkeit  gelten.  Ihre  Richtung  war  daher  ursprünglich 
eine  innere  und  intellectuelle.  Dies  beweist  ihr  ganzes  Privat- 
und  öffentliches  Leben,  da  Alles  in  demselben  theils  ethisch  be- 
handelt, theils  mit  Kunst  begleitet  und  meistentheils  gerade  das 
Ethische   in   die  Kunst  selbst  verflochten  wurde.     So  erinnert  bei 


jg2  l-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

ihnen  fast  jede  äussere  Gestaltung,  oft  mit  Gefährdung  und  selbst 
wahrem  Nachtheil  der  praktischen  Tauglichkeit,  an  eine  innere. 
Eben  darum  nun  giengen  sie  in  allen  geistigen  Thätigkeiten  auf 
die  Auffassung  und  Darstellung  des  Charakters  aus,  immer  aber 
mit  dem  Gefühle,  dass  nur  das  vollendete  Eindringen  in  die  An- 
schauung ihn  zu  erkennen  und  zu  zeichnen  vermag  und  dass  das 
an  sich  nie  völlig  auszudrückende  Ganze  derselben  nur  aus  einer, 
vermittelst  richtigen,  gerade  auf  jene  Einheit  gerichteten  Tacts 
geordneten  Verknüpfung  der  Einzelnheiten  hervorspringen  kann. 
Dies  macht  besonders  ihre  frühere  Dichtung,  namentlich  die 
Homerische  so  durch  und  durch  plastisch.  Die  Natur  wird,  wie 
sie  ist,  die  Handlung,  selbst  die  kleinste,  z.  B.  das  Anlegen  der 
Rüstung,  wie  sie  allmählich  fortschreitet,  vor  die  Augen  gestellt 
und  aus  der  Schilderung  geht  immer  der  Charakter  hervor,  ohne 
dass  sie  je  zu  einer  blossen  Herzählung  des  Geschehenen  herab- 
sinkt. Dies  aber  wird  nicht  sowohl  durch  eine  Auswahl  des  Ge- 
schilderten bewirkt,  als  dadurch,  dass  die  gewaltige  Kraft  des  vom 
Gefühle  der  Individualität  beseelten  und  nach  Individualisirung 
strebenden  Sängers  seine  Dichtung  durchströmt  und  sich  dem 
Hörer  mittheilt.  Vermöge  dieser  geistigen  Eigenthümlichkeit 
wurden  die  Griechen  durch  ihre  Intellectualität  in  diese  ganze 
lebendige  Mannigfaltigkeit  der  Sinnenwelt  und  von  dieser,  da  sie 
in  ihr  doch  etwas,  das  nur  der  Idee  angehören  kann,  suchten, 
wieder  zur  Intellectualität  zurückgedrängt.  Denn  ihr  Ziel  war 
immer  der  Charakter,  nicht  bloss  das  Charakteristische,  da  das 
Erahnden  des  ersteren  gänzlich  vom  Haschen  nach  diesem  ver- 
schieden ist.  Diese  Richtung  auf  den  wahren,  individuellen 
Charakter  zog  dann  zugleich  zu  dem  Idealischen  hin;  da  das  Zu- 
sammenwirken der  Individualitäten  auf  die  höchste  Stufe  der  Auf- 
fassung, auf  das  Streben  führt,  das  Individuelle  als  Beschränkung 
zu  vernichten  und  nur  als  leise  Gränze  bestimmter  Gestaltung  zu 
erhalten.  Daraus  entsprang  die  Vollendung  der  Griechischen 
Kunst,  die  Nachbildung  der  Natur  aus  dem  Mittelpunkte  des 
lebendigen  Organismus  jedes  Gegenstandes,  gelingend  durch  das 
den  Künstler  neben  der  vollständigsten  Durchschauung  der  Wirk- 
lichkeit beseelende  Streben  nach  höchster  Einheit  des  Ideals. 

Es  liegt  aber  auch  in  der  historischen  Entwicklung  des 
Griechischen  Völkerstammes  etwas,  das  die  Griechen  vorzugsweise 
zur  Ausbildung  des  Charakteristischen  hinwies,  nemlich  die  Ver- 
theilung  in  einzelne,  in  Dialekt  und  Sinnesart  verschiedne  Stämme 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.      !§•> 

und  die  durch  mannigfaltige  Wanderungen  und  inwohnende  Be- 
wegHchkeit  bewirkte  geographische  Mischung  derselben.  Alle  um- 
schloss  das  allgemeine  Griechenthum  und  trug  in  jeden  in  allen 
Aeusserungen  seiner  Thätigkeh,  von  der  Verfassung  des  Staats 
bis  zur  Tonart  des  Flötenspielers,  zugleich  sein  eigenthümliches 
Gepräge  über.  Geschichtlich  gesellte  sich  nun  hierzu  der  andre 
begünstigende  Umstand,  dass  keiner  dieser  Stämme  den  andren 
unterdrückte,  sondern  alle  in  einer  gewissen  Gleichheit  des  Strebens 
aufblühten,  keiner  der  einzelnen  Dialekte  der  Sprache  zum  blossen 
Volksdialekte  herabgesetzt  oder  zum  höheren  allgemeinen  erhoben 
wurde  und  dass  dies  gleiche  Aufspriessen  der  Eigenthümlichkeit 
gerade  in  der  Periode  der  lebendigsten  und  kraftvollsten  Bildung 
der  Sprache  und  der  Nation  am  stärksten  und  entschiedensten 
war.  Hieraus  bildete  nun  der  Griechische  Sinn,  in  Allem  darauf 
gerichtet,  das  Höchste  aus  dem  bestimmt  Individuellsten  hervor- 
gehen zu  lassen,  etwas,  das  sich  bei  keinem  andren  Volke  in  dem 
Grade  zeigt.  Er  behandelte  nemlich  diese  ursprünglichen  Volks- 
eigenthümlichkeiten  als  Gattungen  der  Kunst  und  führte  sie  auf 
diese  Weise  in  die  Architektur,  Musik,  Dichtung  und  in  den 
edleren  Gebrauch  der  Sprache  ein.*)  Das  bloss  Volksmässige 
wurde  ihnen  genommen,  Laute  und  Formen  wurden  in  den 
Dialekten  geläutert  und  dem  Gefühle  der  Schönheit  und  des  Zu- 
sammenklanges unterworfen.  So  veredelt,  erhoben  sie  sich  zu 
eignen  Charakteren   des  Styls   und   der  Dichtung,   fähig,   in  ihren 


*)  Den  engen  Zusammenhang  zwischen  der  Volksthümlichkeit  der  verschiedenen 
Griechischen  Stämme  und  ihrer  Dichtung,  Musik,  Tanz-  und  Geberdenkunst  und  selbst 
ihrer  Architektur  hat  Böckh  in  den,  seine  Ausgabe  des  Pindar  begleitenden  Abhand- 
lungen, in  welchen  dem  Studium  des  Lesers  ein  reicher  Schatz  mannigfaltiger  und 
grossentheils  bis  dahin  verborgener  Gelehrsamkeit  in  methodisch  fasslicher  Anordnung 
dargeboten  wird,  in  klares  und  volles  Licht  gestellt.  Denn  er  begnügt  sich  nicht,  den 
Charakter  der  Tonarten  in  allgemeinen  Ausdiücken  zu  schildern,  sondern  geht  in  die 
einzelnen  metrischen  und  musikalischen  Punkte  ein,  an  welche  ihre  Verschiedenheit 
sich  anknüpft,  was  vor  ihm  niemals  auf  diese  gründlich  historische  und  genau  wissen- 
schaftliche Weise  geschehen  war.  Es  wäre  ungemein  zu  wünschen,  dass  dieser,  die  aus- 
gedehnteste Kenntniss  der  Sprache  mit  einer  seltenen  Durchschauung  des  Griechischen 
Alterthums  in  allen  seinen  Theilen  und  nach  allen  Richtungen  hin  verbindende  Philo- 
loge recht  bald  seinen  Entschluss  ausführte,  dem  Einfluss  des  Charakters  und  der  Sitten 
der  einzelnen  Griechischen  Stämme  auf  ihre  Musik,  Poesie  imd  Kunst  eine  eigne  Schrift 
zu  widmen,  um  diesen  wichtigen  Gegenstand  in  seinem  ganzen  Umfange  abzuhandeln. 
Man  sehe  seine  Aeusserungen  über  ein  solches  Vorhaben  in  seiner  Ausgabe  des  Pindar. 
Tom.  I.  de  metris  Pindari.  p.  253.  nt.   14.,  besonders  aber  p.  279. 


j^A  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

sich  ergänzenden  Gegensätzen  idealisch  zusammenzustreben.  Ich 
brauche  kaum  zu  bemerken,  dass  ich  hier,  was  die  Dialekte  und 
die  Dichtung  betrifft,  nur  von  dem  Gebrauch  verschiedener  Ton- 
arten und  Dialekte  in  der  lyrischen  und  dem  Unterschiede  der 
Chöre  und  des  Dialogs  in  der  tragischen  Poesie  rede,  nicht  von 
den  Fällen,  wo  in  der  Komödie  verschiedene  Dialekte  den  handelnden 
Personen  in  den  Mund  gelegt  werden.  Diese  Fälle  haben  mit 
jenen  durchaus  nichts  gemein  und  finden  sich  wohl  mehr  oder 
weniger  in  den  Literaturen  aller  Völker. 

In  den  Römern,  wie  sich  ihre  Eigenthümlichkeit  auch  in  ihrer 
Sprache  und  Literatur  darstellt,  offenbart  sich  viel  weniger  das 
Gefühl  der  Nothwendigkeit,  die  Aeusserungen  des  Gemüths  zu- 
gleich mit  dem  unmittelbaren  Einfluss  der  treibenden  und  stimmen- 
den Kraft  auszustatten.  Ihre  Vollendung  und  Grösse  entwickelt 
sich  auf  einem  andren,  dem  Gepräge,  das  sie  ihren  äusseren 
Schicksalen  aufdrückten,  homogeneren  Wege.  Dagegen  spricht 
sich  jenes  Gefühl  in  der  Deutschen  Sinnesart  vielleicht  nicht 
weniger  stark,  als  bei  den  Griechen  aus,  nur  dass,  so  wie  diese 
die  äussere  Anschauung,  wir  mehr  die  innere  Empfindung  zu  in- 
dividualisiren  geneigt  sind. 

Ich  habe  das  Gefühl,  dass  alles  sich  im  Gemüthe  Erzeugende, 
als  Ausfluss  Einer  Kraft,  ein  grosses  Ganzes  ausmacht  und  dass 
das  Einzelne,  gleichsam  von  dem  Hauche  jener  Kraft,  Merkzeichen 
seines  Zusammenhanges  mit  diesem  Ganzen  an  sich  tragen  muss, 
bis  hierher  mehr  in  seinem  Einflüsse  auf  die  einzelnen  Aeusserungen 
betrachtet.  Es  übt  aber  auch  eine  nicht  minder  bedeutende  Rück- 
wirkung auf  die  Art  aus,  wie  jene  Kraft,  als  erste  Ursach  aller 
Geisteserzeugungen,  zum  Bewusstseyn  ihrer  selbst  gelangt.^)  Das 
Bild  seiner  ursprünglichen  Kraft  kann  aber  dem  Menschen  nur 
als  ein  Streben  in  bestimmter  Bahn  erscheinen  und  eine  solche 
setzt  ein  Ziel  voraus,  welches  kein  anderes,  als  das  menschliche 
Ideal  seyn  kann.  In  diesem  Spiegel  erblicken  wir  die  Selbst- 
anschauung der  Nationen.  Der  erste  Beweis  ihrer  höheren  In- 
tellectualität  und  ihrer  tiefer  eingreifenden  Innerlichkeit  ist  es  nun, 
wenn  sie   dies  Ideal   nicht  in   die  Schranken  der  Tauglichkeit  zu 

V  Nach  „gelangt"  gestrichen:  „Sie  sammelt  sich  in  reiner  Einheit  ihrer 
Eigenthümlichkeit  und  ihr  Bild  tritt  klarer  in  den  Kreis  der  Erscheinungen, 
indem  der  Mensch  aus  der  Stärke  seiner  eignen  empfundenen  Individualität 
äusserlich  zu  individualisiren  [und]  dem  Gefühl  des  eignen  Charakters  zu  ge- 
nügen strebt." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.      i3c: 

bestimmten  Zwecken  einschliessen,  sondern,  woraus  innere  Freiheit 
und  Allseitigkeit  hen^orgeht,  dasselbe  als  etwas,  das  seinen  Zweck 
nur  in  seiner  eignen  Vollendung  suchen  kann,  als  ein  allmähliches 
Aufblühen  zu  nie  endender  Entwicklung  betrachten.  Allein  auch 
diese  erste  Bedingung  in  gleicher  Reinheit  vorausgesetzt,  entstehen 
aus  der  Verschiedenheit  der  individuellen  Richtung  nach  der  sinn- 
lichen Anschauung,  der  inneren  Empfindung  und  dem  abgezogenen 
Denken  verschiedene  Erscheinungen.^)  In  jeder  derselben  strahlt 
die  den  Menschen  umgebende  Welt,  von  einer  andren  Seite  in 
ihn  aufgenommen,  in  verschiedener  Form  aus  ihm  zurück.  In 
der  äusseren  Natur,  um  einen  solchen  Zug  hier  herauszuheben, 
bildet  Alles  eine  stätige  Reihe,  gleichzeitig  vor  dem  Auge,  auf 
einander  folgend  in  der  Entwicklung  der  Zustände  aus  einander.'^) 
Ebenso  sehr  ist  dies  in  der  bildenden  Kunst  der  Fall.^)  Bei  den 
Griechen,  denen  es  verliehen  war,  immer  die  vollste  und  zarteste 
Bedeutung  aus  der  sinnlichen,  äusseren  Anschauung  zu  ziehen, 
ist  vielleicht,  was  ihre  geistige  Thätigkeit  betrifft,  der  am  meisten 
charakteristische  Zug  ihre  Scheu  vor  allem  Uebermässigen  und 
Uebertriebenen,  die  inwohnende  Neigung,  bei  aller  Regsamkeit 
und  Freiheit  der  Einbildungskraft,  aller  scheinbaren  Ungebunden- 
heit  der  Empfindung,  aller  Veränderlichkeit  der  Gemüthsstimmung, 
aller  Beweglichkeit,  von  Entschlüssen  zu  Entschlüssen  überzugehen, 
dennoch  immer  Alles,  w^as  sich  in  ihnen  gestaltete,  innerhalb  der 
Gränzen  des  Ebenmasses  und  des  Zusammenklanges  zu  halten. 
Sie  besassen  in  höherem  Grade,  als  irgend  ein  anderes  Volk  Tact 
und  Geschmack  und  der  sich  in  allen  ihren  Werken  offenbarende 
zeichnet  sich  noch  vorzugsweise  dadurch  aus,  dass  die  Verletzung 
der  Zartheit  des  Gefühls  niemals  auf  Kosten  seiner  Stärke  oder 
der  Naturwahrheit  vermieden  wird.*)     Die  innere  Empfindung  er- 

V  Nach  „Erscheinungen"  gestrichen:  „sowohl  der  Kraft  als  ihrer  Aeusse- 
rungen,  und  diese  wirken  dann  im  Einzelnen  weiter  und  vorzüglich  auf  die  Art 
der  Verknüpfung  des  wahrgenommenen  Endlichen  und  des  geahndeten  und  des 
geforderten  Unendlichen,  da  diese  Verknüpfung  in  der  Vorstellung  der  Indivi- 
dualität als  einer  Annäherung  zum  Ideale  nie  fehlen  kann." 

^)  Nach  „einander"  gestrichen :  „Das  Gefühl  ihrer  Unendlichkeit  geht  in  uns 
aus  diesem  ununterbrochenen  Zusammenhange  des  Einzelnen  über." 

*j  Nach  „Fall"  gestrichen:  „wo  das  vollständige  Aufnehmen  der  gestalteten 
Züge  zu  der  Empfindung  der  auf  dem  Ganzen  beruhenden  Schönheit  und  Er- 
habenheit führt." 

*■)  Nach  „wird"  gestrichen:  „Es  würde  schwer  zu  entscheiden  seyn,  ob  die 
vorherrschende  Richtung  auf  die  Anschauung  und  die  Kunst  dieser  Sorgfalt  des 


jgg  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

laubt,  auch  ohne  von  der  richtigen  Bahn  abzuweichen,  stärkere 
Gegensätze,  schroffere  Uebergänge,  Spaltungen  des  Gemüths  in 
unheilbare  Kluft.  Alle  diese  Erscheinungen  finden  sich  daher  — 
und  dies  beginnt  schon  bei  den  Römern  —  bei  den  Neueren. 

Das  Feld  der  Verschiedenheit  geistiger  Eigenthümlichkeit  ist 
von  unmessbarer  Ausdehnung  und  unergründlicher  Tiefe.  Der 
Gang  der  gegenwärtigen  Betrachtungen  erlaubte  mir  aber  nicht, 
es  ganz  unberührt  zu  lassen.  Dagegen  kann  es  scheinen,  dass 
ich  den  Charakter  der  Nationen  zu  sehr  in  der  inneren  Stimmung 
des  Gemüths  gesucht  habe,  da  er  sich  vielmehr  lebendig  und  an- 
schaulich in  der  Wirklichkeit  offenbart.  Er  äussert  sich,  wenn 
man  die  Sprache  und  ihre  Werke  ausnimmt,  in  Physiognomie, 
Körperbau,  Tracht,  Sitten,  Lebensweise,  Familien-  und  bürger- 
lichen Einrichtungen  und  vor  Allem  in  dem  Gepräge,  welches  die 
Völker  eine  Reihe  von  Jahrhunderten  hindurch  ihren  Werken  und 
Thaten  aufdrücken.  Dies  lebendige  Bild  scheint  in  einen  Schatten 
verwandelt,  wenn  man  die  Gestaltung  des  Charakters  in  der  Ge- 
müthsstimmung  sucht,  welche  diesen  lebendigen  Aeusserungen 
2um  Grunde  liegt.  Um  aber  den  Einfluss  desselben  auf  die  Sprache 
zu  zeigen,  schien  es  mir  nicht  möglich,  dies  Verfahren  zu  um- 
gehen. Die  Sprache  lässt  sich  nicht  unmittelbar  mit  jenen  that- 
sächlichen  Aeusserungen  überall  in  Verbindung  bringen.  Es  muss 
das  Medium  gefunden  werden,  in  welchem  beide  einander  be- 
gegnen und,  aus  Einer  Quelle  entspringend,  ihre  verschiedenen 
Wege  einschlagen.  Dies  aber  ist  offenbar  nur  das  Innerste  des 
Gemüths  selbst. 
32.  Ebenso  schwierig,  als  die  Abgränzung  der  geistigen  Indi- 
vidualität, ist  die  Beantwortung  der  Frage,  wie  sie  in  den  Sprachen 
Wurzel  schlägt?  woran  der  Charakter  der  Sprachen  in  ihnen  haftet? 
an  welchem  ihrer  Theile  er  erkennbar  ist?  Die  geistige  Eigenthüm- 
lichkeit der  Nationen  wird,  indem  sie  sich  der  Sprachen  bedienen, 
in  allen  Stadien  des  Lebens  derselben  sichtbar.  Ihr  Einfluss 
modificirt  die  Sprachen  verschiedener  Stämme,  mehrere  desselben 
Stammes,  Mundarten  einer  einzelnen,  ja  endlich  dieselbe,  sich 
äusserlich  gleich  bleibende  Mundart  nach  Verschiedenheit  der 
Zeitalter  und  der  Schriftsteller.  Der  Charakter  der  Sprache  ver- 
mischt sich  dann  mit  dem  des  Styls,  bleibt  aber  immer  der  Sprache 


Massbewahrens  oder  die  letztere  der  ersleren  zum  Grunde  lag.    In  unzertrenn- 
lichem Zusammenhange  aber  standen  beide  gewiss.^' 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     31.  32.    jgy 

eigenthümlich,  da  nur  gewisse  Arten  des  Styls  jeder  Sprache  leicht 
und  natürlich  sind.  Macht  man  zwischen  diesen  hier  aufgezählten 
Fällen  den  Unterschied,  ob  auch  die  Laute  in  den  Wörtern  und 
Beugungen  verschieden  sind,  wie  es  sich  in  immer  absteigenden 
Graden  von  den  Sprachen  verschiedenen  Stammes  an  bis  zu  den 
Dialekten  zeigt,  oder  ob  der  Einfluss,  indem  jene  äussere  Form 
ganz  oder  doch  wesentlich  dieselbe  bleibt,  nur  in  dem  Gebrauche 
der  Wörter  und  Fügungen  liegt,  so  ist  in  dem  letzteren  Falle  die 
Einwirkung  des  Geistes,  da  die  Sprache  hier  schon  zu  hoher 
intellectueller  Ausbildung  gelangt  seyn  muss,  sichtbarer,  aber  feiner, 
in  dem  ersteren  mächtiger,  aber  dunkler,  da  sich  der  Zusammen- 
hang der  Laute  mit  dem  Gemüthe  nur  in  wenigen  Fällen  be- 
stimmt und  scharf  erkennen  und  schildern  lässt.  Doch  kann, 
selbst  in  Dialekten,  kleine  und  im  Ganzen  die  Sprache  wenig  ver- 
ändernde Umbildung  einzelner  Vocale  mit  Recht  auf  die  Gemüths- 
beschaffenheit  des  Volkes  bezogen  werden,  wie  schon  die  Griechi- 
schen Grammatiker  von  dem  männlicheren  Dorischen  a  gegen 
das  weichlichere  Ionische  ae  (i])  bemerken. 

In  der  Periode  der  ursprünglichen  Sprachbildung,  in  welche 
wir  auf  unsrem  Standpunkte  die  nicht  von  einander  abzuleitenden 
Sprachen  verschiedener  Stämme  setzen  müssen,  waltet  das  Streben, 
-die  Sprache  nur  erst  wahrhaft,  dem  eignen  Bewusstseyn  anschau- 
lich und  dem  Hörenden  verständhch,  aus  dem  Geiste  heraus- 
zubauen, gleichsam  die  Schöpfung  ihrer  Technik  zu  sehr  vor,  um 
nicht  den  Einfluss  der  individuellen  Geistesstimmung,  die  ruhiger 
und  klarer  aus  dem  späteren  Gebrauche  hervorleuchtet,  einiger 
massen  zu  verdunkeln.  Doch  wirkt  gerade  dazu  die  ursprüngliche 
Charakteranlage  der  Völker  gewiss  am  mächtigsten  und  einfluss- 
-reichsten  mit.  Dies  sehen  wir  gleich  an  zwei  Punkten,  die,  da 
sie  die  gesammte  intellectuelle  Anlage  charakterisiren,  eine  Menge 
anderer  zugleich  bestimmen.  Die  verschiedenen,  oben  nach- 
gewiesenen Wege,  auf  welchen  die  Sprachen  die  Verknüpfung 
der  Sätze  bezwecken,  machen  den  wichtigsten  Theil  ihrer  Technik 
aus.  Gerade  hierin  nun  enthüllt  sich  erstlich  die  Klarheit  und 
Bestimmtheit  der  logischen  Anordnung,  welche  allein  der  Freiheit 
des  Gedankenflugs  eine  sichere  Grundlage  verleiht  und  zugleich 
Gesetzmässigkeit  und  Ausdehnung  der  Intellectualität  darthut,  und 
zweitens  das  mehr  oder  minder  durchscheinende  Bedürfniss  nach 
sinnlichem  Reichthum  und  Zusammenklang,  die  Forderung  des 
Gemüths,  was  nur  irgend  innerlich  wahrgenommen  und  empfunden 


jgg  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

wird,  auch  äusserlich  mit  Laut  zu  umkleiden.  Allein  gewiss  liegen 
auch  in  dieser  technischen  Form  der  Sprachen  noch  Beweise 
anderer  und  mehr  specieller  Geistes-Individualitäten  der  Nationen, 
wenn  sie  gleich  sich  minder  gewiss  aus  ihnen  herleiten  lassen. 
Sollte  nicht  z.  B.  die  feine  Unterscheidung  zahlreicher  Vocal- 
modificationen  und  Vocalstellungen  und  die  sinnvolle  Anwendung 
derselben,  verbunden  mit  der  Beschränkung  auf  dies  Verfahren 
und  der  Abneigung  gegen  Zusammensetzung,  ein  Uebergewicht 
scharfsinnig  und  spitzfindig  sondernden  Verstandes  in  den  Völkern 
Semitischen  Stammes,  besonders  den  Arabern,  verrathen  und  be- 
fördern ?  Hiermit  scheint  zwar  der  Bilderreichthum  der  Arabischen 
Sprache  ^)  in  Contrast  zu  stehen.  Wenn  es  aber  nicht  selbst  eine 
spitzfindige  Sonderung  der  Begriffe  ist,  so  möchte  ich  sagen,  dass 
jener  Bilderreichthum  in  den  'einmal  geformten  Wörtern  liegt, 
dagegen  die  Sprache  selbst,  hierin  mit  dem  Sanskrit  und  dem 
Griechischen  verglichen,  einen  viel  geringeren  Reichthum  von 
Mitteln  enthält,  immerfort  Dichtung  jeder  Gattung  aus  sich  her- 
vorspriessen  zu  lassen.  Gewiss  wenigstens  scheint  es  mir,  dass 
man  einen  Zustand  der  Sprache,  in  welchem  sie,  als  treues  Abbild 
einer  solchen  Periode,  viel  dichterisch  geformte  Elemente  enthält, 
von  demjenigen  unterscheiden  muss,  wo  ihrem  Organismus  selbst 
in  Lauten,  Formen,  freigelassenen  Verknüpfungen  und  Rede- 
fügungen unzerstörbare  Keime  ewig  sprossender  Dichtung  ein- 
gepflanzt sind.  In  dem  ersteren  erkaltet  nach  und  nach  die  einmal 
geprägte  Form  und  ihr  dichterischer  Gehalt  wird  nicht  mehr  be- 
geisternd empfunden.  In  dem  letzteren  kann  die  dichterische 
Form  der  Sprache  sich  in  immer  neuer  Frische  nach  der  Geistes- 
cultur  des  Zeitalters  und  dem  Genie  der  Dichter  selbsterzeugten 
Stoff  aneignen.  Das  bereits  oben  bei  Gelegenheit  des  Flexions- 
systems Bemerkte  findet  sich  auch  hier  bestätigt.  Der  wahre 
Vorzug  einer  Sprache  besteht  darin,  den  Geist  durch  die  ganze 
Folge  seiner  Entwicklungen  zu  gesetzmässiger  Thätigkeit  und 
Ausbildung  seiner  einzelnen  Vermögen  zu  stimmen  oder,  um  es 
von  Seiten  der  geistigen  Einwirkung  auszudrücken,  das  Gepräge 
einer  solchen  reinen,  gesetzmässigen  und  lebendigen  Energie  an 
sich  zu  tragen. 

Allein  auch  da,  wo  das  Formensystem  mehrerer  Sprachen  im 
Ganzen   dasselbe   ist,   wie   im   Sanskrit,   Griechischen,  Römischen 


V  Nach  „Sprache"  gestrichen:  „und  die  lebendige  Phantasie  des  Volkes". 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     32.      j  gg 

und  Deutschen,  in  welchen  allen  Flexion,  zugleich  durch  Vocal- 
wechsel  und  Anbildung,  selten  durch  jenen,  gewöhnlich  durch 
diese  bewirkt,  herrscht,  können  in  der  Anwendung  dieses  Systems 
wichtige,  durch  die  geistige  Eigenthümlichkeit  bewirkte  Unter- 
schiede liegen.  Einer  der  wichtigsten  ist  das  mehr  oder  minder 
sichtbare  ^^on^'alten  richtiger  und  vollständiger  grammatischer  Be- 
griffe und  die  Vertheilung  der  verschiedenen  Lautformen  unter 
dieselben.  Je  nachdem  dies  in  einem  Volke  bei  der  höheren  Be- 
arbeitung seiner  Sprache  herrschend  wird,  kehrt  sich  die  Auf- 
merksamkeit von  der  sinnlichen  Lautfülle  und  Mannigfaltigkeit 
der  Formen  auf  die  Bestimmtheit  und  die  scharf  abgegrenzte 
Feinheit  ihres  Gebrauchs.  Dies  kann  daher  auch  in  derselben 
Sprache  in  v^erschiedenen  Zeiten  gefunden  werden.  Eine  solche 
sorgfältige  Beziehung  der  Formen  auf  die  grammatischen  Begritfe 
zeigt  die  Griechische  Sprache  durchaus,  und  wenn  man  auch  auf 
den  Unterschied  zwischen  einigen  ihrer  Dialekte  Rücksicht  nimmt, 
so  verräth  sie  zugleich  eine  Neigung,  sich  der  zu  üppigen  Laut- 
fülle der  zu  volltönenden  Formen  zu  entledigen,  sie  zusammen- 
zuziehen oder  durch  kürzere  zu  ersetzen.  Das  jugendliche  Auf- 
rauschen der  Sprache  in  ihrer  sinnlichen  Erscheinung  concentrirt 
sich  mehr  auf  ihre  Angemessenheit  zum  inneren  Gedankenausdruck. 
Hierzu  trägt  die  Zeit  auf  doppelte  Weise  bei,  indem  auf  der  einen 
Seite  der  Geist  sich  im  fortschreitenden  Entwicklungsgange  immer 
mehr  zu  der  inneren  Thätigkeit  hinneigt  und  indem  auf  der 
andren  auch  die  Sprache  sich  im  Verlauf  ihres  Gebrauches  da, 
wo  die  geistige  Eigenthümlichkeit  nicht  alle  ursprünglich  bedeut- 
samen Laute  unversehrt  bewahrt,  abschleift  und  vereinfacht.  Auch 
im  Griechischen  ist,  gegen  das  Sanskrit  gehalten,  schon  das 
Letztere  sichtbar,  allein  nicht  in  dem  Grade,  dass  man  hierin  allein 
einen  genügenden  Erklärungsgrund  finden  könnte.  Wenn  in  dem 
Griechischen  Formengebrauch  in  der  That,  wie  es  mir  scheint, 
eine  mehr  gereifte  intellectuelle  Tendenz  liegt,  so  entspringt  sie 
wahrhaft  aus  dem  der  Nation  inwohnenden  Sinne  für  schnelle, 
feine  und  scharf  gesonderte  Gedankenentwicklung.  Die  Deutsche 
höhere  Bildung  dagegen  hat  unsere  Sprache  schon  auf  einem 
Punkte  der  Abschleifung  und  der  Abstumpfung  bedeutsamer  Laute 
gefunden,  so  dass  bei  uns  geringere  Hinneigung  zu  sinnlicher  An- 
schaulichkeit und  grösseres  Zurückziehen  auf  die  Empfindung 
allerdings  auch  darin  ihren  Grund  gehabt  haben  kann.  In  der 
Römischen  Sprache  ist  sehr  üppige  Lautfülle  und  grosse  Freiheit 


IQQ  I,    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

der  Phantasie  über  die  Lautformung  nie  ausgegossen  gewesen; 
der  männlichere,  ernstere  und  viel  mehr  auf  die  Wirklichkeit  und 
auf  den  unmittelbar  in  ihr  gültigen  Theil  des  Intellectuellen  ge- 
richtete Sinn  des  Volkes  gestattete  wohl  kein  so  üppiges  und  freies 
Aufspriessen  der  Laute.  Den  Griechischen  grammatischen  Formen 
kann  man,  als  Folge  der  grossen  Beweglichkeit  Griechischer 
Phantasie  und  der  Zartheit  des  Schönheitssinnes,  auch  wohl,  ohne 
zu  irren,  vorzugsweise  vor  den  übrigen  des  Stammes  grössere 
Leichtigkeit,  Geschmeidigkeit  und  gefälligere  Anmuth  zuschreiben. 

Auch  das  Mass,  in  welchem  die  Nationen  von  den  technischen 
Mitteln  ihrer  Sprachen  Gebrauch  machen,  ist  nach  ihrer  ver- 
schiedenen Geisteseigenthümlichkeit  verschieden.  Ich  erinnere  hier 
nur  an  die  Bildung  zusammengesetzter  Wörter.  Das  Sanskrit 
bedient  sich  derselben  innerhalb  der  weitesten  Gränzen,  die  sich 
eine  Sprache  überhaupt  leicht  erlauben  darf,  die  Griechen  auf  viel 
beschränktere  Weise  und  nach  Verschiedenheit  der  Dialekte  und 
des  Styls.  In  der  Römischen  Literatur  findet  sie  sich  vorzugs- 
weise bei  den  ältesten  Schriftstellern  und  wird  von  der  fort- 
schreitenden Cultur  der  Sprache  mehr  ausgeschlossen. 

Erst  bei  genauerer  Erwägung,  aber  dann  klar  und  deutlich 
findet  man  den  Charakter  der  verschiedenen  Weltauffassung  der 
Völker  an  der  Geltung  der  Wörter  haftend.  Ich  habe  schon  im 
Vorigen  (S.  170.  176.)  ausgeführt,  dass  nicht  leicht  irgend  ein 
W^ort,  es  müsste  denn  augenblicklich  bloss  als  materielles  Zeichen 
seines  Begriffes  gebraucht  werden,  von  verschiedenen  Individuen 
auf  dieselbe  Weise  in  die  Vorstellung  aufgenommen  wird.  Man 
kann  daher  geradezu  behaupten,  dass  in  jedem  etwas  nicht  wieder 
mit  Worten  zu  Unterscheidendes  liegt  und  dass  die  Wörter 
mehrerer  Sprachen,  w^enn  sie  auch  im  Ganzen  gleiche  Begriffe 
bezeichnen,  doch  niemals  wahre  Synonyma  sind.  Eine  Definition 
kann  sie,  genau  und  streng  genommen,  nicht  umschliessen  und 
oft  lässt  sich  nur  gleichsam  die  Stelle  andeuten,  die  sie  in  dem 
Gebiete,  zu  dem  sie  gehören,  einnehmen.  Auf  welche  Weise  dies 
sogar  bei  Bezeichnungen  körperlicher  Gegenstände  der  Fall  ist, 
habe    ich    gleichfalls    schon    erwähnt.^)     Das   wahre    Gebiet   ver- 

y  Nach  „erwähnt"  gestrichen:  „Es  giebt  aber  auch  Fälle,  wo  in  weniger 
feinetn  Sinne  die  Sprachen  selbst  nicht  einmal  im  Ganzen  wirkliche  Synonyma 
aufstellen.  So  z.  B.  bei  einigen  Theilen  des  menschlichen  Körpers,  wo  die 
nationeile  Ansicht  nicht  auf  dieselbe  Weise  abgränzt  und  daher  die  Bedeutung 
der  Ausdrücke  nicht  völlig  übereinstimmt."' 


und  ihren  Einflui3  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     32.       jgx 

schiedener  Wortgeltung  aber  ist  die  Bezeichnung  geistiger  Begriffe. 
Hier  drückt  selten  ein  Wort  ohne  sehr  sichtbare  Unterschiede 
den  gleichen  mit  dem  Worte  einer  anderen  Sprache  aus.  Wa 
wir,  wie  bei  den  Sprachen  roher  und  ungebildeter  Völker,  von 
den  feineren  Nuancen  ihrer  Wörter  keinen  Begriff  haben,  scheint 
uns  wohl  oft  das  Gegentheil  statt  zu  finden.  Allein  die  auf  andere,, 
hochgebildete  Sprachen  gerichtete  Aufmerksamkeit  verwahrt  vor 
solcher  übereilten  Ansicht  und  es  Hesse  sich  eine  fruchtbare  Ver- 
gleichung  solcher  Ausdrücke  derselben  Gattung,  eine  S5'^nonymik 
mehrerer  Sprachen,  wie  sie  von  einzelnen  Sprachen  vorhanden 
sind,  aufstellen.  Bei  Nationen  von  grosser  Geistesregsamkeit  bleibt 
aber  diese  Geltung,  wenn  man  sie  bis  in  die  feinsten  Abstufungen 
verfolgt,  gleichsam  in  beständigem  Flusse.  Jede  Zeit,  jeder  selbst- 
ständige Schriftsteller  fügt  unwillkührlich  hinzu  oder  ändert  ab, 
da  er  nicht  vermeiden  kann,  seine  Individualität  an  seine  Sprache 
zu  heften,  und  diese  ein  anderes  Bedürfniss  des  Ausdrucks  ihr 
entgegenträgt.  Es  wird  in  diesen  Fällen  lehrreich,  eine  doppelte 
\^ergleichung  der  für  den  im  Ganzen  gleichen  Begriff  in  mehreren 
Sprachen  gebräuchhchen  Wörter  und  derjenigen  derselben  Sprache, 
welche  zu  der  gleichen  Gattung  gehören,  vorzunehmen.  In  der 
letzteren  zeichnet  sich  die  geistige  Eigenthümlichkeit  in  ihrer 
Gleichförmigkeit  und  Einheit;  es  ist  immer  dieselbe,  die  sich  den 
objectiven  Begriffen  beimischt.  In  der  ersteren  erkennt  man,  wie 
derselbe  Begriff,  z.  B.  der  der  Seele  von  verschiedenen  Seiten  auf- 
gefasst  wird,  und  lernt  dadurch  gleichsam  den  Umfang  mensch- 
licher Vorstellungsw^eise  auf  geschichtlichem  Wege  kennen.  Diese 
kann  durch  einzelne  Sprachen,  ja  durch  einzelne  Schriftsteller  er- 
w^eitert  werden.  In  beiden  Fällen  entsteht  das  Resultat  theils 
durch  die  verschieden  angespannte  und  zusammenwirkende  Geistes- 
thätigkeit,  theils  durch  die  mannigfaltigen  Verknüpfungen,  in 
welche  der  Geist,  in  dem  nichts  jemals  einzeln  dasteht,  die  Be- 
griffe bringt.  Denn  es  ist  hier  von  dem  aus  der  Fülle  des  geistigen 
Lebens  hervorströmenden  Ausdruck  die  Rede,  nicht  von  der  Ge- 
staltung der  Begriffe  durch  die  Schule,  welche  sie  auf  ihre  noth- 
wendigen  Kennzeichen  beschränkt.  Aus  dieser  systematisch  genauen 
Beschränkung  und  Feststellung  der  Begriffe  und  ihrer  Zeichen 
entsteht  die  wissenschaftliche  Terminologie,  die  wir  im  Sanskrit 
in  allen  Epochen  des  Philosophirens  und  in  allen  Gebieten  des 
Wissens  ausgebildet  finden,  da  der  Indische  Geist  vorzugsweise 
auf  die  Sonderung   und  Aufzählung   der  Begriffe  hingieng.     Die 


,Q2  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

oben  angedeutete  doppelte  Vergleichung  bringt  die  bestimmte  und 
feine  Sonderung  des  Subjectiven  und  Objectiven  in  die  Klarheit 
des  Bewusstseyns  und  zeigt,  wie  beide  immer  wechselsweise  auf 
einander  wirken  und  die  Erhöhung  und  Veredlung  der  schaffenden 
Kraft  mit  der  harmonischen  Zusammenwölbung  der  Erkenntniss 
gleichen  Schritt  hält. 

Von  der  hier  entwickelten  Ansicht  sind  irrige  oder  mangel- 
hafte Auffassungen  der  Begriffe  ausgeschlossen  geblieben.  Es 
handelte  sich  hier  nur  von  dem  auf  verschiedenen  Bahnen 
gemeinschaftlichen  geregelten  und  energischen  Streben  nach  dem 
Ausdruck  von  Begriffen,  von  der  Auffassung  derselben  in  ihrer 
Abspiegelung  in  der  geistigen  Individualität  von  unendlich  vielen 
Seiten.  Es  kommt  aber  natürlich  bei  der  Aufsuchung  der  Geistes- 
eigenthümlichkeiten  in  der  Spräche  vor  Allem  auch  die  richtige 
Abtheilung  der  Begriffe  in  Betrachtung.  Denn  wenn  z.  B.  zwei  oft, 
aber  doch  nicht  nothwendig  verbundene  in  einer  Sprache  in  dem- 
selben Worte  zusammengefasst  werden,  so  kann  es  an  einem 
reinen  Ausdruck  für  jeden  derselben  allein  fehlen.  Ein  Beispiel 
findet  man  in  einigen  Sprachen  an  den  Ausdrücken  für  Wollen, 
Wünschen  und  Werden.  Des  Einflusses  des  Geistes  auf  die 
Art  der  Bezeichnung  der  Begriffe  nach  Massgabe  der  Verwandt- 
schaft der  letzteren,  welche  Gleichheit  der  Laute  herbeiführt,  und 
in  Bezug  auf  die  dabei  gebrauchten  Metaphern  ist  es  kaum  noth- 
wendig hier  noch  besonders  zu  erwähnen. 

Weit  mehr  aber,  als  bei  den  einzelnen  W^örtern  zeichnet  sich 
die  intellectuelle  Verschiedenheit  der  Nationen  in  den  Fügungen 
der  Rede,  in  dem  Umfange,  welchen  sie  den  Sätzen  zu  geben 
vermag,  und  in  der  innerhalb  dieser  Gränzen  zu  erreichenden 
Mannigfaltigkeit.  Hierin  liegt  das  wahre  Bild  des  Ganges  und  der 
Verkettung  der  Gedanken,  an  die  sich  die  Rede  nicht  wahrhaft 
anzuschliessen  vermag,  wenn  nicht  die  Sprache  den  gehörigen 
Reichthum  und  die  begeisternde  Freiheit  der  Fügungen  besitzt. 
Alles,  was  die  Arbeit  des  Geistes  in  sich  ihrer  Form  nach  ist, 
erscheint  hier  in  der  Sprache  und  wirkt  ebenso  wieder  auf  das 
Innere  zurück.  Die  Abstufungen  sind  hier  unzählig  und  das 
Einzelne,  was  die  Wirkung  hervorbringt,  lässt  sich  nicht  immer 
genau  und  bestimmt  in  Worten  darstellen.  Aber  der  dadurch 
hervorgebrachte  verschiedene  Gei$t  schwebt,  wie  ein  leiser  Hauch, 
über  dem  Ganzen. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.    32.33.     iqo 


Charakter   der  Sprachen.     Poesie   und   Prosa. 

Ich  habe  bis  hierher  einzelne  Punkte  des  gegenseitigen  Ein- 33- 
flusses  des  Charakters  der  Nationen  und  der  Sprachen  berührt. 
Es  giebt  aber  zwei  Erscheinungen  in  den  letzteren,  in  welchen 
nicht  nur  alle  am  entschiedensten  zusammentreffen,  sondern  wo 
sich  auch  dermassen  der  Einfluss  des  Ganzen  offenbart,  dass  selbst 
der  Begriff  des  Einzelnen  daraus  verschwindet,  die  Poesie  und  die 
Prosa.  Man  muss  sie  Erscheinungen  der  Sprache  nennen,  da 
schon  die  ursprüngliche  Anlage  dieser  vorzugsweise  die  Richtung 
zu  der  einen  oder  andren  oder,  wo  die  Form  wahrhaft  grossartig 
ist,  zur  gleichen  Entwicklung  beider  in  gesetzmässigem  Verhältniss 
siebt  und  auch  wieder  in  ihrem  Verlaufe  darauf  zurückwirkt. 
In  der  That  aber  sind  sie  zuerst  Entwicklungsbahnen  der  Intel- 
lectualität  selbst  und  müssen  sich,  wenn  ihre  Anlage  nicht  mangel- 
haft ist  und  ihr  Lauf  keine  Störungen  erleidet,  nothwendig  aus 
ihr  entspinnen.  Sie  erfordern  daher  das  sorgfältigste  Studium 
nicht  nur  in  ihrem  Verhältniss  zu  einander  überhaupt,  sondern 
auch  insbesondere  in  Beziehung  auf  die  Zeit  ihrer  Entstehung. 

Wenn  man  beide  zugleich  von  der  in  ihnen  am  meisten  con- 
creten  und  idealen  Seite  betrachtet,  so  schlagen  sie  zu  ähnlichem 
Zweck  verschiedene  Pfade  ein.  Denn  beide  bewegen  sich  von  der 
Wirklichkeit  aus  zu  einem  ihr  nicht  angehörenden  Etwas:  die 
Poesie  fasst  die  Wirklichkeit  in  ihrer  sinnlichen  Erscheinung,  wie 
sie  äusserlich  und  innerlich  empfunden  wird,  auf,  ist  aber  unbe- 
kümmert um  dasjenige,  wodurch  sie  Wirklichkeit  ist,  stösst  viel- 
mehr diesen  ihren  Charakter  absichtlich  zurück.  Die  sinnliche 
Erscheinung  verknüpft  sie  sodann  vor  der  Einbildungskraft  und 
führt  durch  sie  zur  Anschauung  eines  künstlerisch  idealischen 
Ganzen.  Die  Prosa  sucht  in  der  Wirklichkeit  gerade  die  Wurzeln, 
durch  welche  sie  am  Daseyn  haftet,  und  die  Fäden  ihrer  Ver- 
bindungen mit  demselben.  Sie  verknüpft  alsdann  auf  intellectuellem 
Wege  Thatsache  mit  Thatsache  und  Begriffe  mit  Begriffen  und 
strebt  nach  einem  objectiven  Zusammenhang  in  einer  Idee.  Der 
Unterschied  beider  ist  hier  so  gezeichnet,  wie  er  nach  ihrem  wahren 
Wesen  im  Geiste  sich  ausspricht.  Sieht  man  bloss  auf  die  mög- 
liche Erscheinung  in  der  Sprache  und  auch  in  dieser  nur  auf  eine, 
in  der  Verbindung  höchst  mächtige,  aber  vereinzelt  fast  gleich- 
gültige Seite  derselben,   so   kann   die   innere   prosaische  Richtung 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  13 


194 


I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


in  gebundener  und  die  poetische  in  freier  Rede  ausgeführt  werden, 
meistentheils  aber  nur  auf  Kosten  beider,  so  dass  das  poetisch  aus- 
gedrückte Prosaische  weder  den  Charalvter  der  Prosa  noch  den 
der  Poesie  ganz  an  sich  trägt  und  ebenso  in  Prosa  gekleidete 
Poesie.  Der  poetische  Gehalt  führt  gewaltsam  auch  das  poetische 
Gewand  herbei  und  es  fehlt  nicht  an  Beispielen,  dass  Dichter  im 
Gefühle  dieser  Gewalt  das  in  Prosa  Begonnene  in  Versen  voll- 
endet haben.  Beiden  gemeinschaftlich,  um  zu  ihrem  wahren  Wesen 
zurückzukehren,  ist  die  Spannung  und  der  Umfang  der  Seeien- 
kräfte,  welche  die  Verbindung  der  vollen  Durchdringung  der  Wirk- 
lichkeit mit  dem  Erreichen  eines  idealen  Zusammenhanges  unend- 
licher Mannigfaltigkeit  erfordert,  und  die  Sammlung  des  Gemüthes 
auf  die  consequente  Verfolgung  des  bestimmten  Pfades.  Doch  muss 
diese  wieder  so  aufgefasst  werden,  dass  sie  die  Verfolgung  des 
entgegengesetzten  im  Geiste  der  Nation  nicht  ausschliesst,  sondern 
vielmehr  befördert.  Beide,  die  poetische  und  prosaische  Stimmung 
müssen  sich  zu  dem  Gemeinsamen  ergänzen,  den  Menschen  tief 
in  die  Wirklichkeit  Wurzel  schlagen  zu  lassen,  aber  nur,  damit 
sein  Wuchs  sich  desto  fröhlicher  über  sie  in  ein  freieres  Element 
erheben  kann.  Die  Poesie  eines  Volkes  hat  nicht  den  höchsten 
Gipfel  erreicht,  wenn  sie  nicht  in  ihrer  Vielseitigkeit  und  in  der 
freien  Geschmeidigkeit  ihres  Schwunges  zugleich  die  Möglichkeit 
einer  entsprechenden  Entwicklung  in  Prosa  verkündet.  Da  der 
menschhche  Geist,  in  Kraft  und  Freiheit  gedacht,  zu  der  Gestaltung 
von  beiden  gelangen  muss,  so  erkennt  man  die  eine  an  der  andren, 
wie  man  dem  Bruchstück  eines  Bildwerks  ansieht,  ob  es  Theil 
einer  Gruppe  gewesen  ist. 

Die  Prosa  kann  aber  auch  bei  blosser  Darstellung  des  Wirk- 
ichen  und  bei  ganz  äusserlichen  Zwecken  stehen  bleiben,  ge- 
wissermassen  nur  Mittheilung  von  Sachen,  nicht  Anregung  von 
Ideen  oder  Empfindungen  seyn.  Dann  weicht  sie  nicht  von  der 
gewöhnlichen  Rede  ab  und  erreicht  nicht  die  Höhe  ihres  eigent- 
lichen Wesens.  Sie  ist  dann  nicht  eine  Entwicklungsbahn  der 
Intellectualität  zu  nennen  und  hat  keine  formale,  sondern  nur 
materielle  Beziehungen.  Wo  sie  den  höheren  Weg  verfolgt,  be- 
darf sie,  um  zum  Ziele  zu  gelangen,  auch  tiefer  in  das  Gemüth 
eingreifender  Mittel  und  erhebt  sich  dann  zu  derjenigen  veredelten 
Rede,  von  der  allein  gesprochen  ■  werden  kann,  wenn  man  sie  als 
Gefährtin  der  Poesie  auf  der  intellectuellen  Laufbahn  der  Nationen 
betrachtet.     Sie  verlangt  alsdann  das  Umfassen  ihres  Gegenstandes 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     33.       IOC. 

mit  allen  vereinten  Kräften  des  Gemüths,  woraus  zugleich  eine 
Behandlung  entsteht ,  welche  denselben  als  nach  allen  Seiten 
Strahlen  aussendend  zeigt,  auf  die  er  Wirkung  ausüben  kann. 
Der  sondernde  Verstand  ist  nicht  allein  thätig,  die  übrigen  Kräfte 
wirken  mit  und  bilden  die  Auffassung,  die  man  mit  höherem 
Ausdruck  die  geistvolle  nennt.  In  dieser  Einheit  trägt  der  Geist 
auch,  ausser  der  Bearbeitung  des  Gegenstandes,  das  Gepräge  seiner 
eignen  Stimmung  in  die  Rede  über.  Die  Sprache,  durch  den 
Schwung  des  Gedanken  gehoben,  macht  ihre  Vorzüge  geltend, 
ordnet  sie  aber  dem  hier  gesetzgebenden  Zwecke  unter.  Die 
sittliche  Gefühlsstimmung  theilt  sich  der  Sprache  mit  und  die 
Seele  leuchtet  aus  dem  St34e  hervor.  Auf  eine  ihr  ganz  eigen- 
thümliche  Weise  offenbart  sich  aber  in  der  Prosa  durch  die 
Unterordnung  und  Gegeneinanderstellung  der  Sätze  die,  der  Ge- 
dankenentwicklung entsprechende  logische  Eurhythmie,  welche 
der  prosaischen  Rede  in  der  allgemeinen  Erhebung  durch  ihren 
besondren  Zweck  geboten  wird.  Wenn  sich  der  Dichter  dieser 
zu  sehr  überlässt,  so  macht  er  die  Poesie  der  rhetorischen  Prosa 
ähnlich.  Indem  nun  alles  hier  einzeln  Genannte  in  der  geistvollen 
Prosa  zusammenwirkt,  zeichnet  sich  in  ihr  die  ganze  lebendige 
Entstehung  des  Gedanken,  das  Ringen  des  Geistes  mit  seinem 
Gegenstande.  Wo  dieser  es  erlaubt,  gestaltet  sich  der  Gedanke 
wie  eine  freie,  unmittelbare  Eingebung  und  ahmt  auf  dem  Ge- 
biete der  Wahrheit  die  selbstständige  Schönheit  der  Dichtung  nach. 
Aus  allem  diesen  ergiebt  sich,  dass  Poesie  und  Prosa  durch 
dieselben  allgemeinen  Forderungen  bedingt  sind.  In  beiden  muss 
ein  von  innen  entstehender  Schwung  den  Geist  heben  und  tragen. 
Der  Mensch  in  seiner  ganzen  Eigenthümlichkeit  muss  sich  mit 
dem  Gedanken  nach  der  äusseren  und  inneren  Welt  hinbewegen 
und,  indem  er  Einzelnes  erfasst,  auch  dem  Einzelnen  die  Form 
lassen,  die  es  an  das  Ganze  knüpft.  In  ihren  Richtungen  aber 
und  den  Mitteln  ihres  Wirkens  sind  beide  verschieden  und  können 
eigentlich  nie  mit  einander  vermischt  werden.  In  Rücksicht  auf 
die  Sprache  ist  auch  besonders  zu  beachten,  dass  die  Poesie  in 
ihrem  wahren  Wesen  von  Musik  unzertrennlich  ist,  die  Prosa 
dagegen  sich  ausschliesslich  der  Sprache  anvertraut.  Wie  genau 
die  Poesie  der  Griechen  mit  Instrumentalmusik  verbunden  vv-ar, 
ist  bekannt  und  das  Gleiche  gilt  von  der  lyrischen  Poesie  der 
Hebräer.  Auch  von  der  Einwirkung  der  verschiedenen  Tonarten 
auf  die  Poesie  ist  oben  gesprochen  worden.  Wie  poetisch  Ge- 
is* 


IQß  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

danke  und  Sprache  seyn  möge,  fühlt  man  sich,  wenn  das  musi- 
kalische Element  fehlt,  nicht  auf  dem  wahren  Gebiete  der  Poesie.^) 
Daher  der  natürliche  Bund  zwischen  grossen  Dichtern  und  Com- 
ponisten,  obgleich  die  Neigung  der  Musik,  sich  in  unbeschränkter 
Selbstständigkeit  zu  entwickeln,  auch  wohl  die  Poesie  absichtlich 
in  Schatten  stellt. 

Genau  genommen  lässt  sich  nie  sagen,  dass  die  Prosa  aus 
der  Poesie  hervorgeht.  Auch  wo  beide,  wie  in  der  Griechischen 
Literatur,  historisch*)  in  der  That  so  erscheinen,  kann  dies  doch 
nur  richtig  so  erklärt  werden,  dass  die  Prosa  aus  einem,  durch 
die  ächteste  und  mannigfaltigste  Poesie  Jahrhunderte  lang  be- 
arbeiteten Geiste  und  in  einer  auf  diese  Weise  gebildeten  Sprache 
entsprang.  Beides  aber  ist  wesentlich  verschieden.  Der  Keim  zur 
Griechischen  Prosa  lag,  wie  der  zur  Poesie,  schon  ursprünglich 
im  Griechischen  Geiste,  durch  dessen  Individualität  auch  beide, 
ihrem  Wesen  unbeschadet,  einander  in  ihrem  eigenthümlichen 
Gepräge  entsprechen.  Schon  die  Griechische  Poesie  zeigt  den 
weiten  und  freien  Aufflug  des  Geistes,  der  das  Bedürfniss  der 
Prosa  hervorbringt.  Beider  Entwicklung  war  vollkommen  natur- 
gemäss  aus  gemeinschaftlichem  Ursprung  und  einem  beide  zugleich 
umfassenden  intellectuellen  Drange,  der  nur  durch  äussere  Um- 
stände hätte  an  der  A^ollendung  seiner  Entwicklung  verhindert 
werden  können.  Noch  weniger  lässt  sich  die  höhere  Prosa  als 
durch  eine,  noch  so  sehr  von  dem  bestimmten  Zwecke  der  Rede 
und  feinem  Geschmack  geminderte  Beimischung  poetischer  Ele- 
mente entstehend  erklären.  Die  Unterschiede  beider  in  ihrem 
Wesen  üben  ihre  Wirkung  natürlich  auch  in  der  Sprache  aus 
und  die  poetische  und  prosaische  haben  jede  ihre  Eigenthümlich- 
keiten  in  der  Wahl  der  Ausdrücke,  der  grammatischen  Formen 
und  Fügungen.  Viel  weiter  aber,  als  durch  diese  Einzelnheiten 
werden  sie  durch  den  in  ihrem  tieferen  Wesen  gegründeten  Ton 
des  Ganzen   auseinandergehalten.     Der  Kreis   des  Poetischen  ist. 


*)  Eine  sehr  geistvolle  und  von  tiefer  und  gründlicher  Lesung  der  Alten  zeugende 
Uebersicht  des  Ganges  der  Griechischen  Literatur  in  Absicht  auf  Redefügung  und  Styl 
giebt  die  Einleitung  zu  Bernhardy's  wissenschaftlicher  Syntax  der  Griechischen  Sprache.^) 

V  Nach  „Poesie"  gestrichen:  „Die  Abwesenheit  dieses  Moments  begründet 
den  Unterschied  zwischen  dein  Metrum  der  Poesie  und  dem  Numerus  der  Prosa, 
der  Musik  nur  im  weitesten  Sinne  des  Worts  zukommt." 

y  Sie  war  Berlin  1&9  et'scliienen. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     33.       iq-y 

wie  unendlich  und  unerschöpflich  auch  in  seinem  Innren,  doch 
immer  ein  geschlossener,  der  nicht  Alles  in  sich  aufnimmt  oder 
dem  Aufgenommenen  nicht  seine  ursprüngliche  Natur  lässt;  der 
durch  keine  äussere  Form  gebundene  Gedanke  kann  sich  in  freier 
Entwicklung  nach  allen  Seiten  hin  weiter  bewegen,  sowohl  in  der 
Auffassung  des  Einzelnen,  als  in  der  Zusammenfügung  der  allge- 
meinen Idee.  Insofern  liegt  das  Bedürfniss  zur  Ausbildung  der 
Prosa  in  dem  Reichthum  und  der  Freiheit  der  Intellectualität 
und  macht  die  Prosa  gewissen  Perioden  der  geistigen  Bildung 
eigenthümlich.  Sie  hat  aber  auch  noch  eine  andere  Seite,  durch 
welche  sie  reizt  und  sich  dem  Gemüthe  einschmeichelt:  ihre  nahe 
^^erwandtschaft  mit  den  ^"erhältnissen  des  gewöhnlichen  Lebens, 
das  durch  ihre  Veredlung  in  seiner  Geistigkeit  gesteigert  werden 
kann,  ohne  darum  an  Wahrheit  und  natürlicher  Einfachheit  zu 
verlieren.  Von  dieser  Seite  her  kann  sogar  die  Poesie  die  prosa 
ische  Einkleidung  wählen,  um  gleichsam  die  Empfindung  in  ihrer 
ganzen  R^nheit  und  Wahrheit  darzustellen.  Wie  der  Mensch 
selbst  der  Sprache,  als  das  Gemüth  begränzend  und  seine  reinen 
Aeusserungen  entstellend,  abhold  seyn  und  sich  nach  einem  Em- 
pfinden und  Denken  ohne  ein  solches  Medium  sehnen  kann,  ebenso 
kann  er  sich  durch  Ablegung  alles  ihres  Schmuckes,  auch  in  der 
höchsten  poetischen  Stimmung,  zu  der  Einfachheit  der  Prosa 
tiüchten.  Die  Poesie  trägt  ihrem  Wesen  nach  immer  auch  eine 
äussere  Kunstform  an  sich.  Es  kann  aber  in  der  Seele  eine 
Neigung  zur  Natur  im  Gegensatz  mit  der  Kunst,  jedoch  dergestalt 
geben,  dass  dem  Gefühl  der  Natur  übrigens  ihr  ganzer  idealer 
Gehalt  bewahrt  wird,  und  dies  scheint  in  der  That  den  neuern 
gebildeten  Völkern  eigen  zu  seyn.  Gewiss  w^enigstens  —  und 
dies  hängt  zugleich  mit  der  bei  gleicher  Tiefe  weniger  sinnlichen 
Formung  unsrer  Sprache  zusammen  —  liegt  dies  in  unserer 
Deutschen  Sinnesart.  Der  Dichter  kann  alsdann  absichtlich  den 
Verhältnissen  des  wirklichen  Lebens  nahe  bleiben  und,  wenn  die 
Macht  seines  Genies  dazu  hinreicht,  ein  acht  poetisches  Werk  in 
prosaischer  Einkleidung  ausführen.  Ich  brauche  hier  nur  an 
Göthe's  Werther  zu  erinnern,  von  dem  jeder  Leser  fühlen  wird, 
wie  nothwendig  die  äussere  Form  mit  dem  inneren  Gehalte  zu- 
sammenhängt. Ich  erwähne  dies  jedoch  nur,  um  zu  zeigen,  wie 
aus  ganz  verschiedenen  Seelenstimmungen  Stellungen  der  Poesie 
und  Prosa  gegen  einander  und  A^erknüpfungen  ihres  inneren  und 
äusseren  Wesens  entstehen  können,  welche  alle  auf  den  Charakter 


jq3  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

der  Sprache  Einfluss  haben,  aber  auch  alle  wieder,  was  uns  noch 
sichtbarer  ist,  ihre  Rückwirkung  erfahren. 

Die  Poesie  und  Prosa  selbst  erhalten  aber  auch  jede  für  sich 
eine  eigenthümlichc  Färbung.  In  der  Griechischen  Poesie  herrschte, 
in  Gemässheit  mit  der  allgemeinen  intellectuellen  Eigenthümlichkeit, 
die  äussere  Kunstform  vor  allem  Uebrigen  vor.  Dies  entsprang 
2ugleich  aus  ihrer  engen  und  durchgängigen  Verknüpfung  mit 
der  Musik,  allein  auch  vorzüglich  aus  dem  feinen  Tact,  mit  welchem 
sie  die  inneren  Wirkungen  auf  das  Gemüth  abzuwägen  und  aus- 
zugleichen verstanden.  So  kleidete  sich  die  alte  Komödie  in  das 
reichste  und  mannigfaltigste  rhythmische  Gewand.  Je  tiefer  sie 
oft  in  Schilderungen  und  Ausdrücken  zum  Gewöhnlichen  und 
sogar  zum  Gemeinen  hinabstieg,  desto  mehr  fühlte  sie  die  Noth- 
wendigkeit,  durch  die  Gebundenheit  der  äusseren  Form  Haltung 
und  Schwung  zu  gewinnen.  Die  \^erbindung  des  hochpoetischen 
Tones  mit  der  durchaus  praktischen,  altväterlichen,  auf  Sitten- 
einfachheit und  Bürgertugend  gerichteten  Gediegenheit  der  gehalt- 
vollen Parabasen  ergreift  nun,  wie  man  lebhaft  beim  Lesen  des 
Aristophanes  fühlt,  das  Gemüth  in  einem  sich  in  seinem  Tiefsten 
wieder  vereinigenden  Gegensatze.  Auch  war  den  Griechen  die 
Einmischung  der  Prosa  in  die  Poesie,  wie  wir  sie  bei  den  Indiern 
und  Shakespeare  finden,  schlechterdings  fremd.  Das  empfundene 
Bedürfniss,  sich  auf  der  Bühne  dem  Gespräch  zu  nähern,  und  das 
richtige  Gefühl,  dass  auch  die  ausführlichste  Erzählung,  einer 
spielenden  Person  in  den  Mund  gelegt,  sich  von  dem  epischen 
Vortrage  des  Rhapsoden,  an  den  sie  übrigens  immer  lebhaft  er- 
innerte, unterscheiden  musste,  liess  für  diese  Theile  des  Dramas 
eigne  Sylbenmasse  entstehen,  gleichsam  Vermittler  zwischen  der 
Kunstform  der  Poesie  und  der  natürlichen  Einfachheit  der  Prosa. 
Auf  diese  selbst  wirkte  aber  dieselbe  allgemeine  Stimmung  ein 
und  gab  auch  ihr  eine  äusserlich  kunstvollere  Gestaltung.  Die 
nationelle  Eigenthümlichkeit  zeigt  sich  besonders  in  der  kritischen 
Ansicht  und  der  Beurtheilung  der  grossen  Prosaisten.  Die  Ursach 
ihrer  Treftlichkeit  wird  da,  wo  wir  einen  ganz  andren  Weg  ein- 
schlagen würden,  vorzüglich  in  Feinheiten  des  Numerus,  kunst- 
vollen Redefiguren  und  in  Aeusserlichkeiten  des  Periodenbaues 
gesucht.  Die  Zusammenwirkung  des  Ganzen,  die  Anschauung 
der  inneren  Gedankenentwicklung,  von  welcher  der  Styl  nur  ein 
Abglanz  ist,  scheint  uns  bei  Lesung  solcher  Schriften,  wie  z.  B. 
der  in   diese  Materie   einschlagenden  Bücher  des  Dionysius  von 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     33.      iqq 

Halikarnass  gänzlich  zu  verschwinden.  Es  ist  indess  nicht  zu 
läugnen,  dass,  Einseitiglveiten  und  Spitzfindigkeiten  dieser  Art  der 
Kritik  abgerechnet,  die  Schönheit  jener  grossen  Muster  mit  auf 
diesen  Einzelnheiten  beruht,  und  das  genauere  Studium  dieser 
Ansicht  führt  uns  zugleich  tiefer  in  die  Eigenthümlichkeit  des 
Griechischen  Geistes  ein.  Denn  die  Werke  des  Genies  üben  doch 
ihre  Wirkung  nur  durch  die  Art,  wie  sie  von  den  Nationen  auf- 
gefasst  werden,  aus  und  gerade  die  Einwirkung  auf  die  Sprachen, 
mit  der  wir  es  hier  zu  thun  haben,  hängt  vorzugsweise  von  dieser 
Auffassung  ab.^) 

Die  fortschreitende  Bildung  des  Geistes  führt  zu  einer  Stufe, 
wo  er,  gleichsam  aufhörend  zu  ahnden  und  zu  vermuthen,  die 
Erkenntniss  zu  begründen  und  ihren  Inbegriff  in  Einheit  zusammen- 
zufügen strebt.  Es  ist  dies  die  Epoche  der  Entstehung  der  Wissen- 
schaft und  der  sich  aus  ihr  entwickelnden  Gelehrsamkeit  und 
dieser  Moment  kann  nicht  anders,  als  im  höchsten  Grade  einfluss- 
reich auf  die  Sprache  seyn.  Von  der,  sich  in  der  Schule  der 
Wissenschaft  bildenden  Terminologie  habe  ich  schon  oben  (S.  191.) 
gesprochen.  Des  allgemeinen  Einflusses  aber  dieser  Epoche  ist 
es  hier  der  Ort  zu  erwähnen,  da  die  Wissenschaft  in  strengem 
Verstände  die  prosaische  Einkleidung  fordert  und  eine  poetische 
ihr  nur  zufällig  zu  Theil  w^erden  kann.  In  diesem  Gebiete  nun 
hat  der  Geist  es  ausschliesslich  mit  Objectivem  zu  thun,  mit  Sub- 
jectivem  nur  insofern,  als  dies  Noth wendigkeit  enthält;  er  sucht 
Wahrheit  und  Absonderung  alles  äusseren  und  inneren  Scheins. 
Die  Sprache  erhält  also  erst  durch  diese  Bearbeitung  die  letzte 
Schärfe  in  der  Sonderung  und  Feststellung  der  Begriffe  und  die 
reinste  Abwägung  der  zu  Einem  Ziele  zusammenstrebenden  Sätze 
und  ihrer  Theile.  Da  sich  aber  durch  die  wissenschaftliche  Form 
des  Gebäudes  der  Erkenntniss  und  die  Feststellung  des  ^'er- 
hältnisses  der  letzteren  zu  dem  erkennenden  Vermögen  dem  Geiste 
etwas  ganz  Neues  aufthut,  welches  alles  Einzelne  an  Erhabenheit 
übertrifft,  so  w^rkt  dies  zugleich  auf  die  Sprache  ein,  giebt  ihr 
einen  Charakter  höheren  Ernstes  und  einer,  die  Begriffe  zur  höchsten 


V  Nach  „ab"  gestrichen:  „Wie  die  Prosa  das  Medium  des  geselligen  Ge- 
sprächs in  seiner  natürlichen  Einfachheit  ist,  so  giebt  es  für  sie  auch  ein  anderes 
ähnliches  Gebiet,  wo  sie  den  Gedanken,  statt  ihre  eigene  Selbstständigkeit  geltend 
zu  machen,  nur  begleiten  und  ihn  so  rein  und  klar,  als  möglich,  darstellen  muss, 
nemiich  das  der  Wissenschaft  und  der  Gelehrsamkeit." 


200  l-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Klarheit  bringenden  Stärke.  Auf  der  andren  Seite  erheischt  aber 
ihr  Gebrauch  in  diesem  Gebiete  Kälte  und  Nüchternheit  und  in 
den  Fügungen  Vermeidung  jeder  kunstvolleren,  der  Leichtigkeit 
des  Verständnisses  schädlichen  und  dem  blossen  Zwecke  der  Dar- 
stellung des  Objectes  unangemessenen  Verschlingung.  Der  wissen- 
schafthche  Ton  der  Prosa  ist  also  ein  ganz  anderer,  als  der  bisher 
geschilderte.  Die  Sprache  soll,  ohne  eigne  Selbstständigkeit  geltend 
zu  machen,  sich  nur  dem  Gedanken  so  eng,  als  möglich,  an- 
schliessen,  ihn  begleiten  und  darstellen.  In  dem  uns  übersehbaren 
Gange  des  menschlichen  Geistes  kann  mit  Recht  Aristoteles  der 
Gründer  der  Wissenschaft  und  des  auf  sie  gerichteten  Sinnes  ge- 
nannt werden.  Obgleich  das  Streben  darnach  natürlich  viel  früher 
entstand  und  die  Fortschritte  allmählich  waren,  so  schloss  es  sich 
doch  erst  mit  ihm  zur  Vollendung  des  Begriffes  zusammen.  Als 
wäre  dieser  plötzlich  in  bis  dahin  unbekannter  Klarheit  in  ihm 
hervorgebrochen,  zeigt  sich  zwischen  seinem  Vortrage  und  der 
Methodik  seiner  Untersuchungen  und  der  seiner  unmittel- 
barsten Vorgänger  eine  entschiedene,  nicht  stufenweis  zu  ver- 
mittelnde Kluft.  Er  forschte  nach  Thatsachen,  sammelte  die- 
selben und  strebte,  sie  zu  allgemeinen  Ideen  hinzuleiten.  Er 
prüfte  die  vor  ihm  aufgebauten  Systeme,  zeigte  ihre  Unhaltbarkeit 
und  bemühte  sich,  dem  seinigen  eine  auf  tiefer  Ergründung  des 
erkennenden  Vermögens  im  Menschen  ruhende  Basis  zu  geben. 
Zugleich  brachte  er  alle  Erkenntnisse,  die  sein  riesenmässiger 
Geist  umfasste,  in  einen  nach  Begriffen  geordneten  Zusammen- 
hang. Aus  einem  solchen,  zugleich  tief  strebenden  und  weit- 
umfassenden, gleich  streng  auf  Materie  und  Form  der  Erkenntniss 
gerichteten  Verfahren,  in  welchem  die  Erforschung  der  Wahrheit 
sich  vorzüglich  durch  scharfe  Absonderung  alles  verführerischen 
Scheins  auszeichnete,  musste  bei  ihm  eine  Sprache  entstehen,  die 
einen  auffallenden  Gegensatz  mit  der  seines  unmittelbaren  Vor- 
gängers und  Zeitgenossen,  des  Plato,  bildete.  Man  kann  beide  in 
der  That  nicht  in  dieselbe  Entwicklungsperiode  stellen,  muss  die 
Platonische  Diction  als  den  Gipfel  einer  nachher  nicht  wieder  er- 
standenen, die  Aristotelische  als  eine  neue  Epoche  beginnend  an- 
sehen. Hierin  erblickt  man  aber  auffallend  die  Wirkung  der 
eigenthümlichen  Behandlungsart  der  philosophischen  Erkenntniss. 
Man  irrte  gewiss  sehr,  wenn  man  Aristoteles  mehr  von  Anmuth 
entblösste,  schmucklose  und  unläugbar  oft  harte  Sprache  einer 
natürlichen  Nüchternheit  und  gleichsam  Dürftigkeit  seines  Geistes 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     33.      20I 

zuschreiben  wollte.  Musik  und  Dichtung  hatten  einen  grossen 
Theil  seiner  Studien  beschäftigt.  Ihre  Wirkung  war,  wie  man 
schon  an  den  wenigen  von  ihm  übrigen  Urtheilen  in  diesem  Ge- 
biete sieht,  tief  in  ihn  eingegangen  und  nur  angeborne  Neigung 
konnte  ihn  zu  diesem  Zweige  der  Literatur  geführt  haben.  Wir 
besitzen  noch  einen  Hymnus  voll  dichterischen  Schwunges  von 
ihm,  und  wenn  seine  exoterischen  Schriften,  besonders  die  Dialogen 
auf  uns  gekommen  wären,  so  würden  wir  wahrscheinlich  ein 
ganz  anderes  Urtheil  über  den  Umfang  seines  Styles  fällen.  Ein- 
zelne Stellen  seiner  auf  uns  gekommenen  Schriften,  besonders  der 
Ethik  zeigen,  zu  welcher  Höhe  er  sich  zu  erheben  vermochte. 
Die  wahrhaft  tiefe  und  abgezogne  Philosophie  hat  auch  ihre  eignen 
Wege,  zu  einem  Gipfel  grosser  Diction  zu  gelangen.  Die  Ge- 
diegenheit und  selbst  die  Abgeschlossenheit  der  Begriffe  giebt,  wo 
die  Lehre  aus  acht  schöpferischem  Geiste  hervorgeht,  auch  der 
Sprache  eine  mit  der  inneren  Tiefe  zusammenpassende  Erhabenheit. 

Eine  Gestaltung  des  philosophischen  Styls  von  ganz  eigen- 
thümlicher  Schönheit  findet  sich  auch  bei  uns  in  der  Verfolgung 
abgezogener  Begriffe  in  Fichte's  und  Schelling's  Schriften  und, 
wenn  auch  nur  einzeln,  aber  dann  wahrhaft  ergreifend,  in  Kant. 
Die  Resultate  factisch  wissenschaftlicher  Untersuchungen  sind  vor- 
zugsweise nicht  allein  einer  ausgearbeiteten  und  sich  aus  tiefer 
und  allgemeiner  Ansicht  des  Ganzen  der  Natur  von  selbst  hervor- 
bildenden grossartigen  Prosa  fähig,  sondern  eine  solche  befördert 
die  wissenschaftliche  Untersuchung  selbst,  indem  sie  den  Geist 
entzündet,  der  allein  in  ihr  zu  grossen  Entdeckungen  führen 
kann.  Wenn  ich  hier  der  in  dies  Gebiet  einschlagenden  Werke 
meines  Bruders  erwähne,  so  glaube  ich  nur  ein  allgemeines,  oft 
ausgesprochenes  Urtheil  zu  wiederholen. 

Das  Feld  des  Wissens  kann  sich  von  allen  Punkten  aus  zum 
Allgemeinen  zusammenwölben  und  gerade  diese  Erhebung  und 
die  genaueste  und  vollständigste  Bearbeitung  der  thatsächlichen 
Grundlagen  hängen  auf  das  innigste  zusammen.  Nur  wo  die 
Gelehrsamkeit  und  das  Streben  nach  ihrer  Erweiterung  nicht  von 
dem  ächten  Geiste  durchdrungen  sind,  leidet  auch  die  Sprache 
und  alsdann  ist  dies  eine  der  Seiten,  von  welcher  der  Prosa,  ebenso 
wie  vom  Herabsinken  des  gebildeten,  ideenreichen  Gespräches  zu 
alltäglichem  oder  conventionellem,  Verfall  droht.  Die  Werke  der 
Sprache  können  nur  gedeihen,  so  lange  der,  auf  seine  eigne  sich 
erweiternde  Ausbildung  und  auf  die  Verknüpfung  des  Weltganzen 


202  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

mit  seinem  Wesen  gerichtete  Schwung  des  Geistes  sie  mit  sich 
emporträgt.  Dieser  Schwung  erscheint  in  unzähligen  Abstufungen 
und  Gestalten,  strebt  aber  immer  zuletzt,  auch  v/o  der  Mensch 
sich  dessen  nicht  einzeln  bewusst  ist,  seinem  angeborenen  Triebe 
gemäss  nach  jener  grossen  Verknüpfung.  Wo  sich  die  intellectuelle 
Eigenthümlichkeit  der  Nation  nicht  kräftig  genug  zu  dieser  Höhe 
erhebt  oder  die  Sprache  im  intellectuellen  Sinken  einer  gebildeten 
Nation  von  dem  Geiste  verlassen  wird,  dem  sie  allein  ihre  Kraft 
und  ihr  blühendes  Leben  verdanken  kann,  entsteht  nie  eine  gross- 
artige Prosa  oder  zerfällt,  wenn  sich  das  Schaffen  des  Geistes  zu 
gelehrtem  Sammeln  verflacht. 

Die  Poesie  kann  nur  einzelnen  Momenten  des  Lebens  und 
einzelnen  Stimmungen  des  Geistes  angehören,  die  Prosa  begleitet 
den  Menschen  beständig  und  in  allen  Aeusserungen  seiner  geistigen 
Thätigkeit.  Sie  schmiegt  sich  jedem  Gedanken  und  jeder  Empfindung 
an,  und  wenn  sie  sich  in  einer  Sprache  durch  Bestimmtheit,  helle 
Klarheit,  geschmeidige  Lebendigkeit,  Wohllaut  und  Zusammen- 
klang zu  der  Fähigkeit,  sich  von  jedem  Punkte  aus  zu  dem  freiesten 
Streben  zu  erheben,  aber  zugleich  zu  dem  feinen  Tact  ausgebildet 
hat,  wo  und  wie  weit  ihr  diese  Erhebung  in  jedem  einzelnen 
Falle  zusteht,  so  verräth  und  befördert  sie  einen  ebenso  freien, 
leichten,  immer  gleich  behutsam  fortstrebenden  Gang  des  Geistes. 
Es  ist  dies  der  höchste  Gipfel,  den  die  Sprache  in  der  Ausbildung 
ihres  Charakters  zu  erreichen  vermag  und  der  daher,  von  den 
ersten  Keimen  ihrer  äusseren  Form  an,  der  breitesten  und 
sichersten  Grundlagen  bedarf. 

Bei  einer  solchen  Gestaltung  der  Prosa  kann  die  Poesie  nicht 
zurückgeblieben  seyn,  da  beide  aus  gemeinschaftlicher  Quelle 
fliessen.  Sie  kann  aber  einen  hohen  Grad  der  Trefflichkeit  er- 
reichen, ohne  dass  auch  die  Prosa  zur  gleichen  Entwicklung  in 
der  Sprache  gelangt.  Vollendet  wird  der  Kreis  dieser  letzteren 
immer  nur  durch  beide  zugleich.  Die  Griechische  Literatur  bietet 
uns,  wenn  auch  mit  grossen  und  bedaurungswürdigen  Lücken, 
den  Gang  der  Sprache  in  dieser  Rücksicht  vollständiger  und  reiner 
dar,  als  er  uns  sonst  irgendwo  erscheint.  Ohne  erkennbaren  Ein- 
fluss  fremder  gestalteter  Werke,  wodurch  der  fremder  Ideen  nicht 
ausgeschlossen  Vv'ird,  entwickelt  sie  sich  von  Homer  bis  zu  den 
Byzantinischen  Schriftstellern  durch  alle  Phasen  ihres  Laufes  allein 
aus  sich  selbst  und  aus  den  Umgestaltungen  des  nationeilen  Geistes 
durch  innere  und  äussere  geschichtliche  Umwälzungen.    Die  Eigen- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     33.      20"% 

thümlichkeit  der  Griechischen  Volksstämme  bestand  in  einer, 
immer  zugleich  nach  Freiheit  und  Obermacht,  die  aber  auch 
tneistentheils  gern  den  Unterworfenen  den  Schein  der  ersteren 
erhielt,  ringenden  volksthümlichen  Beweglichkeit.  Gleich  den 
Wellen  des  sie  umgebenden,  eingeschlossenen  Meeres,  brachte 
diese  innerhalb  derselben  massigen  Gränzen  unaufliörliche  Ver- 
änderungen, Wechsel  der  Wohnsitze,  der  Grösse  und  der  Herr- 
schaft herv'or  und  gab  dem  Geiste  beständig  neue  Nahrung  und 
Antrieb,  sich  in  jeder  Art  der  Thätigkeit  zu  ergiessen.  Wo  die 
Griechen,  wie  bei  Anlegung  von  Pflanzstädten,  in  die  Ferne 
wirkten,  herrschte  der  gleiche  volksthümhche  Geist.  So  lange 
dieser  Zustand  währte,  durchdrang  dies  innerliche  nationelle  Princip 
die  Sprache  und  ihre  Werke.  In  dieser  Periode  fühlt  man  lebendig 
den  inneren  fortschreitenden  Zusammenhang  aller  Geistesproducte, 
das  lebendige  Ineinandergreifen  der  Poesie  und  der  Prosa  und 
aller  Gattungen  beider.  Als  aber  seit  Alexander  Griechische  Sprache 
und  Literatur  durch  Eroberung  ausgebreitet  wurden  und  später, 
als  besiegtem  Volke  angehörend,  sich  mit  dem  weltbeherrschenden 
der  Sieger  verbanden,  erhoben  sich  zwar  noch  ausgezeichnete 
Köpfe  und  poetische  Talente,  aber  das  beseelende  Princip  war 
erstorben  und  mit  ihm  das  lebendige,  aus  der  Fülle  seiner  eignen 
Kraft  entspringende  Schaffen.  Die  Kunde  eines  grossen  Theils 
des  Erdbodens  wurde  nun  erst  wahrhaft  eröffnet,  die  wissen- 
schaftliche Beobachtung  und  die  systematische  Bearbeitung  des 
gesammten  Gebietes  des  Wissens  war,  in  w^ahrhaft  welthistorischer 
Verbindung  eines  thaten-  und  eines  ideenreichen  ausserordentUchen 
Mannes,  durch  Aristoteles  Lehre  und  Vorbild  dem  Geiste  klar  ge- 
worden. Die  Welt  der  Objecte  trat  mit  überwiegender  Gewalt 
dem  subjectiven  Schaffen  gegenüber  und  noch  mehr  wurde  dieses 
durch  die  frühere  Literatur  niedergedrückt,  welche,  da  ihr  be- 
seelendes Princip  mit  der  Freiheit,  aus  der  es  quoll,  verschwunden 
war,  auf  einmal  wie  eine  Macht  erscheinen  musste,  mit  der,  wenn 
auch  vielfache  Nachahmungen  versucht  wurden,  doch  kein  wahrer 
Wetteifer  zu  wagen  war.  Von  dieser  Epoche  an  beginnt  also  ein 
allmähliches  Sinken  der  Sprache  und  Literatur.  Die  wissenschaft- 
hche  Thätigkeit  wandte  sich  aber  nun  auf  die  Bearbeitung  beider, 
wie  sie  aus  dem  reinsten  Zustande  ihrer  ßlüthe  übrig  waren,  so 
dass  zugleich  ein  grosser  Theil  der  Werke  aus  den  besten  Epochen 
und  die  Art,  w^ie  sich  diese  Werke  in  der  absichtlich  auf  sie  ge- 
richteten Betrachtung  späterer  Generationen  desselben,  sich  immer 


204.  ^'    t^ber  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

gleichen,  aber  durch  äussere  Schicksale  herabgedrückten  Volkes 
abspiegelten,  auf  uns  gekommen  sind. 

Vom  Sanskrit  lässt  sich,  unserer  Kenntniss  der  Literatur  des- 
selben nach,  nicht  mit  Sicherheit  beurtheilen,  bis  auf  welchen 
Grad  und  Umfang  auch  die  Prosa  in  ihm  ausgebildet  war.  Die 
Verhältnisse  des  bürgerlichen  und  geselligen  Lebens  boten  aber  in 
Indien  schwerlich  die  gleichen  Veranlassungen  zu  dieser  Aus- 
bildung dar.  Der  Griechische  Geist  und  Charakter  gieng  schon  an 
sich  mehr,  als  vielleicht  je  bei  einer  Nation  der  Fall  war,  auf 
solche  Vereinigungen  hin,  in  welchen  das  Gespräch,  wenn  nicht 
der  alleinige  Zweck,  doch  die  hauptsächlichste  Würze  war.  Die 
Verhandlungen  vor  Gericht  und  in  der  Volksversammlung  forderten 
Ueberzeugung  wirkende  und  die  Gemüther  lenkende  Beredsamkeit. 
In  diesen  und  ähnlichen  Ursachen  kann  es  liegen,  wenn  man 
auch  künftig  unter  den  Ueberresten  der  Indischen  Literatur  nichts 
entdeckt,  w^as  man  im  Style  den  Griechischen  Geschichtschreibern, 
Rednern  und  Philosophen  an  die  Seite  stellen  könnte.  Die  reiche, 
beugsame,  mit  allen  Mitteln,  durch  welche  die  Rede  Gediegenheit, 
Würde  und  Anmuth  erhält,  ausgestattete  Sprache  bewahrt  sichtbar 
alle  Keime  dazu  in  sich  und  würde  in  der  höheren  prosaischen 
Bearbeitung  noch  ganz  andere  Charakterseiten,  als  wir  an  ihr 
jetzt  kennen,  entwickelt  haben.  Dies  beweist  schon  der  einfache, 
anmuthvolle,  auf  bewundrungswürdige  Weise  zugleich  durch  ge- 
treue und  zierliche  Schilderung  und  eine  ganz  eigenthümliche 
Verstandesschärfe  anziehende  Ton  der  Erzählungen  des  Hitöpadesa. 

Die  Römische  Prosa  stand  in  einem  ganz  andren  Verhältnisse 
zur  Poesie,  als  die  Griechische.^)  Hierauf  wirkte  bei  den  Römern 
gleich  stark  ihre  Nachahmung  der  Griechischen  Muster  und  ihre 
eigne,  überall  hervorleuchtende  Originalität.  Denn  sie  drückten 
ihrer  Sprache  und  ihrem  Style  sichtbar  das  Gepräge  ihrer  inneren 
und  äusseren  politischen  Entwicklung  auf.  Mit  ihrer  Literatur  in 
ganz  andre  Zeitverhältnisse  versetzt,  konnte  bei  ihnen  keine  ur- 
sprünglich naturgemässe  Entwicklung  statt  finden,  wie  wir  sie  bei 


^J  Nach  „Griechische"  gestrichen:  „was  aus  den  beiden  Ursachen  herstammt: 
aus  dem  Umstände,  dass  die  Römer  in  der  Griechischen  Literatur  ein  Muster 
vor  sich  hatten,  das  unmöglich  ohne  Wirkung  bleiben  konnte,  dann  aber  und  ganz 
vorzüglich  aus  ihrer  eignen,  überall  hervorleuchtenden  Originalität.  Niemals  ver- 
gassen  sie,  dass  sie  Römer  waren,  und  in  dem  ganzen  Charakter  ihrer  Sprache 
und  ihres  Styls  zeigt  sich,  dass  sie,  auch  wo  sie  dem  Vorbilde  folgten,  doch 
als  Beherrscher  nachahmten." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     33.      OQ^ 

den  Griechen  vom  Homerischen  Zeitalter  an  und  durch  den 
dauernden  Einfluss  jener  frühesten  Gesänge  wahrnehmen.  Die 
grosse,  originelle  Römische  Prosa  entspringt  unmittelbar  aus  dem 
Gemüth  und  Charakter,  dem  männlichen  Ernst,  der  Sittenstrenge 
und  der  ausschliessenden  Vaterlandsliebe,  bald  an  sich,  bald  im 
Contraste  mit  späterer  Verderbniss.  Sie  hat  viel  weniger  eine 
bloss  intellectuelle  Farbe  und  muss  aus  allen  diesen  Gründen  zu- 
sammengenommen der  naiven  Anmuth  einiger  Griechischen 
Schriftsteller  entbehren,  die  bei  den  Römern  nur  in  poetischer 
Stimmung,  da  die  Poesie  das  Gemüth  in  jeden  Zustand  zu  ver- 
setzen vermag,  hervortritt.  Ueberhaupt  erscheinen  fast  in  allen 
^^ergleichungen,  die  sich  zwischen  Griechischen  und  Römischen 
Schriftstellern  anstellen  lassen,  die  ersteren  minder  feierlich,  ein- 
facher und  natürlicher.  Hieraus  entsteht  ein  mächtiger  Unter- 
schied zwischen  der  Prosa  beider  Nationen  und  es  ist  kaum 
glaublich,  dass  ein  Schriftsteller  wie  Tacitus  von  den  Griechen 
seiner  Zeit  wahrhaft  empfunden  worden  sey.  Eine  solche  Prosa 
musste  um  so  mehr  auch  anders  auf  die  Sprache  einwirken,  als 
beide  den  gleichen  Impuls  von  derselben  Nationaleigenthümlichkeit 
empfiengen.  Eine  gleichsam  unbeschränkte,  sich  jedem  Gedanken 
hingebende,  jede  Bahn  des  Geistes  mit  gleicher  Leichtigkeit  ver- 
folgende und  gerade  in  dieser  Allseitigkeit  und  nichts  zurück- 
stossenden  Beweglichkeit  ihren  wahren  Charakter  findende  Ge- 
schmeidigkeit konnte  aus  solcher  Prosa  nicht  entspringen  und 
ebenso  wenig  eine  solche  erzeugen.  Ein  Blick  in  die  Prosa  der 
neuern  Nationen  würde  in  noch  verwickeitere  Betrachtungen 
führen,  da  die  Neueren,  wo  sie  nicht  selbst  original  sind,  nicht 
vermeiden  konnten,  verschieden  von  den  Römern  und  Griechen 
angezogen  zu  werden,  zugleich  aber  ganz  neue  Verhältnisse  auch 
eine  bis  dahin  unbekannte  Originalität  in  ihnen  erzeugten.  Ich  be- 
gnüge mich  nur  mit  der  Bemerkung,  [dass]  was  die  Verschiedenheit 
des  ^"erhältnisses  [betrifft],  in  welches  Prosa  und  Poesie  sich  gegen 
einander  stellen  und  dadurch  auf  den  Geist  zurückwirken,  immer 
nur  eines  in  einer  Nation  und  Sprache  vorhanden  seyn  kann.  In 
einem  Stamme  von  Sprachen  aber  lässt  sich  in  den  einzelnen 
desselben  diese  Verschiedenheit  in  grösserem  Umfange  übersehen 
und  stellt  sich  dann  den  Fortschritten  der  Bildung  im  Laufe 
der  Jahrhunderte  gemäss  in  organischer  Entwicklungsfolge  dar. 
Die  Grundlage  bleibt  immer  die  dem  ganzen  Stamme  eigenthüm- 
liche    äussere    Form,    das    gemeinsame    Bestreben    der    überein- 


2o6  '•    tber  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

kommenden  intellectuellen  Eigenthümlichkeiten.  Die  Verschieden- 
heit bilden  innerhalb  dieses  Gemeinsamen  die  Charaktere  der  ein- 
zelnen Nationen  und  das  Zeitalter,  in  welchem  jede  den  Grad  der 
Geistigkeit  erreicht,  aus  welchem  Poesie  und  Prosa  hervorblühen. 
Hierzu  wende  ich  mich  daher  jetzt. 

Vorher  aber  muss  ich  noch  eines  andren,  im  Vorigen  nicht 
betrachteten  Verhältnisses  der  Poesie  zur  Prosa  gedenken,  nemlich 
der  Beziehung  beider  auf  die  Schrift.  Es  ist  seit  den  meister- 
haften Wollischen  Untersuchungen  über  die  Entstehung  der  Home- 
rischen Gedichte  wohl  allgemein  anerkannt,  dass  die  Poesie  eines 
Volkes  noch  lange  nach  der  Erfindung  der  Schrift  unaufgezeichnet 
bleiben  kann  und  dass  beide  Epochen  durchaus  nicht  nothwendig 
zusammenfallen.  Bestimmt,  die  Gegenwart  des  Augenblicks  zu 
verherrlichen  und  zur  Begehung  festlicher  Gelegenheiten  mitzu- 
wirken, war  die  Poesie  in  den  frühesten  Zeiten  zu  innig  mit  dem 
Leben  verknüpft,  gieng  zu  freiwillig  zugleich  aus  der  Einbildungs- 
kraft des  Dichters  und  der  Auffassung  der  Hörer  hervor,  als  dass 
ihr  die  Absichtlichkeit  kalter  Aufzeichnung  nicht  hätte  fremd 
bleiben  sollen.  Sie  entströmte  den  Lippen  des  Dichters  oder  der 
Sängerschule,  welche  seine  Gedichte  in  sich  aufgenommen  hatte; 
es  war  ein  lebendiger,  mit  Gesang  und  Instrumentalmusik  be- 
gleiteter Vortrag.  Die  Worte  machten  von  diesem  nur  einen 
Theil  aus  und  waren  mit  ihm  unzertrennlich  verbunden.  Dieser 
ganze  Vortrag  wurde  der  Folgezeit  zugleich  überliefert  und  es 
konnte  nicht  in  den  Sinn  kommen,  das  so  fest  Verschlungene  ab- 
sondern zu  wollen.  Nach  der  ganzen  Weise,  wie  in  dieser  Periode 
des  geistigen  Volkslebens  die  Poesie  in  demselben  Wurzel  schlug, 
entstand  gar  nicht  der  Gedanke  der  Aufzeichnung.  Diese  setzte 
erst  die  Reflexion  voraus,  die  sich  immer  aus  der,  eine  Zeit  hin- 
durch bloss  natürlich  geübten  Kunst  entwickelt,  und  eine  grössere 
Entfaltung  der  Verhältnisse  des  bürgerlichen  Lebens,  welche  den 
Sinn  hervorruft,  die  Thätigkeiten  zu  sondern  und  ihre  Erfolge 
dauernd  zusammenwirken  zu  lassen.  Erst  dann  konnte  die  Ver- 
bindung der  Poesie  mit  dem  Vortrag  und  dem  augenblicklichen 
Lebensgenuss  loser  werden.  Die  Nothwendigkeit  der  poetischen 
Wortstellung  und  das  Metrum  machten  es  auch  grossentheils  über- 
flüssig, der  Ueberlieferung  vermittelst  des  Gedächtnisses  durch 
Schrift  zu  Hülfe  zu  kommen. 

Bei  der  Prosa  verhielt  sich  dies  alles  ganz  anders.  Die  Haupt- 
schwierigkeit lässt  sich    zwar    meiner   Ueberzeugung    nach    hier 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     33.      207 

nicht  in  der  Unmöglichkeit  suchen,  längere  ungebundene  Rede 
dem  Gedächtniss  anzuvertrauen.  Es  giebt  gewiss  bei  den  Völkern 
auch  bloss  nationelle,  durch  mündliche  Ueberlieferung  aufbewahrte 
Prosa,  bei  welcher  die  Einkleidung  und  der  Ausdruck  sicher  nicht 
zufällig  sind.  Wir  finden  in  den  Erzählungen  von  Nationen,  welche 
gar  keine  Schrift  besitzen,  einen  Gebrauch  der  Sprache,  eine  Art 
des  St\'ls,  welchen  man  es  ansieht,  dass  sie  gewiss  nur  mit  kleinen 
Veränderungen  von  Erzähler  zu  Erzähler  übergegangen  sind. 
Auch  die  Kinder  bedienen  sich  bei  Wiederholung  gehörter  Er- 
zählungen gewöhnlich  gewissenhaft  derselben  Ausdrücke.  Ich 
brauche  hier  nur  an  die  Erzählung  von  Tangaloa  auf  den  Tonga- 
Inseln  zu  erinnern.*)  Unter  den  Vasken  gehen  noch  heute  solche 
unaufgezeichnet  bleibenden  Mährchen  herum,  die,  zum  sichtbaren 
Beweise,  dass  auch  und  ganz  vorzüglich  die  äussere  Form  dabei 
beachtet  wird,  nach  der  Versicherung  der  Eingebornen  allen  ihren 
Reiz  und  ihre  natürliche  Grazie  durch  Uebertragung  in  das  Spa- 
nische verlieren.  Das  Volk  ist  ihnen  dergestalt  ergeben,  dass  sie 
ihrem  Inhalte  nach  in  verschiedene  Classen  getheilt  werden.  Ich 
hörte  selbst  ein  solches,  unserer  Sage  vom  Hamelnschen  Ratten- 
fänger ganz  ähnliches  erzählen;  andere  stellen,  nur  auf  verschie- 
dene V\"eise  verändert,  M^'then  des  Hercules  und  ein  ganz  locales 
von  einer  kleinen,  dem  Lande  vorliegenden  Insel**)  die  Geschichte 
Hero's  und  Leander's,  auf  einen  Mönch  und  seine  Geliebte  über- 
tragen, dar.  Allein  die  Aufzeichnung,  zu  vv^elcher  der  Gedanke 
bei  der  frühesten  Poesie  gar  nicht  entsteht,  liegt  dennoch  bei  der 
Prosa  noth wendig  und  unmittelbar,  auch  ehe  sie  sich  zur  wahr- 
haft kunstvollen  erhebt,  in  dem  ursprünglichen  Zweck.  Thatsachen 
sollen  erforscht  oder  dargestellt,  Begriffe  entwickelt  und  verknüpft, 
also  etwas  Objectives  ausgemittelt  werden.  Die  Stimmung,  welche 
dies  hervorzubringen  strebt,  ist  eine  nüchterne,  auf  Forschung  ge- 
richtete, Wahrheit  von  Schein  sondernde,  dem  Verstände  die 
Leitung  des  Geschäfts  übertragende.  Sie  stösst  also  zuerst  das 
Metrum  zurück,  nicht  gerade  wegen  der  Schwierigkeit  seiner 
Fesseln,  sondern  weil  das  Bedürfniss  darnach  in  ihr  nicht  ge- 
gründet seyn  kann,  ja  vielmehr  der  Allseitigkeit   des   überall  hin 


*)  Mariner.  Th.  II.  S.  377. 
**)  Izaro  in  der  Bucht  von  Bermeo.^) 

V  Nach  „Bermeo"  gestrichen:  „Meine  ungedruckte  Reise  durch  Biscaya. 
S.  1S6." 


2o8  I*    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

forschenden  und  verknüpfenden  Verstandes  eine,  die  Sprache  nach 
einem  bestimmten  Gefühle  einengende  Form  nicht  zusagt.  Auf- 
zeichnung wird  nun  hierdurch  und  durch  das  ganze  Unternehmen 
wünschenswerth,  ja  selbst  unentbehrlich.  Das  Erforschte  und  selbst 
der  Gang  der  Forschung  muss  in  allen  Einzelnheiten  fest  und 
sicher  dastehen.  Der  Zweck  selbst  ist  möglichste  Verewigung: 
Geschichte  soll  das  sonst  im  Laufe  der  Zeit  Verfliegende  erhalten, 
Lehre  zu  weiterer  Entwicklung  ein  Geschlecht  an  das  andere 
knüpfen.  Die  Prosa  begründet  und  befestigt  auch  erst  das  nament- 
liche Heraustreten  Einzelner  aus  der  Masse  in  Geisteserzeugnissen, 
da  die  Forschung  persönliche  Erkundigungen,  Besuche  fremder 
Länder  und  eigen  gewählte  Methoden  der  Verknüpfung  mit  sich 
führt,  die  Wahrheit,  besonders  in  Zeiten,  wo  andere  Beweise 
mangeln ,  eines  Gewährsmannes  bedarf  und  der  Geschicht- 
schreiber nicht,  wie  der  Dichter,  seine  Beglaubigung  vom  Olymp 
ableiten  kann.  Die  sich  in  einer  Nation  entwickelnde  Stimmung 
zur  Prosa  muss  daher  die  Erleichterung  der  Schriftmittel  suchen 
und  kann  durch  die  schon  vorhandene  angeregt  werden. 

In  der  Poesie  entstehen  durch  den  natürlichen  Gang  der 
Bildung  der  Völker  zwei,  gerade  durch  die  Entbehrung  und  den 
Gebrauch  der  Schrift  zu  bezeichnende,  verschiedene  Gattungen,*) 
eine  gleichsam  vorzugsweise  natürliche,  der  Begeisterung  ohne 
Absicht  und  Bewusstseyn  der  Kunst  entströmende  und  eine 
spätere  kunstvollere,  doch  darum  nicht  minder  dem  tiefsten  und 
ächtesten  Dichtergeist  angehörende.  Bei  der  Prosa  kann  dies  nicht 
auf  dieselbe  Weise  und  noch  weniger  in  denselben  Perioden  statt 
finden.  Allein  in  anderer  Art  ist  dasselbe  auch  bei.  ihr  der  Fall. 
Wenn  sich  nemlich  in  einem  für  Prosa  und  Poesie  glücklich 
organisirten  Volke  Gelegenheiten  ausbilden,  wo  das  Leben  frei 
hervorströmender  Beredsamkeit  bedarf,  so  ist  hier,  nur  auf  andere 
Weise,  eine  ähnliche  Verknüpfung  der  Prosa  mit  dem  Volksleben, 


*)  Unübertrefflich  gesagt  und  mit  eignem  Dichtergefühl  empfunden  ist  in  der 
Vorrede  zu  A.  W.  v.  Schlegel's  Rämäyana  die  Auseinandersetzung  über  die  früheste 
Poesie  bei  den  Griechen  und  Indiern.  Welcher  Gewinn  wäre  es  für  die  philosophische 
imd  ästhetische  Würdigung  beider  Literaturen  und  für  die  Geschichte  der  Poesie,  wenn 
es  diesem,  vor  allen  andren  mit  den  Gaben  dazu  ausgestatteten  Schriftsteller  gefiele, 
die  Literaturgeschichte  der  Indier  zu  schreiben  oder  doch  einzelne  Theile  derselben, 
namentlich  die  dramatische  Poesie  zu  bearbeiten  und  einer  ebenso  glücklichen  Kritik 
zu  unterwerfen,  als  das  Theater  anderer  Nationen  von  seiner  wahrhaft  genialen  Be- 
handlung erfahren  hat. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.    33.  34.    20Q 

als  wir  sie  oben  bei  der  Poesie  gefunden  haben.  Sie  stösst  dann 
auch,  so  lange  sie  ohne  Bewusstseyn  absichtlicher  Kunst  fortdauert, 
die  todte  und  kalte  Aufzeichnung  zurück.  Dies  war  wohl  gewiss 
in  den  grossen  Zeiten  Athens  zwischen  dem  Perserkriege  und 
dem  Peloponnesischen  und  noch  später  der  Fall.  Redner  wie 
Themistokles,  Perikles  und  Alcibiades  entwickelten  gewiss  mäch- 
tige Rednertalente;  von  den  beiden  letzteren  wird  dies  ausdrück- 
lich herausgehoben.  Dennoch  sind  von  ihnen  keine  Reden,  da 
die  in  den  Geschichtschreibern  natürlich  nur  diesen  angehören, 
auf  uns  gekommen  und  auch  das  Alterthum  scheint  keine  ihnen 
mit  Sicherheit  beigelegte  Schriften  besessen  zu  haben.  Zu  Alci- 
biades Zeit  gab  es  zw^ar  schon  aufgezeichnete  und  sogar  von 
Andren,  als  ihren  Verfassern  gehalten  zu  werden  bestimmte  Reden; 
es  lag  aber  doch  in  allen  Verhältnissen  des  Staatslebens  jener 
Periode,  dass  diese  Männer,  welche  wirklich  Lenker  des  Staates 
waren,  keine  Veranlassung  fanden,  ihre  Reden,  weder  ehe  sie 
dieselben  hielten,  noch  nachher  niederzuschreiben.  Dennoch  be- 
wahrt diese  natürliche  Beredsamkeit  gewiss  ebenso  wie  jene 
Poesie  nicht  nur  den  Keim,  sondern  war  in  vielen  Stücken  das 
unübertroffne  ^"orbild  der  späteren  kunstvolleren.  Hier  aber, 
wo  von  dem  Einflüsse  beider  Gattungen  auf  die  Sprache  die  Rede 
ist,  konnte  die  nähere  Erwägung  dieses  Verhältnisses  nicht  über- 
gangen werden.  Die  späteren  Redner  empfiengen  die  Sprache  aus 
einer  Zeit,  wo  schon  in  bildender  und  dichtender  Kunst  so  Grosses 
und  Herrliches  das  Genie  der  Redner  angeregt  und  den  Geschmack 
des  Volkes  gebildet  hatte,  in  einer  ganz  andren  Fülle  und  Fein- 
heit, als  deren  sie  sich  früher  zu  rühmen  vermöchte.  Etwas  sehr 
Aehnliches  musste  das  lebendige  Gespräch  in  den  Schulen  der 
Philosophen  darbieten. 


Kraft   der  Sprachen,   sich   glücklich   aus   einander  zu 

entwickeln. 

Es  ist  bewundrungswürdig  zu  sehen,  welche  lange  Reihe  von  34. 
Sprachen  gleich  glücklichen  Baues  und  gleich  anregender  Wirkung 
auf  den  Geist  diejenige  herv^orgebracht  hat,  die  wir  an  die  Spitze 
des  Sanskritischen  Stammes  stellen  müssen,  wenn  wir  einmal 
überhaupt  in  jedem  Stamme  Eine  Ur-  oder  Muttersprache  voraus- 
setzen.   Um  nur  die  uns   am   meisten   nahe  liegenden  Momente 

\V.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  I4 


2IO  ^'    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

hier  aufzuzählen,  so  finden  wir  zuerst  das  Zend  und  das  Sanskrit 
in  enger  Verwandtschaft,  aber  auch  in  merkwürdiger  Verschieden- 
heit, das  eine  und  das  andre  von  dem  lebendigsten  Principe  der 
Fruchtbarkeit  und  Gesetzmässigkeit  in  Wort-  und  Formenbildung 
durchdrungen.  Dann  giengen  aus  diesem  Stamm  die  beiden 
Sprachen  unsrer  classischen  Gelehrsamkeit  hervor  und,  wenn 
auch  in  späterer  wissenschaftlicher  Entwicklung,  der  ganze  Ger- 
manische Sprachzweig.  Endlich,  als  die  Römische  Sprache  durch 
Verderbniss  und  Verstümmlung  entartete,  blühten,  wie  mit  er- 
neuerter Lebenskraft,  aus  derselben  die  Romanischen  Sprachen 
auf,  welchen  unsere  heutige  Bildung  so  unendlich  viel  verdankte 
Jene  Ursprache  bewahrte  also  ein  Lebensprincip  in  sich ,  an 
welchem  sich  wenigstens  drei  Jahrtausende  hindurch  der  Faden 
der  geistigen  Entwicklung  des  Menschengeschlechts  fortzuspinnen 
vermochte  und  das  selbst  aus  dem  Verfallnen  und  Zersprengten 
neue  Sprachbildungen  zu  regeneriren  Kraft  besass. 

Man  hat  wohl  in  der  Völkergeschichte  die  Frage  aufgeworfen,, 
was  aus  den  Weltbegebenheiten  geworden  seyn  würde,  wenn 
Carthago  Rom  besiegt  und  das  Europäische  Abendland  beherrscht 
hätte.  Man  kann  mit  gleichem  Rechte  fragen:  in  welchem  Zu- 
stande sich  unsre  heutige  Cultur  befinden  würde,  wenn  die  Araber, 
wie  sie  es  eine  Zeit  hindurch  waren,  im  alleinigen  Besitz  der 
Wissenschaft  geblieben  wären  und  sich  über  das  Abendland  ver- 
breitet hätten?  Weniger  günstiger  Erfolg  scheint  mir  in  beiden 
Fällen  nicht  zweifelhaft.  Derselben  Ursache,  welche  die  Römische 
Weltherrschaft  hervorbrachte,  dem  Römischen  Geist  und  Charakter,, 
nicht  äusseren,  mehr  zufälligen  Schicksalen  verdanken  wir  den 
mächtigen  Einfluss  dieser  Weltherrschaft  auf  unsre  bürgerlichen 
Einrichtungen,  Gesetze,  Sprache  und  Cultur.  Durch  die  Richtung 
auf  diese  Bildung  und  durch  innre  Stammverwandtschaft  wurden 
wir  wirklich  für  Griechischen  Geist  und  Griechische  Sprache- 
empfänglich, da  die  Araber  vorzugsweise  nur  an  den  wissen- 
schaftlichen Resultaten  Griechischer  Forschung  hiengen.  Sie  würden, 
auch  auf  der  Grundlage  desselben  Alterthums,  nicht  das  Gebäude 
der  Wissenschaft  und  Kunst  aufzuführen  vermocht  haben,  dessen 
wir  uns  mit  Recht  rühmen. 

Nimmt  man  nun  dies  als  richtig  an,  so  fragt  sich,  ob  dieser 
Vorzug  der  Völker  Sanskritischen  Stammes  in  ihren  intellectuellen 
Anlagen  oder  in  ihrer  Sprache  oder  in  günstigeren  geschichtlichen 
Schicksalen  zu   suchen  ist?    Es   springt  in  die  Augen,   dass  man 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      2  I  I 

keine  dieser  Ursachen  als  allein  wirkend  ansehen  darf.  Sprache 
und  intellectuelle  Anlagen  lassen  sich  in  ihrer  beständigen  Wechsel- 
wirkung nicht  von  einander  trennen  und  auch  die  geschichtlichen 
Schicksale  möchten,  wenn  uns  gleich  der  Zusammenhang  bei 
weitem  nicht  in  allen  Punkten  durchschimmert,  von  dem  innren 
Wesen  der  \^ölker  und  Individuen  so  unabhänsiff  nicht  sevn. 
Dennoch  muss  jener  Vorzug  sich  an  irgend  etwas  in  der  Sprache 
erkennen  lassen  und  wir  haben  daher  hier  noch,  vom  Beispiele 
des  Sanskritischen  Sprachstammes  ausgehend,  die  Frage  zu  unter- 
suchen, w^oran  es  liegt,  dass  eine  Sprache  vor  der  andren  ein 
stärker  und  mannigfaltiger  aus  sich  heraus  erzeugendes  Lebens- 
princip  besitzt?  Die  ürsach  liegt,  wie  man  hier  deutlich  sieht,  in 
zwei  Punkten,  darin,  dass  es  ein  Stamm  von  Sprachen,  keine 
einzelne  ist,  wovon  wir  hier  reden,  dann  aber  in  der  individuellen 
Beschaffenheit  des  Sprachbaues  selbst.  Ich  bleibe  hier  zunächst 
bei  der  letzteren  stehen,  da  ich  auf  die  besondren  Verhältnisse 
der,  einen  Stamm  bildenden  Sprachen  erst  in  der  Folge  zurück- 
kommen kann. 

Es  ergiebt  sich  von  selbst,  dass  die  Sprache,  deren  Bau  dem 
Geiste  am  meisten  zusagt  und  seine  Thätigkeit  am  lebendigsten 
anregt,  auch  die  dauerndste  Kraft  besitzen  muss,  alle  neue  Ge- 
staltungen aus  sich  hervorgehen  zu  lassen,  welche  der  Lauf  der 
Zeit  und  die  Schicksale  der  Völker  herbeiführen.  Eine  solche  auf 
die  ganze  Sprachform  verweisende  Beant^'ortung  der  aufgeworfenen 
Frage  ist  aber  viel  zu  allgemein  und  giebt  genau  genommen 
nur  die  Frage  in  andren  Worten  zurück.  Wir  bedürfen  aber 
hier  einer  auf  specielle  Punkte  führenden  und  eine  solche  scheint 
mir  auch  möglich.  Die  Sprache,  im  einzelnen  Wort  und  in  der 
verbundenen  Rede,  ist  ein  Act,  eine  wahrhaft  schöpferische  Hand- 
lung des  Geistes,  und  dieser  Act  ist  in  jeder  Sprache  ein  indivi- 
dueller, in  einer  von  allen  Seiten  bestimmten  Weise  verfahrend. 
Begriff  und  Laut,  auf  eine  ihrem  wahren  Wesen  gemässe,  nur  an 
der  Thatsache  selbst  erkennbare  Weise  verbunden,  werden  als 
Wort  und  als  Rede  hinausgestellt  und  dadurch  zwischen  der 
Aussenwelt  und  dem  Geiste  etwas  von  beiden  Unterschiedenes 
geschaffen.  A'on  der  Stärke  und  Gesetzmässigkeit  dieses  Actes 
hängt  die  Vollendung  der  Sprache  in  allen  ihren  einzelnen  Vor- 
zügen, w'elchen  Namen  sie  immer  führen  mögen,  ab  und  auf  ihr 
beruht  also  auch  das  in  ihr  lebende,  weiter  erzeugende  Princip. 
Es  ist  aber  nicht  einmal  nöthig,  auch  der  Gesetzmässigkeit  dieses 

14* 


212  '•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Actes  zu  erwähnen;  denn  diese  liegt  schon  im  Begriffe  der  Stärke. 
Die  volle  Kraft  entwickelt  sich  immer  nur  auf  dem  richtigen 
Wege.  Jeder  unrichtige  stösst  auf  eine  die  vollkommne  Ent- 
wicklung hemmende  Schranke.  Wenn  also  die  Sanskritischen 
Sprachen  mindestens  drei  Jahrtausende  hindurch  Beweise  ihrer 
zeugenden  Kraft  gegeben  haben,  so  ist  dies  lediglich  eine  Wirkung 
der  Stärke  des  spracherschaffenden  Actes  in  den  Völkern,  welchen 
sie  angehörten. 

Wir  haben  im  Vorigen  (§.  22.)  ausführlich  von  der  Zusammen- 
fügung der  inneren  Gedankenform  mit  dem  Laute  gesprochen 
und  in  ihr  eine  Synthesis  erkannt,  die,  was  nur  durch  einen  wahr- 
haft schöpferischen  Act  des  Geistes  möglich  ist,  aus  den  beiden 
zu  verbindenden  Elementen  ein  drittes  hervorbringt,  in  welchem 
das  einzelne  Wesen  beider  verschwindet.  Diese  Synthesis  ist  es, 
auf  deren  Stärke  es  hier  ankommt.  Der  Völkerstamm  wird  in 
der  Spracherzeugung  der  Nationen  den  Sieg  erringen,  welcher 
diese  Synthesis  mit  der  grössten  Lebendigkeit  und  der  un- 
geschwächtesten Kraft  vollbringt.  In  allen  Nationen  mit  un- 
vollkommneren  Sprachen  ist  diese  Synthesis  von  Natur  schwach 
oder  wird  durch  irgend  einen  hinzutretenden  Umstand  gehemmt 
und  gelähmt.  Allein  auch  diese  Bestimmungen  zeigen  noch  zu 
sehr  im  Allgemeinen,  was  sich  doch  in  den  Sprachen  selbst  be- 
stimmt und  als  Thatsache  nachweisen  lässt. 


Act  des  selbstthätigen  Setzens  in  den  Sprachen. 

Es  giebt  nemlich  Punkte  im  grammatischen  Baue  der  Sprachen, 
in  welchen  jene  Synthesis  und  die  sie  hervorbringende  Kraft 
gleichsam  nackter  und  unmittelbarer  ans  Licht  treten  und  mit 
denen  der  ganze  übrige  Sprachbau  dann  auch  nothwendig  im 
engsten  Zusammenhange  steht.  Da  die  Synthesis,  von  welcher 
hier  die  Rede  ist,  keine  Beschaffenheit,  nicht  einmal  eigentlich 
eine  Handlung,  sondern  ein  wirkliches,  immer  augenblicklich  vor- 
übergehendes Handeln  selbst  ist,  so  kann  es  für  sie  kein  besonderes 
Zeichen  an  den  Worten  geben  und  das  Bemühen,  ein  solches 
Zeichen  zu  finden,  würde  schon  an  sich  den  Mangel  der  wahren 
Stärke  des  Actes  durch  die  Verkennung  seiner  Natur  beurkunden. 
Die  wirkliche  Gegenwart  der  Synthesis  muss  gleichsam  immateriell 
sich  in  der  Sprache  offenbaren,  man  muss  inne  werden,  dass  sie, 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      o  I  "l 

gleich  einem  Blitze,  dieselbe  durchleuchtet  und  die  zu  verbindenden 
Stoffe,  wie  eine  Gluth  aus  unbekannten  Regionen,  in  einander 
verschmolzen  hat.  Dieser  Punkt  ist  zu  wichtig,  um  nicht  eines 
Beispiels  zu  bedürfen.  Wenn  in  einer  Sprache  eine  Wurzel 
durch  ein  Suffix  zum  Substantivum  gestempelt  wird,  so  ist  das 
Suffix  das  materielle  Zeichen  der  Beziehung  des  Begriffs  auf  die 
Kategorie  der  Substanz.  Der  synthetische  Act  aber,  durch  welchen 
unmittelbar  beim  Aussprechen  des  Wortes  diese  \"erset2ung  im 
Geiste  w^irklich  vor  sich  geht,  hat  in  dem  Worte  selbst  kein  eignes 
einzelnes  Zeichen,  sondern  sein  Daseyn  offenbart  sich  durch  die 
Einheit  und  Abhängigkeit  von  einander,  zu  w^elcher  Suffix  und 
Wurzel  verschmolzen  sind,  also  durch  eine  verschiedenartige,  in- 
directe,  aber  aus  dem  nemlichen  Bestreben  fliessende  Bezeichnung. 

Wie  ich  es  hier  in  diesem  einzelnen  Falle  gethan  habe,  kann 
man  diesen  Act  überhaupt  den  Act  des  selbstthätigen  Setzens 
durch  Zusammenfassung  (Synthesis)  nennen.  Er  kehrt  überall  in 
der  Sprache  zurück.  Am  deutlichsten  und  offenbarsten  erkennt 
man  ihn  in  der  Satzbildung,  dann  in  den  durch  Flexion  oder 
Affixe  abgeleiteten  Wörtern,  endlich  überhaupt  in  allen  Ver- 
knüpfungen des  Begriffs  mit  dem  Laute.  In  jedem  dieser  Fälle 
wird  durch  Verbindung  etwas  Neues  geschaffen  und  wirklich  als 
etwas  (ideal)  für  sich  Bestehendes  gesetzt.  Der  Geist  schafft, 
stellt  sich  aber  das  Geschaffene  durch  denselben  Act  gegenüber 
und  lässt  es,  als  Object,  auf  sich  zurückwirken.  So  entsteht  aus 
der  sich  im  Menschen  reflectirenden  Welt  zwischen  ihm  und  ihr 
die  ihn  mit  ihr  verknüpfende  und  sie  durch  ihn  befruchtende 
Sprache.  Auf  diese  Weise  wird  es  klar,  w^ie  von  der  Stärke  dieses 
Aaes  das  ganze,  eine  bestimmte  Sprache  durch  alle  Perioden  hin- 
durch beseelende  Leben  abhängt. 

Wenn  man  nun  aber  zum  Behuf  der  historischen  und 
praktischen  Prüfung  und  Beunheilung  der  Sprachen,  von  der  ich 
mich  in  dieser  Untersuchung  niemals  entferne,  nachforscht,  woran 
die  Stärke  dieses  Actes  in  ihrem  Baue  erkennbar  ist,  so  zeigen 
sich  vorzüglich  drei  Punkte,  an  welchen  er  haftet  und  bei  denen 
man  den  Mangel  seiner  ursprünglichen  Stärke  durch  ein  Be- 
mühen, denselben  auf  andrem  Wege  zu  ersetzen,  angedeutet 
findet.  Denn  auch  hier  äussert  sich,  worauf  wir  schon  im  Vorigen 
mehrmals  zurückgekommen  sind,  dass  das  richtige  Verlangen  der 
Sprache  (also  z.  B.  im  Ghinesischen  die  Abgränzung  der  Rede- 
theile)  im  Geiste  immer  vorhanden,  allein  nicht  immer  so  durch- 


214.  ^'    ^^^^  '^^^  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

greifend  lebendig  ist,  dass  es  sich  auch  wieder  im  Laute  darstellen 
sollte.  Es  entsteht  alsdann  im  äusseren  grammatischen  Baue  eine 
durch  den  Geist  zu  ergänzende  Lücke  oder  Ersetzung  durch  un- 
adaequate  Analoga.  Auch  hier  also  kommt  es  auf  eine  solche  Auf- 
findung des  S3^nthetischen  Actes  im  Sprachbaue  an,  die  nicht  bloss 
seine  Wirksamkeit  im  Geiste,  sondern  seinen  wahren  Uebergang 
in  die  Lautformung  nachweist.  Jene  drei  Punkte  sind  nun  das 
Verbum,  die  Gonjunction  und  das  Pronomen  relativum  und  wir 
müssen   bei   jedem   derselben  noch  einige  Augenblicke  verweilen. 


Act   des   selbstthätigen   Setzens   in   den   Sprachen. 

Verbum. 

Das  Verbum  (um  zuerst  von  diesem  allein  zu  sprechen)  unter- 
scheidet sich  vom  Nomen  und  den  andren,  möglicherweise  im 
einfachen  Satze  vorkommenden  Redetheilen  mit  schneidender  Be- 
stimmtheit dadurch,  dass  ihm  allein  der  Act  des  synthetischen 
Setzens  als  grammatische  Function  beigegeben  ist.  Es  ist  ebenso, 
als  das  declinirte  Nomen,  in  der  Verschmelzung  seiner  Elemente 
mit  dem  Stammworte  durch  einen  solchen  Act  entstanden,  es  hat 
aber  auch  diese  Form  erhalten,  um  die  Obliegenheit  und  das  Ver- 
mögen zu  besitzen,  diesen  Act  in  Absicht  des  Satzes  wieder  selbst 
auszuüben.  Es  liegt  daher  zwischen  ihm  und  den  übrigen  Wörtern 
des  einfachen  Satzes  ein  Unterschied,  der  diese  mit  ihm  zur 
gleichen  Gattung  zu  zählen  verbietet.  Alle  übrigen  Wörter  des 
Satzes  sind  gleichsam  todt  daliegender,  zu  verbindender  Stoif,  das 
Verbum  allein  ist  der,  Leben  enthaltende  und  Leben'  verbreitende 
Mittelpunkt.  Durch  einen  und  ebendenselben  synthetischen  Act 
knüpft  es  durch  das  Seyn  das  Praedicat  mit  dem  Subjecte  zu- 
sammen, allein  so,  dass  das  Se3^n,  welches  mit  einem  energischen 
Praedicate  in  ein  Handeln  übergeht,  dem  Subjecte  selbst  beigelegt, 
also  das  bloss  als  verknüpfbar  Gedachte  zum  Zustande  oder  Vor- 
gange in  der  Wirklichkeit  wird.  Man  denkt  nicht  bloss  den  ein- 
schlagenden Blitz,  sondern  der  Blitz  ist  es  selbst,  der  hernieder- 
fährt; man  bringt  nicht  bloss  den  Geist  und  das  Unvergängliche 
als  verknüpfbar  zusammen,  sondern  der  Geist  ist  unvergänglich. 
Der  Gedanke,  wenn  man  sich  so  sinnlich  ausdrücken  könnte,  ver- 
lässt  durch  das  Verbum  seine  innre  Wohnstätte  und  tritt  in  die 
Wirklichkeit  über. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      21^ 

Wenn  nun  hierin  die  unterscheidende  Natur  und  die  eigen- 
thümliche  Function  des  Verbum  liegt,  so  muss  die  grammatische 
Gestaltung  desselben  in  jeder  einzelnen  Sprache  kund  geben,  ob 
und  auf  welche  Weise  sich  gerade  diese  charakteristische  Function 
in  der  Sprache  andeutet?  Man  pflegt  wohl,  um  einen  Begriff  von 
der  Beschaffenheit  und  dem  Unterschiede  der  Sprachen  zu  geben, 
anzuführen,  wie  viel  Tempora,  Modi  und  Conjugationen  das 
Verbum  in  ihnen  hat,  die  verschiednen  Arten  der  Verba  auf- 
zuzählen u.  s.  f.  Alle  hier  genannten  Punkte  haben  ihre  unbestreit- 
bare Wichtigkeit.  Allein  über  das  wahre  Wesen  des  Verbum, 
insofern  es  der  Nerv  der  ganzen  Sprache  ist,  lassen  sie  ohne  Be- 
lehrung. Das,  worauf  es  ankommt,  ist,  ob  und  wie  sich  am 
Verbum  einer  Sprache  seine  synthetische  Kraft,  die  Function, 
vermöge  welcher  es  Verbum  ist,*)  äussert,  und  diesen  Punkt 
lässt  man  nur  zu  häufig  ganz  unberührt.  Man  geht  auf  diese 
Weise  nicht  tief  genug  und  nicht  bis  zu  den  wahren  innren  Be- 
strebungen der  Sprachformung  zurück,  sondern  bleibt  bei  den 
Aeusserlichkeiten  des  Sprachbaues  stehen,  ohne  zu  bedenken,  dass 
diese  erst  dadurch  Bedeutung  erlangen,  dass  zugleich  ihr  Zu- 
sammenhang mit  jenen  tiefer  liegenden  Richtungen  dargethan  wird. 

Im  Sanskrit  beruht  die  Andeutung  der  zusammenfassenden 
Kraft  des  Verbum  allein  auf  der  grammatischen  Behandlung 
dieses  Redetheiles  und  lässt,  da  sie  durchaus  seiner  Natur  folgt, 
schlechterdings  nichts  zu  vermissen  übrig.  Wie  das  Verbum  sich 
in  dem  hier  in  Rede  stehenden  Punkte  von  allen  übrigen  Rede- 
theilen  des  einfachen  Satzes  dem  Wesen  nach  unterscheidet,  so 
hat  es  im  Sanskrit  durchaus  nichts  mit  dem  Nomen  gemein, 
sondern  beide  stehen  vollkommen  rein  und  geschieden  da.  Man 
kann  zwar  aus  dem  geformten  Nomen  in  gewissen  Fällen  ab- 
geleitete Verba  bilden.  Dies  ist  aber  weiter  nichts,  als  dass  das 
Nomen,  ohne  Rücksicht  auf  diese  seine  besondere  Natur,  wie  ein 
Wurzelwort  behandelt  wird.  Seine  Endung,  also  gerade  sein 
grammatisch  bezeichnender  Theil  erfährt  dabei  mehrfache 
Aenderungen.  Auch  kommt  gewöhnlich  ausser  der  in  der  Ab- 
wandlung liegenden  Verbalbehandlung  noch  eine  Sylbe  oder  ein 
Buchstabe  hinzu,   welcher   zu    dem  Begriffe    des   Nomen    einen 


*)  Ich  habe  diese  Frage  in  Absicht  der  uns  grammatisch  bekannten  Amerikanischen 
Sprachen  in  einer  eignen,  in  einer  der  Classensitzungen  der  Berliner  Akademie  gelesenen 
Abhandlung  zu  beantworten  versucht. 


2j5  I«    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

zweiten  einer  Handlung  fügt.  Dies  ist  in  der  Sylbe  kämy  von 
käma.  Verlangen,  unmittelbar  deutlich.  Sollten  aber  auch  die 
übrigen  Einschiebsel  andrer  Art,  wie  y,  sy  u.  s.  f.,  keine  reale  Be- 
deutung besitzen,  so  drücken  sie  ihre  Verbalbeziehungen  dadurch 
formal  aus,  dass  sie  bei  den  primitiven,  aus  wahren  Wurzeln 
entstehenden  Verben  gleichfalls ,  und  wenn  man  in  die  Unter- 
suchung der  einzelnen  Fälle  eingeht,  auf  sehr  analoge  Weise  Platz 
finden.  Dass  Nomina  ohne  solchen  Zusatz  in  Verba  übergehen, 
ist  bei  weitem  der  seltenste  Fall.  Ueberhaupt  hat  aber  von  dieser 
ganzen  Verwandlung  der  Nomina  in  Verba  die  ältere  Sprache 
nur  sehr  sparsamen  Gebrauch  gemacht. 

Wie  zweitens  das  Verbum  in  seiner  hier  betrachteten  Function 
niemals  substanzartig  ruht,  sondern  immer  in  einem  einzelnen, 
von  allen  Seiten  bestimmten  Handeln  erscheint,  so  vergönnt  ihm 
auch  die  Sprache  keine  Ruhe.  Sie  bildet  nicht,  wie  beim  Nomen,, 
erst  eine  Grundform,  an  welche  sie  die  Beziehungen  anhängt^ 
und  selbst  ihr  Infinitiv  ist  nicht  verbaler  Natur,  sondern  ein  deut- 
lich, auch  nicht  aus  einem  Theile  des  Verbum,  sondern  aus  der 
Wurzel  selbst  abgeleitetes  Nomen.  Dies  ist  nun  zwar  ein  Mangel 
in  der  Sprache  zu  nennen,  die  in  der  That  die  ganz  eigenthüm- 
liche  Natur  des  Infinitivs  zu  verkennen  scheint.  Es  beweist  aber 
nur  noch  mehr,  wie  sorgfältig  sie  jeden  Schein  der  Nominal- 
beschaffenheit  von  dem  Verbum  zu  entfernen  bemüht  ist.  Das 
Nomen  ist  eine  Sache  und  kann,  als  solche,  Beziehungen  ein- 
gehen und  die  Zeichen  derselben  annehmen.  Das  Verbum  ist, 
als  augenblicklich  verfliegende  Handlung,  nichts  als  ein  Inbegriff 
von  Beziehungen  und  so  stellt  es  die  Sprache  in  der  That  dar. 
Ich  brauche  hier  kaum  zu  bemerken,  dass  es  wohl  niemandem 
einfallen  kann,  die  Classensylben  der  speciellen  Tempora  des 
Sanskritischen  Verbum  als  den  Grundformen  des  Nomen  ent- 
sprechend anzusehen.  Wenn  man  die  Verba  der  vierten  und 
zehnten  Classe  ausnimmt,  von  welchen  sogleich  weiter  unten  die 
Rede  seyn  wird,  so  bleiben  nur  Vocale  mit  oder  ohne  ein- 
geschobene Nasenlaute  übrig,  also  sichtbar  nur  phonetische  Zu- 
sätze zu  der  in  die  Verbalform  übergehenden  Wurzel. 

Wie  endlich  drittens  überhaupt  in  den  Sprachen  die  innere 
Gestaltung  eines  Redetheils  sich  ohne  directes  Lautzeichen  durch 
die  symbolische  Lauteinheit  der  grammatischen  Form  ankündigt, 
so  kann  man  mit  Wahrheit  behaupten,  dass  diese  Einheit  in  den 
Sanskritischen  Verbalformen  noch  viel  enger,  als  in  den  nominalen 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      217 

geschlossen  ist.  Ich  habe  schon  im  Vorigen  darauf  aufmerksam 
gemacht,  dass  das  Nomen  in  seiner  Abwandlung  niemals  einen 
Stammvocal,  wie  das  Verbum  so  häufig,  durch  Gunirung  steigert. 
Die  Sprache  scheint  hierin  offenbar  eine  Absonderung  des  Stammes 
von  dem  Suffix,  die  sie  im  Verbum  gänzlich  verlöscht,  im  Nomen 
noch  allenfalls  dulden  zu  wollen.  Mit  Ausnahme  der  Pronominal- 
Suffixa  in  den  Personenendungen  ist  auch  die  Bedeutung  der 
nicht  bloss  phonetischen  Elemente  der  Verbalbildungen  viel 
schwieriger  zu  entdecken,  als  dies  wenigstens  in  einigen  Punkten 
der  Nominalbildung  der  Fall  ist.  Wenn  man  als  die  Scheidewand 
der  von  dem  wahren  Begriff  der  grammatischen  Formen  aus- 
gehenden (flectirenden)  und  der  unvollkommen  zu  ihnen  hin- 
strebenden (agglutinirenden)  Sprachen  den  zwiefachen  Grundsatz 
aufstellt:  aus  der  Form  ein  einzeln  ganz  unverständliches  Zeichen 
zu  bilden  oder  zwei  bedeutsame  Begriffe  nur  eng  aneinander  zu 
heften,  so  tragen  in  der  ganzen  Sanskritsprache  die  Verbalformen 
den  ersteren  am  deutlichsten  an  sich.  Diesem  Gange  zufolge  ist 
die  Bezeichnung  jeder  einzelnen  Beziehung  nicht  dieselbe,  sondern 
nur  analogisch  gleichförmig  und  der  einzelne  Fall  wird  besonders, 
nur  mit  Bewahrung  der  allgemeinen  Analogie,  nach  den  Lauten 
der  Bezeichnungsmittel  und  des  Stammes  behandelt.  Daher  haben 
die  einzelnen  Bezeichnungsmittel  verschiedene,  nur  immer  auf  be- 
stimmte Fälle  anzuwendende  Eigenheiten,  wie  ich  hieran  schon 
oben  (S.  135 — 137.)  bei  Gelegenheit  des  Augments  und  der  Re- 
duplication  erinnert  habe.  Wahrhaft  bewundrungswürdig  ist  die 
Einfachheit  der  Mittel,  mit  welchen  die  Sprache  eine  so  ungemein 
grosse  Mannigfaltigkeit  der  Verbalformen  hervorbringt.  Die  Unter- 
scheidung derselben  ist  aber  nur  eben  dadurch  möglich,  dass  alle 
Umänderungen  der  Laute,  sie  mögen  bloss  phonetisch  oder  be- 
zeichnend seyn,  auf  verschiedenartige  Weise  verbunden  w^erden 
und  nur  die  besondere  unter  diesen  vielfachen  Combinationen 
den  einzelnen  Abwandlungsfall  stempelt,  der  alsdann  auch  bloss 
dadurch,  dass  er  gerade  diese  Stelle  im  Conjugations-Schema  ein- 
nimmt, bezeichnend  bleibt,  selbst  wenn  die  Zeit  gerade  seine  be- 
deutsamen Laute  abgeschliffen  hat.  Personenendungen,  die  sym- 
bolischen Bezeichnungen  durch  Augment  und  Reduplication,  die, 
wahrscheinlich  bloss  auf  den  Klang  bezogenen  Laute,  deren  Ein- 
schiebung  die  Verbalclassen  andeutet,  sind  die  hauptsächlichen 
Elemente,  aus  welchen  die  \^erbalformen  zusammengesetzt  werden. 
Ausser  denselben   giebt   es   nur  zwei  Laute,   i  und  s,  welche  da, 


■21 8  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

WO  sie  nicht  auch  bloss  phonetischen  Ursprungs  sind,  als  wirk- 
liche Bezeichnungen  von  Gattungen,  Zeiten  und  Modi  des  Verbum 
gelten  müssen.  Da  mir  in  diesen  ein  besonders  feiner  und  sinn- 
voller Gebrauch  ursprünglich  für  sich  bedeutsamer  Wörter 
grammatisch  bezeichnet  zu  liegen  scheint,  so  verweile  ich  bei 
ihnen  noch  einen  Augenblick  länger. 

Bopp  hat  zuerst  mit  grossem  Scharfsinn  und  unbestreitbarer 
Gewissheit  das  erste  Futurum  und  eine  der  Formationen  des  viel- 
förmigen  Augment-Praeteritum  als  zusammengesetzt  aus  einem 
Stammwort  und  dem  Verbum  fl'i-,  seyn,  nachgewiesen.  Haughton 
glaubt  auf  gleich  sinnreiche  Weise  in  dem  ya  der  Passiva  das 
Verbum  gehen,  t  oder  jy«,  zu  entdecken.  Auch  da,  wo  sich  s 
oder  sy  zeigt,  ohne  dass  die  Gegenwart  des  Verbum  as  in  seiner 
eignen  Abwandlung  so  sichtbar,  als  in  den  oben  erwähnten  Zeiten 
ist,  kann  man  diese  Laute  als  von  as  herstammend  betrachten 
und  es  ist  dies  zum  Theil  auch  von  Bopp  bereits  geschehen.  Er- 
wägt man  dies  und  nimmt  man  zugleich  alle  Fälle  zusammen, 
wo  i  oder  von  ihm  abstammende  Laute  in  den  Verbalformen  be- 
deutsam zu  seyn  scheinen,  so  zeigt  sich  hier  am  Verbum  etwas 
Aehnliches,  als  wir  oben  am  Nomen  gefunden  haben.  W^ie  dort 
das  Pronomen  in  verschiedener  Gestalt  Beugungsfälle  bildet,  so 
thun  dasselbe  hier  zwei  Verba  der  allgemeinsten  Bedeutung.  So- 
wohl dieser  Bedeutung,  als  dem  Laute  nach  verräth  sich  in  dieser 
Wahl  die  Absicht  der  Sprache,  sich  der  Zusammensetzung  nicht 
zur  wahren  Verbindung  zweier  bestimmten  Verbalbegriffe  zu  be- 
dienen, wie  wenn  andere  Sprachen  die  Verbalnatur  durch  den 
Zusatz  des  Begriffes  thun  oder  machen  andeuten,  sondern,  auf 
der  eignen  Bedeutung  des  zugesetzten  Verbum  nur  leise  fussend, 
sich  seines  Lautes  als  blossen  Andeutungsmittels  zu  bedienen,  in 
welche  Kategorie  des  Verbum  die  einzelne  in  Rede  stehende 
Form  gesetzt  werden  soll.  Gehen  Hess  sich  auf  eine  unbestimm- 
bare Menge  von  Beziehungen  des  Begriffes  anwenden.  Die  Be- 
wegung zu  einer  Sache  hin  kann  von  Seiten  ihrer  Ursach  als 
willkührlich  oder  unwillkührlich ,  als  ein  thätiges  Wollen  oder 
leidendes  Werden,  von  Seiten  der  Wirkung  als  ein  Hervorbringen, 
Erreichen  u.  s.  f.  angesehen  werden.  Von  phonetischer  Seite  aber 
war  der  2-Vocal  gerade  der  schicklichste,  um  wesentlich  als  Suffix 
zu  dienen  und  diese  Zwitterrolle  zwischen  Bedeutsamkeit  und 
Symbolisirung  gerade  so  zu  spielen,  dass  die  erstere,  wenn  auch 
der  Laut  von  ihr  ausgieng,  dabei  ganz  in  Schatten  gestellt  wurde. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      219 

Denn  er  dient  schon  an  sich  im  Verbum  häufig  als  Zwischenlaut 
und  seine  euphonischen  Veränderungen  in  y  und  ay  vermehren 
die  Mannigfaltigkeit  der  Laute  in  der  Gestaltung  der  Formen; 
a  gewährte  diesen  Vortheil  nicht  und  tc  hat  einen  zu  eigenthüm- 
lichen  schweren  Laut,  um  so  häufig  zu  immaterieller  Symbolisirung 
zu  dienen.  Vom  s  des  Verbum  seyn  lässt  sich  nicht  dasselbe, 
aber  doch  auch  Aehnliches  sagen,  da  es  auch  zum  Theil  phonetisch 
gebraucht  wird  und  seinen  Laut  nach  Massgabe  des  ihm  voran- 
gehenden Vocals  verändert.*) 


*)  Wenn  ich  es  hier  versuche,  der  Behauptung  Haughton's  (Ausg.  des  Manu. 
Th.  I.  S.  329.)  eine  grössere  Ausdehnung  zu  geben,  so  schmeichle  ich  mir,  dass  dieser 
treffliche  Gelehrte  dies  vielleicht  selbst  gethan  haben  würde,  wenn  es  ihm  nicht  an  der 
angeführten  Stelle,  wie  es  scheint,  weniger  um  diese  etymologische  Muthmassung,  als 
um  die  logische  Feststellung  des  Verbum  neutrum  und  des  Passivum  zu  thun  gewesen 
wäre.  Denn  man  muss  offenherzig  gestehen,  dass  der  Begriff  des  Gehens  durchaus 
nicht  gerade  mit  dem  des  Passivum  an  sich,  sondern  erst  dann  einigermassen  überein- 
stimmt, wenn  man  dies  mehr  in  Verbindung  mit  dem  Begriff  des  Verbum  neutrum  als 
ein  Werden  betrachtet.  So  erscheint  es  auch  nach  Haughton's  Anführung  im  Hin- 
dostanischen,  wo  es  dem  Seyn  entgegensteht.  Auch  die  neueren  Sprachen,  welchen  es 
an  einem,  den  Uebergang  zum  Seyn  direct  und  ohne  Metapher  ausdrückenden  Worte, 
wie  es  das  Griechische  yh-eoüat,  das  Lateinischeren  und  unser  werden  ist,  fehlt, 
nehmen  zu  dem  bildlichen  Ausdruck  des  Gehens  ihre  Zuflucht,  nur  dass  sie  es  sinn- 
voller, sich  gleichsam  an  das  Ziel  des  Ganges  stellend,  als  ein  Kommen  auffassen: 
diventare,  divenir-e,  devenir,  to  become.  Im  Sanskrit  muss  daher  immer,  auch  bei 
der  Voraussetzung  der  Richtigkeit  jener  Etymologie,  die  Hauptkraft  des  Passivum  in 
der  neutralen  Conjugation  |der  des  Atmanepadam)  liegen  und  die  Verbindung  dieser 
mit  dem  Gehen  erst  das  Gehen  auf  sich  selbst  bezogen,  als  eine  innerliche,  nicht  nach 
aussen  zu  bewirkende  Veränderung  bezeichnen.  Es  ist  in  dieser  Hinsicht  nicht  un- 
merkwürdig und  hätte  von  Haughton  für  seine  Meinung  angeführt  werden  können,  dass 
die  Intensiva  nur  im  Atmanepadam  die  Zwischensylbe  ya  annehmen,  was  eine  besondere 
Verwandtschaft  des  ya  mit  dieser  Abwandlungsform  verräth.  Auf  den  ersten  Anblick 
ist  es  auffallend,  dass  sowohl  im  Passivum,  als  bei  dem  Intensivum  das  ya  in  den 
generellen  Zeiten,  auf  welche  der  Classenunterschied  nicht  wirkt,  hinwegfällt.  Es 
scheint  mir  aber  dies  gerade  ein  neuer  Beweis,  dass  das  Passivum  sich  aus  dem  Verbum 
neutrum  der  vierten  Verbalclasse  entwickelte  und  dass  die  Sprache,  überwiegend  dem 
Gange  der  Formen  folgend,  die  aus  jener  Classe  entnommene  Kennsylbe  nicht  über 
sie  hinausführen  wollte.  Das  sy  der  Desiderativa,  welches  auch  seine  Bedeutung  seyn 
möge,  haftet  auch  in  jenen  Zeiten  an  den  Formen  und  erfährt  nicht  die  Beschränkung 
der  Classen-Tempora,  weil  es  nicht  mit  diesen  zusammenhängt.  Viel  natürlicher,  als 
auf  das  Passivum  passt  der  Begriff  des  Gehens  auf  die  durch  Anfügung  eines  y  ge- 
formten Denominativa,  die  ein  Verlangen,  Aneignen,  Nachbilden  einer  Sache  andeuten. 
Auch  in  den  Causalverben  kann  derselbe  Begriff  vorgewaltet  haben  und  es  möchte 
daher  doch  vielleicht  nicht  zu  misbilligen  seyn,  sondern  vielmehr  für  eine  Erinnerung 
der  Abstammung  gelten   können,    wenn    die  Indischen  Grammatiker   als    die  Kennsylbe 


220  !•    t'ber  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Wie  in  den  Sprachen  eine  Entwicklung  immer  aus  der  andren, 
so  dass  die  frühere  dadurch  bestimmend  wird,  hervorgeht  und 
wie  sich  vorzüglich  im  Sanskrit  der  Faden  dieser  Entwicklungen 
hauptsächlich  an  den  Lautformen  fortspinnen  lässt,  davon  ist  das 
Passivum  der  Sanskrit-Grammatik  ein  auffallender  Beweis.  Nach 
richtigen  grammatischen  Begriffen  ist  diese  Verbalgattung  immer 
nur  ein  Correlatum  des  Activum  und  zwar  eine  eigentliche  Um- 
kehrung desselben.  Indem  aber  dem  Sinne  nach  der  Wirkende 
zum  Leidenden  und  umgekehrt  wird,  soll  der  grammatischen 
Form  nach  dennoch  der  Leidende  das  Subject  des  Verbum  seyn 
und  der  W^irkende  von  diesem  regiert  werden.  Von  dieser,  einzig 
richtigen  Seite  hat  die  grammatische  Formenbildung  das  Passivum 
im  Sanskrit  nicht  aufgefasst,  wie  sich  überhaupt,  am  deutlichsten 
aber  da  verräth,  wo  der  Infinitiv  des  Passivum  ausgedrückt 
werden  soll.  Zugleich  aber  bezeichnet  das  Passivum  etwas  mit 
der  Person  Vorgehendes,  sich  auf  sie  mit  Ausschliessung  ihrer 
Thätigkeit  innerlich  Beziehendes.  Da  nun  die  Sanskritsprache 
unmittelbar  darauf  gekommen  war,  das  Wirken  nach  aussen  und 
das  Erfahren  im  Innren  in  der  ganzen  Abwandlung  des  Verbum 
von  einander  zu  trennen,  so  fasste  sie  der  Form  nach  auch  das 
Passivum  von  dieser  Seite  auf.  Dadurch  entstand  es  wohl,  dass 
diejenige  Verbalclasse,  die  vorzugsweise  jene  innere  Abwandlungs- 
art  verfolgte,  auch  zur  Kennsylbe  des  Passivum  die  Veranlassung 
gab.  Ist  nun  aber  das  Passivum  in  seinem  richtigen  Begriff, 
gleichsam  als  die  Vereinigung  eines  zwischen  Bedeutung  und 
Form  liegenden  und  unaufgehoben  bleibenden  Widerspruchs 
schwierig,  so  ist  es  in  der  Zusammenschliessung  mit  der  im 
Subjecte  selbst  befangenen  Handlung  nicht  adaequat  aufzufassen 
und  kaum  von  Nebenbegriffen  rein  zu  erhalten.     In  der  ersteren 


dieser  Verba  /  und  ay  nur  als  die  nothwendige  phonetische  Erweiterung  davon  an- 
sehen. (Vergl.  Bopp's  Lat.  Sanskrit-Gramm.  S.  142.  Anm.  233.)  Die  Vergleichung 
der  ganz  gleichmässig  gebildeten  Denominativa  macht  dies  sehr  wahrscheinlich.  In 
den  durch  kätny  aus  Nominen  gebildeten  Verben  scheint  diese  Zusatzsylbe  eine  Zu- 
sammensetzung von  käma,  Begierde,  und  /,  gehen,  also  selbst  ein  vollständiges 
eignes  Denominativverbum.  Wenn  es  erlaubt  ist,  Muthmassungen  weiter  auszudehnen, 
so  Hesse  sich  das  SV  der  Desiderativverba  als  ein  Gehen  in  den  Zustand  erklären,  was 
zugleich  auf  die  Etymologie  des  zweiten  Futurum  Anwendung  fände.  Was  Bopp  (über 
das  Conjugationssystem  der  Sanskritsprache.  S.  29—33.  Annais  of  oriental  literature, 
S.  45 — 50.)  sehr  scharfsinnig  und  richtig  zuerst  über  die  Verwandtschaft  des  Potentialis 
und  zweiten  Futurum  ausgeführt  hat,  kann  sehr  gut  hiermit  vereinigt  werden.  Den 
Desiderativen  scheinen  die  Denominativa  mit  der  Kennsylbe  sya  und  asya  nachgebildet. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      221 

Beziehung  sieht  man,  wie  einige  Sprachen,  z.  B.  die  Malayischen 
und  unter  diesen  am  sinnreichsten  die  Tagalische  mühsam  danach 
streben,  eine  Art  von  Passivum  hervorzubringen.  In  der  letzteren 
Beziehung  wird  es  klar,  dass  der  reine  Begriff,  den  die  spatere 
Sanskritsprache,  wie  wir  aus  ihren  Werken  sehen,  richtig  auffasste, 
in  die  frühere  Sprachformung  durchaus  nicht  übergieng.  Denn 
anstatt  dem  Passivum  einen  durch  alle  Tempora  gleichförmig  oder 
analog  durchgehenden  Ausdruck  zu  geben,  knüpft  sie  dasselbe  an 
die  vierte  Classe  der  ^^e^ba  und  lässt  es  ihre  Kennsylbe  an  den 
Gränzen  derselben  ablegen,  indem  sie  sich  in  den  nicht  innerhalb 
dieser  Schranken  befindlichen  Formen  an  unvollkommener  Be- 
zeichnung begnügt. 

Im  Sanskrit  also,  um  zu  unsrem  Hauptgegenstande  zurück- 
zukehren, hat  das  Gefühl  der  zusammenfassenden  Kraft  des  Verbum 
die  Sprache  vollständig  durchdrungen.  Es  hat  sich  in  derselben 
nicht  bloss  einen  entschiednen,  sondern  gerade  den  ihm  allein  zu- 
sagenden Ausdruck,  einen  rein  symbolischen  geschaffen,  ein  Beweis 
seiner  Stärke  und  Lebendigkeit.  Denn  ich  habe  schon  oft  in 
diesen  Blättern  bemerkt,  dass,  wo  die  Sprachform  klar  und 
lebendig  im  Geiste  dasteht,  sie  in  die,  sonst  die  äussere  Sprach- 
bildung leitende  äussere  Entwicklung  eingreift,  sich  selbst  geltend 
macht  und  nicht  zugiebt,  dass  im  blossen  Fortspinnen  angefangner 
Fäden  statt  der  reinen  Formen  gleichsam  Surrogate  derselben 
gebildet  werden.  Das  Sanskrit  giebt  uns  hier  zugleich  vom  Ge- 
lingen und  Mislingen  in  diesem  Punkt  passende  Beispiele.  Die 
Function  des  Verbum  drückt  es  rein  und  entscheidend  aus,  in 
der  Bezeichnung  des  Passivum  lässt  es  sich  auf  der  ^^erfolgung 
des  äusseren  Weges  irre  leiten. 

Eine  der  natürlichsten  und  allgemeinsten  Folgen  der  inneren 
Verkennung  oder  vielmehr  der  nicht  vollen  Anerkennung  der 
Verbalfunction  ist  die  Verdunkelung  der  Gränzen  zwischen  Nomen 
und  ^"erbum.  Dasselbe  Wort  kann  als  beide  Redetheile  gebraucht 
werden ;  jedes  Nomen  lässt  sich  zum  Verbum  stempeln ;  die  Kenn- 
2eichen  des  Verbum  modificiren  mehr  seinen  Begriff,  als  sie  seine 
Function  charakterisiren ;  die  der  Tempora  und  Modi  begleiten 
das  Verbum  in  eigner  Selbstständigkeit  und  die  Verbindung  des 
Pronomen  ist  so  lose,  dass  man  gezwungen  wird,  zwischen  dem- 
selben und  dem  angeblichen  Verbum,  das  eher  eine  Nominal- 
form mit  Verbalbedeutung  ist,  das  Verbum  seyn  im  Geist  zu  er- 
gänzen.    Hieraus  entsteht  natürlich,  dass  wahre  Verbalbeziehungen 


222  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

ZU  Nominalbeziehungen  hingezogen  werden  und  beide  auf  die 
mannigfaltigste  Weise  in  einander  übergehen.  Alles  hier  Gesagte 
trifft  vielleicht  nirgends  in  so  hohem  Grade  zusammen,  als  im 
Malayischen  Sprachstamm,  der  auf  der  einen  Seite  mit  wenigen 
Ausnahmen  an  Chinesischer  Flexionslosigkeit  leidet  und  auf  der 
andren  nicht,  wie  die  Chinesische  Sprache,  die  grammatische 
Formung  mit  verschmähender  Resignation  zurückstösst,  sondern 
dieselbe  sucht,  einseitig  erreicht  und  in  dieser  Einseitigkeit  wunder- 
bar vervielfältigt.  Von  den  Grammatikern  als  vollständige  durch 
ganze  Conjugationen  durchgeführte  Bildungen  lassen  sich  deutlich 
als  wahre  Nominalformen  nachweisen,  und  obgleich  das  Verbum 
keiner  Sprache  fehlen  kann,  so  wandelt  dennoch  den,  welcher  den 
wahren  Ausdruck  dieses  Redetheiles  sucht,  in  den  Malayischen 
Sprachen  gleichsam  ein  Gefühl  seiner  Abwesenheit  an.  Dies  gilt 
nicht  bloss  von  der  Sprache  auf  Malacca,  deren  Bau  überhaupt 
von  noch  grösserer  Einfachheit,  als  der  der  übrigen  ist,  sondern 
auch  von  der,  in  der  Malayischen  Weise  sehr  formenreichen  Ta- 
galischen.  Merkwürdig  ist  es,  dass  im  Javanischen  durch  die 
blosse  Veränderung  des  Anfangsbuchstaben  in  einen  andren  der- 
selben Classe  Nominal-  und  Verbalformen  wechselweise  in  ein- 
ander übergehen.  Dies  scheint  auf  den  ersten  Anblick  eine  wirklich 
symbolische  Bezeichnung;  ich  werde  weiter  unten  (2.  Buch.)  zeigen, 
dass  diese  Buchstabenveränderung  nur  die  Folge  der  Abschleifung 
eines  Praefixes  im  Laufe  der  Zeit  ist.  Ich  verbreite  mich  nur  hier 
nicht  ausführlicher  über  diesen  Gegenstand,  da  er  im  zweiten  und 
dritten  Buche  dieser  Schrift  ausführlich  und  an  seiner  eigentlichen 
Stelle  erörtert  werden  muss. 

In  den  Sprachen,  in  welchen  das  Verbum  gar  keine  oder 
sehr  unvollkommne  Kennzeichen  seiner  wahren  Function  be- 
sitzt, fällt  es  von  selbst  mehr  oder  weniger  mit  dem  Attributivum, 
also  einem  Nomen  zusammen  und  das  eigentliche  Verbum,  welches 
das  wirkliche  Setzen  des  Gedachten  andeutet,  muss,  als  Verbum 
seyn,  zu  dem  Subject  und  diesem  Attributivum  geradezu  ergänzt 
werden.  Eine  solche  Auslassung  des  Verbum  da,  wo  einer  Sache 
bloss  eine  Eigenschaft  beigelegt  werden  soll,  ist  auch  den  höchst- 
gebildeten Sprachen  nicht  fremd.  Namentlich  trifft  man  sie  häufig 
im  Sanskrit  und  Lateinischen,  seltner  im  Griechischen  an.  Neben 
einem  vollkommen  ausgebildeten  Verbum  hat  sie  mit  der  Charak- 
terisirung  des  Verbum  nichts  zu  schaffen,  sondern  ist  bloss  eine 
Art  der  Satzbildung.    Dagegen  geben  einige  der  Sprachen,  welche 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      22^ 

in  ihrem  Bau  den  Verbalausdruck  nur  mit  Mühe  erringen,  diesen 
Constructionen  eine  besondere  Form  und  ziehen  dieselben  da- 
durch gewissermassen  in  den  Bau  des  Verbum  hinein.  So  kann 
man  im  Mexicanischen  ich  liebe  sowohl  durch  ni-tlazoila,  als 
durch  ni-tlazotla-ni  ausdrücken.  Das  Erstere  ist  die  ^'^erbindung 
des  Verbalpronomen  mit  dem  Stamme  des  Verbum,  das  Letztere 
die  gleiche  mit  dem  Participium,  insofern  nemlich  gewisse  Mexi- 
canische  Verbaladjectiva,  ob  sie  gleich  nicht  den  Begriff  des  Ver- 
laufs der  Handlung  (das  Element,  aus  welchem  erst  vermittelst 
der  Verbindung  mit  den  drei  Stadien  der  Zeit  das  eigentliche 
Tempus  entsteht)*)  enthalten,  doch  in  der  Rücksicht  Participia 
heissen  können,  als  sie  activer,  passiver  oder  reflexiver  Bedeutung 
sind.  Vetancurt  macht  in  seiner  Mexicanischen  Grammatik**)  die 
zweite  der  obigen  Mexicanischen  Formen  zu  einem  Gewohnheit 
andeutenden  Tempus.  Dies  ist  zwar  eine  offenbar  irrige  Ansicht, 
da  eine  solche  Form  im  Verbum  kein  Tempus  seyn  könnte,  sondern, 
was  nicht  der  Fall  ist,  durch  die  Tempora  durchflectirt  werden 
müsste.  Man  sieht  aber  aus  Vetancurt's  genauerer  Bestimmung 
der  Bedeutung  des  Ausdrucks,  dass  derselbe  nichts  andres,  als  die 
Verbindung  eines  Pronomen  und  eines  Nomen  mit  ausgelassenem 
Verbum  se3^n  ist.  Ich  liebe  hat  den  reinen  Verbalausdruck; 
ich  bin  ein  Liebender  (d.  h.  ich  pflege  zu  lieben)  ist 
genau  genommen  keine  Verbalform,  sondern  ein  Satz.  Die 
Sprache  aber  stempelt  diese  Construction  gewissermassen  zum 
Verbum,  da  sie  in  derselben  nur  den  Gebrauch  des  Verbal- 
pronomen erlaubt.  Sie  behandelt  auch  das  Attributivum  dadurch 
wie  ein  V^erbum,  dass  sie  demselben  die  von  ihm  regierten 
Wörter  beigiebt:  ni-te-tla-namaca-ni,  ich  (bin)   ein   jemandem 


*)  Ich  folge  nemlich  der,  wie  es  mir  scheint,  mit  Unrecht  jetzt  zu  oft  verlassenen 
Theorie  der  Griechischen  Grammatiker,  nach  welcher  jedes  Tempus  aus  der  Verbindung 
einer  der  drei  Zeiten  mit  einem  der  drei  Stadien  des  Verlaufs  der  Handlung  besteht 
und  die  Harris  in  seinem  Hermes  ')  und  Reitz  in,  leider  zu  wenig  bekannten  akade- 
mischen Abhandlungen  *)  vortrefflich  ins  Licht  gesetzt  haben,  Wolf  aber  durch  die  ge- 
naue Bestimmung  der  drei  Aoriste  erweitert  hat.  Das  Verbum  ist  das  Zusammenfassen 
eines  energischen  Attributivum  (nicht  eines  bloss  qualitativen)  durch  das  Seyn.  Im 
energischen  Attributivum  liegen  die  Stadien  der  Handlung,  im  Seyn  die  der  Zeit.  Dies 
hat  Bernhardy  meiner  Ueberzeugung  nach  richtig  begründet  und  erwiesen. 
**)  Arte  de  lengiia  Mexicana.    Mexico.  1673.  S.  6. 

^)  ,, Hermes  or  a  philosophical  inquiry  concerning  language  and  universal  grammar", 
London  i'jsi- 

'^)  „De  temporibus  et  modis  verbi  graeci  et  latini",  Leipzig  l']66. 


22A.  ^-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

€twas  Verkaufender,  d.  i.  ich  pflege  zu  verkaufen,  bin 
Kaufmann. 

Die  gleichfalls  Neuspanien  angehörende  Mixteca-Sprache  unter- 
scheidet den  Fall,  wo  das  Attributivum,  als  schon  dem  Substan- 
tivum  anhängend,  bezeichnet  und  wo  es  demselben  erst  durch 
den  Verbalausdruck  beigelegt  wird,  durch  die  Stellung  beider 
Redetheile.  Im  ersteren  muss  das  Attributivum  auf  das  Substan- 
tivum  folgen,  im  letzteren  demselben  vorausgehen:  na/ia  quadza, 
die  böse   Frau,  quadza  naha,  die   Frau   ist  böse.*) 

Das  Unvermögen,  den  Ausdruck  des  zusammenfassenden  Seyns 
unmittelbar  in  die  Form  des  Verbum  zu  legen,  welches  in  den 
eben  genannten  Fällen  diesen  Ausdruck  gänzlich  fehlen  lässt,  kann 
auch  im  Gegentheil  dahin  führen,  ihn  ganz  materiell  da  eintreten 
zu  lassen,  wo  er  auf  diese  Weise  nicht  stehen  soll.  Dies  geschieht, 
wenn  zu  einem  wahrhaft  attributiven  Verbum  (er  geht,  er  fliegt) 
das  Seyn  in  einem  wirklichen  Hülfsverbum  herbeigezogen  wird 
(er  ist  gehend,  fliegend).  Doch  hilft  dies  Auskunftsmittel  eigent- 
lich der  Verlegenheit  des  sprachbildenden  Geistes  nicht  ab.  Da 
dies  Hülfsverbum  selbst  die  Form  eines  Verbum  haben  muss 
und  wieder  nur  die  Verbindung  des  Seyns  mit  einem  energischen 
Attributiv  seyn  kann,  so  entsteht  immer  wieder  die  nemliche  und 
der  Unterschied  ist  bloss  der,  dass,  da  dieselbe  sonst  bei  jedem 
Verbum  zurückkehrt,  sie  hier  nur  in  Einem  festgehalten  wird. 
Auch  zeigt  das  Gefühl  der  Nothwendigkeit  eines  solchen  Hülfs- 
verbum, dass  der  Sprachbildung,  wenn  sie  auch  nicht  die  Kraft 
besessen  hat,  der  wahren  Function  des  Verbum  einen  richtigen 
Ausdruck  zu  schaffen,  dennoch  der  Begriff  derselben  gegenwärtig 
gewesen  ist.  Es  würde  unnütz  seyn,  für  eine  in  den  Sprachen, 
theils  bei  der  ganzen  Verbalbildung,  theils  bei  der  einzelner  Ab- 
wandlungen häufig  vorkommende  Sache  Beispiele  anführen  zu 
wollen.  Dagegen  verweile  ich  einige  Augenblicke  bei  einem  inter- 
essanteren und  seltneren  Falle,  nemlich  bei  dem,  wo  die  Function 
des  Hülfsverbum  (der  Hinzufügung  des  Seyns)  einem  andren  Rede- 
theil,  als  dem  Verbum  selbst,  nemlich  dem  Pronomen  auf  übrigens 
ganz  gleiche  Weise  zugetheilt  ist. 

In  der  Sprache  der  Yarura,  einer  Völkerschaft  am  Casanare 
und  unteren  Orinoco,  wird  die  ganze  Conjugation  auf  die  ein- 
fachste  Weise    durch    die  Verbindung   des   Pronomen    mit    den 


*)  Arte  Alixteca,  compuesta  por  Fr.  Antonio  de  los  Rej'es. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      22  Ci 

Partikeln  der  Tempora  gebildet.  Diese  Verbindungen  machen  für 
sich  das  Verbum  seyn  und  einem  Worte  suffigirt  die  Abwand- 
lungssylben  desselben  aus.  Ein  eigner  Wurzellaut,  der  nicht  zum 
Pronomen  oder  zu  den  Tempus-Partikeln  gehörte,  fehlt  dem  Verbum 
seyn  gänzlich,  und  da  das  Praesens  keine  eigne  Partikel  hat,  so 
bestehen  die  Personen  desselben  bloss  aus  den  Personen  des  Pro- 
nomen selbst,  die  sich  nur  als  Abkürzungen  von  dem  selbst- 
ständigen Pronomen  unterscheiden.*)  Die  drei  Personen  des  Singu- 
lars des  Verbum  seyn  heissen  daher  qiie,  me,  dt,**)  und  in  buch- 
stäblicher Uebersetzung  bloss  ich,  du,  er.  Im  Imperfectum  wird 
diesen  Sylben  rt  vorgesetzt,  ri-que,  ich  war,  und  verbunden  mit 
•einem  Nomen,  ui  ri-di,  Wasser  war  (vorhanden),  als  wahres 
Verbum  aber  yz^rö;-/-?-^?",  er  ass.  Hiernach  also  bedeutete  qiie  ich 
b  i  n  und  diese  Form  des  Pronomen  drückte  eigentlich  die  Function 
des  Verbum  aus.  Indess  kann  diese  Verbindung  des  Pronomen 
mit  den  Zeitpartikeln  niemals  allein  für  sich  gebraucht  werden, 
sondern  immer  nur  so ,  dass  dadurch  vermittelst  eines  andren 
Wortes,  das  aber  jeder  Redetheil  seyn  kann,  ein  Satz  gebildet 
wird.  Que,  dt  heissen  niemals  allein  ich  bin,  er  ist,  wohl  aber 
ui  dt  es  ist  Wasser,  jura-n-di  mit  euphonischem  n  er  isst. 
Genau  untersucht  ist  daher  die  grammatische  Form  dieser  Redens- 
arten nicht  das,  wovon  ich  hier  spreche,  eine  Einverleibung  des 
Begriffs  des  Seyns  in  das  Pronomen,  sondern  der  im  Vorigen  be- 
sprochene   Fall    einer    Auslassung   und   Ergänzung   des   Verbum 


*)  Zwischen  dem  selbstständigen  Pronomen  codde,  ich,  und  der  entsprechenden 
Verbalcharakteristik  que  ist  zwar  der  Unterschied  scheinbar  grösser.  Das  selbstständige 
Pronomen  aber  lautet  im  Accusativ  qua  und  aus  der  Vergleichung  von  codde  mit  dem 
Demonstrativpronomen  odde  sieht  man  deutlich,  dass  der  Wurzellaut  der  ersten  Person 
nur  im  /i-Laut  besteht,  codde  aber  eine  zusammengesetzte  Form  ist. 

**)  Die  Nachrichten  von  dieser  Sprache  hat  uns  der  sorgsame  Fleiss  des  würdigen 
Hervas  erhalten.  Er  hatte  den  lobenswürdigen  Gedanken,'  die  aus  Amerika  und  Spanien 
vertriebnen  Jesuiten,  die  sich  in  Italien  niedergelassen  hatten,  zur  Aufzeichnung  ihrer 
Erinnerungen  der  Sprachen  der  Amerikanischen  Eingebornen,  bei  denen  sie  Missionare 
gewesen  waren,  zu  veranlassen.  Ihre  Mittheilungen  sammelte  er  und  arbeitete  sie,  wo 
es  nöthig  war,  um,  so  dass  hieraus  eine  Reihe  handschriftlicher  Grammatiken  von 
Sprachen  entstand,  über  die  uns  zum  Theil  alle  sonstigen  Nachrichten  fehlen.  Ich  habe 
diese  Sammlung  schon,  als  ich  Gesandter  in  Rom  war,  für  mich  abschreiben,  allein 
diese  Abschriften  durch  die  gütige  Mitwirkung  des  jetzigen  Preussischen  Gesandten  in  Rom, 
Herrn  Bansen,  noch  einmal  mit  der,  seit  Hervas  Tode  im  Coüegio  Rojnano  nieder- 
gelegten Urschrift  genau  vergleichen  lassen.  Die  Mittheilungen  über  die  Yarura-Sprache 
rühren  vom  Ex-Jesuiten  Forneri  her. 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  I5 


220  ^-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

seyn  bei  der  Zusammenstellung  des  Pronomen  mit  einem  andren 
Worte.  Die  obige  Zeitpartikel  ri  ist  übrigens  nichts  andres,  als 
ein  Entfernung  anzeigendes  Wort.  Ihr  steht  gegenüber  die  Par- 
tikel re,  welche  als  Charakteristik  des  Conjunctivs  angegeben  wird. 
Dies  re  ist  aber  bloss  die  Praeposition  i  n ,  die  in  mehreren  Ameri- 
kanischen Sprachen  eine  ähnliche  Anwendung  findet.  Sie  bildet 
ein  Analogon  eines  Gerundiums:  jura-re,  im  Essen,  edendo\  und 
dies  Gerundium  wird  dann  durch  Vorsetzung  des  selbstständigen 
Pronomen  zum  Conjunctiv  oder  Optativ  gestempelt:  wenn  ich 
oder  dass  ich  ässe.  Hier  wird  der  Begriff  des  Seyns  mit  der 
Charakteristik  des  Conjunctivs  verbunden  und  es  fallen  daher  die, 
sonst  unveränderlich  mit  ihm  verknüpften  Verbalsuffixa  der  Per- 
sonen hinweg,  indem  das  selbstständige  Pronomen  vorgesetzt  wird. 
Wirklich  nimmt  Forneri  re,  ri-re  als  Gerundia  der  Gegenwart  und 
der  Vergangenheit  in  sein  Paradigma  des  Verbum  seyn  auf  und 
übersetzt  sie:  wenn  ich  wäre,  wenn  ich  gewesen  wäre. 

So  wie  hier  die  Sprache  zwar  eine  eigne  Form  des  Pronomen 
bestimmt,  mit  welcher  beständig  und  ausschliesslich  der  Begriff 
des  Seyns  verbunden  ist,  allein  der  Fall,  von  dem  wir  hier  reden, 
dass  nemlich  dieser  Begriff  dem  Pronomen  selbst  einverleibt  sey, 
doch  nicht  rein  vorhanden  war,  ebenso  ist  es  auch,  nur  wieder 
auf  verschiedene  Weise,  in  der  Huasteca-Sprache,  die  in  einem 
Theile  von  Neuspanien  gesprochen  wird.  Auch  in  ihr  verbinden 
sich  die  Pronomina,  jedoch  nur  die  selbständigen,  mit  einer  Zeit- 
partikel und  machen  alsdann  das  Verbum  seyn  aus.  Sie  nähern 
sich  diesem  in  seinem  wahren  Begriffe  um  so  mehr,  als  diese 
Verbindungen,  wie  in  der  Yarura- Sprache  nicht  der  .Fall  war,  auch 
ganz  allein  stehen  können:  nänä-itz,  ich  war,  iätä-üs,  du 
warst,  u.  s.  w.  Beim  Verbum  attributivum  werden  die  Personen 
durch  andre  Pronominalformen  angedeutet,  welche  dem  Besitz- 
pronomen sehr  nahe  kommen.  Allein  der  Ursprung  der  mit  dem 
Pronomen  verbundenen  Partikel  ist  zu  unbekannt,  als  dass  sich 
entscheiden  Hesse,  ob  nicht  in  derselben  eine  eigne  Verbalwurzel 
enthalten  ist.  Jetzt  dient  sie  zwar  allerdings  in  der  Sprache  zur 
Charakteristik  der  Tempora  der  Vergangenheit,  beim  Imperfectum 
beständig  und  ausschliesslich,  bei  den  anderen  Zeiten  nach  be- 
sondren Regeln.  Die  Bergbewohner,  bei  welchen  sich  doch  wohl 
die  älteste  Sprache  erhalten  hat,  sollen  aber  einen  allgemeineren 
Gebrauch  von  dieser  Sylbe  machen  und  sie  auch  dem  Praesens, 
und  Futurum  hinzufügen.    Bisweilen  wird  sie  auch  einem  Verbum 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      227 

angehängt,  um  Heftigkeit  der  Handlung  anzudeuten,  und  in  diesem 
Sinne,  als  Verstärkung  (wie  auch  in  so  vielen  Sprachen  die  Re- 
duplication  das  Perfectum  verstärkend  begleitet),  könnte  sie  wohl 
nach  und  nach  zur  ausschliesslichen  Charakteristik  der  Zeiten  der 
Vergangenheit  geworden  seyn.*) 

In  der  Maya-Sprache,  welche  auf  der  Halbinsel  Yucatan  ge- 
sprochen wird,  findet  sich  dagegen  der  Fall,  von  dem  wir  hier 
reden,  rein  und  vollständig/*)  Sie  besitzt  ein  Pronomen,  welches, 
allein  gebraucht,  durch  sich  selbst  das  Verbum  seyn  ausmacht, 
und  beweist  eine  höchst  merkwürdige  Sorgfalt,  die  wahre  Function 
des  Verbum  immer  durch  ein  eignes,  besonders  dazu  bestimmtes 
Element  anzuzeigen.  Das  Pronomen  ist  nemlich  zwiefach.  Die 
eine  Gattung  desselben  führt  den  Begriff  des  Seyns  mit  sich,  die 
andre  besitzt  diese  Eigenschaft  nicht,  verbindet  sich  aber  auch 
mit  dem  Verbum.  Die  erstere  dieser  Gattungen  theilt  sich  in 
zw^ei  Unterarten,  von  welchen  die  eine  die  Bedeutung  des  Seyns 
nur  in  Verbindung  mit  einem  andren  Worte  hinzubringt,  die 
andre  aber  dieselbe  unmittelbar  in  sich  enthält.  Diese  letztere 
Unterart  bildet,  da  sie  sich  auch  mit  den  Panikein  der  Tempora 
verbindet  (die  der  Sprache  jedoch  im  Praesens  und  Perfectum 
fehlen),  vollkommen  das  Verbum  seyn.  In  den  beiden  ersten 
Personen  des  Singulars  und  Plurals  lauten  diese  Pronomina  Pedro 
en,  ich  bin  Peter,  und  so  analogisch  fort:  cch,  on,  ex ;  dagegen 
ten,  ich  bin,  tech,  du  bist,  toon,  wir  sind,  teex,  i h r  s e i d.  Ein 
selbstständiges  Pronomen  ausser  den  hier  genannten  drei  Gattungen 
giebt  es  nicht,  sondern  die  zugleich  als  Verbum  seyn  dienende 
{ten)  wird  dazu  gebraucht.  Die  den  Begriff  des  Seyns  nicht  mit 
sich  führende  wird  allemal  affigirt  und  en  hat  durchaus  keinen 
andren,  als  den  angeführten  Gebrauch.  Wo  das  ^'erbum  die  erste 
Gattung  des  Pronomen  entbehrt,  verbindet  es  sich  regelmässig 
mit  der  zweiten.  Alsdann  aber  findet  sich  in  den  Formen  des- 
selben   ein   Element    {cah   und   ah,    nach   bestimmten   Regeln   ab- 


*)  Noticia  de  la  lengua  Huasteca  que  da  Carlos  de  Tapia  Zenteno.   Mexico. 
1767.  S.  18. 

**)  Was  ich  von  dieser  Sprache  kenne,  ist  aus  Hervas  handschriftlicher  Grammatik 
entnommen.  Er  hatte  diese  Grammatik  theils  aus  schriftlichen  Mittheilungen  des  Es- Jesuiten 
Domingo  Rodriguez,  theils  aus  der  gedruckten  Grammatik  des  Franciscaner-Geistlichen 
Gabriel  de  S.  Buenaventura  (Mexico.  1684.)  geschöpft,  welche  er  in  der  Bibliothek  des 
Collegio  Romano  fand.  Ich  habe  mich  vergebens  bemüht,  diese  Grammatik  in  der 
gedachten  Bibliothek  wiederzufinden.     Sie  scheint  verloren  gegangen  zu  seyn. 

15* 


228  l-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

wechselnd),  welches  bei  der  Zergliederung  desselben,  wenn  man 
alle  das  Verbum  gewöhnlich  begleitende  Elemente  (Personen,  Zeit, 
Modus  u.  s.  f.)  absondert,  übrig  bleibt.  En,  ten,  cah  und  ah  er- 
scheinen daher  in  allen  Verbalformen,  jedoch  immer  so,  dass  eine 
dieser  Sylben  die  übrigen  ausschliesst,  woraus  schon  für  sich  her- 
vorgeht, dass  alle  Ausdruck  der  Verbalfunction  sind,  so  dass  eine 
nicht  fehlen  kann,  dagegen  jede  den  Gebrauch  der  andren  über- 
flüssig macht.  Ihre  Anwendung  unterliegt  nun  bestimmten  Regeln. 
En  wird  bloss  beim  intransitiven  Verbum  und  auch  bei  ihm  nicht 
im  Praesens  und  Imperfectum,  sondern  nur  in  den  übrigen  Zeiten 
gebraucht,  ah  mit  demselben  Unterschiede  bei  den  transitiven 
Verben,  cah  bei  allen  Verben  ohne  Unterschied,  jedoch  nur  im 
Praesens  und  Imperfectum.  Ten  findet  sich  bloss  in  einer  an- 
geblich anomalen  Conjugation.  Untersucht  man  diese  genauer, 
so  führt  sie  die  Bedeutung  einer  Gewohnheit  oder  eines  bleibenden 
Zustandes  mit  sich  und  die  Form  erhält,  mit  Wegwerfung  von 
cah  und  ah,  Endungen,  die  zum  Theil  auch  die  sogenannten 
Gerundia  bilden.  Es  geht  also  hier  eine  Verwandlung  einer 
Verbalform  in  eine  Nominalform  vor  sich  und  diese  Nominalform 
bedarf  nun  des  wahren  Verbum  seyn,  um  wieder  zum  Verbum 
zu  werden.  Insofern  stimmen  diese  Formen  gänzlich  mit  dem 
oben  erwähnten  Mexicanischen  Gewohnheits  -  Tempus  überein. 
Bemerken  muss  ich  noch,  dass  in  dieser  Vorstellungsweise  der 
Begriff  der  transitiven  Verba  auf  solche  beschränkt  wird,  welche 
wirklich  einen  Gegenstand  ausser  sich  regieren.  Unbestimmt  ge- 
brauchte, wahre  Activa,  lieben,  tödten,  so  wie  diejenigen, 
welche,  wie  das  Griechische  ohoöof.i€a},  den  regierten  Gegenstand 
in  sich  enthalten,  werden  als  intransitiv  behandelt. 

Es  wird  schon  dem  Leser  aufgefallen  seyn,  dass  die  beiden 
Unterarten  der  ersten  Pronominalgattung  sich  bloss  durch  ein 
vorgesetztes  /  unterscheiden.  Da  sich  dies  /  gerade  in  demjenigen 
Pronomen  findet,  welches  durch  sich  selbst  Verbalbedeutung  hat, 
so  ist  die  natürliche  Vermuthung  die,  dass  es  den  Wurzellaut 
eines  Verbum  ausmacht,  so  dass  genauer  ausgedrückt  nicht  das 
Pronomen  in  der  Sprache  als  Verbum  seyn,  sondern  umgekehrt 
dies  Verbum  als  Pronomen  gebraucht  würde.  Die  unzertrennliche 
Verbindung  der  Existenz  mit  der  Person  bliebe  alsdann  dieselbe, 
die  Ansicht  aber  wäre  dennoch  verschieden.  Dass  ^e7z  und  die 
übrigen  von  ihm  abhängigen  Formen  wirklich  auch  als  blosse 
selbstständige  Pronomina  gebraucht  werden,   sieht  man  aus  dem 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      22Q 

Mayischen  Vaterunser.*)  In  der  That  halte  auch  ich  dies  /  für 
einen  Stammlaut,  allein  nicht  eines  Verbum,  sondern  des  Pro- 
nomen selbst.  Hierfür  spricht  der  für  die  dritte  Person  geltende 
Ausdruck.  Dieser  ist  nemlich  gänzlich  von  den  beiden  ersten 
verschieden  und  im  Singular  für  beide  das  Verbum  seyn  aus- 
drückende Gattungen  lai-lo,  im  Plural  für  die  nicht  als  Verbum 
dienende  Gattung  ob,  für  die  andre  loob.  Wäre  nun  /  Wurzellaut 
eines  Verbum,  so  Hesse  sich  dies  auf  keine  Weise  erklären.  Da 
aber  mehrere  Sprachen  eine  Schwierigkeit  finden,  die  dritte  Person 
in  ihrem  reinen  Begriffe  aufzufassen  und  vom  Demonstrativ- 
pronomen zu  trennen,  so  kann  es  nicht  auffallend  erscheinen,  dass 
die  beiden  ersten  Personen  einen  nur  ihnen  eigenthümlichen 
Stammlaut  haben.  Wirklich  wird  in  der  Mayischen  Sprache  ein 
angebliches  Pronomen  relativum  lai  aufgeführt  und  auch  andre 
Amerikanische  Sprachen  besitzen  durch  mehrere  oder  alle  Personen 
des  Pronomen  durchgehende  Stammlaute.  In  der  Sprache  der 
Maipuren  findet  sich  die  dritte  Person,  nur  mit  verschiedenem 
Zusatz,  in  den  beiden  ersten  wieder,  gleichsam  als  hiessen,  wenn 
die  dritte  vielleicht  ursprünglich  Mensch  bedeutete,  die  beiden 
ersten  der  Ich-Mensch  und  der  Du-Mensch.  Bei  den  Achaguas 
haben  alle  drei  Personen  des  Pronomen  die  gleiche  Ends3'lbe. 
Beide  diese  Völkerschaften  wohnen  zwischen  dem  Rio  Negro  und 
dem  oberen  Orinoco.  Zwischen  den  beiden  Hauptgattungen  des 
Mayischen  Pronomen  ist  nur  in  einigen  Personen  eine  Verwandt- 
schaft der  Laute,  in  andren  herrscht  dagegen  grosse  Verschieden- 
heit. Das  /  findet  sich  in  dem  affigirten  Pronomen  nirgends. 
Das  ex  und  oh  der  zweiten  und  dritten  Pluralperson  des  mit  der 
Bedeutung  des  Seyns  verbundenen  Pronomen  ist  gänzlich  in  die- 
selben Personen  des  andren,  diese  Bedeutung  nicht  mit  sich 
führenden  Pronomen  übergegangen.  Da  aber  diese  Sylben  hier 
der  zweiten  und  dritten  Person  des  Singulars  nur  als  Endungen 
beigefügt  sind,  so  erkennt  man,  dass  sie,  von  jenem,  vielleicht 
älteren  Pronomen  entnommen,  dem  andren  bloss  als  Pluralzeichen 
dienen. 

Cah  und  ah  unterscheiden  sich  auch  nur  durch  den  hinzu- 
gefügten Consonanten  und  dieser  scheint  mir  ein  wahrer  Verbal- 
wurzellaut, der,  verbunden  mit  ah,  ein  Hülfsverbum  seyn  bildet. 


*)  Adelung's  Mithridates.    Th.  III.    Abth.  3.    S.  20.,   wo  nur  Vater  das  Pronomen 
nicht  richtig  erkannt  und  die  Deutschen  Wörter  unrichtig  auf  die  Mayischen  vertheilt  hat. 


2O0  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Wo  call  einem  Verbum  beständig  einverleibt  ist,  führt  es  den  Be- 
griff der  Heftiglveit  mit  sich    und  dadurch   mag    es    gekommen 
seyn,  dass  die  Sprache  sich  dessen  bedient  hat,   alle  Handlungen, 
da  in  jeder  Kraft  und  Beweglichkeit  liegt,  zu   bezeichnen.    Mit 
wahrhaft  feinem  Tact  aber  ist  cah  doch  nur  der  Lebendigkeit  der 
währenden  Handlung,  also   dem  Praesens   und  Imperfectum  auf- 
behalten  worden.     Dass    cah   wirklich    als    ein   Verbalstamm   be- 
handelt wird,  beweist  die  Verschiedenheit  der  Stellung  des  affigirten 
Pronomen  in  den  Formen  mit  cah  und  mit  ah.    In   den   ersteren 
steht   dies   Pronomen   immer   unmittelbar  vor  dem  cah,   in  den 
andren  nicht  vor  dem  ah.,  sondern  vor  dem  attributiven  Verbum. 
Da  es  sich  nun  immer  einem  Stammwort,  Nomen   oder  Verbum 
praefigirt,  so  beweist  dies  deutlich,  dass  ah  in  diesen  Formen  keines 
von  beiden  ist,  dass  es  dagegen  mit  cah  eine  andere  Bewandtniss 
hat.     So  ist  von  canan,  bewachen,  die  erste  Person  des  Singu- 
lars  im  Praesens   canan-in-cah,   dagegen   dieselbe  Person   im  Per- 
fectum    in-canan-t-ah.      In    ist    Pron.    i.    sing.,    das    dazwischen- 
geschobene  /  ein  euphonischer  Laut.    Ahi  hat  in   der  Sprache   als 
Praefix  einen  mehrfachen  Gebrauch,  indem   es  Charakteristik   des 
männlichen  Geschlechtes,  der  Ortsbewohner,  endlich  der  aus  Activ- 
verben  gebildeten  Nomina  ist.     Es  mag  daher  aus  einem  Substan- 
tivum  zum  Demonstrativpronomen  und  endlich  zum  Affixum   ge- 
worden  seyn.    Da   es   seinem  Ursprünge   nach  weniger  geeignet 
ist,   die  heftige  Beweglichkeit  des  Verbum   anzuzeigen,   so   bleibt 
es  für  die  Bezeichnung   der  Tempora,  welche   der  unmittelbaren 
Erscheinung  ferner  liegen.     Dieselben  Tempora  intransitiver  Verba 
verlangen  noch  mehr,  um  in   das  Verbum   einzutreten,  von   dem 
bloss  ruhenden  Begriff  des  Seyns  und  begnügen   sich   daher  mit 
demjenigen  Pronomen,  bei   welchem   dieser  immer  hinzugedacht 
wird.     So  bezeichnet  die  Sprache  verschiedene  Grade  der  Lebendig- 
keit der  Erscheinungen  und  bildet  daraus  ihre  Conjugationsformen 
auf  eine  künstlichere  Weise,  als  es  selbst  die  hochgebildeten  Sprachen 
thun,   allein    nicht   auf  einem   so   einfachen,   naturgemässen ,   die 
Functionen    der   verschiedenen   Redetheile    richtig    abgränzenden 
Wege.     Der  Bau   des  Verbum   ist    daher    immer  fehlerhaft;    es 
leuchtet  doch  aber  sichtbar  das  Gefühl  der  wahren  Function   des 
Verbum  und  ein   sogar   ängstliches  Bemühen,   es   nicht  dafür  an 
einem  Ausdruck  fehlen  zu  lassen,  daraus  hervor. 

Das  affigirte  Pronomen  der  zweiten  Hauptgattung  dient  auch 
als    Besitzpronomen   bei    Substantiven.      Es    verräth   ein   völliges 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      2'?I 

Miskennen  des  Unterschiedes  zwischen  Nomen  und  Verbum,  dem 
letzteren  ein  Besitzpronomen  zuzutheilen,  unser  Essen  mit  wir 
essen  zu  verwechseln.  Dies  scheint  mir  jedoch  in  den  Sprachen, 
die  sich  dessen  schuldig  machen,  mehr  ein  Mangel  der  gehörigen 
Absonderung  der  verschiedenen  Pronominalgattungen  von  einander. 
Denn  offenbar  wird  der  Irrthum  geringer,  wenn  der  Begriff  des 
Besitzpronomen  selbst  nicht  in  seiner  eigentlichen  Schärfe  auf- 
gefasst  wird,  und  dies  scheint  mir  hier  der  Fall.  Fast  in  allen 
Amerikanischen  Sprachen  geht  das  Verständniss  ihres  Baues  gleich- 
sam vom  Pronomen  aus  und  dies  schlingt  sich  in  zwei  grossen 
Zweigen,  als  Besitzpronomen  um  das  Nomen,  als  regierend  oder 
regiert  um  das  Verbum  und  beide  Redetheile  bleiben  meistentheils 
immer  mit  ihm  verbunden.  Gewöhnlich  besitzt  die  Sprache  hier- 
für auch  verschiedene  Pronominalformen.  Wo  dies  aber  nicht  der 
Fall  ist,  verbindet  sich  der  Begriff  der  Person  schwankend  und 
unbestimmt  mit  dem  einen  und  dem  andren  Redetheil.  Der 
Unterschied  beider  Fälle  wird  wohl  empfunden,  aber  nicht  mit 
der  formalen  Schärfe  und  Bestimmtheit,  welche  der  Uebergang 
in  die  Lautbezeichnung  erfordert.  Bisweilen  deutet  sich  aber  die 
Empfindung  des  Unterschiedes  doch  auf  andere  Weise,  als  durch 
die  genaue  Absonderung  eines  doppelten  Pronomen  an.  In  der 
Sprache  der  Betoi,  die  auch  um  den  (^asanare  und  unteren  Orinoco 
herum  wohnen,  hat  das  Pronomen,  wenn  es  sich  mit  dem  Verbum, 
als  regierend,  verbindet,  eine  von  der  des  Besitzpronomen  beim 
Nomen  verschiedene  Stellung.  Das  Besitzpronomen  wird  nemlich 
vorn,  das  die  Person  des  Verbum  begleitende  hinten  angehängt; 
die  Verschiedenheit  der  Laute  besteht  nur  in  einer  durch  die  An- 
fügung hen'orgebrachten  Abkürzung.  So  heisst  rau  tucic  mein 
Haus,  aber  himiasoi-rrü  Mensch  bin  ich  und  ajoi-rrü  ich  bin. 
Im  letzteren  Worte  ist  mir  die  Bedeutung  der  Wurzelsylbe  un- 
bekannt. Diese  Suffigirung  des  Pronomen  findet  aber  nur  da 
statt,  wo  dasselbe  aoristisch  ohne  specielle  Zeitbestimmung  mit 
einem  andren  Worte  verbunden  wird.  Das  Pronomen  bildet  als- 
dann mit  diesem  Worte  Einen  Wortlaut  und  es  entsteht  wirklich 
eine  Verbalform.  Denn  der  Accent  geht  in  diesen  Fällen  von 
dem  verbundenen  Worte  auf  das  Pronomen  über.  Dies  ist  also 
gleichsam  ein  symbolisches  Zeichen  der  Beweglichkeit  der  Hand- 
lung, wie  auch  im  Englischen  da,  wo  dasselbe  zweisylbige  Wort 
als  Nomen  und  als  Verbum  gebraucht  werden  kann,  die  Oxyto- 
nirung  die  Verbalform  andeutet.    Im  Chinesischen  findet  sich  zwar 


222  ^*    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

auch  die  Bezeichnung  des  Ueberganges  vom  Nomen  zum  Verbum 
und  umgekehrt  durch  den  Accent,  allein  nicht  in  symbolischer 
Beziehung  auf  die  Natur  des  Verbum  da  derselbe  Accent  un- 
verändert den  doppelten  Uebergang  ausdrückt  und  nur  andeutet, 
dass  das  Wort  zu  dem  seiner  natürlichen  Bedeutung  und  seinem 
gewöhnUchen  Gebrauche  entgegengesetzten  Redetheil  wird.*) 

Ich  habe  die  obige  Auseinandersetzung  der  Mayischen  Gon- 
jugation  nicht  durch  die  Erwähnung  einer  Ausnahme  unterbrechen 
mögen,  die  ich  jedoch  hier  kurz  nachholen  will.  Das  Futurum 
unterscheidet  sich  nemlich  in  seiner  Bildung  gänzlich  von  den 
übrigen  Tempora.  Es  verbindet  zwar  seine  Kennsylben  mit  te7i, 
führt  aber  niemals  weder  cah  noch  ah  mit  sich,  besitzt  eigne 
Suffixa,  entbehrt  auch  bei  gewissen  Veränderungen  seiner  Form 
alle ;  besonders  steht  es  der  Sylbe  ah  entgegen.  Denn  es  schneidet 
dieselbe  auch  da  ab,  wo  diese  Sylbe  wirkliche  Endung  des  Stamm- 
verbum  ist.  Es  würde  hier  zu  weit  führen,  in  die  Untersuchung 
einzugehen,  ob  diese  Abweichungen  aus  der  Natur  der  eigenthüm- 
lichen  Suffixa  des  Futurum  oder  aus  andren  Gründen  entstehen. 
Gegen  das  oben  Gesagte  kann  aber  diese  Ausnahme  nichts  be- 
weisen. Vielmehr  bestätigt  die  Abneigung  gegen  die  Partikel  ah 
die  oben  derselben  beigelegte  Bedeutung,  da  die  Ungewissheit  der 
Zukunft  nicht  die  Lebendigkeit  eines  Pronomen  hervorruft  und 
mit  der  einer  wirklich  dagewesenen  Erscheinung  contrastirt. 

Wo  die  Sprachen  zwar  den  Weg  einschlagen,  die  Function 
des  Verbum  durch  die  engere  Verknüpfung  seiner  immer  wech- 
selnden Modificationen  mit  der  Wurzel  symbolisch  anzudeuten, 
da  ist  es,  wenn  sie  auch  das  Ziel  nicht  vollkommen  erreichen, 
ein  günstiges  Zeichen  für  ihr  richtiges  Gefühl  derselben,  wenn 
sie  die  Enge  dieser  Verbindung  vorzugsweise  mit  dem  Pronomen 
bezwecken.  Sie  nähern  sich  dann  immer  mehr  der  Verwandlung 
des  Pronomen  in  die  Person  und  somit  der  wahren  Verbalform, 
in  welcher  die  formale  Andeutung  der  Personen  (die  durch  die 
blosse  Vorausschickung  des  selbstständigen  Pronomen  nicht  er- 
reicht wird)  der  wesentlichste  Punkt  ist.  Alle  übrigen  Modi- 
ficationen des  Verbum  (die  Modi  abgerechnet,  die  mehr  der 
Satzbildung  angehören)  können  auch  den,  mehr  dem  Nomen 
gleichenden,     erst    durch    die    Verbalfunction    in    Bewegung    zu 


*)  S.  meine  Schrift  Lettre  ä  Monsieur  Abel-Remiisat.    S.  23.^) 
V  Vgl.  Band  5,  26S. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      2^*? 

setzenden  Theil  des  \^erbum  charakterisiren.  Hierin  vorzüglich 
liegt  der  Grund,  dass  in  den  Malayischen  Sprachen,  in  gewisser 
Aehnlichkeit  mit  dem  Chinesischen,  die  Verbalnatur  so  wenig 
sichtbar  hen-orspringt.  Die  bestimmte  Neigung  der  Amerika- 
nischen, das  Pronomen  auf  irgend  eine  Weise  zu  aftigiren,  führt 
dieselben  hierin  auf  einen  richtigeren  Weg.  Werden  alle  Modi- 
iicationen  des  Verbum  wirklich  mit  der  Wurzelsylbe  verknüpft, 
so  beruht  die  \'ollkommenheit  der  Verbalformen  nur  auf  der 
Enge  der  Verknüpfung,  auf  dem  Umstände,  ob  sich  die  im 
^"erbum  liegende  Kraft  des  Setzens  energischer  als  flectirend 
oder  träger  als  agglutinirend  erweist. 


Act   des   selbstthätigen   Setzens   in   der   Sprache. 
Conjunction. 

Gleich  stark,  als  das  Verbum  beruht  in  den  Sprachen  die 
richtige  und  genügende  Bildung  von  Conjunctionen  auf  der 
Thätigkeit  derselben  Kraft  des  sprachbildenden  Geistes,  von  der 
wir  hier  reden.  Denn  die  Conjunction,  im  eigentlichen  Sinne  des 
Ausdrucks  genommen,  zeigt  die  Beziehungen  zweier  Sätze  auf 
einander  an  und  es  liegt  daher  ein  doppeltes  Zusammenfassen, 
eine  verwickeitere  Synthesis  in  ihr.  Jeder  Satz  muss  als  Eins 
genommen,  diese  Einheiten  müssen  aber  wieder  in  eine  grössere 
verknüpft  und  der  vorhergehende  Satz  so  lange  schwebend  vor 
der  Seele  erhalten  werden,  bis  der  nachfolgende  der  ganzen  Aus- 
sage die  vollendete  Bestimmung  giebt.  Die  Satzbildung  erweitert 
sich  hier  zur  Periode  und  die  Conjunctionen  theilen  sich  in  die 
leichteren,  die  nur  Sätze  verbinden  und  trennen,  und  in  die 
schwierigeren,  welche  einen  Satz  von  dem  andren  abhängig 
machen.  In  diesen,  gleichsam  gerade  fortlaufenden  oder  ver- 
schlungenen Gang  der  Periode  setzten  schon  Griechische  Gram- 
matiker das  Kennzeichen  des  einfacheren  und  des  sich  kunstvoll 
erhebenden  Styls.  Die  bloss  verbundenen  Sätze  laufen  in  unbe- 
stimmter Folge  nach  einander  hin  und  gestalten  sich  nicht  zu 
einem,  Anfang  und  Ende  auf  einander  beziehenden  Ganzen,  da 
hingegen  die  wahrhaft  zur  Periode  verknüpften  sich,  gleich  den 
Steinen   eines   Gewölbes,   gegenseitig  stützen   und   halten.*)     Die 


*)  Demetrius  de  elocutione.    §.  II — 13. 


254.  I-    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

weniger  gebildeten  Sprachen  haben  gewöhnlich  Mangel  an  Con- 
junctionen  oder  bedienen  sich  dazu  nur  mittelbar  zu  diesem  Ge- 
brauch passender,  ihm  nicht  ausschliesslich  gewidmeter  Wörter 
und  lassen  sehr  oft  die  Sätze  unverbunden  auf  einander  folgen. 
Auch  die  von  einander  abhängigen  werden,  soviel  es  irgend  ge- 
schehen kann,  in  gerade  fortlaufende  verwandelt  und  hiervon 
tragen  selbst  ausgebildete  Sprachen  noch  die  Spuren  an  sich. 
Wenn  wir  z.  B.  sagen:  ich  sehe,  dass  du  fertig  bist,  so  ist 
das  gewiss  nichts  andres,  als  ich  sehe  das:  du  bist  fertig, 
nur  dass  das  richtige  grammatische  Gefühl  in  späterer  Zeit  die 
Abhängigkeit  des  Folgesatzes  symbolisch  durch  die  Umstellung 
des  Verbum  angedeutet  hat.^) 


Act  des   selbstthätigen   Setzens   in   der  Sprache. 
Pronomen   relativ  um. 

Am  schwierigsten  für  die  grammatische  Auffassung  ist  das,  in 
dem  Pronomen  relativum  vorgehende  synthetische  Setzen.  Zwei 
Sätze  sollen  dergestalt  verbunden  werden,  dass  der  eine  einen 
blossen  Beschaffenheitsausdruck  eines  Nomen  des  andren  aus- 
macht. Das  Wort,  durch  welches  dies  geschieht,  muss  daher  zu- 
gleich Pronomen  und  Conjunction  seyn,  das  Nomen  durch  Stell- 
vertretung darstellen  und  einen  Satz  regieren.  Sein  Wesen  geht 
sogleich  verloren,  als  man  sich  nicht  die  beiden  in  ihm  verbundenen 
Redetheile,  einander  modificirend,  als  untheilbar  zusammendenkt. 
Die  Beziehung  beider  Sätze  auf  einander  fordert  endlich,  dass  das 
Conjunctions- Pronomen    (das    Relativum)    in    dem  '  Casus   stehe, 


^)  Nach  „hat"  gestrichen:  „Auch  unser  so,  wodurch  wir,  was  den  Sprachen 
des  Alterthums  nicht  eigenthümlich  ist,  den  Nachsatz  andeuten,  ist  wohl  nur  ein 
den  Inhalt  des  Vordersatzes  zusammenfassendes  also.  Im  Alt-Französischen 
wird  bisweilen  bei  sehr  langen  Perioden  das  bejahende  si  auf  ähnliche  Weise  ge- 
braucht. Diefenbach  (über  die  jetzigen  romanischen  Schrißsprachen.  S.  41.J  be- 
merkt, dass  die  Rhätoromanische  Sprache  in  Graubündten  imsere  Nachsatz- 
Partikel  in  sich  aufgenommen  habe:  scha,  so.  Die  Häufigkeit  des  Gebrauchs, 
auch  bei  ganz  kurzen  Sätzen,  mag  allerdings  aus  Umgang  mit  Deutschen  ent- 
standen seyn;  das  Wort  selbst  aber  ist  doch  wohl  das  lat.  si  und  sie.  Es  ist 
übrigens  merkwürdig , dass  dies  scha  auch  für  wenn,  als  u.  s.f  gebraucht  wird, 
imd  daher  in  der  nemlichen  Periode  doppelt  den  Vordersatz  und  den  Nachsatz 
(wenn  —  so)  regieren  kann.  Ein  Beispiel  davon  s.  in  Conradis  Gramm.  S. ^g. 
Unser  also  ist  eigentlich  aschia." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      2*?^ 

welchen  das  ^^erbum  des  relativen  Satzes  erfordert,  dennoch  aber, 
welches  dieser  Casus  immer  seyn  möge,  den  Satz  selbst,  an  dessen 
Spitze  stehend,  regiere.  Hier  häufen  sich  offenbar  die  Schwierig- 
keiten und  der  ein  Pronomen  relativum  mit  sich  führende  Satz 
kann  erst  vermittelst  des  andren  vollständig  aufgefasst  werden. 
Ganz  dem  Begriffe  dieses  Pronomen  entsprechen  können  nur  die 
Sprachen,  in  welchen  das  Nomen  declinirbar  ist.  Allein  auch  von 
diesem  Erforderniss  abgesehen  wird  es  den  meisten,  weniger  ge- 
bildeten Sprachen  unmöglich,  einen  wahren  Ausdruck  dieser  Satz- 
bezeichnung zu  finden,  das  Relativpronomen  fehlt  ihnen  wirklich ; 
sie  umgehen,  so  viel  als  möglich,  den  Gebrauch  desselben,  wo 
dies  aber  durchaus  nicht  geschehen  kann,  bedienen  sie  sich  mehr 
oder  weniger  geschickt  dessen  Stelle  vertretender  Constructionen. 
Eine  solche,  aber  in  der  That  sinnreiche  ist  in  der  Quichua- 
Sprache,  der  allgemeinen  Peruanischen,  üblich.  Die  Folge  der 
Sätze  wird  umgekehrt,  der  relative  geht,  als  selbstständige  und 
einfache  Aussage  voran,  der  Hauptsatz  folgt  ihm  nach.  Im 
relativen  aber  wird  das  Wort,  auf  welches  die  Beziehung  trifft, 
weggelassen  und  eben  dies  Wort  mit  ihm  vorausgeschicktem 
Demonstrativpronomen  an  die  Spitze  des  Hauptsatzes  und  in  den 
von  dessen  Verbum  regierten  Casus  gestellt.  Anstatt  also  zu 
sagen:  der  Mensch,  welcher  auf  Gottes  Gnade  vertraut,  erlangt 
dieselbe;  dasjenige,  was  du  jetzt  glaubst,  wirst  du  künftig  im 
Himmel  offenbart  sehen;  ich  werde  den  Weg  gehen,  welchen  du 
mich  führst;  sagt  man:  er  vertraut  auf  Gottes  Gnade,  dieser 
Mensch  erlangt  dieselbe;  du  glaubst  jetzt,  dieses  wirst  du  künftig 
im  Himmel  offenbart  sehen;  du  führst  mich,  diesen  Weg  werde 
ich  gehen.  In  diesen  Constructionen  ist  die  wesentliche  Bedeutung 
der  Relativsätze,  dass  nemlich  ein  Wort  nur  unter  der  im  Relativ- 
satze enthaltenen  Bestimmung  gedacht  werden  soll,  nicht  nur  er- 
halten, sondern  auch  gewissermassen  symbolisch  ausgedrückt. 
Der  Relativsatz,  auf  den  sich  die  Aufmerksamkeit  zuerst  sammeln 
soll,  geht  voraus  und  ebenso  stellt  sich  das  durch  ihn  bestimmte 
Nomen  an  die  Spitze  des  Hauptsatzes,  wenn  seine  Construction 
ihm  auch  sonst  eine  andere  Stelle  anweisen  würde.  Allein  alle 
grammatischen  Schwierigkeiten  der  Fügung  sind  umgangen.  Die 
Abhängigkeit  beider  Sätze  bleibt  ohne  Ausdruck;  die  künstliche 
Methode,  den  Relativsatz  immer  durch  das  Pronomen  regieren  zu 
lassen,  wenn  auch  dasselbe  eigentlich  von  seinem  Verbum  regiert 
wird,  fällt  ganz   hinweg.    Es   giebt  überhaupt  gar  kein  Relativ- 


2o5  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

pronomen  in  diesen  Fügungen.  Es  wird  aber  dem  Nomen  das 
gewöhnliche  und  leicht  zu  fassende  Demonstrativpronomen  bei- 
gegeben, so  dass  die  Sprache  sichtbar  die  Wechselbeziehung  beider 
Pronomina  auf  einander  dunkel  gefühlt,  allein  dieselbe  von  der 
leichteren  Seite  aus  angedeutet  hat.  Die  Mexicanische  Sprache 
verfährt  kürzer  in  diesem  Punkt,  aber  nicht  auf  eine  der  wahren 
Bedeutsamkeit  des  Relativsatzes  so  nahe  kommende  Weise.  Sie 
stellt  vor  den  Relativsatz  das  Wort  m,  welches  zugleich  die  Stelle 
des  Demonstrativpronomen  und  des  Artikels  vertritt,  und  knüpft 
ihn  in  dieser  Gestalt  an  den  Hauptsatz. 


Betrachtung    der    Flexioössprachen    in    ihrer    Fort- 
entwicklung. 

Wenn  ein  Volksstamm  in  seiner  Sprache  die  Kraft  des  syn- 
thetischen Setzens  bis  zu  dem  Grade  bewahrt,  ihm  in  dem  Baue 
derselben  einen  genügenden  und  gerade  den  geeigneten  Ausdruck 
zu  geben,  so  folgt  daraus  zunächst  eine  sich  in  allen  Theilen 
gleich  bleibende  glückliche  Anordnung  ihres  Organismus.  Wenn 
das  Verbum  richtig  construirt  ist,  so  müssen  es  nach  der  Art, 
wie  dasselbe  den  Satz  beherrscht,  auch  die  übrigen  Redetheile 
seyn.  Dieselbe,  Gedanken  und  Ausdruck  in  ihr  richtiges  und 
fruchtbringendstes  Verhältniss  setzende  Kraft  durchdringt  sie  in 
allen  ihren  Theilen  und  es  kann  ihr  in  dem  Leichteren  nicht 
mislingen,  wenn  sie  die  grössere  Schwierigkeit  der  satzbildenden 
Synthesis  überwunden  hat.  Der  wahre  Ausdruck  dieser  letzteren 
kann  daher  nur  ächten  Flexionssprachen  und  unter  denselben 
immer  nur  denen,  die  es  in  höherem  Grade  sind,  eigen  seyn. 
Sachausdruck  und  Beziehung  müssen  in  richtigem  Verhältniss 
stehenden  Ausdruck  finden,  die  Worteinheit  muss  unter  dem 
Einfluss  des  Rhythmus  die  höchste  Festigkeit  besitzen  und  der 
Satz  dagegen  wieder  die,  seine  Freiheit  sichernde  Trennung  der 
einzelnen  Worte  zeigen.  Diesen  ganzen  glücklichen  Organismus 
bringt  in  der  Sprache  die  Kraft  der  Synthesis,  als  eine  noth- 
wendige  Folge  hervor. 

Im  Innren  der  Seele  aber  führt  sie  das  vollendete  Ueber- 
einstimmen  des  fortschreitenden  Gedanken  mit  der  ihn  begleitenden 
Sprache  mit  sich.  Da  Denken  und  Sprechen  sich  immer  wechsels- 
weise vollenden,   so   wirkt  der  richtige  Gang  in  beiden  auf  eine, 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      o'Xl 

ununterbrochene  Fortschritte  verbürgende  Weise.  Die  Sprache, 
insofern  sie  materiell  ist  und  zugleich  von  äusseren  Einwirkungen 
abhängt,  setzt,  sich  selbst  überlassen,  der  auf  sie  wirkenden  inneren 
Form  Schwierigkeiten  in  den  Weg  oder  schleicht,  ohne  recht 
vorwaltendes  Eingreifen  jener,  in  ihren  Bildungen  nach  ihr  eigen- 
thümlichen  Analogien  fort.  Wo  sie  aber,  von  innerer  energischer 
Kraft  durchdrungen,  sich  durch  diese  getragen  fühlt,  erhebt  sie 
sich  freudig  und  wirkt  nun  durch  ihre  materielle  Selbstständigkeit 
zurück.  Gerade  hier  wird  ihre  bleibende  und  unabhängige  Natur 
wohlthätig,  wenn  sie,  wie  es  bei  glückHchem  Organismus  sichtbar 
der  Fall  ist,  immer  neu  auflveimenden  Generationen  zum  be- 
geisternden Werkzeuge  dient.  Das  Gelingen  geistiger  Thätigkeit 
in  Wissenschaft  und  Dichtung  beruht,  ausser  den  inneren 
"nationeilen  Anlagen  und  der  Beschaffenheit  der  Sprache,  zugleich 
auf  mannigfaltigen  äusseren,  bald  vorhandenen,  bald  fehlenden 
Einflüssen.  Da  aber  der  Bau  der  Sprache  unabhängig  von  solchen 
sich  forterhält,  so  bedarf  es  nur  eines  glücklichen  Anstosses,  um 
das  Volk,  dem  sie  angehört,  erkennen  zu  lassen,  dass  es  in  ihr 
ein  zu  ganz  andrem  Gedankenschwunge  geeignetes  Werkzeug 
besitzt.  Die  nationellen  Anlagen  erwachen  und  ihrem  Zusammen- 
wirken mit  der  Sprache  erblüht  eine  neue  Periode.  Wenn  man 
die  Geschichte  der  Völker  vergleicht,  so  findet  man  dies  zwar 
seltner  auf  die  Weise,  dass  eine  Nation  zwei  verschiedne  und 
nicht  mit  einander  zusammenhängende  Blüthen  ihrer  Literatur 
erlebte.  Aber  in  andrer  Beziehung  kann  man,  wie  es  mir  scheint, 
nicht  umhin,  ein  solches  Aufblühen  der  Völker  zu  einer  höheren 
geistigen  Thätigkeit  aus  einem  Zustande  abzuleiten,  in  welchem 
sowohl  in  ihren  geistigen  Anlagen,  als  in  ihrer  Sprache  selbst 
die  Keime  der  kräftigen  Entwicklung  schon  gleichsam  schlummernd 
und  praeformirt  lagen.  Möge  man  auch  ganze  Zeitalter  von  Sängern 
vor  Homer  annehmen,  so  ist  gewiss  doch  die  Griechische  Sprache 
auch  durch  sie  nur  ausgebildet,  nicht  aber  ursprünglich  gebildet 
worden.  Ihr  glücklicher  Organismus,  ihre  ächte  Flexionsnatur, 
ihre  synthetische  Kraft,  mit  Einem  Worte  alles  das,  was  die 
Grundlage  und  den  Nen^  ihres  Baues  ausmacht,  war  ihr  gewiss 
schon  eine  unbestimmbare  Reihe  von  Jahrhunderten  hindurch 
eigen.  Auf  die  entgegengesetzte  Weise  sehen  wir  auch  Völker 
im  Besitze  der  edelsten  Sprachen,  ohne  dass  sich  unsrer  Kenntniss 
nach  jemals  in  denselben  eine  dem  entsprechende  Literatur  ent- 
wickelt hätte.    Der  Grund  lag   also  hier  in  mangelndem  Anstoss 


2o8  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

oder  hemmenden  Umständen.  Ich  erinnere  hier  bloss  an  die,  dem 
Sanskritischen  Stamm,  zu  dem  sie  gehört,  viel  glücklicher,  als 
andre  ihrer  Schwestern  getreu  gebliebene  Litthauische  Sprache. 
Wenn  ich  die  hemmenden  und  fördernden  Einflüsse  äussere  und 
zufällige  oder  besser  historische  nenne,  so  ist  dieser  Ausdruck 
wegen  der  wirklichen  Gewalt,  welche  ihre  Gegenwart  oder  Ab- 
wesenheit ausübt,  vollkommen  richtig.  In  der  Sache  selbst  aber 
kann  die  Wirkung  doch  nur  von  innen  ausgehen.  Es  muss  ein 
Funke  geweckt,  ein  Band,  welches  gleichsam  die  Federkraft  der 
Seele  sich  auszudehnen  hindert,  gelöst  werden  und  dies  kann 
urplötzlich,  ohne  langsame  Vorbildungen  geschehen.  Das  wahre 
und  immer  unbegreiflich  bleibende  Entstehen  wird  darum  nicht 
erklärbarer,  dass  man  seinen  ersten  Moment  weiter  hinaufschiebt. 
Der  Einklang  der  Sprachbildung  mit  der  gesammten  Gedanken- 
entwicklung, von  dem  wir  im  concreten  Sprachbau  den  geeigneten 
Ausdruck  des  synthetischen  Setzens  als  ein  glückliches  Zeichen 
betrachtet  haben,  führt  zunächst  auf  diejenige  geistige  Thätigkeit, 
welche  allein  aus  dem  Innren  heraus  schöpferisch  ist.  Wenn 
wir  den  gelungenen  Sprachbau  bloss  als  rückwirkend  betrachten 
und  augenblicklich  vergessen,  dass,  was  er  dem  Geiste  ertheilt, 
er  erst  selber  von  ihm  empfieng,  so  gewährt  er  Kraft  der  In- 
tellectualität,  Klarheit  der  logischen  Anordnung,  Gefühl  von  etwas 
Tieferem,  als  sich  durch  blosse  Gedankenzergliederung  erreichen 
lässt,  und  Begierde,  es  zu  ergründen,  Ahndung  einer  Wechsel- 
beziehung des  Geistigen  und  Sinnlichen  und  endlich  rhythmisch 
melodische,  auf  allgemeine  künstlerische  Auffassung  bezogene  Be- 
handlung der  Töne  oder  befördert  alles  dies,  wo  es  schon  von 
selbst  vorhanden  ist.  Durch  das  Zusammenstreben  der  geistigen 
Kräfte  in  der  entsprechenden  Richtung  entsteht  daher,  so  wie  nur 
ein  irgend  weckender  Funke  aufsprüht,  eine  Thätigkeit  rein 
geistiger  Gedankenentwicklung  und  so  ruft  ein  lebendig  em- 
pfundener, glücklicher  Sprachbau  durch  seine  eigne  Natur  Philo- 
sophie und  Dichtung  hervor.  Das  Gedeihen  beider  lässt  aber 
wieder  umgekehrt  auf  die  Lebendigkeit  jener  Einwirkung  der 
Sprache  zurückschliessen.  Die  sich  fühlende  Sprache  bewegt  sich 
am  liebsten  da,  wo  sie  sich  herrschend  zu  seyn  dünkt,  und  auch 
die  geistige  Thätigkeit  äussert  ihre  grösste  Kraftanstrengung  und 
erreicht  ihre  höchste  Befriedigung  da,  wo  sie  in  intellectueller  Be- 
trachtung oder  in  selbstgeschaffener  Bildung  aus  ihrer  eignen 
Fülle  schöpft  oder  die  Endfäden  wissenschaftlicher  Forschung  zu- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      2'?Q 

sammenknüpft.  In  diesem  Gebiete  tritt  aber  auch  am  lebendigsten 
die  intellectuelle  Individualität  hervor.  Indem  also  ein  hoch- 
vollendeter,  aus  glücklichen  Anlagen  entstandener  und  sie  fort- 
dauernd nährender  und  anregender  Sprachbau  das  Lebensprincip 
der  Sprache  sichert,  veranlasst  und  befördert  er  zugleich  die 
Mannigfaltigkeit  der  Richtungen,  die  sich  in  der  oben  betrachteten 
Verschiedenheit  der  Charaktere  der  Sprachen  desselben  Sprach- 
stammes offenbart. 

Wie  lässt  sich  aber  die  hier  ausgeführte  Behauptung,  dass 
das  fruchtbare  Lebensprincip  der  Sprachen  hauptsächlich  auf  ihrer 
Flexionsnatur  beruht,  mit  der  Thatsache  vereinigen,  dass  der 
Reichthum  an  Flexionen  immer  im  jugendlichsten  Alter  der 
Sprachen  am  grössten  ist,  im  Laufe  der  Zeit  aber  allmählich  ab- 
nimmt? Es  erscheint  wenigstens  sonderbar,  dass  gerade  das  ein- 
büssende  Princip  das  erhaltende  seyn  soll.  Das  Abschleifen  der 
Flexionen  ist  eine  unläugbare  Thatsache.  Der  die  Sprache 
formende  Sinn  lässt  sie  aus  verschiednen  Ursachen  und  in  ver- 
schiednen  Stadien  bald  gleichgültig  wegfallen,  bald  macht  er  sich 
absichtlich  von  ihnen  los,  und  es  ist  sogar  richtiger,  die  Er- 
scheinung auf  diese  Weise  auszudrücken,  als  die  Schuld  allein 
und  ausschliesslich  der  Zeit  beizumessen.  Schon  in  den  Forma- 
tionen der  Declination  und  Conjugation,  die  gewiss  mehrere 
Niedersetzungen  erfahren  haben,  werden  sichtbar  charakteristische 
Laute  immer  sorgloser  weggeworfen,  je  mehr  sich  der  Begriff  des 
ganzen,  jedem  einzelnen  Fall  seine  Stelle  von  selbst  anweisenden 
Schemas  festsetzt.  Man  opfert  kühner  dem  Wohllaute  auf  und 
vermeidet  die  Häufung  der  Kennzeichen,  wo  die  Form  schon 
durch  eines  gegen  die  Verwechslung  mit  andren  gesichert  ist. 
Wenn  mich  meine  Wahrnehmungen  nicht  trügen,  so  finden  diese, 
gewöhnlich  der  Zeit  zugeschriebene  Lautveränderungen  weniger 
in  den  angeblich  roheren,  als  in  den  gebildeten  Sprachen  statt 
und  diese  Erscheinung  Hesse  sich  wohl  sehr  natürlich  erklären. 
Unter  Allem,  was  auf  die  Sprache  einwirkt,  ist  das  Beweglichste 
der  menschliche  Geist  selbst  und  sie  erfährt  also  auch  die  meisten 
Umgestaltungen  von  seiner  lebendigsten  Thätigkeit.  Gerade  seinem 
Fortschreiten  aber  entspricht  es,  in  der  steigenden  Zuversicht  auf 
die  Festigkeit  seiner  innren  Ansicht  zu  sorgfältige  Modificirung 
der  Laute  für  überflüssig  zu  erachten.  Gerade  aus  diesem  Princip 
droht  in  einer  sehr  viel  späteren  Sprachperiode  den  Flexions- 
sprachen eine  weit  tiefer  in  ihr  Wesen  eingreifende  Umänderung. 


2A0  ^'    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Je  gereifter  sich  der  Geist  fühlt,  desto  kühner  wirkt  er  in  eignen 
Verbindungen  und  desto  zuversichtHcher  wirft  er  die  Brücken  ab, 
welche  die  Sprache  dem  Verständnisse  baut.  Zu  dieser  Stimmung 
gesellt  sich  dann  leicht  Mangel  an  Gefühl  des  auf  dem  Schalle 
ruhenden  dichterischen  Reizes.  Die  Dichtung  selbst  bahnt  sich 
dann  mehr  innerliche  Wege,  auf  welchen  sie  jenes  Vorzugs  ge- 
fahrloser zu  entbehren  vermag.  Es  ist  also  ein  Uebergang  von 
mehr  sinnlicher  zu  reinerer  intellectueller  Stimmung  des  Gemüths, 
durch  welche  die  Sprache  hier  umgestaltet  wird.  Doch  sind  die 
ersten  Ursachen  nicht  immer  von  der  edleren  Natur.  Rauhere 
Organe,  weniger  für  die  reine  und  feinere  Lautabsonderung  ge- 
eignet, ein  von  Natur  weniger  empfindliches  und  musikalisch 
nicht  geübtes  Ohr  legen  den  Grund  zu  der  Gleichgültigkeit  gegen 
das  tönende  Princip  in  der  Sprache.  Gleichergestalt  kann  die  vor- 
waltende praktische  Richtung  der  Sprache  Abkürzungen,  Aus- 
lassungen von  Beziehungswörtern,  Ellipsen  aller  Art  aufdringen, 
weil  man,  nur  das  Verständniss  bezweckend,  alles  dazu  nicht  un- 
mittelbar Nothwendige  verschmäht. 

Ueberhaupt  muss  die  Beziehung  des  Volksgeistes  auf  die 
Sprache  durchaus  eine  andere  seyn,  so  lange  sich  diese  noch  in 
der  Gährung  ihrer  ersten  Formation  befindet  und  wenn  die  schon 
geformte  nur  zum  Gebrauche  des  Lebens  dient.  So  lange  in 
jener  früheren  Periode  die  Elemente  auch  ihrem  Ursprünge  nach 
noch  klar  vor  der  Seele  stehen  und  diese  mit  ihrer  Zusammen- 
fügung beschäftigt  ist,  hat  sie  Gefallen  an  dieser  Bildung  des 
Werkzeugs  ihrer  Thätigkeit  und  lässt  nichts  fallen,  was  durch 
irgend  eine  auszudrückende  Nuance  des  Gefühls  festgehalten  wird. 
In  der  Folge  waltet  mehr  der  Zweck  des  Verständnisses  vor,  die 
Bedeutung  der  Elemente  wird  dunkler  und  die  eingeübte  Ge- 
wohnheit des  Gebrauchs  macht  sorglos  über  die  Einzelnheiten 
des  Baues  und  die  genaue  Bewahrung  der  Laute.  An  die  Stelle 
der  Freude  der  Phantasie  an  sinnreicher  Vereinigung  der  Kenn- 
zeichen mit  volltönendem  Sylbenfall  tritt  Bequemlichkeit  des  Ver- 
standes und  löst  die  Formen  in  Hülfsverba  und  Praepositionen  auf. 
Er  erhebt  dadurch  zugleich  den  Zweck  leichterer  Deutlichkeit  über 
die  übrigen  Vorzüge  der  Sprache,  da  allerdings  diese  analytische 
Methode  die  Anstrengung  des  Verständnisses  vermindert,  ja  in 
einzelnen  Fällen  die  Bestimmtheit  da  vermehrt,  wo  die  synthetische 
dieselbe  schwieriger  erreicht.  Bei  dem  Gebrauch  dieser  grammati- 
schen Hülfswörter  aber  werden  die  Flexionen  entbehrlicher  und 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.       24.I 

verlieren   allmählich   ihr  Gewicht  in  der  Achtsamkeit  des  Sprach- 
sinnes. 

Welches  nun  immer  die  Ursache  seyn  mag,  so  ist  es  sicher, 
dass  auf  diese  Weise  ächte  Flexionssprachen  ärmer  an  Formen 
werden,  häufig  grammatische  Wörter  an  die  Stelle  derselben 
setzen  und  auf  diese  Art  sich  im  Einzelnen  denjenigen  Sprachen 
nähern  können,  die  sich  von  ihrem  Stamme  durch  ein  ganz  ver- 
schiednes  und  unvollkommneres  Princip  unterscheiden.  Unsre 
heutige  und  die  Englische  Sprache  enthalten  hiervon  häufige  Bei- 
spiele, die  letztere  bei  weitem  mehr,  woran  mir  aber  ihre  Mischung 
mit  Romanischem  Stoff  keine  Schuld  zu  tragen  scheint,  da  diese 
auf  ihren  grammatischen  Bau  wenig  oder  gar  keinen  Eintluss 
ausübt.  Dass  aber  hieraus  eine  Einwendung  gegen  den  frucht- 
baren Einfluss  der  Flexionsnatur  auch  auf  die  späteste  Dauer  der 
Sprachen  hin  hergenommen  werden  könne,  glaube  ich  dennoch 
nicht.  Gäbe  es  auch  eine  Sanskritische  Sprache,  die  auf  dem  hier 
beschriebenen  Wege  Chinesischem  Entbehren  der  Beziehungs- 
zeichen der  Redetheile  nahe  gekommen  wäre,  so  bliebe  der  Fall 
dennoch  immer  gänzlich  verschieden.  Dem  Chinesischen  Bau  liegt, 
wie  man  ihn  auch  erklären  möge,  offenbar  eine  Unvollkommenheit 
in  der  Sprachbildung,  wahrscheinlich  eine,  dem  Volke  eigenthüm- 
liche  Gewohnheit  der  Isolirung  der  Laute,  zusammentreffend  mit 
zu  geringer  Stärke  des  innren,  ihre  Verbindung  und  Vermittlung 
erheischenden  Sprachsinns,  zum  Grunde.  In  einer  solchen  Sans- 
kritsprache dagegen  hätte  sich  die  ächteste  Flexionsnatur  mit  allen 
ihren  wohlthätigen  Einflüssen  seit  einer  unbestimmbaren  Reihe 
von  Generationen  festgesetzt  und  dem  Sprachsinn  seine  Gestalt 
gegeben.  In  ihrem  wahren  Wesen  wäre  daher  solche  Sprache 
immer  Sanskritisch  geblieben;  ihr  Unterschied  läge  nur  in  einzelnen 
Erscheinungen,  welche  das  Gepräge  nicht  austilgen  könnten,  das 
die  Flexionsnatur  der  ganzen  übrigen  Sprache  aufgedrückt  hätte. 
Die  Nation  trüge  ausserdem,  da  sie  zu  dem  gleichen  Stamme  ge- 
hörte, dieselben  nationeilen  Anlagen  in  sich,  welchen  der  edlere 
Sprachbau  seinen  Ursprung  verdankte,  und  fasste  mit  demselben 
Geiste  und  Sinne  ihre  Sprache  auf,  wenn  auch  diese  in  einzelnen 
Theilen  jenem  Geiste  äusserlich  minder  entsprechend  wäre.  Auch 
würden  immer,  wie  es  namentlich  in  der  Englischen  Conjugation 
der  Fall  ist,  einzelne  ächte  Flexionen  übrig  geblieben  seyn,  die 
den  Geist  an  dem  wahren  Ursprünge  und  dem  eigentlichen  Wesen 
der  Sprache  nicht  irre  werden  Hessen.    Ein  auf  diese  Weise  ent- 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  16 


24.2  l-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Stehender  geringerer  Formerireichthum  und  einfacherer  Bau  macht 
daher  die  Sprachen,  wie  wir  eben  an  der  Englischen  und  der 
unsrigen  sehen,  keinesweges  hoher  Vorzüge  unfähig,  sondern  er- 
theilt  ihnen  nur  einen  verschiedenen  Charakter.  Ihre  Dichtung 
entbehrt  zwar  dadurch  der  vollständigen  Kräftigkeit  eines  ihrer 
hauptsächlichen  Elemente.  Wenn  aber  bei  einer  solchen  Nation 
die  Poesie  wirklich  sänke  oder  doch  in  ihrer  Fruchtbarkeit  ab- 
nähme, so  entspränge  dies  gewiss  ohne  Schuld  der  Sprache  aus 
tieferen  innren  Ursachen. 


Aus    dem    Lateinischen    hervorgegangene    Sprachen. 

Dem  festen,  ja  man  kann  wohl  sagen  unaustilgbaren  Haften 
des  ächten  Organismus  an  den  Sprachen,  welchen  er  einmal  eigen- 
thümlich  geworden  ist,  verdanken  auch  die  Lateinischen  Töchter- 
sprachen ihren  reinen  grammatischen  Bau.  Es  scheint  mir  ein 
hauptsächliches  Erforderniss  zur  richtigen  Beurtheilung  der  merk- 
würdigen Erscheinung  ihrer  Entstehung,  darauf  Gewicht  zu  legen, 
dass  auf  den  Wiederaufbau  der  zertrümmerten  Römischen  Sprache, 
wenn  man  allein  das  grammatisch  Formale  desselben  ins  Auge 
fasst,  kein  fremder  Stoff  irgend  wesentlich  eingewirkt  hat.  Die 
Ursprachen  der  Länder,  in  welchen  die  neuen  Mundarten  auf- 
blühten, scheinen  durchaus  keinen  Antheil  daran  gehabt  zu  haben. 
Vom  Vaskischen  ist  dies  gewiss ;  es  gilt  aber  höchst  wahrscheinlich 
ebenso  von  den  ursprünglich  in  Gallien  herrschenden  Sprachen. 
Die  fremden  einwandernden  Völkerschaften,  grösstentheils  von 
Germanischem  oder  den  Germanen  verwandtem  Stamme,  haben 
der  Umbildung  des  Römischen  eine  grosse  Anzahl  von  W^örtern 
zugeführt ;  allein  in  dem  grammatischen  Theile  lassen  sich  schwer- 
lich irgend  bedeutende  Spuren  ihrer  Mundarten  auffinden.  Die 
Völker  lassen  sich  nicht  leicht  die  Form  umgestalten,  in  welche 
sie  den  Gedanken  zu  giessen  gewohnt  sind.  Der  Grund,  aus 
welchem  die  Grammatik  der  neuen  Sprachen  hervorgieng,  war 
daher  wesentlich  und  hauptsächlich  der  der  zertrümmerten  selbst. 
Aber  die  Zertrümmerung  und  den  Verfall  muss  man  ihren  Ur- 
sachen nach  schon  viel  früher,  als  in  der  Periode,  in  welcher  sie 
offenbar  wurden,  aufsuchen.  Die  Römische  Sprache  wurde  schon 
während  des  Bestehens  der  Grösse  des  Reichs  in  den  Provinzen 
und  nach  Verschiedenheit  derselben  anders,   als   in    Latium  und 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      243 

der  Herrscherstadt  gesprochen.  Selbst  in  diesen  ursprünghchen 
Wohnsitzen  der  Nation  mochte  die  Volkssprache  Eigenthümlich- 
keiten  an  sich  tragen,  die  erst  spat  nach  dem  Sinken  der  ge- 
bildeten allgemeiner  zum  Vorschein  kamen.  Es  entstanden  natür- 
lich Abweichungen  der  Aussprache,  Soloecismen  in  den  Construc- 
tionen,  ja  wahrscheinlich  schon  Erleichterungen  der  Formen  durch 
Hülfswörter  da,  wo  die  gebildete  Sprache  sie  gar  nicht  oder  nur 
in  ganz  einzelnen  Ausnahmen  zuliess.  Die  Volkseigenthümlich- 
keiten  mussten  überwiegend  werden,  als  die  letztere  sich  bei  dem 
Verfalle  des  Gemeinwesens  nicht  mehr  durch  Literatur  und  münd- 
lichen öffentlichen  Gebrauch  auf  ihrer  Höhe  getragen  fühlte.*)  Die 
provincielle  Entartung  gieng  immer  weiter,  je  lockrer  die  Bande 
wurden,  welche  die  Provinzen  mit  dem  Ganzen  verknüpften. 

Diesen  doppelten  Verfall  steigerten  endlich  die  fremden  Ein- 
wanderungen auf  den  höchsten  Punkt.  Es  war  nun  nicht  mehr 
ein  blosses  Ausarten  der  herrschend  gewesenen  Sprache,  sondern 
ein  Abwerfen  und  Zerschlagen  ihrer  wesentlichsten  Formen,  oft 
ein  wahres  Misverstehen  derselben,  immer  aber  zugleich  ein 
Unterschieben  neuer  Erhaltungsmittel  der  Einheit  der  Rede,  ge- 
schöpft aus  dem  vorhandenen  Vorrathe,  allein  oft  widersinnig 
verknüpft.  Mitten  in  allen  diesen  Veränderungen  blieb  aber  in 
der  untergehenden  Sprache  das  wesentliche  Princip  ihres  Baues, 
die  reine  Unterscheidung  des  Sach-  und  Beziehungsbegriffs  und 
das  Bedürfniss,  beiden  den  ihnen  eigenthümlichen  Ausdruck  zu 
verschaffen,  und  im  Volke  das  durch  die  Gewohnheit  von  Jahr- 
hunderten tief  eingedrungene  Gefühl  hiervon.  An  jedem  Bruch- 
stück der  Sprache  haftete  dies  Gepräge;  es  hätte  sich  nicht  aus- 
tilgen lassen,  w^enn  die  Völker  es  auch  verkannt  hätten.  Es  lag 
jedoch  in  diesen  selbst,  es  aufzusuchen,  zu  enträthseln  und  zum 
Wiederaufbau  anzuwenden.  In  dieser,  aus  der  allgemeinen  Natur 
des  Sprachsinnes  selbst  entspringenden  Gleichförmigkeit  der  neuen 
Umbildung,  verbunden  mit  der  Einheit  der  in  Absicht  des  Gram- 
matischen unvermischt  gebliebenen  Muttersprache,  muss  man  die 
Erklärung  der  Erscheinung  suchen,  dass  das  Verfahren  der  Roma- 
nischen Sprachen  in  ganz  entfernten  Länderstrichen  sich  so  gleich 
bleibt  und  oft  durch  ganz  einzelne  Uebereinstimmungen  überrascht. 


*)  Man  vergleiche    hierüber,    so    wie   bei    diesem    ganzen  Abschnitt,    Diefenbach's 
höchst  lesenswerthe  Schrift  über  die  jetzigen  Romanischen  Schriftsprachen.') 
y  Sie  war  Leipzig  i8ßi  erschienen. 

16* 


2AA.  ^*    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Es  sanken  Formen,  nicht  aber  die  Form,  die  vielmehr  ihren  alten 
Geist  über  die  neuen  Umgestaltungen  ausgoss. 

Denn  wenn  in  diesen  neueren  Sprachen  eine  Praeposition  einen 
Casus  ersetzt,  so  ist  der  Fall  nicht  dem  gleich,  wenn  in  einer  nur 
Partikeln  anfügenden  ein  Wort  den  Casus  andeutet.  Mag  auch 
die  ursprüngliche  Sachbedeutung  desselben  verloren  gegangen  seyn, 
so  drückt  es  doch  nicht  rein  eine  Beziehung  bloss  als  solche  aus, 
weil  der  ganzen  Sprache  diese  Ausdrucksweise  nicht  eigenthümlich 
ist,  ihr  Bau  nicht  aus  der  innren  Sprachansicht,  welche  rein  und 
energisch  auf  scharfe  Abgränzung  der  Redetheile  dringt,  herfloss 
und  der  Geist  der  Nation  ihre  Bildungen  nicht  von  diesem  Stand- 
punkte aus  in  sich  aufnimmt.  In  der  Römischen  Sprache  war  dies 
Letztere  genau  und  vollkommen  der  Fall.  Die  Praepositionen 
bildeten  ein  Ganzes  solcher  Beziehungen,  jede  forderte  nach  ihrer 
Bedeutung  einen  ihr  geeigneten  Casus ;  nur  mit  diesem  zusammen 
bezeichnete  sie  das  Verhältniss.  Diese  schöne  Uebereinstimmung 
nahmen  die  ihrem  Ursprünge  nach  entarteten  Sprachen  nicht  in 
sich  auf.  Allein  das  Gefühl  davon,  die  Anerkennung  der  Praepo- 
sition als  eines  eignen  Redetheiles,  ihre  wahre  Bedeutsamkeit 
giengen  nicht  mit  unter  und  dies  ist  keine  bloss  willkührliche 
Annahme.  Es  ist  auf  nicht  zu  verkennende  Weise  in  der  Ge- 
staltung der  ganzen  Sprache  sichtbar,  die  eine  Menge  von  Lücken 
in  den  einzelnen  Formen,  aber  im  Ganzen  Formalität  an  sich 
trägt,  ihrem  Principe  nach  nicht  weniger,  als  ihre  Stammmutter 
selbst  Flexionssprache  ist.  Das  Gleiche  findet  sich  im  Gebrauche 
des  Verbum.  Wie  mangelhaft  seine  Formen  seyn  mögen,  so  ist 
seine  synthetisch  setzende  Kraft  dennoch  dieselbe,  da  die  Sprache 
seine  Scheidung  vom  Nomen  einmal  unauslöschbar  in  ihrem  Ge- 
präge trägt.  Auch  das  in  unzähligen  Fällen,  wo  es  die  Mutter- 
sprache nicht  selbstständig  ausdrückt,  gebrauchte  Pronomen  ent- 
spricht dem  Gefühl  nach  dem  wahren  Begriff  dieses  Redetheils. 
Wenn  es  in  Sprachen,  denen  die  Bezeichnung  der  Personen  am 
Verbum  fehlt,  sich  als  Sachbegriff  vor  das  Verbum  stellt,  so  ist 
es  in  den  Lateinischen  Töchtersprachen  seinem  Begriffe  nach 
wirklich  die  nur  abgelöste,  anders  gestellte  Person.  Denn  die 
Unzertrennlichkeit  des  Verbum  und  der  Person  liegt  von  der 
Stammmutter  her  fest  in  der  Sprache  und  beurkundet  sich  sogar 
in  der  Tochter  durch  einzelne  übrig  gebliebene  Endlaute.  Ueber- 
haupt  kommt  in  dieser,  wie  in  allen  Flexionssprachen,  die  stell- 
vertretende Function  des  Pronomen  mehr  an   das  Licht,   und   da 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      24^^ 

diese  zur  reinen  Auffassung  des  Relativpronomen  führt,  so  wird 
die  Sprache  auch  dadurch  in  den  richtigen  Gebrauch  dieses  letz- 
teren eingeführt.  Ueberall  kehrt  daher  dieselbe  Erscheinung  zurück. 
Die  zertrümmerte  Form  ist  in  ganz  verschiedner  Weise  wieder 
aufgebaut,  aber  ihr  Geist  schwebt  noch  über  der  neuen  Bildung 
und  beweist  die  schwer  zerstörbare  Dauer  des  Lebensprincips  acht 
grammatisch  gebildeter  Sprachstämme. 

Bei  aller  Gleichförmigkeit  der  Behandlung  des  umgebildeten 
Stoffes,  welche  die  Lateinischen  Töchtersprachen  im  Ganzen  bei- 
behalten, liegt  doch  einer  jeden  einzelnen  ein  besondres  Princip 
in  der  individuellen  Auffassung  zum  Grunde.  Die  unzähligen 
Einzelnheiten,  welche  der  Gebrauch  der  Sprache  nothwendig 
macht,  müssen,  wie  ich  im  Vorigen  wiederholt  angedeutet  habe, 
wo  und  wie  immer  gesprochen  werden  soll,  in  eine  Einheit  ver- 
knüpft werden  und  diese  kann,  da  die  Sprache  ihre  Wurzeln  in 
alle  Fibern  des  menschlichen  Geistes  einsenkt,  nur  eine  individuelle 
seyn.  Dadurch  allein,  dass  ein  verändertes  Einheitsprincip,  eine 
neue  Auffassung  von  dem  Geiste  eines  Volkes  vorgenommen  wird, 
tritt  eben  eine  neue  Sprache  in  die  Wirklichkeit,  und  wo  eine 
Nation  auf  ihre  Sprache  mächtig  einwirkende  Umwälzungen  er- 
fährt, muss  sie  die  veränderten  oder  neuen  Elemente  durch  neue 
Formung  zusammenfassen.  Wir  haben  oben  von  dem  Momente 
im  Leben  der  Nationen  geredet,  in  welchem  ihnen  die  Möglich- 
keit klar  wird,  die  Sprache,  unabhängig  von  äusserem  Gebrauche, 
zum  Aufbau  eines  Ganzen  der  Gedanken  und  der  Gefühle  hin- 
zuwenden. Wenn  auch  das  Entstehen  einer  Literatur,  das  wir 
hier  in  seinem  eigentlichen  Wesen  und  vom  Standpunkte  seiner 
letzten  Vollendung  aus  bezeichnet  haben,  in  der  That  nur  all- 
mählich und  aus  dunkel  empfundenem  Triebe  hervorgeht,  so  ist 
doch  der  Beginn  immer  ein  eigenthümlicher  Schwung,  ein  von 
innen  heraus  entstehender  Drang  eines  Zusammenwirkens  der 
Form  der  Sprache  und  der  individuellen  des  Geistes,  aus  welchem 
die  ächte  und  reine  Natur  beider  zurückstrahlt  und  der  keinen 
andren  Zweck,  als  eben  dies  Zurückstrahlen  hat.  Die  Entwick- 
lungsart dieses  Dranges  wird  die  Ideenbahn,  welche  die  Nation 
bis  zum  Verfall  ihrer  Sprache  durchläuft.  Es  ist  dies  gleichsam 
eine  zweite,  höhere  Verknüpfung  der  Sprache  zur  Einheit,  und 
wie  diese  sich  zur  Bildung  der  äusseren,  technischen  Form  ver- 
hält, ist  oben  bei  Gelegenheit  des  Charakters  der  Sprachen  näher 
erörtert  worden. 


2Aß  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menscblichea  Sprachbaues 

Bei  dem  Uebergange  der  Römischen  Sprache  in  die  neueren, 
aus  ihr  entstandenen  ist  diese  zwiefache  Behandlung  der  Sprache 
sehr  deutlich  zu  unterscheiden.  Zwei  der  letzteren,  die  Rhäto- 
und  Dako-Ro manische,  sind  der  wissenschaftlichen  nicht  theilhaft 
geworden,  ohne  dass  sich  sagen  lässt,  dass  ihre  technische  Form 
hinter  den  übrigen  zurückstände.  Vielmehr  hat  gerade  die  Dako- 
Romanische  am  meisten  Flexionen  der  Muttersprache  beibehalten 
und  nähert  sich  ausserdem  in  der  Behandlung  derselben  der  Ita- 
lienischen. Der  Fehler  lag  also  hier  nur  an  äusseren  Umständen, 
am  Mangel  von  Ereignissen  und  Lagen,  welche  den  Schwung  ver- 
anlassten, die  Sprache  zu  höheren  Zwecken  zu  gebrauchen. 

Dasselbe  war,  wenn  wir  zu  einem  Falle  ähnlicher  Art  über- 
gehen, unstreitig  die  Ursach,  dass  sich  aus  dem  Verfall  des  Griechi- 
schen nicht  eine  durch  neue  Eigenthümlichkeit  hervorstechende 
Sprache  erzeugte.  Denn  sonst  ist  die  Bildung  des  Neugriechischen 
in  Vielem  der  der  Romanischen  Sprachen  sehr  ähnlich.  Da  diese 
Umbildungen  grossentheils  im  natürlichen  Laufe  der  Sprache 
liegen  und  beide  Muttersprachen  den  gleichen  grammatischen 
Charakter  an  sich  tragen,  so  ist  diese  Aehnlichkeit  leicht  erklärbar, 
macht  aber  die  Verschiedenheit  im  letzten  Erfolge  noch  auf- 
fallender, Griechenland,  als  Provinz  eines  sinkenden,  oft  Ver- 
heerungen durch  fremde  Völkerzüge  ausgesetzten  Reiches,  konnte 
nicht  die  blühend  sich  emporschwingende  Kraft  gewinnen,  welche 
im  Abendlande  die  Frische  und  Regsamkeit  neu  sich  bildender 
innerer  und  äusserer  Verhältnisse  erzeugte.  Mit  den  neuen  gesell- 
schaftlichen Einrichtungen,  dem  gänzlichen  Aufhören  des  Zu- 
sammenhanges mit  einem  in  sich  zerfallenen  Staatskörper  und 
verstärkt  durch  die  Hinzukunft  kräftiger  und  muthvoller  Völker- 
stämme, mussten  die  abendländischen  Nationen  in  allen  Thätig- 
keiten  des  Geistes  und  des  Charakters  neue  Bahnen  betreten.  Die 
sich  hieraus  hervorbildende  neue  Gestaltung  führte  zugleich  eine 
Verbindung  religiösen,  kriegerischen  und  dichterischen  Sinnes  mit 
sich,  welche  auf  die  Sprache  den  glücklichsten  und  entschiedensten 
Einfluss  ausübte.  Es  blühte  diesen  Nationen  eine  neue  poetisch 
schöpferische  Jugend  auf  und  ihr  Zustand  hierin  wurde  gewisser- 
massen  dem  ähnlich,  der  sonst  durch  das  Dunkel  der  Vorzeit  von 
uns  getrennt  ist. 

So  gewiss  man  aber  auch  diesem  äusseren  historischen  Um- 
schwünge das  Aufblühen  der  neueren  abendländischen  Sprachen 
und  Literaturen  zu   einer  Eigenthümlichkeit,   in   der  sie   mit  der 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      047 

Stammmutter  zu  wetteifern  vermögen,  zuschreiben  muss,  so  wirl^te 
doch,  wie  es  mir  scheint,  ganz  wesentlich  noch  eine  andere,  schon 
weiter  oben  (S.  243.)  im  Vorbeigehn  berührte  Ursach  mit,  deren 
Erwägung,  da  sie  besonders  die  Sprache  angeht,  ganz  eigentUch 
in  die  Reihe  dieser  Betrachtungen  gehört.  Die  Umänderung, 
welche  die  Römische  Sprache  erlitt,  war  ohne  allen  Vergleich 
tiefer  eingreifend,  gewaltiger  und  plötzlicher,  als  die,  welche  die 
Griechische  erfuhr.  Sie  glich  einer  wahren  Zertrümmerung,  da 
die  des  Griechischen  sich  mehr  in  den  Schranken  bloss  einzelner 
Verstümmelungen  und  Formenauflösungen  erhielt.  Alan  erkennt 
an  diesem  Beispiele  eine,  auch  durch  andere  in  der  Sprach- 
geschichte bestätigte,  doppelte  Möglichkeit  des  Ueberganges  einer 
formenreichen  Sprache  in  eine  formlosere.  In  der  einen  zerfällt 
der  kunstvolle  Bau  und  w^rd,  nur  weniger  vollkommen,  wieder- 
geschaffen. In  der  anderen  werden  der  sinkenden  Sprache  nur 
einzelne,  wieder  vernarbende  Wunden  geschlagen;  es  entsteht 
keine  reine  neue  Schöpfung,  die  veraltete  Sprache  dauert,  nur  in 
beklagenswerther  Entstellung,  fort.  Da  das  Griechische  Kaiser- 
thum  seiner  Hinfälligkeit  und  Schwäche  ungeachtet  noch  lange 
bestand,  so  dauerte  auch  die  alte  Sprache  länger  fort  und  stand, 
wie  ein  Schatz,  aus  dem  sich  immer  schöpfen,  ein  Kanon,  auf 
den  sich  immer  zurückkommen  liess,  noch  lange  da.  Nichts  be- 
weist so  überzeugend  den  Unterschied  zwischen  der  Neugriechi- 
schen und  den  Romanischen  Sprachen  in  diesem  Punkte,  als  der 
Umstand,  dass  der  Weg,  auf  welchem  man  die  erstere  in  der 
neuesten  Zeit  zu  heben  und  zu  läutern  versucht  hat,  immer  der 
der  möglichsten  Annäherung  an  das  Altgriechische  gewesen  ist. 
Selbst  einem  Spanier  oder  Italiener  konnte  der  Gedanke  einer 
solchen  Möglichkeit  nicht  beikommen.  Die  Romanischen  Nationen 
sahen  sich  wirklich  auf  neue  Bahnen  hingeschleudert  und  das 
Gefühl  des  unabweisHchen  Bedürfnisses  beseelte  sie  mit  dem 
Muthe,  sie  zu  ebnen  und  in  den  ihrem  individuellen  Geiste  an- 
gemessenen Richtungen  zum  Ziele  zu  führen,  da  eine  Rückkehr 
unmöglich  war.  \"on  einer  andren  Seite  aus  betrachtet,  befindet 
sich  aber  gerade  durch  diese  Verschiedenheit  die  Neugriechische 
Sprache  in  einer  günstigeren  Lage.  Es  besteht  ein  mächtiger 
Unterschied  zwischen  den  Sprachen,  welche,  wie  verwandt  auf- 
keimende desselben  Stammes,  auf  dem  Wege  innerer  Entwicklung 
aus  einander  fortspriessen,  und  zwischen  solchen,  die  sich  auf  dem 
Verfall   und   den  Trümmern  andrer,    also   durch   die  Einwirkung 


2aR  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

äusserer  Umstände   erheben.  .  In   den  ersteren,  durch  gewaltsame 
Revolutionen    und    bedeutende    Mischungen    mit    fremden    un- 
getrübten   lässt  sich   mehr   oder  weniger  von  jedem  Ausdrucl^e, 
Wort    oder  Form    aus   in   eine   unabsehbare  Tiefe  zurückgehen. 
Denn  sie  bewahren  grösstentheils  die  Gründe  derselben   in  sich 
und   nur  sie   können  sich   rühmen,   sich   selbst  zu   genügen  und 
innerhalb  ihrer  Gränzen  nachzuweisende  Consequenz  zu  besitzen. 
In  dieser  Lage  befinden  sich  Töchtersprachen  in  dem  Sinne,  wie 
es  die  Romanischen  sind,  offenbar  nicht.     Sie  ruhen  gänzlich  auf 
der  einen  Seite   auf  einer  nicht  mehr  lebenden,   auf  der  andren 
auf  fremden  Sprachen.     Alle  Ausdrücke   führen   daher,  wie  man 
ihrem  Ursprünge   nachgeht,   meistentheils   durch  eine  ganz  kurze 
Reihe   vermittelnder   Gestaltungen    auf  ein  fremdes,   dem  Volke 
unbekanntes  Gebiet.     Selbst  in  'dem,  wenig   oder  gar  nicht   mit 
fremden   Elementen  vermischten   grammatischen  Theil   lässt  sich 
die  Consequenz  der  Bildung,  auch  insofern  sie  wirklich  vorhanden 
ist,   immer  nur   mit   Bezugnahme   auf  die   fremde  Muttersprache 
darthun.    Das   tiefere  Verständniss   dieser  Sprachen,  ja  selbst  der 
Eindruck,  welchen   in   jeder  Sprache  der  innere  harmonische  Zu- 
sammenhang aller  Elemente   bewirkt,   ist   daher  durch   sie  selbst 
immer    nur    zur   Hälfte   möglich    und   bedarf  zu   seiner  Vervoll- 
ständigung eines,  dem  Volke,  das  sie  spricht,  unzugänglichen  Stoffes. 
In  beiden  Gattungen  von  Sprachen   kann  man  genöthigt  werden, 
auf  die   frühere  zurückzugehen.    Man  fühlt  aber  in  der  Art,   wie 
dies  geschieht,  den  Unterschied  genau,  wenn  man  vergleicht,  wie 
die  UnzulängHchkeit   der   eigenen  Erklärung   im  Römischen   auf 
Sanskritischen    Grund    und    Boden    und    im    Französischen    auf 
Römischen  führt.    Offenbar  mischt  sich  der  Umgestaltung  in  dem 
letzteren  Falle  mehr  durch  äussere  Einwirkung  entstandene  Will- 
kühr  bei   und  selbst   der  natürliche,   analogische   Gang,   der  sich 
allerdings   auch   hier  wieder  bildet,   hängt  an  der  Voraussetzung 
jener  äusseren  Einwirkung.    In  dieser,  hier  von  den  Romanischen 
Sprachen  geschilderten  Lage  befindet  sich  nun  das  Neugriechische, 
eben  weil  es  nicht  wirklich  zu  einer  eigentlich  neuen  Sprache  ge- 
worden ist,   gar  nicht   oder  doch   unendlich   weniger.    Von    der 
Mischung  mit   fremden  Wörtern  kann   es   sich   im  Verlaufe   der 
Zeit   befreien,   da  dieselben  mit  gewiss   wenig  zahlreichen  Aus- 
nahmen nicht  so  tief,  als  in  den  Romanischen  Sprachen,  in  sein 
wahres  Leben   eingedrungen   sind.    Sein  wirklicher  Stamm  aber, 
das  Altgriechische,   kann    auch    dem  Volke    nicht  als   fremd   er- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     34.      2A.Q 

scheinen.  Wenn  sich  das  \^olk  auch  nicht  mehr  in  das  Ganze 
seines  kunsn'ollen  Baues  hineinzudenken  vermag,  so  muss  es  doch 
die  Elemente  zum  grössten  Theil  als  auch  seiner  Sprache  an- 
gehörend erkennen. 

In  Absicht  auf  die  Xatur  der  Sprache  selbst  ist  der  hier  er- 
wähnte Unterschied  gewiss  bemerkenswerth.  Ob  er  auch  auf  den 
Geist  und  den  Charakter  der  Nation  einen  bedeutenden  Einfluss 
ausübt?  kann  eher  zweifelhaft  scheinen.  Man  kann  mit  Recht 
dagegen  einwenden,  dass  jede  über  den  jedesmal  gegenwärtigen 
Zustand  der  Sprache  hinausgehende  Betrachtung  dem  Volke  fremd 
ist,  dass  daher  die  auf  sich  selbst  ruhende  Erklärbarkeit  der  rein 
organisch  in  sich  geschlossenen  Sprachen  für  dasselbe  unfruchtbar 
bleibt  und  dass  jede  aus  einer  andren,  auf  welchem  Wege  es 
immer  sey,  entstandene,  aber  schon  Jahrhunderte  hindurch  fort- 
gebildete Sprache  eben  dadurch  eine  vollkommen  hinlängliche, 
auf  die  Nation  wirkende  Consequenz  gewinnt.  Es  lässt  sich  in 
der  That  denken,  dass  es  unter  den  früheren,  uns  als  Mutter- 
sprachen erscheinenden  Sprachen  auf  ähnliche  Art,  als  es  die 
Romanischen  sind,  entstandene  geben  könne,  obgleich  eine  sorg- 
fältige und  genaue  Zergliederung  uns  wohl  bald  ihre  Unerklär- 
barkeit  aus  ihrem  eignen  Gebiete  verrathen  dürfte.  Uniäugbar 
aber  liegt  in  dem  geheimen  Dunkel  der  Seelenbildung  und  des 
Forterbens  geistiger  Individualität  ein  unendlich  mächtiger  Zu- 
sammenhang zwischen  dem  Tongewebe  der  Sprache  und  dem 
Ganzen  der  Gedanken  und  Gefühle.  Unmöglich  kann  es  daher 
gleichgültig  seyn,  ob  in  ununterbrochener  Kette  die  Empfindung 
und  die  Gesinnung  sich  an  denselben  Lauten  hingeschlungen  und 
sie  mit  ihrem  Gehalte  und  ihrer  Wärme  durchdrungen  haben 
oder  ob  diese  auf  sich  selbst  ruhende  Reihe  von  Wirkungen  und 
Ursachen  gewaltsame  Störungen  erfährt.  Eine  neue  Consequenz 
bildet  sich  auch  hier  allerdings  und  die  Zeit  hat  in  den  Sprachen 
mehr,  als  sonst  im  menschlichen  Gemüthe  eine  Wunden  heilende 
Kraft.  Man  darf  aber  auch  nicht  vergessen,  dass  diese  Consequenz 
nur  allmählich  wieder  entsteht  und  dass  die,  ehe  sie  zur  Festigkeit 
gelangt,  lebenden  Generationen  auch  schon,  als  Ursachen  wirkend, 
in  die  Reihe  treten.  Es  erscheint  daher  durchaus  nicht  als 
einflusslos  auf  die  Tiefe  der  Geistigkeit,  die  Innigkeit  der  Em- 
pfindung und  die  Kraft  der  Gesinnung,  ob  ein  Volk  eine  ganz 
auf  sich  selbst  ruhende  oder  doch  eine  aus  rein  organischer  Fort- 
entwicklung hen^orgegangene  Sprache  redet  oder  nicht?   Es  sollte 


2C,0  ^'    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

daher  bei  der  Schilderung  von  Nationen,  welche  sich  im  letzteren 
Falle  befinden,  nicht  unerforscht  bleiben,  ob  und  inwiefern  das 
durch  den  Einfluss  ihrer  Sprache  gleichsam  gestörte  Gleichgewicht 
in  ihnen  auf  andere  Weise  wiederhergestellt,  ja  ob  und  wie  viel- 
leicht aus  der  nicht  abzuläugnenden  Unvollkommenheit  ein  neuer 
Vorzug  gewonnen  worden  ist? 


Rückblick   auf  den  bisherigen   Gang   der  Unter- 
suchung. 

35.         Wir  haben  jetzt  einen  der  Endpunkte  erreicht,  auf  welche  die 
gegenwärtige  Untersuchung  zu  führen  bestimmt  ist. 

Die  ganze  hier  von  der  Sprache  gegebene  Ansicht  beruht,  um 
das  bis  hierher  Erörterte,  soweit  es  die  Anknüpfung  des  Folgenden 
erfordert,  kurz  ins  Gedächtniss  zurückzurufen,  wesentlich  darauf, 
dass  dieselbe  zugleich  die  nothwendige  Vollendung  des  Denkens 
und  die  natürliche  Entwicklung  einer  den  Menschen  als  solchen 
bezeichnenden  Anlage  ist.  Diese  Entwicklung  ist  aber  nicht  die 
eines  Instincts,  der  bloss  physiologisch  erklärt  werden  könnte. 
Ohne  ein  Act  des  unmittelbaren  Bewusstseyns,  ja  selbst  der  augen- 
blicklichen Spontaneität  und  der  Freiheit  zu  seyn,  kann  sie  doch 
nur  einem  mit  Bewusstseyn  und  Freiheit  begabten  Wesen  an- 
gehören und  geht  in  diesem  aus  der  ihm  selbst  unergründlichen 
Tiefe  seiner  Individualität  und  aus  der  Thätigkeit  der  in  ihm 
liegenden  Kräfte  hervor.  Denn  sie  hängt  durchaus  von  der 
Energie  und  der  Form  ab,  mit  und  in  welcher  der  Mensch  seiner 
gesammten  geistigen  Individualität,  ihm  selbst  unbewusst,  den 
treibenden  Anstoss  ertheilt.*)  Durch  diesen  Zusammenhang  mit 
einer  individuellen  Wirklichkeit,  so  wie  aus  anderen,  hinzukommen- 
den Ursachen  ist  sie  aber  zugleich  den,  den  Menschen  in  der 
Welt  umgebenden,  sogar  auf  die  Acte  seiner  Freiheit  Einfluss 
ausübenden  Bedingungen  unterworfen.  In  der  Sprache  nun,  in- 
sofern sie  am  Menschen  wirklich  erscheint,  unterscheiden  sich 
zwei  constitutive  Principe:  der  innere  Sprachsinn  (unter  welchem 
ich  nicht  eine  besondere  Kraft,  sondern  das  ganze  geistige  Ver- 
mögen, bezogen  auf  die  Bildung  und  den  Gebrauch  der  Sprache, 
also  nur  eine  Richtung  verstehe)  und  der  Laut,  insofern  er  von 
der   Beschaffenheit   der  Organe   abhängt    und    auf    schon   LJeber- 


*)  S.  oben  S.   16.   17.  40.  42.  43. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.    34- 35-    2:^1 

kommenem  beruht.  Der  innere  Sprachsinn  ist  das  die  Sprache 
von  innen  heraus  beherrschende,  überall  den  leitenden  Impuls 
gebende  Princip.  Der  Laut  würde  an  und  für  sich  der  passiven, 
Form  empfangenden  Materie  gleichen;  allein  vermöge  der  Durch- 
dringung durch  den  Sprachsinn  in  articulirten  umgewandelt 
und  dadurch 'in  untrennbarer  Einheit  und  immer  gegenseitiger 
Wechselwirkung  zugleich  eine  intellectuelle  und  sinnliche  Kraft 
in  sich  fassend,  wird  er  zu  dem  in  beständig  symbolisirender 
Thätigkeit  wahrhaft  und  scheinbar  sogar  selbstständig  schaffen- 
den Princip  in  der  Sprache.  Wie  es  überhaupt  ein  Gesetz  der 
Existenz  des  Menschen  in  der  Welt  ist,  dass  er  nichts  aus  sich 
hinauszusetzen  vermag,  das  nicht  augenblicklich  zu  einer  auf  ihn 
zurückwirkenden  und  sein  ferneres  Schaifen  bedingenden  Masse 
wird,  so  verändert  auch  der  Laut  wiederum  die  Ansicht  und  das 
Verfahren  des  inneren  Sprachsinnes.  Jedes  fernere  Schaffen  be- 
wahrt also  nicht  die  einfache  Richtung  der  ursprünglichen  Kraft, 
sondern  nimmt  eine,  aus  dieser  und  der  durch  das  früher  Ge- 
schaffene gegebenen  zusammengesetzte  an.  Da  die  Naturanlage 
zur  Sprache  eine  allgemeine  des  Menschen  ist  und  Alle  den 
Schlüssel  zum  Verständniss  aller  Sprachen  in  sich  tragen  müssen, 
so  folgt  von  selbst,  dass  die  Form  aller  Sprachen  sich  im  Wesent- 
lichen gleich  sevn  und  immer  den  allgemeinen  Zweck  erreichen 
muss.  Die  Verschiedenheit  kann  nur  in  den  Mitteln  und  nur 
innerhalb  der  Gränzen  liegen,  welche  die  Erreichung  des  Zweckes 
verstattet.  Sie  ist  aber  mannigfaltig  in  den  Sprachen  vorhanden 
und  nicht  allein  in  den  blossen  Lauten,  so  dass  dieselben  Dinge 
nur  anders  bezeichnet  würden,  sondern  auch  in  dem  Gebrauche, 
welchen  der  Sprachsinn  in  Absicht  der  Form  der  Sprache  von 
den  Lauten  macht,  ja  in  seiner  eignen  Ansicht  dieser  Form. 
Durch  ihn  allein  sollte  zwar,  so  weit  die  Sprachen  bloss  formal 
sind,  nur  Gleichförmigkeit  in  ihnen  entstehen  können.  Denn  er 
muss  in  allen  den  richtigen  und  gesetzmässigen  Bau  verlangen, 
der  nur  Einer  und  ebenderselbe  seyn  kann.  In  der  Wirklichkeit 
aber  verhält  es  sich  anders,  theils  wegen  der  Rückwirkung  des 
Lautes,  theils  wegen  der  Individualität  des  inneren  Sinnes  in  der 
Erscheinung-^     Es  kommt  nemlich  auf  die  Energie  der  Kraft  an. 


V  Dieser  Satz  hieß  ursprünglich :  „Aus  seiner  Beziehung  auf  den  Laut  ent- 
springt aber  nothwendig  Verschiedenheit,  theils  und  vorzugsweise  durch  den  Laut, 
theils  aber  auch  in  der  That  durch  den  innren  Sprachsinn  selbst.'^ 


2r2  ^-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

mit  welcher  er  auf  den  Laut  einwirkt  und  denselben  in  allen, 
auch  den  feinsten  Schattirungen  zum  lebendigen  Ausdruck  des 
Gedanken  macht.  Diese  Energie  kann  aber  nicht  überall  gleich 
seyn,  nicht  überall  gleiche  Intensität,  Lebendigkeit  und  Gesetz- 
mässigkeit offenbaren.  Sie  wird  auch  nicht  immer  durch  gleiches 
Hinneigen  zur  symbolischen  Behandlung  des  Gedanken  und  durch 
gleiches  ästhetisches  Gefallen  an  Lautreich thum  und  Einklang 
unterstützt.^)  Dennoch  bleibt  das  Streben  des  inneren  Sprach- 
sinns immer  auf  Gleichheit  in  den  Sprachen  gerichtet  und  auch 
abbeugende  Formen  sucht  seine  Herrschaft  auf  irgend  eine  Weise 
zur  richtigen  Bahn  zurückzuleiten.  Dagegen  ist  der  Laut  wahr- 
haft das  die  Verschiedenheit  vermehrende  Princip.  Denn  er  hängt 
von  der  Beschaffenheit  der  Organe  ab,  welche  hauptsächlich  das 
Alphabet  bildet,  das,  wie  eine  gehörig  angestellte  Zergliederung 
beweist,  die  Grundlage  jeder  Sprache  ist.  Gerade  der  articulirte 
hat  ferner  seine,  ihm  eigenthümlichen,  theils  auf  Leichtigkeit, 
theils  auf  Wohlklang  der  Aussprache  gegründeten  Gesetze  und 
Gewohnheiten,  die  zwar  auch  wieder  Gleichförmigkeit  mit  sich 
führen,  allein  in  der  besonderen  Anwendung  nothwendig  Ver- 
schiedenheiten bilden.  Er  muss  sich  endlich,  da  wir  es  nirgends 
mit  einer  isolirt,  rein  von  neuem  anfangenden  Sprache  zu  thun 
haben,  immer  an  Vorhergegangenes  oder  Fremdes  anschliessen. 
In  diesem  allem  zusammengenommen  liegen  die  Gründe  der  noth- 
wendigen  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues.  Die 
Sprachen  können  nicht  den  nemlichen  an  sich  tragen,  weil  die 
Nationen,  die  sie  reden,  verschieden  sind  und  eine  durch  ver- 
schiedene Lagen  bedingte  Existenz  haben. 

In  der  Betrachtung  der  Sprache  an  sich  muss  sich  eine  Form 
offenbaren,  die  unter  allen  denkbaren  am  meisten  mit  den  Zwecken 
der  Sprache  übereinstimmt,  und  man  muss  die  Vorzüge  und 
Mängel  der  vorhandenen  nach  dem  Grade  beurtheilen  können,  in 
welchem  sie   sich   dieser  einen  Form   nähern.    Diesen  Weg  ver- 


V  Diese  beiden  Sätze  hießen  ursprünglich:  „Diese  Energie  kann  aber  nicht 
überall  gleich  seyn.  Sie  hängt  auch  wieder  auf  eine  zwiefache  Weise  von  der 
geistigen  Individualität  der  Sprechenden  ab.  Einmal  von  ihrer  Stärke,  Lebendig- 
keit und  Gesetzmässigkeit  als  Sprachsinn  selbst,  der  nichts  andres  als  das  ganze 
auf  die  Sprache  bezogene  geistige  Vermögen  ist,  dann  aber  von  den  sich  näher 
auf  die  Sprache  beziehenden  Beschaffenheiten  durch  das  Hinneigen  zur  sym- 
bolischen Behandlung  des  Gedanken  in  dem  Worte  und  durch  das  aesthetische 
Gefallen  an  Lautreichthum  und  Einklang." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     35.      2^^ 

folgend,  haben  wir  gefunden,  dass  diese  Form  nothwendig  die- 
jenige ist,  welche  dem  allgemeinen  Gange  des  menschlichen  Geistes 
am  meisten  zusagt,  sein  Wachsthum  durch  die  am  meisten  ge- 
regelte Thätigkeit  befördert  und  das  verhältnissmässige  Zusammen- 
stimmen aller  seiner  Richtungen  nicht  bloss  erleichtert,  sondern 
durch  zurückwirkenden  Reiz  lebendiger  hervorruft.  Die  geistige 
Thätigkeit  hat  aber  nicht  bloss  den  Zweck  ihrer  inneren  Erhöhung. 
Sie  wird  auf  der  Verfolgung  dieser  Bahn  auch  nothwendig  zu 
dem  äusseren  hingetrieben,  ein  wissenschaftliches  Gebäude  der 
Weltauffassung  aufzuführen  und  von  diesem  Standpunkte  aus 
wieder  schaffend  zu  wirken.  Auch  dies  haben  wir  in  Betrachtung 
gezogen  und  es  hat  sich  unverkennbar  gezeigt,  dass  diese  Er- 
weiterung des  menschlichen  Gesichtskreises  am  besten  oder  viel- 
mehr allein  an  dem  Leitfaden  der  vollkommensten  Sprachform 
gedeiht.  Wir  sind  daher  in  diese  genauer  eingegangen  und  ich 
habe  versucht,  die  Beschaffenheit  dieser  Form  in  den  Punkten 
nachzuweisen,  in  welchen  das  Verfahren  der  Sprache  sich  zur 
unmittelbaren  Erreichung  ihrer  letzten  Zwecke  zusammenschliesst. 
Die  Frage,  wie  die  Sprache  es  macht,  um  den  Gedanken  im  ein- 
fachen Satze  und  in  der,  viele  Sätze  in  sich  verflechtenden  Periode 
darzustellen,  schien  hier  die  einfachste  Lösung  der  Aufgabe  ihrer 
Würdigung  zugleich  nach  ihren  inneren  und  äusseren  Zwecken 
hin  darzubieten.  Von  diesem  \^erfahren  Hess  sich  aber  zugleich 
auf  die  nothwendige  Beschaffenheit  der  einzelnen  Elemente  zurück- 
gehn.  Dass  ein  vorhandener  Sprachstamm  oder  auch  nur  eine 
einzelne  Sprache  eines  solchen  durchaus  und  in  allen  Punkten 
mit  der  vollkommenen  Sprachform  übereinstimme,  lässt  sich  nicht 
erwarten  und  findet  sich  wenigstens  nicht  in  dem  Kreise  unserer 
Erfahrung.  Die  Sanskritischen  Sprachen  aber  nähern  sich  dieser 
Form  am  meisten  und  sind  zugleich  die,  an  welchen  sich  die 
geistige  Bildung  des  Menschengeschlechts  in  der  längsten  Reihe 
der  Fortschritte  am  glücklichsten  entwickelt  hat.  Wir  können 
sie  mithin  als  einen  festen  Vergleichungspunkt  für  alle  übrigen 
betrachten. 


Von   der  rein   gesetzmässigen   Form   abweichende 

Sprachen. 

Diese  letzteren  lassen  sich  nicht  gleich  einfach  darstellen.    Da 
sie  nach  denselben  Endpunkten,   als  die  rein   gesetzmässigen  hin- 


21.A.  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Streben,  dies  Ziel  aber  nicht  in  gleichem  Grade  oder  nicht  auf 
richtigem  Wege  erreichen,  so  kann  in  ihrem  Baue  keine  so  klar 
hervorleuchtende  Consequenz  herrschen.  Wir  haben  oben  zur 
Erreichung  der  Satzbildung  ausser  der,  aller  grammatischen 
Formen  entrathenden  Chinesischen  Sprache  drei  mögliche  Formen 
der  Sprachen  aufgestellt,  die  flectirende,  agglutinirende  und  die 
einverleibende.  Alle  Sprachen  tragen  eine  oder  mehrere  dieser 
Formen  in  sich  und  es  kommt  zur  Beurtheilung  ihrer  relativen 
Vorzüge  darauf  an,  wie  sie  jene  abstracten  Formen  in  ihre  con- 
crete  aufgenommen  haben  oder  vielmehr  welches  das  Princip 
dieser  Annahme  oder  Mischung  ist?  Diese  Unterscheidung  der 
abstracten  möglichen  Sprachformen  von  den  concreten  wirklich 
vorhandenen  wird,  wie  ich  mir  schmeichle,  schon  dazu  beitragen, 
den  befremdenden  Eindruck  des  Heraushebens  einiger  Sprachen, 
als  der  allein  berechtigten,  welches  die  andren  ebendadurch  zu 
unvollkommneren  stempelt,  zu  vermindern.  Denn  dass  unter  den 
abstracten  die  flectirende  die  allein  richtige  genannt  werden  kann, 
dürfte  nicht  leicht  bestritten  werden.  Das  hierdurch  über  die 
andren  gefällte  Urtheil  trifft  aber  nicht  in  gleichem  Masse  auch 
die  concreten  vorhandenen  Sprachen,  in  welchen  nicht  ausschliess- 
lich Eine  jener  Formen  herrschend,  dagegen  immer  ein  sichtbares 
Streben  nach  der  richtigen  lebendig  ist.  Dennoch  bedarf  dieser 
Punkt  noch  einer  genaueren  rechtfertigenden  Erörterung. 

Wohl  sehr  allgemein  dürfte  bei  denen,  die  sich  im  Besitz  der 
Kenntniss  mehrerer  Sprachen  befinden,  die  Empfindung  die  seyn, 
dass,  insofern  diese  letzteren  auf  gleichem  Grade  der  Cultur 
stehen,  jeder  ihr  eigenthümliche  Vorzüge  gebühi:en,  ohne  dass 
einer  der  entschiedene  Vorzug  über  die  andren  eingeräumt  werden 
könne.  Hiermit  nun  steht  die  in  den  gegenwärtigen  Betrachtungen 
aufgestellte  Ansicht  in  directem  Gegensatze ;  sie  dürfte  aber  Vielen 
um  so  zurückstossender  erscheinen,  als  das  Bemühen  eben  dieser 
Betrachtungen  vorzugsweise  dahin  geht,  den  engen  und  un- 
trennbaren Zusammenhang  zwischen  den  Sprachen  und  dem 
geistigen  Vermögen  der  Nationen  zu  beweisen.  Dasselbe  zurück- 
weisende Urtheil  über  die  Sprachen  scheint  daher  auch  die  Völker 
zu  treffen.  Hier  bedarf  es  jedoch  einer  genaueren  Unterscheidung. 
Wir  haben  im  Vorigen  schon  bemerkt,  dass  die  Vorzüge  der 
Sprachen  zwar  allgemein  von  der  Energie  der  geistigen  Thätigkeit 
abhängen,  indess  doch  noch  ganz  besonders  von  der  eigenthüm- 
lichen   Hinneigung   dieser   zur  Ausbildung   des   Gedanken   durch 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Mensciiengeschlechts.     35.      2C,C, 

den  Laut.  Eine  unvollkommnere  Sprache  beweist  daher  zunächst 
nur  den  geringeren  auf  sie  gerichteten  Trieb  der  Nation,  ohne 
darum  über  andere  intellectuelle  Vorzüge  derselben  zu  entscheiden. 
Ueberall  sind  wir  zuerst  rein  von  dem  Baue  der  Sprachen  aus- 
gegangen und  zur  Bildung  eines  Urtheils  über  ihn  auch  nur  bei 
ihm  selbst  stehen  geblieben.  Dass  nun  dieser  Bau  dem  Grade 
nach  vorzüglicher  in  der  einen,  als  in  der  andren  sey,  im  Sanskrit 
mehr,  als  im  Chinesischen,  im  Griechischen  mehr,  als  im  Arabischen, 
dürfte  von  unparteiischen  Forschern  schwerlich  geläugnet  werden. 
Wie  man  es  auch  versuchen  möchte,  Vorzüge  gegen  Vorzüge  ab- 
zuwägen, so  würde  man  doch  immer  gestehen  müssen,  dass  ein 
fruchtbareres  Princip  der  Geistesentwicklung  die  einen,  als  die 
anderen  dieser  Sprachen  beseelt.  Nun  aber  müsste  man  alle  Be- 
ziehungen des  Geistes  und  der  Sprache  zu  einander  verkennen, 
wenn  man  nicht  die  verschiedenartigen  Folgerungen  hieraus  auf 
die  Rückwirkung  dieser  Sprachen  und  auf  die  Intellectualität  der 
Völker  ausdehnen  wollte,  welche  sie  (so  viel  dies  überhaupt  inner- 
halb des  menschlichen  Vermögens  liegt)  gebildet  haben.  Von 
dieser  Seite  rechtfertigt  sich  daher  die  aufgestellte  Ansicht  voll- 
kommen. Es  lässt  sich  jedoch  hiergegen  noch  der  Einwand  er- 
heben, dass  einzelne  Vorzüge  der  Sprache  auch  einzelne  in- 
tellectuelle Seiten  vorzugsweise  auszubilden  im  Stande  sind  und 
dass  die  geistigen  Anlagen  der  Nationen  selbst  weit  mehr  nach 
ihrer  Mischung  und  Beschaffenheit  verschieden  sind,  als  sie  nach 
Graden  abgemessen  werden  können.  Beides  ist  unläugbar  richtig. 
Allein  der  wahre  Vorzug  der  Sprachen  muss  doch  in  ihrer  all- 
seitig und  harmonisch  einwirkenden  Kraft  gesucht  werden.  Sie 
sind  Werkzeuge,  deren  die  geistige  Thätigkeit  bedarf,  Bahnen,  in 
welchen  sie  fortrollt.  Sie  sind  daher  nur  dann  wahrhaft  wohl- 
thätig,  wenn  sie  dieselbe  nach  jeder  Richtung  hin  erleichternd 
und  begeisternd  begleiten,  sie  in  den  Mittelpunkt  versetzen,  aus 
welchem  sich  jede  ihrer  einzelnen  Gattungen  harmonisch  entfaltet. 
Wenn  man  daher  auch  gern  zugesteht,  dass  die  Form  der 
Chinesischen  Sprache  mehr,  als  vielleicht  irgend  eine  andere  die 
Kraft  des  reinen  Gedanken  herausstellt  und  die  Seele,  gerade 
weil  sie  alle  kleinen,  störenden  Verbindungslaute  abschneidet,  aus- 
schliesslicher und  gespannter  auf  denselben  hinrichtet,  wenn  die 
Lesung  auch  nur  weniger  Chinesischer  Texte  diese  Ueberzeugung 
bis  zur  Bewunderung  steigert,  so  dürften  doch  auch  die  ent- 
schiedensten  Vertheidiger    dieser  Sprache    schwerlich    behaupten, 


2  £,6  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

dass  sie  die  geistige  Thätigkeit  zu  dem  wahren  Mittelpunivt  hin- 
lenkt, aus  dem  Dichtung  und  Philosophie,  wissenschaftliche 
Forschung  und  beredter  Vortrag  gleich  willig  emporblühen. 

Von  welcher  Seite  der  Betrachtung  ich  daher  ausgehen  mag, 
kann  ich  immer  nicht  umhin,  den  entschiedenen  Gegensatz 
zwischen  den  Sprachen  rein  gesetzmässiger  und  einer  von  jener 
reinen  Gesetzmässigkeit  abweichenden  Form  deutlich  und  un- 
verholen aufzustellen.  Meiner  innigsten  Ueberzeugung  nach  wird 
dadurch  bloss  eine  unabläugbare  Thatsache  ausgedrückt.  Die, 
einzelne  Vortheile  gewährende  Trefflichkeit  auch  jener  abweichenden 
Sprachen,  die  Künstlichkeit  ihres  technischen  Baues  wird  nicht 
verkannt  noch  geringgeschätzt,  man  spricht  ihnen  nur  die  Fähig- 
keit ab,  gleich  geordnet,  gleich  allseitig  und  harmonisch  durch 
sich  selbst  auf  den  Geist  einzuwirken.  Ein  Verdammungsurtheil 
über  irgend  eine  Sprache,  auch  der  rohesten  Wilden,  zu  fällen, 
kann  niemand  entfernter  se3^n,  als  ich.  Ich  würde  ein  solches 
nicht  bloss  als  die  Menschheit  in  ihren  eigenthümlichsten  Anlagen 
entwürdigend  ansehen,  sondern  auch  als  unverträglich  mit  jeder, 
durch  Nachdenken  und  Erfahrung  von  der  Sprache  gegebenen 
richtigen  Ansicht.  Denn  jede  Sprache  bleibt  immer  ein  Abbild 
jener  ursprünglichen  Anlage  zur  Sprache  überhaupt,  und  um  zur 
Erreichung  der  einfachsten  Zwecke,  zu  welchen  jede  Sprache  noth- 
wendig  gelangen  muss,  fähig  zu  seyn,  wird  immer  ein  so  künst- 
licher Bau  erfordert,  dass  sein  Studium  nothwendig  die  Forschung 
an  sich  zieht,  ohne  noch  zu  gedenken,  dass  jede  Sprache  ausser 
ihrem  schon  entwickelten  Theil  eine  unbestimmbare  Fähigkeit 
sowohl  der  eignen  Biegsamkeit,  als  der  Hineinbildung  immer 
reicherer  und  höherer  Ideen  besitzt.  Bei  allem  hier  Gesagten 
habe  ich  die  Nationen  nur  auf  sich  selbst  beschränkt  vorausgesetzt. 
Sie  ziehen  aber  auch  fremde  Bildung  an  sich  und  ihre  geistige 
Thätigkeit  erhält  dadurch  einen  Zuwachs,  den  sie  nicht  ihrer 
Sprache  verdanken,  der  dagegen  dieser  zu  einer  Erweiterung  ihres 
eigenthümlichen  Umfanges  dient.  Denn  jede  Sprache  besitzt  die 
Geschmeidigkeit,  Alles  in  sich  aufnehmen  und  Allem  wieder  Aus- 
druck aus  sich  verleihen  zu  können.  Sie  kann  dem  Menschen 
niemals  und  unter  keiner  Bedingung  zur  absoluten  Schranke 
werden.  Der  Unterschied  ist  nur,  ob  der  Ausgangspunkt  der 
Krafterhöhung  und  Ideenerweiterung  in  ihr  selbst  liegt  oder  ihr 
fremd  ist,  mit  anderen  Worten,  ob  sie  dazu  begeistert  oder  sich 
nur  gleichsam  passiv  und  mitwirkend  hingiebt? 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.    35.  36.    21^7' 

Wenn  nun  ein  solcher  Unterschied  zwischen  den  Sprachen- 
vorhanden  ist,  so  fragt  es  sich,  an  welchen  Zeichen  er  sich  er- 
kennen lässt?  und  es  kann  einseitig  und  der  Fülle  des  Begriffs 
unangemessen  erscheinen,  dass  ich  ihn  gerade  in  der  grammatischen 
Methode  der  Satzbildung  aufgesucht  habe.  Es  ist  darum  keines- 
weges  meine  Absicht  gewesen,  ihn  darauf  zu  beschränken,  da  er 
gewiss  gleich  lebendig  in  jedem  Elemente  und  in  jeder  Fügung 
enthalten  ist.  Ich  bin  aber  vorsätzlich  auf  dasjenige  zurück- 
gegangen, was  gleichsam  die  Grundvesten  der  Sprache  ausmacht 
und  gleich  von  ganz  entschiedener  Wirkung  auf  die  Entfaltung 
der  Begriffe  ist.  Ihre  logische  Anordnung,  ihr  klares  Auseinander- 
treten, die  bestimmte  Dariegung  ihrer  Verhältnisse  zu  einander 
macht  die  unentbehrliche  Grundlage  aller,  auch  der  höchsten 
Aeusserungen  der  geistigen  Thätigkeit  aus,  hängt  aber,  wie  jedem 
einleuchten  muss,  wesentlich  von  jenen  verschiedenen  Sprach- 
methoden ab.  Mit  der  richtigen  geht  auch  das  richtige  Denken 
leicht  und  natürlich  von  statten,  bei  den  andren  findet  es 
Schwierigkeiten  zu  überwinden  oder  erfreut  sich  wenigstens  nicht 
einer  gleichen  Hülfe  der  Sprache.  Dieselbe  Geistesstimmung,  aus 
welcher  jene  drei  verschiedenen  Verfahrungsarten  entspringen,  er- 
streckt sich  auch  von  selbst  über  die  Formung  aller  übrigen 
Sprachelemente  und  wird  nur  an  der  Satzbildung  vorzugsweise 
erkannt.  Zugleich  endlich  eigneten  sich  gerade  diese  Eigen- 
thümlichkeiten  besonders,  factisch  an  dem  Sprachbau  dargelegt  zu 
werden,  ein  Umstand,  der  bei  einer  Untersuchung  vornehmlich 
wichtig  ist,  die  ganz  eigentlich  darauf  hinausgeht,  an  dem  That- 
sächlichen,  historisch  Erkennbaren  in  den  Sprachen  die  Form 
aufzufinden,  welche  sie  dem  Geiste  ertheilen  oder  in  der  sie  sich 
ihm  innerlich  darstellen. 


Beschaffenheit  und   Ursprung   des  weniger  voll- 
kommenen  Sprachbaues. 

Die  von  der,  durch  die  rein  gesetzmässige  Nothwendigkeit  36. 
vorgezeichneten  Bahn  abweichenden  Wege  können  von  unendlicher 
Mannigfaltigkeit  seyn.  Die  in  diesem  Gebiete  befangenen  Sprachen 
lassen  sich  daher  nicht  aus  Principien  erschöpfen  und  classificiren ; 
man  kann  sie  höchstens  nach  Aehnlichkeiten  in  den  hauptsäch- 
lichsten Theilen   ihres   Baues   zusammenstellen.     Wenn    es   aber 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  17 


2£:S  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

richtig  ist,  dass  der  naturgemässe  Bau  auf  der  einen  Seite  von 
fester  Worteinheit,  auf  der  andren  von  gehöriger  Trennung  der 
den  Satz  bildenden  Glieder  abhängt,  so  müssen  alle  Sprachen,  von 
denen  wir  hier  reden,  entweder  die  Worteinheit  oder  die  Freiheit 
der  Gedankenverbindung  schmälern  oder  endlich  diese  beiden 
Nachtheile  in  sich  vereinigen.  Hierin  wird  sich  immer  bei  der 
Vergleichung  auch  der  verschiedenartigsten  ein  allgemeiner  Mass- 
stab ihres  Verhältnisses  zur  Geistesentwicklung  finden  lassen.  Mit 
eigenthümlichen  Schwierigkeiten  verbunden  ist  die  Aufsuchung 
der  Gründe  solcher  Abweichungen  von  der  naturgemässen  Bahn. 
Dieser  lässt  sich  auf  dem  Wege  der  Begriffe  nachgehen,  die  Ab- 
irrung aber  beruht  auf  Individualitäten,  die  bei  dem  Dunkel,  in 
welches  sich  die  frühere  Geschichte  jeder  Sprache  zurückzieht,, 
nur  vermuthet  und  erahndet  werden  können.  Wo  der  unvoll- 
kommene Organismus  bloss  darin  liegt,  dass  der  innere  Sprach- 
sinn sich  nicht  überall  in  dem  Laute  hat  sinnlichen  Ausdruck  ver- 
schaffen können  und  daher  die  Formen  bildende  Kraft  dieses 
letzteren  vor  Erreichung  vollendeter  Formalität  ermattet  ist,  tritt 
allerdings  diese  Schwierigkeit  weniger  ein,  da  der  Grund  der  Un- 
vollkommenheit  alsdann  in  dieser  Schwäche  selbst  liegt.  Allein 
auch  solche  Fälle  stellen  sich  selten  so  einfach  dar  und  es  giebt 
andere  und  gerade  die  merkwürdigsten,  welche  sich  durchaus 
nicht  bloss  auf  diese  Weise  erklären  lassen.  Dennoch  muss  man 
die  Untersuchung  unermüdlich  bis  zu  diesem  Punkte  verfolgen,. 
wenn  man  es  nicht  aufgeben  will,  den  Sprachbau  in  seinen  ersten 
Gründen,  gleichsam  da,  wo  er  in  den  Organen  und  dem  Geiste 
Wurzel  schlägt,  zu  enthüllen.  Es  würde  unmöglich  seyn,  in  diese 
Materie  hier  irgend  erschöpfend  einzugehen.  Ich  begnüge  mich 
daher,  nur  einige  Augenblicke  bei  zwei  Beispielen  stehen  zu  bleiben, 
und  wähle  zu  dem  ersten  derselben  die  Semitischen  Sprachen,  vor- 
züglich aber  wieder  unter  diesen  die  Hebräische. 

Dieser  Sprachstamm  gehört  zwar  offenbar  zu  den  flectir^nden, 
ja  es  ist  schon  oben  bemerkt  worden,  dass  die  eigentlichste  Flexion,, 
im  Gegensatz  bedeutsamer  Anfügung,  gerade  in  ihm  wahrhaft  ein- 
heimisch ist.  Die  Hebräische  und  Arabische  Sprache  beurkunden 
auch  die  innere  TreffUchkeit  ihres  Baues,  die  erstere  durch  Werke 
des  höchsten  dichterischen  Schwunges,  die  letztere  noch  durch  eine 
reiche,  vielumfassende  wissenschaftliche  Literatur  neben  der  poeti- 
schen. Auch  an  sich,  bloss  technisch  betrachtet,  steht  der  Orga- 
nismus dieser  Sprachen  an  Strenge   der  Consequenz,  kunstvoller 


und  ihren  Einfiufl  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     36.      2C,ü 

Einfachheit  und  sinnreicher  Anpassung  des  Lautes  an  den  Ge- 
danken nicht  nur  keinem  andren  nach,  sondern  übertrifft  viel- 
leicht hierin  alle.  Dennoch  tragen  diese  Sprachen  zwei  Eigen- 
thümlichkeiten  an  sich,  welche  nicht  in  den  natürlichen  Forde- 
rungen, ja  man  kann  mit  Sicherheit  hinzusetzen,  kaum  den  Zu- 
lassungen der  Sprache  überhaupt  liegen.  Sie  verlangen  nemlich, 
wenigstens  in  ihrer  jetzigen  Gestaltung,  durchaus  drei  Consonanten 
in  jedem  Wortstamm  und  Consonant  und  Vocal  enthalten  nicht 
zusammen  die  Bedeutung  der  Wörter,  sondern  Bedeutung  und 
Beziehung  sind  ausschliesslich,  jene  den  Consonanten,  diese  den 
Vocalen  zugetheilt.  Aus  der  ersteren  dieser  Eigenthümlichkeiten 
entsteht  ein  Zwang  für  die  Wonform,  welchem  man  billig  die 
Freiheit  andrer  Sprachen,  namentlich  des  Sanskritischen  Stammes 
vorzieht.  Auch  bei  der  zweiten  jener  Eigenthümlichkeiten  finden 
sich  Nachtheile  gegen  die  Flexion  durch  Anfügung  gehörig  unter- 
geordneter Laute.  Man  muss  also  doch  meiner  Ueberzeugung 
nach  von  diesen  Seiten  aus  die  Semitischen  Sprachen  zu  den,  von 
der  angemessensten  Bahn  der  Geistesentwicklung  abweichenden 
rechnen.  Wenn  man  aber  nun  versucht,  den  Gründen  dieser 
Erscheinung  und  ihrem  Zusammenhange  mit  den  nationellen 
Sprachanlagen  nachzuspüren,  so  dürfte  man  schwerlich  zu  einem 
vollkommen  befriedigenden  Resultate  gelangen.  Es  erscheint  gleich 
zuerst  zweifelhaft,  welche  von  jenen  beiden  Eigenthümlichkeiten 
man  als  den  Bestimmungsgrund  der  andren  ansehen  soll?  Offen- 
bar stehen  beide  in  dem  innigsten  Zusammenhange.  Der  bei  drei 
Consonanten  mögliche  Syl benumfang  lud  gleichsam  dazu  ein,  die 
mannigfaltigen  Beziehungen  der  Wörter  durch  Vocalwechsel  an- 
zudeuten, und  wenn  man  die  Vocale  ausschliesslich  hierzu  be- 
stimmen wollte,  so  konnte  man  den  nothwendigen  Reichthum  an 
Bedeutungen  nur  durch  mehrere  Consonanten  in  demselben  Worte 
erreichen.^)    Die  hier  geschilderte  Wechselwirkung  aber  ist  mehr 

V  Nach  „erreichen"  gestrichen:  „Legt  man  aber  eine  solche  Consonanten- 
fiigiing  zum  Grunde,  so  ist  man  in  Verlegenheit  zu  erklären,  theils  wie  ein  Volk 
gerade  auf  diese  Form  gerieth,  theils  warum  es  die  Vocale  von  der  Bedeutsam- 
keit der  Wörter  aussciüoss.  Ein  solches  Verfahren  steht  im  geraden  Wider- 
spruche mit  dem  Principe  der  Sparsamkeit  der  meisten  andren  Nationen,  die 
nicht  bloss  von  einsilbigen  Wurzeln  ausgehen,  sondern  grossentheils  auch  in 
diese  nur  einen  Consonanten  aufnehmen.  Denn  auch  im  Sanskrit  bleibt  es  noch 
zweifelhaß,  ob  die  mit  wahren,  sich  nicht  bloss  phonetisch  mit  dem  vorhergehenden 
Vocal  verbindenden  Consoyianten  nicht  vielleicht  schon  Zusätze  abgekürzter  Sylben 
sind,  welche  die  Wurzel  schon  selbst  zum  zusammengesetzten  Worte  machen.    In 

17* 


2^0  I-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

geeignet,  den  inneren  Zusammenhang  der  Sprache  in  ihrer  heutigen 
Formung  zu  erläutern,  als  zum  Entstehungsgrunde  eines  solchen 
Baues  zu  dienen.  Die  Andeutung  der  grammatischen  Beziehungen 
durch  die  blossen  Vocale  lässt  sich  nicht  füglich  als  erster  Be- 
stimmungsgrund annehmen,  da  überall  in  den  Sprachen  natürlich 
die  Bedeutung  vorausgeht  und  daher  schon  die  Ausschliessung 
der  Vocale  von  derselben  erklärt  v^erden  müsste.  Die  Vocale 
müssen  zwar  in  einer  zwiefachen  Beziehung  betrachtet  werden. 
Sie  dienen  zunächst  nur  als  Laut,  ohne  welchen  der  Consonant 
nicht  ausgesprochen  werden  könnte;  dann  aber  nach  der  Ver- 
schiedenheit des  Lautes,  den  sie  in  der  Vocalreihe  annehmen.  In 
der  ersten  Beziehung  giebt  es  nicht  Vocale,  sondern  nur  Einen, 
als  zunächst  stehenden,  allgemeinen  Vocallaut  oder,  wenn  man 
will,  eigentlich  noch  gar  keinen  wahren  Vocal,  sondern  einen  un- 
klaren, noch  im  Einzelnen  unentwickelten  Schwa-Laut.  Etwas 
Aehnliches  findet  sich  bei  den  Consonanten  in  ihrer  Verbindung 
mit  Vocalen.  Auch  der  Vocal  bedarf,  um  hörbar  zu  werden,  des 
consonantischen  Hauches,  und  insofern  dieser  nur  die  zu  dieser 
Bestimmung  erforderliche  Beschaffenheit  an  sich  trägt,  ist  er  von 
den  in  der  Consonantenreihe  sich  durch  verschiednen  Klang 
gegenüberstehenden   Tönen    verschieden.*)     Hieraus    folgt   schon 


den  Semitischeyi  Sprachen  ist  aber  auch  ein  Theil  der  aus  drei  Consonanten  be- 
stehenden Stämme  aus  solchen  entsprungen,  welche  nur  zwei  enthalten,  und  die 
Untersuchung  hat  wohl  noch  nicht  ganz  ausgemacht,  wie  weit  sich  diese  Um- 
bildung erstreckt.  Bei  Stämmen  mit  zwei  Consonanten  aber  konnte  die  aus- 
schliessliche Bestimmung  der  Vocale  zum  Beziehungsausdruck  keinen  hinreichenden 
Erklärungsgrimd  finden.  Soll  aber  auf  der  andren  Seite  diese  Bestimmimg  die 
Consonantenfügung  bewirkt  haben,  so  tritt  wieder  der  doppelte  Umstand  in  den 
Weg,  dass  inan  nicht  absieht,  wie  ein  solches  Gesetz,  da  die  Anfänge  der  Sprachen 
wohl  noch  allen  solchen  Ausdrucks  ermangeln,  schon  die  Vocale  von  der  materiellen 
Bedeutsamkeit,  welche  natürlich  das  erste  in  allen  Sprachen  ist,  auszuschliessen 
vermochte  oder  wie,  wenn  der  Vocal  ursprünglich  bedeutsam  war,  [er]  diese 
Eigenschaft  wieder  verlieren  konnte.  Es  scheint  daher,  da  sich  beide  Erscheinungen 
nicht  genügend  aus  einander  erklären  lassen,  nothwendig,  einen  tiefer  liegenden, 
beiden  gemeinsamen  Grund  aufzusuchen,  der  natürlich  nur  in  den  Organen  oder 
dem  inneren  Sprachsiyin  liegen  kann.  Hier  verdient  es  mm  zuerst  Aufmerksam- 
keit, dass  die  Hebräische  Schrift  auch  in  ihrer  ältesten  Gestalt  vor  Bezeichnung 
der  Vocale  Consonanten  enthält  ....  dem  Schwa  bewähren,  so  scheint  es  sonder- 
bar, diese  aus  dem  geraden  Gegentheil  einer  fast  absoluten  Vocalverdunkelung 
abzuleiten,  und  ich  bin  daher  weit  entfernt,  auf  diese  Erklärungsart  Gewicht 
zu  legen." 

*)  Diese  Sätze  hat  Lepsius  in  seiner  Palaeographie  auf  das  klarste  und  befriedigendste 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     36.      26 1 

von  selbst,  dass  sich  die  Vocale  in  dem  Ausdruck  der  Begriffe 
nur  den  Consonanten  beigesellen  und,  wie  schon  von  den  tiefsten 
Sprachforschern  *)  anerkannt  worden  ist,  hauptsächlich  zur  näheren 
Bestimmung  des  durch  die  Consonanten  gestalteten  Wortes  dienen. 
Es  liegt  auch  in  der  phonetischen  Natur  der  Vocale,  dass  sie  etwas 
Feineres,  mehr  Eindringendes  und  Innerliches,  als  die  Consonanten 
andeuten  und  gleichsam  körperlicher  und  seelenvoller  sind.  Da- 
durch passen  sie  mehr  zur  grammatischen  Andeutung,  wozu  die 
Leichtigkeit  ihres  Schalles  und  ihre  Fähigkeit,  sich  anzuschliessen, 
hinzutritt.  Indess  ist  von  diesem  allen  doch  ihr  ausschliesslich 
grammatischer  Gebrauch  in  den  Semitischen  Sprachen  noch  sehr 
verschieden,  steht,  wie  ich  glaube,  als  eine  einzige  Erscheinung 
in  der  Sprachgeschichte  da  und  erfordert  daher  einen  eignen  Er- 
klärungsgrund. Will  man,  um  diesen  zu  finden,  auf  der  andren 
Seite  von  dem  zweisylbigen  Wurzelbau  ausgehen,  so  stellt  sich 
diesem  Versuche  der  Umstand  entgegen,  dass  dieser  Wurzelbau, 
wenn  auch  für  den  uns  bekannten  Zustand  dieser  Sprachen  der 
constitutive,  dennoch  wahrscheinlich  nicht  der  wirklich  ursprüng- 
liche war.  Vielmehr  lag  ihm,  wie  ich  weiter  unten  näher  aus- 
führen werde,  wahrscheinlich  in  grösserem  Umfange,  als  man  es 
jetzt  anzunehmen  pflegt,  ein  einsylbiger  zum  Grunde.  Vielleicht 
aber  lässt  sich  die  Eigenthümlichkeit,  von  der  w^ir  hier  reden, 
dennoch  gerade  hieraus  und  aus  dem  Uebergange  zu  den  zwei- 
sylbigen Formen  herleiten.  Diese  einsylbigen  Formen,  auf  die 
wir  durch  die  Vergleichung  der  zweisylbigen  unter  einander  ge- 
führt werden,  hatten  zwei  Consonanten,  welche  einen  Vocal 
zwischen  sich  einschlössen.  Vielleicht  verlor  der  so  eingeschlossene 
und  vom  Consonantenklange  übertönte  Vocal  die  Fähigkeit  gehörig 
selbstständiger  Entwicklung   und   nahm   deshalb   keinen  Theil   an 


dargestellt  und  den  Unterschied  zwischen  dem  Anfangs-<3  und  dem  h  in  der  Sanskrit- 
schrift gezeigt.  Ich  hatte  im  Bugis  und  in  einigen  andren,  verwandten  Alphabeten  er- 
kannt, dass  das  Zeichen,  das  von  allen  Bearbeitungen  der  Sprachen,  welchen  diese 
Alphabete  angehören,  ein  Anfangs-a  genannt  wird,  eigentlich  gar  kein  Vocal  ist, 
sondern  einen  schwachen,  dem  Spiritus  lenis  der  Griechen  ähnlichen,  consonantischen 
Hauch  andeutet.  Alle  von  mir  dort  (Nouv.  Journ.  Asiat.  IX.  489 — 494.) ')  nachgewiesene 
Erscheinungen  lassen  sich  aber  durch  das  von  Lepsius  über  denselben  Punkt  im  Sanskrit- 
Alphabet  Entwickelte  besser  und  richtiger  erklären. 

*)  Grimm  drückt  dies  in  seiner  glücklich  sinnvollen  Sprache  folgendergestalt 
aus:  die  Consonanz  gestaltet,  der  Vocal  bestimmt  imd  beleuchtet  das  Wort.  (Deutsche 
Gramm.  II.  S.  i.) 

V  Vgl.  Band  6,  563. 


'202  '•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

dem  Ausdrucke  der  Bedeutung.  Die  sich  später  offenbarende 
Nothwendigkeit  grammatischer  Bezeichnung  rief  erst  vielleicht 
jene  Entwicklung  hervor  und  bewirkte  dann,  um  den  gramma- 
tischen Flexionen  einen  grösseren  Spielraum  zu  geben,  die  Hinzu- 
fügung einer  zweiten  Sylbe.  Immer  aber  muss  doch  irgend  noch 
ein  anderer  Grund  vorhanden  gewesen  seyn,  die  Vocale  nicht  frei 
auslauten  zu  lassen,  und  dieser  ist  wohl  eher  in  der  Beschaffen- 
heit der  Organe  und  in  der  Eigenthümlichkeit  der  Aussprache, 
als  in  der  inneren  Sprachansicht  zu  suchen. 

Gewisser,  als  das  bis  hierher  Besprochene,  scheint  es  mir  da- 
gegen und  wichtiger  zur  Bestimmung  des  Verhältnisses  der  Semi- 
tischen Sprachen  zur  Geistesentwicklung  ist  es,  dass  es  dem  inneren 
Sprachsinn  dennoch  bei  diesen  Völkern  an  der  nothwendigen 
Schärfe  und  Klarheit  der  Unterscheidung  der  materiellen  Be- 
deutung und  der  Beziehungen  der  Wöner  theils  zu  den  allge- 
meinen Formen  des  Sprechens  und  Denkens,  theils  zur  Satz- 
bildung mangelte,  so  dass  dadurch  selbst  die  Reinheit  der  Unter- 
scheidung der  Consonanten-  und  Vocalbestimmung  zu  leiden  Ge- 
fahr läuft.  Zuerst  muss  ich  hier  auf  die  besondere  Natur  der- 
jenigen Laute  aufmerksam  machen,  die  man  in  den  Semitischen 
Sprachen  Wurzeln  nennt,  die  sich  aber  wesentlich  von  den  Wurzel- 
lauten anderer  Sprachen  unterscheiden.  Da  die  Vocale  von  der 
materiellen  Bedeutsamkeit  ausgeschlossen  sind,  so  müssen  die 
drei  Consonanten  der  Wurzel  streng  genommen  vocallos,  d.  h. 
bloss  von  dem  zu  ihrer  Herausstossung  erforderlichen  Laute  be 
gleitet  seyn.  In  diesem  Zustande  aber  fehlt  ihnen  die  zum  Er- 
scheinen in  der  Rede  nothwendige  Lautform,  da  "auch  die  Semi- 
tischen Sprachen  nicht  mehrere,  unmittelbar  auf  einander  folgende, 
mit  blossem  Schwa  verbundene  Consonanten  dulden.  Mit  hinzu- 
gefügten Vocalen  drücken  sie  diese  oder  jene  bestimmte  Beziehung 
aus  und  hören  auf,  beziehungslose  Wurzeln  zu  seyn.  Wo  daher 
die  Wurzeln  wirklich  in  der  Sprache  erscheinen,  sind  sie  schon 
wahre  Wortformen;  in  ihrer  eigentlichen  Wurzelgestalt  mangelt 
ihnen  noch  ein  wichtiger  Theil  zur  Vollendung  ihrer  Lautform 
in  der  Rede.  Hierdurch  erhält  selbst  die  Flexion  in  den  Semi- 
tischen Sprachen  einen  andren  Sinn,  als  welchen  dieser  Begriff 
in  den  übrigen  Sprachen  hat,  wo  die  Wurzel,  frei  von  aller  Be- 
ziehung, wirklich  dem  Ohre  vernehmbar,  wenigstens  als  Theil 
eines  Wortes  in  der  Rede  erscheint.  Flectirte  Wörter  enthalten 
in  den  Semitischen  Sprachen  nicht  Umbeugungen  ursprünglicher 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     36.      26^ 

Töne,  sondern  Vervollständigungen  zur  wahren  Lautform.  Da 
nun  der  ursprüngliche  Wurzellaut  nicht  neben  dem  flectirten 
dem  Ohre  im  Zusammenhange  der  Rede  vernehmbar  werden 
kann,  so  leidet  dadurch  die  lebendige  Unterscheidung  des  Be- 
deutungs-  und  Beziehungsausdrucks.  Allerdings  wird  zwar  da- 
durch selbst  die  Verbindung  beider  noch  inniger  und  die  An- 
wendung der  Laute  nach  Ewald's  geistvoller  und  richtiger  Be- 
merkung passender,  als  in  irgend  einer  andren  Sprache,  da  den 
leicht  beweglichen  Vocalen  das  mehr  Geistige,  den  Consonanten 
das  mehr  Materielle  zugetheilt  ist.  Aber  das  Gefühl  der  noth- 
wendigen  Einheit  des,  zugleich  Bedeutung  und  Beziehung  in  sich 
fassenden  Worts  ist  grösser  und  energischer,  wenn  die  verschmol- 
zenen Elemente  in  reiner  Selbstständigkeit  geschieden  werden 
können,  und  dies  ist  dem  Zweck  der  Sprache,  die  ewig  trennt 
und  verbindet,  und  der  Natur  des  Denkens  selbst  angemessen. 
Allein  auch  bei  der  Untersuchung  der  einzelnen  Arten  des  Be- 
ziehungs-  und  Bedeutungsausdrucks  findet  man  die  Sprache  nicht 
von  einer  gewissen  Vermischung  beider  frei.  Durch  den  Mangel 
untrennbarer  Praepositionen  entgeht  ihr  eine  ganze  Classe  von 
Beziehungsbezeichnungen,  die  ein  systematisches  Ganzes  bilden 
und  sich  in  einem  vollständigen  Schema  darstellen  lassen.  In  den 
Semitischen  Sprachen  wird  dieser  Mangel  zum  Theil  dadurch  er- 
setzt, dass  für  diese,  durch  Praepositionen  modificirten  Verbal- 
begriffe eigne  Wörter  bestimmt  sind.  Dies  kann  aber  keine 
^'ollständigkeit  gewähren  und  noch  weniger  vermag  dieser  schein- 
bare Reichthum  für  den  Nachtheil  zu  entschädigen,  dass,  da  sich 
nun  der  Gegensatz  weniger  fühlbar  darstellt,  auch  die  Totalität 
nicht  übersichtlich  ins  Auge  fällt  und  die  Redenden  die  Möglich- 
keit einer  leichten  und  sicheren  Spracherweiterung  durch  einzelne, 
bis  dahin  unversucht  gebliebene  Anwendungen  verlieren. 

Auch  einen  mir  wichtig  scheinenden  Unterschied  in  der  Be- 
zeichnung verschiedener  Arten  von  Beziehungen  kann  ich  hier 
nicht  übergehen.  Die  Andeutung  der  Casus  des  Nomen,  insofern 
sie  einen  Ausdruck  zulassen  und  nicht  bloss  durch  die  Stellung 
unterschieden  werden,  geschieht  durch  Hinzufügung  von  Prae- 
positionen, die  der  Personen  des  Verbum  durch  Hinzufügung 
der  Pronomina.  Durch  diese  beiden  Beziehungen  wird  die  Be- 
deutung der  Wörter  auf  keinerlei  Weise  afficirt.  Es  sind  Aus- 
drücke reiner,  allgemein  anwendbarer  Verhältnisse.  Das  gramma- 
tische Mittel  aber  ist  Anfügung  und  zwar  solcher  Buchstaben  oder 


^(^A  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Sylben,  welche  die  Sprache  als  für  sich  bestehend  anerkennt,  die 
sie  auch  nur  bis  auf  einen  gewissen  Grad  der  Festigkeit  mit  den 
Wörtern  verbindet.  Insofern  auch  Vocalwechsel  dabei  eintritt,  ist 
.er  eine  Folge  jener  Zuwächse,  deren  Anfügung  nicht  ohne  Wirkung 
-auf  die  Wortform  in  einer  Sprache  bleiben  kann,  welche  so  fest 
^bestimmte  Regeln  für  den  Bau  der  Wörter  besitzt.  Die  übrigen 
Beziehungsausdrücke,  sie  mögen  nun  in  reinem  Vocalwechsel 
oder  zugleich  in  Hinzufügung  consonantischer  Laute,  wie  im 
Hifil ,  Nifal  u.  s.  f. ,  oder  in  Verdoppelung  eines  der  Conso- 
nanten  des  Wortes  selbst,  wie  bei  den  mehrsten  Steigerungs- 
formen, bestehen,  haben  eine  nähere  Verwandtschaft  mit  der 
materiellen  Bedeutung  des  Worts,  afficiren  dieselbe  mehr  oder 
weniger,  ändern  sie  wohl  auch  gewissermassen  ganz  ab,  wie 
wenn  aus  dem  Stamm  gross  gerade  durch  eine  solche  Form  das 
Verbum  erziehen  hervorgebracht  wird.  Ursprünglich  und 
hauptsächlich  bezeichnen  sie  zwar  wirkliche  grammatische  Be- 
ziehungen, den  Unterschied  des  Nomen  und  Verbum,  die  transi- 
tiven oder  intransitiven,  reflexiven  und  causativen  Verba  u.  s.  w. 
Die  Aenderung  der  ursprünglichen  Bedeutung,  durch  welche  aus 
den  Stämmen  abgeleitete  Begriffe  entstehen,  ist  eine  natürliche 
Folge  dieser  Formen  selbst,  ohne  dass  darin  eine  V^ermischung 
des  Beziehungs-  und  Bedeutungsausdrucks  zu  liegen  braucht. 
.Dies  beweist  auch  die  gleiche  Erscheinung  in  den  Sanskritischen 
Sprachen.  Allein  ^)  der  ganze  Unterschied  jener  zwei  Classen  (auf 
.der  einen  Seite  der  Casus-  und  Pronominalaffixa,  auf  der  andren 
der  inneren  Verbalflexionen)  und  ihre  verschiedne  Bezeichnung 
ist  in  sich  selbst  auffallend.  Zwar  liegt  in  demselben  eine  gewisse 
Angemessenheit  mit  der  Verschiedenheit  der  Fälle.  Da,  wo  der 
Begriff  keine  Aenderung  erleidet,  wird  die  Beziehung  nur  äusser- 
lich,  dagegen  innerlich,  am  Stamme  selbst,  da  bezeichnet,  wo  die 
grammatische  Form,  sich  bloss  auf  das  einzelne  Wort  erstreckend, 
die  Bedeutung  afficirt.  Der  Vocal  erhält  an  derselben  den  feinen 
ausmalenden,  näher  modificirenden  Antheil,  von  dem  weiter  oben 
die  Rede  war.  In  der  That  sind  alle  Fälle  der  zweiten  Classe 
von    dieser  Art    und   können,   wenn  wir  beim  Verbum   stehen 


V  Nach  „Allein^'  gestrichen:  „in  den  Semitischen  dehnt  sich  diese  formale 
Bezeichnungsart  nicht  auf  alle  grammatischen  Formen  aus,  da  zum  Beispiel  die 
■Adjectiva  keine  eigne  besitzen,  sondern  ihr  Begriff  schon  in  den  Stämmen  selbst 
.enthalten  ist,  und  auch". 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     36.      26k 

bleiben,  schon  auf  die  blossen  Participien  angewendet  werden, 
ohne  die  actuale  Verbalkraft  selbst  anzugehen.  In  der  Barmani- 
schen Sprache  geschieht  dies  in  der  That  und  auch  die  Verbal- 
vorschläge der  Malayischen  Sprachen  beschreiben  ungefähr  den- 
selben Kreis,  als  die  Semitischen  in  dieser  Bezeichnungsart.  Denn 
wirklich  lassen  sich  alle  Fälle  derselben  auf  etwas  den  Begriff 
selbst  Abänderndes  zurückführen.  Dies  gilt  sogar  von  der  An- 
deutung der  Tempora,  insofern  sie  durch  Beugung  und  nicht 
syntaktisch  geschieht.  Denn  auf  jene  Weise  unterscheidet  sie 
bloss  die  Wirklichkeit  und  die  noch  nicht  mit  Sicherheit  zu  be- 
stimmende Ungewissheit.  Dagegen  erscheint  es  sonderbar,  dass 
gerade  diejenigen  Beziehungen,  die  am  meisten  den  unveränderten 
Begriff  nur  in  eine  andere  Beziehung  stellen,  wie  die  Casus,  und 
diejenigen,  die  am  w^esentlichsten  die  Verbalnatur  bilden,  wie  die 
Personen,  weniger  formal  bezeichnet  werden,  ja  sich  fast  gegen 
den  Begriff  der  Flexion  zur  Agglutination  hinneigen  und  dagegen 
die  den  Begriff  selbst  modificirenden  den  am  meisten  formalen 
Ausdruck  annehmen.  Der  Gang  des  Sprachsinns  der  Nation 
scheint  hier  nicht  sowohl  der  gewesen  zu  seyn,  Beziehung  und 
Bedeutung  scharf  von  einander  zu  trennen,  als  vielmehr  der,  die 
aus  der  ursprünglichen  Bedeutung  fliessenden  Begriffe  nach 
systematischer  Abtheilung  grammatischer  Form  in  den  ver- 
schiedenen Nuancen  derselben,  regelmässig  geordnet,  abzuleiten. 
Man  würde  sonst  nicht  die  gemeinsame  Natur  aller  grammatischen 
Beziehungen  durch  Behandlung  in  zwiefachem  Ausdruck  gewisser- 
massen  verwischt  haben.  Wenn  dies  Raisonnement  richtig  und 
mit  den  Thatsachen  übereinstimmend  erscheint,  so  beweist  dieser 
Fall,  wie  ein  Volk  seine  Sprache  mit  bewundrungswürdigem 
Scharfsinn  und  gleich  seltnem  Gefühl  der  gegenseitigen  Forderungen 
des  Begriffs  und  des  Lautes  behandeln  und  doch  die  Bahn  ver- 
fehlen kann,  die  in  der  Sprache  überhaupt  die  naturgemässeste 
ist.  Die  Abneigung  der  Semitischen  Sprachen  gegen  Zusammen- 
setzung ist  aus  ihrer  ganzen,  hier  nach  ihren  Hauptzügen  ge- 
schilderten Form  leicht  erklärlich.  Wenn  auch  die  Schwierigkeit, 
vielsylbigen  Wörtern  die  einmal  fest  in  die  Sprache  eingewachsene 
Wortform  zu  geben,  wie  es  die  zusammengesetzten  Eigennamen 
beweisen,  überwunden  werden  konnte,  so  mussten  sie  doch  bei 
der  Gewöhnung  des  Volks  an  eine  kürzere,  einen  streng  ge- 
gliederten und  leicht  übersehbaren  inneren  Bau  erlaubende  Wort- 
form lieber  vermieden  werden.    Es  boten  sich  aber  auch  weniger 


256  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Veranlassungen    zu    ihrer   Bildung    dar,    da   der   Reichthum    an 
Stämmen  sie  entbehrlicher  machte. 

In  der  Delaware-Sprache  in  Nord-Amerika  herrscht  mehr,  als 
vielleicht  in  irgend  einer  andren  die  Gewohnheit,  neue  Wörter 
durch  Zusammensetzung  zu  bilden.  Die  Elemente  dieser  Com- 
posita  enthalten  aber  selten  das  ganze  ursprüngliche  Wort,  sondern 
es  gehen  von  diesem  nur  Theile,  ja  selbst  nur  einzelne  Laute  in 
die  Zusammensetzung  über.  Aus  einem  von  Du  Ponceau*)  ge- 
gebenen Beispiel  muss  man  sogar  schliessen,  dass  es  von  dem 
Redenden  abhängt,  solche  Wörter  oder  vielmehr  ganze  zu  Wörtern 
gestempelte  Phrasen  gleichsam  aus  Bruchstücken  einfacher  Wörter 
zusammenzufügen.  Aus  ki,  du,  wulit,  gut,  schön,  niedlich, 
wichgat,  Pfote,  und  schis,  einem  als  Endung  im  Sinne  der  Klein- 
heit gebrauchten  Worte,  wird,  als  Anrede  an  eine  kleine  Katze, 
k-uli'gaf-sdiis,  deine  niedliche  kleine  Pfote,  gebildet.  Auf 
gleiche  Weise  gehen  Redensarten  in  Verba  über  und  werden  als- 
dann vollständig  conjugirt.  Nad-hol-ineen ,  von  natcn,  holen, 
amoclwl,  Boot,  und  dem  schHessenden  regierten  Pronomen  der 
ersten  Person  des  Plurals,  heisst:  hole  uns  mit  dem  Boote! 
nemlich :  über  den  Fluss.  Man  sieht  schon  aus  diesen  Beispielen, 
dass  die  Veränderungen  der  diese  Composita  bildenden  Wörter 
sehr  bedeutend  sind.  So  wird  aus  7üulä  in  dem  obigen  Beispiel 
ult,  in  anderen  Fällen,  wo  im  Compositum  kein  Consonant  vor- 
ausgeht, 7vtd,  allein  auch  mit  vorausgehendem  Consonanten  ola.  **) 
Auch  die  Abkürzungen  sind  bisweilen  sehr  gewaltsam.  Von 
awesis,  Thier,  wird,  um  das  Wort  Pferd  zu  bilden,  bloss  die 
Sylbe  es  in  die  Zusammensetzung  aufgenommen.  Zugleich  gehen, 
da  die  Bruchstücke  der  Wörter  nun  in  Verbindung  mit  anderen 
Lauten  treten,  Wohllautsveränderungen  vor,  welche  dieselben 
noch  weniger  kenntlich  machen.  Dem  eben  erwähnten  Worte 
für  Pferd,  nanayung-es,  liegt  ausser  der  Endung  es  nur  nayundam, 
eine  Last  auf  dem  Rücken  tragen,  zum  Grunde.  Das  g 
scheint  eingeschoben  und  die  Verstärkung  durch  die  Verdopplung 
der  ersten  Sylbe  nur  auf  das  Compositum  angewandt.  Ein  blosses 
Anfangs-;;?  von  machit,  schlecht,  oder  von  medhick,  übel,  giebt 


*)  Vorrede  zu  Zeisberger's  Delaware-Grammatik.     (Philadelphia.   1S27.   4.    S.  2o.) 
**)  Transactions  of  the  Historical  and  Literary  Comrnittee  of  the  American 
Philosophical  Society.    Philadelphia.  18 19.     Vol.  i.     S.  405.  u.  flgd. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     36.      26" 

dem  Worte  einen  bösen  und  verächtlichen  Sinn.*)  Man  hat  da- 
her diese  Wortverstümmlungen  verschiedentlich,  als  barbarische 
Rohheit  sehr  han  getadelt.  Man  müsste  aber  eine  tiefere  Kennt- 
niss  der  Delaware-Sprache  und  der  Verwandtschaft  ihrer  Wörter 
besitzen,  um  zu  entscheiden,  ob  wirklich  in  den  abgekürzten 
Wörtern  die  Stammsylben  vernichtet  oder  nicht  vielmehr  gerade 
erhalten  werden.  Dass  dies  letztere  in  einigen  Fällen  sich  wirklich 
so  verhält,  sieht  man  an  einem  merkwürdigen  Beispiel.  Lenape 
bedeutet  Mensch;  leniii,  welches  mit  dem  vorigen  Worte  zu- 
sammen (Lenni  Lenape)  den  Namen  des  Hauptstammes  der  Dela- 
waren  ausmacht,  hat  die  Bedeutung  von  etwas  Ursprünglichem, 
Unvermischtem,  dem  Lande  von  jeher  Angehörigem  und  bedeutet 
daher  auch  gemein,  gewöhnlich.  In  diesem  letzteren  Sinne 
dient  der  Ausdruck  zur  Bezeichnung  alles  Einheimischen,  von  dem 
grossen  und  guten  Geiste  dem  Lande  Gegebenen,  im  Gegensatz 
mit  dem  aus  der  Fremde  erst  durch  die  weissen  Menschen  Ge- 
kommenen. Ape  heisst  aufrecht  gehen.**)  In  Z^?««/^  sind  also 
ganz  richtig  die  charakteristischen  Kennzeichen  des  aufrecht 
wandelnden  Eingebornen  enthalten.  Dass  hernach  das  Wort  all- 
gemein für  Mensch  gilt  und,  um  zum  Eigennamen  zu  werden, 
noch  einmal  den  Begriff  des  Ursprünglichen  mit  sich  verbindet, 
sind  leicht  erklärliche  Erscheinungen.  In  pilape,  Jüngling,  ist 
das  Wort  püsü,  keusch,  unschuldig,  mit  demjenigen  Theil 
von  lenape  zusammengesetzt,  welcher  die  den  Menschen  charakteri- 
sirende  Eigenschaft  bezeichnet.  Da  die  in  der  Zusammensetzung 
verbundenen  Wörter  grossentheils  mehrsylbig  und  schon  selbst 
wieder  zusammengesetzt  sind,  so  kommt  alles  darauf  an,  welcher 
ihrer  Theile  zum  Element  des  neuen  Compositum  gebraucht 
wird,  worüber  nur  die  aus  einem  vollständigen  Wörterbuche  zu 
schöpfende    genauere    Kenntniss    der  Sprache  Aufklärung   geben 


*)  Zeisberger  (a.  a.  O.)  bemerkt,  dass  mannitto  hiervon  eine  Ausnahme  bilde, 
da  man  darunter  Gott  selbst,  den  grossen  und  guten  Geist,  verstehe.  Es  ist  aber  sehr 
gewöhnlich,  die  religiösen  Ideen  ungebildeter  Völker  von  der  Furcht  vor  bösen  Geistern 
ausgehen  zu  sehen.  Die  ursprüngliche  Bedeutung  des  Wortes  könnte  daher  doch  sehr 
leicht  eine  solche  gewesen  seyn.  Ueber  den  Rest  des  Wortes  finde  ich  bei  dem  Mangel 
eines  Delaware-Wörterbuchs  keine  Auskunft.  Auffallend,  obgleich  vielleicht  bloss  zu- 
fällig ist  die  Uebereinstimmung  dieses  Ueberrestes  mit  dem  Tagalischen  anito,  Götzen- 
bild,  (s.  meine  Schrift  über  die  Kawi-Sprache.     I.  Buch.  S.  75.) 

•*)  So  verstehe  ich  neralich  Heckewelder.  {Transaciions.  I.  411.)     Auf  jeden  Fall 
ist  ape  bloss  Endung  für  aufrecht  gehende  Wesen,  wie  chlim  für  vierfüssige  Thiere. 


258  ^'    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

könnte.  Auch  versteht  es  sich  wohl  von  selbst,  dass  der  Sprach- 
gebrauch diese  Abkürzungen  in  bestimmte  Regeln  eingeschlossen 
haben  wird.  Dies  sieht  man  schon  daraus,  dass  das  modificirte 
Wort  in  den  gegebenen  Beispielen  immer  im  Compositum,  als 
das  letzte  Element,  den  modificirenden  nachsteht.  Das  Verfahren 
dieser  scheinbaren  Verstümmlung  der  Wörter  dürfte  daher  wohl 
ein  milderes  Urtheil  verdienen  und  nicht  so  zerstörend  für  die 
Etymologie  seyn,  als  es  der  oberflächliche  Anblick  befürchten  lässt. 
Es  hängt  genau  mit  der,  oben  schon  als  die  Am.erikanischen 
Sprachen  auszeichnend  angeführten  Tendenz,  das  Pronomen  in 
abgekürzter  oder  noch  mehr  abweichender  Gestalt  mit  dem  Verbum 
und  dem  Nomen  zu  verbinden,  zusammen.  ^)  Das  eben  von  der 
Delawarischen  Gesagte  beweist  -ein  noch  allgemeineres  Streben 
nach  Verbindung  mehrerer  Begriffe  in  demselben  Worte.  Wenn 
man  mehrere  der  Sprachen  mit  einander  vergleicht,  welche  die 
grammatischen  Beziehungen  ohne  Flexion  durch  Partikeln  an- 
deuten, so  halten  einige  derselben,  wie  die  Barmanische,  die 
meisten  der  Südsee-Inseln  und  selbst  die  Mandschuische  und  die 
Mongolische,  die  Partikeln  und  die  durch  sie  bestimmten  Wörter 
eher  aus  einander,  da  hingegen  die  Amerikanischen  eine  Neigung, 
sie  zu  verknüpfen,  verrathen.  Die  letztere  fliesst  natürlich  schon 
aus  dem  oben  (§.  29.")  geschilderten  einverleibenden  Verfahren. 
Dieses  habe  ich  im  Vorigen  als  eine  Beschränktheit  der  Satz- 
bildung dargestellt  und  durch  die  Aengstlichkeit  des  Sprachsinns 
erklärt,  die  den  Satz  ausmachenden  Theile  für  das  Verständniss 
recht  enge  zusammenzufassen. 

Dem  hier  betrachteten  Verfahren  der  Delawarischen  Wort- 
bildung lässt  sich  aber  zugleich  noch  eine  andere  Seite  abgewinnen. 
Es  liegt  in  demselben  sichtbar  die  Neigung,  der  Seele  die  im  Ge- 
danken verbundenen  Begriffe,  statt  ihr  dieselben  einzeln  zuzuzählen, 
auf  einmal  und  auch  durch  den  Laut  verbunden  vorzulegen.  Es 
ist  eine  malerische  Behandlung  der  Sprache,  genau  zusammen- 
hängend mit  der  übrigen,  aus  allen  ihren  Bezeichnungen  hervor- 
bHckenden  bildlichen  Behandlung  der  Begriffe.  Die  Eichel  heisst 
lan^nach-quim,  dieNuss  derBlatt-Hand  (von  zvumpach,  Blatt, 
nach,   Hand,    und   quim,   die  Nuss),   weil    die   lebendige  Ein- 


V  Nach  „zusammen"  gestrichen:  „In  der  That  sind  diese  Verbindungen 
vorzugsweise  in  den  Nord- Amerikanischen  Sprachen,  noch  weit  mehr  in  ihnen, 
als  in  den  mir  sonst  irgendwo  bekannten  ausgebildet." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menscliengeschlechts.     36.      26(> 

bildungskraft  des  Volkes  die  eingeschnittenen  Blätter  der  Eiche 
mit  einer  Hand  vergleicht.  Auch  hier  bemerke  man  die  doppelte 
Befolgung  des  oben  erwähnten  Gesetzes  in  der  Stellung  der 
Elemente,  erst  in  dem  letzten,  dann  in  den  beiden  ersten,  wo 
wieder  die  Hand,  gleichsam  aus  einem  Blatte  gebildet,  diesem 
letzteren  Worte,  nicht  umgekehrt  nachsteht.  Es  ist  offenbar  von 
grosser  Wichtigkeit,  wie  viel  eine  Sprache  in  Ein  Wort  einschliesst, 
statt  sich  der  Umschreibung  durch  mehrere  zu  bedienen.  Auch 
der  gute  Schriftsteller  übt  hierin  sorgfältige  Unterscheidung,  wo 
ihm  die  Sprache  die  Wahl  frei  lässt.  Das  richtige  Gleichgewicht, 
welches  die  Griechische  Sprache  hierin  beobachtet,  gehört  gewiss 
zu  ihren  grössten  Schönheiten.  Das  in  Einem  Worte  Verbundene 
stellt  sich  auch  der  Seele  mehr  als  Eins  dar,  da  die  Wörter  in 
der  Sprache  das  sind,  was  die  Individuen  in  der  Wirklichkeit.  Es 
erregt  lebendiger  die  Einbildungskraft,  als  was  dieser  einzeln  zu- 
gezählt wird.  Daher  ist  das  Einschliessen  in  Ein  Wort  mehr 
Sache  der  Einbildungskraft,  die  Trennung  mehr  die  des  Ver- 
standes. Beide  können  sich  sogar  hierin  entgegenstehen  und  ver- 
fahren wenigstens  dabei  nach  ihren  eignen  Gesetzen,  deren  Ver- 
schiedenheit sich  hier  in  einem  deutlichen  Beispiel  in  der  Sprache 
verräth.  Der  Verstand  fordert  vom  Worte,  dass  es  den  Begriff 
vollständig  und  rein  bestimmt  herv'orrufe,  aber  auch  zugleich  in 
ihm  die  logische  Beziehung  anzeige,  in  welcher  es  in  der  Sprache 
und  in  der  Rede  erscheint.  Diesen  Verstandesforderungen  genügt 
die  Delaware-Sprache  nur  auf  ihre,  den  höheren  Sprachsinn  nicht 
befriedigende  Weise.  Dagegen  wird  sie  zum  lebendigen  Symbol 
der,  Bilder  an  einander  reihenden  Einbildungskraft  und  bewahrt 
hierin  eine  sehr  eigenthümliche  Schönheit.  Auch  im  Sanskrit 
tragen  die  sogenannten  undeclinirbaren  Participien,  die  so  oft  zum 
Ausdruck  von  Zwischensätzen  dienen,  zur  lebendigen  Darstellung 
des  Gedanken,  dessen  Theile  sie  mehr  gleichzeitig  vor  die  Seele 
bringen,  wesentlich  bei.  In  ihnen  vereinigt  sich  aber,  da  sie 
grammatische  Bezeichnung  haben,  die  Strenge  der  Verstandes- 
forderung mit  dem  freien  Erguss  der  Einbildungskraft.  Dies  ist 
ihre  beifallswürdige  Seite.  Denn  allerdings  haben  sie  auch  eine 
entgegengesetzte,  wenn  sie  durch  Schwerfälligkeit  der  Freiheit  der 
Satzbildung  Fesseln  anlegen  und  ihre  einverleibende  Methode  an 
mangelnde  Mannigfaltigkeit  von  Mitteln  erinnert,  dem  Satze  ge- 
hörige Erweiterung  zu  geben. 

Es  scheint  mir  nicht  unmerkwürdig,  dass  diese  kühn  bildliche 


2no  ^'    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Zusammenfügung  der  Wörter  gerade  einer  Nord-Amerikanischen 
Sprache  angehört,  ohne  dass  ich  jedoch  hieraus  mit  Sicherheit 
Folgerungen  auf  den  Charakter  dieser  Völker  im  Gegensatz  mit 
den  südlichen  ziehen  möchte,  da  man  hierzu  mehr  Data  über 
beide  und  ihre  frühere  Geschichte  besitzen  müsste.  Gewiss  aber 
ist  es,  dass  wir  in  den  Reden  und  Verhandlungen  dieser  Nord- 
Amerikanischen  Stämme  eine  grössere  Erhebung  des  Gemüths 
und  einen  kühneren  Flug  der  Einbildungskraft  erkennen,  als  von 
dem  wir  im  südlichen  Amerika  Kunde  haben.  Natur,  KJima  und 
das,  den  Völkern  dieses  Theils  von  Amerika  mehr  eigenthümliche 
Jägerleben,  das  weite  Streifzüge  durch  die  einsamsten  Wälder  mit 
sich  bringt,  mögen  zugleich  dazu  beitragen.  Wenn  aber  die  That- 
sache  in  sich  richtig  ist,  so  übten  unstreitig  die  grossen  despotischen 
Regierungen,  besonders  die  zugleich  priesterlich  die  freie  Ent- 
wicklung der  Individualität  niederdrückende  Peruanische  einen 
sehr  verderblichen  Einfluss  aus,  da  jene  Jägerstämme,  wenigstens 
soviel  wir  wissen,  immer  nur  in  freien  Verbindungen  lebten. 
Auch  seit  der  Eroberung  durch  die  Europäer  erfuhren  beide 
Theile  ein  verschiedenes,  gerade  in  der  Hinsicht,  von  welcher  wir 
hier  reden,  sehr  wesentlich  entscheidendes  Schicksal.  Die  fremden 
Anwohner  in  dem  Nord -Amerikanischen  Küstenstrich  drängten 
die  Eingebornen  zurück  und  beraubten  sie  wohl  auch  ungerechter 
Weise  ihres  Eigenthums,  unterwarfen  sie  aber  nicht,  indem  auch  ihre 
Missionare,  von  dem  freieren  und  milderen  Geiste  des  Protestan- 
tismus beseelt,  einem  drückenden  mönchischen  Regimente,  wie  es 
die  Spanier  und  Portugiesen  systematisch  einführten,  [fremd  warenj. 
Ob  übrigens  in  der  reichen  Einbildungskraft,  von  welcher 
Sprachen,  wie  die  Delawarische,  das  sichtbare  Gepräge  tragen, 
auch  ein  Zeichen  liegt,  dass  wir  in  ihnen  eine  jugendlichere  Ge- 
stalt der  Sprache  aufbewahrt  finden?  ist  eine  schwer  zu  be- 
antwortende Frage,  da  man  zu  wenig  abzusondern  vermag,  was 
hierin  der  Zeit  und  was  der  Geistesrichtung  der  Nation  angehört. 
Ich  bemerke  in  dieser  Rücksicht  hier  nur,  dass  die  Zusammen- 
setzung von  Wörtern,  von  welchen  in  unsren  heutigen  oft  auch 
nur  einzelne  Buchstaben  übrig  geblieben  seyn  mögen,  sich  leicht 
auch  in  den  schönsten  und  gebildetsten  Sprachen  finden  mag,  da 
es  in  der  Natur  der  Dinge  liegt,  vom  Einfachen  an  aufzusteigen, 
und  im  Verlaufe  so  vieler  Jahrtausende,  in  welchen  sich  die 
Sprache  im  Munde  der  Völker  fortgepflanzt  hat,  die  Bedeutungen 
der  Urlaute  natürlich  verloren  gegangen  sind. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.    36.  37.    27 1 

In  dem  entschiedensten  Gegensatze  befinden  sich  unter  allen  37. 
bekannten  Sprachen  die  Chinesische  und  das  Sanskrit,  da  die 
erstere  alle  grammatische  Form  der  Sprache  in  die  Arbeit  des 
Geistes  zurückweist,  das  letztere  sie  bis  in  die  feinsten  Schattirungen 
dem  Laute  einzuverleiben  strebt.  Denn  offenbar  liegt  in  der 
mangelnden  und  sichtbarlich  vorleuchtenden  Bezeichnung  der 
Unterschied  beider  Sprachen.  Den  Gebrauch  einiger  Partikeln 
ausgenommen,  deren  sie,  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden, 
auch  wieder  bis  auf  einen  hohen  Grad  zu  entbehren  versteht, 
deutet  die  Chinesische  alle  Form  der  Grammatik  im  weitesten 
Sinne  durch  Stellung,  den  einmal  nur  in  einer  gewissen  Form 
festgestellten  Gebrauch  der  Wörter  und  den  Zusammenhang  des 
Sinnes  an,  also  bloss  durch  Mittel,  deren  Anwendung  innere  An- 
strengung erheischt.  Das  Sanskrit  dagegen  legt  in  die  Laute  selbst 
nicht  bloss  den  Sinn  der  grammatischen  Form,  sondern  auch  ihre 
geistigere  Gestalt,  ihr  Verhältniss  zur  materiellen  Bedeutung. 

Hiernach  sollte  man  auf  den  ersten  Anblick  die  Chinesische 
Sprache  für  die  von  der  naturgemässen  Forderung  der  Sprache 
am  meisten  abweichende,  für  die  unvollkommenste  unter  allen 
halten.  Diese  Ansicht  verschwindet  aber  vor  der  genaueren  Be- 
trachtung. Sie  besitzt  im  Gegentheil  einen  hohen  Grad  der  Treff- 
lichkeit und  übt  eine,  wenn  gleich  einseitige,  doch  mächtige  Ein- 
wirkung auf  das  geistige  Vermögen  aus.  Man  könnte  zwar  den 
Grund  hiervon  in  ihrer  frühen  wissenschaftlichen  Bearbeitung  und 
reichen  Literatur  suchen.  Offenbar  hat  aber  vielmehr  die  Sprache 
selbst,  als  Aufforderung  und  Hülfsmittel,  zu  diesen  Fortschritten 
der  Bildung  wesentlich  mitgewirkt.  Zuerst  kann  ihr  die  grosse 
Consequenz  ihres  Baues  nicht  bestritten  werden.  Alle  andren 
flexionslosen  Sprachen,  wenn  sie  auch  noch  so  grosses  Streben 
nach  Flexion  verrathen,  bleiben,  ohne  ihr  Ziel  zu  erreichen,  auf 
dem  Wege  dahin  stehen.  Die  Chinesische  führt,  indem  sie  gänz- 
lich diesen  Weg  verlässt,  ihren  Grundsatz  bis  zum  Ende  durch. 
Dann  trieb  gerade  die  Natur  der  in  ihr  zum  Verständniss  alles 
Formalen  angewandten  Mittel  ohne  Unterstützung  bedeutsamer 
Laute  darauf  hin,  die  verschiedenen  formalen  Verhältnisse  strenger 
zu  beachten  und  systematisch  zu  ordnen.  Endlich  wird  der 
Unterschied  zwischen  materieller  Bedeutung  und  formeller  Be- 
ziehung dem  Geiste  dadurch  von  selbst  um  so  mehr  klar,  als  die 
Sprache,  wie  sie  das  Ohr  vernimmt,  bloss  die  materiell  bedeut- 
samen Laute  enthält,  der  Ausdruck  der  formellen   Beziehungen 


„„2  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

aber  an  den  Lauten  nur  wieder  als  Verhältniss  in  Stellung  und 
Unterordnung  hängt.  Durch  diese  fast  durchgängige  lautlose  Be- 
zeichnung der  formellen  Beziehungen  unterscheidet  sich  die 
Chinesische  Sprache,  soweit  die  allgemeine  Uebereinkunft  aller 
Sprachen  in  Einer  inneren  Form  Verschiedenheit  zulässt,  von  allen 
andren  bekannten.  Man  erkennt  dies  am  deutlichsten,  wenn  man 
irgend  einen  ihrer  Theile  in  die  Form  der  letzteren  zu  zwängen 
versucht,  wie  einer  ihrer  grössten  Kenner,  Abel-Remusat,  eine 
vollständige  Chinesische  DecHnation  aufgestellt  hat.*)  Sehr  be- 
greiflicher Weise  muss  es  in  jeder  Sprache  ünterscheidungsmittel 
der  verschiedenen  Beziehungen  des  Nomen  geben.  Diese  aber 
kann  man  bei  weitem  nicht  immer  darum  als  Casus  im  wahren 
Sinne  dieses  Wortes  betrachten.-  Die  Chinesische  Sprache  gewinnt 
durchaus  nicht  bei  einer  solchen  Ansicht.  Ihr  charakteristischer 
Vorzug  liegt  im  Gegentheil,  wie  auch  Remusat  an  derselben  Stelle 
sehr  treffend  bemerkt,  in  ihrem,  von  den  andren  Sprachen  ab- 
weichenden Systeme,  wenn  sie  gleich  eben  durch  dasselbe  auch 
mannigfaltiger  Vorzüge  entbehrt  und  allerdings,  als  Sprache  und 
Werkzeug  des  Geistes,  den  Sanskritischen  und  Semitischen 
Sprachen  nachsteht.  Der  Mangel  einer  Lautbezeichnung  der 
formalen  Beziehungen  darf  aber  nicht  in  ihr  allein  genommen 
werden.  Man  muss  zugleich  und  sogar  hauptsächlich  die  Rück- 
wirkung ins  Auge  fassen,  welche  dieser  Mangel  nothwendig  auf 
den  Geist  ausübt,  indem  er  ihn  zwingt,  diese  Beziehungen  auf 
feinere  Weise  mit  den  Worten  zu  verbinden  und  doch  nicht 
eigentUch  in  sie  zu  legen,  sondern  wahrhaft  in  ihnen  zu  ent- 
decken. Wie  paradox  es  daher  klingt,  so  halte  ich  es  dennoch 
für  ausgemacht,  dass  im  Chinesischen  gerade  die  scheinbare  Ab- 
wesenheit aller  Grammatik  die  Schärfe  des  Sinnes,  den  formalen 
Zusammenhang  der  Rede  zu  erkennen,  im  Geiste  der  Nation  er- 
höht, da  im  Gegentheil  die  Sprachen  mit  versuchter,  aber  nicht 
gelingender  Bezeichnung  der  grammatischen  Verhältnisse  den 
Geist  vielmehr  einschläfern  und  den  grammatischen  Sinn  durch 
Vermischung  des  materiell  und  formal  Bedeutsamen  eher  ver- 
dunkeln. ^) 


*)  Fundgruben  des  Orients.    III.    283. 

V  Nach  „verdunkeln'^  gestrichen:  „Das  Mandschuische,  dessen  Vergleichung 
mit  dem  Chinesischen  sich  so  natürlich  darbietet,  liefert  hiervon  ein  einleuchtendes 
Beispiel." 


lind  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      27^ 

Dieser  eigenthümliche  Chinesische  Bau  rührt  wohl  unstreitig 
von  der  Lauteigenthümlichlveit  des  Voll^es  in  den  frühesten  Zeiten 
her,  von  der  Sitte,  die  S3'lben  stark  in  der  Aussprache  aus  ein- 
ander zu  halten,  und  von  einem  Mangel  an  der  Beweglichkeit, 
mit  welcher  ein  Ton  auf  den  andren  umändernd  einwirkt.  Denn 
diese  sinnliche  Eigenthümlichkeit  muss,  wenn  die  geistige  der 
inneren  Sprachform  erklärt  werden  soll,  zum  Grunde  gelegt 
werden,  da  jede  Sprache  nur  von  der  ungebildeten  Volkssprache 
ausgehen  kann.  Entstand  nun  durch  den  grübelnden  und  erfind- 
samen  Sinn  der  Nation,  durch  ihren  scharfen  und  regen  und  vor 
der  Phantasie  vorwaltenden  Verstand  eine  philosophische  und 
wissenschaftliche  Bearbeitung  der  Sprache,  so  konnte  sie  nur  den 
sich  wirklich  in  dem  älteren  Style  verrathenden  Weg  nehmen, 
die  Absonderung  der  Töne,  wie  sie  im  Munde  des  Volkes  be- 
stand, beibehalten,  aber  alles  das  feststellen  und  genau  unter- 
scheiden, was  im  höheren  Gebrauch  der  Sprache,  entblösst  von 
der,  dem  Verständniss  zu  Hülfe  kommenden  Betonung  und  Ge- 
berde, zur  lichtvollen  Darstellung  des  Gedanken  erfordert  wurde. 
Dass  aber  eine  solche  Bearbeitung  schon  sehr  früh  eintrat,  ist  ge- 
schichtlich erw^iesen  und  zeigt  sich  auch  in  den  unverkennbaren, 
aber  geringen  Spuren  bildlicher  Darstellung  in  der  Chinesischen 
Schrift. 

Es  lässt  sich  wohl  allgemein  behaupten,  dass,  wenn  der  Geist 
anfängt,  sich  zu  wissenschaftlichem  Denken  zu  erheben,  und  eine 
solche  Richtung  in  die  Bearbeitung  der  Sprache  kommt,  über- 
haupt Bilderschrift  sich  nicht  lange  erhalten  kann.  Bei  den 
Chinesen  muss  dies  doppelt  der  Fall  gewesen  seyn.  Auf  eine 
alphabetische  Schrift  v/ürden  sie,  wie  alle  andre  Völker,  durch 
die  Unterscheidung  der  Articulation  des  Lautes  geführt  worden 
seyn.  Es  ist  aber  erklärlich,  dass  die  Schrifterfindung  bei  ihnen 
diesen  Weg  nicht  verfolgte.  Da  die  geredete  Sprache  die  Töne 
nie  in  einander  verschlang,  so  war  ihre  einzelne  Bezeichnung 
minder  erfordert.  Wie  das  Ohr  Monogramme  des  Lautes  ver- 
nahm, so  wurden  diesen  Monogramme  der  Schrift  nachgebildet. 
Von  der  Bilderschrift  abgehend,  ohne  sich  der  alphabetischen  zu 
nähern,  bildete  man  ein  kunstvolles,  willkührlich  erzeugtes  S3^stem 
von  Zeichen,  nicht  ohne  Zusammenhang  der  einzelnen  unter  ein- 
ander, aber  immer  nur  in  einem  idealen,  niemals  in  einem 
phonetischen.  Denn  da  die  Verstandesrichtung  vor  dem  Gefallen 
an   Lautwechsel   in    der  Nation    und    der  Sprache    vorherrschte, 

VV.  V.  Humboldt,  Werke.    VII.  iS 


2'iA.  *•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

SO  wurden  diese  Zeichen  mehr  Andeutungen  von  Begriffen,  als 
von  Lauten,  nur  dass  jedem  derselben  doch  immer  ein  bestimmtes 
Wort  entspricht,  da  der  Begriff  erst  im  Worte  seine  Vollendung 
erhält. 

Auf  diese  Weise  bilden  die  Chinesische  und  die  Sanskrit- 
Sprache  in  dem  ganzen  uns  bekannten  Sprachgebiete  zwei  feste 
Endpunkte,  einander  nicht  an  Angemessenheit  zur  Geistesentwick- 
lung, allein  allerdings  an  innerer  Consequenz  und  vollendeter 
Durchführung  ihres  Systems  gleich.  Die  Semitischen  Sprachen 
lassen  sich  nicht  als  zwischen  ihnen  liegend  ansehen.  Sie  ge- 
hören ihrer  entschiedenen  Richtung  zur  Flexion  nach  in  Eine 
Classe  mit  den  Sanskritischen.  Dagegen  kann  man  alle  übrigen 
Sprachen  als  in  der  Mitte  jeher  beiden  Endpunkte  befindlich  be- 
trachten, da  alle  sich  entweder  der  Chinesischen  Entblössung  der 
Wörter  von  ihren  grammatischen  Beziehungen  oder  der  festen 
Anschliessung  der  dieselben  bezeichnenden  Laute  nähern  müssen. 
Selbst  einverleibende  Sprachen,  wie  die  Mexicanische ,  sind  in 
diesem  Falle,  da  die  Einverleibung  nicht  alle  Verhältnisse  andeuten 
kann  und  sie,  wo  diese  nicht  ausreicht,  Partikeln  gebrauchen 
müssen,  die  angefügt  werden  oder  getrennt  bleiben  können. 
Weiter  aber,  als  diese  negativen  Eigenschaften,  nicht  aller  gram- 
matischen Bezeichnung  zu  entbehren  und  keine  Flexion  zu  be- 
sitzen, haben  diese  mannigfaltig  unter  sich  verschiedenen  Sprachen 
nichts  mit  einander  gemein  und  können  daher  nur  auf  ganz  un- 
bestimmte Weise  in  Eine  Classe  geworfen  werden. 

Hiernach  fragt  es  sich,  ob  es  nicht  in  der  Sprachbildung 
(nicht  in  demselben  Sprachstamm,  aber  überhaupt)  stufenartige 
Erhebungen  zu  immer  vollkommnerer  geben  sollte?  Man  kann 
diese  Frage  von  der  wirklichen  Sprachentstehung  thatsächlich  so 
nehmen,  als  habe  es  in  verschiedenen  Epochen  des  Menschen- 
geschlechts nur  successive  Sprachbildungen  verschiedener,  einander 
in  ihrer  Entstehung  voraussetzender  und  bedingender  Grade  ge- 
geben. Alsdann  wäre  das  Chinesische  die  älteste,  das  Sanskrit 
die  jüngste  Sprache.  Denn  die  Zeit  könnte  uns  Formen  aus  ver- 
schiedenen Epochen  aufbewahrt  haben.  Ich  habe  schon  weiter 
oben  genügend  ausgeführt  und  es  macht  dies  einen  Hauptpunkt 
meiner  Sprachansichten  aus,  dass  die  vollkommnere,  die  Frage 
bloss  aus  Begriffen  betrachtet,  nicht  auch  die  spätere  zu  seyn 
braucht.  Historisch  lässt  sich  nichts  darüber  entscheiden;  doch 
werde  ich  in  einem  der  folgenden  Abschnitte  dieser  Betrachtungen 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      271; 

bei  Gelegenheit  der  factischen  Entstehung  und  Vermischung  der 
Sprachen  diesen  Punkt  noch  genauer  zu  bestimmen  suchen.  Man 
kann  aber  auch  ohne  Rücksicht  auf  dasjenige,  was  wirklich  be- 
standen hat,  fragen,  ob  sich  die  in  jener  Mitte  liegenden  Sprachen 
bloss  ihrem  Baue  nach  zu  einander  wie  solche  stufenartige  Er- 
hebungen verhalten  oder  ob  ihre  Verschiedenheit  nicht  erlaubt, 
einen  so  einfachen  Massstab  an  sie  zu  legen?  Auf  der  einen 
Seite  scheint  nun  wirklich  das  Erstere  der  Fall.  Wenn  z.  B.  die 
Barmanische  Sprache  für  die  meisten  grammatischen  Beziehungen 
wirkliche  Lautbezeichnungen  in  Partikeln  besitzt,  aber  diese  weder 
unter  einander  noch  mit  den  Hauptwörtern  durch  Lautverände- 
rungen verschlingt,  dagegen,  wie  ich  gezeigt  habe.  Amerikanische 
Sprachen  abgekürzte  Elemente  verbinden  und  dem  daraus  ent- 
stehenden Worte  eine  gewisse  phonetische  Einheit  geben,  so 
scheint  das  letztere  Verfahren  der  wirklichen  Flexion  näher  zu 
stehen.  Sieht  man  aber  wieder  bei  der  Vergleichung  des  Bar- 
manischen mit  dem  eigentlich  Malayischen,  dass  jenes  zwar  viel 
mehr  Beziehungen  bezeichnet,  da  wo  dieses  die  Chinesische  Be- 
zeichnungslosigkeit  beibehält,  dagegen  das  Malayische  die  vor- 
handenen Anfügungssylben  in  sorgfältiger  Beachtung  sowohl  ihrer 
eignen,  als  der  Laute  des  Hauptworts  behandelt,  so  wird  man 
verlegen,  welcher  beider  Sprachen  man  den  Vorzug  ertheilen  soll, 
obgleich  bei  Beurtheilung  auf  andrem  Wege  derselbe  unzweifel- 
haft der  Malayischen  Sprache  gebührt. 

Man  sieht  also,  dass  es  einseitig  seyn  würde,  auf  diese  Weise 
und  nach  solchen  Kriterien  Stufen  der  Sprachen  zu  bestimmen. 
Es  ist  dies  auch  vollkommen  begreiflich.  Wenn  die  bisherigen 
Betrachtungen  mit  Recht  Eine  Sprachform  als  die  einzig  gesetz- 
mässige  anerkannt  haben,  so  beruht  dieser  Vorzug  nur  darauf, 
dass  durch  ein  glückliches  Zusammentreffen  eines  reichen  und 
feinen  Organes  mit  lebendiger  Stärke  des  Sprachsinnes  die  ganze 
Anlage,  welche  der  Mensch  physisch  und  geistig  zur  Sprache  in 
sich  trägt,  sich  vollständig  und  unverfälscht  im  Laute  entwickelt.^) 


V  Nach  „entwickelt"  gestrichen :  „Dies  setzt  aber  eine  innere  richtige  und 
energische  Intuition  des  Verhältnisses  der  Sprachen  zum  Denken  und  ihrer 
verschiedenen  Theile  zu  einander  voraus.  Eine  solche  tnuss  gleich  einer  be- 
lebenden Flamme  die  Sprachbildung  leuchtend  durchdringen,  wenn  der  voll- 
kommen gesetzmässige  Organismus  entstehen  soll.  Ohne  Weckung  dieses  aus  dem 
Innren  heraus  arbeitenden  Princips  bleibt  er  auf  äusseren,  mechanisch  successiv 
wirkenden    Wegen  unerreichbar.     Da   allen  Menschen   die  gleiche  Anlage  zur 

18* 


2nß  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Ein  unter  so  begünstigenden  Umständen  sich  bildender  Sprachbau 
erscheint  dann  als  aus  einer  richtigen  und  energischen  Intuition 
des  Verhältnisses  des  Sprechens  zum  Denken  und  aller  Theile 
der  Sprache  zu  einander  hervorgesprungen.  In  der  That  ist  der 
wahrhaft  gesetzmässige  Sprachbau  nur  da  möglich,  wo  eine  solche, 
gleich  einer  belebenden  Flamme,  die  Bildung  leuchtend  durch- 
dringt. Ohne  ein  von  innen  heraus  arbeitendes  Princip,  auf 
mechanisch  allmählich  einwirkenden  Wegen  bleibt  er  unerreichbar. 
Treffen  aber  auch  nicht  überall  so  befördernde  Umstände  zu- 
sammen, so  haben  doch  alle  Völker  bei  ihrer  Sprachbildung  nur 
immer    eine   und   dieselbe  Tendenz.     Alle   wollen    das  Richtige, 


Sprache  vermöge  der  ihr  Wesen  chdrakterisirenden  Intellectualiiät  beiwohnt,  so 
muss  jedoch  die  Intuition,  wo  sie  ganz  in  Wirksamkeit  tritt,  überall  dieselbe  seyn 
und  kann  sich  nicht  ursprünglich  qualitativ  unterscheiden.  Kein  Volk  kann  die 
Forderungen  der  Sprache  nur  zur  Hälfte  oder  zu  irgend  einem  Theil  erfüllen, 
keine  z.  B.  bloss  die  materielle  Bedeutung  bezeichnen,  die  formale  ausschliesslich 
hinzudenken  wollen.  Nur  insofern  jene  Intuition  nicht  gehörig  geweckt  oder 
ihre  Wirksamkeit  erschwert  imd  gehemmt  wird,  entstehen  unvollkommene  oder 
falsche,  sich  von  dem  vollendeten  Baue  entfernende  Sprachbildungen.  Es  ist 
hier  immer  ein  Kampf  zwischen  der  inneren  Kraft  und  dem  äusseren  Wider- 
stände, wo  der  Sieg  verloren  geht,  wenn  das  allgemeine  geistige  Vermögen 
nicht  die  gehörige  Lebendigkeit  und  Stärke  besitzt.  Die  Sprachen,  von 
welchen  wir  hier  reden,  haben  daher  nicht  eigentlich  ein  von  dem  der  voll- 
endeten verschiedenes  Princip.  Die  Sprache  kann  ihrer  innersten  Natur  nach 
gar  nicht  anders  als  ein  zusammenhängendes  Gewebe  von  Analogieen  ausmachen, 
in  welchem  das  fremde  Element  sich  nur  durch  eigne  Verknüpfung  zu  halten 
vermag.  Bei  dieser  Beschaffenheit  und  diesem  Verhäliniss  zum  gesetzmässigen 
Baue  muss  man  auch  beinah  verzweifeln,  die  von  demselben  abweichenden  Sprachen 
in  ein  erschöpfendes  System  von  Classen  zu  bringen,  wenn  nemlich  durch  eine 
solche  Abtheilung  wirklich  ihre  innere  Natur,  ihr  Entstehen  aus  dem  Geiste  und 
ihr  Rückwirken  auf  denselben  charakterisirt  werden  soll.  Ein  Andres  ist  es,  wenn 
man  der  Eintheilung  zu  bestimmten  Zwecken  nur  einzelne  oder  äussere  Erschei- 
nungen an  ihnen  zum  Grunde  legen  soll.  Ein  vollständiges  System  ihres  Zu- 
sammenhanges und  ihrer  Verschiedenheit  würde,  ständen  der  Ausführimg  des- 
selben auch  nicht  die  angegebenen  inneren  Gründe  entgegen,  wenigstens  bei  dem 
jetzigen  Zustande  der  Sprachkunde  unmöglich  seyn,  da  ihm  eine  Menge  einzelner 
noch  gar  nicht  unternommener  Untersuchungen  vorangehen  müssten.  Denn  die 
richtige  Einsicht  in  die  Natur  einer  Sprache  erfordert  viel  anhaltendere  und 
tiefere  Forschungen,  als  bisher  noch  den  meisten  Sprachen  gewidmet  worden  sind. 
Dennoch  ist  es  für  eine  allgemeine  Uebersicht  der  hier  vorkommenden  Verhält- 
nisse lehrreich,  einige  Blicke  auf  Sprachen  zu  werfen,  welche  in  Hauptpunkten 
ihres  Baues  allgemeine  Aehnlichkeit  oder  Verschiedenheit  verrathen,  und  ich  ver- 
weile daher  noch  bei  der  Betrachtung  dieser  Fälle,  besonders  in  der  Rücksicht 
welche  sich  näher  an  die  in  dieser  Einleitung  ausgeführten  Ideen  anschliesst." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      277 

Naturgemässe  und  daher  Höchste.  Dies  bewirkt  die  sich  an  und 
in  ihnen  entfaltende  Sprache  von  selbst  und  ohne  ihr  Zuthun 
und  es  ist  nicht  denkbar,  dass  eine  Nation  gleichsam  absichtlich 
2.  B.  nur  die  materielle  Bedeutung  bezeichnete,  die  grammatischen 
Beziehungen  aber  der  Lautbezeichnung  entzöge.  Da  indess  die 
Sprache,  die,  um  hier  einen  schon  im  Vorigen  gebrauchten  Aus- 
druck zu  wiederholen,  der  Mensch  nicht  sowohl  bildet,  als  viel- 
mehr in  ihren,  wie  von  selbst  hen^orgehenden  Entwicklungen 
mit  einer  Art  freudigen  Erstaunens  an  sich  entdeckt,  durch  die 
Umstände,  in  welchen  sie  in  die  Erscheinung  tritt,  in  ihrem 
Schaffen  bedingt  wird,  so  erreicht  sie  nicht  überall  das  gleiche 
Ziel,  sondern  fühlt  sich,  nicht  ausreichend,  an  einer,  nicht  in  ihr 
selbst  liegenden  Schranke.  Die  Nothwendigkeit  aber,  dem- 
ungeachtet  immer  ihrem  allgemeinen  Zwecke  zu  genügen,  treibt 
sie,  wie  es  auch  seyn  möge,  von  jener  Schranke  aus  nach  einer 
hierzu  tauglichen  Gestaltung.  So  entsteht  die  concrete  Form  der 
verschiedenen  menschlichen  Sprachen  und  enthält,  insofern  sie 
vom  gesetzmässigen  Baue  abweicht,  daher  immer  zugleich  einen 
negativen,  die  Schranke  des  Schaffens  bezeichnenden  und  einen 
positiven,  das  unvollständig  Erreichte  dem  allgemeinen  Zweck  zu- 
führenden Theil.  In  dem  negativen  liesse  sich  nun  wohl  eine 
stufenartige  Erhebung  nach  dem  Grade,  in  welchem  die  schöpfe- 
rische Kraft  der  Sprache  ausgereicht  hätte,  denken.  Der  positive 
aber,  in  welchem  der  oft  sehr  kunstvolle  individuelle  Bau  auch 
der  unvollkommneren  Sprachen  liegt,  erlaubt  bei  weitem  nicht 
immer  so  einfache  Bestimmungen.  Indem  hier  mehr  oder  weniger 
Uebereinstimmung  und  Entfernung  vom  gesetzmässigen  Baue  zu- 
gleich vorhanden  ist,  muss  man  sich  oft  nur  bei  einem  Abwägen 
der  Vorzüge  und  Mängel  begnügen.  Bei  dieser,  wenn  der  Aus- 
druck erlaubt  ist,  anomalen  Art  der  Spracherzeugung  wird  oft  ein 
einzelner  Sprachtheil  mit  einer  gewissen  Vorliebe  vor  andren  aus- 
gebildet und  es  Hegt  hierin  häufig  gerade  der  charakteristische 
Zug  einzelner  Sprachen.  Natürlich  aber  kann  sich  alsdann  die 
wahre  Reinheit  des  richtigen  Princips  in  keinem  Theile  aus- 
sprechen. Denn  dieses  fordert  gleichmässige  Behandlung  aller 
und  würde,  könnte  es  einen  Theil  wahrhaft  durchdringen,  sich 
von  selbst  auch  über  die  anderen  ergiessen.  Mangel  an  wahrer 
innerer  Consequenz  ist  daher  ein  gemeinsamer  Charakter  aller 
dieser  Sprachen.  Selbst  die  Chinesische  kann  eine  solche  doch 
nicht  vollkommen   erreichen,   da   doch  auch  sie  in  einigen,  aller- 


2-78  ^'    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

dings  nicht  zahlreichen  Fällen  dem  Principe  der  Wortfolge  mit 
Partikeln  zu  Hülfe  kommen  muss. 

Wenn  den  unvollkommneren  Sprachen  die  wahre  Einheit 
eines,  sie  von  innen  aus  gleichmässig  durchstrahlenden  Principes 
mangelt,  so  liegt  es  doch  in  dem  hier  geschilderten  Verfahren, 
dass  jede  demungeachtet  einen  festen  Zusammenhang  und  eine, 
nicht  zwar  immer  aus  der  Natur  der  Sprache  überhaupt,  aber 
doch  aus  ihrer  besonderen  Individualität  hervorgehende  Einheit 
besitzt.  Ohne  Einheit  der  Form  wäre  überhaupt  keine  Sprache 
denkbar,  und  so  wie  die  Menschen  sprechen,  fassen  sie  noth- 
wendig  ihr  Sprechen  in  eine  solche  Einheit  zusammen.  Dies  ge- 
schieht bei  jedem  inneren  und  äusseren  Zuwachs,  welchen  die 
Sprache  erhält.  Denn  ihrer  innersten  Natur  nach  macht  sie  ein 
zusammenhängendes  Gewebe  von  Analogieen  aus,  in  dem  sie  das 
fremde  Element  nur  durch   eigene  Anknüpfung   festhalten   kann. 

Die  hier  gemachten  Betrachtungen  zeigen  zugleich,  welche 
Mannigfaltigkeit  verschiedenen  Baues  die  menschliche  Sprach- 
erzeugung in  sich  zu  fassen  vermag,  und  lassen  zugleich  an  der 
Möglichkeit  einer  erschöpfenden  Classification  derselben  verzweifeln. 
Eine  solche  ist  wohl  zu  bestimmten  Zwecken  und,  wenn  man 
einzelne  Erscheinungen  an  ihnen  zum  Eintheilungsgrunde  an- 
nimmt, ausführbar,  verwickelt  dagegen  in  unauflösliche  Schwierig- 
keiten, wenn  bei  tiefer  eindringendem  Forschen  die  Eintheilung 
auch  in  ihre  wesentliche  Beschaffenheit  und  ihren  inneren  Zu- 
sammenhang mit  der  geistigen  Individualität  der  Nationen  ein- 
gehen soll.  Die  Aufstellung  eines  nur  irgend  vollständigen  Systems 
ihres  Zusammenhanges  und  ihrer  Verschiedenheiten  wäre,  ständen 
derselben  auch  nicht  die  so  eben  angegebenen  allgemeinen 
Schwierigkeiten  im  Wege,  doch  bei  dem  jetzigen  Zustande  der 
Sprachkunde  unmöglich.  Eine  nicht  unbedeutende  Anzahl  noch 
gar  nicht  unternommener  Forschungen  müsste  einer  solchen 
Arbeit  nothwendig  vorausgehen.  Denn  die  richtige  Einsicht  in 
die  Natur  einer  Sprache  erfordert  viel  anhaltendere  und  tiefere 
Untersuchungen,  als  bisher  noch  den  meisten  Sprachen  gewidmet 
worden  sind. 

Dennoch  finden  sich  auch  zwischen  nicht  stammverwandten 
Sprachen  und  in  Punkten,  die  am  entschiedensten  mit  der  Geistes- 
richtung zusammenhängen,  Unterschiede,  durch  welche  mehrere 
wirklich  verschiedene  Classen  zu  bilden  scheinen.  Ich  habe  weiter 
oben  (§.  34.)  von  der  Wichtigkeit  gesprochen,  dem  Verbum  eine, 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      270 

seine  wahre  Function  formal  charakterisirende  Bezeichnung  zu 
geben.  In  dieser  Eigenthümlichkeit  nun  unterscheiden  sich 
Sprachen,  welche  sonst  dem  Ganzen  ihrer  Bildung  nach  auf 
gleicher  Stufe  zu  stehen  scheinen.  Es  ist  natürlich,  dass  die 
Partikel-Sprachen,  wie  man  diejenigen  nennen  könnte,  welche  die 
grammatischen  Beziehungen  zwar  durch  Sylben  oder  Wörter  be- 
zeichnen, allein  diese  gar  nicht  oder  nur  locker  und  verschiebbar 
anfügen,  keinen  ursprünglichen  Unterschied  zwischen  Nomen  und 
Verbum  feststellen.  Bezeichnen  sie  auch  einige  einzelne  Gattungen 
des  ersteren,  so  geschieht  dies  nur  in  Beziehung  auf  bestimmte 
Begriffe  und  in  bestimmten  Fällen,  nicht  im  Sinne  grammatischer 
Absonderung  durchgängig.  Es  ist  daher  in  ihnen  nicht  selten, 
dass  jedes  Wort  ohne  Unterschied  zum  Verbum  gestempelt 
werden,  dagegen  auch  wohl  jede  Verbalflexion  zugleich  als  Parti- 
cipium  gelten  kann.  Sprachen  nun,  die  hierin  einander  gleich 
sind,  unterscheiden  sich  dennoch  wieder  dadurch,  dass  die  einen 
das  Verbum  mit  gar  keinem,  seine  eigenthümliche  Function  der 
Satzverknüpfung  charakterisirenden  Ausdruck  ausstatten,  die 
andren  dies  wenigstens  durch  die  ihm  in  Abkürzungen  oder 
Umänderungen  angefügten  Pronomina  thun,  den  schon  im  Obigen 
öfters  berührten  Unterschied  zwischen  Pronomen  und  Verbalperson 
festhaltend.  Das  erstere  Verfahren  beobachtet  z.  B.  die  Barmanische 
Sprache,  soweit  ich  sie  genauer  beurtheilen  kann,  auch  die 
Siamesische,  die  Mandschuische  und  Mongolische,  insofern  sie  die 
Pronomina  nicht  zu  Affixen  abkürzen,  die  Sprachen  der  Südsee- 
Inseln  und  grossentheils  auch  die  übrigen  Malayischen  des  west- 
lichen Archipelagus,  das  letztere  die  Mexicanische,  die  Delaware- 
Sprache  und  andere  Amerikanische.  Indem  die  Mexicanische  dem 
Verbum  das  regierende  und  regierte  Pronomen,  bald  in  concreter, 
bald  in  allgemeiner  Bedeutung,  beigiebt,  drückt  sie  wirklich  auf 
eine  geistigere  Weise  seine  nur  ihm  angehörende  Function  durch 
die  Richtung  auf  die  übrigen  Haupttheile  des  Satzes  aus.  Bei 
dem  ersteren  dieser  beiden  Verfahren  können  Subject  und  Praedicat 
nur  so  verknüpft  werden,  dass  man  die  Verbalkraft  durch  Hin- 
zufügung des  Verbum  seyn  andeutet.  Meistentheils  aber  wird 
dasselbe  bloss  hinzugedacht;  was  in  Sprachen  dieses  Verfahrens 
Verbum  heisst,  ist  nur  Participium  oder  Verbalnomen  und  kann, 
wenn  auch  Genus  des  Verbum,  Tempus  und  Modus  daran  aus- 
gedrückt sind,  vollkommen  so  gebraucht  werden.  Unter  Modus 
verstehen  aber  diese  Sprachen  nur  die  Fälle,  wo  die  Begriffe  des 


280  '•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Wünschens,  Befürchtens,  des  Könnens,  Müssens  u.  s.  f.  Anwendung 
finden.  Der  reine  Conjunctivus  ist  ihnen  in  der  Regel  fremd. 
Das  durch  ihn  ohne  Hinzukommen  eines  materiellen  Neben- 
begriffs ausgedrückte  ungewisse  und  abhängige  Setzen  kann  in 
Sprachen  nicht  angemessen  bezeichnet  werden,  in  welchen  das 
einfache  actuale  Setzen  keinen  formalen  Ausdruck  findet.  Dieser 
Theil  des  angeblichen  Verbum  ist  alsdann  mehr  oder  weniger 
sorgfältig  behandelt  und  zu  Worteinheit  verschmolzen.  Der  hier 
geschilderte  Unterschied  ist  aber  genau  derselbe,  als  wenn  man 
das  Verbum  in  seine  Umschreibung  auflöst  oder  es  in  seiner 
lebendigen  Einheit  gebraucht.  Das  erstere  ist  mehr  ein  logisch 
geordnetes,  das  letztere  ein  sinnlich  bildendes  Verfahren  und 
man  glaubt,  wenn  man  sich  in  die  Eigenthümlichkeit  dieser 
Sprachen  versetzt ,  zu  sehen , '  was  in  dem  Geiste  der  Völker, 
welchen  nur  das  auflösende  eigenthümlich  ist,  vorgehen  muss. 
Die  andren,  so  wie  die  Sprachen  gesetzmässiger  Bildung  bedienen 
sich  beider  nach  Verschiedenheit  der  Umstände.  Die  Sprache 
kann  ihrer  Natur  nach  den  sinnlich  bildenden  Ausdruck  der 
Verbalfunction  nicht  ohne  grosse  Nachtheile  aufgeben.  Auch  wird 
in  der  That,  selbst  bei  den  Sprachen,  welche,  wie  man  offenherzig 
gestehen  muss,  an  wirklicher  Abwesenheit  des  wahren  Verbum 
leiden,  der  Nachtheil  dadurch  verringert,  dass  bei  einem  grossen 
Theile  von  Verben  die  Verbalnatur  in  der  Bedeutung  selbst  liegt 
und  daher  der  formale  Mangel  materiell  ersetzt  wird.  Kommt 
nun  noch,  wie  im  Chinesischen,  hinzu,  dass  Wörter,  welche  beide 
Functionen,  des  Nomen  und  des  Verbum,  übernehmen  könnten, 
durch  den  Gebrauch  nur  zu  Einem  gestempelt  sind  oder  dass 
sie  ihre  Geltung  durch  die  Betonung  anzeigen  können,  so  hat  sich 
die  Sprache  auf  einem  andren  Wege  noch  mehr  wieder  in  ihre 
Rechte  eingesetzt. 

Unter  allen,  mir  genauer  bekannten  Sprachen  mangelt  keiner 
so  sehr  die  formale  Bezeichnung  der  Verbalfunction,  als  der 
Barmanischen.  *)    Carey  bemerkt  ausdrücklich  in  seiner  Grammatik, 


*)  Der  Name,  den  die  Barmanen  sich  selbst  geben,  ist  Mranmä.  Das  Wort  wird 
aber  gewöhnlich  Mrammä  geschrieben  und  Byammä  ausgesprochen.  (Judson.  li.  v.) 
Wenn  es  erlaubt  ist,  diesen  Namen  geradezu  aus  der  Bedeutung  seiner  Elemente  zu 
erklären,  so  bezeichnet  er  einen  kräftigen,  starken  Menschenschlag.  Denn  mran  heisst 
schnell  und  mä  hart,  wohl,  gesund  seyn.  Von  diesem  einheimischen  Worte 
sind  ohne  Zweifel  die  verschiedenen  für  das  Volk  und  das  Land  üblichen  Schreibungen 
entstanden,    unter   welchen  Barma   und  Barmanen    die    richtige    ist.      Wenn    Carey   und 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      28 1 

dass  in  der  Barmanischen  Sprache  Verba  kaum  anders,  als  in 
Participialformen  gebraucht  werden,  indem,  setzt  er  hinzu,  dies 
hinreichend  sey,  jeden  durch  ein  Verbum  auszudrückenden  Begriff 
anzudeuten.  An  einer  andren  Stelle  spricht  er  dem  Barmanischen 
alle  \^erba  ganz  und  gar  ab.*)  Diese  Eigenthümlichkeit  wird  aber 
erst  ganz  verständiich,  wenn  man  sie  im  Zusammenhange  mit  dem 
übrigen  Bau  der  Sprache  betrachtet. 

Die  Barmanischen  Stammwörter  erfahren  keine  Veränderung 
durch  die  Anfügung  grammatischer  Sylben.  Die  einzigen  Buch- 
stabenveränderungen in  der  Sprache  sind  die  Verwandlung  des 
ersten  aspirirten  Buchstaben  in  einen  unaspirirten ,  da  wo  ein 
aspirirter  verdoppelt  vrird,  und  bei  der  \^erbindung  von  zwei  ein- 
sylbigen  Stammwörtern  zu  Einem  Worte  oder  der  Wiederholung 
des  nemhchen  der  Uebergang  des  dumpfen  Anfangsconsonanten 
des  zweiten  in  den  unaspirirten  tönenden.  Auch  im  Tamulischen**) 
werden  k^  t  (sowohl  das  linguale  als  dentale)  und  /  in  der  ]^Iitte 
der  Wörter  zu  g,  d  und  b.  Der  Unterschied  ist  nur,  dass  im 
Tamulischen  der  Consonant  dumpf  bleibt,  wenn  er  sich  doppelt 
in  der  Wortmitte  befindet,  da  hingegen  im  Barmanischen  die 
Umwandlung  auch  dann  statt  findet,  wenn  das  erste  beider 
Stammwörter  mit  einem  Consonanten  schliesst.  Das  Barmanische 
erhält  daher  in  jedem  Falle  die  grössere  Einheit  des  Wortes  durch 
die  grössere  Flüssigkeit  des  hinzutretenden  Consonanten.***) 

Judson  Burma  und  Burmanen  schreiben,  so  meinen  sie  denselben,  dem  Consonantea 
inhaerirenden  Laut  und  bezeichnen  diesen  nur  auf  eine  falsche,  jetzt  allgemein  auf- 
gegebene Weise.  Man  vergleiche  auch  Berghaus.  Asia.  Gotha.  1832.  I.  Lieferung. 
Nr.  8.     Hinterindien.  S.  77.  und  Leyden.     {Asiat,  res.  X.  232.) 

*)  A  Grammar  of  the  Biirman  language.  Serampore.  1814.  S.  79.  §.  i. 
S.  181.  Vorzüglich  auch  in  der  Vorrede  S.  8.  9.  Diese  Grammatik  hat  Felix  Carey, 
den  ältesten  Sohn  des  William  Carey,  des  Lehrers  mehrerer  Indischen  Sprachen  am 
Collegium  in  Fort  William,  dem  wir  eine  Reihe  von  Grammatiken  Asiatischer  Sprachen 
verdanken,  zum  Verfasser.  Felix  Carey  starb  leider  schon  im  Jahre  1822.  (Jourtl. 
Asiat,  in.  59.)  Sein  Vater  ist  ihm  im  Jahre  1834.  gefolgt. 
**)  Anderson's  Grammatik  in  der  Tafel  des  Alphabets. 

***)  In  beiden  Sprachen  ändert  sich  wegen  dieses  Wechsels  der  Aussprache  der 
Buchstabe  in  der  Schrift  nicht,  obgleich  die  Barmanische,  was  der  Fall  der  Tamulischen 
nicht  ist,  Zeichen  für  alle  tönenden  Buchstaben  besitzt.  Der  Fall,  dass  die  Aussprache 
sich  von  der  Schrift  entfernt,  ist  im  Barmanischen  häufig.  Ich  habe  über  die  haupt- 
sächlichste dieser  Abweichungen  in  den  einsylbigen  Stammwörtern,  wo  z.  B.  das  ge- 
schriebene kak  in  der  Aussprache  ket  lautet,  in  meinem  Briefe  an  Herrn  Jacquet  [Nouv. 
Jourtl.  Asiat.  IX.  500.) ')  über  die  Polynesischen  Alphabete  die  Vermuthung  gewagt,  dass 

V  Vgl.  Band  6,  sGg. 


232  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Der  Barmanische  Wortbau  beruht  (mit  Ausnahme  der  Pro- 
nomina und  der  grammatischen  Partikeln)  auf  einsylbigen  Stamm- 
wörtern und  aus  denselben  gebildeten  Zusammensetzungen.  Von 
den  Stammwörtern  lassen  sich  zwei  Classen  unterscheiden.  Die 
einen  deuten  Handlungen  und  Eigenschaften  an  und  beziehen  sich 
daher  auf  mehrere  Gegenstände.  Die  andren  sind  Benennungen 
einzelner  Gegenstände,  lebendige  Geschöpfe  oder  leblose  Dinge. 
So  liegt  also  hier  Verbum,  Adjectivum  und  Substantivum  in  der 
Bedeutung  der  Stammwörter.  Auch  besteht  der  eben  ange- 
gebene Unterschied  dieser  Wörter  nur  in  ihrer  Bedeutung,  nicht 
in   ihrer    Form;    e,    kühl    seyn,    erkalten,   kü,   umgeben, 


die  Beibehaltung  der  von  der  Aussprache,  verschiedenen  Schrift  einen  etymologischen 
Grund  habe,  und  bin  auch  noch  jetzt  dieser  Meinung.  Die  Sache  scheint  mir  nemlich 
die,  dass  die  Aussprache  nach  und  nach  von  der  Schrift  abgewichen  ist,  dass  man  aber, 
um  die  ursprüngliche  Gestalt  des  Wortes  kenntlich  zu  erhalten,  diesen  Abweichungen 
in  der  Schrift  nicht  gefolgt  ist.  Leyden  scheint  dieselbe  Ansicht  über  diesen  Punkt 
gehabt  zu  haben,  da  er  {Asiat,  res.  X.  237.)  den  Barmanen  eine  weichlichere,  minder 
articulirte  und  mit  der  gegenwärtigen  Rechtschreibung  der  Sprache  weniger  überein- 
kommende Aussprache,  als  den  Rukheng,  den  Bewohnern  von  Aracan  (bei  Judson: 
Rariü),  zuschreibt.  Es  liegt  aber  auch  in  der  Natur  der  Sache,  dass  es  nicht  füglich 
anders  damit  seyn  kann.  Wäre  in  dem  oben  angeführten  Beispiele  nicht  früher  wirklich 
kak  gesprochen  worden,  so  würde  sich  auch  diese  Endung  nicht  in  der  Schrift  befinden. 
Denn  es  ist  ein  gewisser  und  auch  neuerlich  von  Herrn  Lepsius  in  seiner  an  scharf- 
sinnigen Bemerkungen  und  feinen  Beobachtungen  reichen  Schrift  über  die  Palaeographie 
als  Mittel  für  die  Sprachforschung  S.  6.  7.  89.  genügend  ausgeführter  Grundsatz,  dass 
nichts  in  der  Schrift  dargestellt  wird,  was  sich  nicht  in  irgend  einer  Zeit  in  der  Aus- 
sprache gefunden  hat.  Nur  die  Umkehrung  dieses  Satzes  halte  ich  für  mehr  als  zweifel- 
haft, da  es  nicht  leicht  zu  widerlegende  Beispiele  giebt,  dass  die  Schrift,  wie  auch  sehr 
begreiflich  ist,  nicht  immer  die  ganze  Aussprache  darstellt.  Dass  .im  Barmanischen 
diese  Lautveränderungen  nur  durch  flüchtiger  werdende  Aussprache  entstanden  sind, 
beweist  Carey's  ausdrückliche  Bemerkung,  dass  die  von  der  Schrift  abweichenden 
Endungen  der  einsylbigen  Wörter  durchaus  nicht  rein,  sondern  sehr  dunkel  und  kaum 
dem  Ohre  recht  unterscheidbar  ausgesprochen  werden.  Der  palatale  Nasallaut  wird 
sogar  nicht  ungewöhnlich  in  der  Aussprache  in  diesen  Fällen  am  Ende  der  Wörter 
ganz  weggelassen.  Daher  kommt  es,  dass  die  in  mehreren  grammatischen  Beziehungen 
gebrauchte  geschriebene  Sylbe  thang  in  der  Aussprache  bei  Carey  bald  theen  (nemlich 
so,  dass  ee  für  ein  langes  i  gilt.  Tabelle  nach  S.  20.),  bald  thee  (S.  36.  §.  105.),  bei 
Hough  in  seinem  Englisch-Barmanischen  Wörterbuche  gewöhnlich  the  (S.  14.)  lautet, 
so  dass  die  Verkürzung  bald  stärker,  bald  geringer  zu  seyn  scheint.  In  einem  andren 
Punkte  lässt  sich  historisch  beweisen,  dass  die  Schrift  die  Aussprache  eines  andren 
Dialekts  und  vermuthlich  eines  älteren  bewahrt.  Das  Verbum  seyn  wird  hri  geschrieben 
und  bei  den  Barmanen  shi  ausgesprochen.  In  Aracan  dagegen  lautet  es  hi  und  der 
Volksstamm  dieser  Provinz  wird  für  älter  und  früher  civilisirt,  als  der  der  Barmanen 
gehalten.     (Leyden.  Asiat,  res.  X.  222.  237.) 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      28"? 

verbinden,  helfen,  viä,  hart,  stark,  gesund  se3'n,  sind 
nicht  anders  geformt,  als  le,  der  Wind,  r^  (ausgesprochen  jv<?*)), 
das  Wasser,  lü^  der  Mensch.  Carey  hat  die  Beschaffenheit 
und  Handlung  andeutenden  Stammwörter  in  ein  besondres  alpha- 
betisches Verzeichniss  gebracht,  welches  seiner  Grammatik  an- 
gehängt ist,  und  hat  sie  ganz  wie  die  Wurzeln  des  Sanskrit  be- 
handelt. Auf  der  einen  Seite  lassen  sie  sich  in  der  That  damit 
vergleichen.  Denn  sie  gehören  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt 
keinem  einzelnen  Redetheile  an  und  erscheinen  auch  in  der  Rede 
nur  mit  den  grammatischen  Partikeln,  welche  ihnen  ihre  Be- 
stimmung in  derselben  geben.  Es  wird  auch  eine  grosse  Zahl 
von  Wörtern  von  ihnen  abgeleitet,  was  schon  aus  der  Art  der 
durch  sie  bezeichneten  Begriffe  natürlich  herfliesst.  Allein  genau 
erwogen  haben  sie  durchaus  eine  andere  Xatur,  als  die  Sanskriti- 
schen Wurzeln,  da  die  grammatische  Behandlung  der  ^anzen 
Sprache  nur  Stammwörter  und  grammatische  Partikeln  an  einander 
reiht  und  keine  verschmolzenen  Wortganze  bildet,  ebendarum 
auch  nicht  blosse  Ableitungssylben  mit  Stammlauten  verbindet. 
Auf  diese  Weise  erscheinen  die  Stammwörter  in  der  Rede  nicht 
als  untrennbare  Theile  verbundener  Wortformen,  sondern  wirklich 
in  ihrer  ganzen  unveränderten  Gestalt  und  es  bedarf  keiner 
künstlichen  Abtrennung  derselben  aus  grösseren,  in  sich  ver- 
schmolzenen Formen.  Die  Ableitung  aus  ihnen  ist  auch  keine 
wahre  Ableitung,  sondern  blosse  Zusammensetzung.  Die  Sub- 
stantiva  endlich  haben  zum  grössten  Theil  nichts,  was  sie  von 
ihnen  unterscheidet,  und  lassen  sich  meistens  nicht  von  ihnen  ab- 
leiten.    Im   Sanskrit  ist  wenigstens,   seltene   Fälle   ausgenommen, 


*)  Xemlich  nach  Hough ;  das  r  wird  bald  wie  r,  bald  wie  y  ausgesprochen  und 
CS  scheint  hierüber  keine  sichere  Regel  zu  geben.  Klaproth  [Asia  polyglotta.  S.  369.) 
schreibt  das  Wort  ji  nach  Französischer  Aussprache,  giebt  aber  nicht  an,  woher  er 
seine  Barmanischen  Wörter  genommen  hat.  Da  die  Aussprache  oft  von  der  Schreibung 
abweicht,  so  schreibe  ich  die  ßannanischen  Wörter  genau  nach  der  letzteren,  so  dass 
man  nach  der,  im  Anfange  dieser  Schrift  gegebenen  Erläuterung  über  die  Umschreibung 
des  Barmanischen  Alphabets  jedes  von  mir  angeführte  Wort  genau  in  die  Barmanischen 
Schriftzeichen  zurückübertragen  kann.  In  Parenthese  gebe  ich  alsdann  die  Aussprache 
da,  wo  sie  abweicht  und  mir  mit  Sicherheit  bekannt  ist.  Ein  H.  an  dieser  Stelle  deutet 
an,  dass  Hough  die  Aussprache  so  angiebt.  Ob  Klaproth  in  der  Asia  polyglotta  der 
Schrift  oder  der  Aussprache  folgt,  ist  nicht  deutlich  zu  sehen.  So  schreibt  er  S.  375. 
für  Zunge  la  und  für  Hand  lek.  Das  erstere  Wort  ist  aber  in  der  Schrift  hlyä,  in 
der  Aussprache  shyä,  das  letztere  in  der  Schrift  lak,  in  der  Aussprache  let.  Das  bei 
ihm  für  Zunge  angegebene  yna  finde  ich  in  meinen  Wörterbüchern  gar  nicht. 


284.  ^-    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

die  Form  der  Nomina  von  der  Wurzelform  verschieden,  wenn  es 
auch  mit  Recht  unstatthaft  genannt  werden  mag,  alle  Nomina 
durch  Unädi-Suffixa  von  den  Wurzeln  abzuleiten.  Die  angeblichen 
Barmanischen  Wurzeln  verhalten  sich  daher  eigentlich  wie  die 
Chinesischen  Wörter,  verrathen  aber  allerdings,  mit  dem  übrigen 
Baue  der  Sprache  zusammengenommen,  eine  gewisse  Annäherung 
zu  den  Sanskritischen  Wurzeln.  Sehr  häufig  hat  die  angebliche 
Wurzel  ohne  alle  Veränderung  auch  daneben  die  Bedeutung  eines 
Substantivum,  in  welchem  ihre  eigenthümliche  Verbalbedeutung 
mehr  oder  weniger  klar  hervortritt.  So  heisst  mai  schwarz 
seyn,  drohen,  schrecken  und  die  Indigopflanze,  ne 
bleiben,  fortwähren  und  die  Sonne,  paun  zur  Ver- 
stärkung hinzufügen,  daher  verpfänden  und  die  Lende, 
Hinterkeule  bei  Thieren.  Dass  bloss  die  grammatische 
Kategorie  durch  eine  Ableitungssylbe  aus  der  Wurzel  verändert 
und  bezeichnet  werde,  finde  ich  nur  in  einem  einzigen  Falle; 
wenigstens  unterscheidet  sich  nur  dieser  dem  Anblicke  nach  von 
der  sonst  gewöhnlichen  Zusammensetzung.  Es  werden  nemlich 
durch  Praefigirung  eines  a  aus  Wurzeln  Substantiva,  nach  Hough 
(F<?^.  S.  20.)  auch  Adjectiva  gebildet:  a-cliä,  Speise,  Nahrungs- 
mittel, von  cliä,  essen;  a-myak  (amye^H.),  A erger,  von  myak, 
ärgerlich  seyn,  sich  ärgern;  a-pan: ,  ein  abmattendes 
Geschäft,  \onpan:,  mitMühe  athmen;  chang  {chi)^  in  eine 
ununterbrocheneReihe  stellen,  und  a-chang,  Ordnung, 
Methode.  Dies  vorschlagende  a  wird  aber  wieder  abgeworfen, 
wenn  das  Substantivum  als  eines  der  letzten  Glieder  in  ein  Com- 
positum tritt.  Diese  Abwerfung  findet  aber  auch,  wie  wir  weiter 
unten  bei  ama  sehen  werden,  in  Fällen  statt,  v/o  das  a  gewiss 
keine  Ableitungssylbe  aus  einer  Wurzel  ist.  Es  giebt  auch  Sub- 
stantiva, welche  ohne  Aenderung  der  Bedeutung  diesen  Vorschlag 
bald  haben,  bald  entbehren.  So  lautet  das  oben  angeführte  pauil, 
Lende,  auch  bisweilen  apaiifi.  Man  kann  daher  doch  di£s  a 
keiner  wahren  Ableitungssylbe  gleichstellen. 

In  Zusammensetzungen  sind  theils  zvv^ei  Beschaflfenheits-  oder 
Handlungswörter  (Carey's  Wurzeln),  theils  zwei  Nomina,  theils 
endlich  ein  Nomen  mit  einer  solchen  Wurzel  verbunden.  Der 
erste  Fall  wird  oft  an  der  Stelle  eines  Modus  des  Verbum, 
z.  B.  des  Optativs  durch  die  Verbindung  irgend  eines  Verbal- 
begriifs  mit  wünschen  angewandt.  Es  werden  jedoch  auch 
zwei  Wurzeln  bloss  zur  Modificirung  des  Sinnes  zusammengesetzt 


und  ihren  EinfluS  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      28^^ 

und  alsdann  fügt  die  letzte  demselben  bisweilen  kaum  eine  kleine 
Nuance  hinzu;  ja  die  Ursach  der  Zusammensetzung  lässt  sich  bis- 
weilen aus  dem  Sinne  der  einzelnen  Wurzeln  nicht  errathen.  So 
heissen pan, pan-krä: und pan-kzcä Erlaubniss  fordern,  bitten; 
krä:  {kyä:)  heisst  Nachricht  empfangen  und  geben,  dann  aber 
auch  getrennt  se}'n,  kwä  sich  trennen,  nach  vorheriger 
Verbindung  geschieden  werden.  In  andren  Compositis 
ist  die  Zusammensetzung  erklärlicher:  so  heisst  prach-lmiä:  gegen 
etwas  sündigen,  übertreten  Mv^di  pr ach  {prich)  allein:  nach 
etwas  hinwerfen,  lunä:  irren,  auf  falschem  Wege  seyn, 
daher  auch  für  sich  allein:  sündigen.  Es  wird  also  hier  durch 
die  Zusammensetzung  eine  ^>rstärkung  des  Begriffs  erreicht. 
Aehnliche  Fälle  finden  sich  häufiger  und  zeigen  deutlich,  dass  die 
Sprache  die  Eigenthümlichkeit  besitzt,  sehr  oft  neben  einer  ein- 
fachen und  daher  einsylbigen  Wurzel  ein  aus  zweien  zusammen- 
gesetztes und  also  zweisylbiges  Verbum  ohne  alle  irgend  wesent- 
liche Veränderung  der  Bedeutung  und  so  zu  büden,  dass  die 
hinzutretende  Wurzel  den  Begriff  der  anderen  entweder  bloss  auf 
etwas  verschiedene  Weise  wiedergiebt  oder  ihn  auch  ganz  ein- 
fach wiederholt  oder  endlich  einen  ganz  allgemeinen  Begriff  hin- 
zufügt.*)    Ich    werde    auf   diese,    für   den   Sprachbau   überhaupt 


*)  Carey's  Grammatik  hebt  diese  Art  der  Composita  nicht  heraus  und  erwähnt 
derselben  nicht  besonders.  Sie  ergiebt  sich  aber  von  selbst,  wenn  man  das  Barmanische 
Wörterbuch  prüfend  durchgeht.  Auch  scheint  Judson  auf  diese  Gattung  der  Zusammen- 
setzung hinzudeuten,  wenn  er  v.  pan  bemerkt,  dass  dies  Wort  nur  in  Zusammensetzungen 
mit  Wörtern  ähnlicher  Bedeutung  gebraucht  wird.  Ich  lasse,  um  die  Thatsache  genau 
festzustellen,  hier  noch  einige  Beispiele  solcher  Wörter  folgen : 

chi:  und  chi-nan: ,  auf  etwas   reiten   oder   fahren,    nan:  (nen:  H.)  für 

sich :    auf  etwas    treten; 
tup  {tök.    Nach  Carey  wird  o  wie  im  Englischen  yoke,  nach  Hough  wie  im 
Englischen  go   ausgesprochen)    und    tup-hva ,   k  n  i  e  e  n  ,    kwa    für    sich  : 
niedrig   seyn; 
nä    tind    nä-hkan    {nä-gah) ,    horchen,     aufmerken,     hkan    für    sich : 

nehmen,  empfangen; 
pan  {peil  H.)  und  pan-pan:,  ermüdet,  erschöpft  seyn,  pan:  für  sich  das- 
selbe. Den  gleichen  Sinn  hat  pan-hrä: ;  hrä:  [shä:)  für  sich  heisst :  zurück- 
weichen, aber  auch:  in  geringer  Menge  vorhanden  seyn; 
rang  (j^i) ,  sich  erinnern,  auf  etwas  sammeln,  beobachten, 
über  etwas  nachdenken,  rang-hchaun,  dasselbe  mit  noch  be- 
stimmterer Bedeutung  des  Zielens  auf  etwas,  des  Heraushebens  einer 
Sache,  hchaun  für  sich :  tragen,  halten,  vollenden,  rang-pe:  das- 
selbe als  das  Vorige,  pe:  für  sich :  geben; 


286  '•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

wichtige  Erscheinung  weiter  unten  wieder  zurückkommen.  Einige 
solcher  Wurzeln  werden,  auch  wenn  sie  erste  Glieder  eines  Com- 
positum sind,  niemals  einzeln  gebraucht.  Von  dieser  Art  ist  hm-^ 
das  immer  nur  zusammen  mit  wap  {wet)  vorkommt,  obgleich  beide 
Wurzeln  die  Bedeutung  des  Compositum,  sich  aus  Verehrung 
verneigen,  an  sich  tragen.  Man  sagt  auch  umgekehrt  wap-tun-^ 
allein  in  verstärktem  Sinn :  auf  der  Erde  kriechen,  vorVor- 
nehmen  liegen.  Bisweilen  dienen  auch  Wurzeln  dergestalt  zu 
Zusammensetzungen,  dass  nur  ein  Theil  ihrer  Bedeutung  in  das 
Compositum  übergeht  und  nicht  darauf  geachtet  wird,  dass  der 
Ueberrest  derselben  mit  dem  andren  Gliede  der  Zusammensetzung 
in  Widerspruch  steht.  So  wird  hcJmat,  sehr  weiss  seyn,  nach 
Judson's  ausdrücklicher  Bemerkung  auch  als  Verstärkung  mit 
Wörtern  andrer  Farben  gebraucht.  Wie  mächtig  die  Zusammen- 
setzung auf  das  einzelne  Wort  wirkt,  sieht  man  endlich  auch  daraus, 
dass  Judson  bei  dem  oben  dagewesenen  Worte  hchaim  bemerkt, 
dass  dasselbe  bisweilen  durch  die  Verbindung,  in  welcher  es  steht, 
eine  besondere  Bedeutung  {a  specific  meaning)  erhält. 

Wo  Nomina  mit  Wurzeln  verbunden  sind,  stehen  die  letzteren 
gewöhnlich  hinter  den  ersteren :  lak-tat  {let-tat  H.),  ein  Künstler, 
Verfertiger,  von  lak  {let  H.),  die  Hand,  und  tat,  in  etwas 
geschicktseyn, etwasverstehen.  Diese  Zusammensetzungen 
kommen  alsdann  mit  den  Sanskritischen  überein,  wo  wie  in 
dharmawid  eine  W^urzel  als  letztes  Glied  an  ein  Nomen  gefügt  ist. 


hrä   (shä)  suchen,  nach   etwas   sehen,   hrä-kran  {shä-gyaii)  dasselbe, 

^rfln  für  sich :  denken,  überlegen,  nachsehen,  beabsichtigen; 

kan   und   kan-kwak,   hindern,    verstopfen,   vereiteln,   kwak   {kwet) 

für  sich:  in  einen  Kreis  einschliessen,  Gränzen  festsetzen; 
chang  (cht)   und  chang-kä: ,   zahlreich,    in   Ueberfluss   vorhanden 

seyn,    kä:  für  sich :    ausbreiten,    erweitern,    zerstreuen; 
ram:  {ran,  der  Vocal  wie  im  Englischen  jpan)  und  rani:-hcha,  auf  etwas 
rathen,  versuchen,  forschen,  hcha  für  sich:  überlegen,  zwei- 
felhaft  seyn.      Tau    heisst    auch    für   sich   und    mit    hcha    verbunden 
rathen,  wird  aber  nicht  allein  gebraucht; 
pa  nnd  pa-tha,  einem  bösen  Geiste  darbieten,  opfern,  tha  für  sich: 
neu    machen,    herstellen,    aber   auch:    mitbringen,    darbieten. 
Ich  habe  in  den  obigen  Beispielen  Sorge  getragen,  immer  nur  mit  gleichem  Accent 
versehene  Wörter  mit  einander  zu  vergleichen.     Wenn    aber   vielleicht,    worüber    meine 
Hülfsmittel  schweigen,  auch  Wörter  verschiedenen  Accentes  in  etymologischer  Verbindung 
stehen  können,  so  würden  sich  viel  mehr  Fälle  dieser  Zusammensetzung  aufweisen,  auch 
bisweilen   die  Herleitung   von  Wurzeln   machen   lassen,    deren  Bedeutungen    dem  Com- 
positum noch  besser  entsprechen. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      28'" 

Oft  aber  wird  in  diesen  Zusammensetzungen  auch  bloss  die  Wurzel 
im  Sinne  eines  Adjectivum  genommen  und  dann  entsteht  nur 
insofern  ein  Compositum,  als  die  Barmanische  Sprache  ein  mit 
seinem  Substantivum  verbundenes  Adjectivum  immer  als  ein 
solches  betrachtet:  nivä:-kmm,  Kuh  gute  (genau:  gut  seyn). 
Ein  Compositum  dieser  Art  im  eigentlicheren  Sinne  des  Worts 
ist  lü-chu,  Menschenmenge,  von  lü,  AI e n s c h ,  und  chu,  sich 
versammeln.  Bei  der  Zusammensetzung  der  Nomina  unter 
einander  finden  sich  Fälle,  wo  dasjenige,  welches  das  letzte  Glied 
ausmacht,  sich  so  von  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  entfernt, 
dass  es  zu  einem  Suffix  allgemeiner  Bedeutung  wird.  So  wird 
ama,  Weib,  Mutter,*)  mit  Wegwerf ung  des  a  zu  ma  abgekürzt 
und  fügt  dann  dem  ersten  Gliede  des  Compositum  die  Bedeutung 
des  Grossen,  Vornehmsten,  Hauptsächlichen  hinzu:  tak  {tet)^  das 
Ruder,  aber  tak-ma,  das  hauptsächliche  Ruder,  das 
Steuerruder. 

Zwischen  dem  Nomen  und  dem  Verbum  giebt  es  in  der 
Sprache  keinen  ursprünglichen  Unterschied.  Erst  in  der  Rede 
wird  derselbe  durch  die  an  das  Wort  geknüpften  Partikeln  be- 
stimmt; man  kann  aber  nicht,  wie  im  Sanskrit,  das  Nomen  an 
bestimmten  Ableitungssylben  erkennen  und  der  Begriff  einer 
zwischen  der  Wurzel  und  dem  flectirten  Nomen  stehenden  Grund- 
form fällt  im  Barmanischen  gänzlich  hinweg.  Höchstens  machen 
hiervon  die  durch  Praefigirung  eines  a  gebildeten,  weiter  oben  er- 
wähnten Substantiva  eine  Ausnahme.  Alle  grammatische  Bildung 
von  Substantiven  und  Adjectiven  besteht  in  deutlicher  Zusammen- 
setzung, wo  das  letzte  Glied  dem  Begritf  des  ersten  einen  all- 
gemeineren hinzufügt,  es  sey  nun,  dass  das  erste  eine  Wurzel 
oder  ein  Nomen  ist.  Im  ersteren  Fall  entstehen  aus  den  Wurzeln 
Nomina,  im  letzteren  werden  mehrere  Nomina  unter  Einen  Be- 
griff, gleichsam  unter  eine  Classe  zusammengestellt.  Es  fällt  in 
die  Augen,  dass  das  letzte  Glied  dieser  Zusammensetzungen  nicht 
eigentlich  ein  Affixum  genannt  werden  könne,  obgleich  es  in  der 
Barmanischen  Grammatik  immer  diesen  Namen  trägt.  Das  wahre 
Affixum  zeigt  durch  die  Lautbehandlung  in  der  Worteinheit  an, 
dass  es  den  bedeutsamen  Theil  des  Wortes,  ohne  ihm  etwas 
materielles   hinzuzufügen,   in   eine   bestimmte   Kategorie   versetzt. 


*)  So  erklärt  Judson  (v.  ma)  das  Wort  ama.  Bei  diesem  Worte  selbst  aber  giebt 
er  nur  die  Bedeutung  Weib,  ältere  Schwester  oder  Schwester  überhaupt; 
Mutter  lautet  bei  ihm  eigentlich  anii. 


2gQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Wo,  wie  hier,  eine  solche  Lautbehandlung  fehlt,  ist  diese  Ver- 
setzung nicht  symbolisch  in  den  Laut  übergegangen,  sondern  der 
Sprechende  muss  sie  aus  der  Bedeutung  des  angeblichen  Affixes 
oder  aus  dem  angenommenen  Sprachgebrauch  erst  hineinlegen. 
Diesen  Unterschied  muss  man  bei  Beurtheilung  der  ganzen  Bar- 
manischen Sprache  wohl  im  Auge  behalten.  Sie  drückt  Alles 
oder  doch  das  Meiste  von  dem  aus,  was  durch  Flexion  angedeutet 
werden  kann,  überall  aber  fehlt  ihr  der  wahre  symbolische  Aus- 
druck, durch  welchen  die  Form  in  die  Sprache  übergeht  und 
wieder  aus  ihr  in  die  Seele  zurückkehrt.  Daher  findet  man  in 
Carey's  Grammatik  unter  dem  Titel  der  Bildung  der  Nomina  die 
verschiedensten  Fälle  neben  einander  gestellt,  abgeleitete  Nomina, 
rein  zusammengesetzte,  Gerundia,  Participia  u.  s.  f.,  und  kann 
diese  Zusammenstellung  nicht  einmal  wahrhaft  tadeln,  da  in  allen 
diesen  Fällen  Wörter  durch  ein  angebliches  Affixuni  unter  Einen 
Begriff  und,  soviel  die  Sprache  Worteinheit  besitzt,  auch  in  Ein 
Wort  zusammengefasst  werden.  Es  ist  auch  nicht  zu  läugnen, 
dass  der  beständig  wiederkehrende  Gebrauch  dieser  Zusammen- 
setzungen im  Geiste  der  Sprechenden  die  letzten  Glieder  derselben 
den  wahren  Affixen  näher  bringt,  besonders  wenn,  wie  im  Bar- 
manischen wirklich  bisweilen  der  Fall  ist,  die  sogenannten  Affixa 
gar  keine  für  sich  anzugebende  Bedeutung  oder  in  ihrer  Selbst- 
ständigkeit eine  solche  haben,  die  sich  in  ihrer  Affigirung  gar 
nicht  oder  nur  sehr  entfernt  wiederfinden  lässt.  Beide  Fälle, 
von  denen  sich  aber  der  letztere,  da  die  Ideenverbindungen  so 
mannigfaltig  seyn  können,  nicht  immer  mit  völliger  Bestimmtheit 
beurtheilen  lässt,  kommen  in  der  Sprache,  wie  man  bei  der  Durch- 
gehung des  Wörterbuchs  sieht,  nicht  selten  vor,  ob  sie  gleich  auch 
nicht  die  häufigeren  sind.  Diese  Neigung  zur  Zusammensetzung 
oder  Affigirung  beweist  sich  auch  dadurch,  dass,  wie  wir  schon 
oben  sahen,  eine  bedeutende  Anzahl  der  Wurzeln  und  Nomina 
niemals  ausser  dem  Zustande  der  Zusammensetzung  selbstständig 
gebraucht  wird,  ein  Fall,  der  sich  auch  in  andren  Sprachen, 
namentUch  im  Sanskrit  wiederfindet.  Ein  vielfältig  gebrauchtes 
und  allemal  die  Verwandlung  einer  Wurzel,  mithin  eines  Verbum 
in  ein  Nomen  mit  sich  führendes  Affix  ist  hkyaii:*)  Es  bringt 
den   abstracten  Begriff"  des  Zustandes,   welchen   das  Verbum   ent- 


*)  Carey.  S.   144.  §.  8.  schreibt  hkran  und  giebt  dem  Worte  keinen  Accent.     Ich 
bin  Judson's  Schreibung  gefolgt. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      280 

hält,  hervor,  die  als  Sache  gedachte  Handlung:  die,  senden, 
che-likyafi:  {che-gyen:)^  Sendung.  Als  für  sich  stehendes  Verbum 
heisst  hkyafi:  bohren,  durchstechen,  durchdringen,  wo- 
zwischen  und  seinem  Sinne  als  Affixum  gar  kein  Zusammenhang 
zu  entdecken  ist.  Unstreitig  liegen  aber  diesen  heutigen  concreten 
Bedeutungen  verloren  gegangene  allgemeine  zum  Grunde.  Alle 
übrigen,  Nomina  bildenden  Aftixa  sind,  soviel  ich  sie  übersehen 
kann,  mehr  particulärer  Natur. 

Die  Behandlung  des  Adjectivum  ist  allein  aus  der  Zusammen- 
setzung zu  erklären  und  beweist  recht  augenscheinlich,  wie  die 
Sprache  immer  dies  Mittel  bei  der  grammatischen  Bildung  vor 
Augen  hat.  An  und  für  sich  kann  das  Adjectivum  nichts,  als  die 
Wurzel  selbst  seyn.  Seine  grammatische  Beschaifenheit  erlangt 
es  erst  in  der  Zusammensetzung  mit  einem  Substantivum  oder 
wenn  es  absolut  hingestellt  wird,  wo  es,  wie  die  Nomina,  ein 
praefigirtes  a  annimmt.  Bei  der  Verbindung  mit  einem  Substan- 
tivum kann  es  vor  demselben  vorausgehen  oder  ihm  nachfolgen, 
muss  sich  aber  in  dem  ersteren  Falle  durch  eine  Verbindungs- 
partikel {thang  oder  tJiau)  demselben  anschliessen.  Den  Grund 
dieses  Unterschiedes  glaube  ich  in  der  Natur  der  Zusammen- 
setzung zu  finden.  Bei  dieser  muss  das  letzte  Glied  allgemeinerer 
Natur  seyn  und  das  erste  in  seinen  grösseren  Umfang  aufnehmen 
können.  Bei  der  Verknüpfung  eines  Adjectivum  mit  einem  Sub- 
stantivum hat  aber  jenes  den  grösseren  Umfang  und  bedarf  daher 
eines  seiner  Natur  angemessenen  Zusatzes,  um  sich  an  das  Sub- 
stantivum anzufügen.  Jene  ^^erbindungspartikeln,  von  denen  ich 
w^eiter  unten  ausführlicher  reden  werde,  erfüllen  diesen  Zweck  und 
die  Verbindung  heisst  nun  nicht  sowohl  z.B.  ein  guter  Mann, 
als:  ein  gut  sey ender  oder  ein  Mann,  der  gut  ist,  nur 
dass  im  Barmanischen  diese  Begriffe  umgekehrt  (gut,  welcher, 
Mann)  auf  einander  folgen.  Das  angebliche  Adjectivum  wird  auf 
diese  Weise  ganz  als  ^^erbum  behandelt;  denn  wenn  auf  der 
einen  Seite  kaun:-t]iang-lü  der  gute  Mensch  heisst,  so  würden, 
für  sich  stehend,  die  beiden  ersten  Elemente  des  Compositum 
er  ist  gut  heissen.  Noch  deutlicher  erscheint  dies  dadurch, 
dass  man  ganz  auf  dieselbe  Weise  einem  Substantivum,  statt 
eines  blossen  Adjectivum,  ein  voUkomm.enes,  sogar  mit  dem  von 
ihm  regierten  Worte  versehenes  Verbum  vorausschicken  kann ;  d  e  r 
in  der  Luft  fliegende  Vogel  lautet  in  Barmanischer  Wort- 
folge: Luftraum  in  fliegen  (Verbindungspartikel)  Vogel.    Bei 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  19 


290 


1.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


dem  nachstehenden  Adjectivum  kommt  die  Stellung  der  Begrifte 
mit  den  Zusammensetzungen  überein,  wo  eine  als  letztes  Glied 
stehende  Wurzel,  wie  besitzen,  wägen,  würdig  seyn,  mit 
andren  Wörtern  durch  ihre  Bedeutung  modificirte  Nomina  bildet. 
In  der  Verbindung  der  Rede  werden  die  Beziehungen  der 
Wörter  auf  einander  durch  Partikeln  angezeigt.  Es  ist  daher  be- 
greiflich, dass  diese  beim  Nomen  und  Verbum  verschieden  sind. 
Indess  ist  dies  nicht  einmal  immer  der  Fall  und  Nomen  und 
Verbum  fallen  dadurch  noch  mehr  in  eine  und  dieselbe  Kategorie. 
Die  Verbindungspartikel  tJiang  ist  zugleich  das  wahre  Nominativ- 
zeichen und  bildet  auch  den  Indicativ  des  Verbum.  In  diesen 
beiden  Functionen  findet  sie  sich  in  der  kurzen  Redensart  i  c  h 
t  h  u  e ,  nä-t]ia7ig  pru-thang,  dicht  neben  einander.  Hier  liegt  off en^ 
bar  dem  Gebrauche  des  Wortes  eine  andere  Ansicht,  als  die  ge- 
wöhnliche Bedeutung  der  grammatischen  Formen  zum  Grunde 
und  wir  werden  diese  weiter  unten  aufsuchen.  Dieselbe  Partikel 
wird  aber  als  Endung  des  Instrumentalis  aufgeführt  und  steht  auf 
diese  Weise  in  folgender  Redensart:  ki-tat-thang  Jichank-thang-im, 
das  durch  einen  geschickten  Mann  gebaute  Haus. 
Das  erste  dieser  beiden  Wörter  enthält  das  Compositum  aus 
Mann  und  geschickt,  welchem  darauf  das  angebliche  Zeichen 
des  Instrumentalis  folgt.  Im  zweiten  findet  sich  die  Wurzel 
bauen,  hier  im  Sinne  von  gebaut  seyn,  auf  die  im  Vorigen 
angegebene  Weise  als  Adjectivum  vermittelst  der  Verbindungs- 
partikel thang  dem  Substantivum  im  {ieng  H.),  Haus,  vorn  an- 
gefügt. Es  wird  mir  nun  sehr  zweifelhaft,  ob  der  Begrifft  des 
Instrumentalis  wirklich  ursprünglich  in  der  Partikel  thang  liegt 
oder  ob  erst  später  grammatische  Ansicht  ihn  hineintrug,  da  ur- 
sprünglich im  ersten  jener  Worte  bloss  der  Begriff"  des  geschickten 
Mannes  lag  und  es  dem  Hörer  überlassen  blieb,  die  Beziehung 
hinzuzudenken,  in  welcher  derselbe  hier  vor  das  zweite  Wort 
gestellt  wurde.  Auf  ähnliche  Art  giebt  man  thang  auch  als 
Genitivzeichen  an.  Wenn  man  die  grosse  Zahl  von  Partikeln, 
welche  angeblich  als  Casus  die  Beziehungen  des  Nomen  aus- 
drücken, zusammennimmt,  so  sieht  man  deutlich,  dass  Pali- 
Grammatiker,  welchen  überhaupt  die  Barmanische  Sprache  ihre 
wissenschaftHche  Anordnung  und  Terminologie  verdankt,  bemüht 
gewesen  sind,  sie  unter  die  acht  Casus  des  Sanskrit  und  ihrer 
Sprache  zu  vertheilen  und  eine  Declination  zu  bilden.  Genau  ge- 
nommen ist  aber  eine  solche  der  Sprache  fremd,  die  bloss   in 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      2Q] 

Rücksicht  auf  die  Bedeutung  der  Partil^eln,  durchaus  nicht  auf 
den  Laut  des  Nomen  die  angeblichen  Casusendungen  gebraucht. 
Jedem  Casus  werden  mehrere  zugetheilt,  die  aber  wieder  jede 
eigne  Nuancen  des  Beziehungsbegriffes  ausdrücken.  Einige  bringt 
Carey  auch  noch  nach  Aufstellung  seiner  Declination  abgesondert 
nach.  Zu  einigen  dieser  Casuszeichen  gesellen  sich  auch,  bald 
vorn,  bald  hinten,  andere,  den  Sinn  der  Beziehung  genauer  be- 
stimmende. Uebrigens  folgen  dieselben  allemal  dem  Nomen  nach 
und  zwischen  diesem  und  ihnen  stehen,  wenn  sie  vorhanden  sind, 
die  Bezeichnung  des  Geschlechts  und  die  des  Plurals.  Die  letztere 
dient,  so  wie  alle  Casuszeichen,  auch  bei  dem  Pronomen  und  es 
giebt  keine  eigne  Pronomina  für  wir,  ihr,  sie.  Die  Sprache 
scheidet  also  Alles  nach  der  Bedeutsamkeit,  verbindet  nichts  durch 
den  Laut  und  stösst  dadurch  sichtbar  das  natüriiche  und  ursprüng- 
liche Streben  des  inneren  Sprachsinns,  aus  Genus,  Numerus  und 
Casus  vereinte  Lautmodificationen  des  materiell  bedeutsamen  Wortes 
zu  machen,  zurück.  Die  ursprüngliche  Bedeutung  der  Casuszeichen 
lässt  sich  indess  nur  bei  wenigen  nachweisen,  selbst  bei  dem  Plural- 
zeichen to'  {do  H.)  nur  dann,  wenn  man  mit  Nichtbeachtung  der 
Accente  es  von  /ö.-,  vermehren,  hinzufügen,  abzuleiten  unter- 
nimmt. Die  persönlichen  Pronomina  erscheinen  immer  nur  in 
selbstständiger  Form  und  dienen  niemals,  abgekürzt  oder  ver- 
ändert, als  Affixe. 

Das  Verbum  ist,  wenn  man  das  blosse  Stammwort  betrachtet, 
allein  durch  seine  materielle  Bedeutung  kenntlich.  Das  regierende 
Pronomen  steht  allemal  vor  demselben  und  deutet  schon  dadurch 
an,  dass  es  nicht  zur  Form  des  Verbum  gehört,  indem  es  sich 
gänzlich  von  den,  immer  auf  das  Stammwort  folgenden  Verbal- 
partikeln absondert.  Was  die  Sprache  von  Verbalformen  besitzt, 
beruht  ausschliesslich  auf  den  letzteren,  welche  den  Plural,  wenn 
er  vorhanden  ist,  den  Modus  und  das  Tempus  angeben.  Eine 
solche  Verbalform  ist  dieselbe  für  alle  drei  Personen  und  die 
einfache  Ansicht  des  ganzen  Verbum  oder  vielmehr  der  Satz- 
bildung ist  daher  die,  dass  das  Stammwort  mit  seiner  Verbalform 
ein  Participium  ausmacht,  welches  sich  mit  dem,  von  ihm  unab- 
hängig stehenden  Subject  durch  ein  hinzugedachtes  Verbum  seyn 
verbindet.  Das  letztere  ist  zwar  auch  in  der  Sprache  ausdrücklich 
vorhanden,  wird  aber,  wie  es  scheint,  zu  dem  gewöhnlichen  VerbaJ- 
ausdruck  selten  zu  Hülfe  genommen. 

Kehren  wir  nun  zu  der  Verbalform  zurück,  so  hängt  sich  der 

19* 


2Q2  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Pluralausdruck  unmittelbar  an  das  Stammwort  oder  an  den  Theil 
an,  der  mit  diesem  als  ein  und  ebendasselbe  Ganze  angesehen  wird. 
Es  ist  aber  merkwürdig  und  hierin  liegt  ein  Erkennungsmittel 
des  Verbum,  dass  das  Pluralzeichen  der  Conjugation  gänzlich  von 
dem  der  Declination  verschieden  ist.  Das  niemals  fehlende  ein- 
sylbige  Pluralzeichen  kra  {kyd)  nimmt  gewöhnlich,  obgleich  nicht 
immer,  noch  ein  zweites,  kim,  verwandt  m\x.  akim,  völlig,  voll- 
ständig,*) unmittelbar  nach  sich  und  die  Sprache  beweist  auch 
hierin  ihre  doppelte  Eigenthümlichkeit ,  die  grammatische  Be- 
ziehung durch  Zusammensetzung  zu  bezeichnen  und  in  dieser 
den  Ausdruck,  auch  wo  Ein  Wort  schon  hinreichen  würde,  noch 
durch  Hinzufügung  eines  andren  zu  verstärken.  Doch  tritt  hier 
der  nicht  unmerkwürdige  Fall, ein,  dass  einem  mit  verloren  ge- 
gangener ursprünglicher  Bedeutung  zum  Affixum  gewordenen 
Worte  eines  von  bekannter  Bedeutung  beigegeben  wird. 

Die  Modi  beruhen,  wie  schon  oben  erwähnt  worden  ist, 
grösstentheils  auf  der  Verbindung  von  Wurzeln  allgemeinerer  Be- 
deutung mit  den  concreten.  Auf  diese  Weise  sich  bloss  nach  der 
materiellen  Bedeutsamkeit  richtend,  gehen  sie  ganz  über  den 
logischen  Umfang  dieser  Verbalform  hinaus  und  ihre  Zahl  wird 
gewissermassen  unbestimmbar.  Die  Tempuszeichen  folgen  ihnen 
bis  auf  wenige  Ausnahmen  in  der  Anfügung  an  das  eigentliche 
Verbum  nach;  das  Pluralzeichen  aber  richtet  sich  nach  der 
Festigkeit,  mit  welcher  die  den  Modus  anzeigende  Wurzel  mit 
der  concreten  als  verbunden  betrachtet  wird,  worüber  eine  doppelte 
Ansicht  in  dem  Sprachsinne  des  Volks  zu  herrschen  scheint.  In 
einigen  wenigen  Fällen  tritt  dasselbe  zwischen  beide  Wurzeln,  in 
den  meisten  aber  folgt  es  der  letzten.  Es  ist  offenbar,  dass  die 
den  Modus  anzeigenden  Wurzeln  im  ersteren  Fall  mehr  von  einem 
dunklen  Gefühl  der  grammatischen  Form  begleitet  sind,  da  hin- 
gegen im  letzteren  beide  Wurzeln  in  der  Vereinigung  ihrer  Be- 
deutungen gleichsam  als  ein  und  dasselbe  Stammwort  gelten. 
Unter  dem,  was  hier  Modus  durch  Verbindung  von  Wurzeln  ge- 
nannt wird,  kommen  Formen  ganz  verschiedener  grammatischer 
Bedeutung  vor,  z.  B.  die  Causalverba,  welche  durch  Hinzufügung 
der  Wurzel  schicken,  auftragen,  befehlen  gebildet  werden. 


*)  Hough  schreibt  a-kim:.  Die  Bedeutung  dieses  Worts  kommt  von  der  im 
Verbum  kim  liegenden:  zum  Ende  kommen,  welche  aber  von  Erschöpfung  ge- 
braucht wird. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      20"? 

und  Verba,  deren  Bedeutung  andere  Sprachen  durch  untrennbare 
Praepositionen  modiliciren. 

Von  Tempuspartikeln  führt  Carey  fünf  des  Praesens,  drei  zu- 
gleich des  Praesens  und  Praeteritum  und  zwei  ausschliesslich  dem 
letzteren  angehörende,  dann  einige  des  Futurum  auf.  Er  nennt 
die  damit  gebildeten  Verbalbeugungen  Formen  des  Verbum,  ohne 
jedoch  den  Unterschied  des  Gebrauchs  der  die  gleiche  Zeit  be- 
zeichnenden anzugeben.  Dass  jedoch  unter  ihnen  ein  Unterschied 
gemacht  wird,  zeigt  sich  durch  seine  gelegentliche  Aeusserung, 
dass  zwei,  von  denen  er  gerade  spricht,  w^enig  in  der  Bedeutung 
von  einander  abweichen.  Von  the:  merkt  Judson  an,  dass  es  an- 
zeigt, dass  die  Handlung  noch  im  gegenwärtigen  Augenblicke 
nicht  fortzudauern  aufgehört  hat.  Ausser  den  so  aufgeführten 
kommen  aber  auch  noch  andere,  namentlich  eine  für  die  ganz 
vollendete  Vergangenheit^)  vor.  Eigentlich  gehören  nun  diese 
Tempuszeichen  insofern  dem  Indicativus  an,  als  sie  an  und  für 
sich  keinen  anderen  Modus  andeuten;  einige  derselben  dienen 
aber  auch  in  der  That  zur  Bezeichnung  des  Imperativus,  der  je- 
doch auch  seine  ganz  eigenen  Partikeln  hat  oder  durch  die  nackte 
Wurzel  angedeutet  wird.  Judson  nennt  einige  dieser  Partikeln 
bloss  euphonische  oder  ausfüllende.  Verfolgt  man  sie  im  Wörter- 
buche, so  sind  die  meisten  zugleich,  wenn  auch  in  einer  gar  nicht 
oder  nur  entfernt  verwandten  Bedeutung,  wirkliche  Wurzeln  und 
das  Verfahren  der  Sprache  ist  also  auch  hier  bedeutsame  Zu- 
sammensetzung. Diese  Partikeln  machen  der  Absicht  der  Sprache 
nach  offenbar  Ein  Wort  mit  der  Wurzel  aus  und  man  muss  die 
ganze  Form  als  ein  Compositum  ansehen.  Durch  Buchstaben- 
veränderung aber  ist  diese  Einheit  nicht  angedeutet,  ausgenommen 
darin,  dass  in  den  oben  angegebenen  Fällen  die  Aussprache  die 
dumpfen  Buchstaben  in  ihre  unaspirirten  tönenden  verwandelt. 
Auch  dies  wird  von  Care}^  nicht  ausdrücklich  bemerkt;  es  scheint 
aber  aus  der  Allgemeinheit  seiner  Regel  und  der  Schreibung  bei 
Hough  zu  folgen,  der  diese  Umwandlung  bei  allen  auf  diese 
Weise  als  Partikeln  gebrauchten  Wörtern  anwendet  und  z.  B.  das 
Zeichen  vollendeter  Vergangenheit  pri:  in  der  Angabe  der  Aus- 
sprache  byi:  schreibt.    Auch   eine  wirklich   in  der  geschriebenen 


\i  'Nach  „  Vergangenheit"  gestrichen :  „und  zwar  durch  diese  mit  jener  ver- 
bunden und  alsdann  entweder  bloss  unmittelbar  hinter  die  Wurzel  oder  auch  hinter 
eines  der  andren  übrigen  Tempus-Kennzeichen  gestellt". 


2Q4.  ^'    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Sprache  vorkommende  Zusammenziehung  der  Vocale  zweier  solcher 
eins3dbigen  Wörter  finde  ich  in  dem  Futurum  der  Causalverba. 
Das  Causalzeichen  che  (die  Wurzel  befehlen)  und  die  Partikel 
aiv  des  Futurum  v/erden  zu  cMm'*)  Der  gleiche  Fall  scheint  mit 
der  zusammengesetzten  Partikel  des  Futurum  linv-mang  statt  zu 
finden,  wo  nemlich  die  Partikel  U  mit  aii'  zu  livv  zusammen- 
gezogen und  dann  eine  andere  Partikel  des  Futurum,  maitg, 
hinzugesetzt  wird.  Aehnliche  Fälle  mag  zwar  die  Sprache  noch 
aufweisen,  doch  können  sie,  da  man  ihnen  sonst  nothwendig  öfter 
begegnen  müsste,  unmöglich  häufig  seyn.  Die  hier  geschilderten 
Verbalformen  lassen  sich  wieder  durch  Anfügung  von  Casus- 
zeichen decliniren,  dergestalt,  dass  das  Casuszeichen  entweder  un- 
mittelbar an  die  Wurzel  oder-  an  die  sie  begleitenden  Partikeln 
geheftet  wird.  Wenn  dies  zwar  mit  der  Natur  der  Gerundien 
und  Participien  anderer  Sprachen  übereinkommt,  so  w^erden  wir 
doch  weiter  unten  sehen,  dass  die  Barmanische  auch  noch  in  einer 
ganz  eigenthümlichen  Art  Verba  und  Verbalsätze  als  Nomina  be- 
handelt. 

Von  den  hier  erwähnten  Partikeln  der  Modi  und  Tempora 
muss  man  eine  andere  absondern,  welche  auf  die  Bildung  der 
Verbalformen  den  wesentlichsten  Einüuss  ausübt,  aber  auch  dem 
Nomen  angehört  und  in  der  Grammatik  der  ganzen  Sprache  eine 
wichtige  Rolle  spielt.  Man  erräth  schon  aus  dem  Vorigen,  dass 
ich  hier  das,  als  Nominativzeichen  weiter  oben  erwähnte  thang 
meine.  Auch  Carey  hat  diesen  Unterschied  gefühlt.  Denn  ob  er 
gleich  thano;  als  die  erste  der  Praesensformen  des  Verbum  bildend 
aufführt,  so  behandelt  er  es  doch  unter  dem  Namen  einer  Ver- 
bindungspartikel {connecttve  increment)  immer  ganz  abgesondert. 
Thmig  fügt  dem  Verbum  nicht,  wie  die  übrigen  Partikeln,  eine 
Modification  hinzu,**)  ist  vielmehr  für  seine  Bedeutung  unwesent- 
lich ;  es  zeigt  aber  an,  in  welchem  grammatischen  Sinne  das  Wort, 
dem  es  sich  anschliesst,  genommen  werden  soll,  und  begränzt, 
wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist,  seine  gramm^atischen  Formen. 
Es  gehört  daher  beim  Verbum  nicht  zu  den  bedeutsamen,  sondern 
zu   den,   bei   der  Zusammenfügung  der  Elemente   der  Rede   das 


*)  Carey.  S.   ii6.  §.   112.     Judsoa.  v.  chivv. 

**j  Dies  sagt  Carey  ausdrücklich  an  mehreren  Stellen  seiner  Grammatik.  S.  96. 
§.  34.  S.  HO.  §.  92.  93.  Inwiefern  aber  seine  noch  weiter  gehende  Behauptung,  das 
Wort  besässe  gar  keine  Bedeutung  für  sich,  gegründet  ist,  werden  wir  gleich  sehen. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      2Qt; 

Verständniss  leitenden  Wörtern  und  kommt  ganz  mit  dem  Be- 
griff der  im  Chinesischen  hohl  oder  leer  genannten  Wörter  über- 
ein. Wo  thmig  das  Verbum  begleitet,  stellt  es  sich  entweder, 
wenn  keine  andere  Partikel  vorhanden  ist,  unmittelbar  hinten  an 
die  Wurzel  oder  folgt  den  andren  vorhandenen  Partikeln  nach. 
In  beiden  Stellungen  kann  es  durch  Anheftung  von  Casuszeichen 
flectirt  w^erden.  Es  zeigt  aich  aber  hier  der  merkwürdige  Unter- 
schied, dass  bei  der  Declination  des  Nomen  thang  bloss  das 
Nominativzeichen  ist  und  bei  der  Anfügung  der  übrigen  Casus 
nicht  weiter  erscheint,  bei  der  des  Participium  (denn  für  ein 
solches  kann  man  doch  hier  nur  das  Verbum  nehmen)  hingegen 
seine  Stelle  behält.  Dies  scheint  zu  beweisen,  dass  seine  Be- 
stimmung im  letzteren  Fall  die  ist,  das  Zusammengehören  der 
Partikeln  mit  der  Wurzel,  folglich  die  Begränzung  der  Participial- 
form  anzuzeigen.  Seinen  regelmässigen  Gebrauch  findet  es  nur 
im  Indicativus.  Vom  Subjunctivus  ist  es  gänzlich  ausgeschlossen, 
ebenso  vom  Imperativus,  und  auch  noch  in  einigen  einzelnen 
andren  Fügungen  fällt  es  hinweg.  Nach  Carey  dient  es,  die 
Participialformen  mit  einem  folgenden  Worte  zu  verbinden,  was 
insofern  mit  meiner  Behauptung  übereinkommt,  dass  es  eine  Ab- 
gränzung  jener  Formen  von  der  auf  sie  folgenden  ausmacht. 
Wenn  man  das  hier  Gesagte  zusammennimmt  und  mit  dem  Ge- 
brauche des  Wortes  beim  Nomen  verbindet,  so  fühlt  man  bald, 
dass  dasselbe  nicht  nach  der  Theorie  der  Redetheile  erklärt  werden 
kann,  sondern  dass  man,  wie  bei  den  Chinesischen  Partikeln,  zu 
seiner  ursprünglichen  Bedeutung  zurückgehen  muss.  In  dieser 
drückt  es  nun  den  Begriff:  dieses,  also  aus  und  wird  in  der 
That  von  Carey  und  Judson  (welche  nur  diese  Bedeutung  nicht 
mit  dem  Gebrauche  des  Worts  als  Partikel  in  Verbindung  bringen) 
ein  Demonstrativpronomen  und  Adverbium  genannt.  In  beiden 
Functionen  bildet  es,  als  erstes  Glied,  mehrere  Composita.  Sogar 
bei  der  Verbindung  von  Verbalwurzeln,  wo  eine  von  allgemeinerer 
Bedeutung  den  Sinn  der  andren  modificirt,  führt  Carey  tkaiig  in 
einem  seiner  Adverbialbedeutung  verwandten  Sinne:  entsprechen, 
übereinkommen  (also:  ebenso  seyn)  an,  hat  es  jedoch  nicht  in 
sein  Wurzelverzeichniss  aufgenommen  und  giebt  leider  auch  kein 
Beispiel   dieser  Bedeutung.*)    In  demselben  Sinne  scheint  es  mir 


*)  S.   115.  §.  110.     Die  andren   zu   vergleichenden  Stellen    sind  S.  67.  74.  §.  75. 
S.  162.  §.  4.     S.  169.  §.  24.     S.  170.  §.  25.     S.   173. 


2q6  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

nun  als  Leitungsmittel  des  Verständnisses  gebraucht  zu  werden. 
Indem  der  Redende  einige  Worte,  die  er  genau  zusammen- 
genommen wissen  will,  oder  die  Substantiva  und  Verba  besonders 
heraushebt,  lässt  er  auf  sie:  dies!  also!  folgen  und  wendet  die 
Aufmerksamkeit  des  Hörers  auf  das  Gesagte,  um  es  nun  weiter 
mit  dem  Folgenden  zu  verbinden  oder  auch,  wenn  thang  das 
letzte  Wort  des  Satzes  ist,  die  vollendete  Rede  zu  beschliessen. 
Auf  diesen  Fall  passt  Carey's  Erklärung  von  thang,  als  einer,  Vor- 
hergehendes und  Nachfolgendes  mit  einander  verbindenden  Partikel 
nicht  und  daher  mag  seine  Aeusserung  kommen,  dass  die  mit 
thang  verbundene  Wurzel  oder  Verbalform  die  Kraft  eines  Ver- 
bum  hat,  wenn  sie  sich  am  Schluss  eines  Satzes  befindet.*)  In 
der  Mitte  der  Rede  ist  die  mit  thang  verbundene  Verbalform  nach 
ihm  ein  Participium  oder  wenigstens  eine  Fügung,  in  der  man 
nur  mit  Mühe  das  wahre  Verbum  erkennt,  am  Schluss  eines 
Satzes  aber  ein  wirklich  flectirtes  Verbum.  Mir  scheint  dieser 
Unterschied  ungegründet.  Auch  am  Schluss  eines  Satzes  ist  die 
hier  besprochene  Form  nur  Participium  oder  genauer  zu  reden 
nur  eine  nach  Aehnlichkeit  eines  Participium  modificirte.  Die 
eigentliche  Verbalkraft  muss  in  beiden  Stellungen  immer  hinzu- 
gedacht werden. 

Dieselbe  wirklich  auszudrücken,  besitzt  jedoch  die  Sprache 
noch  ein  anderes  Mittel,  über  dessen  wahre  Beschaffenheit  zwar 
weder  Carey  noch  Judson  vollkommene  Aufklärung  gewähren, 
das  aber  mit  der  Kraft  eines  hinzugefügten  Hülfsverbum  grosse 
Aehnlichkeit  hat.  Wenn  man  nemlich  einen  Satz  durch  ein 
wirklich  flectirtes  Verbum  wahrhaft  beschliessen  und  alle  Ver- 
bindung mit  dem  Folgenden  aufheben  will,  so  setzt  man  der 
Wurzel  oder  der  Verbalform  eng  [i  H.)  an  der  Stelle  von  thang 
nach.  Es  wird  hierdurch  allem  Misverständniss  vorgebeugt,  das 
aus  der  verbindenden  Natur  von  thaiig  entspringen  könnte,  und 
die  Reihe  an  einander  hängender  Participien  wirklich  zum  Schluss 
gebracht;  pru-eng  heisst  nun  wirklich  (ich  u.  s.  w.)  thue,  nicht 
mehr:  ich  bin  ihMend,  pru-pri:-mg  ich  habe  gethan,  nicht: 
ich  bin  thuend  gewesen.  Die  eigentliche  Bedeutung  dieses 
Wörtchens  giebt  weder  Carey  noch  Judson  an.  Der  Letztere  sagt 
bloss,  dass  dasselbe  mit  hri  {shi)^  seyn,  gleichgeltend  [equivalent) 
sey.    Dabei  erscheint  es  aber  sonderbar,  dass  es  zur  Gonjugation 

*)  S.  96.  §.  34- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      207 

dieses  Verbum  selbst  gebraucht  wird.*)  Nach  Carey  und  Hough 
ist  es  auch  Casuszeichen  des  Genitivs:  lü-eng,  des  Menschen. 
Judson  hat  diese  Bedeutung  nicht.**)  Dieses  Schlusszeichen  wird 
aber,  wie  Carey  versichert,  im  Gespräch  selten  gebraucht  und 
auch  in  Schriften  findet  es  sich  hauptsächlich  in  Uebersetzungen 
aus  dem  Pali,  ein  Unterschied,  der  sich  aus  der  Neigung  des 
Barmanischen,  die  Sätze  der  Rede  an  einander  zu  hängen,  und 
dem  regelmässigen  Periodenbau  einer  Tochtersprache  des  Sanskrit 
erklärt.  Einen  näheren  Grund,  warum  gerade  Uebersetzungen 
aus  dem  Pali  dies  Hülfswort  lieben,  glaube  ich  auch  noch  darin 
zu  finden,  dass  die  Pali-Sprache  Participien  mit  dem  Verbum 
seyn  zur  Andeutung  mehrerer  Tempora  verbindet  und  alsdann 
immer  das  Hülfsverbum  mit  einiger  Lautveränderung  nachfolgen 
lässt.  ***)  Die  Barmanischen  Uebersetzer  konnten,  sich  genau  an 
die  Worte  haltend,  ein  Aequivalent  dieses  Hülfsverbum  suchen 
und  dazu  eng  wählen.  Deshalb  ist  aber  dies  Wort  nicht  weniger 
ein  acht  Barmanisches,  kein  dem  Pali  abgeborgtes.  Eine  treue 
Uebertragung  der  Hülfsform  des  Pali  war  schon  darum  un- 
möglich, weil  das  Barmanische  Verbum  nicht  die  Bezeichnung 
der  Personen  in  sich  aufnimmt.  Eine  Eigenheit  der  Sprache  ist 
es,  dass  dieses  Schlusswort  zwar  hinter  allen  andren  Verbalformen, 
nicht  aber  hinter  denen  des  Futurum  gebraucht  werden  kann. 
Die  erwähnte  Pali-Construction  scheint  sich  vorzugsweise  bei 
Zeiten  der  Vergangenheit  zu  finden.  Der  Grund  kann  aber 
schwerlich  in  der  Natur  der  Partikeln  des  Futurum  liegen,  da 
diese  thang  ohne  Schwierigkeit  zulassen.  Carey,  der  eine  lobens- 
wäirdige  Aufmerksamkeit  auf  die  Unterscheidung  der  Participial- 
formen  und  des  flectirten  Verbum  wendet,  bemerkt,  dass  die 
befehlende  und  fragende  Form  des  Verbum  die  einzigen  in  der 
Sprache  sind,  welche  einigen  Anschein  dieses  letzteren  Redetheiles 
haben,  f)  Diese  scheinbare  Ausnahme  liegt  aber  auch  nur  darin, 
dass  die  genannten  Formen  nicht  mit  Casuszeichen  verbunden 
w^erden  können,  mit  welchen  sich  die  ihnen  eigenthümlichen 
Partikeln  nicht  verbinden  würden.    Denn  diese  Partikeln  schliessen 


*)  So    im   Evangelium  Johannis.  21,  2.  hri-kra-eng  (shi-gya-i),   sie   sind    oder 
waren. 

**)  Carey.  S.  79.  §.    I.     S.  96.  §.  37.     S.  44.  46.     Hough.  S.  14.     Judson.  v.  eng. 
***)  Burnouf  und  Lassen.     Essai  sw  le  Pali.     S.   136.   137. 
t)  S.   109.  §.  88. 


2q3  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

die  Form  und  das  verbindende  thang  steht  bei  den  fragenden 
Verben  vor  denselben,  um  sie  selbst  an  die  Tempuspartilveln  an- 
zuknüpfen. 

Sehr  ähnliche  Beschaffenheit  mit  dem  oben  betrachteten  thanz 
hat  die  Verbindungspartikel  thau.  Da  es  mir  aber  hier  nur  darauf 
ankommt,  den  Charakter  der  Sprache  im  Ganzen  anzugeben,  so 
übergehe  ich  die  einzelnen  Punkte  ihrer  Uebereinstimmung  und 
Verschiedenheit.  Es  giebt  noch  andere  Verbindungspartikeln,  welche 
gleichfalls,  ohne  dem  Sinn  etwas  hinzuzufügen,  an  die  Verbal- 
form geheftet  werden  und  alsdann  thang  und  thau  von  ihrer 
Stelle  verdrängen.  Einige  von  diesen  werden  aber  auch  bei  andren 
Gelegenheiten,  als  Bezeichnungen  des  Conjunctivus  gebraucht 
und  nur  der  Zusammenhang  der  Rede  verräth  ihre  jedesmahge 
Bestimmung. 

Die  Folge  der  Theiie  des  Satzes  ist  so,  dass  zuerst  das  Subject, 
dann  das  Object,  zuletzt  aber  das  Verbum  steht:  Gott  die  Erde 
schuf,  der  König  zu  seinem  General  sprach,  er  mir  gab.  Die 
Stelle  des  Verbum  in  dieser  Construction  ist  offenbar  nicht  die 
natürliche,  da  dieser  Redetheil  sich  in  der  Folge  der  Ideen 
zwischen  Subject  und  Object  stellt.  Im  Barmanischen  aber  erklärt 
sie  sich  dadurch,  dass  das  Verbum  eigentlich  nur  ein  Participium 
ist,  das  erst  später  seinen  Schlusssatz  erwartet,  und  auch  eine 
Partikel  in  sich  trägt,  deren  Bestimmung  Verbindung  mit  etwas 
Folgendem  ist.  Diese  Verbalform  nimmt  nun,  ohne  als  wirkliches 
Verbum  den  Satz  zu  bilden,  alles  Vorhergehende  in  sich  auf  und 
trägt  es  in  das  Nachfolgende  über.  Carey  bemerkt,  dass  die 
Sprache  vermöge  dieser  Formen,  soweit  als  es  ihr  gefällt,  Sätze 
in  einander  verweben  kann,  ohne  zu  einem  Schlüsse  zu  gelangen, 
und  setzt  hinzu,  dass  dies  in  allen  rein  Barmanischen  Werken  in 
hohem  Grade  der  Fall  se}^  Je  mehr  nun  der  Schlussstein  eines 
ganzen,  in  an  einander  gehängten  Sätzen  fortlaufenden  Raisonne- 
ments  hinausgerückt  wird,  desto  sorgfältiger  muss  die  Sprache  seyn, 
die  einzelnen  Sätze  immer  mit  jedem  untergeordneten  Endwort  ab- 
zuschliessen.  Dieser  Form  bleibt  sie  nun  auch  durchaus  getreu 
und  lässt  immer  die  Bestimmung  dem  zu  Bestimmenden  voraus- 
gehen. Sie  sagt  daher  nicht:  der  Fisch  ist  im  Wasser,  der  Hirt 
geht  mit  den  Kühen,  ich  esse  Reiss  mit  Butter  gekocht,  sondern : 
im  Wasser  der  Fisch  ist,  mit  den  Kühen  der  Hirt  geht,  ich  mit 
Reiss  gekocht  Butter  esse.  Auf  diese  Weise  stellt  sich  an  das 
Ende  jedes   Zwischensatzes  immer   ein  Wort,   welches   keine  Be- 


und  ihren  Einfiufi  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      2QQ 

Stimmung  mehr  nach  sich  zu  erwarten  hat.  Vielmehr  geht  regel- 
mässig die  weitere  Bestimmung  immer  der  engeren  voraus.  Dies 
wird  besonders  deutlich  in  Uebersetzungen  aus  andren  Sprachen. 
Wenn  es  in  der  Englischen  Bibel  im  Evangelium  Johannis  21.  2. 
heisst :  and  Nathanael  of  Cana  in  Galüee,  so  dreht  die  Barmanische 
Uebersetzung  den  Satz  um  und  sagt:  Galiläa  des  Distrikts  Cana 
der  Stadt  Abkömmling  Nathanael. 

Ein  anderes  ^klittel,  viele  Sätze  mit  einander  zu  verknüpfen, 
ist  die  Verwandlung  derselben  in  Theile  eines  Compositum,  wo 
jeder  einzelne  Satz  ein  dem  Substanti"vTim  vorausgehendes  Ad- 
jecti"VTim  bildet.  In  der  Redensart:  ich  preise  Gott,  welcher  alle 
Dinge  geschaffen  hat,  welcher  frei  von  Sünde  ist  u.  s.  f.,  v/ird 
jeder  dieser,  noch  so  zahlreichen  Sätze  durch  das  oben  schon  in 
dieser  Function  betrachtete  tJiau  mit  dem  Substantivum,  das  aber 
erst  dem  letzten  von  ihnen  nachfolgt,  verbunden.  Diese  einzelnen 
Relativsätze  gehen  also  voran  und  Vv'erden  mit  dem  auf  sie 
folgenden  Substantivum  als  ein  zusammengesetztes  Wort  an- 
gesehen; das  Verbum  (ich  preise)  beschliesst  den  Satz.  Zur  Er- 
leichterung des  Verständnisses  sondert  aber  die  Barmanische 
Schrift  jedes  einzelne  Element  des  langen  Compositum  durch  ihr 
Interpunctionszeichen  ab.  Die  Regelmässigkeit  dieser  Stellung 
macht  es  eigentlich  leicht,  dem  Periodenbaue  nachzugehen,  wobei 
man  nur,  in  Sätzen  der  beschriebenen  Art,  vom  Ende  gegen  den 
Anfang  vorschreiten  muss.  Nur  beim  Hören  muss  die  Auf- 
merksamkeit schwierig  angespannt  werden,  ehe  sie  erfährt,  wem 
die  endlos  vorangeschickten  Praedicate  gelten  sollen.  A'ermuthlich 
aber  vermeidet  die  Umgangssprache  so  zahlreich  an  einander  ge- 
reihte Redensarten. 

Es  ist  der  Barmanischen  Construction  durchaus  nicht  eigen, 
die  einzelnen  Theile  der  Perioden  in  gehöriger  Absonderung  der- 
gestalt zu  ordnen,  dass  der  regierte  Satz  dem  regierenden  nach- 
folgte. Sie  sucht  vielmehr  immer  den  ersteren  in  den  letzteren 
aufzunehmen,  wo  er  ihm  dann  natürlich  vorausgehen  miuss.  Auf 
diese  Weise  werden  in  ihr  ganze  Sätze  wie  einzelne  Nomina  be- 
handelt. Um  z.  B.  zu  sagen:  ich  habe  gehört,  dass  du  deine 
Bücher  verkauft  hast,  dreht  sie  die  Redensart  um,  iässt  in  der- 
selben deine  Bücher  vorangehen,  hierauf  das  Perfectum  des 
Verbum  verkaufen  folgen  und  fügt  nun  diesem  das  Accusativ- 
zeichen  bei,  an  das  sich  wieder  zuletzt  ich  habe  gehört  schliesst. 

Wenn  es  der  hier  versuchten  Zergliederung  gelungen  ist,  die 


OQO  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Bahn  richtig  herauszufinden,  auf  welcher  die  Barmanische  Sprache 
den  Gedanlven  in  der  Rede  zusammenzufassen  strebt,  so  sieht 
man,  dass  sie  sich  zwar  auf  der  einen  Seite  von  dem  gänzlichen 
Mangel  grammatischer  Formen  entfernt,  allein  auf  der  andren 
auch  die  Bildung  derselben  nicht  erreicht.  Sie  befindet  sich  in- 
sofern in  der  That  in  der  Mitte  zwischen  beiden  Gattungen  des 
Sprachbaues.  Zu  wahrhaft  grammatischen  Formen  zu  gelangen, 
verhindert  sie  schon  ihr  ursprünglicher  Wortbau,  da  sie  zu  den 
einsylbigen  Sprachen  der  zwischen  China  und  Indien  wohnenden 
Volksstämme  gehört.  Zwar  wirkt  diese  Eigenthümlichkeit  der 
Wortbildung  nicht  gerade  dadurch  auf  den  tieferen  Bau  dieser 
Sprachen  ein,  dass  jeder  Begriff  in  einzelne  eng  verbundene  Laute 
eingeschlossen  wird.  Da  aber  in  diesen  Sprachen  die  Einsylbigkeit 
nicht  zufällig  entsteht,  sondern  die  Organe  sie  absichtlich  und 
vermöge  ihrer  individuellen  Richtung  festhalten,  so  ist  mit  ihr 
das  einzelne  Herausstossen  jeder  Sylbe  verbunden,  was  dann 
natürlich  durch  die  Unmöglichkeit,  mit  den  materiell  bedeutsamen 
Wörtern  BeziehungsbegrifFe  anzeigende  Suffixa  zu  verschmelzen, 
in  die  innersten  Tiefen  des  Sprachbaues  eingreift.  Die  Indo- 
chinesischen Nationen,  sagt  Leyden,*)  haben  eine  Menge  von 
Pali-Wörtern  in  sich  aufgenommen,  si^  passen  sie  aber  alle  ihrer 
eigenthümlichen  Aussprache  an,  indem  sie  jede  einzelne  Sylbe  als 
ein  besonderes  Wort  hervorstossen.  Diese  Eigenschaft  also  muss 
man  als  die  charakteristische  Eigenthümlichkeit  dieser  Sprachen, 
so  wie  der  Chinesischen  ansehen  und  bei  den  Untersuchungen 
über  ihren  Bau  fest  im  Auge  behalten,  wenn  nicht  sogar,  da  alle 
Sprache  vom  Laute  ausgeht,  demselben  zum  Grunde  legen.  Mit 
ihr  ist  eine  zweite,  andren  Sprachen  in  viel  geringerem  Grade  an- 
gehörende verbunden,  die  Vermannigfaltigung  und  Vermehrung 
des  Wortreichthums  durch  die  den  Wörtern  beigegebenen  ver- 
schiedenen Accente.  Die  Chinesischen  sind  bekannt;  einige  Indo- 
chinesische Sprachen  aber,  namentlich  die  Siamesische  und  Anam- 
Sprache  besitzen  eine  so  grosse  Menge  derselben,  dass  es  unsrem 
Ohre  fast  unmöglich  ist,  sie  richtig  zu  unterscheiden.  Die  Rede 
wird  dadurch  zu  einer  Art  Gesang  oder  Recitativ  und  Low  ver- 
gleicht die  Siamesischen  vollkommen  mit  einer  musikalischen  Ton- 
leiter.**)   Diese  Accente  geben   zugleich  zu   noch   grösseren  und 


*)  Asiat,  res.  X.  222. 
**)  A  Grammar  of  the  Thai  or  Siamese  Langiiage.  S.  12 — 19. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      oqi 

zahlreicheren  Dialektverschiedenheiten,  als  die  wahren  Buchstaben 
Veranlassung  und  man  versichert,  dass  in  Anam  jede  irgend  be- 
deutende Ortschaft  ihren  eignen  Dialekt  hat  und  dass  benachbarte, 
um  sich  zu  verständigen,  bisweilen  zu  der  geschriebenen  Sprache 
ihre  Zuflucht  nehmen  müssen.*)  Die  Barmanische  Sprache  be- 
sitzt zwei  solcher  Accente,  den  in  der  Barmanischen  Schrift  mit 
zwei  am  Ende  des  Worts  über  einander  stehenden  Punkten  be- 
zeichneten langen  und  sanften  und  den  durch  einen  unter  das 
Wort  gesetzten  Punkt  angedeuteten  kurzen  und  abgebrochnen. 
Rechnet  man  hierzu  die  accentlose  Aussprache,  so  lässt  sich  das- 
selbe Wort  mit  mehr  oder  minder  verschiedener  Bedeutung  in 
dreifacher  Gestalt  in  der  Sprache  auffinden:  p6 ,  aufhalten, 
aufschütten,  überfüllen,  ein  langer  ovaler  Korb, /^z, 
an  einander  heften  oder  binden,  aufhängen,  ein 
Insect,  Wurm,  pö- ,  tragen,  herbeibringen,  lehren, 
unterrichten,  darbringen  (wie  einen  Wunsch  oder  Segen), 
in  oder  auf  etwas  geworfen  werden;  nä,  ich,  nä:,  fünf, 
ein  Fisch.  Nicht  jedes  Wort  aber  ist  dieser  verschiednen 
Accentuation  fähig.  Einige  Endvocale  nehmen  keinen  beider 
Accente,  andere  nur  einen  derselben  an  und  immer  können  sie 
nur  sich  an  Wörter  heften,  die  mit  einem  Vocal  oder  nasalen 
Consonanten  endigen.  Dies  letztere  beweist  deutlich,  dass  sie 
Modificationen  der  Vocale  sind  und  untrennbar  mit  ihnen  zu- 
sammenhängen. Wenn  zwei  Barmanische  einsylbige  Wörter  als 
ein  Compositum  zusammentreten,  so  verliert  darum  das  erste 
seinen  Accent  nicht,  woraus  sich  wohl  schliessen  lässt,  dass  die 
Aussprache  auch  in  Zusammensetzungen  die  Sylben  gleich  be- 
sonderen Wörtern  aus  einander  hält.  Man  pflegt  diese  Accente 
dem  Bedürfniss  der  einsylbigen  Sprachen  zuzuschreiben,  die  An- 
zahl der  möglichen  Lautverbindungen  zu  vermehren.  Ein  so  ab- 
sichtliches Verfahren  ist  aber  kaum  denkbar.  Es  scheint  um- 
gekehrt viel  natürlicher,  dass  diese  mannigfaltigen  Modificationen 
der  Aussprache  zuerst  und  ursprünglich  in  den  Organen  und  den 
Lautgewohnheiten  der  Völker  lagen,  dass,  um  sie  deutlich  aus- 
tönen zu  lassen,  die  Sylben  einzeln  und  mit  kleinen  Pausen  dem 
Ohre  zugezählt  wurden  und  dass  eben  diese  Gewohnheit  nicht 
zu  der  Bildung  mehrsylbiger  Wörter  einlud. 

Die  einsylbigen  Indo-Chinesischen  Sprachen  haben  daher  auch. 


*)  Asiat,  res.  X.  270. 


O02  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

ohne  irgend  eine  historische  Verwandtschaft  unter  ihnen  voraus- 
zusetzen, mehrere  Eigenschaften  durch  ihre  Natur  selbst  sowohl 
mit  einander,  als  mit  dem  Chinesischen  gemein.  Ich  bleibe  jedoch 
hier  nur  bei  der  Barmanischen  stehen,  da  mir  von  den  übrigen 
keine  Hülfsmittel  zu  Gebote  stehen,  welche  hinreichende  Data  zu 
Untersuchungen,  wie  die  gegenwärtigen  sind,  darböten.*)  Von 
der  Barmanischen  Sprache  muss  man  zuerst  zugestehen,  dass  sie 
niemals  den  Laut  der  Stammwörter  zum  Ausdruck  ihrer  Be- 
ziehungen modificirt  und  die  grammatischen  Kategorieen  nicht 
zur  Grundlage  ihrer  Redefügung  macht.  Denn  wir  haben  oben 
gesehen,  dass  sie  dieselben  nicht  ursprünglich  an  den  Wörtern 
unterscheidet,  dasselbe  Wort  mehreren  zutheilt,  die  Natur  des 
Verbum  verkennt  und  sogar  eine  Partikel  dergestalt  zugleich 
beim  Verbum  und  beim  Nomen  gebraucht,  dass  nur  die  Be- 
deutung des  Worts  und  wo  auch  diese  nicht  ausreicht,  der  Zu- 
sammenhang der  Rede  schliessen  lässt,  v/elche  beider  Kategorieen 
gem^eint  ist.  Das  Princip  ihrer  Redefügung  ist,  anzudeuten,  welches 
Wort  in  der  Rede  das  andere  bestimmt.  Hierin  kommt  sie  völlig 
mit  der  Chinesischen  überein.**)  Sie  hat,  um  nur  dies  anzuführen, 
wie  diese,  unter  ihren  Partikeln  eine  nur  zur  Anordnung  der 
Construction  bestimmte,  zugleich  und  zu  demselben  Zwecke 
trennende  und  verbindende;  denn  die  Aehnlichkeit  zwischen 
thang  und  dem  Chinesischen  tchi  in  diesem  Gebrauche  in  der 
Construction  ist  zu  auffallend,  als  dass  sie  verkannt  werden 
könnte.***)  Dagegen  weicht  die  Barmanische  Sprache  wieder  sehr 
bedeutend  von  der  Chinesischen,  sowohl  in  dem  Sinne,  in  welchem 
sie  das  Bestimmen  nimmt,  als  in  den  Mitteln  der  Andeutung  ab. 
Das  Bestimmen,  von  welchem  hier  die  Rede  ist,  begreift  nemlich 
zwei  Fälle  unter  sich,  die  es  sehr  wesentlich  ist,  sorgfältig  von 
einander  zu  unterscheiden:  das  Regiert-werden  eines  Wortes  durch 


*)  Ueber    die  Siamesische  Sprache    giebt   zwar  Low   höchst   wichtige  Aufschlüsse, 
die   noch   ungleich   belehrender   werden,    wenn    man   damit  Burnouf's   vortreffliche  Be- 
urtheilung  seiner  Schrift  im  Nouv.  Journ.  Asiat.  IV.  2io.  vergleicht.     Allein  über  die 
meisten    Theile    der    Grammatik    ist   er   zu    kurz   und    begnügt   sich    zu   sehr,    statt   der 
Regeln  bloss  Beispiele    zu    geben,    ohne    diese    einmal    gehörig   zu    zergliedern.     Ueber 
die    Anamitische    Sprache    habe    ich   bloss  Leyden's    schätzbare,    aber   für    den  jetzigen 
Standpunkt  der  Sprachkunde  wenig  genügende  Abhandlung  [Asiat,  res.  X.  158.)  vor  mir. 
**)  Mein  Brief  an  Abel-Remusat.  S.  3t.') 
***)  /.  c.  S.  31— 34.1) 
V  Vgl.  Band  5,  270. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      oqq 

das  andre  und  die  Vervollständigung  eines  von  gewissen  Seiten 
unbestimmt  gebliebenen  Begriffs.  Das  Wort  muss  qualitativ  seinem 
Umfang  und  seiner  Beschalfenheit  nach  und  relativ  seiner  Causa- 
lität  nach  als  von  andren  abhängig  oder  selbst  andre  leitend  be- 
gränzt  werden.*)  Die  Chinesische  Sprache  unterscheidet  in  ihrer 
Construction  beide  Fälle  genau  und  wendet  jeden  da  an,  wo  er 
wahrhaft  hingehört.  Sie  lässt  das  regierende  Wort  dem  regierten 
vorangehen,  das  Subject  dem  Verbum,  dieses  seinem  directen 
Objecte,  dies  letztere  endlich  seinem  indirecten,  wenn  ein  solches 
vorhanden  ist.  Hier  lässt  sich  nicht  eigentlich  sagen,  dass  das 
vorangehende  Wort  die  Vervollständigung  des  Begriffs  enthalte; 
vielmehr  wird  das  Verbum  sowohl  durch  das  Subject,  als  durch 
das  Object,  in  deren  Mitte  es  steht,  in  seinem  Begriffe  vervoll- 
ständigt und  ebenso  das  directe  Object  durch  das  indirecte.  Auf 
der  andren  Seite  lässt  sie  das  ven'ollständigende  Wort  immer  dem 
von  der  Seite  des  Begriffs  desselben  noch  unbestimmten  voraus- 
gehen, das  Adjectivum  dem  Substantivum,  das  Adverbium  dem 
Verbum,  den  Genitiv  dem  Nominativ,  und  beobachtet  hierdurch 
wieder  gewissermassen  ein  dem  im  Vorigen  entgegengesetztes  Ver- 
fahren. Denn  gerade  dies  noch  unbestimmte,  hier  nachstehende 
Wort  ist  das  regierende  und  müsste  nach  der  Analogie  des 
vorigen  Falles,  als  solches,  vorausgehen.  Die  Chinesische  Con- 
struction beruht  also  auf  zwei  grossen,  allgemeinen,  aber  in  sich 
verschiedenen  Gesetzen  und  thut  sichtbar  wohl  daran,  die  Be- 
ziehung des  Verbum  auf  sein  Object  durch  eine  besondere 
Stellung  entschieden  herauszuheben,  da  das  Verbum  in  einem 
viel  gewichtigeren  Sinne,  als  jedes  andere  Wort  im  Satze,  regierend 
ist.  Das  erstere  wendet  sie  auf  die  Hauptgliederung  des  Satzes» 
das  letztere  auf  seine  Nebentheile  an.  Hätte  sie  dieses  dem 
ersteren   nachgebildet,   so   dass   sie  Adjectivum,   Adverbium  und 


*)  In  meinem  Briefe  an  Abel-Remusat  (S.  41.  42.)^)  habe  ich  den  Fall  der  Ver- 
vollständigung als  die  Beschränkung  eines  Begriffs  von  weiterem  Umfange  auf  einen 
von  kleinerem  bezeichnet.  Beide  Ausdrücke  laufen  aber  hier  auf  dasselbe  hinaus. 
Denn  das  Adjectivum  vervollständigt  den  Begriff  des  Substantivum  vmd  wird  in  seinem 
jedesmaligen  Gebrauch  von  seiner  weiten  Bedeutung  auf  einen  einzelnen  Fall  beschränkt. 
Ebenso  ist  es  mit  dem  Adverbium  und  Verbum.  Weniger  deutlich  erscheint  das  Ver- 
hältniss  beim  Genitiv.  Doch  auch  hier  werden  die  in  dieser  Relation  gegen  einander 
stehenden  Worte  als  von  vielen  bei  ihnen  möglichen  Beziehungen  auf  Eine  bestimmte 
beschränkt  betrachtet. 

V  Vgl.  Band  s,  277. 


304 


I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


Genitiv  dem  Substantivum ,  Verbum  und  Nominativ  nachfolgen 
Hesse,  so  würde  zwar  die,  gerade  aus  dem  hier  entwiclvelten 
Gegensatz  entspringende  Concinnität  der  Satzbildung  dadurch 
leiden,  auch  die  Stellung  des  Adverbium  nach  dem  ^^e^bum  das- 
selbe nicht  deutlich  vom  Objecte  zu  unterscheiden  erlauben;  allein 
der  blossen  Anordnung  des  Satzes  selbst,  der  Uebereinstimmung 
zwischen  seinem  Gange  und  dem  inneren  des  Sprachsinnes  ge- 
schähe dadurch  kein  Eintrag.  Das  Wesentliche  war,  den  Begriff: 
des  Regierens  richtig  festzustellen,  und  an  ihm  hält  die  Chine- 
sische Construction  mit  den  wenigen  Ausnahmen  fest,  welche  in 
allen  Sprachen  mehr  oder  weniger  Abweichungen  von  der  ge- 
wöhnlichen Regel  der  Wortstellung  rechtfertigen.  Die  Barmanische 
Sprache  unterscheidet  jene  zwei  Fälle  so  gut  als  gar  nicht,  bewahrt 
eigentlich  nur  Ein  Constructionsgesetz  und  vernachlässigt  gerade 
das  wichtigere  von  beiden.  Sie  lässt  bloss  das  Subject  dem 
Object  und  Verbum  voran-,  das  letztere  aber  dem  Objecte  nach- 
gehen. Durch  diese  Verkehrung  macht  sie  es  mehr  als  zweifel- 
haft, ob  sie  im  Voranschicken  des  Subjects  den  Zweck  hat,  es 
wirklich  als  regierend  darzustellen,  und  nicht  vielmehr  dasselbe  als 
eine  Vervollständigung  der  nachfolgenden  Satztheile  ansieht.  Das 
regierte  Object  wird  offenbar  als  eine  vervollständigende  Be- 
stimmung des  Verbum  betrachtet,  welches,  als  an  sich  selbst  un- 
bestimmt, auf  die  vollständige  Aufzählung  aller  Bestimmungen 
durch  sein  Subject  und  Object  folgt  und  den  Satz  beschliesst. 
Dass  Subject  und  Object  wieder,  jedes  für  sich,  die  sie  vervoll- 
ständigenden Nebenbestimmungen  vorn  an  sich  anfügen,  versteht 
sich  von  selbst  und  ist  aus  den  im  Vorigen  angeführten  Bei- 
spielen klar. 

Dieser  Unterschied  der  Barmanischen  und  Chinesischen  Con- 
struction entspringt  sichtbar  aus  der  im  Chinesischen  liegenden 
richtigen  Ansicht  des  Verbum  und  der  mangelhaften  der  Bar- 
manischen Sprache.  Die  Chinesische  Construction  verräth  das 
Gefühl  der  wahren  und  eigenthümlichen  Function  des  Verbum. 
Sie  drückt  dadurch,  dass  sie  dasselbe  in  die  Mitte  des  Satzes 
zwischen  Subject  und  Object  stellt,  aus,  dass  es  ihn  beherrscht 
und  die  Seele  der  ganzen  Redefügung  ist.  Auch  von  Laut- 
modificationen  an  demselben  entblösst,  giesst  sie  durch  die  blosse 
Stellung  über  den  Satz  das  Leben'  und  die  Bewegung  aus,  welche 
vom  Verbum  ausgehen,  und  stellt  das  actuale  Setzen  des  Sprach- 
sinnes  dar   oder  verräth  wenigstens  das  innere  Gefühl  desselben. 


■und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      oqz 

Im    Barmanischen    verhält    sich    dies    alles    durchaus    auf  andere 
Weise.    Die  Verbalformen  schwanken  zwischen  flectirtem  Verbum 
und  Participium,   sind   dem  materiellen  Sinne  nach  eigentlich  das 
letztere  und  können  den  formalen  nicht  erreichen,  da  die  Sprache 
für   das  Verbum   selbst   keine  Form  besitzt.    Denn  seine  wesent- 
liche Function  findet  nicht  allein  keinen  Ausdruck  in  der  Sprache, 
sondern  die  eigenthümliche  Bildung  der  angeblichen  Verbalformen 
und  ihr  sichtbarer  Anklang  an  das  Nomen  beweisen,  dass  in  den 
Sprechenden  selbst  alles  lebendige  Durchdringen  des  Gefühls  der 
wahren  Kraft  des  Verbum  mangelt.    Bedenkt  man  auf  der  andren 
Seite,   dass    die   Barmanische   Sprache    das   Verbum^    so   ungleich 
mehr,  als  die  Chinesische  durch  Partikeln   charakterisirt  und  vom 
Nomen  unterscheidet,   so   erscheint   es  um  so  wunderbarer,   dass 
sie   dasselbe   dennoch   aus   seiner  wahren  Kategorie   herausrückt. 
Uniäugbar   aber  ist   es   nicht  bloss   so,   sondern   die  Erscheinung 
wird   auch   dadurch   erklärlicher,    dass   die   Sprache   das  Verbum 
bloss   nach  Modificationen,   die  auch  materiell  genommen  werden 
können,  bezeichnet,  ohne  nur  eine  Ahndung  des  in  ihm  lediglich 
Formalen   zu   verrathen.     Die   Chinesische   Sprache   bedient  sich 
■dieser  materiellen  Andeutung  selten,    enthält  sich   derselben   oft 
gänzlich,   erkennt  aber  in  der  richtigen  Stellung  der  Wörter  eine 
unsichtbar  an  der  Rede  hängende  Form  an.    Man  könnte  sagen, 
dass,  je   weniger  sie   äussere  Grammatik  besitzt,   desto  mehr  ihr 
innere  beiwohne.    Wo  grammatische  Ansicht  in  ihr  durchdringt, 
ist   es   die   logisch   richtige.     Diese  trug  ihre  erste  Anordnung  in 
sie  hinein  und  sie  musste  sich  durch  den  Gebrauch  des  so  richtig 
gestimmten   Instrumentes   im   Geiste   des  Volks   fortbilden.    Man 
kann  gegen  das  so  eben  hier  Vorgetragene  einwenden,  dass  auch 
die  Flexionssprachen  gar  nicht  ungewöhnlich  das  Verbum  seinem 
Objecte    nachsetzen    und    dass    die   Barmanische    die    Casus    des 
Nomen   durch   eigne   Partikeln,   wie  jene,   kenntlich   erhält.     Da 
aber   die  Sprache   in  vielen   andren  Punkten   deutlich  zeigt,   dass 
ihr   keine    klare  Vorstellung   der    Redetheile   zum   Grunde   liegt, 
sondern    dass   sie   in  ihren  Fügungen   nur   die   Modificirung  der 
Wörter  durch  einander  verfolgt,  so  ist  sie  in  der  That  von  jener, 
das   wahre   Wesen   der   Satzbildung  verkennenden  Ansicht   nicht 
freizusprechen.    Sie  beweist  dies  auch  durch  die  Unverbrüchlichkeit, 
mit  der  sie  ihr  angebliches  \^erbum  immer  an  das  Ende  des  Satzes 
verweist.    Dies   springt   um  so  deutlicher  in  die  Augen,   als  auch 
.aus  dem  zweiten,  schon  oben  angegebnen  Grunde  dieser  Stellung, 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  20 


o 


o5  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


an  die  Verbalform  wieder  einen  neuen  Satz  anknüpfen  zu.  können, 
klar  wird,  dass  sie  weder  von  der  eigentlichen  Natur  des  Perioden- 
baues noch  von  der  darin  geschäftigen  Kraft  des  Verbum  durch- 
drungen ist.  Sie  hat  einen  sichtbaren  Mangel  an  Partikeln,  die, 
gleich  unsren  Conjunctionen,  durch  die  Verschlingung  der  Sätze 
den  Perioden  Leben  und  Mannigfaltigkeit  ertheilen.  Die  Chine- 
sische, welche  auch  hier  das  allgemeine  Gesetz  ihrer  Wortstellung 
beobachtet,  indem  sie,  wie  den  Genitiv  dem  Nominativ,  so  den 
näher  bestimmenden  und  vervollständigenden  Satz  dem  durch  ihn 
modificirten  vorausgehen  lässt,  ist  ihr  hierin  weit  überlegen.  In 
der  Barmanischen  laufen  die  Sätze  gleichsam  in  gerader  Linie  an 
einander  fort.  Allein  selbst  so  sind  sie  selten  durch  solche  ver- 
bindenden Conjunctionen  an  einander  gereiht,  welche,  wie  unser 
und,  jedem  seine  Selbstständigkeit  erhalten.  Sie  verbinden  sich 
auf  eine  den  materiellen  Inhalt  mehr  in  einander  verwebende 
Weise.  Dies  liegt  schon  in  der,  gewöhnlich  am  Ende  jedes 
solcher  fortlaufenden  Sätze  gebrauchten  Partikel  thang,  die,  indem 
sie  das  Vorhergehende  zusammennimmt,  es  immer  zugleich  zum 
Verständniss  des  zunächst  Folgenden  anwendet.  Dass  hieraus 
eine  gewisse  Schwerfälligkeit,  bei  der  ausserdem  ermüdende 
Gleichförmigkeit  unvermeidlich  scheint,  entstehen  muss,  fällt  in 
die  Augen. 

In  den  Mitteln  zur  Andeutung  der  Wortfolge  stimmen  beide 
Sprachen  darin  überein,  dass  sie  sich  zugleich  der  Stellung  und 
besonderer  Partikeln  bedienen.  Die  Barmanische  bedürfte  eigentlich 
nicht  so  strenger  Gesetze  der  ersteren,  da  eine  grosse  Anzahl,  die 
Beziehungen  andeutender  Partikeln  das  Verständniss  hinreichend 
sichert.  Sie  bewahrt  aber  zugleich  noch  gewissenhafter  die  einmal 
übliche  Stellung  und  ist  nur  in  der  Anordnung  derselben  in  Einem 
Punkte  nicht  gleich  consequent,  da  sie  das  Adjectivum  vor  und 
hinter  das  Substantivum  zu  setzen  erlaubt.  Indem  aber  die  erstere 
dieser  Stellungen  immer  der  Hinzukunft  einer  der  zur  Bestimmung 
der  Wortfolge  nöthigen  Partikeln  bedarf,  so  sieht  man  hieraus, 
dass  die  zweite  als  die  eigentlich  natürliche  betrachtet  wird,  und 
dies  muss  man  wohl  als  eine  Folge  des  Umstandes  ansehen,  dass 
Adjectiv  und  Substantiv  ein  Compositum  zusammen  ausmachen, 
in  welchem  man  die,  wenn  das  Adjectivum  vorausgeht,  ihm  nie 
beigegebene  Casusbeugung  auch  nur  als  dem  in  seiner  Bedeutung 
durch  das  Adjectivum  modificirten  Substantivum  angehörig  be- 
trachten  muss.     In  ihren  Compositis   nun,   sowohl  der  Nomina 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      oQ-y 

als  der  Verba,  lässt  die  Sprache  gewöhnlich  das  ihr  jedesmal  als 
Gattungsbegriff  geltende  Wort  im  ersten  Gliede  vorangehen  und 
das  speciiicirende  (insofern,  als  es  auf  mehrere  Gattungen  An- 
wendung finden  kann)  allgemeinere  im  zweiten  nachfolgen.  So 
bildet  sie  Modi  der  Verba,  mit  vorausgehendem  Worte  Fisch 
eine  grosse  Anzahl  von  Fischnamen  u.  s.  w.  Wenn  sie  in  andren 
Fällen  den  entgegengesetzten  Weg  zu  nehmen  scheint,  Wörter 
von  Handwerkern  durch  das  allgemeine  verfertigen,  das  als 
zweites  Glied  hinter  den  Namen  ihrer  Werkzeuge  steht,  bildet, 
bleibt  man  zweifelhaft,  ob  sie  wirklich  hierin  einer  andren 
Methode  oder  nur  einer  andren  Ansicht  von  dem,  was  ihr  jedes- 
mal als  Gattungsbegriff  gilt,  folgt.  Ebenso  nun  behandelt  sie  in 
der  Verbindung  des  nachfolgenden  Adjectivum  dieses  als  einen 
Gattungsbegriff  specificirend.  Die  Chinesische  Sprache  bleibt  auch 
hier  ihrem  allgemeinen  Gesetze  treu;  das  Wort,  dem  eine 
speciellere  Bestimmung  zugehen  soll,  macht  auch  im  Compositum 
das  letzte  Glied  aus.  Wenn  auf  eine,  an  sich  allerdings  wenig 
natürliche  Weise  das  ^'erbum  sehen  zur  Bildung  oder  vielmehr 
an  der  Stelle  des  Passivum  gebraucht  wird,  so  geht  es  dem  Haupt- 
begritfe  vorauf :  sehen  tödten,  d.i.  getödtet  werden.  Da  so 
viele  Dinge  gesehen  werden  können,  so  müsste  eigentlich  tödten 
vorausgehen.  Die  umgekehrte  Stellung  zeigt  aber,  dass  hier 
sehen  als  eine  Modification  des  folgenden  Wortes,  mithin  als  ein 
Zustand  des  Tödtens  gedacht  werden  soll,  und  dadurch  wird  in 
der,  auf  den  ersten  Anblick  befremdenden  Redensart  auf  eine 
sinnreich  feine  Weise  das  grammatische  Verhältniss  angedeutet. 
Auf  ähnliche  Art  werden  Ackersmann,  Bücherhaus  u.  s.  f. 
gebildet. 

In  Uebereinstimmung  mit  einander  kommen  die  Barmanische 
und  Chinesische  Sprache  in  der  Redefügung  der  Wonstellung 
durch  Partikeln  zu  Hülfe.  Beide  gleichen  einander  auch  darin, 
dass  sie  einige  dieser  Partikeln  dergestalt  bloss  zur  Andeutung 
der  Construction  bestimmen,  dass  dieselben  der  materiellen  Be- 
deutung nichts  hinzufügen.  Doch  liegt  gerade  in  diesen  Partikeln 
der  Wendepunkt,  in  welchem  die  Barmanische  Sprache  den 
Charakter  der  Chinesischen  verlässt  und  einen  eignen  annimmt. 
Die  Sorgfalt,  die  Beziehung,  in  der  ein  Wort  mit  dem  andren  zu- 
sammengedacht werden  soll,  durch  vermittelnde  Begriffe  zu  be- 
zeichnen, vermehrt  die  Zahl  dieser  Partikeln  und  bringt  in  ihnen 
eine  gewisse,  wenn  auch  allerdings  nicht  ganz  systematische  Voll- 


oQ§  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Ständigkeit  hervor.  Die  Sprache  zeigt  aber  auch  ein  Bestreben, 
diese  Partikeln  in  grössere  Nähe  mit  dem  Stammworte,  als  mit 
den  übrigen  Wörtern  des  Satzes  zu  bringen.  Wahre  Worteinheit 
kann  allerdings  bei  der  sylbentrennenden  Aussprache  und  nach 
dem  ganzen  Geiste  der  Sprache  nicht  statt  finden.  Wir  haben 
aber  doch  gesehen,  dass  in  einigen  Fällen  die  Einwirkung  eines 
Wortes  eine  Consonantenveränderung  in  dem  unmittelbar  daran 
gehängten  hervorbringt,  und  bei  den  Verbalformen  schliessen  die 
endenden  Partikeln  thang  und  eng  die  Verbalpartikeln  mit  dem 
Stammwort  in  ein  Ganzes  zusammen.  In  einem  einzelnen  Falle 
entsteht  sogar  eine  Zusammenziehung  zweier  Sylben  in  Eine,  was 
schon  in  Chinesischer  Schrift  nur  phonetisch,  also  fremdartig  dar- 
gestellt werden  könnte.  Ein  Gefühl  der  wahren  Natur  der  Suffixa 
liegt  auch  darin,  dass  selbst  diejenigen  unter  diesen  Partikeln, 
welche  als  bestimmende  Adjectiva  angesehen  werden  könnten,  wie 
die  Pluralzeichen,  nie  dem  Stammworte  vorausgehen,  sondern 
immer  nachfolgen.  Im  Chinesischen  ist  nach  Verschiedenheit  der 
Pluralpartikeln  bald  die  eine,  bald  die  andre  Stellung  üblich. 

In  dem  Grade,  in  welchem  sich  die  Barmanische  Sprache  von 
dem  Chinesischen  Baue  entfernt,  nähert  sie  sich  dem  Sanskritischen. 
Es  würde  aber  überflüssig  seyn,  noch  im  speciellen  zu  schildern, 
welche  wahre  Kluft  sie  wieder  von  diesem  trennt.  Der  Unter- 
schied liegt  hierbei  nicht  bloss  in  der  mehr  oder  weniger  engen 
Anschliessung  der  Partikeln  an  das  Hauptwort.  Er  geht  ganz 
besonders  aus  der  Vergleichung  derselben  mit  den  Suffixen  der 
Indischen  Sprache  hervor.  Jene  sind  ebenso  bedeutsame  Wörter, 
als  alle  andren  der  Sprache,  wenn  auch  die  Bedeutung  allerdings 
meistentheils  schon  in  der  Erinnerung  des  Volkes  erloschen  ist. 
Diese  sind  grösstentheils  subjective  Laute,  geeignet  zu  auch  nur 
inneren  Beziehungen.  Ueberhaupt  kann  man  die  Barmanische 
Sprache,  wenn  sie  auch  in  der  Mitte  zwischen  den  beiden  andren 
zu  stehen  scheint,  doch  niemals  als  einen  Uebergangspunkt  von 
der  einen  zur  andren  ansehen.  Das  Leben  jeder  Sprache  beruht 
auf  der  inneren  Anschauung  des  Volkes  von  der  Art,  den  Ge- 
danken in  Laute  zu  hüllen.  Diese  aber  ist  in  den  drei  hier  ver- 
glichenen Sprachstämmen  durchaus  eine  verschiedene.  Wenn 
auch  die  Zahl  der  Partikeln  und  die  Häufigkeit  ihres  Gebrauchs 
eine  stufenweis  gesteigerte  Annäherung  zur  grammatischen  An- 
deutung vom  alten  Styl  des  Chinesischen  durch  den  neueren  hin- 
durch bis  zum  Barmanischen  verräth,  so  ist  doch  die  letztere  dieser 


und  ihren  Einfiuß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.      oqq 

Sprachen  von  der  ersteren  gänzlich  durch  ihre  Grundanschauung, 
die  auch  im  neueren  Styl  der  Chinesischen  wesentlich  dieselbe 
bleibt,  verschieden.  Die  Chinesische  stützt  sich  allein  auf  die 
Wortstellung  und  auf  das  Gepräge  der  grammatischen  Form  im 
Inneren  des  Geistes.  Die  Barmanische  beruht  in  ihrer  Redefügung 
nicht  auf  der  Wortstellung,  obgleich  sie  mit  noch  grösserer  Festig- 
keit an  der  ihrer  Vorstellungsweise  gemässen  hängt.  Sie  vermittelt 
die  Begriffe  durch  neue  hinzugefügte  und  wird  hierauf  selbst 
durch  die  ihr  eigne,  ohne  dies  Hülfsmittel  der  Zweideutigkeit  aus- 
gesetzte Stellung  nothwendig  geführt.  Da  die  vermittelnden  Be- 
griffe Ausdrücke  der  grammatischen  Formen  seyn  müssen,  so 
stellen  sich  allerdings  auch  die  letzteren  in  der  Sprache  heraus. 
Die  Anschauung  derselben  ist  aber  nicht  gleich  klar  und  bestimmt, 
als  im  Chinesischen  und  im  Sanskrit;  nicht  wie  im  ersteren,  weil 
sie  eben  jene  Stütze  vermittelnder  Begriffe  besitzt,  welche  die 
Nothwendigkeit  der  wahren  Concentration  des  Sprachsinnes  ver- 
mindert; nicht  wie  im  Sanskrit,  weil  sie  nicht  die  Laute  der 
Sprache  beherrscht,  nicht  bis  zur  Bildung  wirklicher  Worteinheit 
und  ächter  Formen  durchdringt.  Auf  der  andren  Seite  kann  man 
das  Barmanische  auch  nicht  zu  den  agglutinirenden  Sprachen 
rechnen,  da  es  in  der  Aussprache  die  Sylben  im  Gegentheil  ge- 
flissentlich aus  einander  hält.  Es  ist  reiner  und  consequenter  in 
seinem  Systeme,  als  jene  Sprachen,  wenn  es  sich  auch  eben  da- 
durch noch  mehr  von  aller  Flexion  entfernt,  die  doch  in  den 
agglutinirenden  Sprachen  auch  nicht  aus  den  eigentlichen  Quellen 
fliesst,  sondern  nur  eine  zufällige  Erscheinung  ist. 

Das  Sanskrit  oder  von  ihm  herstammende  Dialekte  haben 
sich  mehr  oder  weniger  den  Sprachen  aller  Indien  umgebenden 
Völker  beigesellt  und  es  ist  anziehend,  zu  sehen,  wie  sich  durch 
diese,  mehr  vom  Geiste  der  Religion  und  der  Wissenschaft,  als 
von  politischen  und  Lebensverhältnissen  ausgehenden  Verbindungen 
die  verschiedenen  Sprachen  gegen  einander  stellen.  In  Hinter- 
Indien ist  nun  das  Pali,  also  eine  um  viele  Lautunterscheidungen 
der  Formen  gekommene  Flexionssprache  zu  Sprachen  hinzu- 
getreten, die  in  wesentlichen  Punkten  mit  der  Chinesischen  über- 
einstimmen, gerade  also  da  und  dahin,  wo  der  Gegensatz  reicher 
grammatischer  Andeutung  mit  fast  gänzlichem  Mangel  derselben 
am  grössten  ist.  Ich  kann  nicht  der  Ansicht  beistimmen,  dass  die 
Barmanische  Sprache  in  ihrer  ächten  Gestalt,  und  soweit  sie  der 
Nation  selbst   angehört,   irgend   wesentlich  durch  das  Pali  anders 


310 


I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


gemodelt  worden  ist.  Die  mehrsylbigen  Wörter  sind  in  ihr  aus 
dem  eigenthümlichen  Hange  zur  Zusammensetzung  entstanden, 
ohne  des  Vorbildes  des  Pali  bedurft  zu  haben,  und  ebenso  gehört 
ihr  allein  der  sich  den  Formen  nähernde  Partikelgebrauch  an. 
Die  Pali-Kundigen  haben  die  Sprache  nur  mit  ihrem  grammati- 
schen Gewände  äusserlich  umkleidet.  Dies  sieht  man  an  der 
Vielfachheit  der  Casuszeichen  und  an  den  Classen  der  zusammen- 
gesetzten Wörter.  Was  sie  hier  den  Sanskritischen  Karmadhäraya 
gleichstellen,  ist  gänzlich  davon  verschieden,  da  das  Barmanische 
vorausgehende  Adjectivum  immer  einer  anknüpfenden  Partikel 
bedarf.  An  das  Verbum  scheinen  sie,  nach  Carey's  Grammatik 
zu  urtheilen,  ihre  Terminologie  nicht  einmal  anzulegen  gewagt 
zu  haben.  Dennoch  ist  nicht  ,die  Möglichkeit  zu  läugnen,  dass 
durch  fortgesetztes  Studium  des  Pali  der  Styl  und  insofern  auch 
der  Charakter  der  Sprache  zur  Annäherung  an  das  Pali  verändert 
seyn  kann  und  immer  mehr  verändert  werden  könnte.  Die  wahr- 
haft körperliche,  auf  den  Lauten  beruhende  Form  der  Sprachen 
gestattet  eine  solche  Einwirkung  nur  innerhalb  sehr  gemessener 
Gränzen.  Dagegen  ist  einer  solchen  die  innere  Anschauung  der 
Form  sehr  zugänglich  und  die  grammatischen  Ansichten,  ja 
selbst  die  Stärke  und  Lebendigkeit  des  Sprachsinnes  werden 
durch  die  Vertraulichkeit  mit  vollkommneren  Sprachen  berichtigt 
und  erhöht.  Dies  wirkt  alsdann  auf  die  Sprache  insoweit  zurück, 
als  sie  dem  Gebrauche  Herrschaft  über  sich  verstattet.  Im  Bar- 
manischen nun  würde  diese  Rückwirkung  vorzugsweise  stark 
seyn,  da  Haupttheile  des  Baues  desselben  sich  schon  dem  Sans- 
kritischen nähern  und  ihnen  nur  vorzüglich  fehlt,  in  dem 
rechten  Sinne  genommen  zu  werden,  zu  dem  die  Sprache  an  sich 
nicht  zu  führen  vermag,  da  sie  nicht  aus  diesem  Sinne  entstanden 
ist.  Hierin  nun  käme  ihr  die  fremde  Ansicht  zu  Hülfe.  Man 
dürfte  zu  diesem  Behufe  nur  allmählich  die  gehäuften  Partikeln 
mit  Wegwerfung  mehrerer  bestimmten  grammatischen  Formen 
aneignen,  in  der  Construction  häufiger  das  vorhandene  Hülfs- 
verbum  gebrauchen  u.  s.  w.  Allein  bei  dem  sorgfältigsten  Be- 
mühen dieser  Art  wird  es  nie  gelingen,  zu  verwischen,  dass  der 
Sprache  doch  eine  ganz  verschiedne  Form  eigenthümlich  ist, 
und  die  Erzeugnisse  eines  solchen  Verfahrens  würden  immer  Un- 
Barmanisch  klingen,  da,  um  nur  diesen  einen  Punkt  heraus- 
zuheben, die  mehreren  für  eine  und  dieselbe  Form  vorhandnen 
Partikeln    nicht    gleichgültig,    sondern    nach    feinen,   im    Sprach- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     37.  38.    911 

gebrauch  liegenden  Nuancen  Anwendung  finden.  Immer  also 
würde  man  erkennen,  dass  der  Sprache  etwas  ihr  Fremdartiges 
eingeimpft  worden  sey. 

Historische  Verw^andtschaft  scheint  nach  allen  Zeugnissen 
zwischen  dem  Barmanischen  und  Chinesischen  nicht  vorhanden 
zu  seyn.  Beide  Sprachen  sollen  nur  wenige  Wörter  mit  einander 
gemein  haben.  Dennoch  weiss  ich  nicht,  ob  dieser  Punkt  nicht 
einer  mehr  sorgfältigen  Prüfung  bedürfte.  Auffallend  ist  die 
grosse  Lautahnlichkeit  einiger,  gerade  aus  der  Classe  der  gram- 
matischen genommener  Wörter.  Ich  setze  diese  für  tiefere  Kenner 
beider  Sprachen  hier  her.  Die  Barmanischen  Pluralzeichen  der 
Nomina  und  Verba  lauten  tö'  und  kra  (gesprochen  kya)  und  toü 
und  kiäi  sind  Chinesische  Pluralzeichen  im  alten  und  neuen  Styl ; 
ihang  (gesprochen  thi  H.)  entspricht,  wie  wir  schon  oben  gesehen, 
dem  ti  des  neueren  und  dem  tchi  des  älteren  St^ds;  hri  (ge- 
sprochen shi)  ist  das  Verbum  seyn  und  ebenso  im  Chinesischen 
bei  Remusat  cht.  Morrison  und  Hough  schreiben  beide  Wörter 
nach  Englischer  Weise  ganz  gleichförmig  she.  Das  Chinesische 
Wort  ist  allerdings  zugleich  ein  Pronomen  und  eine  Bejahungs- 
partikel, so  dass  seine  Verbalbedeutung  wohl  nur  daher  ent- 
nommen ist.  Dieser  Ursprung  würde  aber  der  Verwandtschaft 
beider  Wörter  keinen  Eintrag  thun.  Endlich  lautet  der  in  beiden 
Sprachen  bei  der  Angabe  gezählter  Gegenstände  gebrauchte  all- 
gemeine, hierin  unsrem  Worte  Stück  ähnliche  Gattungsausdruck 
im  Barmanischen  hku  und  im  Chinesischen  ko.*)  Ist  die  Zahl 
dieser  Wörter  auch  gering,  so  gehören  sie  gerade  zu  den  am 
meisten  die  Verwandtschaft  beider  Sprachen  verrathenden  Theilen 
des  Baues  derselben  und  auch  die  Verschiedenheiten  zwischen 
der  Chinesischen  und  Barmanischen  Grammatik  sind,  wenn  auch 
gross  und  tief  in  den  Sprachbau  eingreifend,  doch  nicht  von  der 
Art,  dass  sie,  wie  z.  B.  zwischen  dem  Barmanischen  und  Tagali- 
schen,  Ven;vandtschaft  unmöglich  machen  sollten. 

Ganz  nahe  an  die  so  eben  angestellten  Untersuchungen  schliesstsS 
sich   die  Frage   an:   ob  der  Unterschied  zwischen  ein-  und  mehr- 
sylbigen  Sprachen   ein   absoluter   oder  nur   ein   dem  Grade   nach 
relativer   ist    und    ob    diese   Form    der   Wörter    wesentlich    den 
Charakter   der  Sprachen    bildet    oder    die   Einsylbigkeit   nur    ein 


*)  S.  meine  Schrift  über  die  Kawi-Sprache.      I.  Buch.  S.  253.  Anm.  3. 


OJ2  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Uebergangszustand  ist,  aus  welchem  sich  die  mehrsylbigen  Sprachen 
nach  und  nach  herausgebildet  haben? 

In  früheren  Zeiten  der  Sprachkunde  erklärte  man  die  Chinesi- 
sche und  mehrere  südöstliche  Asiatische  Sprachen  geradehin  für 
einsylbig.  Späterhin  wurde  man  hierüber  zweifelhaft  und  Abel- 
Remusat  bestritt  diese  Behauptung  ausdrücklich  vom  Chinesischen.*) 
Diese  Ansicht  schien  aber  doch  zu  sehr  gegen  die  vor  Augen 
liegende  Thatsache  zu  streiten  und  man  kann  wohl  mit  Grunde 
behaupten,  dass  man  jetzt  und  nicht  mit  Unrecht  zur  früheren 
Annahme  zurückgekehrt  ist.  Dem  ganzen  Streite  liegen  indess 
mehrere  Misverständnisse  zum  Grunde  und  es  bedarf  daher  zu- 
erst einer  gehörigen  Bestimmung  desjenigen,  was  man  einsylbige 
Wortform  nennt,  und  des  Sinnes,  in  welchem  man  ein-  und  mehr- 
sylbige  Sprachen  unterscheidet.'  Alle  von  Remusat  angeführten 
Beispiele  der  Mehrsylbigkeit  des  Chinesischen  laufen  auf  Zu- 
sammensetzungen hinaus  und  es  kann  wohl  kein  Zweifel  seyn, 
dass  Zusammensetzung  ganz  etwas  andres,  als  ursprüngliche 
Mehrsylbigkeit  ist.  In  der  Zusammensetzung  entsteht  auch  der 
durchaus  als  einfach  betrachtete  Begriff  doch  aus  zwei  oder 
mehreren,  mit  einander  verbundenen.  Das  sich  hieraus  ergebende 
Wort  ist  also  nie  ein  einfaches  und  eine  Sprache  hört  darum 
nicht  auf,  eine  einsylbige  zu  seyn,  weil  sie  zusammengesetzte 
Wörter  besitzt.  Es  kommt  offenbar  auf  solche  einfache  an,  in 
welchen  sich  keine,  den  Begriff  bildenden  Elementarbegriffe  unter- 
scheiden lassen,  sondern  wo  die  Laute  zweier  oder  mehrerer,  an 
sich  bedeutungsloser  Sylben  das  Begriffszeichen  ausmachen.  Selbst 
wenn  man  Wörter  findet,  bei  welchen  dies  scheinbar  der  Fall  ist, 
erfordert  es  immer  genauere  Untersuchung,  ob  nicht  doch  jede 
einzelne  Sylbe  ursprünglich  eine,  nur  in  ihr  verloren  gegangene 
eigenthümliche  Bedeutung  besass.  Ein  richtiges  Beispiel  gegen 
die  Einsylbigkeit  einer  Sprache  müsste  den  Beweis  in  sich  tragen, 
dass  alle  Laute  des  Wortes  nur  gemeinschaftlich  und  zusammen, 
nicht  abgesondert  für  sich  bedeutsam  sind.  Dies  hat  Abel- 
Remusat  allerdings  nicht  klar  genug  vor  Augen  gehabt  und 
darum  in  der  That  die  originelle  Gestaltung  des  Chinesischen  in 
der  oben  angeführten  Abhandlung  verkannt.**)   Von  einer  andren 


*)  Fundgruben  des  Orients.  III.  S.  279. 

**)  Herr  Ampere  {de  la   Chine  et  des  travaux  de  M.  Abel-Remusat,  in   der 
Revue  des  deux  mondes.     T.  8.    1832.    p.  373 — 405.)  hat  dies  richtig  gefühlt.     Er 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      0.12 

Seite  her  aber  gründete  sich  Remusat's  Meinung  doch  auf  etwas 
Wahres  und  richtig  Gesehenes.  Er  blieb  nemlich  bei  der  Ein- 
theilung  der  Sprachen  in  ein-  und  mehrsylbige  stehen  und  es 
entgieng  seinem  Scharfblicke  nicht,  dass  diese,  wie  sie  gewöhnlich 
verstanden  wird,  allerdings  nicht  genau  zu  nehmen  ist.  Ich  habe 
schon  im  Vorigen  bemerkt,  dass  eine  solche  Eintheilung  nicht 
auf  der  blossen  Thatsache  des  Vorherrschens  ein-  und  mehr- 
sylbiger  Wörter  beruhen  kann,  sondern  dass  ihr  etwas  viel 
Wesentlicheres  zum  Grunde  liegt,  nemlich  der  doppelte  Umstand 
des  Alangels  der  Affixa  und  die  Eigenthümlichkeit  der  Aussprache, 
auch  da,  wo  der  Geist  die  Begriffe  verbindet,  dennoch  die  Sylben- 
laute  getrennt  zu  erhalten.  Die  Ursache  des  Mangels  der  Affixa 
liegt  tiefer  und  wirklich  im  Geiste.  Denn  wenn  dieser  lebendig 
das  Abhängigkeitsverhältniss  des  Affixum  zum  Hauptbegriff 
empfindet,  so  kann  die  Zunge  unmöglich  dem  ersteren  gleiche 
Lautgeltung  in  einem  eigenen  Worte  geben.  Verschmelzung 
zweier  verschiedener  Elemente  zur  Einheit  des  Wortes  ist  eine 
nothwendige  und  unmittelbare  Folge  jener  Empfindung.  Remusat 
scheint  mir  daher  nur  darin  gefehlt  zu  haben,  dass  er,  anstatt  die 


erinnert  aber  zugleich  daran,  dass  jene  Abhandlung  in  die  ersten  Jahre  der  Chinesischen 
Studien  Abel-Remusat's  fällt,  bemerkt  jedoch  dabei,  dass  er  auch  später  diese  Ansicht 
nie  ganz  verliess.  In  der  That  neigte  sich  Remusat  wohl  zu  sehr  dahin,  den  Chine- 
sischen Sprachbau  für  weniger  abweichend  von  dem  andrer  Sprachen  zu  halten,  als  er 
wirklich  ist.  Hierauf  mochten  ihn  zuerst  die  abentheuerlichen  Ideen  geführt  haben,  die 
zu  der  Zeit  des  Beginnens  seiner  Studien  noch  vom  Chinesischen  und  von  der  Schwie- 
rigkeit, dasselbe  zu  erlernen,  herrschend  waren.  Er  fühlte  aber  auch  nicht  genug,  dass 
der  Maugel  gewisser  feinerer  grammatischer  Bezeichnungen  zwar  wohl  im  Einzelnen  bis- 
weilen für  den  Sinn  überhaupt,  nie  aber  für  die  bestimmtere  Nüancirung  der  Gedanken 
im  Ganzen  unschädlich  ist.  Sonst  aber  hat  er  sichtbar  zuerst  das  wahre  Wesen  des 
Chinesischen  dargestellt  und  man  lernt  erst  jetzt  den  grossen  Werth  seiner  Grammatik 
wahrhaft  kennen,  da  die  in  ihrer  Art  auch  sehr  schätzungswürdige  des  Vaters  Premare 
{Notitia  linguae  Sinicae  auctore  Paire  Premare.  Malaccae.  1831.)  im  Druck  erschienen 
ist.  Die  Vergleichung  beider  Arbeiten  zeigt  unverkennbar,  welchen  grossen  Dienst  die 
Remusatsche  dem  Studium  geleistet  hat.  Ueberall  strahlt  dem  Leser  aus  ihr  die  Eigen- 
thümlichkeit der  behandelten  Sprache  in  leichter  Anordnung  und  lichtvoller  Klarheit 
entgegen.  Die  seines  Vorgängers  bietet  ein  unendlich  schätzbares  Material  dar  vmd 
fasst  gewiss  alle  Eigenheiten  der  Sprache  einzeln  in  sich ;  allein  vom  Ganzen  schwebte 
ihrem  Verfasser  schwerlich  ein  gleich  deutliches  Bild  vor  und  wenigstens  gelang  es  ihm 
nicht,  seinen  Lesern  ein  solches  mitzutheilen.  Tiefere  Kenner  der  Sprache  mögen  auch 
manche  Lücken  in  Remusat's  Grammatik  ausgefüllt  wünschen ;  aber  das  grosse  Ver- 
dienst, sich  zuerst  wahrhaft  in  den  Mittelpunkt  der  richtigen  Ansicht  der  Sprache  ver- 
setzt und  ausserdem  das  Studium  derselben  allgemein  zugänglich  gemacht  und  dadurch 
erst  eigentlich  begründet  zu  haben,  wird  dem  trefflichen  Manne  dauernd  bleiben. 


oj^  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Einsylbigkeit  des  Chinesischen  anzugreifen,  nicht  vielmehr  zu 
zeigen  versuchte,  dass  auch  die  übrigen  Sprachen  von  einsylbigem 
Wurzelbau  ausgehen  und  nur,  theils  auf  dem  ihnen  eigenthüm- 
lichen  Wege  der  Affigirung,  theils  auf  dem,  auch  dem  Chinesi- 
schen nicht  fremden  der  Zusammensetzung,  zur  Mehrsylbigkeit 
gelangen,  dies  Ziel  aber,  da  ihnen  nicht,  wie  im  Chinesischen,  die 
oben  genannten  Hindernisse  im  Wege  standen,  wirklich  erreichen. 
Diese  Bahn  nun  will  ich  hier  einschlagen  und  an  dem  Faden 
thatsächlicher  Untersuchung  einiger  hier  vorzüglich  in  Betrachtung 
zu  ziehender  Sprachen  verfolgen. 

So  schwer  und  zum  Theil  unmöglich  es  auch  ist,  die  Wörter 
bis  zu  ihrem  wahren  Ursprünge  zurückzuführen,  so  leitet  uns 
doch  sorgfältig  angestellte  Zergliederung  in  den  meisten  Sprachen 
auf  einsylbige  Stämme  hin  und  die  einzelnen  Fälle  des  Gegen- 
theils  können  nicht  als  Beweise  auch  ursprünglich  mehrsylbiger 
gelten,  da  die  Ursach  der  Erscheinung  mit  viel  grösserer  Wahr- 
scheinlichkeit in  nicht  weit  genug  fortgesetzter  Zergliederung  ge- 
sucht werden  kann.  Man  geht  aber  auch,  wenn  man  die  Frage 
bloss  aus  Ideen  betrachtet,  wohl  nicht  zu  weit,  indem  man  all- 
gemein annimmt,  dass  ursprünglich  jeder  Begriff  nur  durch  Eine 
Sylbe  bezeichnet  wurde.  Der  Begriff  in  der  Spracherfindung  ist 
der  Eindruck,  welchen  das  Object,  ein  äusseres  oder  inneres,  auf 
den  Menschen  macht,  und  der  durch  die  Lebendigkeit  dieses  Ein- 
drucks der  Brust  entlockte  Laut  ist  das  Wort.  Auf  diesem  Wege 
können  nicht  leicht  zwei  Laute  Einem  Eindruck  entsprechen. 
Wenn  wirklich  zwei  Laute,  unmittelbar  auf  einander  folgend,  ent- 
ständen, so  bewiesen  sie  zwei  von  demselben  Object  ausgehende 
Eindrücke  und  bildeten  Zusammensetzung  schon  in  der  Geburt 
des  Wortes,  ohne  dass  dadurch  der  Grundsatz  der  Einsylbigkeit 
beeinträchtigt  würde.  Dies  ist  in  der  That  bei  der  in  allen 
Sprachen,  vorzugsweise  aber  in  den  ungebildeteren  sich  findenden 
Verdoppelung  der  Fall.  Jeder  der  wiederholten  Laute  spricht  das 
ganze  Object  aus;  durch  die  Wiederholung  aber  tritt  dem  Aus- 
drucke eine  Nuance  mehr  hinzu,  entweder  blosse  Verstärkung,  als 
Zeichen  der  höheren  Lebendigkeit  des  erfahrnen  Eindrucks,  oder 
Anzeigen  des  sich  wiederholenden  Objects,  weshalb  die  Verdoppe- 
lung vorzügHch  bei  Adjectiven  statt  findet,  da  bei  der  Eigenschaft 
das  besonders  auffällt,  dass  sie  nicht  als  einzelner  Körper,  sondern 
gleichsam  als  Fläche  überall  in  demselben  Räume  erscheint. 
Wirklich  gehört  in  mehreren  Sprachen,  von   denen   ich   hier  nur 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      o  1 1: 

die  der  Südsee-Inseln  anführen  will,  die  Verdoppelung  vorzugs- 
weise, ja  fast  ausschliesslich  den  Adjectiven  und  den  aus  ihnen 
gebildeten,  also  ursprünglich  adjectivisch  empfundenen  Substan- 
tiven an.  Denkt  man  sich  freilich  die  ursprüngliche  Sprach- 
bezeichnung als  ein  absichtliches  Vertheilen  der  Laute  unter  die 
Gegenstände,  so  erscheint  allerdings  die  Sache  bei  v^^eitem  anders. 
Die  Sorgfalt,  verschiedenen  Begriifen  nicht  ganz  gleiche  Zeichen 
zu  geben,  könnte  dann  die  wahrscheinlichste  Ursach  seyn,  dass 
man  einer  Sylbe,  durchaus  unabhängig  von  einer  neuen  Bedeut- 
samkeit, eine  zweite  und  dritte  hinzugefügt  hätte.  Allein  diese 
Vorstellungsart,  bei  der  man  gänzlich  vergisst,  dass  die  Sprache 
kein  todtes  Uhrwerk,  sondern  eine  lebendige  Schöpfung  aus  sich 
selbst  ist  und  dass  die  ersten  sprechenden  Menschen  bei  weitem 
sinnlicher  erregbar  waren  als  wir,  abgestumpft  durch  Cultur  und 
auf  fremder  Erfahrung  beruhende  Kenntniss,  ist  offenbar  eine 
falsche.  Alle  Sprachen  enthalten  wohl  Wörter,  die  durch  ganz 
verschiedene  Bedeutung  bei  ganz  gleichem  Laute  Zweideutigkeit 
zu  erregen  im  Stande  sind.  Dass  dies  aber  selten  ist  und  in  der 
Regel  jedem  Begriff  ein  anders  nüancirter  Laut  entspricht,  ent- 
stand gewiss  nicht  aus  absichtlicher  Vergleichung  der  schon  vor- 
handenen Wörter,  welche  dem  Sprechenden  nicht  einmal  gegen- 
wärtig seyn  konnten,  sondern  daraus,  dass  sowohl  der  Eindruck 
des  Objects,  als  der  durch  ihn  hervorgelockte  Laut  immer  indi- 
viduell war  und  keine  Individualität  vollständig  mit  der  andren 
übereinkommt.^)  Von  einer  andren  Seite  aus  wurde  allerdings 
der  Wortvorrath  auch  durch  Erweiterung  der  einzelnen  vorhandnen 
Bezeichnungen  vermehrt.  Wie  der  Mensch  mehr  Gegenstände 
und  die  einzelnen  genauer  kennen  lernte,  bot  sich  ihm  bei  vielen 
besondere  Verschiedenheit  bei   allgemeiner  Aehnlichkeit   dar   und 


^)  Nach  „übereinkommt"  gestrichen :  „Die  Individualität  des  Lautes  aber  war, 
einzelne  Fälle  späterer  genauerer  Lautunterscheidung  abgerechyiet,  in  älteren 
Epochen  der  Sprache  grösser,  als  in  den  nachfolgenden.  In  den  Sprachen  der 
Südsee-Inseln  soll  oft  die  gleiche  Vocalverbindung,  z.  B.  oe  mehr  als  zehn  ver- 
schiedene Aussprachen,  immer  verbunden  mit  andrer  Bedeutsamkeit  haben  und 
ähnliches  haben  wir  oben  bei  den  Accenten  der  Indo-Chinesischen  Sprache  gesehen. 
Diese  grössere  Lautindividualität  verminderte  natürlich  die  Schrift,  die  in  ihren 
Anfängen  dem  Laut  genau  zu  folgen  entweder  vernachlässigte  oder  die  Mittel 
nicht  besass,  so  dunklen  und  so  vielfachen  zu  bezeichnen.  Die  allgemeinere  Ver- 
breitung der  Schrift  wirkte  aber  auf  die  Aussprache  zurück,  und  indem  diese 
wieder  nach  jener  geregelt  imd  gemodelt  wurde,  büsste  sie  von  ihrem  Reichthum 
an  Tönen  ein." 


Qiß  I,    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

dieser  neue  Eindruck  bewirkte  natürlich  einen  neuen  Laut,  der, 
an  den  vorigen  geknüpft,  zum  mehrsylbigen  Worte  wurde.  Aber 
auch  hier  sind  verbundene  Begriffe  mit  verbundenen  Lauten  als 
Bezeichnungen  eines  und  ebendesselben  Objects.  Aufs  höchste 
könnte  man,  was  die  ursprüngliche  Bezeichnung  anbetrifft,  es  für 
möglich  halten,  dass  die  Stimme  bloss  aus  sinnlichem  Gefallen 
am  Rauschen  der  Töne  ganz  bedeutungslose  hinzugefügt  hätte 
oder  dass  bloss  auslautende  Hauche  bei  mehr  geregelter  Aus- 
sprache zu  wahren  Sylben  geworden  wären.  Dass  Laute  in  der 
That  ohne  alle  Bedeutsamkeit  sich  in  Sprachen  bloss  sinnlich  er- 
halten, möchte  ich  nicht  in  Abrede  stellen;  allein  dies  ist  nur 
darum  der  Fall,  weil  ihre  Bedeutsamkeit  verloren  gegangen  ist. 
Ursprünglich  stösst  die  Brust  keinen  articulirten  Laut  aus,  den 
nicht  eine  Empfindung  geweckt  hat. 

Im  Verlaufe  der  Zeit  verhält  es  sich  überhaupt  auch  anders 
mit  der  Mehrsylbigkeit.  Man  kann  sie,  als  Thatsache  in  den 
ausgebildeten  Sprachen  nicht  ableugnen,  man  bestreitet  sie  nur 
bei  den  Wurzeln  und  ausserhalb  dieses  Kreises  beruht  sie  durch 
ihren,  im  Ganzen  anzunehmenden  und  sehr  häufig  im  Einzelnen 
nachzuweisenden  Ursprung  auf  Zusammensetzung  und  verliert 
dadurch  ihre  eigenthümliche  Natur.  Denn  nicht  bloss  weil  uns 
die  Bedeutung  der  einzelnen  Wortelemente  fehlt,  erscheinen  sie 
uns  als  bedeutungslose,  sondern  es  liegt  der  Erscheinung  auch  oft 
etwas  Positives  zum  Grunde.  Die  Sprache  verbindet  zuerst  ein- 
ander wirklich  modificirende  Begriffe.  Dann  knüpft  sie  an  einen 
Hauptbegriff  einen  andren,  nur  metaphorisch  oder  nur  mit  einem 
Theile  seiner  Bedeutung  geltenden,  wie  wenn  die  Chinesische, 
um  bei  Verwandtschaften  den  Unterschied  des  Aelteren  oder 
Jüngeren  anzudeuten,  das  Wort  Sohn  in  zusammengesetzten 
Verwandtschaftsnamen  da  braucht,  wo  weder  die  directe  Ab- 
stammung noch  das  Geschlecht,  sondern  einzig  das  Nachstehen 
im  Alter  passt.  Waren  nun  einige  solche  Begriffe  wegen  der, 
durch  ihre  grössere  Allgemeinheit  gegebenen  Möglichkeit  dazu 
häufig  Wortelemente  zur  Specificirung  von  Begriffen  geworden, 
so  gewöhnt  sich  die  Sprache  auch  wohl,  sie  da  anzuwenden,  wo 
ihre  Beziehung  nur  eine  ganz  entfernte,  kaum  nachzuspürende 
ist  oder  wo  man  frei  gestehen  muss,  dass  gar  keine  wirkliche 
Beziehung  vorliegt  und  daher  die  Bedeutsamkeit  in  der  That  in 
Nichts  aufgeht.  Diese  Erscheinung,  dass  die  Sprache,  einer  all- 
gemeinen Analogie   folgend,  Laute   von   Fällen,  wo   sie  wahrhaft 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      91-7 

hingehören,  auf  andere,  denen  sie  fremd  sind,  anwendet,  findet  sich 
auch  in  anderen  Theilen  ihres  \^erfahrens.  So  ist  nicht  zu  läugnen, 
dass  in  mehreren  Flexionen  der  Sanskrit-Declination  Pronominal- 
stämme verborgen  sind,  dass  aber  in  einigen  dieser  Fälle  sich  wirklich 
kein  Grund  auffinden  lässt,  warum  gerade  dieser  und  kein  anderer 
Stamm  diesem  oder  jenem  Casus  beigegeben  ist,  ja  nicht  einmal 
sagen,  wie  überhaupt  ein  Pronominalstamm  den  Ausdruck  dieses 
bestimmten  Casusverhältnisses  ausmachen  kann.  Es  mag  aller- 
dings auch  in  denjenigen  solcher  Fälle,  die  uns  die  schlagendsten 
zu  seyn  scheinen,  noch  ganz  individuelle,  fein  aufgefasste  Ver- 
bindungen zwischen  dem  Begriffe  und  dem  Laute  geben.  Diese 
sind  aber  alsdann  so  von  allgemeiner  Nothwendigkeit  entblösst 
und  so  sehr,  wenn  auch  nicht  zufällig,  doch  nur  historisch  er- 
kennbar, dass  für  uns  selbst  ihr  Daseyn  verloren  geht.  Der 
Einverleibung  fremder  mehrsylbiger  Wörter  aus  einer  Sprache  in 
die  andere  ervv^ähne  ich  hier  mit  Absicht  nicht,  da,  wenn  die  hier 
aufgestellte  Behauptung  ihre  Richtigkeit  hat,  die  Mehrsylbigkeit 
solcher  Wörter  niemals  ursprünglich  ist  und  die  Bedeutungs- 
losigkeit ihrer  einzelnen  Elemente  für  die  Sprache,  welcher  sie 
zuwachsen,  bloss  eine  relative  bleibt. 

Es  giebt  aber  in  den  nicht  einsylbigen  Sprachen,  nur  aller- 
dings in  sehr  verschiedenem  Grade  auch  ein,  aus  zusammen- 
treffenden inneren  und  äusseren  Ursachen  entspringendes  Streben 
nach  reiner  Mehrsylbigkeit  ohne  Rücksicht  auf  den  noch  be- 
kannten oder  in  Dunkel  verschwundenen  Ursprung  derselben  aus 
Zusammensetzung.  Die  Sprache  verlangt  alsdann  Lautumfang  als 
Ausdruck  einfacher  Begriffe  und  lässt  in  diesen  die  in  ihnen  ver- 
bundenen Elementarbegriffe  aufgehen.  Auf  diesem  zwiefachen 
Wege  entsteht  dann  die  Bezeichnung  Eines  Begriffs  durch  mehrere 
Sylben.  Denn  wie  die  Chinesische  Sprache  der  Mehrsylbigkeit 
widerstrebt  und  wie  ihre,  sichtbar  aus  diesem  Widerstreben  her- 
vorgegangene Schrift  sie  in  demselben  bestätigt,  so  haben  andere 
Sprachen  die  entgegengesetzte  Neigung.  Durch  Gefallen  an  Wohl- 
laut und  durch  Streben  nach  rhythmischen  ^^erhältnissen  gehen 
sie  auf  Bildung  grösserer  W^ortganzen  hin  und  unterscheiden 
weiter,  ein  inneres  Gefühl  hinzunehmend,  die  blosse,  lediglich 
durch  die  Rede  entstehende  Zusammensetzung  von  derjenigen, 
die  mit  dem  Ausdruck  eines  einfachen  Begriffs  durch  mehrere 
Sylben,  deren  einzelne  Bedeutung  nicht  mehr  bekannt  ist  oder 
nicht  mehr  beachtet  wird,  verwechselt  werden   kann.     Wie   aber 


^l8  I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Alles  in  der  Sprache  immer  innig  verbünden  ist,  so  ruht  auch 
dies,  zuerst  bloss  sinnlich  scheinende  Streben  auf  einer  breiteren 
und  festeren  Basis.  Denn  die  Richtung  des  Geistes,  den  Be- 
griff und  seine  Beziehungen  in  die  Einheit  desselben  Wortes 
zu  verknüpfen,  wirkt  offenbar  dazu  mit,  die  Sprache  mag  nun, 
als  wahrhaft  flectirende  dies  Ziel  wirklich  erreichen  oder,  als 
agglutinirende  auf  halbem  Wege  stehen  bleiben.  Die  schöpferische 
Kraft,  mit  welcher  die  Sprache  selbst,  um  mich  eines  figürlichen 
Ausdrucks  zu  bedienen,  aus  der  Wurzel  alles  das  hervortreibt, 
was  zur  inneren  und  äusseren  Bildung  der  Wortform  gehört,  ist 
hier  das  ursprünglich  Wirkende.  Je  weiter  sich  diese  Schöpfung 
erstreckt,  desto  grösser,  je  früher  sie  ermattet,  desto  geringer  ist 
der  Grad  jenes  Strebens.  In  dem  aus  demselben  entspringenden 
Lautumfang  des  W^ortes  bestimmt  aber  die  vollendete  Abrundung 
dieses  Strebens  nach  Wohllautsgesetzen  die  nothwendige  Gränze. 
Gerade  die  in  der  Verschmelzung  der  Sylben  zur  Einheit  minder 
glücklichen  Sprachen  reihen  eine  grössere  Anzahl  derselben  un- 
rhythmisch an  einander,  da  das  vollendete  Einheitsstreben  wenigere 
harmonisch  zusammenschliesst.  So  eng  und  genau  mit  einander 
übereinstimmend  ist  auch  hier  das  innere  und  äussere  Gelingen. 
Durch  die  Begriffe  selbst  aber  wird  in  vielen  Fällen  ein  Bemühen 
veranlasst,  einige  bloss  in  der  Absicht  zu  verknüpfen,  einem  ein- 
fachen ein  angemessenes  Zeichen  zu  geben,  und  ohne  gerade  die 
Erinnerung  an  die  einzelnen  verknüpften  erhalten  zu  wollen. 
Hieraus  entsteht  alsdann  natürlich  um  so  mehr  wahre  Mehrsylbig- 
keit,  als  der  so  zusammengesetzte  Begriff  bloss  seine  Einfachheit 
geltend  macht. 

Unter  den  Fällen,  von  welchen  wir  hier  reden,  zeichnen  sich 
hauptsächlich  zwei  verschiedene  Classen  aus.  Bei  der  einen  soll 
der  durch  einen  Laut  schon  gegebne  Begriff  durch  Anknüpfung 
eines  zweiten  nur  bestimmter  festgestellt  oder  mehr  erläutert, 
also  im  Ganzen  Ungewissheit  und  Undeutlichkeit  vermieden 
werden.  Auf  diese  Weise  verbinden  Sprachen  oft  ganz  gleich- 
bedeutende oder  doch  durch  sehr  kleine  Nuancen  verschiedene 
Begrifle  mit  einander,  auch  allgemeine,  speciellen  angefügt  und 
zu  solchen  allgemeinen  oft  erst  aus  speciellen  durch  diesen  Ge- 
brauch gestempelt,  wie  im  Chinesischen  der  Begriff  des  Schiagens 
fast  in  den  des  Machens  überhaupt  in  diesen  Zusammensetzungen 
übergeht.  In  die  andere  Classe  gehören  die  Fälle,  wo  wirklich 
aus  zwei  verschiedenen  Begriffen   ein   dritter  gebildet   wird,  wie 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      oig 

2.  B.  die  Sonne  das  Auge  des  Tages,  die  Milch  das  Wasser  der 
Brust  u.  s.  f.  heisst.  Der  ersten  Classe  von  Verbindungen  liegt 
ein  Mistrauen  in  die  Deutlichkeit  des  gebrauchten  Ausdrucks  oder 
eine  lebhafte  Hast  nach  Vermehrung  derselben  zum  Grunde.  Sie 
dürfte  in  sehr  ausgebildeten  Sprachen  selten  gefunden  werden, 
ist  aber  in  einigen,  die  sich  ihrem  Baue  nach  einer  gewissen 
Unbestimmtheit  bewusst  sind,  sehr  häufig.  In  den  Fällen  der 
zweiten  Classe  sind  die  beiden  zu  verbindenden  Begriffe  die  un- 
mittelbare Schilderung  des  empfangenen  Eindrucks,  also  in  ihrer 
speciellen  Bedeutung  das  eigentliche  Wort.  An  und  für  sich 
würden  sie  zwei  bilden.  Da  sie  aber  doch  nur  Eine  Sache  be- 
zeichnen, so  dringt  der  Verstand  auf  ihre  engste  Verbindung  in 
der  Sprachform,  und  wie  seine  Macht  über  die  Sprache  wächst 
und  die  ursprüngliche  Auffassung  in  dieser  untergeht,  so  verlieren 
die  sinnreichsten  und  lieblichsten  Metaphern  dieser  Art  ihren 
rückwirkenden  Einfluss  und  entschwinden,  wie  deutlich  sie  auch 
noch  nachzuweisen  seyn  mögen,  der  Beachtung  der  Redenden. 
Beide  Classen  finden  sich  auch  in  den  einsylbigen  Sprachen,  nur 
dass  in  ihnen  das  innere  Bedürfniss  nach  der  Verbindung  der 
Begriffe  nicht  das  Hangen  an  der  Trennung  der  Sylben  zu  über- 
winden vermag. 

Auf  diese  Weise,  glaube  ich,  muss  in  den  Sprachen  die  Er- 
scheinung der  Ein-  und  Mehrsylbigkeit  aufgefasst  und  beurtheilt 
werden.  Ich  will  jetzt  versuchen,  dies  allgemeine  Raisonnement, 
das  ich  nicht  habe  durch  Aufzählung  von  Thatsachen  unterbrechen 
mögen,  mit  einigen  Beispielen  zu  belegen. 

Schon  der  neuere  Styl  des  Chinesischen  besitzt  eine  nicht 
unbedeutende  Anzahl  von  Wörtern,  die  dergestalt  aus  zwei 
Elementen  zusammengesetzt  sind,  dass  ihre  Zusammensetzung  nur 
die  Bildung  eines  dritten,  einfachen  Begriffes  zum  Zweck  hat. 
Bei  einigen  derselben  ist  es  sogar  offenbar,  dass  die  Hinzufügung 
des  einen  Elements,  ohne  dem  Sinne  etwas  beizugeben,  nur  von 
wirklich  bedeutsamen  Fällen  aus  zur  Gewohnheit  geworden  ist. 
Die  Erweiterung  der  Begriffe  und  der  Sprachen  muss  darauf 
leiten,  neue  Gegenstände  durch  Vergleichung  mit  andren,  schon 
bekannten  zu  bezeichnen  und  das  Verfahren  des  Geistes  bei  der 
Bildung  ihrer  Begriffe  in  die  Sprachen  überzuführen.  Diese 
Methode  muss  allmählich  an  die  Stelle  der  früheren  treten,  den 
Eindruck  durch  die  in  den  articulirten  Tönen  liegende  Analogie 
symbolisirend   wiederzugeben.     Aber   auch    die   spätere   Methode 


320 


I.    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 


tritt  bei  Völkern  von  grosser  Lebendiglceit  der  Einbildungskraft 
und  Schärfe  der  sinnlichen  Auffassung  in  ein  sehr  hohes  Alter 
zurück  und  daher  besitzen  vorzugsweise  die  am  meisten  noch 
vom  Jugendalter  ihrer  Bildung  zeugenden  Sprachen  eine  grosse 
Anzahl  solcher  malerisch  die  Natur  der  Gegenstände  darlegenden 
Wörter.  Im  Neu-Chinesischen  zeigt  sich  aber  hierin  sogar  eine, 
erst  späterer  Cultur  angehörende  Verbildung.  Mehr  spielend 
witzige,  als  wahrhaft  dichterische  Umschreibungen  der  Gegen- 
stände, in  welchen  diese  oft  gleich  Räthseln  verhüllt  liegen,  bilden 
häufig  solche  aus  zwei  Elementen  bestehende  Wörter.*)  Eine 
andere  Classe  dieser  letzteren  erscheint  auf  den  ersten  Anblick 
sehr  wunderbar,  nemlich  die,  wo  zwei  einander  entgegengesetzte 
Begriffe  durch  ihre  Vereinigung, den  allgemeinen,  beide  unter  sich 
befassenden  Begriff  ausdrücken,  wie  wenn  die  jüngeren  und 
älteren  Brüder,  die  hohen  und  niedrigen  Berge  für  die  Brüder 
und  die  Berge  überhaupt  gesagt  wird.  Die  in  solchen  Fällen 
in  dem  bestimmten  Artikel  liegende  Universalität  wird  hier  an- 
schaulicher durch  die  entgegengesetzten  Extreme  auf  eine  keine 
Ausnahme  erlaubende  Weise  angedeutet.  EigentHch  ist  auch  diese 
Wortgattung  mehr  eine  rednerische  Figur,  als  eine  Bildungs- 
methode der  Sprachen.  In  einer  Sprache  aber,  wo  der,  sonst 
bloss  grammatische  Ausdruck  so  häufig  materiell  in  den  Inhalt 
der  Rede  gelegt  werden  muss,  wird  sie  nicht  mit  Unrecht  den 
letzteren  beigezählt.  Einzeln  finden  sich  übrigens  solche  Zu- 
sammensetzungen in  allen  Sprachen;  im  Sanskrit  erinnern  sie  an 
das  in  philosophischen  Gedichten  häufig  vorkommende  sthäwara- 
jangamam.  Im  Chinesischen  aber  kommt  noch  der  Urnstand  hinzu, 
dass  die  Sprache  in  einigen  dieser  Fälle  für  den  einfach  all- 
gemeinen Begriff  gar  kein  Wort  besitzt  und  sich  also  nothwendig 
dieser  Umschreibungen  bedienen  muss.  Die  Bedingung  des 
Alters  z.  B.  lässt  sich  von  dem  Worte  Bruder  nicht  abtrennen, 
und  man  kann  nur  ältere  und  jüngere  Brüder,  nicht  Brüder 
allgemein  sagen.  Dies  mag  noch  aus  dem  Zustande  früher 
Uncultur  herstammen.  Die  Begierde,  den  Gegenstand  anschau- 
lich mit  seinen  Eigenschaften  im  Worte  darzustellen,  und  der 
Mangel    an   Abstraction   lassen    den    allgemeinen,    mehrere    Ver- 


*)  St.  Julien  zu  Paris  hat  zuerst  auf  diese  Terminologie  des  poetischen  Styls,  wie 
man  sie  nennen  könnte,  die  ein  eignes,  weitläuftiges  Studium  erfordert  und  ohne  ein 
solches  zu  den  grössten  Misverständnissen  führt,  aufmerksam  gemacht. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      92 1 

schiedenheiten  unter  sich  befassenden  Ausdruck  vernachlässigen; 
die  individuelle  sinnliche  Auffassung  greift  der  allgemeinen  des 
Verstandes  vor.  Auch  in  den  Amerikanischen  Sprachen  ist  diese 
Erscheinung  häufig.  Von  einer  ganz  entgegengesetzten  Seite  aus 
und  gerade  durch  ein  künstlich  gesuchtes  Verstandesverfahren 
hebt  sich  diese  Art  der  Wortzusammenfügung  im  Chinesischen 
auch  dadurch  mehr  hervor,  dass  die  symmetrische  Anordnung 
der  in  bestimmten  Verhältnissen  gegen  einander  stehenden  Be- 
griffe als  ein  Vorzug  und  eine  Zierlichkeit  des  St}4s  betrachtet 
wird,  worauf  auch  die  Natur  der,  jeden  Begriff  in  Ein  Zeichen 
einschliessenden  Schrift  Einfluss  hat.  Man  sucht  also  solche  Be- 
griffe absichtlich  in  die  Rede  zu  verflechten  und  die  Chinesische 
Rhetorik  hat  sich  ein  eignes  Geschäft  daraus  gemacht,  da  kein 
Verhältniss  so  bestimmt,  als  das  des  reinen  Gegensatzes  ist,  die 
contrastirenden  Begriffe  in  der  Sprache  aufzuzählen.')  Der  ältere 
Chinesische  St}4  macht  keinen  Gebrauch  von  zusammengesetzten 
Wörtern,  es  sey  nun,  dass  man  in  früheren  Zeiten,  wie  bei  einigen 
Classen  derselben  sehr  begreiflich  ist,  noch  nicht  auf  dies  Ver- 
fahren gekommen  war  oder  dass  dieser  strengere  Styl,  welcher 
überhaupt  der  Anstrengung  des  Verstandes  durch  die  Sprache  zu 
Hülfe  zu  kommen  gewissermassen  verschmähte,  dasselbe  aus 
seinem  Ivreise  ausschloss.  ^) 


*)  Ein  solches,  aber  gegen  die  bis  dahin  in  Europa  bekannt  gewesenen  sehr  an- 
sehnlich vermehrtes  Verzeichniss  hat  Klaproth  in  den  Supplementen  zu  Basile's  grossem 
Wörterbuche  gegeben.  Es  zeichnet  sich  auch  vor  dem  in  Premare's  Grammatik  befind- 
lichen durch  höchst  schätzbare,  über  die  Chinesischen  philosophischen  Systeme  Licht 
verbreitende  Bemerkungen  aus. 

V  Nach  „ausschloss"  gestrichen:  „Unläugbar  liegt  dennoch  aber,  so  weit  es 
die  geistige  Verknüpfimg  betrifft,  dasselbe  Verfahren  einer  sich  schon  im  alten 
Style  findenden  Eigenthümlichkeit  zum  Grunde.  Ich  meine  hier  die  Sitte,  bei  der 
Verbindung  von  Zahlen  mit  Dingen  allemal  den  Gattungsbegriff,  zu  welchem 
diese  gehören,  hinzuzufügen,  von  der  ich  gleich  weiter  unten  ausführlicher  reden 
werde.  Auch  hier  wird  der  concrete  Begriff  durch  einen  zu  ihm  hinzugefügten 
allgemeineren  specißcirt  und  gleichsam  erläutert.  Diese  hinzugefügten  Begriffe, 
die  ich  Numeralzeichen  nennen  will,  sind  oft  wunderbar  vertheilt,  erlauben  doch 
aber  meistentheils ,  sie  auf  die  einfache  sinnliche  Erscheinung  zurückzuführen, 
und  können  daher  ein  sehr  hohes  Alter  besitzen.  Theou,  Haupt,  gehört  zu  den 
schon  im  alten  Styl  gebräuchlichen  Numeralzeichen.  Im  neueren  Styl  wird  es 
auch  ohne  Zahlen  Wörtern  von  runder  Gestalt  nachgesetzt  und  bildet  mit  ihnen, 
indem  sein  eigenthümlicher  Sinn  gänzlich  verschwindet,  zweisylbige  Composita, 
wie  z.  B.  Sonne,  gleichsam  Form  gerundet.  Es  wäre  interessant  zu  wissen, 
ob  auch  im  alten  Style  Fälle  des  Gebrauchs  von  Numeralzeichen  ohne  Zahl  vor- 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     VII.  21 


022  !•    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Die  Barmanische  Sprache  kann  ich  hier  übergehen,  da  icli 
schon  oben  bei  der  allgemeinen  Schilderung  ihres  Baues  gezeigt 
habe,  wie  sie  durch  Aneinanderheftung  gleichbedeutender  oder 
modificirender  Stämme  aus  einsylbigen  mehrs3dbige  bildet,  ^) 

In  den  Malayischen  Sprachen  bleibt  nach  Ablösung  der  Afiixa 
sehr  häufig,  ja  man  kann  wohl  sagen  meistentheils  ein  zwei- 
sylbiger,  in  grammatischer  Beziehung  auf  die  Redefügung  nicht 
weiter  theilbarer  Stamm  übrig.  Auch  da,  wo  derselbe  einsylbig 
ist,  wird  er  häufig,  im  Tagalischen  sogar  gewöhnlich  verdoppelt. 
Man  findet  daher  öfter  des  zweisylbigen  Baues  dieser  Sprachen 
erwähnt.  Eine  Zerghederung  dieser  Wortstämme  ist  indess  bis 
jetzt,  soviel  ich  weiss,  nirgends  vorgenommen  worden.  Ich  habe 
sie  versucht,  und  wenn  ich  auch  noch  nicht  dahin  gelangt  bin, 
vollkommene  Rechenschaft  über  die  Natur  der  Elemente  aller 
dieser  Wörter  zu  geben,  so  habe  ich  mich  dennoch  überzeugt, 
dass  in  sehr  vielen  Fällen  jede  der  beiden  vereinigten  Sylben  als 
ein  einsylbiger  Stamm  in  der  Sprache  nachgewiesen  werden  kann 
und  dass  die  Ursache  der  Verbindung  begreiflich  wird.  W^enn 
dies  nun  bei  unsren  unvollständigen  Hülfsmitteln  und  unsrer 
mangelhaften  Kenntniss  der  Fall  ist,  so  lässt  sich  wohl  auf  eine 
grössere  Ausdehnung  dieses  Princips  und  auf  die  ursprüngliche 
Einsylbigkeit  auch  dieser  Sprachen  schliessen.  Mehr  Schwierigkeit 
erregen  zwar  die  Wörter,  welche,  wie  z.  B.  die  Tagalischen  lisa 
und  lisay  von  der  W^urzel  lis  (s.  unten),  in  blosse  Vocallaute  aus- 
gehen; doch  auch  diese  werden  vermuthlich  bei  künftiger  Unter- 
suchung erklärlich  werden.  So  viel  ist  schon  jetzt  offenbar,  dass 
man  der  Mehrzahl  der  Fälle  nach  die  letzten  Sylben  der  Malay- 
ischen zweisylbigen  Stämme  nicht  als  an  bedeutsame  Wörter  ge- 
fügte Suffixa  betrachten  darf,  sondern  dass  sich  in  ihnen  wirkliche 
Wurzeln,  ganz  den  die  erste  Sylbe  bildenden  gleich,  erkennen 
lassen.     Denn  sie   finden   sich   auch   theils   als   erste  Sylben   jener 


kommen  ?  Der  allgemeinen  Analogie  nach  zu  schliessen  tnuss  man  die  Frage  ver- 
neinen. Eine  materielle  Wortverbindung,  auch  nur  eine  solche,  als  das  Chinesische 
überhaupt  erlaubt,  tritt  übrigens  bei  den  Numeralzeichen,  da  sie  vom  concreten 
Worte  durch  die  Zahl  getrennt  seyn  könnte,  nicht  ein."  Zu  „gerundet"'  gehört 
die  Anmerkung:  „Dass  das  Numeralzeichen  theoü  eigentlich  vom  Rindvieh  ge- 
braucht wird,  kann  die  Identität  des  Lautes  und  Schriftzeichens  in  beiden  Stylen 
nicht  zweifelhaft  machen." 

V  Nach   „bildet"  gestrichen:  „In  Absicht   der  Numeralzeichen   werde  ich 
jedoch  noch  einmal  auf  sie  zurückkommen  müssen." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      90 "2 

Composita,  theils  ganz  abgesondert  in  der  Sprache.  Die  ein- 
sylbigen  Stämme  muss  man  aber  meistentheils  in  ihren  Verdopp- 
lungen aufsuchen. 

Aus  dieser  Beschaffenheit  der,  auf  den  ersten  Anblick  einfach 
scheinenden  und  doch  auf  Einsylbigkeit  zurückführenden  zwei- 
sylbigen  Wörter  geht  eine  Richtung  der  Sprache  auf  Mehrsylbig- 
keit  herv'or,  die,  wie  man  aus  der  Häufigkeit  der  Verdopplung  sieht, 
zum  Theil  auch  phonetisch,  nicht  bloss  intellectuell  ist.  Die  zu- 
sammentretenden S3dben  werden  aber  auch  mehr,  als  im  Barma- 
nischen wirklich  zu  Einem  Worte,  indem  sie  der  Accent  mit  ein- 
ander verbindet.  Im  Barmanischen  trägt  jedes  einsylbige  Wort 
den  seinigen  an  sich  und  bringt  ihn  in  das  Compositum.  Dass 
das  ganze,  nun  entstehende  Wort  einen,  seine  S34ben  zusammen- 
haltenden besässe,  wird  nicht  nur  nicht  gesagt,  sondern  ist  bei 
der  Aussprache  mit  hörbarer  Sylbentrennung  unmöglich.  Im 
Tagalischen  hat  das  mehrsylbige  Wort  allemal  einen,  die  vorletzte 
Svlbe  heraushebenden  oder  fallen  lassenden  Accent.  Buchstaben- 
veränderung ist  jedoch  mit  der  Zusammensetzung  nicht  verbunden. 

Ich  habe  meine  hierher  gehörenden  Forschungen  vorzüglich 
bei  der  Tagalischen  und  Xeu-Seeländischen  Sprache  angestellt. 
Die  erstere  zeigt  meinem  Urtheile  nach  den  Malavischen  Sprach- 
bau in  seinem  grössten  Umfange  und  seiner  reinen  Consequenz. 
Die  Südsee-Sprachen  war  es  wichtig  in  die  Untersuchung  einzu- 
schliessen,  weil  ihr  Bau  noch  uranfänglicher  zu  seyn  oder  wenig- 
stens noch  mehr  solche  Elemente  zu  enthalten  scheint.  Ich  habe 
mich  bei  den  hier  folgenden,  aus  dem  Tagalischen  entlehnten 
Beispielen  fast  ausschliesslich  an  diejenigen  Fälle  gehalten,  wo  der 
einsylbige  Stamm,  wenigstens  noch  in  der  Verdopplung,  auch  als 
solcher  der  Sprache  angehört.  Weit  grösser  ist  natürlich  die  Zahl 
solcher  zweisylbigen  Wörter,  deren  einsylbige  Stämme  bloss  in 
Zusammensetzungen  erscheinen,  aber  in  diesen  an  ihrer  immer 
gleichen  Bedeutung  kennbar  sind.  Diese  Fälle  sind  aber  nicht  so 
beweisend,  indem  gewöhnlich  alsdann  auch  Wörter  vorkommen, 
in  welchen  diese  Gleichheit  weniger  oder  gar  nicht  vorhanden  zu 
seyn  scheint,  obgleich  solche  scheinbare  Ausnahmen  sehr  leicht 
nur  daher  entstehen  können,  dass  man  eine  entfernter  liegende 
Ideenverknüpfung  nicht  erräth.  Dass  ich  immer  auf  die  Nach- 
weisung beider  Sylben  gegangen  bin,  versteht  sich  von  selbst,  da 
das  entgegengesetzte  Verfahren  die  Natur  dieser  Wortbildungen 
nur  zweifelhaft  andeuten  könnte.    Auch  auf  Wörter,  welche  ihren 


22^  I-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

ursprünglichen  Stamm  nicht  in  der  nemlichen,  sondern  in  einer 
andren  Sprache  haben,  wie  es  im  Tagalischen  mit  einigen  aus 
dem  Sanskrit  oder  auch  mit  aus  den  Südsee-Sprachen  über- 
gegangenen Wörtern  der  Fall  ist,  muss  natürlich  Bedacht  ge- 
nommen werden. 

Beispiele  aus  der  Tagalischen  Sprache: 

bag-sac,  etwas  mit  Gewalt  auf  die  Erde  werfen  oder 
gegen  etwas  andrängen;  bag-bag ,  auf  den  Strand  ge- 
rathen,  ein  Saatfeld  aufbrechen  (also  von  gewaltsamem 
Stossen  oder  Werfen  gebraucht);  sac-sac,  etwas  fest  einlegen, 
eindrängen,  hineinstopfen,  in  etwas  werfen  {apretar 
emhutiendo  algo,  atestar,  hincar).  lab-sac,  etwas  in  den  Koth, 
Abtritt  werfen,  vom  eben  angeführten  Wort  und  lab-lab, 
Sumpf,  Kothhaufen,  Abtritt.  Von  diesem  W^ort  und  dem 
gleich  weiter  unten  vorkommenden  as-as  ist  zusammengesetzt 
lab-as ,  semen  suis  ipsius  manibus  elicere.  Wahrscheinlich  gehört 
auch  hierher  sac-al,  jemandem  den  Nacken,  die  Hand  oder 
den  Fuss  drücken,  obgleich  die  Bedeutung  des  zweiten  Ele- 
ments al-al,  die  Zähne  mit  einem  Steinchen  abfeilen, 
wenig  hierher  passt,  und  ebenso  sac-ybr,  Heuschrecken  fangen, 
wo  ich  aber  das  zweite  Element  nicht  zu  erklären  weiss.  Dagegen 
kann  man  sacst,  Zeuge,  bezeugen,  nicht  hierher  rechnen,  da 
das  Wort  wohl  unbezweifelt  das  Sanskritische  säkshin  ist  und,  als 
ein  gerichtliches  mit  Indischer  Cultur  in  die  Sprache  gekommen 
seyn  kann.  Dasselbe  Wort  findet  sich  auch  in  der  gleichen  Be- 
deutung in  der  eigentlich  Malayischen  Sprache. 

bac-as,  Fussstapfen,  Spur  von  Menschen  und  Thieren, 
übrig  bleibendes  Zeichen  eines  körperlichen  Ein- 
drucks von  Thränen,  Schlägen  u.  s.  w. ;  bac-bac,  die 
Rinde  abnehmen  oder  verlieren;  äs-as,  sich  abreiben, 
von  Kleidern  und  andren  Dingen  gebraucht. 

bac-las,  Wunde,  und  zwar  solche,  die  vom  Kratzen  her- 
kommt; das  eben  angeführte  bac-bac  und  las-las,  Blätter  oder 
Dachziegel  abnehmen,  auch  vom  Zerstören  der  Zweige  und 
Dächer  durch  den  Wind  gebraucht.  Das  Wort  heisst  auch  bac-lis 
von  Its-lis,  jäten.  Gras  ausreissen  (s.  unten). 

dsr<il,  eingeführter  Gebrauch,  angenommene  Ge- 
wohnheit, von  dem  oben  angeführten  ds-as  und  al-al,  also  von 
der  Verbindung  der  Begriffe  des  Abnutzens  und  des  Abfeilens. 

it-U,  einsaugen,  und  im-tm,  versch Hessen,  vom  Munde 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      02c 

gebraucht.  Aus  diesen  beiden  ist  vermuthlich  it-\m,  schwarz 
(Malayisch  etam)^  entstanden,  da  diese  Farbe  sehr  gut  mit  etwas 
Eingesogenem  und  Verschlossnem  zu  vergleichen  ist. 

tac-lis,  wetzen,  schärfen,  und  zwar  ein  Messer  mit  dem 
andren;  tac  bedeutet  die  Entleerung  des  Leibes,  die  Ver- 
richtung der  Nothdurft,  das  verdoppelte  tac-tac  einen 
grossen  Spaten,  eine  Haue  {azadon)^  und  zum  Verbum  ge- 
macht, mit  diesem  Werkzeuge  arbeiten,  aushöhlen.  Hieraus 
wird  klar,  dass  dieser  letzte  Begriff  eigentlich  die  Grundbedeutung 
auch  der  einfachen  Wurzel  ist.  Us-lis  wird  noch  weiter  unten 
vorkommen,  vereinigt  aber  die  Begriffe  des  Zerstörens  und  des 
Kleinen,  Kleinmachens  in  sich.  Beides  passt  sehr  gut  auf  das 
abreibende  Wetzen. 

lis-fis  mit  dem  Praefix /«;,  das  Korn  zur  Saat  reinigen, 
stammt  vom  oft  erwähnten  lis-lis  und  von  pis-pis,  abkehren, 
abfegen,  besonders  von  den  Brotkrumen  mit  einer  Bürste  ge- 
braucht. 

Id-bay,  ein  Bündel  Seide,  Zwirn  oder  Baumwolle 
{madeja\  und  davon,  als  Verbum,  haspeln;  Id-la,  Teppiche 
weben;  hay-hay,  gehen,  und  zwar  an  der  Küste  des  Meeres 
hin,  also  in  einer  bestimmten  Richtung,  was  zu  der  Bewegung 
des  Haspeins  gut  passt. 

tü-lis,  Spitze,  zuspitzen,  namentlich  von  grossen  hölzernen 
Nägeln  {estacas)  gebraucht  und  im  Javanischen  und  Malayischen 
auf  den  Begriff  des  Schreibens  angewandt.*)  lis-lis,  schlechte, 
unnütze  Gewächse  zerstören,  ausreissen,ist  schon  oben 
da  gewesen.  Der  Begriff  ist  eigentlich  kleinmachen  und  daher 
passend  auf  das  Abschaben,  um  eine  Spitze  hervorzubringen; 
lisa  sind  die  kleinen  Nisse  der  Läuse  und  aus  dem  Be- 
griff des  Kleinen,  des  Staubes   kommt  auch   die  Anwendung   des 


*)  Siehe  meinen  Brief  an  Herrn  Jacquet.  Nouv.  Journ.  Asiat.  IX.  496.^)  Das 
Tahitische  Wort  für  schreiben  ist  papat  (Apostelgeschichte.  15,  20.)  und  auf  den  Sand- 
wich-Inseln ^a/op^/fl.  (Marcus.  10,4.)  Im  Neu-Seeländischen  heisst  tui:  schreiben, 
nähen,  bezeichnen.  Jacquet  hat,  wie  ich  aus  brieflichen  Mittheilungen  weiss,  den 
glücklichen  Gedanken  gefasst,  dass  bei  diesen  Völkern  die  Begriffe  des  Schreibens  und 
Tattuirens  in  enger  Verbindung  stehen.  Dies  bestätigt  die  Neu-Seeländische  Sprache. 
Denn  statt  tuitlga ,  Handlung  des  Schreibens,  sagt  man  auch  tiwinga  und 
tiwana  ist  der  Theil  der  durch  Tattuiren  eingeätzten  Zeichen,  welcher  sich  vom  Auge 
nach  der  Seite  des  Kopfes  hin  erstreckt. 

V  Vgl.  Band  6,  566. 


Q26  '•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Wortes  auf  das  Ausfegen,  Auskehren,  wie  in  ua-lis,  dem  allge- 
meinen Worte  für  diese  Arbeit.  Das  erste  Element  von  tü4is 
finde  ich  weder  einfach  noch  verdoppelt  im  Tagalischen,  dagegen 
wohl  in  den  Südsee-Sprachen,  in  dem  Tongischen  tu  (bei  Mariner 
too  geschrieben),  schneiden,  sich  erheben,  aufrecht 
stehen;  im  Neu-Seeländischen  hat  es  diese  letztere  Bedeutung 
neben  der  von  schlagen. 

tö-bo,  hervorkommen,  spriessen,  von  Pflanzen  {nacer\ 
bo-bo,  etwas  ausleeren;  tö-to  hat  im  Tagalischen  bloss  meta- 
phorische Bedeutungen:  Freundschaft  knüpfen,  einträch- 
tig seyn,  seine  Absicht  im  Reden  oder  Handeln  er- 
reichen. Aber  im  Neu-Seeländischen  ist  to  Leben,  Belebung 
und  davon  fofo  Flut.  Im  Tongischen  hat  tubu  (Mariner:  tooboo) 
dieselbe  Bedeutung  des  Spriessens,  als  das  Tagalische  töbo,  be- 
deutet aber  auch  aufspringen,  bu  findet  sich  im  Tongischen 
als  bubula,  schwellen;  hc  heisst:  schneiden,  trennen  und 
stehen.  Dem  Tongischen  tubu  entspricht  das  Neu-Seeländische 
tupu,  sowohl  in  der  Bedeutung,  als  der  Ableitung.  Denn  tu  ist 
stehen,  aufstehen  und  in  fu  liegt  der  Begriff  eines  durch 
Schwellen  rund  gewordenen  Körpers,  da  es  eine  schwangere  Frau 
bedeutet.  Die  Bedeutungen:  Cylinder,  Flinte,  Röhre,  welche 
Lee  zuerst  setzt,  sind  nur  abgeleitete.  Dass  in  pu  auch  schon 
der  Begriff  des  Aufbrechens  durch  Anschwellung  Hegt,  beweist 
das  Compositum  pu-ao,  Tagesanbruch. 

Beispiele  aus  der  Neu-Seeländischen  Sprache: 

De  los  Santos  Tagalisches  Wörterbuch  ist,  wie  die  meisten, 
besonders  älteren  Missionarien-Arbeiten  dieser  Art,  bloss  zur  An- 
leitung, in  der  Sprache  zu  schreiben  und  zu  predigen,  bestimmt. 
Es  giebt  daher  von  den  Wörtern  immer  die  concretesten  Bedeu- 
tungen, zu  welchen  sie  durch  den  Sprachgebrauch  gelangt  sind, 
und  geht  selten  auf  die  ursprünglichen,  allgemeinen  zurück.  Auch 
ganz  einfache,  in  der  That  zu  den  Wurzeln  der  Sprache  gehörende 
Laute  tragen  also  sehr  häufig  Bedeutungen  bestimmter  Gegenstände 
an  sich,  so pay-pay  die  von  Schulterblatt,  Fächer,  Sonnen- 
schirm, in  welchen  allen  der  Begriff  des  Ausdehnens  liegt. 
Dies  sieht  man  aus  sam-pay,  Wäsche  oder  Zeug  an  der  Luft 
auf  ein  Seil,  eine  Stange  u.  s.  w.  aufhängen  [tender]^ 
cd-pay ,  mit  den  Armen  in  Ermanglung  der  Ruder 
rudern,  beim  Rufen  mit  den  Händen  winken,  und 
andren  Zusammensetzungen.     In  dem  vom  Professor  Lee  in  Cam- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      021 

bridge  nach  den  schon  an  Ort  und  Stelle  aufgesetzten  Materialien 
Thomas  Kendall's  mit  Zuziehung  zweier  Eingebornen  sehr  ein- 
sichtsvoll zusammengetragenen  Neu -Seeländischen  Wörterbuche 
ist  es  durchaus  anders.  Die  einfachsten  Laute  haben  höchst  all- 
gemeine Bedeutungen  von  Bewegung,  Raum  u.  s.  f.,  Wie.  man 
sich  aus  der  Vergleichung  der  Artikel  der  Vocallaute  überzeugen 
kann.*)  Man  geräth  dadurch  bisweilen  über  die  specielle  An- 
wendung in  Verlegenheit  und  ist  auch  wohl  versucht,  zu  be- 
zweifeln, ob  diese  Begriffsweite  in  der  That  in  der  geredeten 
Sprache  liegt  oder  nicht  vielleicht  erst  hinzugeschlossen  ist. 
Indess  hat  Lee  dieselbe  doch  gewiss  aus  den  Angaben  der  Ein- 
gebornen geschöpft  und  es  ist  nicht  zu  läugnen,  dass  man  in 
der  Herleitung  der  Neu-Seeländischen  Wörter  bedeutend  dadurch 
gefördert  wird. 

ora,  Gesundheit,  Zunahme,  Herstellung  derselben; 
0,  Bewegung  und  auch  ganz  besonders:  Erfrischung;  ra, 
Stärke,  Gesundheit,  dann  auch:  die  Sonne;  ka-ha, 'Stärke ^ 
eine  aufsteigende  Flamme,  brennen,  Belebung  als 
der  Act  derselben  und  als  kräftige  Wirksamkeit;  ha,  das  Aus- 
athmen. 

mara ,  ein  der  Sonnen  wärme  ausgesetzter  Platz, 
dann  eine  dem  Redenden  gegenüberstehende  Person, 
wohl  vom  Leuchten  des  Antlitzes,  daher  als  Anrede  gebraucht; 
via,  klar,  wie  weisse  Farbe;  ra  das  eben  erwähnte  Wort  für 
Sonne;  marama  ist  das  Licht  und  der  ]M  o  n  d. 

pono ,  wahr,  Wahrheit,  po,  Nacht,  die  Region  der 
Finsterniss,  noa,  frei,  ungebunden.  Wenn  diese  Ableitung 
wirklich  richtig  ist,  so  ist  die  Zusammensetzung  der  Begriffe  merk- 
würdig sinnvoll. 

mutu ,  das  Ende,  endigen,  mu ,  als  Partikel  gebraucht, 
das  Letzte,  zuletzt,  hc,  stehen. 

Tongische  Sprache: 

facht,  brechen,  ausrenken;  fa,  fähig,  etwas  zu  seyn 
oder  zu  thun;  cht,  klein,  das  Neu-Seeländische  tfü 

loto  bedeutet  die  Mitte,  den  Mittelpunkt,  das  inner- 
lich Eingeschlossene,  unstreitig  davon  metaphorisch  Gemüth, 


*)  So  beginnt  z.  B.  der  Artikel  über  a  folgendergestalt :  A,  signifies  universal 
existence,  animation,  action,  power,  light,  possession  cet.,  also  the  present  existence, 
animation,  power,  light  cet.  of  a  being  or  thing. 


028  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Gesinnung,  Temperament,  Gedanke,  Meinung.  Das  Wort 
ist  dasselbe  mit  dem  Neu-Seeländischen  roto,  das  jedoch  nur  die 
körperliche,  nicht  die  figürliche  Bedeutung  hat,  also  nur  das 
Innere  und,  als  Praeposition  in  heisst.  Ich  glaube  beide  Wörter 
richtig  aus  beiden  Sprachen  ableiten  zu  können.  Das  erste  Element 
scheint  mir  das  Neu-Seeländische  roro,  Gehirn.  Das  einfache 
ro  wird  in  Lee's  Wörterbuch  bloss  durch  das  vieldeutige  matter, 
Materie,  übersetzt,  das  man  aber  wohl  hier  als  Eiter,  Materie 
eines  Geschwüres  nehmen  muss  und  das  vielleicht  allgemeiner 
jeden  eingeschlossnen  klebrigten  Stoff  bedeutet.  Von  dem  zweiten 
Element,  to ,  ist,  als  Neu-Seeländischem  Worte  schon  bei  föbo 
gesprochen  worden  und  ich  bemerke  nur  noch  hier,  dass  es 
auch  von  Schwangerschaft,  also  von  dem  innerlich,  lebendig  Ein- 
geschlossenen gebraucht  wird.  ^  Im  Tongischen  ist  es  mir  bis 
jetzt  nur  als  Name  eines  Baumes  bekannt,  dessen  Beeren  ein 
klebrigtes  Fleisch  haben,  welches  man  zum  Zusammenkleben  ver- 
schiedener Dinge  braucht.  Es  liegt  also  auch  in  dieser  Bedeutung 
der  Begriff,  sich  an  etwas  anderes  anzuhängen.  Im  Tongischen 
liegt  aber  der  Ausdruck  für  Gehirn  nur  zum  Theil  in  diesem 
Wörterkreis.  Das  Gehirn  heisst  nemlich  uto  (Mariner:  ooto). 
Das  letzte  Glied  des  Wortes  halte  ich  für  das  so  eben  betrachtete 
to,  da  die  Klebrigkeit  sehr  gut  auf  die  Masse  des  Gehirnes  passt. 
Die  erste  Sylbe  ist  nicht  weniger  ausdrucksvoll  zur  Beschreibung 
des  Gehirns,  da  u  ein  Bündel  {a  hmdle)^  Paket  ist.  Dieses 
Wort  glaube  ich  auch  in  dem  Tagalischen  ötac  und  dem  Malay- 
ischen  ütak  wiederzufinden,  deren  Wurzeln  ich  also  nicht  in 
diesen  Sprachen  selbst  suche.  Das  End--^  kann  sehr  leicht,  wie 
in  andren  Malayischen  Wörtern,  nicht  wurzelhaft  seyn.  Beide 
Wörter  bedeuten  zugleich,  offenbar  von  der  Gleichheit  der  Materie, 
Mark  und  Gehirn  und  werden  daher  oft  oder  sogar  gewöhnlich 
durch  Hinzufügung  von  Kopf  oder  Knochen  unterschieden.  Im 
Madecassischen  lautet  dasselbe  Wort  bei  Flacourt  oteche  als  Mark 
und  als  Gehirn  otechendoha,  Mark  des  Kopfes,  indem  er  das 
Wort  loha,  Kopf,  nach  einer  ganz  gewöhnlichen  Buchstaben- 
vertauschung  doha  schreibt  und  dasselbe  durch  einen  Nasenlaut 
mit  dem  andren  Worte  verknüpft.  Ein  anders  lautender  Ausdruck 
für  Gehirn  ist  bei  Challan  tso  ondola  und  auf  ähnliche  Weise 
für  Mark  tsoc,  tsoco.  Ob  ondola  nothwendig  zu  tso  gehören  soll, 
ist  schwer  zu  entscheiden.  Vermuthlich  ist  aber  nur  das  Unter- 
scheidungszeichen weggelassen;   denn  im  Madecassisch - Französi- 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      020 

sehen  Theile  findet  sich  das,  mir  übrigens  bis  jetzt  unerklärliche 
ondola  allein  für  Gehirn.  In  dem  handschriftlichen  von  Jacquet 
herausgegebenen  Wortverzeichniss  heisst  Gehirn  tsokou  loha  und 
Jacquet  bemerkt  dabei,  dass  er  kein  entsprechendes  Wort  in  den 
andren  Dialekten  findet.*)  Ich  halte  aber  tsokou  und  die  Varianten 
bei  Challan  bloss  für  eine  Entstellung  des  Malayischen  ütak  durch 
Wegu^erfung  des  Anfangsvocals  und  zischende  Aussprache  des  t 
und  folglich  gleichbedeutend  mit  Flacourt's  oteche,  das  noch  mehr 
an  das  Tagalische  ötac  erinnert.  Chapelier's  handschriftliches 
Wörterbuch,  welches  ich  der  Güte  des  Herrn  Lesson  verdanke, 
hat  für  Gehirn  tsoiidoa,  worin  wieder  das  endende  doa,  Kopf, 
für  loa  steht.  Sehr  bedaure  ich,  das  Wort  nicht  in  der  Gestalt 
zu  kennen,  wie  es  nach  den  Englischen  Missionaren  heut  zu  Tage 
lautet.  Allein  das  Gehirn  kommt  in  der  Bibel  nur  in  zwei  Stellen 
des  Buchs  der  Richter  in  der  Lateinischen  Vulgata  vor  und  die 
Englische  Bibel,  nach  welcher  die  Missionare  übersetzen,  hat  dafür 
Schädel. 

Die  Zweisylbigkeit  der  Semitischen  Stämme  (um  hier  die  ge- 
ringe Zahl  der  weniger  oder  mehr  Sylben  enthaltenden  zu  über- 
gehen) ist  von  durchaus  anderer  Art,  als  die  bis  hierher  betrach- 
tete, da  sie  untrennbarer  in  den  lexikalischen  und  grammatischen 
Bau  verwachsen  ist.  Sie  bildet  einen  wesentlichen  Theil  des 
Charakters  dieser  Sprachen  und  kann,  so  oft  von  dem  Ursprünge, 
dem  Bildungsgange  und  dem  Einfiuss  derselben  die  Rede  ist,  nicht 
ausser  Betrachtung  gelassen  werden.  Dennoch  kann  man  es  als 
ausgemacht  annehmen,  dass  auch  dieses  mehrsylbige  System  sich 
auf  ein  ursprünglich  einsylbiges,  noch  in  der  jetzigen  Sprache  an 
deutlichen  Spuren  erkennbares  gründet.  Dies  ist  von  mehreren 
Bearbeitern  der  Semitischen  Sprachen,  namentlich  von  Michaelis, 
allein  auch  schon  vor  ihm  anerkannt  und  von  Gesenius  und 
Ewald  näher  entwickelt  und  beschränkt  worden.**)  Es  giebt,  sagt 
Gesenius,  ganze  Reihen  von  Stammverben,  welche  nur  die  zwei 
ersten  Stammconsonanten  gemein,  zum  dritten  aber  ganz  ver- 
schiedene  haben    und    doch   in   der   Bedeutung,  wenigstens    im 


*)  'Nouv.  Journ.  Asiat.  XI.  S.  108.  nr.  13.  und  S.  126.  nr.  13. 
**)  Gesenius    hebräisches    Handwörterbuch.    I.    S.   132.    II.  Vorrede.    S.  XIV.    des- 
selben Geschichte  der  hebräischen  Sprache   und  Schrift.    S.   125.    ganz    vorzüglich    aber 
in  dessen  ausführlichem  Lehrgebäude  der  hebräischen  Sprache.  S.  183.  u.  flgd.     Ewald's 
kritische  Grammatik  der  hebräischen  Sprache.    S.   166.   167. 


q«}o  I-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

Hauptbegriffe  übereinstimmen.  Er  nennt  es  nur  übertrieben, 
wenn  der,  im  Anfange  des  vorigen  Jahrhunderts  in  Breslau  ver- 
storbene Caspar  Neumann  alle  zweisylbigen  Wurzeln  auf  ein- 
sylbige  zurückführen  wollte.  In  den  hier  genannten  Fällen  liegen 
also  den  heutigen  zweisylbigen  Stammwörtern  einsylbige,  aus  zwei, 
einen  Vocal  einschliessenden  Consonanten  bestehende  Wurzeln 
zum  Grunde,  welchen  in  einer  späteren  Niedersetzung  der  Sprache 
durch  einen  zweiten  Vocal  ein  dritter  Consonant  angehängt  worden 
ist.  Klaproth  hat  dies  gleichfalls  erkannt  und  in  einer  eignen  Ab- 
handlung eine  Anzahl  solcher,  von  Gesenius  angedeuteter  Reihen 
aufgestellt.*)  Er  zeigt  darin  zugleich  auf  merkwürdige  und  scharf- 
sinnige Weise,  wie  die,  von  ihrem  dritten  Consonanten  befreiten, 
einsylbigen  Wurzeln  sehr  häufig  in  Laut  und  Bedeutung  ganz 
oder  grösstentheils  mit  Sanskritischen  übereinkommen.  Ewald  be- 
merkt, dass  eine  solche,  mit  Vorsicht  angestellte  Vergleichung  der 
Stämme  zu  manchen  neuen  Resultaten  führen  würde,  setzt  aber 
hinzu,  dass  man  sich  durch  solche  Et3^mologie  über  das  Zeitalter 
der  eigentlich  Semitischen  Sprache  und  Form  erhebt.  In  dem 
Letzteren  stimme  ich  ihm  durchaus  bei,  da  gerade  meiner  Ueber- 
zeugung  nach  mit  jeder  wesentlich  neuen  Form,  welche  die  Mund- 
art auch  des  nemlichen  Volksstammes  im  Laufe  der  Zeit  gewinnt, 
in  der  That  eine  neue  Sprache  angeht. 

Bei  der  Frage  über  den  Umfang  dieses  Ursprungs  zweisylbiger 
Wurzeln  aus  einsylbigen  müsste  zuerst  factisch  genau  festgestellt 
werden,  wie  weit  wirklich  hierin  die  etymologische  Zergliederung 
zu  gehen  vermag.  Blieben  nun,  wie  wohl  kaum  zu  bezweifeln 
ist,  nicht  zurückzuführende  Fälle  übrig,  so  könnte  allerdings  die 
Schuld  hiervon  doch  am  Mangel  der  Glieder  liegen,  welche  die 
Reihen  vollständig  zeigen  würden.  Allein  auch  aus  allgemeinen 
Gründen  scheint  es  mir  sogar  nothwendig,  anzunehmen,  dass  dem 
Systeme  der  Ausdehnung  aller  Wurzeln  zu  zwei  Sylben  nicht  ein 
durchaus  einsylbiges,  sondern  eine  Mischung  ein-  und  zweisylbiger 
Wortstämme  unmittelbar  vorausgegangen  sey.  Man  darf  sich  die 
Veränderungen  in  den  Sprachen  nie  so  gewaltsam  und  am  wenig- 


*)  Observations  sur  les  racines  des  langues  Semitiques.  Diese  Abhandlung 
macht  eine  Zugabe  zu  Merian's  unmittelbar  nach  seinem  Tode  (er  starb  am  25.  April 
1828.)  erschienenen  Principes  de  l'etude  comparative  des  langues  aus.  Durch  einen 
unglücklichen  Zufall  ist  die  Meriansche  Schrift  bald  nach  ihrem  Erscheinen  aus  dem 
Buchhandel  verschwunden.  Daher  ist  auch  die  Klaprothsche  Abhandlung  in  weniger 
Leser  Hände  gekommen  und  erforderte  einen  neuen  Abdruck. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      00  y 

sten  so  theoretisch  denken,  dass  ein  neuer  Bildungsgrundsatz,  für 
■den  es  bisher  an  Beispielen  fehlte,  dem  Volke  (denn  das  heisst 
doch  der  Sprache)  aufgedrängt  werden  könnte.  Es  müssen  schon 
Fälle  und  in  ziemlicher  Anzahl  vorhanden  seyn,  wenn  gewisse 
Lautbeschaffenheiten  durch  grammatische  Gesetzgebung,  die  über- 
haupt gewiss  im  Ausmerzen  vorhandener  Formen  mächtiger,  als 
in  der  Einführung  neuer  ist,  allgemein  gemacht  werden  sollen. 
Bloss  des  allgemeinen  Satzes  wegen,  dass  eine  Wurzel  immer  ein- 
sylbig  seyn  muss,  möchte  ich  auf  keine  Weise  auch  ursprünglich 
zweisvlbige  läugnen.  Ich  habe  mich  hierüber  im  Vorigen  deutlich 
erklärt.  Wenn  ich  hiernach  aber  selbst  die  Zweisylbigkeit  auf 
Zusammensetzung  zurückführe,  so  dass  zwei  Sylben  auch  die 
vereinte  Darstellung  zweier  Eindrücke  sind,  so  kann  die  Zusammen- 
setzung schon  im  Geiste  desjenigen  liegen,  der  das  Wort  zum 
erstenmal  ausspricht.  Dies  ist  hier  um  so  mehr  möghch,  als  von 
einem  mit  Flexionssinn  begabten  Volksstamme  die  Rede  ist.  Ja 
es  kommt  bei  den  Semitischen  Sprachen  noch  ein  zweiter  wich- 
tiger Umstand  hinzu.  Versetzt  uns  auch  die  Vernichtung  des 
Gesetzes  der  Zweis5dbigkeit  in  eine  über  den  jetzigen  Sprachbau 
hinausgehende  Zeit,  so  bleiben  in  dieser  doch  zwei  andere  charak- 
teristische Kennzeichen  übrig,  dass  nemlich  die  Wurzelsylbe,  auf 
welche  die  Zergliederung  der  heutigen  Stämme  führt,  immer  eine 
durch  einen  Gonsonanten  geschlossene  war  und  dass  man  den 
Yocal  als  gleichgültig  für  die  Begrilfsbedeutsamkeit  ansah.  Denn 
hätten  die  Mittelvocale  wirklich  Begriffsbedeutsamkeit  besessen,  so 
wäre  es  unmöglich  gewesen,  ihnen  diese  wiederum  zu  entreissen. 
Ueber  das  Verhältniss  der  Vocale  zu  den  Gonsonanten  in  jenen 
einsylbigen  Wurzeln  habe  ich  mich  schon  oben*)  geäussert.^) 
Auf  der  andren  Seite  könnte  aber  auch  schon  die  frühere  Sprach- 
bildung auf  den  Ausdruck  einer  doppelten  Empfindung  in  zwei 
verknüpften  Sylben  geleitet  worden  se3^n.  Der  Flexionssinn  lässt 
das  Wort  als  ein  Ganzes  ansehen,  das  Verschiedenes  in  sich  be- 
greift, und  der  Hang,  die  grammatische  Andeutung  in  den  Schooss 
des  Wortes  selbst  zu  legen,  musste  dahin  bringen,  ihm  mehr  Um- 
fang zu  verleihen.  Mit  den  hier  entwickehen  Gründen,  die  mir 
keinesweges  gezwungen  erscheinen,  Hesse  sich   sogar  die  Ansicht 


*)  Man  vergleiche  überhaupt  mit  dieser  Stelle  S.  258 — 262.  dieser  Einleitung. 
V  Dieser  Satz  hieß  ursprünglich:  „Wir  wissen   nun  zwar  nichts  über  die 
Grammatik  im  Zustande  der  Einsilbigkeit.    Es  ist  aber  sehr  wahrscheinlich,  dass 


0  02  ^-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

auch  ursprünglich  grössentheils  zweisylbiger  Wurzeln  vertheidigen. 
Die  gleichförmige  Bedeutung  der  ersten  Sylbe  von  mehreren  be- 
wiese nur  die  Gleichheit  des  Haupteindrucks  verschiedener  Gegen- 
stände. Mir  aber  kommt  es  natürlicher  vor,  das  Daseyn  einsylbiger 
Wurzeln  anzunehmen,  aber  darum  nicht,  auch  schon  neben  ihnen, 
zweisylbige  auszuschliessen.  Zu  bedauern  ist  es,  dass  die  mir  be- 
kannten Untersuchungen  sich  nicht  auf  die  Erforschung  der  Be- 
deutung des,  zwei  gleichen  vorausgehenden  Consonanten  hinzu- 
gefügten dritten  einlassen.  Erst  diese,  freilich  gewiss  höchst 
schwierige  Arbeit  würde  vollkommnes  Licht  über  diese  Materie 
verbreiten.  Betrachtet  man  aber  auch  alle  zweisylbige  Semitische 
Wortstämme  als  zusammengesetzte,  so  sieht  man  doch  auf  den 
ersten  Anblick,  dass  diese  Zusammensetzung  von  ganz  anderer 
Art,  als  die  in  den  hier  durchgegangenen  Sprachen  ist.  In  diesen 
macht  jedes  Glied  der  Zusammensetzung  ein  eignes  Wort  aus. 
Wenn  auch,  wenigstens  im  Barmanischen  und  Malayischen,  die 
Fälle  sogar  häufig  sind,  dass  Wörter  gar  nicht  mehr  für  sich  allein, 
sondern  bloss  in  solchen  Zusammensetzungen  erscheinen,  so  ist 
dies  doch  nur  eine  Folge  des  Sprachgebrauchs.  An  sich  wider- 
spricht in  ihnen  nichts  ihrer  Selbstständigkeit;  sie  sind  sogar 
gewiss  früher  eigne  Wörter  gewesen  und  nur  darum  als  solche 
ausser  Gewohnheit  gekommen,  weil  ihre  Bedeutung  vorzüglich 
passend  war,  Modificationen  in  Zusammensetzungen  zu  bezeichnen. 
Die  den  Semitischen  Wortstämmen  auf  diese  Weise  hinzugefügte 
zweite  Sylbe  könnte  aber  nicht  allein  und  für  sich  bestehen,  da 
sie  bei  vorausgehendem  Vocal  und  nachfolgendem  Consonanten 
gar  nicht  die  legitime  Form  der  Nomina  und  Verba  an  sich 
trägt.  ^)  Man  sieht  hieraus  deutlich,  dass  dieser  Bildung  zwei- 
sylbiger Wortstämme  ein  ganz  anderes  Verfahren  im  Geiste  des 
Volkes  zum  Grunde  liegt,  als  im  Chinesischen  und   in  den   dem- 


auch  in  ihr  schon  die  grammatische  Andeutung  den  Vocalen  oblag,  allein  gerade 
darum  unvollständig  war,  weil  sie  sich  in  dem  Räume  einer  Sylbe  zu  beengt 
fühlen  musste.  So  konnte  auf  der  einen  Seite  es  den  Grammatikern  leicht  werden, 
den  schon  einzeln  vorhandenen  zweisilbigen  Bau  weiter  in  der  Sprache  aus- 
zudehnen." 

V  Dieser  Satz  hieß  ursprünglich:  „In  der  Hinzufügung  der  zweiten  Sylbe 
der  Semitischen  Wortstämme  kann  aber  diese  niemals  für  sich  bestanden  haben, 
da  sie  eine  Lautform  ausmacht,  in  welcher,  Interjectionen  und  Pronomina  aus- 
genommen, niemals  Wörter  in  der  Sprache  erscheinen.  Sie  müssen  nemlich  aus 
einem  Consonanten  mit  vorausgehendem  Vocale  bestehen,  da  der  Semitische  Bau 
auch  bei  einsylbigen  Stämmen  zwei  den  Vocal  umgebende  Consonanten  fordert." 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      oo"? 

selben  in  diesem.  Theile  seines  Baues  ähnlichen  Sprachen.  Es 
werden  nicht  zwei  Wörter  zusammengesetzt,  sondern  mit  unver- 
kennbarer Hinsicht  auf  Worteinheit  Eines  erweiternd  gebildet. 
Auch  in  diesem  Punkte  bewährt  der  Semitische  Sprachstamm 
seine  edlere,  den  Forderungen  des  Sprachsinnes  mehr  entsprechende, 
die  Fonschritte  des  Denkens  sicherer  und  freier  befördernde  Form. 

Die  wenigen  mehrsylbigen  Wurzeln  der  Sanskritsprache  lassen 
sich  auf  einsylbige  zurückführen  und  alle  übrigen  Wörter  der 
Sprache  entstehen  nach  der  Theorie  der  Indischen  Grammatiker 
aus  diesen.  Die  Sanskritsprache  kennt  daher  hiernach  keine  andere 
Mehrsylbigkeit,  als  die  durch  grammatische  Anheftung  oder  offen- 
bare Zusammensetzung  hervorgebrachte.  Es  ist  aber  schon  oben 
(S.  107.)  erwähnt  worden,  dass  die  Grammatiker  hierin  vielleicht 
zu  weit  gehen,  so  dass  unter  den  nicht  auf  natürliche  Weise  aus 
den  Wurzeln  abzuleitenden  Wörtern  ungewissen  Ursprungs  auch 
zweisylbige  sind,  deren  Entstehung  insofern  zweifelhaft  bleibt,  als 
weder  Ableitung  noch  Zusammensetzung  an  ihnen  sichtbar  ist. 
Wahrscheinlich  aber  tragen  sie  doch  die  letztere  an  sich,  nur  dass 
sich  nicht  allein  die  ursprüngliche  Bedeutung  der  einzelnen  Ele- 
mente im  Gedächtniss  des  Volks  verloren,  sondern  auch  ihr  Laut 
nach  und  nach  eine,  sie  blossen  Suffixen  ähnlich  machende  Ab- 
schleifung  erfahren  hat.  Zu  Beidem  musste  selbst  nach  und  nach 
der  von  den  Grammatikern  aufgestellte  Grundsatz  durchgängiger 
Ableitung  führen. 

In  einigen  ist  aber  die  Zusammensetzung  wirklich  erkennbar. 
So  hat  schon  Bopp  sarad,  Herbst,  Regen  Jahreszeit,  als  ein 
Compositum  aus  sara,  Wasser,  und  da,  gebend,  und  andere 
Unädi-Wörter  als  ähnliche  Zusammensetzungen  angesehen.*)  Die 
Bedeutung  der  in  ein  Unädi-Wort  übergegangenen  Wörter  mag 
auch  in  der  Anwendung,  wenn  einmal  diese  Form  eingeführt  war, 
so  verändert  worden  seyn,  dass  die  ursprüngliche  darin  nicht  mehr 
zu  erkennen  ist.  Der  allgemein  in  der  Sprache  herrschende  Geist 
der  Bildung  durch  Affixa  mochte  zur  gleichen  Behandlung  dieser 
Formen  hinleiten.  In  einigen  Fällen  tragen  Unädi-Sufßxa  durch- 
aus die  Gestalt  auch  in  der  Sprache  selbstständig  vorhandener 
Substantiva  an  sich.  Von  dieser  Art  sind  anda  und  a7iga.  Sub- 
stantiva  würden  sich  nun  zwar  den  Gesetzen  der  Sprache  nach 
nicht  als  Endglieder  eines   Compositum   mit    einer  Wurzel    ver- 


Lehrgebäude der  Sanskrita-Sprache.  r.  646.  S.  296. 


noA  1.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

einigen  lassen  und  insofern'  bleibt  die  Natur  dieser  Bildung  immer 
räthselhaft.  Allein  bei  genauer  Durchgehung  aller  einzelnen  Fälle 
müsste  sich  die  Sache  doch  wohl  vollkommen  erledigen.  Da,  wo 
das  Wort  weder  der  angegebenen  noch  einer  andren  Wurzel 
nach  natürlicher  Herleitung  beigelegt  werden  kann,  löst  sich  die 
Schwierigkeit  von  selbst,  da  alsdann  keine  Wurzel  in  dem  Worte 
vorhanden  ist.  In  andren  Fällen  kann  man  annehmen,  dass  die 
Wurzel  erst  durch  das  Krit-Suffix  a  in  ein  Nomen  verwandelt  ist. 
Endlich  aber  scheint  es  unter  den  Unädi-Suffixen  mehrere  zu  geben, 
welche  man  mit  grösserem  Rechte  den  Krit-Suffixen  beizählen 
würde.  In  der  That  ist  der  Unterschied  beider  Gattungen  schwer 
zu  bestimmen  und  ich  wüsste  keinen  andren,  als  den,  in  der  ein- 
zelnen Anwendung  gewiss  oft  schwankend  bleibenden  anzugeben, 
dass  die  Krit-Suffixa  durch  einen  sich  in  ihnen  deutUch  aus- 
sprechenden allgemeinen  Begriff  auf  ganze  Gattungen  von  Wörtern 
anwendbar  sind,  dagegen  die  Unädi-Suffixa  nur  einzelne  Wörter, 
und  ohne  dass  sich  diese  Bildung  aus  Begriffen  erklären  Hesse, 
erzeugen.  Im  Grunde  gesagt  sind  die  Unädi-Wörter  nichts  andres, 
als  solche,  die  man,  da  sie  nicht  die  Anwendung  der  gewöhnlichen 
Suffixa  der  Sprache  erlaubten,  auf  anomale  Weise  auf  Wurzeln 
zurückzuführen  versuchte.  Ueberall,  wo  diese  Zurückführung 
natürlich  von  statten  geht  und  die  Häufigkeit  des  erscheinenden 
Suffixes  dazu  veranlasst,  scheint  mir  kaum  ein  Grund  vorhanden 
zu  seyn,  sie  nicht  den  Krit-Suffixen  beizufügen.  Daher  hat  auch 
Bopp  in  seiner  Lateinischen  Grammatik,  so  wie  in  der  abgekürzten 
Deutschen,  die  Methode  befolgt,  die  üblichsten  und  sich  am  meisten 
als  Suffixa  bev/ährenden  Unädi-Suffixa  in  alphabetischer  Ordnung, 
vermischt  mit  den  Krit-Suffixen,  aufzustellen. 

anda,  Ei,  selbst  ein  Unädi-Wort  aus  der  Wurzel  an,  athmen, 
und  dem  Suffix  da  ist  wohl  wenigstens  ursprünglich  ein  und  das- 
selbe Wort  mit  dem  gleichlautenden  Unädi-Suffix  gewesen.  Der 
aus  dem  Begriff  des  Eies  hergenommene  der  Ernährung  oder  der 
runden  Gestalt  passt  mehr  oder  weniger  da,  wo  nicht  an  das  Ei 
selbst  zu  denken  ist,  auf  die  mit  diesem  Suffix  gebildeten  Wörter. 
In  zuaranda,  in  der  Bedeutung  eines  offenen  Laubenganges  {open 
portico)^  liegt  derselbe  Begriff  vielleicht  in  einem  Theile  der 
Gestaltung  oder  Verzierung  dieser  Gebäude.  Am  deutlichsten 
zeigen  sich  die  durch  die  beiden  Elemente  des  Worts  gegebenen 
Begriffe  des  Runden  und  des  Bedeckens  in  der  Bedeutung  einer 
in    einem   Gesichtsausschlage    {pimples   in   the  face)    bestehenden 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      90 


.5:)D 


Hautkrankheit,  welche  es  gleichfalls  hat.  In  die  andren  Bedeu- 
tungen der  Menge  und  des  oben  bedeckten,  zu  den  Seiten 
offenen  Laubenganges  sind  sie  theils  einzeln,  theils  vereint  über- 
gegangen.*) Das  Unädi-Suftix  anda  verbindet  sich  nach  den  mir 
bekannten  Beispielen  bloss  mit  Wurzeln,  deren  Endlaut  das 
Vocal-r  ist,  und  nimmt  alsdann  immer  Guna  an.  Man  könnte 
also  die  erste  Sylbe  {imr)  für  ein  aus  der  Wurzel  gebildetes 
Nomen  ansehen.  Dass  nun  das  End-a;  von  diesem  nicht  mit  dem 
Anfangs-«:  von  anda  in  ein  langes  ä  übergeht,  widerspricht  aller- 
dings dieser  Erklärung.  Es  erscheint  jedoch  natürlich,  da  man 
diese  Formation,  wenn  dies  auch  ursprünglich  wahr  gewesen 
seyn  mag,  doch  in  der  späteren  Sprache  nicht  als  Zusammen- 
setzung, sondern  als  Ableitung  behandelte,  und  immer  lässt  sich 
schwer  annehmen,  dass  die  gleichlautenden  W' örter  E  i  und  dies 
Unädi-Suftix  völHg  verschiedne  seyn  sollten,  weit  eher  begreifen, 
wie  aus  dem  Substantivum  nach  und  nach  in  Bedeutung  und 
grammatischer  Behandlung  ein  Suffix  gemacht  worden  sey. 

Von  dem  Unädi-Suffix  anga  liesse  sich  ungefähr  dasselbe,  als 
von  anda  sagen,  ja  vielleicht  noch  mit  grösserem  Rechte,  da  das 
Substantivum  anga,  als  Körper,  Gehen,  Bewegen  u.  s.  f. 
eine  noch  weitere,  sich  zur  Bildung  eines  Suffixes  mehr  eignende 
Bedeutung  hat.  Ein  solches  Suffix  könnte  nicht  unrichtig  mit 
unsrem  Deutschen  t  h  u  m ,  h  e  i  t  u.  s.  f.  verglichen  werden.  Bopp 
hat  indess  auf  eine  so  scharfsinnige  und  so  trefflich  auf  alle   mir 


*)  Man  vergleiche  Carey's  Sanskrit-Gramm.  S.  613.  nr.  168.  Wilkins  Sanskrit- 
Gramm.  S.  487.  nr.  863.  A.  W.  v.  Schlegel  nennt  (Berl.  Kalender  für  1831.  S.  65.) 
waranda  einen  Portugiesischen  Namen  für  die  in  Indien  üblichen  offenen  Vorhallen, 
welchen  die  Engländer  in  ihre  Sprache  aufgenommen.  Auch  Marsden  giebt  in  seinem 
Wörterbuche  dem  gleichbedeutenden  Malayischen  Worte  barändah  einen  Portugiesischen 
Ursprung.  Sollte  dies  aber  wohl  richtig  seyn?  Nicht  abzuläugnen  ist,  dass  waranda 
ein  achtes  Sanskritwort  ist.  Es  kommt  schon  im  Amara  Kosha  (Cap.  6.  Abtheil.  2. 
S.  381.)  vor.  Das  Wort  hat  mehrere  Bedeutungen  und  der  Zweifel  könnte  also  dar- 
über obwalten,  ob  die  eines  Säulenganges  acht  Sanskritisch  sey.  Wilson  und  Cole- 
brooke,  Letzterer  in  den  Noten  zum  Amara  Kosha,  haben  sie  dafür  gehalten.  Auch 
wäre  der  Fall  zu  sonderbar,  dass  ein  so  langes  Wort  in  verschiedener  Bedeutung  mit 
völliger  Gleichheit  der  Laute  in  Portugal  und  Indien  üblich  gewesen  seyn  sollte.  Das 
Wort  scheint  mir  daher  aus  Indien  nach  Portugal  gekommen  und  in  die  Sprache  über- 
gegangen zu  seyn.  Im  Hindostanischen  lautet  es  nach  Gilchrist  {Hindoostanee  philo- 
logy.  Vol.  I.  V.  Balcony.  Gallery.  Portico.)  burandu  und  buramudu.  Die  Eng- 
länder können  allerdings  die  Benennung  dieser  Gebäude  von  den  Portugiesen  entlehnt 
haben.  Doch  nennt  Johnson's  Wörterbuch  [Ed.  Todd.)  dasselbe  a  word  adopted 
from  the  East. 


ooß  !•    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

bekannte  Wörter  dieser  Art  anwendbare  Weise  dies  Suffixum 
indem  er  die  erste  Sylbe  zur  Accusativendung  des  Haupt- 
wortes macht  und  die  letzte  von  gd  ableitet,  zerstört,  dass  ich 
nicht  im  Widerspruche  mit  ihm  auf  dessen  Wiederherstellung 
bestehen  möchte.  Dennoch  findet  sich  anga,  auf  ähnliche  Weise, 
als  der  gewöhnlichen  Vorstellungsart  nach  im  Sanskrit  gebraucht, 
in  der  Kawi-Sprache  und  auch  in  einigen  heutigen  Mala3äschen 
Sprachen  so  auffallend,  dass  ich  die  Erwähnung  hier  nicht  um- 
gehen zu  können  glaube.  Im  Brata  Yuddha,  dem  Kawi-Gedichte, 
von  welchem  die  Folge  dieser  Schrift  ausführlich  handeln  wird, 
kommen  Sanskrit-Substantiva  der  ersten  Declination  mit  der  hinzu- 
gegebenen Endung  anga  und  aiigana  vor:  neben  sura  (i.  a,), 
Held  [süra),  auch  suranga  (97. ^a.),  neben  rana  (82.  d.),  Kampf 
{rana)^  auch  ra^ianga  (83.  d.),  ranangana  (86.  b.).  Auf  die  Be- 
deutung scheinen  diese  Zusätze  gar  keinen  Einfluss  zu  haben,  da 
die  handschriftliche  Paraphrase  sowohl  die  einfachen,  als  ver- 
längerten Wörter  durch  dasselbe  heutige  Javanische  Wort  erklärt. 
Die  Kawi-Sprache  soll  zwar,  als  eine  dichterische  sich  sowohl 
Abkürzungen,  als  Hinzufügungen  völlig  bedeutungsloser  Sylben 
erlauben.  Die  Uebereinstimmung  dieser  Zusätze  mit  den  Sanskrit- 
Substantiven  anga  und  angana,  welches  letztere  auch  eine  sehr 
allgemeine  Bedeutung  hat,  ist  aber  zu  auffallend,  als  dass  man 
nicht  genöthigt  würde,  in  einer  Sprache,  die  ganz  eigentlich  aus 
dem  Sanskrit  zu  schöpfen  bestimmt  war,  hierbei  an  dieselben  zu 
denken.  Diese  Substantiva  und  das  mit  ihnen  gleichlautende 
Unädi-Suffix  konnten  solche,  dem  Sylbenklange  willkommene 
Endungen  hervorbringen.  In  der  heutigen  gewöhnlichen  Javani- 
schen Sprache  wüsste  ich  sie  nicht  aufzuweisen.  Dagegen  findet 
sich  in  ihr,  nur  mit  kleiner  Veränderung,  als  Substantivum  und 
in  der  Neu-Seeländischen  und  Tongischen  ganz  unverändert  und 
zugleich  als  Substantivum  und  als  Endung  anga  auf  eine  Weise, 
welche  wohl  die  Vermuthung  geben  kann,  dass  auch  hier  an 
einen  Sanskritischen  Ursprung  zu  denken  sey.  Javanisch  ist 
hangge:  die  Art  und  Weise,  wie  etwas  geschieht,  und 
der  Umstand,  dass  dies  Wort  der  vornehmen  Sprache  angehört, 
weist  von  selbst  bei  seiner  Ableitung  auf  Indien  hin.  Im  Tongi- 
schen ist  anga:  Stimmung  des  Gemüths,  Gewohnheit, 
Gebrauch,  der  Platz,  wo  etwas  vorgeht;  im  Neu-See- 
ländischen hat  das  Wort,  wie  man  aus  den  Zusammensetzungen 
sieht,  auch   diese  letzte   Bedeutung,   allein  hauptsächlich   die   des 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschleciits.     38.      oo-y 

Machens,  besonders  des  gemeinschaftlichen  Arbeitens.  Diese  Be- 
deutungen kommen  allerdings  nur  mit  der  allgemeinen  des  Be- 
wegens  in  dem  Sanskritwort  überein;  doch  hat  auch  dieses  die 
Bedeutung  von  Seele  und  Gemüth.  Die  wahre  Aehnlichkeit  scheint 
mir  aber  in  der  Weite  des  Begriffs  zu  liegen,  der  dann  auf  ver- 
schiedene Weise  aufgefasst  werden  konnte.  Im  Neu-Seeländischen 
ist  der  Gebrauch  von  anga  als  letztem  Gliede  einer  Zusammen- 
setzung so  häufig,  dass  es  dadurch  fast  zur  grammatischen  Endung 
abst racter  Substantiva  wird :  udi,  sich  herumdrehen,  herum- 
wälzen, auch  vom  Jahre  gebraucht,  udinga,  eine  Umwäl- 
zung; ro7igo,  hören,  roizgonga,  die  Handlung  oder  Zeit 
des  Hörens;  tono,  befehlen,  tononga,  Befehl;  tao ,  ein 
langerSpeer,  taonga,m\x  demSpeer  erworbenes  Eigen- 
thum;  toa,  ein  herzhafter,  kühner  Mann,  toanga,  das 
Erzwingen,  Ueberwältigen;  tui,  nähen,  bezeichnen, 
schreiben,  tuinga,  das  Schreiben,  die  Tafel,  auf  die 
man  schreibt;  tu,  stehen,  iunga,  der  Platz,  wo  man 
steht,  der  Ankerplatz  eines  Schiffes;  tot,  im  Wasser 
tauchen,  toinga,  das  Eintauchen;  tupii,  ein  Sprössling, 
herv  orspriessen,  tiipunga,  die  Voreltern,  der  Platz,  an 
dem  irgend  etwas  gewachsen  ist;  ngaki,  das  Feld  be- 
bauen, ngakinga,  ein  Meierhof.  Nach  diesen  Beispielen  könnte 
man  glauben,  dass  nga  und  nicht  anga  die  Endung  wäre.  Das 
Anfangs-«  ist  aber  bloss  des  vorhergehenden  Vocals  wegen  ab- 
geworfen. Denn  man  sagt  auch  nach  Lee's  ausdrücklicher  Be- 
merkung statt  udinga  udi  anga  und  die  Tongische  Sprache  lässt 
das  a  auch  nach  Vocalen  bestehen,  wie  die  Wörter  maanga,  ein 
Bissen,  von  ma ,  kauen,  taanga ,  das  Niederhauen  von 
Bäumen,  aber  auch  (vermuthlich  figürlich  vom  schlagenden  Ton 
des  Taktes):  Gesang,  Vers,  Dichtung,  von  /«,  schlagen  (in  Laut 
und  Bedeutung  übereinstimmend  mit  dem  Chinesischen  Worte), 
und  nofoanga,  Wohnung,  von  7iofo,  wohnen,  beweisen.  In- 
wiefern das  Madecassische  marighe,  machen,  mit  diesen  Wörtern 
zusammenhängt,  erfordert  zwar  noch  eigne  Untersuchung.  Doch 
dürfte  diese  wohl  auf  Verwandtschaft  führen,  da  das  Anfangs-w 
in  diesem,  selbst  als  Auxiliare  und  Praefix  gebrauchten  Worte  sehr 
leicht  ein  davon  abzulösendes  Verbalpraefix  seyn  kann.  Froberville  *) 

*)  Er  ist  der  Verfasser  der  von  Jacquet  {Nouv.  Jourtl.  Asiat.  XI.   102.  Anmerk.) 
erwähnten  Sammlungen  über    die  Madecassische  Sprache,    welche   sich  jetzt   in  London 
in  den  Händen  des  Bruders  des  verstorbenen  Gouverneurs  Farquhar  befinden. 
VV.  V,  Humboldt,  Werke.     VU.  22  , 


oog  I,    über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

leitet  magne,  wie  er  schreibt,  von  maha  aigne  oder  von  maha  angani 
ab  und  führt  mehrere  Lautveränderungen  dieses  Wortes  an.  Da 
unter  diesen  Formen  auch  manganou  ist,  so  gehört  wohl  auch  das 
Javanische  mangun,  bauen,   bewirken,   hierher.*) 

Wenn  man  also  die  Frage  aufwirft,  ob  es  nach  Ablösung 
aller  Affixe  im  Sanskrit  zwei-  oder  mehrs3''lbige  einfache  Wörter 
giebt?  so  muss  man  sie,  da  allerdings  solche  Wörter  vorkommen, 
in  welchen  das  letzte  Glied  nicht  mit  Sicherheit  als  ein,  einer 
Wurzel  angehängtes  Suffix  angesehen  werden  kann,  nothwendig 
bejahen.  Indess  ist  die  Einfachheit  dieser  Wörter  gewiss  nur 
scheinbar.  Sie  sind  unstreitig  Composita,  in  welchen  sich  die 
Bedeutung  des  einen  Elementes  verloren  hat. 

Abgesehen  von  der  sichtbaren  Mehrsylbigkeit  fragt  es  sich, 
ob  nicht  im  Sanskrit  eine  andere,  verdeckte  vorhanden  ist?  Es 
kann  nemlich  zweifelhaft  scheinen,  ob  die  mit  doppelten  Conso- 
nanten  beginnenden,  besonders  aber  die  in  Consonanten  aus- 
lautenden Wurzeln,  die  ersteren  durch  Zusammenziehung,  die 
letzteren  durch  Abwerfung  des  Endvocals,  nicht  von  ursprünglich 
zweisylbigen  zu  einsylbigen  geworden  sind.  Ich  habe  in  einer 
früheren  Schrift*')  bei  Gelegenheit  der  Barmanischen  Sprache 
diesen  Gedanken  geäussert.  Der  einfache  Sylbenbau  mit  aus- 
lautendem Vocal,  dem  mehrere  Sprachen  des  östlichen  Asiens 
noch  grossentheils  treu  geblieben  sind,  scheint  in  der  That  der 
natürlichste  und  so  könnten  leicht  die  uns  jetzt  eins34big  schei- 
nenden Wurzeln  eigentlich  zweisylbige  einer  früheren,  der  uns 
jetzt  bekannten  zum  Grunde  liegenden  Sprache  oder  eines  primi- 
tiveren Zustandes  der  nemlichen  seyn.  Der  auslautende  End- 
consonant  wäre  alsdann  der  Anfangsconsonant  einer  neuen  Sylbe 
oder  eines  neuen  Wortes.  Denn  dies  letzte  Glied  der  heutigen 
Wurzeln  wäre  dann  nach  dem  verschiedenen  Genius  der  Sprachen 
entweder  eine  bestimmtere  Ausbildung  des  Hauptbegriifes  durch 
eine  nähere  Modification  oder  eine  wirkliche  Zusammensetzung 
von  zwei  selbstständigen  Wörtern.  In  der  Barmanischen  Sprache 
z.  B.  erhöbe  sich  also  eine  sichtbare  Zusammensetzung  auf  dem 
Grunde  einer  jetzt  nicht  mehr  erkannten.    Am  nächsten   führten 


*)  Gericke's  Wörterbuch.    In  Crawfurd's  handschriftlichem  wird  es  durch  io  Cldjust^ 
to  put  right  übersetzt. 

**)  Nouv.  Journ.  Asiat.  IX.  500—506.') 
V  Vgl.  Band  6,  56g. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      2'>Q 

hierauf  die  mit  dazwischen  Hegendem  einfachen  Vocale  mit  dem 
gleichen  Consonanten  an-  und  auslautenden  Wurzeln.  Im  Sanskrit 
haben  diese,  wenn  man  etwa  dad  ausnimmt,  mit  welchem  es 
überhaupt  leicht  eine  verschiedene  Bewandtniss  haben  kann,  eine 
zum  Ausdruck  durch  Reduplication  passende  Bedeutung,  indem 
sie,  wie  kak,  j'aj,  sas  heftige  Bewegung,  wie  lal  Wunsch,  Be- 
gierde oder  wie  sas,  schlafen,  einen  sich  gleichmässig  ver- 
längernden Zustand  bezeichnen.  Die  den  Ton  des  Lachens 
nachahmenden  kakk,  khakkh,  ghaggh  kann  man  sich  ursprünglich 
kaum  anders,  als  mit  Wiederholung  der  vollen  Sylbe  denken. 
Ob  man  aber  durch  Zergliederung  auf  diesem  Wege  viel  weiter 
kommen  könnte,  möchte  ich  bezweifeln  und  sehr  leicht  kann 
ein  solcher  auslautender  Consonant  auch  wirklich  ursprünglich 
bloss  auslautend  gewesen  seyn.  Selbst  im  Chinesischen,  das  keine 
wahrhaften  Consonanten,  als  auslautend,  in  der  Mandarinen-  und 
Büchersprache  kennt,  fügen  die  Provinzial-Dialekte  den  vocalisch 
endenden  Wörtern  sehr  häufig  solche  hinzu. 

In  anderer  Beziehung  und  wahrscheinlich  auch  in  andrem 
Sinne  ist  ganz  neuerlich  die  Zweisylbigkeit  aller  consonantisch 
auslautenden  Sanskritwurzeln  von  Lepsius*)  behauptet  worden. 
Die  Xothwendigkeit  hiervon  wird  in  dem  in  dieser  Schrift  auf- 
gestellten consequenten  und  scharfsinnigen  Systeme  daraus  abge- 
leitet, dass  im  Sanskrit  überhaupt  nur  Sylbenabtheilung  herrscht 
und  die  untheilbare  Sylbe  in  der  Weiterbildung  der  Wurzel  nicht 
einen  einzelnen  Buchstaben,  sondern  nur  wieder  eine  untheilbare 
Sylbe  aus  sich  erzeugen  kann.  Der  Verfasser  dringt  nemlich  auf 
die  Nothwendigkeit,  die  Flexionslaute  nur  als  organische  Entwick- 
lungen der  Wurzel,  nicht  aber  als  gleichsam  willkührliche  Ein- 
schiebungen  oder  Anfügungen  von  Buchstaben  anzusehen,  und 
die  Frage  läuft  also  darauf  hinaus,  ob  man  z.  B.  in  bodhämi  das 
ä  als  den  Endvocal  von  budha  oder  als  einen  der  Wurzel  budh 
nur  in  der  Conjugation  äusserlich  hinzutretenden  Vocal  betrachten 
soll?  Für  den  von  uns  hier  behandelten  Gegenstand  kommt  es 
vorzugsweise  auf  die  Bedeutung  des  scheinbaren  oder  wirklichen 
Endconsonanten  an.  Da  aber  der  Verfasser  sich  in  diesem  ersten 
Theile  seiner  Schrift  nur  über  den  Vocalismus  verbreitet,  so  äussert 
er  sich  in  ihr  auch  gar  noch   nicht  über  diesen  Punkt.     Ich  be- 


*)  Palaeographie.    S.  61—74.  §•  47 — 52.    S.  91 — 93.    nr.  25 — 30.    und  besonders 
S.  83.  Anm.  I. 


oAQ  I.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

merke  daher  nur,  dass,  wenn  man  sich  auch  nicht  des,  doch  nur 
bildlich  scheinenden  Ausdrucks  einer  eignen  Weiterbildung  der 
Wurzel  bedient,  sondern  von  Anfügung  und  Einschiebung  spricht, 
darum  bei  richtiger  Ansicht  doch  alle  und  jede  Willkühr  ausge- 
schlossen bleibt,  indem  auch  die  Anfügung  oder  Einschiebung 
immer  nur  organischen  Gesetzen  gemäss  und  vermöge  derselben 
geschieht. 

Wir  haben  schon  im  Vorigen  gesehen,  dass  in  Sprachen  bis- 
weilen dem  concreten  Begriffe  sein  generischer  hinzugefügt  wird, 
und  da  dies  einer  der  hauptsächlichsten  Wege  ist,  auf  welchen 
in  einsylbigen  Sprachen  zweisylbige  Wörter  entstehen  können,  so 
muss  ich  hier  noch  einmal  darauf  zurückkommen.  Bei  Natur- 
gegenständen, die,  wie  Pflanzen,^  Thiere  u.  s.  w.  sehr  sichtbar 
in  abgesonderte  Classen  fallen,  finden  sich  hiervon  in  allen 
Sprachen  häufige  Beispiele.  In  einigen  aber  treffen  wir  diese 
Verbindung  zweier  Begriffe  auf  eine  uns  fremde  Weise  an  und 
dies  ist  es,  wovon  ich  hier  zu  reden  beabsichtige.  Es  ist  nemlich 
nicht  immer  gerade  der  wirkliche  Gattungsbegriff  des  concreten 
Gegenstandes,  sondern  der  Ausdruck  einer  denselben  in  irgend 
einer  allgemeinen  Aehnlichkeit  unter  sich  begreifenden  Sache, 
wie  wenn  der  Begriff  einer  ausgedehnten  Länge  mit  den  Wörtern : 
Messer,  Schwerdt,  Lanze,  Brot,  Zeile,  Strick  u.  s.  f.  verbunden 
wird,  so  dass  die  verschiedenartigsten  Gegenstände,  bloss  insofern 
sie  irgend  eine  Eigenschaft  mit  einander  gemein  haben,  in  die- 
selben Classen  gesetzt  werden.  Wenn  also  diese  Wortverbin- 
dungen auf  der  einen  Seite  für  einen  Sinn  logischer  Anordnung 
zeugen,  so  spricht  aus  ihnen  noch  häufiger  die  Geschäftigkeit 
lebendiger  Einbildungskraft;  so,  wenn  im  Barmanischen  die  Hand 
zum  generischen  Begriff  aller  Arten  von  Werkzeugen,  des  Feuer- 
gewehrs so  gut,  als  des  Meisseis  dient.  Im  Ganzen  besteht  diese 
Art  des  Ausdrucks  in  einem,  bald  das  Verständniss  erleichternden, 
bald  die  Anschaulichkeit  vermehrenden  Ausmalen  der  Gegenstände. 
In  einzelnen  Fällen  aber  mag  ihr  eine  wirkliche  Nothwendigkeit 
der  Verdeutlichung  zum  Grunde  liegen,  wenn  sie  auch  uns  nicht 
mehr  fühlbar  ist.  Wir  stehen  überall  den  Grundbedeutungen  der 
Wörter  fern.  Was  in  allen  Sprachen  Luft,  Feuer,  Wasser,  Mensch 
u.  s.  f.  heisst,  ist  für  uns  bis  auf  wenige  Ausnahmen  bloss  ein 
conventioneller  Schall.  Was  diesen  begründete,  die  Uransicht  der 
Völker  von  den  Gegenständen  nach  ihren,  das  Wortzeichen  be- 
stimmenden Eigenschaften   bleibt  uns  fremd.     Gerade  hierin  aber 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      ^41 

kann  die  Nothwendigkeit  einer  Verdeutlichung  durch  Hinzufügung 
eines  generischen  Begriffes  liegen.  Gesetzt  z.  B.  das  Chinesische 
ii,  Sonne  und  Tag,  habe  ursprünglich  das  Erwärmende,  Er- 
leuchtende bedeutet,  so  war  es  nothwendig,  ihm  tseoü,  als  Wort 
für  ein  materielles,  kugelförmiges  Object  hinzuzufügen,  um  be- 
greiflich zu  machen,  dass  man  nicht  die  in  der  Luft  verbreitete 
Wärme  oder  Helligkeit,  sondern  den  wärmenden  und  erleuchtenden 
Himmelskörper  meint.  Aus  ähnlicher  Ursach  konnte  dann  der 
Tag  mit  Hinzufügung  von  tseü  durch  eine  andere  Metapher  der 
Sohn  der  Wärme  und  des  Lichts  genannt  werden.  Sehr  merk- 
würdig ist  es,  dass  die  eben  genannten  Ausdrücke  nur  dem  neuern, 
nicht  dem  alten  Chinesischen  Style  angehören,  da  die  in  ihnen 
nach  dieser  Erklärungsart  enthaltene  Vorstellungsweise  eher  die 
ursprünglichere  scheint.  Dies  begünstigt  die  Meinung,  dass  diese 
in  der  Absicht  gebildet  worden  sind,  Misverständnissen,  die  aus 
dem  Gebrauche  desselben  Wortes  für  mehrere  Begriffe  oder  für 
mehrere  Schriftzeichen  entstehen  konnten,  vorzubeugen.  Sollte 
aber  die  Sprache  noch,  gerade  in  späterer  Zeit,  auf  diese  Weise 
metaphorisch  nachbildend  se3'^n  und  sollte  sie  nicht  vielmehr  zur 
Erreichung  eines  blossen  Verstandeszweckes  auch  ähnliche  Mittel 
angewandt  und  daher  den  Tag  anders,  als  durch  einen  Verwandt- 
schaftsbegriff unterschieden  haben  ? 

Ich  kann  hierbei  einen  Zweifel  nicht  unterdrücken,  den  ich 
schon  sehr  oft  bei  Vergleichung  des  alten  und  neuen  Styls  gehegt 
habe.  Wir  kennen  den  alten  bloss  aus  Schriften  und  grossen- 
theils  nur  aus  philosophischen.  Von  der  geredeten  Sprache  jener 
Zeit  wissen  wir  nichts.  Sollte  nun  nicht  Manches,  ja  vielleicht 
Vieles,  was  wir  jetzt  dem  neuern  Styl  zuschreiben,  schon  im  alten, 
als  geredete  Sprache  im  Schwange  gewesen  seyn  ?  Eine  Thatsache 
scheint  hierfür  wirklich  zu  sprechen.  Der  ältere  Styl  des  koii  win 
enthält,  wenn  man  die  Zusammenfügungen  mehrerer  abrechnet, 
eine  massige  Anzahl  von  Partikeln,  der  neuere,  kouän  hod,  eine 
viel  grössere,  besonders  solcher,  welche  grammatische  Verhältnisse 
näher  bestimmen.  Gleichsam  als  einen  dritten,  sich  von  beiden 
wesentlich  unterscheidenden  muss  man  den  historischen,  wen 
tcha7ig,  ansehen  und  dieser  macht  von  den  Partikeln  einen  sehr 
sparsamen  Gebrauch,  ja  enthält  sich  derselben  fast  gänzlich. 
Dennoch  beginnt  der  historische  Styl  zwar  später,  als  der  ältere, 
aber  doch  schon  etwa  zweihundert  Jahre  vor  unsrer  Zeitrechnung. 
Nach   dem  gewöhnlichen   Bildungsgange   der   Sprachen   ist    diese 


QA2  I-    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 

verschiedenartige  Behandlung  eines,  im  Chinesischen  doppelt  wich- 
tigen Redetheils,  wie  die  Partikeln  sind,  unerklärbar.  Nimmt  man 
hingegen  an,  dass  die  drei  Style  nur  drei  Bearbeitungen  derselben 
geredeten  Sprache  zu  verschiedenen  Zwecken  sind,  so  wird  die- 
selbe begreiflich.  Die  grössere  Häufigkeit  der  Partikeln  gehörte 
natürlich  der  geredeten  Sprache  an,  welche  immer  begierig  ist, 
sich  durch  neue  Zusätze  verständlicher  zu  machen,  und  in  dieser 
Hinsicht  auch  das  wirklich  unnütz  Scheinende  nicht  zurückstösst. 
Der  ältere  Styl,  schon  durch  die  von  ihm  behandelte  Materie  An- 
strengung voraussetzend,  schmälerte  den  Gebrauch  der  Partikeln 
in  Absicht  der  Verdeutlichung,  fand  aber  in  ihnen  ein  treffliches 
Mittel,  durch  Unterscheidung  der  Begriffe  und  Sätze  dem  Vortrage 
eine,  der  inneren  logischen  Anordnung  der  Gedanken  entsprechende, 
symmetrische  Stellung  des  Ausdrucks  zu  geben.  Der  historische 
hat  denselben  Grund,  die  Häufigkeit  der  Partikeln  zu  verwerfen, 
als  jener,  nicht  aber  den  nemlichen  Beruf,  sie  doch  wieder  zu 
anderem  Zwecke  in  seinen  Kreis  zu  ziehen.  Er  schrieb  für  ernste 
Leser,  aber  in  einfacherer  Erzählung  über  leicht  verständliche 
Gegenstände.  Von  diesem  Unterschiede  mag  es  herstammen, 
dass  historische  Schriften  sich  sogar  des  Gebrauchs  der  gewöhn- 
lichen Schlusspartikel  (ye)  bei  Uebergängen  von  einer  Materie  zur 
andren  überheben.  Der  neuere  Styl  des  Theaters,  der  Romane 
und  der  leichteren  Dichtungsarten  musste,  da  er  die  Gesellschaft 
und  ihre  Verhältnisse  selbst  darstellte  und  redend  einführte,  auch 
das  ganze  Gewand  ihrer  Sprache  und  daher  ihren  ganzen  Partikel- 
vorrath  annehmen.*) 

Ich  kehre  nach  dieser  Abschweifung  zu  den  vermittelst  Hinzu- 
setzung eines  generischen  Ausdrucks  entstehenden,  scheinbar  zwei- 
sylbigen  Wörtern  in  einsylbigen  Sprachen  zurück.  Sie  können,  inso- 
fern man  darunter  Ausdrücke  für  einfache  Begriffe  versteht,  an  deren 
Bezeichnung  die  einzelnen  Sylben  nicht  als   solche,   sondern   nur 


*)  Ich  freue  mich,  hier  hinzufügen  zu  können,  dass  Herr  Professor  Klaproth, 
welchem  ich  die  in  dem  Obigen  enthaltenen  Data  verdanke,  dem  von  mir  geäusserten 
Zweifel  über  das  Verhältniss  der  verschiedenen  Chinesischen  Style  beistimmt.  Nach 
seiner  ausgebreiteten  Belesenheit  im  Chinesischen,  namentlich  in  historischen  Schriften, 
rauss  er  einen  reichen  Schatz  von  Bemerkungen  über  die  Sprache  gesammelt  haben, 
von  dem  hoffentlich  ein  grosser  Theil  in  das  neue  Chinesische  Wörterbuch  überfliessen 
wird,  dessen  Herausgabe  er  beabsichtigt.  Sehr  wünschenswürdig  wäre  aber  alsdann 
die  Zusammenstellung  auch  seiner  allgemeinen  Bemerkungen  über  den  Chinesischen 
Sprachbau  in  einer  besonderen  Einleitung. 


und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschengeschlechts.     38.      qao 

verbunden  Theil  haben,  auf  zwiefachem  Wege  entstehen,  nemlich 
relativ  für  das  spätere  Verständniss  oder  wirklich  absolut  an  und 
für  sich.  Der  Ursprung  des  generischen  Ausdrucks  kann  aus  dem 
Gedächtniss  der  Nation  entschwinden  und  der  Ausdruck  selbst 
dadurch  zum  bedeutungslosen  Zusatz  werden.  Dann  ruht  der 
Begriff  des  ganzen  Wortes  zwar  wirkUch  auf  beiden  Sylben  des- 
selben; es  ist  aber  nur  relativ  für  uns,  dass  er  sich  nicht  mehr 
aus  den  Bedeutungen  der  einzelnen  zusammensetzen  lässt.  Der 
Zusatz  selbst  aber  kann  auch  bei  bekannter  Bedeutung  und 
Häufigkeit  der  Anwendung  durch  gleichsam  gedankenlosen  Ge- 
brauch zu  Gegenständen  hinzutreten,  mit  welchen  er  in  gar  keiner 
Beziehung  steht,  so  dass  er  in  der  Verbindung  wieder  bedeutungs- 
los wird.  Dann  liegt  der  Begriff  des  ganzen  Wortes  w^irklich  in 
der  Vereinigung  beider  Sylben,  es  ist  aber  eine  absolute  Eigenschaft 
desselben,  dass  die  Bedeutung  nicht  aus  der  Vereinigung  des  Sinnes 
der  einzelnen  hervorgeht.  Dass  beide  Arten  dieser  Zweisylbigkeit 
leicht  durch  den  Uebergang  der  Wörter  von  einer  Sprache  in  eine 
andere  entstehen  können,  ergiebt  sich  von  selbst.  Eine  besondere 
Gattung  solcher  theils  noch  erklärlicher,  theils  unerklärlicher  Zu- 
sammenfügungen legt  der  Sprachgebrauch  einiger  Sprachen  der 
Rede  als  nothwendig  auf,  wenn  Zahlen  mit  concreten  Gegenständen 
verbunden  werden.  Vier  Sprachen  sind  mir  bekannt,  in  welchen 
dies  Gesetz  in  merkwürdiger  Ausdehnung  gilt:  die  Chinesische, 
Barmanische,  Siamesische  und  Alexicanische.  Gewäss  giebt  es  aber 
deren  mehrere  und  einzelne  Beispiele  finden  sich  wohl  in  allen, 
namentlich  auch  in  der  unsrigen.  Es  vereinigen  sich,  wie  es  mir 
scheint,  zwei  Ursachen  in  diesem  Gebrauche :  einmal  die  allgemeine 
Hinzufügung  eines  generischen  Begriffs,  von  der  ich  eben  ge- 
sprochen habe,  dann  aber  auch  die  besondre  Natur  gewisser, 
unter  eine  Zahl  gebrachter  Gegenstände,  wo,  wenn  man  nicht  ein 
wirkliches  Mass  angiebt,  die  zu  zählenden  Individuen  erst  künst- 
lich geschaffen  w^erden  müssen,  wie  wenn  man  vier  Köpfe 
Kohl  zu  ein  Bund  Heu  u.  s.  f.  sagt  oder  wo  man  durch  die 
allgemeine  Zahl  die  Verschiedenheiten  der  gezählten  Gegenstände 
gleichsam  vertilgen  will,  wie  in  dem  Ausdruck:  vier  Häupter 
Rinder  Kühe  und  Stiere  einbegriffen  sind.  Von  den  vier  ge- 
nannten Sprachen  hat  nun  keine  diesen  Gebrauch  so  weit,  als  die 
Barmanische  ausgedehnt.  Ausser  einer  grossen  Zahl  für  bestimmte 
Classen  wirklich  festgesetzter  Ausdrücke  kann  noch  der  Redende 
immer  jedes  Wort  der  Sprache,  welches  eine,  mehrere  Gegenstände 


oA/t  1.    Über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues  usw.     38. 

unter  sich  befassende  Aehnlichkeit  andeutet,  zu  diesem  Zwecke 
gebrauchen  und  endlich  giebt  es  noch  ein  allgemeines,  auf  alle 
Gegenstände  Jeglicher  Art  anwendbares  Wort  {/?hi).  Das  Com- 
positum wird  übrigens  so  gebildet,  dass,  von  der  Grösse  der  Zahl 
abhängende  Unterschiede  abgerechnet,  das  concrete  Wort  das  An- 
fangs-, die  Zahl  das  Mittel-  und  der  generische  Ausdruck  das  End- 
glied ausmacht.  Wenn  der  concrete  Gegenstand  auf  irgend  eine 
Weise  dem  Hörenden  bekannt  seyn  muss,  wird  der  generische 
allein  gebraucht.  Bei  dieser  Ausdehnung  müssen  solche  Composita, 
da  schon  der  blosse  Gebrauch  der  Einheit,  als  unbestimmten 
Artikels  sie  hervorruft,  besonders  im  Gespräche  sehr  häufig  vor- 
kommen.*) Indem  mehrere  der  generischen  Begriffe  durch  Wörter 
ausgedrückt  werden,  bei  welchen  ^  man  gar  keine  Beziehung  auf 
die  concreten  Gegenstände  errathen  kann  oder  die  auch  wohl 
ausser  diesem  Gebrauche  ganz  bedeutungslos  geworden  sind,  so 
werden  diese  Zahlwörter  in  den  Grammatiken  auch  wohl  Partikeln 
genannt.    Ursprünglich  aber  sind  sie  allemal  Substantiva. 

Aus  dem  hier  Entwickelten  ergiebt  sich  für  die  Andeutung 
grammatischer  Verhältnisse  durch  besondere  Laute,  so  wie  fyr 
den  Sylbenumfang  der  Wörter,  dass,  wenn  man  die  Chinesische 
und  Sanskritsprache  als  die  äussersten  Punkte  betrachtet,  in  den 
dazwischen  liegenden  Sprachen,  sowohl  den  die  Sylben  aus  ein- 
ander haltenden,  als  den  nach  ihrer  Verbindung  unvollkommen 
strebenden,  ein  stufenweis  wachsendes  Hinneigen  zu  sichtbarer 
grammatischer  Andeutung  und  zu  freierem  S3dbenumfange  obwaltet. 
Ohne  nun  hieraus  Folgerungen  über  ein  solches  geschichtliches  Fort- 
schreiten zu  ziehen,  begnüge  ich  mich,  hier  dies  Verhältniss  im 
Ganzen  angezeigt  und  einzelne  Arten  desselben  dargelegt  zu  haben. 


*)  Man  vergleiche  über  diese  ganze  Materie  Burnouf.  Noiiv.  Journ.  Asiat.  IV.  221, 
Low's  Siamesische  Gramm.  S.  21.  66 — 70.  Carey's  Barmanische  Gramm.  S.  120 — 141. 
§.  10 — 56.  Remusat's  Chinesische  Gramm.  S.  50,  nr.  113 — 115.  S.  116.  nr.  309.310. 
Asiat,  res.  X.  245.  Wenn  Remusat  diese  Zahlwörter  bei  dem  alten  Style  abhandelt, 
so  hat  er  sie  wohl  nur  aus  andren  Gründen  dahin  gezogen.  Denn  eigentlich  gehören 
sie  dem  neueren  an. 


Anhang. 


Alexander  von  Humboldts  Vorwort  zum  Kawiwerk. 

Ich  erfülle  eine  ernste  und  traurige  Pflicht.  Indem  aus  dem 
literarischen  Nachlasse  meines  Bruders  kaum  ein  Jahr  nach  seinem 
Hinscheiden  dieses  Werk  der  Oeftentlichkeit  übergeben  wird,  habe 
ich  einige  Worte  über  die  Einrichtung  und  Abtheilung  desselben 
zu  sagen.  Es  würde  bei  der  individuellen  Richtung  meiner  Studien 
eine  leichtsinnige  Zuversicht  verrathen,  wenn  ich  hier  mehr,  als 
die  äussere  Form  berührte  und  es  wagte,  dem  Verewigten  auf 
der  von  ihm  durchlaufenen  Bahn  in  das  unermessene  Reich  der 
Sprache  zu  folgen. 

Die  Arbeit  erscheint  zwar  in  einer  in  sich  abgeschlossenen 
Gestalt,  doch  würde  sie  gewiss  in  einzelnen  Theilen  von  der 
eignen  Hand  des  Verfassers  noch  manche  Umwandlung  und 
grössere  Vollendung  erfahren  haben.  Der  Einleitung,  welche  den 
Einfluss  der  Sprache  auf  die  geistige  Entwicklung  der  Menschheit 
darstellt,  waren  manche  Zusätze  vorbehalten,  die  in  belebenden  Ge- 
sprächen angedeutet,  aber  nicht  niedergeschrieben  wurden.  Nur 
der  Druck  des  ganzen  ersten  Buches  ist  von  meinem  Bruder 
selbst  besorgt  worden;  die  genaueste  Durchsicht  des  Manuscripts 
aber  und  die  Herausgabe  des  ganzen  Werkes  in  seiner  gegen- 
wärtigen Gestalt  verdanken  wir  dem  Fleisse  und  der  wissenschaft- 
lichen Bildung  eines  jungen  Gelehrten,  der  viele  Jahre  lang  einem 
ehrenvollen  Vertrauen  durch  die  treueste  Anhänglichkeit  entsprochen 


Erster  Druck:    Wilhelm  von  Humboldt,    Über  die  Kawisprache   auf  der 
Insel  Java  i,  III—X  (1836). 


qaQ  Alexander  von  Humboldts  Vorwort 

hat.  Herr  Dr.  Buschmann,  Gustos  bei  der  Königlichen  Bibliothek, 
dem  Verewigten  durch  einen  ihm  theuren  Freund,  Professor  Bopp, 
empfohlen,  war  durch  die  Mannigfaltigkeit  seiner  Kenntnisse  und 
seinen  Eifer  für  die  Sprachen  des  südöstlichen  Asiens  besonders 
geeignet,  eine  solche  Hülfe  darzubieten. 

Das  zweite  Buch,  mit  welchem  der  folgende  Theil  beginnen 
wird,  stellt  den  grammatischen  Bau  der  Kawisprache,  aus  dem 
Heldengedichte  Brata  Yuddha  entwickelt,  in  fortwährender  Ver- 
gleichung  mit  allen  übrigen  bekannten  Malayischen  und  Südsee- 
Sprachen  dar.  In  dem  dritten  Buche  ist  der  Charakter  jedes 
dieser  Idiome  einzeln  bestimmt,  besonders  der  des  Madecassischen, 
Tagalischen,  Tongischen,  Tahitischen  und  Neu-Seeländischen.  Die 
Völkerverhältnisse  jener  grossen  Inselwelt  und  ihre  gemeinsamen, 
durch  so  vielartige  Analogien  verkündigten  Ausstrahlungen  führen 
merkwürdigerweise,  aber  nur  in  wenigen  Einzelheiten  den  Forscher 
auf  den  festgegründeten  Boden  des  Sanskrit  zurück.  Da  mein 
Bruder  kurz  vor  seinem  Tode  neue  und  wichtige  Mittheilungen 
von  Herrn  Crawfurd  in  London  empfing,  so  hat  er  Nachträge  zu 
einigen,  die  Sprache  betreffenden  Stellen  des  ersten  Buches  den 
folgenden  Büchern  einverleibt. 

Unter  den  auswärtigen  Gelehrten,  deren  Mittheilungen  dieses 
Werk  besonders  bereichert  haben,  verdient  den  ersten  Rang  der 
talentvolle  Verfasser  der  History  of  the  Indiajt  Archipelago  und  der 
Embassy  to  the  Court  of  Ava,  Herr  John  Grawfurd,  welcher  aus 
dem  grossen  Schatze  seiner  Sammlung  von  Schriften  in  Malayischen 
Sprachen  drei  handschriftliche  Javanische  Wörterbücher  und  eine 
handschriftliche  Javanische  Grammatik,  wie  auch  eine  Abschrift 
des  oben  erwähnten  Kawi-Gedichtes  dem  Verewigten  zu  freiestem 
Gebrauche  überlassen  hatte.  Bei  der  Unzulänglichkeit  aller  öffent- 
lichen Hülfsmittel  wäre  es  ohne  jene  Mittheilung  unmöglich  ge- 
wesen, sich  der  Javanischen  und  Kawi-Sprache  in  ihren  Eigen- 
thümlichkeiten  ganz  zu  bemeistern.  Herr  Crawfurd,  dessen  per- 
sönlichen Umganges  ich  mich  am  frühesten  in  Paris  zu  erfreuen 
gehabt  habe,  wird  den  Ausdruck  der  Dankbarkeit  beider  Brüder 
gewiss  mit  demselben  Wohlwollen  aufnehmen,  mit  dem  er  so 
wichtige,  ganz  durch  eigenen  Fleiss  gesammelte  Materialien  zu 
erfolgreicher  Benutzung  dargeboten  hat. 

In  allem,  was  die  Philosophie  der  Sprachkunde  oder  den 
Organismus  der  Sanskritsprache  insbesondere  betrifft,  hat  sich 
mein  Bruder  immerfort  bis  zu  seinem  Tode  vertrauungsvoll  mit 


zum  Kawiwerk. 


347 


einem  Manne  berathen,  welcher  durch  die  Bande  einer  lang- 
bewährten Freundschaft  und  gegenseitigen  Achtung  mit  ihm  ver- 
bunden war  und  durch  seinen  Scharfsinn  und  seine  unermüdete 
Thätigkeit  einen  stets  wachsenden  Einfluss  auf  die  Richtung  des 
vergleichenden,  allgemeinen  Sprachstudiums  ausübt.  Herr  Professor 
Bopp  empfing  von  dem  Verewigten  jeden  vollendeten  Bogen  des 
ersten  Buches  mit  Aufforderung  zu  strenger  Kritik.  Dem  geistig 
belebenden  Einflüsse  eines  solchen  Freundes  gebührt  hier  eine 
öftentHche,  dankbare  Anerkennung. 

Wenn  es  dem,  dessen  ^^erlust  wir  betrauern,  vergönnt  war, 
durch  die  Macht  seiner  Intelligenz  und  die  nicht  geringere  Macht 
seines  Willens,  durch  Begünstigung  äusserer  Verhältnisse  und 
durch  Studien,  welche  der  häufige  Wechsel  des  Aufenthalts  und 
sein  öffentliches  Leben  nicht  zu  unterbrechen  vermochten,  tiefer 
in  den  Bau  einer  grösseren  Menge  von  Sprachen  einzudringen, 
als  wohl  noch  je  von  einem  Geiste  umfasst  worden  sind,  so 
dürfen  wir  uns  doppelt  freuen,  die  letzten,  ich  darf  wohl  hinzu- 
setzen, die  höchsten  Resultate  dieser,  das  ganze  Sprachgebiet  be- 
rührenden Forschungen  in  der  Einleitung  dieses  Werkes  ent- 
wickelt zu  finden.  Ich  müsste  fast  den  ganzen  Kreis  der  wissen- 
schaftlichen Verbindungen  meines  Bruders  durchlaufen,  die  er  auf 
seinen  Reisen  in  Deutschland,  England,  Frankreich,  Italien  und 
Spanien  angeknüpft  hatte,  wenn  ich  die  einzelnen  Personen  nennen 
sollte ,  die  ihm  in  jenen  allgemeinen  Untersuchungen  und  bei 
Gründung  der  grossen  linguistischen  Sammlung  nützlich  gewesen 
sind,  welche  nach  seinem  letzten  Willen  der  Königlichen  Bibliothek 
einverleibt  wurde.  Geistreichen  und  sprachgelehrten  Männern, 
mit  denen  der  Verewigte  durch  Briefe  in  literarischem  Verkehre 
stand,  Aug.  Wilh.  von  Schlegel,  Gottfr.  Hermann,  dem  ihn  die 
Uebersetzung  des  Aeschyleischen  Agamemnon  (mitten  unter  den 
Stürmen  des  Krieges)  genähert  hatte,  Silvestre  de  Sacy,  Gesenius, 
Burnouf,  Thiersch,  Lassen,  Du  Ponceau  in  Philadelphia,  John 
Pickering  in  Salem,  Rosen  in  London,  P.  von  Bohlen  in  Königs- 
berg, Stenzler  in  Breslau,  Pott  in  Halle,  Lepsius  in  Rom,  Neu- 
mann in  München,  Kosegarten,  dem  Aegyptischen  Reisenden 
G.  Parthey,  Champollion,  Abel-Remusat,  Klaproth  und  Friedrich 
Ed.  Schulz,  welcher  in  einem  ruhmvollen  Unternehmen  den  Tod 
im  Orient  fand,  sind  viele  seiner  allgemeinen  Ansichten,  wie  sie 
sich  ihm  allmählich  darboten,  zur  Prüfung  vorgelegt  worden.  Was 
mein  Bruder  dem  tiefen  Kenner  des  gesammten  classischen  Alter- 


348 


Alexander  von  Humboldts  Vorwort 


thums,  unserem  Freunde  August  Böckh  und  besonders  dessen 
glücklichen  Forschungen  über  allgemeine  Metrik  und  den  viel- 
artigen Einfluss  Hellenischer  Stammverschiedenheit  schuldig  war, 
davon  zeugen  die  nachfolgenden  Blätter. 

Auf  den  engeren  Cyclus  der  Sprachen  mich  beschränkend, 
welche  in  dem  Werke  selbst  einzeln  zergliedert  sind,  erwähne  ich 
dankbar  für  das  Javanische  den  Baron  van  der  Capellen,  ehe- 
maligen General-Gouverneur  der  Holländischen  Besitzungen  in 
Indien,  den  Grafen  von  Minto,  von  welchem  mein  Bruder  den 
Abguss  der  grossen,  durch  Raffles  berühmt  gewordenen  Javani- 
schen Inschrift  erhielt,  den  sprachkundigen  Roorda  van  Eysinga 
und  Herrn  Gericke  zu  Batavia;  für  das  Malayische  den  belehrenden 
Briefwechsel  mit  Sir  Alexander  Johnston,  Dr.  William  Marsden 
und  dem  kenntnissvollen  Herrn  Jacquet  zu  Paris;  für  das  Made- 
cassische  und  die  Sprachen  der  Südsee-Inseln  Herrn  Freeman, 
Missionar  zu  Tananarivo  auf  Madagascar,  Professor  Meyen  in  Berlin, 
den  Dr.  Meinicke  zu  Prenzlow,  Lesson  in  Paris  und  Adalbert 
von  Chamisso,  der  mit  verjüngtem  Eifer  die  Sprache  der  Sandwich- 
Inseln  erforscht,  welche  er  selbst  früher  zu  besuchen  das  Glück 
gehabt  hat. 

Wie  in  dem  Werke,  das  wir  jetzt  mittheilen,  die  Sprachen 
der  Asiatischen  Inselwelt  behandelt  worden  sind,  so  hat  der  Ver- 
ewigte nach  gleichen  Ansichten  und  im  Einzelnen  noch  ausführlicher 
die  Amerikanischen  Sprachen  bearbeitet,  deren  Studium  ihn 
viele  Jahre  lang  auf  das  ernsteste  beschäftigte.  Ein  grosser  Theil 
dieser  Vorarbeiten  ist  zur  Herausgabe  geeignet  und  ich  hoffe, 
dass  Herr  Buschmann,  der  selbst  in  einem  wenig  bekaijnten  Theile 
Neuspaniens  gelebt  hat  und  mit  dem  mein  Bruder  die  Absicht 
hatte  gemeinschaftlich  eine  Reihe  von  Schriften  über  die  Sprachen 
dieses  Welttheils  herauszugeben,  bald  Müsse  finden  werde,  mit 
Hülfe  der  bereits  angesammelten  Materialien  jenen  vielumfassenden 
Plan  auszuführen.  Was  in  dem  vorliegenden  Südasiatischen  Werke 
auf  die  Amerikanische  Sprachfülle  hindeutet,  erregt  den  lebhaf- 
testen Wunsch,  so  wichtige  Hülfsmittel  zur  Kenntniss  der  Idiome 
des  Neuen  Continents  von  den  Freunden  einer  allgemeinen  philo- 
sophischen Linguistik  benutzt  zu  sehen.  Dem  Plane  des  Hin- 
geschiedenen gemäss  wird  ein  Mexicanisch-Lateinisches  Wörter- 
buch sammt  einer  Grammatik   das   neue  Unternehmen   beginnen. 

Ich  kann  der,  durch  die  Huld  des  Monarchen  in  neuerer  Zeit 
so  bereicherten  Königlichen  Bibliothek,  in  welcher  die  eben  erwähnten 


zum  Kawiwerk. 


349 


Manuscripte  zu  öffentlichem  Gebrauch  niedergelegt  sind,  nicht  ge- 
denken, ohne  nicht  zugleich,  wie  aus  einer  Vermächtniss-Schuld, 
dem  als  Sprach-  und  Geschichtsforscher  gleich  hochgeachteten 
Oberbibliothekar,  Herrn  Geheimen  Regierungsrath  Wilken,  den 
innigsten  Dank  für  die  zuvorkommende  Güte  zu  zollen,  mit  der 
er  alles  dargeboten  hat,  was  der  Ausarbeitung  und  Herausgabe 
dieses  Sprachwerkes  förderlich  seyn  konnte.  Die  leichte  und  stete 
Benutzung  einer  öffentlichen  Sammlung  wurde  durch  die  geringe 
Entfernung  des  freundlichen  Landsitzes  begünstigt,  wo  der  Ver- 
ewigte, einsam^  in  der  Nähe  eines  Grabes,  von  dem  Hauche  alter 
Kunst  umweht,  seinen  ernsten  Studien,  grossen  Erinnerungen  an 
eine  vielbewegte  Zeit  und  einer  Familie  lebte,  an  der  er  bis  zur 
Todesstunde  mit  weichem,  liebendem  Herzen  hing. 

„Es  ist,"  nach  dem  Ausspruch  eines  der  Edelsten  unseres  Zeit- 
alters,*) „ein  gewöhnliches  Vorurtheil,  den  Werth  des  Menschen 
nach  dem  Stoffe  zu  schätzen,  mit  dem  er  sich  beschäftigt,  nicht 
nach  der  Art,  wie  er  ihn  bearbeite t."  Wo  aber  der  Stoff  gleich- 
sam die  Form  beherrscht  und  herv^orruft,  wo  Anmuth  der  Sprache 
sich  aus  dem  Gedanken,  wie  aus  des  Geistes  zartester  Blüthe  ent- 
faltet, da  wird  die  Trennung,  welche  jenes  Vorunheil  bezeichnet, 
leicht  gehoben.  Wenn  nicht  alle  meine  Hoffnungen  mich  täuschen, 
so  muss  das  vorliegende  Werk,  indem  es  den  Ideenkreis  so  mächtig 
erweitert  und  in  dem  Organism.us  der  Sprache  gleichsam  das 
geistige  Geschick  der  Völker  deuten  lehrt,  den  Leser  mit  einem 
aufrichtenden,  die  Menschheit  ehrenden  Glauben  durchdringen. 
Es  muss  die  Ueberzeugung  darbieten,  dass  eine  gewisse  Grösse 
in  der  Behandlung  eines  Gegenstandes  nicht  aus  intellectuellen 
Anlagen  allein,  sondern  vorzugsweise  aus  der  Grösse  des  Charakters, 
aus  einem  freien,  von  der  Gegenwart  nie  beschränkten  Sinne  und 
den  unergründeten  Tiefen  der  Gefühle  entspringt. 

Berlin,  im  März  1836. 

Alexander  v.  Humboldt. 


*)  Schiller  in  den  philosophischen  Briefen.     (Werke.  XL  336.)  ^) 
V  Vgl.  Sämmtliche  Schriften  4,  ^8. 


Bemerkungen  zur  Entstehungsgeschichte 
des  Aufsatzes. 

/.  über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues 
und  ihren  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  des  Menschen- 
geschlechts (vgl.  Haym,  Wilhelm  von  Humboldt  S.  44j;  Benfey,  Geschichte 
der  Sprachwissenschafl  und  orientalischen  Philologie  in  Deutschland  S.  S34; 
Pott,  Wilhelm  von  Humboldt  und  die  Sprachwissenschaft  S.  CCCCII;  Steinthal, 
Die  sprachphilosophischen  Werke  Wilhelms  von  Humboldt  S.  i4s;  Delbrück, 
Einleitung  in  das  Studium  der  indogermanischen  Sprachen  *  S.  41). 

Schon  Band  6,  jj4  ist  der  letzten  Phase  der  sprachwissenschaftlichen  Arbeiten 
Humboldts  gedacht  worden,  in  der  seit  etwa  182-]  der  malaiische  Sprachstamm  in 
den  Mittelpunkt  seiner  Betrachtungen  trat:  an  ihn  sollten  sich  nun  die  allgemeineren 
sprachphilosophischen  Erörterungen  anschließen.  In  dem  großen  Werk  über  die 
Kawisprache,  das  als  solches  wie  die  übrigen  streng  fachwissenschaftlichen  Arbeiten 
von  unsrer  Ausgabe  ausgeschlossen  bleibt,  ist  dieser  Plan  ausgeführt:  das  Werk 
selbst  gab  die  erste  vergleichende  Grammatik  der  malaiisch-polynesischen  Idiome 
und  schuf  damit  eine  sichere  Grundlage  der  Erkenntnis,  auf  der  die  Folgezeit 
weitergebaut  hat;  in  der  Einleitung  liegt  ims  Humboldts  letzte  Gestaltung  seiner 
sprachphilosophischen  Ideen  vor.  Seit  dem  Sommer  1830  finden  wir  den  durch 
den  Tod  der  Gattin  Vereinsamten  ununterbrochen  bis  an  sein  Lebensende  mit 
diesen  Arbeiten  beschäßigt;  auch  die  Leiden  und  Unbequemlichkeiten  eines  rasch 
hereinbrechenden  Alters  vermochten  die  unglaubliche  Arbeitskraft  nicht  wesentlich 
zu  vermindern  (Humboldt  an  Welcher,  2g.  Januar  i8jo;  an  Stein,  2^.  Mai  i8jo; 
an  Schlegel,  6.  Juni  1830  und  24.  Oktober  i8j2;  an  Bopp,  1832— i8js;  an  Picke- 
ring, 20.  Juli  1834 i  vgl.  auch  Briefe  von  Alexander  von  Humboldt  an  Bunsen 
S.  ig).  Einzelne  Abschnitte,  auch  aus  der  Einleitung,  sind  in  den  Klassensitzungen 
der  Akademie  vorgetragen  worden,  worauf  einige  redaktionelle  Bleistiftnotizen 
in  den  Manuskripten,  für  den  mündlichen  Vortrag  bestimmt,  hindeuten.  Nur  das 
erste  Buch  des  eigentlichen  Kawiwerks  konnte  der  Verfasser  noch  selbst  im  Druck 
überwachen,  der  während  der  Jahre  i8jj  und  i8j4  stattfand  (vgl.  Briefe  von 
Alexander  von  Humboldt  an  Varnhagen  S.  ij).  Am  zweiten  und  dritten  Buch 
imd  an  der  allgemeinen  Einleitung  hat  er  uytablässig  gefeilt,  bis  der  Tod  den 
Rastlosen  abberief.  Weiteres  gibt  die  als  Anhang  oben  beigefügte  Vorrede  des 
Bruders    (vgl.   über   sie    auch  Briefe    von   Alexander  von  Humboldt  an    Varn- 


Bemerkungen  zur  Entstehungsgeschichte  des  Aufsatzes,     i.  qj^I 

hagen  S.  joj.  Im  Anschluß  an  die  Gedächtnisrede  auf  den  Verewigten  hat  Böckh 
in  der  Leibnizsitzung  der  Akademie  am  g.  Juli  18^5  das  glänzende  Kapitel  über 
Poesie  und  Prosa  verlesen.  Erst  vier  Jahre  nach  Humboldts  Tode  lag  das  ge- 
samte Werk  in  drei  starken  Quartbänden  gedruckt  vor. 

Der  Lobeshymnus  auf  Buschmanns  editorische  Tätigkeit  an  Humboldts 
Manuskripten,  den  Alexander  in  seiner  Vorrede  anstimmt,  muß,  wie  schon 
Band  5,  477  gezeigt  worden  ist,  stark  abgetönt  werden.  Die  dort  gerügten 
Willkürlichkeiten  finden  sich  auch  hier  und  es  schien  mir  angebracht,  hier  radikal 
auf  Humboldts  Wortlaut  und  originale  Einrichtung  seiner  Arbeit  zurückzugehen, 
wobei  sich  zugleich  die  Verbesserung  manches  Lese-  oder  Hörfehlers  ergab. 
Auch  die  von  Buschmann  neu  eingeführten  Paragraphenzahlen  sind  durch  die 
älteren  humboldtschen  ersetzt,  ebenso  der  so  störende  viele  Sperrdruck  und  der 
Überfluß  an  Interpunktionen  beseitigt,  die  beide  mit  Humboldts  Praxis  in  direktem 
Widerspruch  stehen  imd  der  Arbeit  ein  ganz  fremdartiges  Gepräge  aufdrücken. 

Jena,  28.  Juli  igoj. 

Albert  Leitzmann. 


Lippert  &  Co.  (G.  Pätz'sche  Buchdr.),  Naumburg  a.  S. 


'■;:'. ^B^^ 

-  -.'-!;>:-"':: 


*  ex. 

CD 

H 

1-3  U 


0)1 


o 

ad 


^  o 
p  > 

•H 

r-« 

•rl      • 

a  c 
:ö  o 

« -p 

:  «H 

t^    CO 

X»!    ü 

•i    W 

>i    C! 

;  0) 

•    CO 

00   02 

i  u 

ö  X> 


-p 

•r-t 

u 

ü 
+> 


13 

05 

<q 

0) 

ü 
CO 
•H 
CO 
g    CO 

!Ö    <L» 

CO  P» 
(U  Ol 
CD 


<         H 


UNIVERSITY  OF  TORONTO 
LIBRARY 


Acme    Library   Card    Pocket 

Under  Fat.  "Ref.  Index  File." 
Made  by  LlßEAEY  BUREAU