•^v^AV -;.'-*
K U
u*
##<
-;x-j-
YALE
MEDICAL LIBRARY
HISTORICAL
LIBRARY
THE GIFT OF
Dr. CLEMENTS C. FRY
ARBEITEN AUS DEM GESAMMTGEBIET
DER PSYCHIATRIE UND X EUROPATHOLOGIE.
ARBEITEN AUS DEM GESAMMTGEBIET
DEK
l'SYOIHATRTE UND XEÜROPATHOIJMJIE
Vi IN
R V. KRAFFT-EBIXG.
I. HEFT.
«
LEIPZIG
.JOHANN AMBROSIUS BARTH
18Ü7.
Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetznng, vorbehalten.
OCT1953
LtBRAR"*
RC5Gfc>
3^>7K
flf
Inhalt.
Seite
1. Ueber transitorisches Irresein auf neurasthenischer Grundlage.
Erster Aufsatz ...... ..... 3
Zweiter Aufsatz ... 16
Dritter Aufsatz, Neue Erfahrungen über Vesauia transitoria bei Neur-
asthenischen . . .81
Vierter Aufsatz, Gerichtsiirztlichc Gutachton .... .65
2. Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose 79
3. Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und
Hysterie 109
4. Ueber transitnrische Geistesstörung bei Hemicranie . 133
5. Zur Intermittens larvata . . . . .... 169
Vorwort.
Ks sind bald zwei Jahre verflossen, seitdem der Herr Verleger an
mich mit dem Antrag herantrat, in seinem Verlag eine Sammlung meiner
da und dort in Zeitschriften zerstreuten Abhandlungen erscheinen zu
lassen. Lange zögerto ich, dieser Aufforderuni: 1 -' . . 1 -_i ♦ - zu leisten. Die
Erfahrung, dass ich meinen Verlegern so manche Anregung zu lite-
rarischen Unternehmnngen verdanke, zu denen ich proprio motu nie
gelangt wiire und nie den Muth gehabt hätte, das Beispiel von Möbius,
dessen auf 8. 160 des 1. Heftes Beiner „neurologischen Beitrage" dar-
gelegte Gründe die eigenen verstreuten Arbeiten am Abend des Lebens zu
sammeln, all Dies bestimmte mich, wenigstens einmal Umschau in meinen
Publicationen zu halten und sie auf ihren Werft oder Unwerth zu prüfen,
sei weit eben Jemand Richter in eigener Sache sein kann. Das Facil
war, dass sich gar Manilas fand, was besser ungeschrieben geblieben
wiire und im Staub der Archive auch ferner ruhen mag. Es fand sich
aber auch Verschiedenes, «las, soweit es tatsächliches Material zum
Aufbau wissenschaftlicher Lehren enthält, mehr Würdigung verdient
hätte, als ihm in wenig gelesenen Wochenjoumalen und Bachzeitschriften
zu Theil wurde, endlich gar Vieles, was neuer Fassung und Prägung
vom Standpunkt fortgeschrittener Wissenschaft bedürftig schien. Mit
dieser Erkenntniss wurde mir der (iedanke des Herrn Verlegers zu einem
erwünschten Impuls und, nicht der Noth eines gegebenen Versprechens
gehorchend, sondern eigenem Trieb, stellte ich mich in den Dien-t
seiner Idee.
Zur Bedingung machte ich mir aber: auf dem Boden früherer Arbeit
und Erfahrung fassend, zu neuen Gesichtspunkten zu gelangen und
früheren Arbeiten als Neudruck, bei sorgfältiger Auswahl derselben und
VIII Vorwort.
in historischer Aufeinanderfolge derselben, den neuen Erwerb aus zum
Theil Jahrzehnte langer späterer Beobachtung anzugliedern.
Das vorliegende 1. Heft verfolgt solche Ziele und knüpft an längst
erfolgte Publicationen auf Erstlings- und Lieblingsgebieten an.
Ich hoffe, dass Zeit und Kraft ausreichen werden, um diesem Hefte
weitere folgen zu lassen und wünsche nur, dass das Neue den Unwerth
des Alten aufwiegen möge.
Wien, December 1896.
Der Verfasser.
I.
HEBER TRANSITORIS« II ES
IRRESEIN AUF NEURASTHENISCHER
GRUNDLAGE.
Erster Aufsatz.*)
(1883.)
Eine nicht blos durch die Verlaufsweise, sondern auch durch tiefe
Störung des Bewusstseins und delirantes Gepräge etwa vorkommender
Störungen des Vorstellens ausgezeichnete Erscheinungsweise des Irre-
seins stellt das sog. transitorische dar. Verfaul und Symptome weisen
aui intensive, aber rasch sicli ausgleichende Störungen der Ernährung
und Circulation des (Jeliirns hin. Eine nähere ätiologische Untersuchung
läs-t diese transitorischen Irreseinszustände, sofern sie nullt der Aus-
druck einer acut eingetretenen Intoxikation sind. als episodische Krank-
heitserscheinungen im Rahmen und aui Grund einer vor- und nachher
bestehenden Neurose oder Eimerkrankung, und somit als ein sympto-
matisches Krankheitsbild erkennen. Diese Auffassung hat klinisch eine
fruchtbare Bedeutung, indem sie nöthigt, nicht bei dem transitorischen
Irresein stehen zu bleiben, Bondern die specielle Neurose oder Birn-
krankheit. die es vermittelt, nachzuweisen. In der grossen Mehrzahl
der falle von transitorischem Irresein gelingt diese Aufgabe, und am
deutlichsten zeigt sich die Richtigkeit dieser Auffassung gegenüber dei
epileptischen Neurose, die ja so überaus häufig transitorische Irre-
seinszustande herbeiführt Gewiss ist mau jedoch neuerdings in dem
Bestreben, jene auf Epilepsie zurückzuführen, zu weit gegangen, und
eine sorgfältige Kritik geboten. Die nachstehenden Fülle von transi-
torischem Irresein erscheinen auf den ersten Blick klinisch als epileptische,
sind es aber entschieden nicht. Statt aui dem Boden einer epileptischen
Neurose, stehen sie auf dem einer neurasthenischen, stellen den
Culminationspunkt in der Entwicklung einer solchen dar. Unter der
Annahme, dass sie ein nicht unwichtiger Beitrag zur Lehre vom transi-
tei'ischen Irresein sind und auf eine bisher nicht weiter beachtete neu-
rotische Disposition zur Entstehung desselben die Aufmerksamkeit hin-
lenken, möge ihre Mittheilung gestattet sein.
Beobachtung 1. Stuporartiger Dämmerzustand mit Angst.
Victorine H.. 24 Jahre, ledig, Kammerjungfer, kam am 26. April 1880
aui der Grazer Klinik aber Anordnung der Sicherheitsbehörde zur Aut-
i i:.tz. „Irrenfrennd" 1883, Xr. 8.
4 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
nähme, da sie, auf der Strasse umherdämmernd, auf einer Brücke unter
Umständen aufgefunden wurde, die vermuthen Hessen, sie werde sich
ins Wasser stürzen. Bei der Aufnahme war Patientin in einem stupor-
artigen Zustand, im Bewusstsein schwer gestört. Sie schrie ängstlich
eine "Weile, blieb die Nacht über stieren Blickes auf ihrem Lager sitzen,
murmelte vor sich hin: „Dr. P. ., meine Baronin."
Am 27. bleibt sie ängstlich verstört, mit verworrener Miene, drängt
ab und zu schreckhaft fort, lächelt dann und wann und antwortet auf
Fragen nur „Dr. P. . meine Baronin — fort — mein Kopf."
Patientin ist mittelgross, kräftig gebaut, schlecht genährt, blutarm,
der Schädel normal, die vegetativen Organe ohne Befund. Temp. 36,5.
P. 88, celer, die Arterie eng contrahirt.
Nachmittags wird Patientin etwas besinnlicher. Sie giebt an, sie
heisse Yictorine R, habe heftigen Schmerz und Druck im Kopf, Angst,
könne nicht denken. Mehr vermöge sie nicht zu sagen. Man möge sie
nicht allein lassen. Abends hellt sich das Bewusstsein rasch auf, unter
Vollerwerden des Pulses und Entleerung grosser Quantität wasser-
hellen Urins.
Die Nacht auf den 28. April schläft Patientin gut. Sie ist heute ganz
lucid, aber psychisch sehr erschöpft und ruhebedürftig. Sie will am
27. Abends wieder zu sich gekommen sein und aus dem Benehmen der
Leute um sie gemerkt haben, dass sie in einem Irrenhause sich befinde.
Patientin stellt erbliche Anlage und frühere derartige Anfälle,
Epilepsie, Hysterie in Abrede. Als Kind habe sie öfter an Fieber-
anfällen gelitten. Die Entwicklung ging im 12. Jahr ohne Beschwerden
vor sich. Mit 16 Jahren kam Patientin in Dienste. Menses in der
Folge regelmässig, ohne Beschwerden, das letztemal vor 8 Tagen.
Patientin hat im Vorjahr (1879) in Ungarn 3 Monate lang an Inter-
na ttens gelitten. Im December 1879 will sie gesund bei Baronin X. in Graz
in Dienste getreten sein. Ihre Herrin erkrankte schwer im Januar 1880
und genas erst im März. Patientin war deren stetige Wärterin, kam
etwa 6 Wochen lang in kein Bett und fast gar nicht zum Schlafen.
Sie verlor den Appetit, kam von Kräften, fühlte sich ganz erschöpft
und hatte obendrein Verdriesslichkeiten mit einem Bedienten, der ihr
anfangs zudringlich war, als sie ihn abwies, sie chikanirte. Durch all
dies wurde ihr die Stelle unleidlich. Sie stellte endlich die Alternative
entweder gehe sie oder der Bediente. Undankbarer Weise wurde ihre
Kündigung angenommen. Das kränkte sie. Sie verliess am 15. April den
Dienst, miethete sich ein kleines Zimmer und versuchte es mit Näh-
arbeit. Seit Anfang April schon verlor sie den Schlaf, und konnte nur
durch erschöpfende Bewegung, z. B. mehrstündiges Umhergehen, stunden-
Erster Aufsatz. 5
lang zu Schlaf kommen. Sie fühlte sich matt, wurde begriffsstutzig,
vergesslich, bekam Zustände von ängstlicher Beklommenheit mit
erschwertem Denken, Gefühl, als ob sie von eisiger Kälte überrieselt
werde. Es trieb sie dann hinaus an die frische Luft zu gehen, in
welcher ihr besser wrurde.
Am 24. April war sie noch in Xähereiangelegenheiten bei ihrer früheren
Herrin. Sie fühlte sich verwirrt, konnte nicht mehr recht denken, kannte
sich nicht mehr recht aus und meint, dass sie bei diesem Besuch schon
etwas verwirrt gesprochen habe. Vom 24. Abends bis zum 27. Abends
besteht eine Lücke in ihrem Bewusstsein. Sie hat nur eine traumhafte
Erinnerung, dass sie einen Gottesdienst besuchte, und dass man sie mit
(iewalt irgendwohin brachte.
Patientin ist in der folgenden Zeit zwar ganz lucid, aber psychisch
hochgradig erschöpft und neurasthenisch. Sie ermüdet sofort körperlich
und psychisch beim Versuch, sich geistig zu beschäftigen, klagt über
Begriffsstutzigkeit, Ungeschicklichkeit zu Schneiderarbeit aus Un Voll-
kommenheit der Bowegungsanschauungen, über Unfähigkeit sich etwas zu
merken, Benommenheit im Kopf mit pressendem Gefühl in der Schläfen-
gegend, grosse Muskolschwäche. Herzklopfen. Patientin ist anämisch,
ächläfl schwer ein, schreckt leicht .ml . hat schwere Tnmine von Leichen
und dergl. Ende Mai verlieren sich unter roborirender Behandlung
allmälig ilie Symptome cerebraler Erschöpfung. Patientin findet als einzige
Ursache ihrer acuten Bewusstseinsstörung Erschöpfung durch forcirte
Krankenpflege. Am 1. Juni wird sie genesen entlassen und bleibt gesund.
Beobachtung 2. Dammer-Tranmzustand mit Delirien von Standes-
erhöhung,
Am 12. April 1.S81 wurde l'aul U.. 37 Jahre, Oberlehrer, verheirathet.
der (irazer psychiatrischen Klinik von der Sicherheitsbehörde übergeben,
da er in dem Palais des Statthalters erschienen war, um sich als neu-
ernannter Landesschulinspector R . . k beeiden zu lassen und gleich
darauf seine Inspectionsreise anzutreten. Patient kommt ruhig, anscheinend
geordnet zur Aufnahme, gerirt sich als Landesschulinspector R., giebt
im Tehrigen seine Generalien richtig an, bedauert, sein Decret daheim
liegen gelassen zu haben, seine Familie werde bald nachkommen und
dasselbe mitbringen. Er sei heute früh nach der Schule, in der Eile
und ohne sich zu verabschieden, mit der Bahn nach Graz gefahren, um
sich beeidigen zu lassen (thatsächlich). Patient klagt Schwindel. Kopf-
weh, greift öfter nach dem Kopf, die Apperception ist etwas erschwert.
die Miene verwirrt, das Bewusstsein getrübt.
Patient ist mittelgross, schlecht genährt, fieberlos (36,8 1, die Gegend
der grossen Fontanelle ist etwas eingesattelt, die linke Pupille ist etwa-
6 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
erweitert, der Gang leicht schwankend, der rechte Mundwinkel paretisch,
die Lippen und Hände zittern etwas. Vegetativ kein Befund. Patient
ist congestiv; Potus wird in Abrede gestellt. Die Extremitäten sind
kühl, Patient klagt über Kälte der Füsse.
Patient bekommt Bäder, worauf er gut schläft, und die Congestiv-
erscheinungen und motorischen Störungen sich verlieren. Er ist ruhig,
wundert sich nur, dass man ihn nicht auf seinem Posten lässt, lebt
ganz in seinem Wahn, beschäftigt sich tagüber mit der Tagesordnung
für die nächste Landeslehrerconferenz.
Am 18. April nach guter Nacht ist er lucid, begreift nicht, wie er zu
solchen unsinnigen Ideen kam. Es kommt ihm vor, wie wenn er aus
einem Traume erwacht wäre. Er weiss nicht, wie und wann er her-
gekommen. Er erinnert sich nur seiner Abreise. Von da ab fehlt
jegliche Erinnerung bis zur Aufnahme auf der Klinik, von diesem Zeit-
punkt an hat er eine nur ganz summarische Erinnerung. Patient ist
peinlich berührt vom Vorgefallenen, fürchtet für seine Stellung, lässt
sich jedoch beruhigen.
Patient stellt erbliche Anlage zu Nervenleiden, frühere Krankheiten,
speciell Epilepsie und Potus in Abrede.
Im Herbst 1880 habe er nach grossen Anstrengungen im Beruf
begonnen, sich unwohl zu fühlen. Er habe sich matt, erschöpft gefühlt,
nicht mehr so leicht gearbeitet, sein Gedächtniss sei nicht mehr so
frisch gewesen. Er habe an zunehmendem Kopfdruck gelitten, sich
über Alles gleich aufgeregt. Im "Winter habe er viel Sorge durch
Erkrankungen seiner Kinder gehabt, durch Nachtwachen an ihrem Bett
den nöthigen Schlaf vielfach entbehrt. Sein Schlaf sei von Weihnachten
ab schlecht geworden , unerquicklich. Er sei oft über schweren Träumen
aufgeschreckt und habe sich dann nicht gleich in der Wirklichkeit zurecht
finden können. Etwa 14 Tage vor dem Ausbruch der Krankheit habe
er sich unter Steigerung des Kopfdrucks höchst unbehaglich, aufgeregt
ängstlich gefühlt. Er habe es im Zimmer nicht mehr ausgehalten es
habe ihn förmlich getrieben, im Freien herum zu laufen, die °anze
Welt sei ihm zu eng gewesen. Etwa 10 Tage vor seiner trän sitori sehen
Psychose habe er einen „Ohnmachtanfall" erlitten mit völliger Bewusst-
losigkeit. Die letzten 3 Nächte vor dem Ausbruch habe er schlaflos
zugebracht, heftiges Kopfweh und das peinliche Vorgefühl, irrsinnig zu
werden, gehabt.
Patient erholt sich in der Folge bei gutem Schlaf und roborirender
Behandlung rasch. Ab und zu klagt er noch Schwindelgefühl und
bietet leichtes Zittern von Zunge und Händen. Am 1. Mai 1881 wird
Patient genesen entlassen.
Erster Aufsatz. 7
Er fühlte sich ganz wohl, nahm am 6. Mai seinen Beruf wieder auf,
ohne einen angerathenen Urlaub zu nehmen. Bald verspürte er wieder
Abgespanntheit und Abgeschlagenheit. Die Herbstferien machten Alles
wieder gut. Im November kamen wieder neurasthenische Beschwerden —
Mattigkeit, Abgeschlagenheit, Gedächtnissstumpfheit, Kopfdruck, ängst-
liche Beklemmung, besonders nach dem Unterricht, Schweissausbruch
selbst nach geringer körperlicher und geistiger Thätigkeit. Er bekam
im Laufe des Winters Angstanfälle von 10' Dauer, eingeleitet von
ascendirenden Hitzegefühlen und begleitet von Schweisa und Herz-
klopfen. Seine Träume drehten sich um Brand, Feuer, er schreckte oft
auf, fühlte den Kopf eingenommen, wie wenn er einen „ewigeu Rausch"
hätte. Er wurde vergesslich, zerstreut, fand Dienstarten unerledigt, die
er längst erledigt glaubte, warf einen seiner Schuleataloge ins Feuer,
ohne hinterher zu wissen wie, wann, warum? Sein Dienst wurde ihm
immer beschwerlicher, er ertrug nicht mehr die gewohnten massigen
Quantität!'!] Wein. Auch bei Tag stellten sich Angstanfälle ein, zuweilen
eingeleitet von Funken- Farbensehen. Er fühlte sieb nach solchen immer
ganz abgeschlagen, hatte heftigen Kopfdruck. Vom 4. Januar USS2 an
hatte er mehrere Ohnmachtanfälle. In einem derselben wurden klonische
Krämpfe im rechten Arm und Hein beobachtet. Niemals Stupor oder Delir.
Vom L3. Januar ab blieben diese Anlalle aus. Als ich Patient am 10. Juni
1886 das letztemal sah, bot er noch leicht neurasthenische I iesch werden,
Beobachtung 3. Dämmer-Traumzustand mit Delirien der Standes-
erhöhung.
Am II. August 1882 wurde Franz II. , 41 Jahre, Stationsaufseher an
der Hahn aus M. auf die (irazer psychiatrische Klinik gebracht, da er
am L2. plötzlich wahnsinnig geworden sei, sich für den Stationschei
halte, den wirklichen Smtionschei von seinem Posten verdrängen wolle
und über dessen Weigerung ihn bedrohte.
Patient geht verwirrt, stieren Blicks, congestir, zornig erregt zu. ver-
langt vor die Bahndirection geführt zu werden, da er Stationschei sei.
Fi- gehöre nicht daher, weiss aber nicht, dass er im Spital i-t. Er
fühle sich ganz gesund, nur mit Recht zornig darüber, da-- sein froherer
Vorgesetzter ihm nicht den Dienst übergeben wolle. Er mache ihn
verantwortlich für alles Unheil, das daraus entstehen konnte. Patient,
ein kleiner, schlecht genährter, schwächlicher Mann, giebt seine Gene-
ralien im Uehrigen richtig an. Er ist fieberlos, ohne nachweisbare
Krankheit, von normalem Schädel, ohne Degenerationszeichen, sichtlich
erschöpft, vermag sich kaum auf den Beineu zu erhalten. Der Puls
ist klein, leicht unterdrückbar, frequent, die Hände zittern etwa-.
Patient schläft bald ein, schläft mit Unterbrechungen in der Nacht aui
8 Transitoriscb.es Irresein bei Neurasthenie.
den 15., ist am 15. zeitlich und örtlich orientirt, mimisch ziemlich frei.
Er hält am Wahn fest, Stationschef zu sein, ist ärgerlich darüber, dass
man ihn hier zurückhalte, und dass der frühere Beamte ihm nicht den
Dienst übergebe. Vor einigen Tagen habe er das bezügliche Decret,
vollkommen legal verfasst, daheim im Kasten gefunden. Sein Name
stand deutlich darin, und der Passus, er müsse seine Stelle sofort
antreten. Er habe nicht weiter darüber nachgedacht, wie das Decret
in seinen Kasten gekommen sei, und dass es ihm nicht auf dem Dienst-
weg gestellt wurde. Ohne seine Familie von seiner Beförderung zu
verständigen, sei er aufs Bureau gegangen, um den Dienst anzutreten.
Da habe ihn der alte Stationschef, der ihn immer schlecht behandelt,
ihm arg auf den Dienst gepasst und ihn oft mit Gageabzügen bestraft
habe, grob angefahren und ihm die Thüre gewiesen. Tief gekränkt sei
er fort, habe sich bei Bekannten beklagt, sei dann wieder zum Stations-
chef, der aber immer noch nicht den Platz geräumt hatte. Er war
darüber sehr aufgeregt, rathlos. Er ging heim, erzählte alles der Frau,
diese erklärte ihn für einen Narren. Bald darauf kam der Bahnarzt,
der noch nichts von der Standeserhöhung wusste, und suchte ihn zu
beruhigen. Von nun an hat er nur höchst summarische Erinnerung.
Er weiss, dass er die Nacht auf den 13. schlaflos zubrachte, ärgerlich,
erregt und ängstlich war, vor neuen Vexationen Seitens seines früheren
Chefs sich fürchtete, sich ganz krank vor Kränkung und Aufregung
fühlte, nicht essen noch trinken mochte, am 13. von einem Bahnarbeiter
spazieren geführt, am 14. nach Graz gebracht wurde, wo ihm Alles
ganz fremd erschien und er sich nicht auskannte. Freilich habe er
auch über seine Lage nicht weiter nachgedacht.
Am 15. ist Patient ruhig, aber in seinem Wahn befangen, den er
damit motivirt, dass die Direction wahrscheinlich von seiner schlechten
Behandlung und Nothlage erfahren habe und endlich Gerechtigkeit
walten liess.
Er sei nämlich seit 21/2 Jahren beim angestrengten Telegraphen-
und verantwortlichen Bahndienst, habe je 2 Tage 11 Stunden, den 3.
24 Stunden Arbeitszeit und nur den 4. als Buhetag, kleine Gage, grosse
Familie, sei beständig in Nahrungssorgen, lebe schlecht, sei in letzter
Zeit in Schulden gerathen und habe obendrein einen ihm aufsässigen
Chef und übelwollende Collegen.
Anfangs sei Alles gut gegangen. Seit einiger Zeit habe er sich
aber matt und erschöpft gefühlt, sei vergesslich geworden, reizbar, oft
ganz begriffsstutzig, so dass er kaum mehr mit der verantwortlichen
Arbeit vorwärts kam, und zu Allem habe ihn die Sorge gequält, dass
er Verstösse mache und Geldstrafen dafür erleide. In letzter Zeit habe
Erster Aufsatz. 9
er sich besonders müde und erschöpft gefühlt, oft kaum Zeit zum Essen
und Schlafen gehabt, zudem sei auch der Schlaf nicht erquicklich gewesen.
Am 10., nach gut durchschlafener Nacht, ist Patient ruhig, anscheinend
geordnet, fragt nach seiner Familie und bittet mit verlegener Miene,
ihn nach Hause zu lassen, er möchte doch nachschauen, ob es mit
seiner Ernennung richtig sei. Patient fängt an Correctur anzunehmen,
und Nachmittags meldet er freudig, dass seine „fixe Idee" von ihm
i.r<'\vichen sei. In der Nacht auf den 12. habe er geträumt, er sei
Stütionschef geworden und das bezügliche Decret liege in seinem Kasten.
Er sei freudigt bewegt aufgestanden, habe nicht weiter sich vergewissert.
(Unfähigkeit des erschöpften Gehirns, Traumerlebnisse zu corrigirenli
Hätte er es gothan, so wäre es nicht BO weit mit ihm gekommen. Der
freundliche Zuspruch der Aerzte hier, ihre Einwendungen hätten ihn
stutzig gemacht und ihn zur Kritik aufgefordert Da sei es ihm end-
lich heute wie Schuppen von den Augen gefallen. Patient stellt erb-
liche Veranlagung, frühere Krankheiten, Potus in Abrede. Für Epilepsie
finden sich auch nicht die leisesten Verdaohtgrttnde.
Patient macht diese Mittheilungen kl;ir and besonnen, aber er ist
sichtlich noch erschöpft, hat einige Muhe seine Gedanken zu sammeln
und zum Ausdruck zu bringen. I'ntor gutem Schlaf und reichlicher
Krnährung verliert sich diees Symptom eines erschöpften (lehirns voll-
kommen, und am 20. August verlässt er genesen das Spital. Obwohl
ihn daheim die alte Lebonsnoth traf und er seinen Dienst verlor, blieb
er psychisch gesund bis zum April 1883, wo er mit den Symptomen
eines Delirium alcoholicum der Klinik wieder zugeführt wurde. Der
Unglückliche hatte in der letzten Zeit, um Gram. Sorge und Hunger
zu übertäuben, sich dem Sehnapsgenuss ergeben. Kin Aufenthalt von
11 Tagen im Spital stellte ihn wieder her,
Beobachtung 4. Stuporartiger Dämmerzustand.
Heinrich St., 30 Jahre, ledig, Lehrer, fand am 29. .Januar 18S2
Aufnahme auf der (irazer psychiatrischen Klinik. Patient, aus gesunder
Familie, ausgenommen ein seit 15 Jahren bestehendes, ausgebreitete
Eczem und einen schweren Typhus 1870 immer gesund, von streng
solider Lebensweise, von heiterem Temperament, ehrenwerthem Character,
guter Begabung, seit S Jahren Volksschullehrer, hatte seit 3 Jahren
sich geistig sehr angestrengt und viele unverdiente Kränkungen erfahren.
l'ntci Anderem hatte die klerikale Partei den freisinnigen Mann ver-
folgt, ihn denuncirt. er halte die Jugend nicht zur Religion an und habe
ein Schulmadchen in ananständiger Weise gezüchtigt obwohl bezüg-
liche üisciplinaruntersuehuugen seine Schuldlosigkeit glänzend darthaten,
«rar 8t gleichwohl doch gemütblich sehr erregt Er klagte wiederholt
10 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
in den letzten 2 Jahren, dass er in diesem beständigen Kampf gegen
Missgunst, Feindseligkeit und Dummheit sich geistig und körperlich auf-
reibe, alle Lust zum Beruf verliere, sich oft zum Unterricht zwingen
müsse. Seit August 1881 war Patient nahezu schlaflos geworden. Er
vertrieb sich die schlaflosen Nächte mit Studium, literarischer Thätig-
keit, fühlte sich matt, müde, oft ganz erschöpft, leistungsunfähig, fühlte
Kopfdruck, Zucken in den Unterextremitäten, Sensationen, als ob mit
einer Bürste ihm unter die Beine gefahren werde, litt an Ohrensausen,
hatte farbige vibrirende Kreise im Sehfeld, die die Gestalt änderten und
sich in bizarre ornamentale Figuren verzogen. Ende November 1881
war die Disciplinaruntersuchung wegen des Schulmädchens zu Ende.
Sie endete mit einer öffentlichen Abbitte seitens der Mutter des Mädchens,
welche dieses infame Gerücht ausgestreut hatte. Das genügte seinem
verletzten Ehrgefühl nicht. Es ekelte ihm vor solchen Menschen, er
glaubte, seine Existenz nicht mehr ertragen zu können, und nachdem
er alle seine Angelegenheiten geordnet, verliess er am 15. December
ohne Urlaub, blos mit Hinterlassung eines Briefs, in welchem stand, er
reise ab, sein Domicil. Er weiss noch, dass er bis Brück fuhr, von da
nach St. M. zu Fuss ging. Weiter hat er aus diesem eigenthümlichen
Dämmerzustand keine Reiseeindrücke. Er dämmerte 3 Tage in Ober-
steier herum, kam nach Graz zurück, sass einige Zeit traumhaft verloren
im Stadtpark, erschien dann stuporartig beim Bruder, sprachlos, stier
vor sich hinschauend. Am folgenden Tag war er lucid, jedoch matt,
abgeschlagen, klagte Kopf druck, Unfähigkeit zum Denken und wusste
nichts von den Motiven und Erlebnissen seiner Reise. Man brachte ihn
zur Mutter aufs Land. Er erholte sich etwas, bot geistig nichts Auf-
fälliges, ausser leichter Erschöpfung und gereizter Stimmung über seine
Schicksale als Lehrer. Am 4. Januar 1882 machte er einen Spazier-
gang mit seiner Schwester. Plötzlich sagte er zu dieser: „jetzt werde
ich dich erschrecken" Er lief ihr davon, lief 8 Stunden weit nach
Graz, bestieg dort die Eisenbahn mit der unbestimmten Absicht, nach
Wien zum Unterrichtsminister zu gehen, dort Beschwerde über die
Schulverhältnisse zu führen und um Versetzung zu bitten. Wann diese
Idee unterwegs in ihm aufdämmerte, weiss er nicht. Er hat nur höchst
summarische Erinnerungen von dieser Reise, unter Anderem, dass er zu
Fuss über den Sömmering ging, in Wien angekommen einen lichten
Moment hatte, das Unsinnige seines Vorhabens einsah und erkannte,
dass er in seinen defecten Kleidern nicht ins Ministerium gehen könne.
Er sei nun planlos in einigen Gassen in Wien herumgelaufen, habe sich
zu Fuss wieder auf den Rückweg nach Graz begeben. Von dieser Rück-
reise ist ihm nur erinnerlich , dass er einmal von Gensdarmen angehalten
Erster Aufsatz. 11
dann aber wieder losgelassen worden sei. Am 21. Januar 1882 kam
er stuporös beim Bruder an. ganz wie das erstemal sprachlos und
stier vor sich hinschauend. Er schlief lange und tief in Folge seiner
Erschöpfung, stierte unter Tags vor sich hin, kam nach 3 Tagen wieder
zu sich, wusste sich seine Reise nicht zu erklären.
Vom 26. Januar ab fing Patient wieder an schlecht zu schlafen. Am
28. wurde er verstört, drängte wieder motivlos fort. Als der Bruder,
um ihn am Fortgehen zu verhindern, ihm die Kleider wegnahm, wurde
er zornig, gereizt. Am 29., bei der Aufnahme, ist Patient in einem
Dämmerzustand. Er ist über seine Lage nicht orientirt. giebt einige
anamnestische Details, wird aber bald psychisch so erschöpft, dasa er
schwer auffassl and nur mühsam die Worte findet. Im Hintergrund
grosse Gereiztheit, bald herrisch barsches hochfahrendes, bald kindisch
weinerliches, von inneren Vorgängen absorbirtes Wesen
Patient ist gross, schlank, in der Ernährung reducirt, ohne Degene-
rationszeichen, ohne Organkrankheit, fieberlos, ron blasser Gesichtsfarbe,
ohne motorische oder sensible hinetion-^torungen. Matter, müder moroser
Gesichtsausdruck, schlaue Haltung. Psychische und körperliche Pro-
ätration Schlaflose Nicht,.. Am 1. Februar wird Patient lucid, klagt,
das- er keinen Gedanken fassen keime, ganz stumpfsinnig sei, eine eigen-
tümliche Leere im Kopf habe, einen Druck im Kopl verspüre. Er ist
darüber \erslimml. gereizt
Schlafmittel versagen. Durchleitung galvanischer Ströme durch den
Kopf (6 — 8 El. Stöhrer) bessern den Schlaf Patient erholt sich allmälig,
klagt aber noch einige Zeit über körperliche Mattigkeit und geistig
erschwerte Thötigkeit mit reaotiver Verstimmung bis zur Verzweiflung
Bewusstseinstrübungen kommen nicht mehr zur Beobachtung. Unter
Abreibungen, Halbbädern, allgemeiner Faradisation, Chinin mit Ergotin,
schwinden die neurasthenischen Beschwerden Epilepsie, bo -ehr dar-
nach geforscht wird, ist nicht nachweisbar. Am 28. Februar 1882 wird
Patient genesen entlassen.
Beobachtung 5. Stupor.
Herr P. . 45 Jahre, Beamter, ledig, angeblich ohne erbliche Aula-.-,
von Bandsbeinen auf nervös erregbar, solid in seiner Lebensweise, früh t
nie schwel krank, war in den letzten Jahren auf Grand von dienst-
lichen üeberanstrengungen und Widerwärtigkeiten im Dienste -ehr reiz-
bar und oft über geringfügigen Anläse erregt gewesen. In den letzten
Wochen de-- März 1881 war er dienstlich sehr angestrengt, hatte vieler
Verdruss, bekam einen Bfagencatarrh, ass sehr wenig, bekam in den
letzten Tagen einen fieberhaften Bronchialcatarrh, fühlte sich erschöpft,
nuide. Bchläfrig, matt, war zerstreut, vergass Anordnungen, die er
12 Transitoriscb.es Irresein bei Neurasthenie.
gemacht hatte, erschien moros, besorgte aber trotzdem seine Geschäfte
und legte sich nur früher als sonst zu Bett, ohne jedoch recht den
Schlaf zu finden. Am 26. März erschien er ganz zerstreut, hatte oft
momentan sonst geläufige Bewegungsanschauungen ganz verloren, so
dass er z. B. das Oeffnen einer Schachtel nicht zu Stand brachte. Am
gleichen Tag Nachmittags war er verstört, unaufmerksam, antwortete
verkehrt, dem eigenen Zug der Gedanken folgend. Er murmelte deutsche
und italienische Worte vor sich hin, darunter oft das Wort „rallentando".
Abends 6 Uhr machte Herr P. noch einen Geschäftsgang, schrieb auf
demselben ein Billet. Dasselbe ist confus durch abgebrochene Sätze,
verräth stockenden Gedankengang durch endlose Wiederholung von
Worten und artet schliesslich in ein paragraphisches Gekritzel aus. Um
7 Uhr wurde Patient auf einer Strasse aufgefunden, im Begriff sich zu
entkleiden, offenbar unter dem Gefühl des Schlafs und der Erschöpfung
und in der Meinung, er sei in seinem Schlafzimmer. Er wird erkannt
und nach Hause gebracht. Die sofortige ärztliche Beobachtung ergiebt
Stupor, bleiches, verstörtes Aussehen. Patient kann sich vor Schwäche
kaum auf den Beinen halten. Er weiss nicht, wo er sich befindet,
erkennt nicht die ihm wohlbekannte Umgebung. Patient wird zu Bett
gebracht, bleibt erschöpft liegen, schreckt aber bei dem leisesten Geräusch
zusammen. Temperatur 36,4. Puls 100, klein, leicht unterdrückbar.
Pupillen erweitert, träge reagirend. Häufig verzieht Patient krampfhaft
die Gesichtsmuskeln, besonders links. Das linke obere Augenlid hängt
etwas herab, die Zunge ist etwas belegt.
Die Nacht auf den 27. März liegt Patient ruhig und erschöpft da,
nur hie und da ächzend. Herztöne etwas dumpf aber rein, Herzfigur
normal. Keine Organerkrankung nachweisbar. Harn ohne Albumin.
Patient ist heute den 27. noch tief erschöpft, bleibt ganz unorientirt,
findet keine Worte, entbehrt der gewöhnlichsten Bewegungsanschauungen.
So findet er zuerst, als man ihm Essen bringt, den auf der Platte
liegenden Löffel nicht, greift, auf denselben aufmerksam gemacht,
zitternd daneben, weiss ihn, als man ihm denselben in die Hand giebt,
nicht zu gebrauchen, lässt sich dann ohne Widerstand die Nahrung bei-
bringen, erkennt und versteht offenbar gar nicht, was um ihn vorgeht.
Im Laufe des Vormittags wird er auf Minuteu etwas besinnlicher,
bittet, Jemand in dringenden Angelegenheiten wohin zu senden, weiss
aber nicht wohin, warum u. s. w., vergisst im nächsten Augenblicke,
was er gewollt, ersucht dann um Ruhe, er schlafe so gut, schläft that-
sächlich viel.
Die Nacht auf den 28. März schläft er tief und ruhig und erwacht
Morgens ganz lucid, mit völliger Amnesie für Alles seit dem 26. Nach-
Erster Aufsatz. 13
mittags Vorgfeallene. Patient ist psychisch noch sehr erschöpft und
ruhebedürftig. Tremor manuum. Temperatur 36. Puls 84, tard.
Acustische Hyperästhesie, die sich bald verliert. Patient weiss sich nur
zu erinnern, dass er sich am 26. sehr unwohl, erschöpft, zerstreut,
unklar in den Gedanken fühlte. Die Erschöpfungssymptome verlieren
sich bei Bettruhe, gutem Schlaf und reichlicher Nahrungsaufnahme in
den folgenden Tagen. Eine mehrwöchentliche Erholungsreise stellt die
geschwächten Kräfte wieder her und macht Patienten wieder voll-
kommen berufstüchtig. Er bleibt gesund b\< mit 55 Jahren an Carcinom
erfolgtem Tode.
Die Aetiologie der vorstehenden 5 Fälle ist durchsichtig. Es handelt
sich um unbelastete, durch Potus. Trauma, Lues u. s. w. nicht complicirte,
sicher nicht epileptische Fälle, bei welchen eine Neurasthenia cerebralis
durch geistige oder körperliche Deberanstrengungen, mehrmals auch
unter dem mitwirkenden Einfluss von Gemfithsbewegungen erworben
wurde und dem Ausbrach des transitorischen Irreseins woehen- bis
monatelang vorausging and nachfolgte.
Dieses bildet den Culminationspunkt eines cerebralen Erschöpfungs-
zustands, der auch von äusserliclien Zeichen der Inanition und Erschöpfung
begleitet ist (Tremores, subnormale Temperaturen u. s. w.), nach offenbar
den Ausschlag gobenden, den letzten Kost von Spannkräften aufzehrenden
schlaflosen Nächten acut eintritt und mit Wiederherstellung von Schlaf,
besserer Ernährung rasch seine Ausgleichung findet.
Die Erschöpfung des psychischen Organs äussert -ich in Trübungen
des Bewusstseins bis zur „Bewusstlosigkeit", mit entsprechenden Erinne-
rungsdefecten, in Ausfallserscheinungen sensorischer Funetionsgebiete
bis zur Aufhebung der Apperception (Rindenblin<lheit und Taubheit),
dem Verlust der Sprach- und Bewegungsanschauungen. Angst, einzelne
delirante Vorstellungen tauchen in diesem stellenweise bis zu Stupor
sich erstreckenden geistigen Erschöpfungszustand auf und führen zu
traumhaften verkehrten Handlungen. Interessant ist die Congruenz der
sich um Standeserhöhung drehenden Delirien in Beobachtung 2 und 3,
ferner die in Beobachtung 3 sich ergebende Entstehung der betreffenden
deliranten Idee aus einer Traumidee, der gegenüber das erschöpfte
Gehirn die nöthige Correctur nicht zu üben vermag; gerade wie dies
als dauernde Ausfallserscheinung bei dem organisch tief veränderten
Gehirn der an Dementia senilis und paralytica Leidenden gegenüber
Traumyorstellungen nicht allzu selten vorkommt. Mit der schwindenden
Asthenie kehrt im erwähnten Falle diese Correctur rasch wieder. TJeber
das, was in diesen transitorischen Dämmer-, Traum-, Stupor- und deli-
14 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
ranten Zuständen im Gehirn vor sich ging, lassen sich blos Yermuthungen
aufstellen. Die Annahme eines anämischen Hirnzustandes als Ursache
des beobachteten transitorischen Irreseins liegt nahe und findet in den
meist erweiterten und träge reagirenden Pupillen, den Symptomen theils
allgemein, theils partiell herabgesetzter bis aufgehobener Function
sensorischer, psychischer, motorischer Rindengebiete Stützen.
Auf eine vasomotorische Entstehungsweise einer solchen Hirn-
anämie, etwa durch Gefässkrampf, weisen im Allgemeinen der kleine
leicht unterdrückbare Puls der Kranken, der zudem im Fall 1 deutlich
als Krampfpuls während der Höhe des Anfalls sich darstellt, und mit
Lösung des stuporösen Angstzustands seine krampfhafte Qualität ver-
liert, hin.
Die beobachteten Bilder von transitorischem Irresein entsprechen
den bekannten des epileptischen. Trotz aller Mühe, bei den 5 Kranken
epileptische Antecedentien heraus zu examiniren, von ihrer Umgebung
zu ermitteln oder direct zu beobachten, gelang der Nachweis einer
epileptischen Neurose gleichwohl nicht, wenn auch bei einzelnen der-
selben, namentlich bei Fall 2, das Bestehen sog. epileptoider Symptome
zweifellos war.
Daraus den Schluss auf eine epileptische Bedeutung des Falls zu
ziehen, dürfte um so weniger statthaft sein, als, wie jeder Neuropathologe
weiss, epileptoide Anfälle (z. B. Angst mit Schweissausbruch , Anfälle
von Präcordialangst mit Erscheinungen des Gefässkrampfs, Bewusstseins-
störungen bis zur Ohnmacht mit einzelnen krampfhaften Erscheinungen
u. s. w.j, alltägliche Symptome bei den verschiedensten Nervenkranken,
speciell Neurasthenikern sind, wohl auf ähnlichen Bedingungen (regionäre
Circulationsstö rangen durch Gefässkrampf?), wie bei Epileptikern beruhen,
aber gleichwohl thunlichst sorgfältig von eigentlich epileptischen Insulten
zu scheiden sind. Dass sie bei Nervenkranken, speciell bei Neurasthe-
nikern, so häufig vorkommen, erklärt sich wohl aus dem labilen
Gleichgewicht vasomotorischer Centren und Bahnen und deren abnormer
Anspruchsfähigkeit auf Reize aller Art.
Gegenüber den geschilderten Fällen von transitorischem Irresein auf
Grundlage einer ne urasthenischen Neurose, erscheint es noth wendig, in
der Diagnose der epileptischen mit grösserer Vorsicht, als dies im Laufe
der letzten Jahre vielfach zu geschehen pflegte, vorzugehen und jene nur
als gesichert zu betrachten, wenn klassische oder wenigstens vertiginöse
Insulte anamnestisch oder durch die Beobachtung sich erweisen lassen.
Nicht minder erscheint es nothwendig, auch die intervallären Symptome
beim fraglichen Epileptiker, die zahlreich und in ihrer Zusammenfassung von
nicht geringem Werth sind, im Zweifelfall in die Wagschale zu werfen.
Erster Aufsatz. 15
Die Ansicht von Samt, dass schon aus dem klinischen Bild
psychischer Anfälle allein ein sicherer Schluss auf eine epileptische
Grundlage möglich sei, erscheint mir gewagt und nach den obigen
Erfahrungen, die, bis auf geringfügige Details, den bei Epileptikern vor-
kommenden psychischen Insulten congruent waren, gleichwohl aber
Nichtepileptische betrafen, nicht mehr haltbar.
Die practische Wichtigkeit einer differenriellen Diagnose zwischen
derartigen epileptischen und neurasthenisclien psychischen Insulten,
bezüglich der Prognose, Therapie und künftigen socialen Stellung des
Individuums ergiebt sich von selbst.
Eine klinische Scheidung muss hier mit allen ilitteln angestrebt
worden, wenn auch sich herausstellen sollte, dass das, was im epileptischen
und neurasthenisclien Gehirn gelegentlich eintritt iCirculationsstörungen,
(iefiisskrampf in Hirnrindegebieten >. auf deiche Weise zu Stande kommt.
Intervallär und bezüglich der Wahrscheinlichkeit einer Wiederkehr
solcher Insulte verhält sich das Gehirn de- Epileptischen und des Neur-
asthenikers jedenfalls verschieden.
Zweiter Aufsatz.*)
(1893.)
Von der gewöhnlichen Erscheinungsweise der Geistesstörung im
Sinne einer chronischen, nach Umständen Monate bis Jahre zum Ablaufe
bedürfenden Krankheit heben sich klinisch scharf peracute Psychosen
ab, die nur Stunden bis Tage dauern. Sie beruhen jedenfalls auf rasch
sich ausgleichenden Ernährungs- und Circulationsstörungen des Gehirns,
bei einer dauernd bestehenden Veranlagung oder Gehirnveränderung,
und haben demgemäss für den Klinker die Bedeutung symptomatischer
episodischer Vorgänge, deren ätiologische Begründung gesucht werden
muss. Diese Aufgabe ist wissenschaftlich und praktisch eine sehr
bedeutungsvolle. Die occasionellen Bedingungen für die Entstehung
solcher transitorischer Psychosen sind wesentlich Ernährungsstörungen
des Centralorganes durch Intoxication (Alcohol und andere toxische
Stoffe, Infectionskrankheiten u. s. w.) oder durch plötzlich eintretende
Circulationsstörung im Gehirn (vasomotorische Neurose) im Sinne des
Gefässkrampfes (Anämie) oder der Gefässlähmung (fluxionäre Hyperämie).
Der erstere Zustand kann durch den Affect des Schreckens (Stupor,
transitorische Verwirrtheit, Raptus melancholicus) direct oder auch durch
heftige reflectorische Erregung (Neuralgie — Dysphrenia neuralgica,
Delirium traumaticum etc.) hervorgerufen werden.
Der entgegengesetzte Zustand verdankt seine Entstehung nicht selten
dem Affect des Zornes, calorischen Schädlichkeiten u. s. w. und giebt
zu Erscheinungsbildern der sogenannten Mania transitoria Anlass.
Als veranlagende Bedingungen ergeben sich: organische Belastung
und neuropathische Constitution (originäres labiles Gleichgewicht der
vasomotorischen Centren, abnorme Erregbarkeit der Ganglienzellen der
Hirnrinde), erworbene Invalidität des Ceutralorgans durch Trauma capitis,
überstandene schwere Hirninsulte, bestehende Centralerkrankungen
(Alcoholismus chronicus, Lues cerebralis und andere Herdaffectionen),
initiale Psychosen, z. B. Dementia paralytica und centrale Neurosen
(Epilepsie, Hysterie u. s. w.).
*) Wiener klinische Wochenschrift 1891, No. 50.
Zweiter Aufsatz. 17
Das zur Beobachtung gelangte transitorische Irresein kann geradezu
eines Hinweis auf solche veranlagende Bedingungen darstellen, nament-
lich wenn es so specifische Symptome aufweist, wie das epileptische
und das hysterische.
"Während die Klinik das Vorkommen und typische Detail dieser
letzteren Formen schon längst genauer kennt, ist wenig darüber bekannt,
dass auch auf Grundlage einer Neurasthenie transitorische Psychose
vorkommt. Bei dieser mangelhaften Kenntniss des transitorischen nen-
rasthenischen Irreseins liegt die Gefahr nahe, dass dasselbe mit klinisch
ganz ähnlichen Erscheinungsbildern des epileptischen verwechselt werde,
ein Umstand, der bezüglich der Prognose und der Therapie, namentlich
aber hinsichtlich der künftigen socialen Stellung des Individuums ver-
hängnissvoll werden kann. Umso wichtiger erscheint es bezüglich der
dift'erentiellen Diagnose, neben dem Detail der Symptome des Anfalles
auch den intervallären, sowie den ätiologischen Bedingungen die grösste
Aufmerksamkeit zu schenken.
Beobachtung 6. Transitoriscber Angstzustand ähnlich einem petit mal.
L, 34 Jahre, Bahnwärter, gelangte am 19. November 1879 auf
der Grazer psychiatrischen Klinik zur Aufnahme. Vater war Potator
strenuus, Mutter sehr jähzornig. Fünf Geschwister sollen sehr reizbare
Nerven haben; ein Bruder starb, 1 I Tage alt. an Fraisen.
Patient ist von neuropathischer Constitution, hat neuropathisches
Auge. Sein Sohn ist an Fraisen gestorben.
Er selbst war von Kindheit auf „nervenschwach", litt viel an Kopf-
weh. Epileptische Antecedentien fehlen. Nach der Militärzeit kam er
1871 zum Bahndienste. Er diente zur Zufriedenheit, war kein Potator.
Is72 litt er einige Zeit an Febris intermittens. 1875 mehrtägiger
„Angstzustand" Der Arzt constatirte „Irresein auf epileptischer Basis",
erklärte ihn für untauglich zum Bahndienste und für gemeingefährlich.
Patient diente gleichwohl weiter und befand sich wohl bis zum Sommer 1879.
Da kamen Gemüthsbewegungen bezüglich einer Erbschaft, die ihm
streitig gemacht wurde. Er grübelte viel darüber nach, fing an schlecht
zu schlafen, appetitlos zu werden, bekam Kopfdruck, beständiges Kälte-
rieseln, fühlte sich abgeschlagen, kaum mehr fähig zum Berufe, Morgens
nach unruhiger, durch schreckhafte Träume unerquicklicher Nacht ganz
matt. Er ass immer weniger auf Grund von Anorexie und Dyspepsie,
die Pfeife Bchmeckte ihm nicht mehr, er erschien reizbar, ärgerlich,
verstimm L
Er hatte in den letzten Nächten fast gar nicht geschlafen, litt an
Kopfdruck, fühlte sich ganz matt und unbehaglich, ass fast gar nichts,
empfand vom I. November Morgens ab ängstliche Unruhe und fühlte
Kr» f ft-Ebi ii ir. .Weiten I. 2
18 Transitoriscb.es Irresein bei Neurasthenie.
sich getrieben, umher zu laufen. Gegen 5 Uhr Abends liess es ihn
nicht mehr auf dem Posten. Er ersuchte einen dienstfreien Colleges
ihn abzulösen, stellte seine Laterne an den rechten Platz, „damit kein
"Unglück geschehe" und lief, von Angst getrieben, in der Richtung
gegen seine Wohnung. Es war ihm dabei, wie wenn ihm ein Verfolger
auf den Fersen wäre. Er irrte die Nacht über herum, kam Morgens
am 5. verstört heim, ging mit der Frau zur Kirche, dann zu den Eltern,
ass dort etwas Suppe, fühlte sich darauf etwas leichter, jedoch sehr matt.
Nach zweistündigem Schlafe Steigerung der Angst. Es kam ihm
die Idee, er müsse Steuer- und Gebetbuch Jemand entgegentragen, der
ihn erlösen werde. Er lief mit den Büchern fort, kehrte aber nach
einer Viertelstunde beschämt zurück, lag nun Stunden lang ermattet
und ganz verwirrt da, entfloh gegen Mitternacht, irrte die Nacht auf
den 6. herum, kehrte im Laufe des Vormittags heim, entwich neuer-
dings, wurde eingeholt und ins Krankenhaus gebracht. Er war dort
noch vier Tage ängstlich, delirirte von Umbringen, Gift in Arznei
und Essen.
Am 11. wurde er nach reichlichem Schlafe ganz lucid und gewann
volle Krankheitseinsicht.
Die Beobachtung in der Klinik ergab ausser leichter psychischer
Erschöpfung keine Symptome geistiger Abnormität mehr, wohl aber
noch solche von cerebraler Asthenie, Dyspepsie, Anämie, gesunkene
Ernährung, herabgesetzte Innervation im Gebiete des zweiten und dritten
Astes des linken Facialis. Keine Schädelabnormitäten, keine anatomischen
Degenerationszeichen.
Die Erinnerung für die fluchtartigen Episoden der Krankheit war
eine nur summarische. Patient, der seinen überstandenen Zustand als
„argen Schwindel, der ihm das Bewusstsein raubte, verbunden mit
grossem Angstgefühle" bezeichnete, erholte sich bis zum 29. November
recht befriedigend und wurde genesen entlassen. Das Gutachten schloss
Epilepsie aus, diagnosticirte den Fall als transitoriscb.es neurasthenisches
L-resein, erklärte einen Rückfall für unwahrscheinlich. Patient wurde
wieder in Dienst gestellt und blieb gesund.
Beobachtung 7. Transitorischer Angstzustand mit Delirium.
Herr F., 25 Jahre, aus schwer belasteter Familie (Vater leidet an
Folie circiüaire), Militär, seit mehreren Jahren in Folge von Mastur-
bation an sexueller Neurasthenie leidend, seit einigen Monaten von
Beschwerden im Sinne allgemeiner, besonders cerebraler Neurasthenie
(Kopfdruck, geistige Hemmung, Begriffsstutzigkeit, Gedächtnissschwäche,
unruhiger, unerquicklicher Schlaf u. s. w.) gequält, hatte am 6. und
7. October 1880 sich einer für sein Lebensschicksal entscheidenden
Zweiter Aufsatz. 19
Prüfung unterzogen. Er war schlecht vorbereitet, zitterte vor dem
Ausgange, hatte überdies Sorgen wegen drückender Schulden. Schon
während der Prüfungstage hatte er sich ganz matt und im Kopfe confus
gefühlt. Er half sich mit übermässigem Trinken von schwarzem Kaffee,
um arbeiten zu können, bestand die Prüfung nicht, war darüber sehr
verstimmt, schlief die folgenden Tage fast gar nicht. Am 10. October
wurde er ängstlich, verwirrt, delirant. Man schickte ihn zu den Eltern
heim. Unterwegs meinte er, er sei in einem Hofzuge, man halte ihn
für einen Mörder, wolle ihn mit Stricken einfangen. Er wähnte, er sei
der Sohn eines 1849 hingerichteten Hochverräthers, Hielt den ihn
begleitenden Officier für den Kaiser. Er entfloh seinem Begleiter, irrte
planlos herum, wurde von der Gensdarmerie aufgegriffen.
Am 12. October sah ich ihn. Er war noch leicht verwirrt, erschöpft,
zeitlich und örtlich nicht orientirt. Am 13. war er lucid, hatte nur
ganz summarische Erinnerung für die Zeit seines Deliriums.
Als das Delirium kam, sei ihm so eigeuthümlieh geworden. Es
war ihm, als ob man ihm im Kaffeehause Schlechtes in den Kaffee
gethan, wenigstens schmeckte er *o eigentümlich und roch ganz sonderbar.
Patient bot in der Folge massenhafte Erscheinungen im Sinne der
Neurasthenie, genäse allmälig in einer Wasserheilanstalt. Keine Degene-
ratiiinszeichen, keine epileptischen Antecedentien.
Beobachtung 8. Transitorische ängstliche Verwirrtheit
Herr Z., 35 Jahre, Stationsvorstand der ...Eisenbahn, stammt von
gesunden Eltern. Eine Schwester starb durch Suicidium in einer Lauta-
üonsmelancholie,
Z. war früher immer gesund, seit 1872 im Bahndienste, seit 1873
verheirathet. Schlechte Ehe durch unverträglichen Charakter der Frau,
die L884 davonging, das einzige Kind mitnehmend. Dadurch viele
<ö niüthsbewegungen. Schwerer, verantwortlicher Dienst, ungenügende
Schlafzeit.
Seit Jahren schlechter Schlaf, oft gestört durch Aufschrecken und
Herzklopfen. Seit geraumer Zeit grosse gemüthliche Reizbarkeit, seit
einem Jahre neurasthenische Beschwerden — Kopfdruck, rasche, geistige
und körperliche Ermüdung, grosse Emotivität, Dyspepsie, Bulimie
wechselnd mit Anorexie, Herzklopfen, Congestionen zum Kopfe u. s. w.|
und Unlust zum Berufe, der nur aus Pflichtgefühl, jedoch pünktlich
besorgt wurde. Massiger Bierpotus.
Am 13. Juli 1885, nach angestrengter Tagesarbeit und grosser Hitze,
hatte sich Patient an den Honoratiorentisch gesetzt und 2 — 3 Glas Biet
getrunken. Gegen 7 Uhr wurde ihm plötzlich eigenthümlich bang, wie
wenn er verfolgt würde.
20 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Er weiss nur noch, dass er seinen Ueberzieher begehrte und den-
selben weiss angestrichen haben wollte. Von da ab Amnesie bis 11 Uhr
Abends, wo man ihn in den Zug setzte und nach Graz brachte. Da
kam er plötzlich wieder zu sich und fühlte sich ganz matt.
Patient war während der vier Stunden seiner Geistesabwesenheit
schreckhaft verstört gewesen, blass im Gesichte, habe die Umgebung
verkannt, ganz verwirrt vor sich hingesprochen, öfter davonzulaufen
versucht.
Auf der Reise nach Graz war er noch etwas dämmerhaft, bei der
Ankunft auf der Klinik (14. Juli Früh) ganz lucid. Er klagte grosse
Müdigkeit, Kopfdruck, schlief unruhig, hatte schreckhafte Träume vom
Irrenhaus, Liegen im Sarge, Känguruhs, die ihn anschnaubten.
Kräftiger Mann, Schädel regelmässig, vegetative Organe ohne Befund.
Keine epileptischen Antecedentien. Aetiologisch erscheint nicht
unwichtig Abusus nicot. (8 — 10 Virginiacigarren täglich). Unter Hydro-
therapie und allgemeiner Faradisation Schwinden der neurasthenischen
Beschwerden.
Patient wurde nach 14 Tagen genesen entlassen und soll gesund
gebheben sein.
Dritter Aufsatz.
Neue Erfahrungen über Vesania transitoria bei Neurastbenischen.
(1896.)
Beobachtung 9.*) Dämmerzustand. Delirium der Standeserhöhung.
N., Geschäftsdiener, 20 Jahre alt, aufgenommen 16. Juli 1893
(Journ.-Nr. 13503), stammt von sehr neuropathischer, zu Melancholie
geneigter Muttor. Eine Schwester litt an Chorea und ist geistesschwach,
2 weitere Geschwister sind gesund.
Patient hat nie an Fraisen oder anderen Kinderkrankheiten gelitten,
ausser Morbilli mit 6 Jahren keine Bchweren Krankheiten durchgemacht.
Kr war nicht besonders begabt, kam in der Realschule nicht fort, war
von jeher leicht erregbar, errüthete leicht, zitterte bei geringer Auf-
regung, war alcoholintolerant, kein Potator, sexuell erregbar und bedürftig,
kein Masturbant, etwa ein Jahr vor seiner Erkrankung abusiv in Venere.
in seiner letzten Stelle war er überangestrcngt, musste täglich bis
1 Uhr Früh, arbeiten, litt seit einiger Zeit an oft heftigem Kopfdruck.
Am 16. Juli hatte Patient wie gewöhnlich gearbeitet, nichts getrunken.
Als er Mittags 12 Uhr zum Essen heimging, hatte er besondre luftigen
Kopfdruck. Er weiss noch, dass er sich zu Tisch setzte — von da ab
bis 21/.: Uhr Nachmittags, , wo man ihn weckte und einem Arzt vor-
stellte, besteht eine Lücke in seiner Erinnerung. Die Umgebung ergänzt
diese Lücke dahin, dass Patient unauffällig heimkam, zu Tisch ging,
als das Essen gebracht wurde, es von sich schob und erklärte, das sei
für ihn zu schlecht, er sei ein Graf. Darauf sei er aus Fenster gegangen,
um nach einem Wagen zu sehen, der auf ihn warte. Er verhielt sich
ganz ruhig, kannte die Angehörigen, griff sich unter Aeusserungen von
Schmerz an den Kopf, legte sich dann zu Bett und schlief, bis man
ihn aufweckte.
Erwacht war Patient ganz lucid. wusste nichts vom Vorgefallenen,
klagte über starken Kopfdruck, der erst Abends im Spital aufhörte.
*) Beobachtungen 9 -12 aus .Wiener medicinische Presse" lS0<i, Xr. 1.
22 Transitorisckcs Irresein bei Neurasthenie.
Auf der Klinik kam er Nachmittags ganz geordnet an, konnte nicht
begreifen, wie eine solche Krankheit über ihn gekommen sei.
Schädel 55 Cm. Umfang, im Stirnbein etwas schmal, abnorm grosse
Ohrmuscheln. Patellarreflex sehr lebhaft, Pupillen gleich, mittelweit,
prompt reagirend. Leichter Tremor der Finger.
Vegetative Organe ohne Befund.
Nach gut durchschlafener Nacht am 17. Juli volles Wohlbefinden.
Genesen entlassen am 20. Juli und seither gesund geblieben.
Beobachtung 10. Dämmerzustand. Delirium der Standeserhöhung.
H. Josef, Journ.-Nr. 6764, 18 Jahre alt, Schüler, wurde am 11. April
1893 auf der psychiatrischen Klinik im Wiener allgemeinen Kranken-
hause aufgenommen. Patient stammt aus gesunder Familie, hatte keine
Convulsionen in der Kindheit, machte ausser Morbilli mit 4 Jahren
keine schwere Krankheit durch, soll keine neuropathische Constitution
geboten haben, ein ruhiger, fleissiger Schüler gewesen sein.
Seit Anfang April durch übereifriges Studium angestrengt, hatte er
in den letzten Nächten vor dem 10. April fast gar nicht geschlafen.
In der Schule war er durch verstimmtes hinbrütendes Wesen auf-
gefallen, daheim dadurch, dass er wie in Gedanken verloren war, öfter
den Faden des Gesprächs verlor.
Auch sprach er einmal von einer schlechten Qualification in der Schule.
Am 10. ging er wie gewöhnlich zum Unterricht um 2 Uhr
Nachmittags.
Gegen Abend gab Patient eine Depesche in Pressbaum an seine
Eltern in Wien auf, in welcher er auf einen hinterlassenen Zettel auf-
merksam machte. Dieser Zettel wurde gefunden und enthielt die Notiz,
man möge ihm verzeihen, er habe mit einem Professor einen Zwist
gehabt. Auf dem Telegraphenamte war Patient durch sein verstörtes
Wesen aufgefallen.
La später Nachtstunde wurde Patient planlos in den Strassen von
Wien herumdämmernd aufgegriffen. Er brachte die Nacht am Commissariat
zu, erschien am 11. früh dem Polizeiarzt blass, zeitlich und örtlich
sehr mangelhaft orientirt. Er wusste nicht anzugeben, wo er sich seit
dem 10. Nachmittags herumgetrieben habe, behauptete, er sei der Kaiser
von China , seit 8 Tagen auf der Reise zum Kaiser von Oesterreich, um
ihm über die Zustände in China zu berichten. *Er hat in China ein
Gesetz erlassen, wonach die Gymnasialprofessoren den Schülern Fünfer
(schlechte Noten) nur mit Zustimmung der Schüler geben dürfen.
In solchem Zustande, verwirrt, blass, erschöpft, wurde Patient am
11. Vormittags auf die Klinik gebracht. Er schlief bald ein, schlief bis
12. April. Morgens erwacht, ist er zeitlich und örtlich vollkommen
Neue Erfahrungen. 23
orientirt, lucid. giebt geordnet Anamnese, hat summarische, durch Nach-
hilfe an Umfang und Detail gewinnende Erinnerung.
Er habe in den letzten 14 Tagen auf das Maturitätsexamen über-
mässig studirt, sei ganz abgespannt, von Kopfschmerz und Augen-
brennen geplagt gewesen, immer aufgeregter und verwirrter geworden,
so dass seine Mitschüler sagten, „Du gehst wie ein Verrückter' Eine
schlechte Note habe ihm den Rest gegeben, ihn sehr aufgeregt. Am
10. Nachmittags habe es ihn getrieben, sich auf einem Spaziergang zu
erholen. Kr habe noch einen beruhigenden Zettel an seine Angehörigen
geschrieben, sei planlos fort. Er sei ganz in Gedanken verloren, nur
mit der Idee beschäftigt, die schlechte Note zu repariren. herumgelaufen.
Er erinnert sich summarisch seiner mehr als 8 stündigen Wanderung im
Wiener Wald. Unterwegs sei ihm der Gedanke gekommen, Kaiser von
China zu sein und habe er sich sofort dafür gehalten. Als er auf die
Klinik kam, habe er noch Hämmern und Stechen in den Schläfen ver-
spürt und ein Gefühl, als ob sich das Gehirn von dem Schädeldache loslöse.
Patient hat normalen Schädel (Cf. •">"> Cm), gesteigerten Patellar-
reflex, grosses Ruhe- und Schlafbedürfniss. Am 12. April hat er noch
Mühe, sich an die Erlebnisse des früheren Lebens zu erinnern. Er
erholte sieh rasch, wurde am 18. April genesen entlassen und erfreute
sieh bei einem Besuche auf der Klinik am 27. April 1893 des besten
Wohlseins.
Meobachtung 1 1 TraumzuBtand.
I\\, 15 Jahre alt, Schüler, wurde am 20. December 1*9) der
psychiatrischen Klinik in Wien übergeben.
Am 18. December war er aus seinem Domicil in der Nahe von
Wien fort und hatte einen Zettel hinterlassen, „ich bin nach (i. gegangen,
am den Anzug zu holen". Dieser an die Adresse der Mutter gelichtete
Zettel war ganz unverständlich.
K. war auch gar nicht nach G. gegangen, sondern in Wien herum-
gedämmert, wo ihn am 20. Vormittags ein Bekannter trat. Diesem
erklärte K. auf sein Befragen, was er denn treibe, er sei hier in Paris,
im Theater, sei mit der Flugmaschine hergefahren. Da K. so eigen-
thümlich dreinschaute und offenbar geistig gestört war, wurde er der
Polizei zugeführt und von dieser der Klinik überstellt.
K. betritt dieselbe in ganz traumhafter Verfassung, örtlich und zeitlich
vollkommen desorientirt Er ist heiterer Stimmung, behauptet im Theater
in Paris zu sein, erklärt, er sei ein Mädchen, heisse Hans Veronika,
trommelt ab und zu mit den Fingern auf den Tisch, in der Meinung,
spiele Ciavier, tritt mit den Füssen auf den Verbindungsbalken der
fischfüsse, am Orgel zu spielen, isst Bmd und hält es für Chocolade.
24 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Der ihn untersuchende Arzt scheint ihm ein Schauspieler. Er ist mit
der Flugm aschine, die so rrrr gegangen, nach Paris gekommen, es mögen
schon einige Jahre her sein. Er lauscht hallucinatorischer Musik, fragt,
ob das Theater bald anfange, hält einen Krankenwärter für eine auf-
gezogene Puppe. Seine Eltern kenne er nicht.
Er erinnert sich nur dunkel eines Bruders, der Gustav heisse-
Das Stück, welches im Theater aufgeführt wird, heisst „Der Gustav ist
frei geworden"
Patient isst und schläft ausgiebig, bietet körperlich ausser weiten
Pupillen und gesteigerten Patellarreflexen nichts Auffälliges, äussert ab
und zu schmerzhaften Kopfdruck, verbleibt in seinem Traumzustande
bis zum 25., wo er plötzlich lucid wird, sich im Spital zurecht findet
und über heftigen Kopfdruck klagt.
Er hat eine vollständige Erinnerungslücke für die Zeit vom
18. — 25. December, berichtet, dass er seit dem 30. November, an
welchem Tage ein geliebter Bruder wegen des Verdachtes einer Unter-
schlagung im Amt verhaftet wurde, sich sehr kränkte, wenig schlief,
sich zunehmend matt, leidend fühlte, viel an Kopfdruck litt und in den
letzten Tagen vor dem 18. December oft ganz benommen im Kopfe war.
Tor dem 30. November war er immer wohl gewesen, hatte nie in
potu excedirt, auch nicht masturbirt. Er stammt aus ganz gesunder
Familie, war aber wenig begabt, hatte geringe Schulerfolge und soll
bis zum 10. Jahre gestottert haben. Er hat eine Insuff. valvul. mitralis
von unbekannter Entstehung.
Am 30. December 1894 wurde Patient genesen entlassen.
Beobachtung 12. Traumzustand. Teufelsvisionen.
Am 18. October 1893 wurde Herr X., Beamter, am Südbahnhof
in "Wien wegen bedenklichen Geisteszustandes angehalten und auf die
psychiatrische Klinik im allgemeinen Krankenhause gebracht.
Anlass zu seiner Anhaltung war folgende Beschwerde an die
„Löbl. k. k. Polizeiinspection: Die Südbahn will mir einen Expresszug
nach Paris, woselbst ich mit dem Teufel noch heute sein soll, nicht
freiwillig beistellen und habe ich schon die verflossene ganze Nacht
darauf ohne Erfolg warten müssen. Die Löbl. k. k. Polizeiinspection
wolle mir deshalb sofort den gewünschten Eisenbahnzug zur Verfüguno-
stellen lassen. Die Kosten werden eventuell von der Gemeinde gedeckt
werden. Achtungsvollst ergebener . . ., derzeit auf der Bereisung mit
dem Teufel."
Auf der Klinik erscheint X. scheinbar lucid, ruhig, geordnet in
Wirklichkeit aber in tiefem Traumzustand, dämmerhaft, zeitlich und
örtlich ganz desorientirt, wünsch- und beschwerdelos, ganz affect- und
Neue Erfahrungen. 25
kritiklos, einsichtslos für seine Lage. Er ist gut genährt, fieberlos, hat
normalen Schädel (Cf. 590 Mm.), feinen frequenten Fingertrenior, sehr
weite, prompt reagirende Pupillen, lebhaft gesteigerte Patellarreflexe.
X. giebt seine Personalien richtig an, erzählt, dass er, unbestimmt
wann (thatsächlich am 15. October), aus seinem Wohnorte (Provinz im
Süden von Oesterreich) zu Fuss fortgegangen sei. Bis zu diesem Tage
habe er regelmässig im Bureau gearbeitet. Da habe er durchs Fenster
in den Garten geblickt und den Teufel gesehen, welcher ihm winkte,
derselbe sei ihm als schwarze zottige Bocksgestalt mit Hörnern erschienen.
Er habe sofort gemerkt, dass er diesem Folge leisten müsse. Der Teufel
ging und tanzte vor ihm her, pfiff dazu, sprach aber nichts. Ihm folgend.
sei er durch die Strassen des Ortes, dann auf die Laudstrasse gekommen,
einen oder mehrere Tage so fortgegangen, bis .schliesslich auf einer ihm
nicht mehr erinnerlichen Bahnstation der Teufel auf das Dach eines
Waggons gesprungen sei. Da sei er mitgefahren bis Wien, habe eine
nder mehrere Nächte, ohne den Teufel aus dem Auge zu verlieren, am
Südbahnhof auf einen Extrazug nach Paris gewartet, da er der Meinung
gewesen, der Teufel wolle dahin und er dürfe ihn nicht entwischen
lassen. Mit seinem Begehren abgewiesen, habe er sich an die Polizei
gewendet, dio ihn aber hieher (ins Spital i brachte. Auch hierher sei
der Teufel mitgefahren, er sehe ihn, so oft er zum Fenster blicke, auf
einem Baume, auf ihn wartend. Er möchte endlieh mit dem Teufel
nach Paris fahren. X. lässt sich belehren, dass er im Spital ist. macht
sich nichts daraus, dass er als Beamter ohne Urlaub seinen Posten ver-
lassen und sich von seiner Familie nicht verabschiedet hat. Er fühlt sich
wohl bis auf Kopfdruck. Während des ganzen Aufenthaltes an der Klinik
bis zum 27. Octobor ist Patient affectlos, mimisch verschleiert, herum-
dämmernd. Alle Kritik fehlt in diesem traumhaften Zustand. Er kümmert
sich nicht mehr um den Teufel auf dem Baume, isst und schlaft gut.
Am 20. kommt X.'s Vater. Er erkennt und begrüsst ihn, ohne jedocl
über dessen Besuch verwundert zu sein oder nach dessen Grund zu fragen.
Der Vater bringt einen von X. an seine Frau gerichteten, am 15. October
unterwegs aufgegebenen Brief des Inhalts, er müsse dem Teufel nach-
gehen, sie möge ihm zu Hilfe kommen, damit er des Teufels habhaft werde.
Patient verbleibt die folgenden Tage in seinem traumhaften Zustand,
isst, schläft befriedigend, klagt häufig über heftigen schmerzhaften Kopf-
druck. Der Tremor verliert sich, die Pupillen verengern sich etwas und
reagiren prompter.
Am 25. kommt des Patienten Frau zum Besuch. Er zeigt leichten
und flüchtigen Ausdruck der Freude, verbleibt aber im Uebrigen dämmer-
haft und sieht noch den Teufel auf dem Baume.
26 Transitorieehes Irresein bei Neurasthenie.
Am 27. October Früh nach gut durchschlafener Nacht erwachte X.
lucid, in vollem günstigen Wohlsein, über seine Lage orientirt, aber in
völliger Unkenntniss Alles dessen, was ihm seit dem Verlassen des
Bureaus am 15. October passirt war. Nur für die Tage seit dem
21. October bestehen einige lebhaft betonte Erinnerungen, z. B. der
mehrmalige Besuch des Vaters im Spital.
Für alles Andere — Keise, Vorgänge am Südbahnhof, Aufenthalt
im Spital — besteht vollständige Amnesie.
Er erinnert sich nicht einmal an die Vision des Teufels — es habe
ihm beständig vor den Augen geflimmert. X. fühlt sich vollkommen
wohl, bis auf Kopfdruck und Ohrensausen.
Aus seinen und seiner Angehörigen Mittheilungen ergiebt sich hinsicht-
lich seines Vorlebens und der Umstände seiner Erkrankung Folgendes:
X., 37 Jahre alt, ist hereditär nicht belastet, jedoch von neuropathischer
Constitution, von jeher zaghaft, leicht gekränkt. Er lebte in glück-
licher Ehe, war starker Baucher und sehr massiger Trinker.
Seit längerer Zeit war er mit Berufsgeschäften überlastet gewesen
und hatte dazu unangenehme amtliche Fersonalverhältnisse gehabt. Seit
Monaten war er unter dem Einfluss dieser Momente neurasthenisch
geworden. Er arbeitete nicht mehr so leicht wie früher, hatte eigen-
thümliche Angstgefühle bei der Arbeit, schlechten unerquicklichen Schlaf,
schwere schreckhafte Träume, fühlte sich Morgens beim Erwachen ganz
abgemattet. Auch plagten ihn Kopfdruck, Sensationen im Kopf, als ob
kein Blut darin und Alles kalt wäre.
Im Amte hatte X. in letzter Zeit öfter die Unterschrift unter aus-
gefertigten Acten vergessen, im Uebrigen aber keine Verstösse gemacht.
Bis zum 10. October war er seiner Umgebung völlig gesund
erschienen.
Von da ab hatte er fast gar nicht geschlafen, sich Nachts über
Gepolter beklagt, wie wenn ober ihm getanzt oder Stühle durcheinander-
geworfen würden. Auch hörte er bei Tage ein zirpendes Geräusch,
wie von Cicaden.
Als er das Bureau am 15. verliess, habe er sich ganz verstört im
Kopfe gefühlt. Einigen Bekannten, denen er auf der Strasse beim Fort-
gehen begegnete, erschien er äusserst wortkarg und in seinem Benehmen
auffällig. — — — Am 27. October wurde Patient genesen entlassen.
Als man ihm seine Beschwerde an die Polizei wegen des Extrazuges
nach Paris zeigte, konnte er sich vor Erstaunen nicht fassen, einen
solchen „Blödsinn" geschrieben zu haben. Er ging noch ein paar "Wochen
zur Erholung aufs Land und kehrte dann im vollen Wohlsein zu seiner
Berufsthätigkeit zurück.
Neue Erfahrungen. 27
Beobachtung 13. Dämmerzustand mit Delirium der Standeserhöhuug.
Am 6. Mai 1896 wurde G.. Lehrling, 19 Jahre, der Klinik über-
geben, da er sich als Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika
gerirt und den Kaiser von Oesterreich zu sprechen gewünscht hatte.
Patient betritt die Klinik ruhig, aber verwirrt, über Zeit und Ort
nicht orientirt. Er weiss sich zwar in Wien, identificirt sich aber mit
einem Amerikaner, copirt ziemlich gut in Haltung. Gesten und Sprache
einen solchen.
Er erklärt sich für den Präsidenten der ü. S. Wie lange er es
sei, wisse er nicht anzugeben. Auch wie und warum er nach Europa
gekommen, weiss er nicht. Sein Vorgänger im Amte habe Lincoln
geheissen. Die Aufforderung zu schreiben, unter Anderem eine Pro-
clamation an die Amerikaner, lehnt er ab, mit der Motivirung, er habe
heftiges Kopfweh.
Auf die Frage, ob er Cleveland kenne, antwortet er mit englischem
Accent und die Worte wie ein deutsch sprechender Engländer stellend :
„Cleveland, ich habe gekannt, ich bringen hier eine Zeitung von die
Präsident1'
Seinen gerade in der Klinik als Patient itransirorisehe Psychose)
weilenden Bruder verwechselt er mit einem Freunde R, Verkehr mit
der Umgebung, über die er auch gar nicht rcfleetirt, lehnt <i. ab mit
der Erklärung, der Kopf thue ihm so weh. Er ist blase, bat weite
Pupillen, gesteigerten Patellarreflex. normale Temperatur, sieht ermüdet,
erschöpft aus, hat Bedürfniss nach Schlaf, schläft die Nacht auf den
7. Mai gut, kommt Morgens am 7. zu sich, erscheint ganz lucid, hat
nur höchst summarische Erinnerung dafür, dass er nach Amerika zum
Onkel wollte, heftigen Kopfdruck hatte, fühlt sich schlaff, abgeschlagen
am ganzen Körper, auch sehr ruhebedürftig.
Patient stammt aus schwer belasteter Familie. Mutters Vater und
dessen Schwester starben in der Irrenanstalt. Mutter und 2 Schwestern
derselben leiden an Hemicranie, überdies an Hysterie. Der Vater des
Patienten war mauvais sujet, Spieler, beging Unregelmässigkeiten und
musste «regen eines Sittlichkeitsdelicts seines Amtes entsetzt werden.
I'atient war als Kind nerv'is. kränklich, vom 9. —13. Jahre sehr
der Masturbation ergeben, von da ab neurasthenisch, viel von Kopf-
druck heimgesucht. Hysterische und epileptische Antecedentien sind
nicht zu ermitteln.
In den letzten Monaten dissolute Lebensweise. Viel Verkehr in
Turfkreisen und mit Amerikanern. Schwärmerei für Amerika, Pläne, sich
dort eine Zukunft zu gründen. In den letzten Tagen vor der Erkrankung
"rosse Aufregung, da Patient im Widersprach mit seiner bisher tadel-
28 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
losen Redlichkeit, die Uhr seiner Schwester entwendet und ver-
setzt hatte.
Die Psychose war am Morgen des 6. Mai unter heftigem Kopfdruck
plötzlich eingetreten. Patient klagte in der Klinik noch durch 2 Tage
über solchen, erholte sich dann vollkommen und wurde nach einigen
weiteren Tagen genesen entlassen.
Beobachtung 14. Dämmerzustand.
J. W., 34 Jahre, verheirathet, Schriftsetzer, seit Jahren wiederholt
mit Bleikolik behaftet, angeblich unbelastet, ohne irgend welche neurotische
Antecedentien, kein Potator, wurde von seiner Frau am 20. Juni 1895 als
abgängig bei der Polizei gemeldet. Am 23. Juni früh 33/4 Uhr erschien
er bei der Wiener Bettungsgesellschaft, mit der Bitte ihn ins Irrenhaus
zu bringen. Er war lucid, geordnet, ruhig, klagte über heftige Kopf-
schmerzen, als ob man ihm das Hirn herausreissen würde und wusste
über seinen Verbleib seit dem 20. nicht das Mindeste. Der Klinik am
23. früh zugeführt, gab er an, dass er seit 1891, wesentlich wegen
pecuniärer Missstände und häuslicher Zerwürfnisse, leidend sei, sich
matt fühle, viel mit schmerzhaftem Kopfdruck geplagt sei, unruhig und
unerquicklich schlafe.
Am 18. Juni, nach einem Streit mit seiner Frau, sei er vom Hause
fort, zunächst zu Bekannten nach F., dann nach K. Am 20. Juni kehrte
er nach Wien zurück, hatte heftigen Kopfdruck. Er erinnert sich noch,
dass er etwa Nachmittags 2 Uhr aus dem Abgeordnetenhause, wo er
einer Sitzung beigewohnt hatte, fortging. Was weiter mit ihm geschah
bis zum 23. Juni früh 3 Uhr, wo ihn ein Wachmann an der Franzens-
brücke (Wien) ansprach, ob er denn sich ins Wasser stürzen wolle, davon
weiss er nicht das mindeste zu berichten. Er habe damals erkannt, dass es
mit ihm nicht richtig im Kopfe sei und sich deshalb zur Rettungs-
gesellschaft begeben. Patient ist schwächlich, schlecht genährt, blass,
hat leichten Bleisaum am Zahnfleisch, ist blass mit Stich ins Gelbliche.
Die Pupillen sind weit, die linke weiter als die rechte, beide prompt
reagirend. Patellarreflexe sehr leicht auslösbar. Ausser heftigem schmerz-
haften Kopfdruck keine Klagen.
24. Juni nach gut durchschlafener Nacht kein Kopfdruck mehr.
Psychisch normal. Patient wird nach einigen Tagen genesen bis auf
leicht neurasthenische Beschwerden entlassen.
Beobachtung 15. Dämmerzustand.
Am 9. Juli 1895 3 Uhr Nachmittags ersuchte der 46 Jahre alte
Theaterbedienstete Z. einen Wachmann in der Nähe der Rotunde im
k. k. Prater (Wien), er möge ihn zur Excellenz führen. Er müsse mit
dem Herrn wegen eines Vorschusses reden, den man ihm verweigere,
Neue Erfahrungen. 29
obwohl er mit "Weib und Kindern in Nothlage sei. Aufs Commissariat
gebracht, hält Z. den Commissar für einen Intendanten, verlangt zum
Generalintendanten geführt zu werden, glaubt sich im Theater, im Logen-
rang, hält den Wachmann, der ihn hergeführt, für den Logenmeister,
weiss nichts davon, dass er im Prater war, dass man ihn daher geführt.
Den Zweck der ärztlichen Untersuchung erkennt er nicht. Sich selbst
überlassen, starrt er vor sich hin, in Schweigen versunken.
Patient geht in gleicher Verfassung, wie auf dem Kommissariat, der
Klinik zu, kommt aber bald nach seinem Eintritt zu sich, erkennt seine
Situation, schläft einige Stunden in der Nacht auf den 10. und berichtet
geordnet und lucid am 10. früh, dass er am 9. Juli Mittags in der
Theaterkanzloi neuerdings mit einem Gesuch um einen dringend nöthigen
Gehaltsvorschuss abschlägig beschieden worden sei und dann in ver-
zweifelter Stimmung planlos herumlief. Er weiss nicht, welchen Weg
er genommen, noch überhaupt, was mit ihm von etwa 1 Uhr ab bis
Abends, wo er in dem Spital sich wiederfand, vorgegangen sei.
Er vermag auch, als man ihm alles Geschehene mittheilt, keine
bezüglichen Erinnerungen wachzurufen.
Z. ist unbelastet, frei von epileptischen oder hysterischen Ante-
cedention, auch kein Potator.
Er bezeichnet anstrengenden Beruf und drückende Familiensorgen
als die Ursachen einer seit Jahren nachweisbaren Berufsneurasthenie.
Seine Frau berichtet, dass die Familie seit Jahren mit den drückendsten
materiellen Sorgen kämpfe. Sie habe schon oft gefürchtet, dass ihr
Mann unter der Last der Sorge zusammenbreche. Seit 2 Jahren sei er
matt, ernster, mathlos, von Cephalaea gequält und schlafe schlecht Er
sei Nachts öfter aufgesprungen und habe ge>agt. •■!• müsse sich etwas
anthun, da er das finanzielle Elend der Familie nicht mehr ertragen könne.
Die letzten Nächte seien ganz schlaflos gewesen. Am 9. habe er
über heftigen Kopfdruck geklagt, sei sehr aufgeregt gewesen. Die neuer-
liche Verweigerung seiner Bitte um Gehaltsvorschuss habe ihn offenbar
ausser Band und Band gebracht.
Patient wurde am 10. auf seine Bitte entlassen, nachdem es gelungen
war, für die nächste Zeit seine finanziellen Sorgen zu beheben.
Beobachtung lf>. Dämmerzustand. Suicidversuch.
J. B., 47 Jahre, verheirathet, Tischlergehilfe, sprang in der Nacht
vom 17. auf den 18. October 1894 oberhalb Wien in die Donau, schwamm
dann wieder dem Ufer zu und begab sich in das Waclizimmer einer
Polizeiwache. Er war dort sehr deprimirt. klagte über Ruhelosigkeit,
Selbst vorwürfe, Selbstmordgedanken, Schwere im Kopf, Mattigkeit, Schlaf-
losigkeit, Gedächtnissschwäche. Er erschien zeitlich und örtlich orientirt
30 Transitoriscb.es Irresein bei Neurasthenie.
und wurde am 18. früh der psychiatrischen Klinik übergeben. Er betritt
sie vollkommen lucid, klagt über obige Beschwerden, bietet das Bild
eines typischen Zustands cerebraler Neurasthenie.
Angeblich unbelastet, ohne epileptische und hysterische Ante-
cedentien, früher kein Potator, sei er durch widrige häusliche Verhält-
nisse, Familien- und Existenzsorgen schon seit geraumer Zeit matt,
müde, vermindert leistungsfähig, habe schlecht und unerquicklich
geschlafen, Schwere und drückenden Schmerz im Kopfe verspürt.
Wegen Ausbleibens in der Fabrik sei er am 11. October 1894
entlassen worden. Subsistenzlos, in Sorgen über die Zukunft seiner
Familie, habe er Vermehrung seiner körperlichen Beschwerden verspürt,
dazu seien Selbstvorwürfe und Selbstmordgedanken bekommen. Um
seinen Gram zu übertäuben, habe er jetzt angefangen (geringe Mengen)
Schnaps zu trinken.
Am 15. October sollte er eine Arbeit antreten. Er weiss aber nicht,
wie es kam, dass er nach Leobersdorf bei Baden fuhr. Abends kehrte
er nach Wien zurück, übernachtete im Asyl. Am 17. ging er planlos
nach Klosterneuburg und kam zu sich in der Donau.
Für den 15., 16. und 17., bis zum Gang nach KL, hat er nur ganz
summarische Erinnerung, für die Zeit, bis zu welcher er sich in den
Wellen wiederfand, besteht totale Amnesie. Im Wasser kam er zu sich,
rettete sich ans Land und hat von da an ungetrübte Erinnerung.
Patient bot in der Klinik ausser geringen neurasthenischen Beschwerden
keinen Befund, erschien psychisch vollkommen im Gleichgewicht und
wurde am 25. October genesen entlassen.
Beobachtung 17. Depressiver Dämmerzustand. Suicidversuch.
Am 28. Mai 1895 wurde die 21 Jahre alte ledige A. S. arretirt,
weil sie sich in die Donau stürzen wollte. Sie motivirt ihr Taed. vitae
mit Stellenlosigkeit, Schulden, Unfähigkeit für ihr Kind zu sorgen,
Verstossensein vom Geliebten, den sie in einem bei ihr gefundenen
Brief verflucht. Die S. weint heftig, zerreisst die Kleider, kommt ver-
stört auf der Klinik an, klagt über heftigen schmerzhaften Kopfdruck,
führt eine Puppe mit sich, die sie aus Kleiderfetzen sich gedreht hat. Sie
ist verwirrt, verlangt nach einem Hölzchen, um damit zu spielen,
behauptet, sie habe den babylonischen Thurm beim Commissar zurück-
gelassen, glaubt sich in einem Gefängniss, in das man sie gesteckt,
weil sie 3 Monate für ihr Kind nicht mehr gezahlt habe. Sie kniet ab
und zu nieder und gesticuliert mit den Armen, wie betend. Sie schläft
ausgiebig, ist afebril, ohne Störungen vegetativer Organe. Sie behauptet,
es sei der 15. Mai, ihr Geburtsjahr giebt sie mit 1873 an, das Kalender-
jahr mit 1888. Sie behauptet, der Wachmann habe gesagt, sie müsse
Neue Erfahrungen. 31
3 Monate hier im Kerker bleiben. Sie macht unrichtige Angaben über
Geburtsort und Schulbesuch, richtige über Familie und Vita anteacta.
Sie hat vor 18 Monaten geboren.
Sie erscheint von gehemmtem theilnahmlosen "Wesen, zeigt erschöpfte
Miene, seufzt oft, spricht nur auf Befragen, leise, monoton, ist augen-
scheinlich traumhaft verloren.
Die Pupillen mittelweit, sehr prompt reagirend. feinwelliger frequenter
Tremor der Finger, Klagen über schmerzhaften Kopfdruck, Scheitelhöhe
und Wirbelsäule sehr druckschmerzhaft. Puls, celer 80.
2. Juni. Andauernd ganz dämmerhaftes Verhalten, Eindrücke der
jüngsten Vergangenheit haften nicht; Pat. ganz reactiouslos gegenüber den
Vorgängen in der Umgebung, seufzt oft auf. glaubt sich im Gefängniss.
3. Juni. Heute Nachmittag wie aus einem Traum erwacht, hat nur
vereinzelte, unklare Erinnerungen. Ist nun lucid. Von jeher schwäch-
lich, nervös, zu Verstimmung geneigt.
Seit der Geburt des Kindes vor l'/8 Jahren viel Kummer, Sorgen,
VerlaBsensein vom Geliebten, musste wegen Neurasthenie Stelle im März
als zu schwer aufgeben, fand keine entsprechende, gerieth in Xoth.
In letzter Zeit in Folge von Aufregung, Sorgen, Xothlage sehr
herabgekommen, grosse Mattigkeit, andauernd Cephalaea.
Für die Dauer des Dämmerzustandes besteht absolute Amnesie; in
koiner Weise wiedererweck bare Erinnerungsfähigkeit Die anfangs vor-
handen gewesenen Erinnerungsspuren sind verschwunden. Patientin
erklärt, diese ganze Episode komme ihr vor wie ein Traum, den man
nach dem Erwachen vergisst. Der Beginn der Amnesie ist nicht schart
festzustellen. Schon vom 20. Mai ab fehlen sichere Erinnerungsbilder.
Vom 23. Mai bis zum 3. .Juni besteht eine vollkommene Erinnerungslücke.
Patientin erholt sieh von ihrer schweren Neurasthenie im Spital.
Psychisch bleibt sie frei. Ihre gedrückte Stimmung ist physiologisch
und durch ihre traurige sociale Lage wohl motivirt.
Hereditäre Bolastung nicht nachweisbar, aber Cranium rachiticum.
Hysterische und epileptische Antecedentien fehlen. Patientin wird Ende
Juni 1895 genesen entlassen.
Beobachtung 18. Dämmerzustand. Selbstanklagedelirium.
K. H., 41 Jahre, Handelsmannsgattin, aufgenommen 21. December
1893 in der psychiatrischen Klinik im allgemeinen Krankenhause in Wien,
stammt von neuropathischen, selir reizbaren, jähzornigen Eltern. Sie
bot dieselben Anomalien von jeher, war nie schwer krank, heirathete
Ist*.», gebar 3 mal, zuletzt 1890. Zwei Kinder Leben. Patientin war
sehr angestrengt im Haushalt und Geschäft und hatte durch Kränkungen
und selbst Mißhandlungen seitens ihres Beit .Jahren zum Trunkenbold
32 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
gewordenen Mannes viel auszustehen. Sie litt sehr darunter, grämte
sich, verbrachte meist die Nächte schlaflos, fürchtete sich vor ihrem
rohen Manne, hatte Bangigkeit und Sorge, wie es ihr und den Kindern
in der Zukunft ergehen möge. Sie wünschte sich und den Kindern
in verzweiflungsvollen Stunden oft den Tod, dachte auch gelegentlich,
ob es nicht am besten wäre, die Kinder und sich umzubringen, im
Jenseits zu versorgen.
Pflichtgefühl und religiöser Sinn verscheuchten aber jeweils
solche Ideen.
Bei All' dem fühlte aber Patientin ihre Gesundheit wanken. Sie
schlief wenig, unerquicklich, wurde matt, müde, abgeschlagen, freudlos,
hatte fast beständig eingenommenen Kopf.
Am 19. December hatte ihr Mann sich wieder einmal besonders
brutal benommen, so dass der Patientin Bruder sie vor Thätlichkeiten
schützen musste. Damit war der bedauernswerthen Frau auch die Freude
des Christfestes, zu dem sie ein paar Gulden für die Kinder zusammen-
gespart hatte, vergällt worden.
Sie schlief die Nacht auf den 20. nicht Als ihr Mann am 20. früh
wieder brutal wurde, entlief sie ihm mit ihren Kindern, brachte diese
bei einer alten Frau, einer Bekannten in der Nähe von "Wien unter
und ging dann, offenbar schon nicht mehr recht bei sich, ohne klare
Absicht wieder fort. Sie scheint herumgedämmert zu sein.
Am 20. December erschien sie auf einem Polizeicommissariat in
Wien mit der Angabe, Vormittags gegen 10 Uhr ihren beiden Kindern
mit einem Rasirmesser ihres Mannes den Hals abgeschnitten zu haben.
Die Ursache dieser That sei eheliches Unglück und Unfriede. Nach
verübter That sei sie davon gelaufen, um sich in der Donau zu er-
tränken. Sie habe es unterlassen, da sie nicht sicher wisse, ob die
Kinder wirklich ihren Verletzungen erlegen seien. Die polizeilichen
Erfahrungen ergaben, dass die Kinder unverletzt und wohl daheim seien.
Da die Mutter verworren und geistesgestört schien, wurde sie vom
Polizeiarzt untersucht.
Sie erschien verstört, zitterte, beharrte bei ihrer Selbstanklage und
motivirte ihre vermeintliche That damit, dass sie nach ihrem Tod die
Kinder nicht dem brutalen, trunksüchtigen Vater habe überlassen können.
Sich selbst überlassen, starrte sie vor sich hin, ohne von dem um sie
Vorgehenden Notiz zu nehmen.
Sie erschien zeitlich und örtlich desorientirt, wusste auch die Details
ihrer angeblichen That nicht anzugeben.
Bei der Aufnahme in der Klinik am 21. December Abends derselbe
Status. Sie weiss noch von ihrer That, nichts mehr aber von Selbstanzeige,
Dritter Aufsatz. 33
Vorgängen auf dem Commissariat, ist zeitlich und örtlich nicht orientirt,
klagt über schmerzhaften Kopf druck.
Am 22. nach mehrstündigem Schlaf äussert sie Zweifel, ob sie
wirklich den Kindern den Hals abgeschnitten habe und vermag sich
nicht zu orientiren, da sie nur ganz fragmentare Erinnerung von den
Erlebnissen des Vortages besitzt.
Sie erinnert sich, dass der Bruder sie vor dem Mann schützen musste,
dass sie mit den Kindern fort sei, zu einer „tauben" alten Frau, die
vom Verbrechen nichts hören werde. Von allem Folgenden weiss sie
heute nichts mehr. Sie glaubt sich seit 14 Tagen von Hause fort.
Patientin in Ernährung reducirt, Pupillen über mittelweit, prompt reagireml.
Scheitelhöhe sehr druckempfindlich und auch spontan Sitz schmerzhaften
Druckgefühles. Geistig erschöpftes, ganz affectloses Verhalten.
Puls 90 celer. Temperatur normal. Am 23. December nach ziem-
lich reichlichem Schlaf ist Patientin geistig frischer.
Im Anschluss an den Besuch der Schwägerin und deren Versicherung,
die Kinder der Patientin seien gesund, steigen ihr Zweifel bezüglich
der Richtigkeit der Wahnvorstellung auf, aber sie ist noch dämmerhaft,
geistig sichtlich gehemmt und offenbar zu energischer geistiger Thätig-
keit noch nicht fähig.
Dazu kommt das rasche Verblassen ihrer Wahnvorstellung. Sie
lebt nur mehr auf, wenn man darauf zu sprechen kommt und bleibt
nach wie vor in diesem traumhaften Zustand affectiv ganz unbetont.
Am 24. ist Patientin ruhig, geordnet, aber still, offenbar noch
erschöpft, Schlaf und Appetit befriedigend.
Am 24. Nachmittags war Weihnachtsbescheerung in der Klinik.
Während derselben, angeblich durch den Anblick des Weihnachtsbaumes,
die dadurch geweckte Erinnerung an ihre Kinder und durch die Rede
des Vorstandes an die Anwesenden sei sie plötzlich wieder zu sich
gekommen, habe eine Nachbarin gefragt, wo sie sei und Aufklärung
bekommen. Sie habe sich sofort nach ihren Kindern erkundigt, für
deren Weihnachtsbescheerung sie ja das ganze Jahr Geld zusammen-
gespart hatte. Jetzt erst habe sie sich vollkommen über ihre Situation
orientirt. Für die ganze Krankheitszeit habe sie nur eine dunkle
Erinnerung verworrener Vorgänge gehabt, ohne sich irgend welcher
Einzelheiten zu erinnern.
Thatsächlich ist die Erinnerung für Alles verloren gegangen seit
jenem Moment, in welchem sie das Haus am 20. verliess, um zu der
alten Frau zu gehen. Sie weiss nichts von den Vorgängen bei der
Polizei, von ihrem Eintritt in die Klinik bis zum 24. Abends und ist
sehr erstaunt, als man ihr den Sachverhalt berichtet. Sie erinnert sich
Krafft-Bblng, libdtui I. 3
34 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
dunkel, während dieser Zeit an heftigem schmerzhaften Kopfdruck gelitten
zu haben. Genesen entlassen 11. Januar 1894.
Beobachtung 19. Dämmerzustand.
Th. P., 40 Jahre, geschiedene Frau eines Gewerbetreibenden, wurde
am 7. Januar 1894 auf der Klinik aufgenommen. Sie stammt von einem
Vater, der ein Säufer war. Dessen Bruder war mit einem Krampf leiden
behaftet. Die Mutter litt höchstwahrscheinlich an Lues.
Frau P. war von jeher schwächlich, kränklich, nervös, aufgeregt,
jähzornig gewesen, zur Zeit der Menses immer matt, vergesslich, leicht
verwirrt, niedergeschlagen, mit Migräne behaftet.
Sie hat 2 mal abortirt, 2 mal rechtzeitig geboren, liess sich scheiden,
nachdem ihr Mann untreu gewesen und sich luetisch inficirt hatte.
Eine Tochter leidet an Vertigo epileptica.
"Wegen häuslichem Kummer und nervösen Beschwerden ergab
sich Patientin dem Uebergenuss von Alcohol. Nach Alcoholexcessen
hatte sie in den letzten Jahren wiederholt Dämmerzustände von etwa
1 tägiger Dauer geboten , in welchen sie herumirrte. Amnesie für
diese Episoden.
In den letzten Jahren war Patientin immer mehr neurasthenisch
geworden. Nach reichlichen Alcoholexcessen setzte am 2. Januar 1894
neuerlich ein Dämmerzustand ein, in welchem sie planlos herumzog, am
7. wegen ganz verwahrloster Toilette auf der Strasse aufgegriffen und
der Klinik überwiesen wurde.
Sie kam ganz verwirrt an, afebril, zeitlich und örtlich desorientirt,
ohne Erscheinungen von Alcoholintoxication. Sie glaubte sich in der
Gegend von Graz, interpretirte Ohrensausen als Rauschen des Mur-
flusses, wollte durchaus zu ihrer Herrschaft (sie war früher in Graz in
einem Dienst gewesen), meinte, sie sei in einem Eisenbahn Wartesaal,
hielt die Anwesenden für Mitreisende.
Sie sei in Leoben eingestiegen, wisse nicht, wo sie jetzt sei, sucht
nach ihrem Eeisegeld, Fahrschein, Gepäck, deren Abgang sie bemerkt,
bleibt aber dabei ganz affektlos, wie in einem Traum. Sie erinnert sich
unvollkommen ihrer Vita anteacta. Sie sei vor Jahren in "Wien gewesen,
habe gearbeitet bei der Mutter, einer Greislerin. Sie sei jetzt im Begriff,
eine Stelle in Graz anzutreten; sie wisse nicht, wo sie momentan sei.
Man solle sie endlich fortlassen. Dem Lauf der Mur folgend, werde sie
schon nach Graz kommen.
Dämmerhafte Miene, traumhaftes "Wesen. Pupillen weit, prompt
reagirend, Patellarreflexe etwas gesteigert, keine Tremores. Afebril,
vegetative Organe ohne pathologischen Befund. Klagen über schmerz-
haften Kopfdruck. Scheitelbeine sehr druckempfindlich. Sie motiviit den
Dritter Aufsatz. 35
Kopfdruck mit einer (vermeintlichen) Contusion, die sie sich durch Austossen
an der Coupethüre des Waggons während der Fahrt zugezogen habe.
Am 13. Januar allmälige Aufhellung des Bewusstseins. zugleich mit
dem Eintritt der Menses. Klagen über heftigen Kopf druck, an dem sie
seit Jahren leide. Völlige Amnesie für die Zeit der Krankheit bis zum
16. Januar.
Vom 17. ab vollkommen lucid, glaubt sich erst 2 Tage hier. Sie
erinnert sich nur, dass sie unter heftiger Cephalaea um den 1. Januar
ausging, um einzukaufen. Sie bestätigt seit Jahren vorhanden gewesene
Neurasthenia cerebralis und theilt mit, dass sie in der letzten Zeit vor
der jüngsten Erkrankung viel Aerger hatte, schlecht schlief, von schreck-
haften Träumen gequält war, sich Morgens ganz zerschlagen fühlte.
Patientin bietet in der Folge bis auf neurasthenische Beschwerden
nichts Besonderes und wird am 21. Januar 1894 genesen entlassen.
Beobachtung 20. Dämmerzustand.
C, 43 Jahre, verheirathet, Beamter, wurde am 4. Juni 1894 vom
Polizeicommissariat der psychiatrischen Klinik übergeben.
Patient unbelastet, nie krank bis auf eine Malariaaffection vor vielen
Jahren, ohne epileptische oder hysterische Antecedentien, streng solid,
gut begabt, hatte seit 7 Jahren in guter Ehe gelebt. Seit einem Jahr
hatte C. neben seinem anstrengenden Dienst sich für die Prüfung zur
Erlangung einer höheren amtlichen Stellung vorbereitet und in den
letzten Monaten sich übermässig geistig angestrengt. Er hatte wenig
geschlafen, war Morgens nicht erquickt, fühlte sich matt, unaufgelegt
zur Arbeit, den Kopf eingenommen. Gleichwohl hatte C. mit Aufbietung
aller Willenskraft sich zur Arbeit fortgezwungen. Am 28. Mai fand er
auf der Strasse einen Kreuzer. Als er ihn zu sich steckte, glaubte er
einen Kukuk rufen zu hören, wurde unschlüssig, was er mit dem Kreuzer
anfangen solle und schenkte ihn endlich dem Amtsdiener. Einige Tage
später fand er in seinem Portemonnaie 2 Kreuzer, an deren Provenienz
er sich nicht erinnern konnte. Er glaubte wieder den Kukuk rufen zu
hören und bekam die Idee, das seien Glückskreuzer. Diese Idee drängte
sich ihm als Zwangsvorstellung beim Arbeiten auf. Sie beunruhigte
ihn, damit verband sich die Vorstellung, er könne diese 2 Kreuzer
nicht rechtmässig erworben haben. Nun plagte ihn der Gedanke,
was mit denselben anfangen. Er sah übrigens das Unsinnige dieser
Ideen ein und reiste am 3. Juni nach Wien, wo er seine Prüfung
ablegen Bollte.
Er hatte die Nacht auf den 3. schlaflos verbracht, Tag über wenig
gegessen und kam nach 12 stündiger Eisenbahnfahrt ganz abgespannt
und nervös in Wien an.
3*
36 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Da kam ihm nun der Gedanke, er solle die 2 Kreuzer als herren-
loses Gut dem Kaiser übergeben, dessen Prägung sie tragen.
Ohne dass ihm irgend ein Bedenken kam, ging er gleich nach der
Ankunft in Wien zum Commandanten der Burgwache, händigte dem
erstaunten Offizier die 2 Kreuzer ein, worauf er sich sehr erleichtert
fühlte und zunächst nicht mehr an die Angelegenheit dachte.
Am 4. früh begab er sich in Galauniform neuerlich in die Hofburg,
um die deponirten 2 Kreuzer Sr. Majestät oder doch dem Obersthof-
meister zu übergeben. Auf die Klinik gebracht, war er bereits zur Ein-
sicht über das Krankhafte seines Vorgehens gelangt und erzählte den
ganzen Hergang in vollkommen klarer und geordneter Weise. Er konnte
nicht begreifen, wie er zu so fremdartig und wunderlich ihm jetzt
erscheinenden Vorstellungen gelangt sei.
Patient erschien bis auf leicht neurasthenische Symptome (weite,
überaus prompt reagirende Pupillen, etwas gesteigerte Patellarreflexe,
feinwelligen Tremor der Finger) auch körperlich ganz normal. Die ganze
Episode kam ihm wie ein Traum vor, jedoch bewahrte er eine treue
Erinnerung für alle Details.
C. schlief sich gründlich aus, war am 5. vollkommen geordnet, wurde
am gleichen Tage entlassen, machte nach einigen Tagen mit gutem Erfolg
seine Prüfung und blieb von weiterer Krankheit verschont.
Beobachtung 21. Dämmerzustand. Delirien der Standeserhöhung.
Am 26. Februar 189 . wurde Herr X., 40 Jahre, verheirathet,
Beamter in Wien von der Sicherheitsbehörde der psychiatrischen Klinik
übergeben. Er war um 10 Uhr früh in die Pfarrkanzlei G. gegangen,
um den ihm bekannten Pfarrer Z. zu sprechen. Da der Pfarrer nicht
anwesend war, beschloss er, auf ihn in dessen Kanzlei zu warten und
schrieb dort folgende Telegramme, die er dem Messner übergab:
1. „An seine apostolische Majestät den Kaiser. Mahnung. Lebt er
noch? 10 Worte. 20 xr."
2. „Seiner erzbischöflichen Gnaden Herrn Cardinal von Wien. Frage:
Vor welches Forum gehört der Priester? 14 Worte. 20 xr."
Da X dem Messner geistig gestört vorkam, holte er einen Wach-
mann, der X. aufs Commissariat brachte. Dort behauptete X., der heilige
Geist sei ihm erschienen und habe ihm die Rede soufflirt, die er als
Candidat für den Reichsrath halten wolle. Er sei nämlich Candidat für
einen böhmischen Bezirk. Das Telegramm an den Kaiser habe den
Monarchen an seine Pflichten mahnen sollen. Den gleichen Zweck habe
das an den Erzbischof gehabt, der nur dem Namen nach ein Christ
sei. Im Commissariate spricht er aufgeregt von Kant, Schopenhauer,
seiner Candidatur für den Reichsrath.
Dritter Aufsatz. 37
Auf die Klinik gebracht, ist er erregt, schlägt über die Umgebung
das Kreuz, verlangt, dass die Anderen dies auch thun, und ist sehr
ungehalten, dass man seinem Verlangen nicht entspricht
Er ergeht sich dann in längerer Rede über das angebliche Unrecht,
dass man den jüngst verstorbenen Obersthofmeister auf einem längst
geschlossenen Friedhofe beerdigt habe. Der Erzbischof sei kein Priester;
Niemand kümmere sich um das kirchliche Wohl "Wiens, das wieder
katholisch werden müsse. Er könne nicht zugeben, dass die Juden den
Pfarrer Z. vernichten. Derselbe gehöre vor ein katholisches Gericht,
was er auch bereits an den obersten Kirchenfürsten Wiens telegraphirt
habe. Er sei ganz klar im Kopf, so klar, wie er niemals gewesen, die
Aerzte hier hingegen seien Narren. Heute Nacht habe er eine heilige
Erscheinung gehabt, gegen Morgen sei die Klarheit über ihn gekommen,
er habe sich so eigenthümlich gefühlt, es sei ihm vorgekommen, wie
wenn er alle Fähigkeiten besässe, alle Sprachen beherrsche und in poli-
tischen Dingen eine bessere Einsicht besitze. Er sei der beste Candidat
für Landtag und Reichsrath, allseitig zur Candidatur aufgefordert, weil
man ihn als echt katholischen Mann kenne. Gedankengang, besonders
erleichterte Association bietet Patient nicht, auch ist seine Stimmung
keine euphorische, sondern eine aigrirte.
Auf Zwischenfragen nach Befinden, früherer Lues, giebt er prompt
Auskunft.
Patient erscheint gut genährt, blass, hat Andeutung von Cranium
hydrocephal. rachiticum. Sehr prompte Pupillen- und Patellarreflexe.
Keine motorischen Störungen, kein Fieber. Schlaf auf 27. unruhig.
Am 27. ist er ruhig, giebt präciso Auskünfte über sein Vorleben, berichtet
TOD Lues 1876 mit energischer Schmierkur, von grosser Nervosität seit
Juni 1895, die er auf Ueberanstrengung und Kränkungen im Dienst
zurückführt. Er klagt über neurasthenische Beschwerden (Kopfdruck,
Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Palpitationen). Besonders in den letzten Tagen
sei er sehr erregt gewesen und habe vermehrten Kopfdruck empfunden.
Seit 4 Monaten habe er Alcohol gemieden, weil er ihn schlecht
vertragen habe.
Sich selbst überlassen, hängt X. <einen Phantasien nach. Am 28. meint
er, der Monarch sei gestorben, er werde jetzt Kaiser. Er ernennt einige
Mitpatienten zu Ministem, verspricht ihnen grosse Geldsummen, hält sich
für enorm reich, gedenkt Reformen einzuführen wie früher Kaiser Josef IL
Dabei ist Patient zeitlich und örtlich orientirt, findet aber nichts
dabei, dass er im Spital ist und denkt gar nicht über seine Lage nach.
Am 28. wird er erregter, erklärt, er sei erleuchtet, verlangt unbe-
dingten Gehursani von der Umgebung, bietet grosses Selbstgefühl. Erklärt
38 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
sich für einen Doctor der Medicin, fordert 2 Stenographen, da er jetzt
einen medicinischen Vortrag halten wolle. Dieser beziehe sich auf ein
Universalmittel gegen alle Krankheiten, müsse in alle Sprachen der Welt
übersetzt werden. Er werde für dieses Heilmittel ein Spital errichten
und zu dessen Vorständen die Aerzte hier an der Klinik ernennen.
Daneben spricht er über die Stellung eines kaiserlichen Beamten,
die Arroganz der Juden u. s. w.
Um 6 Uhr Abends wird Patient plötzlich lucid, hat genaue Erinnerung
für die Details seiner Krankheit und erklärt Alles, was er gethan und
behauptet, für Blödsinn. Von da ab bleibt er lucid und geordnet und
körperlich wohl bis auf geringe neurasthenische Beschwerden.
X. entstammt einer gesunden in keiner Weise belasteten Familie.
Ausser Lues 1876 (2 gesunde Kinder, keine Abortus), nie schwer krank
gewesen. Lebte in guter Ehe, war kein Potator, trank seit einigen
Jahren fast gar nicht mehr geistige Getränke. Seit 5 Jahren Coitus
interruptus. Seit 15 Jahren im Staatsdienst und zeitweise sehr angestrengt
bei vieler Nachtarbeit, hatte er bis vor 2 Jahren die Beschwerden des
Dienstes leicht ertragen. Seither deutliche Berufsneurasthenie, zunehmende
Reizbarkeit, fing an, sich mit seinen Vorgesetzten schlecht zu vertragen,
hatte oft erregte Auseinandersetzungen, litt oft an Kopfdruck, Hitze-
gefühi am Scheitel, schlief schlecht, musste im Sommer 1895 einen
3 monatlichen Urlaub nehmen, erholte sich völlig, machte September
und October wieder anstrengenden Dienst, erkrankte neuerlich, zugleich
an Bronchialcatarrh, pausirte bis 20. Februar 1896, war aber, als er
wieder ins Amt eintrat, noch recht nervös, aufgeregt, schlief schlecht.
Da sein Dienst um 6 Uhr früh begann, musste er schon um 5 Uhr
aufstehen. Im Amt neue Verdriesslichkeiten, dazu politisch aufgeregte
Zeit, bevorstehende Gemeinderathswahlen, Absicht in seiner Heimath
für Landtag und Reichsrath zu candidiren, wozu ihn auch seine Freunde
befähigt hielten.
Vom 22. Februar ab war er durch 4 Tage absolut schlaflos, hatte
heftige Kopfschmerzen, als ob der Kopf zerspringe. In der Nacht auf
den 26. grosse Unruhe, es ging ihm alles Mögliche wirr durch den Kopf.
Am 26. früh hatte er ein ganz eigenthümliches gehobenes Gefühl,
es kam ihm vor, er sei ein von der Vorsehung auserlesener Prophet,
dazu auserkoren, auf der Erde überall Ordnung zu machen. Er hatte
im Sinne, überall Reformen einzuführen; alle Menschen sollten glück-
lich werden, die Reichen dazu bewogen werden, mit den Armen zu
theilen. Er weinte dabei vor Rührung, segnete sein Kind vor dem Weg-
gehen, erschien um 6 Uhr früh im Amt, versah seinen Dienst, machte
aber viele Verstösse, die er jedoch selbst bemerkte und corrigirte. Er
Dritter Aufsatz. 39
fühlte seine Arbeitsunfähigkeit, schrieb ein Urlaubsgesuch, das aber
ziemlich confus und in der Form recht mangelhaft war. Bei der Ueber-
reichung (9 Uhr) machte er dem Amtsvorstand eine Scene ohne Anlass.
wollte dann nach Hause, auf dem Wege dahin fiel ihm bei, er müsse
den Pfarrer Z., den er kannte, besuchen, um sich zu erkundigen, ob
er wirklich wieder angeklagt sei, wie es in den Zeitungen hiess. Patient
hatte sich früher nie um des Pfarrers Angelegenheiten gekümmert.
Damals aber kam es ihm vor, er müsse sich der Sache annehmen, um
ein öffentliches Unrecht zu verhüten. Patient erinnert sich aller Details
im Pfarrhof, wo er um 10 Uhr ankam. Auf den Pfarrer wartend, schrieb
er bis 12 Uhr eine Art Apologie des Pfarrers, kam aber dabei in theo-
logische und philosophische Auseinandersetzungen, über die heilige Drei-
zahl , über Kant, Schopenhauer u. s. w.
Zum Schlüsse schrieb er die 2 Telegramme an die höchsten Spitzen
der weltlichen und geistlichen Macht. Et wollte damit als neuer Prophet
an sie eine Mahnung ergehen lassen, weil ihm die Auflösung des Gemeinde-
rathes und die Stellung des Pfarrers vor ein weltliches Gericht als ein
Unrecht erschien Als Patient durch die Polizei auf die Klinik kam,
fasste er dies als eine Fügung Gottes auf in der Meinung, er solle wie
Christus durch Unbilden zur Grösse gelangen.
In der ersten Nacht im Spitale hörte Patient Geschrei: „Hoch Lueger,
Gewehr raus, Patrouille, Oberst Regiment 72 vortreten, nieder mit
Badeni, Bezirkshauptmann Friebeis." Er meinte, es sei draussen eine
Schlacht. Diese Episode erscheint ihm retrospectiv wie ein Halbtraum.
Patient hat für die geringsten Details seines psychischen Ausnahms-
zustands getreue Erinnerung. Seine Frau theilt mit, dass X. seit Jahren
neurasthenisch war. Er beschäftigte sich viel mit Politik, las alle
Zeitungen, studirte Gesetzbücher, wollte Abgeordneter werden. Sein
Chef schildert ihn als fleissigen Menschen, der in letzter Zeit sehr
nervös war.
Patient wurde am 17. März genesen entlassen und ist bisher von
psychischer Störung frei geblieben.
Beobachtung 22. Dämmerzustand. Delirium der Standeserhöhung.
E., 47 .lahre, Gymnasiallehrer in R., ledig, wurde am 2. Februar
189 . der psychiatrischen Klinik übergeben.
Die Eltern sollen gesund gewesen sein. Ein Bruder litt an Paranoia
religiosa. Patient hatte als Kind Convulsionen, war von jeher eigen-
tliümlich, pathetisch in seiner Redeweise, ein erfahrener Philologe, aber
ungeschickter Pädagoge. Masturbatio strenua bis 1874, seither Neur-
asthenie (Kopf druck, Mattigkeit, zeitweise Agrypnie, Herzklopfen. Tremor
der Hände, Intoleranz für calurische Schädlichkeiten u. s. w.). Versuchte
40 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
nur ImalCoitus, der aber nicht befriedigte. R. Kryptorchie. 1882 und
1883 schwerer Neurasthenia cerebralis wegen Aufenthalt in Heil-
anstalten.
1890 nahm Patient wegen seiner Nervosität seinen Abschied. Er
lebte dann ruhig auf dem Land, hegte mit Besserung seines Nerven-
leidens den Wunsch reactivirt zu werden, fand aber keine Erfüllung
seiner "Wünsche, jedoch wurde er in den letzten 2 Jahren als Supplent
an einem Gymnasium verwendet, in welcher Stellung er zur Zufrieden-
heit diente. Im Laufe des Winters 189 . hatte ihn die Idee einer
Reactivirung wieder lebhaft beschäftigt und zu bezüglichen Schritten
veranlasst. Zugleich war aber seine Neurasthenie wieder bedeutender zu
Tage getreten.
Am 9. Januar 189 . hatte er ein Majestätsgesuch um Reactivirung
eingereicht und lebte nun in der Hoffnung und Erwartung der
kommenden Dinge.
Ende Januar, nach schlaflosen Nächten und unter zunehmender
Nervosität, Kopfdruck, kam ihm der Gedanke, er sei, in Anerkennung
seiner Verdienste, reactivirt. Er fühlte sich überaus glücklich und
gehoben, bekam die Idee, als Lehrer der Erzherzogin Elisabeth berufen
zu werden und eine einflussreiche Stellung bei Hofe, sowie einen Orden
zu bekommen.
Patient war sehr erregt, bereitete seine Abreise nach Wien vor,
notirte sich eine Anzahl von Namen von Beamten, die er zu Beförde-
rungen und Adelsverleihungen vorschlagen wollte.
Um den 28. Januar kam ihm der Wahn zugeflogen, er sei zum
Unterrichtsmiuister ernannt. In sofortiger Antretung seines Berufes
reiste er noch 2 Tage in der Provinz herum, um Schulen zu inspiciren,
und trat am 30. Januar die Reise nach seinem Posten in Wien an.
Unterwegs depeschirte er an den Ministerpräsidenten: „Wo ist der Kaiser
wo die Kronprinzessin Stephanie? Freiherr von E. Sr. Majestät Cultus-
und Unterrichtsminister" Ausserdem sandte er folgendes Schreiben an
die kaiserliche Cabinetskanzlei :
„Majestät! Ich stelle den allerunterthänigsten Antrag, die Gemeinde F.
(Geburtsort des Patienten), welche zur Zeit Rudolfs von Habsburg, des
Gründers unseres allerhöchsten Kaiserhauses, gegründet wurde, die ferner
in Gestalt eines ^ eine deutsche Meile weit nach Südwesten zieht,
deiner getreuesten Unterthanen mehr als 2000 zählt, zur Marktgemeinde
sofort allergnädigst zu erheben und deren Namen in Falkenau zu ver-
wandeln."
Ein anderes Schreiben war an die Frau Kronprinzessin-Wittwe
gerichtet und hatte folgenden Inhalt:
Dritter Aufsatz. 41
„Ich bin der Bitter Lohengrin
Und komme bald, wenn Du erlaubst, nach Wien.
Zu Elsa von Brabant.
Ich warb bereits um Valerie,
Die edle Wittwe Stephanie,
Selbst unsrem guten Kaiser
Schaff ich Verlegenheit,
Denn meine Braut heisst Adelheid."
Am 1. Februar kam E., der bisher nirgends auffällig erschienen
war, nach Wien, fuhr direkt ins Unterrichtsministerium, übergab dem
Portier sein Gepäck, liess sich bei dem Sectionschef melden, wurde aber
nicht vorgelassen, ging darüber gekränkt in die Hofburg, um sich zu
beschweren, kam auch dort nicht zum "Wort, kehrte ins Ministerium
zurück, drang bis in die Präsidialkanzlei vor, erklärte mit erhobener
Stimme: „Hier habe ich zu befehlen, hier amtire ich. ich bin Unter-
richtsminister."
Mit Mühe aus dem Ministerium entfernt, fuhr er ins Hotel. Von
da aus depeschirte er nach Hause, er verzichte auf seinen Gehalt von
900 fl., da er Minister geworden sei.
Die Nacht auf den 2. Februar verbrachte er ruhig im Hotel. Am
2. ging er zum Gottesdienst in die Votivkirche. wo gerade eine mili-
tärische Gedenkfeier war. Als zum Schluss des Gottesdienstes die Militär-
kapelle vor der Kirche die Kaiserhymne intonirto, begann er in der
Kirche mit lauter Stimme das Kaiserlied zu singen. Man entfernte ihn.
Darauf ging er in eine Druckerei, bestellte sich Visitkarten ..A. E. Frei-
herr v. E., Sr. Majestät Minister für Cultur und Unterricht", dann ins
Hotel, wo ein Detoctiv auf ihn wartete und ihn zur Polizei citirte. E.
protestirte anfangs, da er Minister sei. Wenn der Polizeipräsident etwas
von ihm wolle, so möge er sicli zu ihm bemühen. Schliesslich ging er
mit und wurde vom Commissar der Klinik zugewiesen, in welcher er
ruhig, zeitlich und örtlich orientirt anlangte
Er schlief bis frühmorgens am 3., war erregt beim Erwarben, ver-
langte seine Dokumente. Kleider etc., versprach den Wärtern hohe Orden.
Patient gut genährt, Pupillen weit, überaus prompt reagirend; starkes
Erzittern der geschlossenen Augenlider. Tremor der Gesichtsmuskeln,
der Zunge und Finger. Patellarreflexe gesteigert.
Patient hält an seinem Wahne fest, ist in der Folge aber ganz
affectlos, ruhig, findet sich in die seinem Wahne nicht entsprechende
Situation, benimmt sich vornehm, reservirt, macht psychologische Studien
an den Kranken, verfasst Krankenberichte über sie, findet z. B. die
Beobachtung eines Kranken (Paralytiker), der den Stephansdom und
die innere Stadt Wien ausbauen will, sehr interessant, seine Gedanken
42 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
äusserst gesund. E. spricht herablassend, belehrend mit den Aerzten, findet
jede geistige Erkrankung, mit Ausnahme der Gehirnerweichung, für heilbar.
Am 5. nach der Demonstration in der Klinik, wobei Patient noch
ganz in seinem Wahn lebte, ging eine bemerkenswerthe Veränderung
mit ihm vor. Er wurde kleinlaut, verlegen, fing an zu zweifeln, dass
er Minister sei, und gelangte am 6. zur vollen Klarheit, dass er in einem
Wahne gelebt habe.
Seitdem man ihn in der klinischen Demonstration am 5. aufmerksam
gemacht habe, dass ein wirklicher Minister ein Handschreiben Sr. Majestät
haben müsse, sei er bedenklich geworden.
Bis dahin habe er vollkommen in seiner Täuschung gelebt. Er
bedauere tief seinen Irrthum, der ihm alle seine Ersparnisse (300 fl.)
gekostet habe.
Patient verblieb bis zum 8. März 189 . in der Klinik, vollkommen
geordnet. Er besass eine peinlich genaue Erinnerung für alle Details
seiner Krankheitserlebnisse.
Beobachtung 23. Dämmerzustand. Selbstanklagedelirium.
M. B., 32 Jahre, Offizierswaise, wurde am 5. Juli 1893 zum zweiten-
mal auf der psychiatrischen Klinik im allgemeinen Krankenhause in Wien
aufgenommen.
Mutters Vater war durch 12 Jahre wegen Irrsinn in einer Anstalt.
Mutter leicht erregbar, jähzornig.
Patientin von jeher nervös, sonst gesund gewesen. 1885 Geburt
eines gesunden Kindes. Von Jugend auf Abusus nicotianae (bis zu
25 Cigaretten täglich). Von Anfang 1889 ab Neurasthenia cerebralis
durch angestrengtes Studium in einer Handelsschule. Vom März 1889
ab ganz abgespannt, emotiv, schreckhaft, Agrypnie, Unvermögen zu
denken, zu lesen. Patientin stimulirte ihr Hirn mit Rauchen, Trinken von
Thee mit Rum, arbeitete die Nächte durch bis zur Prüfung (13. Juli
1889), fiel bei derselben durch, erschien nun geistig ganz gebrochen
und erkrankte an hallucinatorischem Wahnsinn Ende Juni 1889. In
diesem Zustand kam sie zum erstenmal auf die Klinik (28. Juli). Sie
hörte Gläserklirren, Klagerufe, Lärm, meinte, aus ihrem Mund dringe
Elektricität, die Andere gefährde. Sie glaubte auf 10 Jahre dem Teufel
verschrieben zu sein, wollte sich umbringen.
Im Verlauf beständiges Hören von Stimmen, die ihre Gedanken,
noch bevor sie ausgedacht waren, aussprachen, ihr Allerlei vorschrieben,
sie beschimpften, sie nicht schlafen Hessen.
Körperlich Bild schwerer Neurasthenie. Anfang October Nachlass
der Stimmen, Besserung des Schlafes. Ende October Correctur, Recon-
valescenz. Genesen entlassen am 16. December 1889.
Dritter Aufsatz. 43
Patientin in der Folge leidlich wohl, brachte sich kümmerlich mit
Stickerei durch, oft die Nächte opfernd.
Seit Mitte Juni 1893 hatte sie fast gar nicht geschlafen, Nachts
gearbeitet. Sie fühlte sich immer schwächer, abgespannter, appetitlos,
genoss 2 mal täglich Thee mit etwas Rum, hatte oft Angstgefühle und
den Gedanken eines schweren bevorstehenden Unglücks.
Während kurzen Schlafes angstvolle Träume mit Aufschrecken.
Anlass zur Wiederaufnahme am 5. Juli 1893 bot ihre Selbstanzeige
auf dem Polizeicommissariat. sie habe ihren Knaben erschlagen und
gehöre an den Galgen. Man möge aber, mit Rücksicht darauf, dass ihr
Vater Offizier gewesen, sie lieber erschiessen.
Als man ihr den von Hause herbeigeholten Sohn gesund vorführte,
erklärte sie, das nicht zu verstehen, da sie doch bestimmt ihren Sohn
umgebracht habe. Auf die Klinik gebracht, machte Patientin die gleichen
Angaben. Sie schlief etwas in der Nacht auf den 6. Juli mit 1.5 Chloral-
hydrat, erschien gedrückt, ängstlich, sehr blass, verstört, erwartete ihre
be vorstellende Hinrichtung als Mörderin ihres Sohnes. Wo, wie, warum
sie ihn umgebracht, wisse sie nicht anzugeben. Es sei gestern geschehen;
sie sei dann gleich auf die Polizei gegangen. Sie habe all das nicht
geträumt, sondern wirklich erlebt.
Patientin dämmerliaft, aber örtlich orientirt, erschöpft, blass, in der
Ernährung sehr reducirt, anämisch.
Klagen über Mattigkeit, Kopfdruck, wie wenn ein Stein darauf laste.
Pupillen sehr weit, prompt reagirend. Feinwelliger Tremor der Finger,
von den Armen diesen mitgetheilt. Patellarreflexe sehr prompt.
Auf Amylenhydrat (5.0) in der Nacht auf den 7. Juli Behr aus-
giebiger Schlaf. Aussehen frischer, Turgor vitalis besser. Patientin
beginnt ihren Wahn zu corrigiren, anknüpfend an die Erklärung der
Aerzte, dass wenn ihre Selbstanklage wahr wäre, sie ja nicht hier,
sondern im Landesgericht wäre. Sie erkennt, dass sie phantasirt habe
und sehnt sich, ihr Kind zu sehen.
Unter Amylenhydrat gute Nächte. Unter antineurasthenischer Behand-
lung rasche Erholung. Im Stat. retrospectivus giebt Patientin die obige
Anamnese und ergänzt sie dahin, dass in Folge ihrer Arbeitsüberbürdung,
wobei sie sich den Schlaf abbrechen musste, sie schrecklich nervös
geworden sei. Gereiztheit, Unruhe, Mattigkeit, als hätte sie eine schwere
Krankheit durchgemacht, Druck im Kopfe ohne eigentlichen Schmerz
seien von Ende Juni ab ganz unerträglich geworden.
Am 5. Juli Mittags, während sie mit der Zubereitung des Mittag-
essens beschäftigt war, sei es plötzlich über sie gekommen, als habe sie
ihr Kind umgebracht und müssr jetzt gleich die Anzeige davon bei der
44 Transitoriscb.es Irresein bei Neurasthenie.
Polizei erstatten. Sie könne das Ganze nur eine „Fata morgana" nennen.
Es sei ihr unbegreiflich, dass sie von einem solchen Gedanken überwältigt
wurde, da ihr Sohn doch zu Hause vor ihr gestanden sei und sie ihn
selbst, bevor sie zur Polizei ging, in der Wohnung einsperrte., Sie
erinnere sich genau aller folgenden Ereignisse — ■ an die Vorbringung
ihrer Selbstbeschuldigung beim Polizeicommissär, an die Worte dieses
Beamten, an die Art ihrer Unterbringung im Spital.
Während des 5. und 6. Juli habe sie beständig über die Sache
nachdenken müssen, ob es so sei. Die Idee, wenn auch ganz unklar über
die Details der Wahnthat, sei aber so lebhaft und ihre Fähigkeit, sich
des wirklichen Sachverhalts zu erinnern, überhaupt an ihrer Idee Kritik
zu üben, sei so darnieder gewesen, dass sie erst am 7. und unterstützt
durch die Bemerkungen der Aerzte, zur Klarheit über die wirkliche
Situation und zur Erkennung ihres schrecklichen Wahns gekommen sei.
Auffallend ist ihr, dass sie in dieser wahnhaften Situation eigentlich gar
keine Angst, wie ein wirklicher Verbrecher, gehabt habe.
Ende Juli 1893 wurde M. B. genesen entlassen.
Beobachtung 24. Dämmerzustand mit Delirium.
Herr W., 29 Jahre, Kaufmann, stammt von einer Mutter, die irr-
sinnig gewesen war, auch eine Schwester ist geistig gestört. Sonst nichts
Belastendes in der Familie. Keine schwere Krankheiten. Von Kinds-
beinen auf etwas nervös. Keine epileptischen oder hysterischen Ante-
cedentien. Seit 2 Jahren massige Berufsneurasthenie. Viel Sorgen wegen
einer Liebesaffaire , welche die Neurasthenie steigerten, aber durch eine
Verlobung beseitigt wurden. In der letzten Zeit Selbstquälereien, ob die
geliebte Braut sich in seinem künftigen Domicil (kleinere Provinzstadt)
glücklich fühlen werde. Am 6. März 189 . sollte die Hochzeit sein.
In der Nacht vom 3. bis 4. März schlief Patient schlecht. Er sah seine
kranke Schwester im Traum, die ihn vor der Heirath warnte und ihm
mehrmals sagte: „Du machst dich und das Mädchen unglücklich. Ihr
dürft nicht heirathen."
Er war am 4. darüber deprimirt, fing an, an seinem Lebensglück zu
zweifeln, obwohl er sich sagte, dass er seine Braut treu und wahr liebe.
Er kämpfte gegen die Traumsuggestion an, sah den Unsinn dieser
Obsession ein, aber am 5. war ihm bang, er hatte das Gefühl, er solle
seine TrauuDg verschieben, verreisen.
Die Nacht auf den 6. (Hochzeitstag) schlief Patient wenig. Morgens
Kopfdruck, banges Gefühl mit dem Drang fortzugehen. Es stieg ihm
die hemmungslose Idee auf, seine Braut sei gar nicht in Wien, seine
Schwester habe sie in eine Provinz im Süden der Monarchie entführt.
Es trieb ihn seiner Braut nachzureisen. Dass heute sein Hochzeitstag
Dritter Autsatz. 45
sei, dass sein Nichterscheinen einen Eclat verursachen werde, dass er
sich zuerst vergewissern solle, ob seine Braut wirklich nicht da sei,
kam ihm nicht in den Sinn.
Er fuhr auf die Bahn und bestieg den nach G. fahrenden Zug. Er
hatte während dieser ganzen Reise ein leises Bewusstsein, dass er nicht
normal sei und einen dummen Streich begehe. Am Bestimmungsort
angekommen, trieb er sich auf dem Bahnhof planlos herum. Abends
traf ihn dort sein ihm nachgereister Bruder. Patient war schon in
beginnender Klärung seines Bewusstseins, als er mit dem Bruder zusammen-
kam und erkannte nach kurzer Besprechung seinen Unsinn.
Recht deprimirt kehrte er nach Wien zurück. Am 7. erschien er
mit seinen Verwandten in meiner Sprechstunde vollkommen compossui. Er
hatte Erinnerung für alle Details des Vortags. Gewöhnliche Erscheinungen
einer massigen Neurasthenia cerebralis.
W. und seine Verwandten waren besorgt, dass sich ein solcher
Zustand wiederholen konnte. Ich war anderer Meinung, rieth zu Auf-
schiebung der Trauung, Behandlung der Neurasthenie. Der Vorschlag
wurde acceptirt. Nach einigen Wochen Trauung im engsten Familien-
kreise. Seither glückliche Ehe und volle Gesundheit.
Beobachtung 25. Dämmerzustand. Delirante Reisepläne.
Am 3. März 1886 Abends C> Uhr wurde der Grazer psychiatrischen
Klinik von der Sicherheitsbehörde J. T., 34 Jahre, Tagschreiber, zugeführt,
weil er verwirrt rede und beständig nach Amerika abreisen wolle.
Patient geht ruhig, äusserlich geordnet zu. Er ist matt, erschöpft,
schlaf bedürftig bei der Ankunft, faselt von einem Dampfschiff, mit dem
er nach Amerika müsse, legt sich aber, ohne über seine Lage nach-
zudenken, augenscheinlich in ganz dämmerhafter Verfassung nieder,
schläft die Nacht hindurch tief und erwacht am 4. früh lucid. Für
die Zeit vom 3. Mittags bis zum Erwachen am 4. ist er amnestisch.
Man erfährt von seiner Frau, dass er am 3. früh ihr psychisch ver-
ändert vorgekommen sei, von einer nothwendigen sofortigen Reise nach
Amerika gefaselt und gefragt habe, ob sie mitreise. Er gehe jetzt aus,
um Fahrscheine zu lösen. T. ging fort, dämmerte, ohne auffällig zu sein,
in den Strassen von Graz herum, erregte aber schliesslich doch Auf-
sehen, da er ganz planlos und ohne Hut auf den Strassen herumlief,
winde in diesem Zustand von einem Bekannten getroffen, der des
Patienten Frau herbeiholte. Als sie ihn traf, sagte er: „Gehst du jetzt
mit nach Amerika? Du bist mein christlich angetrautes Weib, wenn
du nicht gehst, zeige ich dich au". Darauf brachte man T. ins Spital.
T's. Vater war Potator strenuus gewesen, die Schwester seiner Mutter
epileptisch. Mehrere seiner Geschwister hatten in frühester Kindheit an
46 Transitori6ob.es Irresein bei Neurasthenie.
Convulsionen gelitten. T. hatte sich normal entwickelt, als junger Mann
Gelenkrheumatismus und später Typhus überstanden, nie ein Trauma
capitis erlitten, nie epileptische Symptome geboten.
In den letzten Jahren hatte er etwas in geistigen Getränken excedirt,
jedoch seit 4 Monaten bis auf die letzten Tage vor seiner Erkrankung
abstinirt.
Seit mehreren Monaten hatte T. sich matt, abgeschlagen gefühlt,
schlecht und unerquicklich geschlafen, nächtliches Aufschrecken, zu-
nehmende Gemüthsreizbarkeit gezeigt und besonders Morgens über Kopf-
druck geklagt. Die wesentliche Ursache dieser neurasthenischen Be-
schwerden war Ueberanstrengung im Beruf gewesen, indem er bis 2 Uhr
früh oft arbeiten und gleichwohl um 6 Uhr schon wieder bei der Arbeit
sein musste.
In den letzten Wochen hatte er fast permanenten Kopfdruck, grosse
Mattigkeit und Erregtheit gespürt, sich kaum mehr fähig zur Arbeit
gefühlt, an der Möglichkeit seine Familie zu ernähren zu zweifeln begonnen,
wobei ihn, Zwangsvorstellungen gleich, Ideen beschäftigten, drüben in
Amerika Reichthum zu erwerben. Bis zum 28. Februar hatte Patient
in seinem Berufe gearbeitet. Vom 1. ab ging es nicht mehr. Er trieb
sich auf den Strassen und in Wirthshäusern herum. Am 2. März acuter
Magencatarrh , Erbrechen, Anorexie. Die Nacht auf den 3. hatte er
schlaflos zugebracht.
T. bot am 4. März grosse Erschöpftheit, mittelweite Pupillen von
träger Reaction, keine Spuren von Alcoholismus, blieb vollkommen lucid
und geordnet, vermochte die durch seine Krankheit geschaffene Bewusst-
seinslücke nicht auszufüllen, erholte sich in guter Spitalspflege und wurde
am 13. März 1886 genesen entlassen.
Am 4. Januar 1889 kam T. neuerlich zur Aufnahme. Bis Anfang
1888 hatte er sich wohl befunden, solid gelebt. Von da ab, unter dem
Einfluss von beruflicher Anstrengung und Familiensorgen, hatten sich
wieder Erscheinungen von Neurasthenie gezeigt.
Gelegentlich Exacerbationen, unter Kopfdruck, Mattigkeit, Reizbar-
keit, hatten sich wieder Anwandlungen seiner früheren Krankheit gezeigt.
Er vernachlässigte in solchen bis 8 Tage währenden Episoden seinen
Beruf; es zwang ihn, Reisepläne zu machen, Landkarten zu studiren,
Projekte zu entwerfen, sein und der Familie Glück in überseeischen
Ländern zu machen. Er sprach dann ernstlich davon, seine Habe zu
Geld zu machen und fortzureisen, war vorübergehend ganz in diesen
Ideenkreis versunken, zornig, wenn man ihm diese unsinnigen Ideen
ausreden wollte, vermochte aber doch meist selbst noch einigermaassen
Kritik an denselben zu üben, so dass es bei blossen Projekten angesichts
Dritter Aufsatz. 47
dieser, wesentlich nur als Zwangsvorstellungen zu betrachtenden und nach-
träglich auch erinnerten Reiseideen blieb.
Dann wurde er wieder plötzlich ganz klar, sah den ganzen Unsinn
ein, nannte ihn selbst seine „Reisemanie" und gab an, dass diese Anfälle
jedesmal mit Kopfweh und Gefühl des Zusammenziehens des Gehirns
zu einer Kugel begönnen.
In den letzten Tagen vor der Aufnahme hatte T. durch Anstrengung,
Gemüthsbewegungen eine bedeutende Exacerbation seiner Neurasthenie
erfahren. Nach mehreren schlaflosen Nächten, unter quälendem Kopf-
druck und Zeichen geistiger und körperlicher Erschöpftheit debutirte T.
am 4. Januar Morgens mit Plänen, sofort nach Ostafrika abzureisen, wo
er durch Erwerbung von Reichthümern die Existenz seiner Familie
schleunigst sicherstellen müsse, da er höchstens noch 6 Jahre zu leben habe.
Da er zu Hause nicht haltbar war, Miene machte, seine Habe zu
veräussern, fand er Aufnahme auf der Klinik. Er betritt sie ruhig,
äusserlich geordnet, aber mimisch verstört, erschöpft, blass, abgemagert.
Sich selbst überlassen, versinkt er in Brüten über seine Reisepläne, ohne
von der Aussenwelt Notiz zu nehmen. Er gleicht einem Träumer im
wachen Zustand, trifft auch gar keine Anstalten zur Verwirklichung
seiner Pläne. Spontan spricht er nicht, wenn aber interpellirt, motivirt
er sein Vorhaben in obiger Weise und bleibt jeglicher Correctur unzu-
gänglich. Ausser Klagen über Kopfweh keine Beschwerden. Vegetative
Functionen, Nahrungsaufnahme ganz befriedigend, Schlaf unruhig, spär-
lich, oft Aufschrecken. So geht es bis zum 17. Januar, an welchem Tag
ein vollkommenes lucides Intervall besteht. "Während dessen Dauer
völlige Amnesie für die bisherige Krankheitszeit. Vom 18. ab wieder
im Reisedelirium. Die geistige Hemmung mindert sich, die Associationen
werden freier.
Noch ganz im Bann seiner Reiseidee protestirt er dagegen, dass
man ihn etwa für geisteskrank halte, weil er nach Aussergewöhnlichem
strebe. Auch Columbus sei dies passirt, als er übers Meer wollte.
Auch Mackay sei dahin gegangen und in kurzer Zeit Millionär
geworden. Am 2. Februar nahm ihn über sein Bitten seine Frau aus
der Klinik. Sofort erkundigte er sich nach Fahrgelegenheiten nach Ost-
afrika, wollte sein Mobiliar verkaufen, fortreisen, wurde gewalttbätig,
als man ihn daran hindern wollte, so dass er am 4. Februar wieder
nach der Klinik gebracht wurde.
Am 5. Februar Abends wurde ihm plötzlich im Kopfe „klar11 Nach
erstmaliger guter Nacht am 6. Februar mimisch frei, volle Correctur,
summarische Erinnerung für die 2. Periode der Krankheit. Patient theilt
mit. dass er die ganze Zeit derselben heftigen Druck und Beengung im
48 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Kopfe gefühlt habe. Er misstraut selbst dauernder Genesung, bittet um
längere BelassuDg im Spital, erfährt entsprechende Behandlung, bleibt
von Eückfällen verschont und wird im März 1889 genesen' entlassen.
Es ist auffallend, dass der interessanten und practisch wichtigen,
weil häufig vorkommenden transitorischen Psychose der Neurastheniker
in der Literatur bisher so wenig Beachtung zu Theil wurde.
"Werthvolle Beiträge zu diesem klinischen Gebiet hat Professor
C. Mayer (Innsbruck) unter dem Titel „Sechzehn Fälle von Halbtraum-
zustand" in den Jahrbüchern für Psychiatrie XI, 3 geliefert. Er beob-
achtete 15 Männer, 1 "Weib; 11 seiner Fälle waren neuropathisch belastet
gewesen, 4 davon schon längere Zeit vor der Psychose deutlich neur-
asthenisch. In 4 weiteren unbelasteten Fällen brach die Psychose auf
der Höhe einer durch erschöpfende Schädlichkeiten (Strapazen, schlechte
Ernährung bei angestrengter Arbeit, Nahrungssorgen) acquirirten tem-
porären Neurasthenie aus. Fast ausschliesslich handelte es sich um im
jugendlichen oder frühen Mannesalter stehende Individuen.
Die Dauer der Psychose betrug Stunden bis 6 Tage, nur in einem
Fall protrahirte sie sich bis zu 24 Tagen.
In allen Fällen bestand ein traumhafter Zustand, in 12 daneben
temporär oder dauernd Verwirrtheit. Episodisch kamen öfter Angst-
gefühle bis zur Abwehr gegen die Umgebung vor. Ein passendes Bei-
spiel solcher Verwirrtheit ist C. May er 's 5. Fall. Er betrifft einen 18 Jahre
alten Arbeiter, der aufs Polizeicommissariat kommt mit Brod, das ihm
König Milan gegeben habe, das aber vergiftet sei. Er will sich seiner
Kleider entledigen, weil Thiere drin seien, die ihn tödten wollen, äusserst
Angst, ermordet zu werden, bleibt verwirrt und gehemmt durch S'/a Tage,
wird plötzlich lucid, hat complete Amnesie für die ganze Zeit der Krank-
heit, die durch Nothlage und relative Inanition vermittelt war.
In 4 der 12 betreffenden Fälle von Halbtraum mit Verwirrtheit
bestanden Grössenideen (Erzherzog, Erwarten reicher Braut u. s. w.j. Ein
Kranker kaufte Laugenessenz und machte daheim einen ganz unmotivirten
Selbstmordversuch, wie Mayer vermuthet, im Sinne der Erinnerung und
Nachahmung des Selbstmordes eines geliebten Bruders, der sich vor
einem Jahre entleibt hatte. Ein Anderer kaufte einen Revolver, kam
aber zu sich, bevor er damit einen Schaden gestiftet hatte.
In sämmtliehen Fällen fand sich durchweg Amnesie für die Erleb-
nisse der Anfallszeit.
Die 4 von Mayer ausführlich geschilderten Falle iniigen hier kurz erwähnt werden.
1. A., 17 Jahre, wird auf der Strasse auffällig, kommt scheinbar geordnet, in
Wirklichkeit aber in traumhafter Verfassung, auf die psychiatrische Klinik (Mai) 1888.
Dritter Aufsatz. 49
Er hält sich für General Boulanger, fabulirt einen ganzen Roman im Sinne dieses
Wahns. Er spricht nur, wenn man ihn anredet, verhält sich äusserlich geordnet. Am
21. Tag Ansätze zu Correctur, am 24. völlige Lucidität.
Seine letzte Erinnerung datirt vom Vortag seiner Erkrankung. Er reist planlos
aus Böhmen ab, dämmert 4 Tage in Wien unbeanstandet herum, concipirt nun den
Wahn, Boulanger zu sein und sich in Paris zu befinden.
Amnesie für die 4 ersten Tage, summarische Erinnerung für die folgende Krank-
heitszeit.
Die Lösung der Psychose überdauert noch um einige Tage Kopfschmerz. Erb-
liche Belastung. Epileptoide Antecedentien.
2. Halbtraumzustand von 17 stündiger Dauer nach erschöpfenden Strapazen. Ein
Manu stellt sich 1891 in der Station der Kettungsgesellschaft Wien als Hauptmann
Roder vor und bittet, ihm seine soeben in der Schlacht von Königgrätz blessirte rechte
Hand zu verbinden. Nach 17 Stunden plötzliche Lösung dieses Tramnzustands. Patient
hat Narben von einer Verletzung des rechten Zeigefingers, die noch öfter schmerzen.
Vom 1. März ab hatte er grosse Strapazen erduldet und nicht geschlafen. Am 5. März
war er wegen des Gebrechens an der Hand bei der Assentirung zurückgestellt worden.
Am 8. März Abends, im Begriff heimzureisen, war er unter heftigem Kopfschmerz plötz-
lich erkrankt und am 0. im Spital, unter Fortdauer des Schmerzes, plötzlich zu sich
gekommen. Amnesie. Rasche Erholung von der Erschöpfung.
8. Ein 32jähriger Mann geräth 1801 auf einer Reise von Hamburg nach Dresden,
wo er einen Poston antreten soll, in einen Traumzustand, kommt nach Wien, hält sich
für Dom Pedro, Kaiser von Brasilien, fabulirt innerhalb dieses Wahns einen ganzen
Lebensroman, schreibt eine Proclamation an sein Volk, kommt nach 5 Tagen plötzlich
zur Wirklichkeit zurück, hat ganz summarische, grosseutheils fehlende Erinnerung lür
die Krankheitraeit. Der Anfall war plötzlich nach mehrtägiger Schlaflosigkeit eingetreten.
4. Mann von 32 Jahren wird 18Ü0 in Wien auffällig durch Erkundigung nach
der brasilianischen Gesandtschaft, er sei Kaiser von Brasilien.
Klagen über Kopfschmerz, Müdigkeit, Abspannung. Patient sehr gehemmt, weiss
nichts vom Verbleib seiner Frau, nicht den Namen seines Kindes. Glaubt sich auf
einem Schiff, spricht nur antwortend auf Fragen. Plötzliche Lösung. Amnesie. Seit
Jahren Neurasthenie.
C. Mayer betont das Traumhafte dieser Zustände und die Unfähig-
keit, Eindrücke aus der Aussenwelt zur Correctur des Wahns zu benutzen,
also einen eigentümlichen Hemmungsvorgang im Vorstellen, „wobei
aber innerhalb des Wahngebiets phantastische Ausschmückungsfähigkeit
besteht" Als Grundlage dieser Hemmungserscheinungen nimmt C. Mayer
eine corticale Erschöpfung an, wodurch eine eigenthümliche Einengung des
Bewusstseins gegeben ist und nur von dem herrschenden Wahn getragene
Vorstellungen die Schwelle des Bewusstseins überschreiten könnten.
Die Uebereinstimmung der von C. Mayer geschilderten Fälle mit
den von mir beobachteten ist eine vollständige.
Die Eigenartigkeit derselben innerhalb des Gebietes transitorischen
Irreseins ist nicht zu bezweifeln.
Versucht man dem Krankheitsbild in seiner klinischen Eigenart näher
zu treten, so erscheint es als die Acme eines Erschöpfungszustands im
KrafftKMn,' Lrtwltan 1. 4
50 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Eahmen cerebraler Neurasthenie, als eine Episode im Verlaufe dieser
Neurose. Die Asthenie ist, unbeschadet in der Mehrzahl der Fälle nach-
weisbarer hereditärer und individueller Veranlagung zu Neuropathieen
überhaupt, wesentlich eine Berufsneurasthenie, bei welcher Gemüths-
bewegungen, missliche Lebens- und Familienverhältnisse die Wirkung
des Surmenage unterstützen.
Bei einem dergestalt übermüdeten und überreizten Gehirn genügt
dann ein geringfügiges Accidens in Gestalt eines psychischen Shoks,
schlafloser Nächte, der Inanition durch Anorexie oder Nahrungsmangel
oder eine letzte Anspannung der geistigen Kräfte im Beruf, um die
Psychose in Gestalt eines schweren Erschöpfungszustands des psychi-
schen Organs hervorzurufen. Bemerkenswerth ist, dass auch bei Unbe-
lasteten unter dem Einflüsse von Schädlichkeiten, die ungebührlichen
Verbrauch an Nervenkraft bei mangelhaftem Wiederersatz herbei-
führen, jene auftreten kann. (Beobachtung 1, 2, 3, 4, 8, 10, 14, 15,
16, 20, 21).
Schwer gestörte chemische Thätigkeit der Ganglienzellen der Hirn-
rinde, in Folge jener Schädigungen, ist offenbar das Substrat der klinischen
Symptome.
Jene Störung des Chemismus ist auf 2 Bedingungen zurückführbar,
auf Inanition und Intoxication. Die Inanition ist die Folge der durch
übermässige Leistung, Agrypnie abnorm vermehrten Verausgabung von
lebendiger Kraft, wobei der Ersatz in Gestalt chemischer Aequivalente,
so lange die Ganglienzellen psychische Arbeit leisten, unmöglich ist.
Dazu mögen mangelhafte Nahrungszufuhr oder wenigstens erschwerte
Peptonisirung und Assimilation kommen, endlich, unter dem Einfluss
vasospastisch gestörter Circulation im Gehirn, mangelhafte Blutzufuhr.
Die Intoxication im psychischen Organ erklärt sich durch Anhäufung
schädlich wirkender Ermüdungsstoffe, bei ungenügender Oxydation
und Abfuhr derselben in Folge mangelhaften Schlafes. Die klinischen
Erscheinungen setzen sich aus Hemmungs- und Reizphänomenen zusammen,
die ersteren überwiegen. Die Hemmungsphänomene lassen sich als
Ausfallserscheinungen corticaler Function ansprechen im Sinne von par-
tieller Seelenlähmung, Seelenblindheit, Worttaubheit, bis zu allgemeiner
Hemmung im Sinne der Associationshemmung, der unmöglichen Schluss-
und Urtheilsbildüng, der Hemmung der Bewusstseinsfunction in Gestalt
von Dämmer-, Traum- und Stuporzuständen.
Dem Grad der Bewusstseinsstörung entspricht wohl das Verhalten
der Erinnerung, die erhalten, getrübt, summarisch, meist aber fehlend
sich erweist. Von grossem Interesse ist die schon von C. Mayer hervor-
gehobene erhaltene partielle Associations- und psychische Coordinations-
Dritter Aufsatz. 51
fähigkeit innerhalb des herrsehenden (Wahn-) Vorstell ungskreises, eine
Erscheinung, die in ganz analoger Weise auch im Somnambulismus
beobachtet wird.
Dem Grade der Inanition dürfte die Störung der Bewusstseinsenergie
entsprechen. Als schwerster Ausdruck derselben erscheinen Stupor- und
Verwirrtheits-, dann Dämmer- und Traum- bis Halbtraumzustände.
Bei den meisten dieser Kranken lässt sich die psychische Verfassung
als Wachtraum bezeichnen. Als Reizphänomene, wohl als Ausdruck
toxischer Vorgänge, lassen sich Angst, gewisse (schreckhafte) Delirien
und Hallucinationen ansprechen.
Ein wichtiges Symptom im Krankheitsbild sind Delirien resp. Wahn-
ideen. Sie finden sich in C. Mayers Fällen fl mal unter 16, in meiner
Beobachtungsreihe 14 mal unter 25 Fällen.
Unter diesen 23 Beobachtungen mit Wahnbildung ist der Wahn
14 mal ein expansiver und zwar 10 mal ein Monodelirium im Sinne einer
Standeserhöhung.
Seltener finden sich Delirien depressiven Inhalts (in meinen 25 Fällen
4 mal). Sie sind Monodelir. fix, nach Art der Delirien der Standes-
erhöhung, in Gestalt von Selbstanklagedelir (18, 23) oder vage, flüchtig,
im Gefolge ängstlicher Verwirrtheit. Solches vages depressives Delirium
mit Störung des Bewusstseins, im Sinne ängstlicher Verwirrtheit, scheint
sich nur auf dem Boden relativer Inanition und vasospastischer Zustände
im Gehirn zu finden. Bei schwerer Inanition dürften Delirien fehlen,
und einfach ängstliche Verwirrtheit bis zu Stupor den Inhalt des
Symptomenbildes darstellen.
In solchen Fällen' deuten auch die körperlichen Erscheinungen (enge,
drahtartig contrahirtc Arterien, abnorm weite, träge Pupillen, wohl durch
vermehrte Innervation der Vasodilatatoren der Iris) auf vasospastische
Zustände im Gehirn hin. Von grossem Interesse und für die Erkennung
der eigenthümlichen Hemmung, in welcher sich der geistige Mechanismus
in diesen Wachtraumzuständen befindet, wichtig ist die Ermittelung der
Entstehung der Monodelirien bei diesen Kranken.
Auffallend geringfügig ist der hallucinatorische Weg für solche
Wahnbildung (12), ebenso der der Allegorie (C. Mayer's vermeintlicher
Verwundeter) gegenüber der Entstehung des Wahns aus der Eigen-
In'ziehung von Tagesereignissen (Zeitungslektüre u. s. w.) oder von kürz-
lichen Erlebnissen in traumhaft phantastischer Umgestaltung, ferner der
Verwechslung von lebhaft Gedachtem, Geträumtem mit Wirklichkeit
Das deutet mit Sicherheit darauf, dass plötzlich eine Aenderung im
Bewusstseinsorgan sich vollzog, vermöge welcher Kritik, Besonnenheit,
Sinneswahrnehmung, Associationsvorgänge eine schwere Hemmung bis
4*
52 Transitoriscb.es Irresein bei Neurasthenie.
zur Unfähigkeit ihrer Leistung erfuhren. Vielleicht am schönsten zeigt
sich dies in Beobachtung 25, deren Repräsentant in relativer Gesundheit
an und für sich nicht unsinnige Auswanderungspläne hegte, mit Beginn
neurasthenischer Zustände von entsprechenden Zwangsvorstellungen
befallen wurde, die mit eintretender Psychose dann sofort die Bedeutung
von Wahnideen gewannen.
Gute Beispiele von Umwandlung von im gesunden Leben offenbar
bestandenen, lebhaft betonten Ideen einer Verbesserung der Lage, in
Wahnideen einer eingetretenen Standeserhöhung, sind der Oberlehrer (2),
der sich für einen Landesschulinspector hält, der Gymnasialprofessor (22),
der Minister wird, der Schüler (10), der Kaiser von China wird und
als solcher ein Gesetz erlassen hat, dass die Schüler künftig ohne ihre
Zustimmung keine Fünfer (schlechte Noten) mehr erhalten dürfen; ferner
der Lehrling (13), dem Europa nicht mehr behagte, der nach Amerika
auswandern wollte und plötzlich Präsident der V. S. wurde. Dass sogar
ein einfach nicht corrigirbarer Traum den Inhalt des Wahns bilden
kann, lehrt jener Stationsaufseher (3), der sich für einen Stationsvorstand
hielt. Auch die Selbstanklagewahnvorstellungen, wie sie die Beobachtungen
18 und 23 enthalten, finden offenbar ihre Begründung in entsprechenden
Gedanken des relativ gesunden Geisteslebens, von denen die bedauerns-
werthen Mütter heimgesucht waren.
Bezeichnend für die Hemmung der Denkvorgänge, speciell der Kritik
in solchem Zustand ist Beobachtung 23, wo die Mutter beim Fortgehen
ihr gesundes Kind vor sich hat, gleichwohl auf die Polizei eilt und sich
anklagt, dasselbe ermordet zu haben.
Treffliche Beispiele von Verwechseln von Gelesenem und Erlebtem resp.
von Entstehung von Wahn aus Zeitungslectüre sind C. Mayer's „General
Boulanger'1 und die beiden „Dom Pedro's von Brasilien''.
Solche psychische Ausnahmszustände haben die grösste Analogie
mit dem Traumleben, mit dem sie die Art der Wahnbildung auf Grund
gehemmter Associationsthätigkeit und damit gehemmter Kritik und Urtheils-
fähigkeit, gleichwie die phantastische Umbildung und Uebertreibung von
irgendwie gegebenen Eindrücken gemein haben. Auch in sofern besteht
hier eine Analogie, als erfahrungsgemäss Träume expansiven Inhalts
am häufigsten in Zeiten körperlicher und geistiger Erschöpfung vorkommen
und expansive Wahnideen bei solchen Wachtraumzuständen der Neur-
astheniker prävaliren. Aus der gleichen körperlichen Grundlage ergiebt
sich wohl zugleich die Erklärung für dieses Prävaliren.
Gleichwie beim Träumenden sind auch diese Delirien gemüthlich
wenig betont und ihre Umsetzung in entsprechende Handlungen unter-
bleibt in der Mehrzahl der Fälle. Eine geringfügige Rolle spielen in
Dritter Aufsatz. 53
dieser Form der Vesania transitoria Hallucinationen. Sie finden sich nur
in den Beobachtungen 12 und 21. In ätiologischer Beziehung bestätigen
meine Erfahrungen die von C. Mayer, dass es vorwiegend jugendliche
Personen sind, die dieser Krankheit anheimfallen. Das U eberwiegen der
Männer (20 : 5) über die Frauen in meinen Beobachtungen erklärt sich
ohne Weiteres aus der exponirteren gesellschaftlichen Position der
ersteren. Das plötzliche Einsetzen und die rasche Lösung der Psychose
hat die Vesania transitoria der Neurasthenischen mit den anderen Formen
des transitorischen Irreseins gemein. Die Bedeutung eines ausgiebigen
reparatorischen Schlafs für die Genesung ergiebt sich aus der Mehrzahl
der mitgetheilten Fälle.
Bezüglich der Dauer der Psychose ergeben sich grosse Verschieden-
heiten. Sie währt von 21/2 Stunden (9) bis zu 32 Tagen (25), im Durch-
schnitt 1 — 4 Tage. In diagnostischer Hinsicht sind die dämmerhafte
oder traumhafte Verfassung des Sensoriums, die schwere Störung der
Kritik auf Grund von Hemmung der associatorischen Vorgänge, die
Seltenheit von Hallucinationen. die Häufigkeit von ganz märchenhaften
Delirien, besonders solchen der Standeserhöhung, hervorzuheben. Wichtig
ist der Nachweis der Delirien als das mit Eintreten der Bewusstseins-
veränderung correcturlose, weil durch Hemmung der Kritik uncorrigir-
bare Fürwahrhalten von Ideen, die als prämorbide in Gestalt von
Luftschlössern, Zwangsvorstellungen oder wenigstens lebhaft sich auf-
drängenden Gedanken oder Tageserlebnissen schon bestanden.
Dazu traumhaftes Wesen, Versunkensein, mangelhafte Betonung der
Wahnideen durch entsprechende Affecte und seltene Bestrebung in ihrem
Sinne zu handeln.
Ueberdies vorausgehende und folgende Erscheinungen eines cerebral
asthenischen Gesammtzustands, initialer und begleitender Kopfdruck,
erschöpfter, verschleierter Gesichtsausdruck, weite träge Pupillen, Erzittern
der Lider beim Augenschluss, Inanitionstremor, gesteigerte tiefe Reflexe,
gesunkener Muskeltonus, sofern nicht Delirien der Standeserhöhung im
Spiele sind, abnormale Temperaturen, bedeutende Vermehrung des
Indicangehalts des Urins.
Von grosser Wichtigkeit scheint mir die differentielle Diagnose
dieser Zustände von ähnlichen, wie sie auf epileptischer Grundlage vor-
kommen. Schon in meinem ersten Aufsatz (S. 14) habe ich die Bedeutung
einer solchen Differenzirung betont. Practisch kann es nicht gleichgültig
sein, wie die Diagnose gestellt wird, da es sich um einen Menschen in
recht verantwortlicher socialer Stellung handeln kann, der, wenn bloss
an neurasthenischer transitorischer Psychose krank gewesen, bei der
geringen Gefahr einer Recidive, seinem verantwortlichen Beruf ohne
54 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Weiteres zurückgegeben werden kann, -während dies bei epileptischer
Bedeutung des Falles nicht zulässig wäre.
Die Diagnose in solchen zweifelhaften Fällen gehört jedenfalls zu
den schwierigsten Aufgaben auf psychiatrischem Gebiete, denn die
klinischen Bilder des neurasthenischen und gewisser Formen des epi-
leptischen transitorischen Irreseins sind noch keineswegs endgültig
erforscht und — wahrscheinlich vermöge nicht wesentlich verschiedener
Gehirnveränderungen als Substrat des Anfalls, einander überaus
ähnlich.
Auch aus dem Erweis oder Nichterweis epileptischer Antecedentien
lässt sich kein sicherer Schluss ziehen, da ein positives anamnestisches
Ergebniss zwar den Fall höchst epilepsieverdächtig macht, aber die Mög-
lichkeit nicht ausschliesst, dass der Epileptiker zugleich neurasthenisch
war, und die transitoiische Psychose auf Kechnung der letzteren Neurose
zu setzen sei.
Ueberdies kann es zweifelhaft bleiben beim gegenwärtigen Stand
unserer Kenntnisse von der Epilepsie, ob anamnestische, zudem oft
mangelhaft beobachtete oder berichtete epilepsieartige Phänomene einen
sicheren Rückschluss auf vorhandene Epilepsie gestatten.
Es ist hier nicht zu vergessen, dass epileptoide Phänomene auch
im Eahmen der Neurasthenie vorkommen und dass Leute mit epilep-
tischen Traumzuständen selten oder nie mit Anfällen klassischer Epi-
lepsie behaftet zu sein pflegen.
Differentiell diagnostisch kommen gegenüber dem transito-
rischen neurasthenischen Irresein epileptische Angst- und Verwirrt-
heitszustände einerseits und andererseits epileptische Traum-
zustände in Betracht.
Bezüglich der ersteren lässt sich differentiell -diagnostisch geltend
machen, dass sie nur Stunden oder umgekehrt Monate lang andauern,
dass sie gerade selten ohne epileptische Hinweise sind, oft geradezu
postepileptisch in Erscheinung treten.
Auf Grund von Angst und illusorischer feindlicher Verkennung der
Aussenwelt sind solche Kranken errabund. Es fehlt hier der Grundzug
neurasthenischer Angstzustände, die grosse psychische und damit auch
motorische Hemmung. Eben deshalb sind auch bedeutende und selbst
gefährliche motorische Reactionen bei solchen Kranken etwas ganz
Gewöhnliches. Immer ist hier das Bewusstsein schwerer gestört und
nie fehlt Verwirrtheit. Die Erinnerung ist eine nur summarische für
die Anfallserlebnisse. Recidive sind an der Tagesordnung.
Der folgende Fall möge als Paradigma solcher epileptischer Angst-
und Verwirrtheitszustände dienen.
Dritter Aufsatz. 55
Beobachtung 26. Epileptischer Angstzustand.
0., 34 Jahre, ledig, Steinmetz, wurde auf meiner Klinik am 12. März
1878 aufgenommen.
Unbelastet, ohne epileptische Antecedentien, dem Potus nicht ergeben,
früher gesund, war er im Spätherbst 1870 von Bauernburschen in einem
Streit heftig gewürgt und mit dem Hinterhaupt an eine Wand geworfen
worden. Er bekam Funkensehen, Ohrenklingen, wurde bewusstlos, kam
nach 10 Minuten wieder zu sich, blieb aber benommen, betäubt durch
einige Tage, hatte Halsschmerzen, Suggilationen.
Seither war er intolerant gegen hohe Temperatur und AJcohol gewesen,
litt viel an Schwindel und Blutandrang zum Kopf, fühlte Abnahme seines
Gedächtnisses, konnte nicht mehr so coulant schreiben und rechnen wie
früher, zeigte Mangel an Ueberlegung und Geschicklichkeit im Beruf.
Auch war er reizbar geworden und gerieth leicht in maasslosen Zorn.
1871, etwa ein halbes Jahr nach der Misshandlung, als 0. in der
Sonnenhitze arbeitete, verspürte er plötzlich Nachmittags Summen im
Kopf, Ohrenklingen, Schwindel, Betäubung und sank zu Boden. Nach
kurzer Bewusstlosigkeit kam er zu sich, war aber nun ängstlich, lief
in erheblicher Bewusstseinsstörung. ohne Motiv und ohne zu wissen,
was or thue, zum Pfarrer, sah diesen mit 2 Köpfen, allerlei Thiere,
schalt den Geistlichen aus, lief dann, von Angst getrieben, ohne Stiefel
planlos fort, verletzte sich auf dieser Flucht die Füsse, wurde gegen
10 Uhr Abends planlos umherirrend gesehen, flüchtete in einen Wald,
wo er einschlief und am anderen Morgen beim Erwachen nur ganz
traumhaft sich des Vorgefallenen erinnerte. Von da ab bis zum Sommer
1873 befand sich 0. bis auf zeitweisen Schwindel, Kopfweh, nervöse
Erregtheit und psychische Keizbarkeit leidlich wohl.
Nun kamen etwa 3 mal wöchentlich Angstanfälle von etwa 1 Stunde
Dauer, mit erheblicher Verwirrtheit und Bewusstseinstrübung. Sie wurden
in typischer Weise eingeleitet von Vorstellungen, dass ihn die Leute
würgen wollten, dass ihm etwas Schreckliches bevorstehe, er sich durch
die Flucht retten müsse, und hinterliessen nur eine traumhafte, summarische
Erinnerung. Vom Herbst 1873 bis Januar 1876 schwiegen diese Anfälle,
aber geschwächte geistige Leistungsfähigkeit, Gedächtnissabnahme, Nei-
gung zu Congestionen und grosse Eeizbarkeit dauerten fort.
Vom Januar 1876 ab wieder Angstanfälle, fast täglich, meist Mittags
beim Essen. Patient wurde schwindlig, betäubt, verwirrt, bekam Pria-
pismus, delirirte von Vergiftung, wogegen er sich durch Trinken grosser
Mengen von Wasser zu schützen suchte. Solche Anfälle von ängst-
licher Verwirrtheit dauerten, allerdings mit Intervallen bis zu Monaten,
typisch bis zum Eintritt in die Klinik fort.
56 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Patient bot ausser etwas kleinem, plagiocephalem Schädel (Cf. 54),
Parese des linken Mundfacialis somatisch nichts Bemerkenswerthes,
psychisch erhebliche Schwäche und grosse Keizbarkeit. Trotz mehr-
wöchentlicher Beobachtung Hessen sich keine irgendwie gearteten epi-
leptischen Insulte constatiren. Die Angstanfälle traten unter Bromkali-
Behandlung nicht mehr zu Tage.
Noch grössere Schwierigkeiten dürfte die Auseinanderhaltung epi-
leptischer und neurasthenischer Traumzustände bieten.
Der meist expansive Inhalt der Wahnideen, der dämmer- oder traum-
hafte Zustand des Bewusstseins, die wenig beschränkte Association und
Handlungsfähigkeit im Bahmen des Wahns, die meist nur Tage oder
selbst nur Stunden betragende Dauer, das Zusichkommen wie aus einem
Traum , die meist bestehende Amnesie für die Erlebnisse des Ausnahms-
zustands sind beiden transitorischen Psychosen gemeinsame Symptome.
Als Unterscheidungsmerkmale lassen sich vorläufig geltend machen:
der grosse Wechsel der Intensität der Störung des Bewusstseins bis zu
relativer Lucidität, und demgemäss das Schwanken im Werthcharakter
der krankhaften Vorstellungen zwischen Zwangs- und "Wahnideen bei
epileptischen Traumzuständen, während die neurasthenischen auf der
Höhe der Bewusstseinsstörung ohne deutliche Bemissionen zu ver-
harren pflegen.
Dazu kommt die nicht selten ausgesprochene epileptische Aura vor
dem Anfall im Sinne einer hallucinatorischen (Umwogtsein von Gestalten,
besonders solchen in rother Farbe, schreckliches Getöse u. s. w.), das
Vorherrschen von Hallucinationen im Anfall bis zu förmlichem hallu-
cinatorischem Delir, während Hallucinationen bei neurasthenischen
Zuständen entschieden selten sind, überdies einförmig und stabil, gleich-
wie etwaige Wahnvorstellungen, nicht vielfach und polymorph wie bei
epileptischem Traumzustand.
Ganz besonders wichtig erscheint ferner der Nachweis von episo-
dischem Stupor im (epileptischen) Dämmer- oder Traumzustand.
Während bei rein neurasthenischen Fällen die Lösung des transi-
torischen Irreseins plötzlich und mit Wiedereinsetzen voller Lucidität
zu erfolgen pflegt, geht in epileptischen die Psychose in der Begel durch
ein postparoxysmales Dämmer-, Verwirrtheits- oder Betäubungsstadium
hindurch, das selbst Züge des Stupor gewinnen kann.
Auch anamnestisch oder durch Beobachtung festgestellte Becidive
sind zu verwerthen. Sie sprechen entschieden für epileptische Bedeutung
des Falles.
Begleitende und intervalläre klinische Zeichen der einen oder der
anderen Neurose mögen ebenfalls diagnostische Fingerzeige geben.
Dritter Aufsatz. 57
Sehr wahrscheinlich scheint mir aber, dass es Fälle giebt, in welchen
sowohl eine gleichzeitig bestehende epileptische wie auch neurasthenische
Neurose Einfluss auf einen solchen Traumzustand gewinnt und dadurch
ein combinirtes Krankheitsbild entsteht.
Die folgenden 3 Fälle gestatten wahrscheinlich eine solche Deutung.
Ich beschränke mich darauf, das, was im Bild der Neurasthenie fremd
scheint, mit gesperrter Schrift hervorzuheben.
Beobachtung 27. Neurasthenisch- epileptischer Traumzustand.
Am 14. October 1896 erschien H., 24 Jahre, ledig, Friseurgehilfe,
auf einem Polizeicommissariat in Wien und bat um Schutz vor dem
Scharfrichter, einem Manne mit rothem Bart und grünem Mantel,
der ihm seit 3 Tagen nachgehe, ihm grundlos vorwerfe, einen Menschen
gehängt zu haben und nun an ihm Vergeltung üben wolle. Derselbe
habe ihm auch seine Baarschaft abgenommen. H. macht diese Angaben
ganz verstört, vor Angst zitternd und wird sofort der psychiatrischen
Klinik zugeführt.
Dort glaubt sich Patient im Vorzimmer des Scharfrichters, der bald
zur Thüre, bald zum Fenster drohend hereinsehe und ihm einen zur
Schlinge formirten Strick entgegenhalte.
Patient ist wie fascinirt von dieser Vision, starrt angstvoll nach
derselben hin, erscheint schwer associativ und motorisch gehemmt und
ist zu weiteren Mittheilungen vorläufig nicht zu gewinnen.
Er bietet müde, schlaffe, verschleierte Miene, gesunkenen Muskel-
tonus, schlaffen Gang und Haltung, verharrt angstvoll starrend im Bett,
nimmt von der Aussenwelt keine Notiz. Die Pupillen sind mittelweit,
von prompter Reaction, die Zunge zittert fibrillär. die tiefen Reflexe
an den Unterextremitäten sind collosal gesteigert. Ein Schlag auf Sehnen,
Knochen genügt, um allgemeinen Schüttelkrampf der UE. hervorzurufen,
der sich weiterhin auf OE. und Rumpf fortsetzt. Die Haut ist hyperal-
getisch und ihre Gefässe sind äusserst lähmbar (Dermographie). Im
Urin sind keine abnormen Bestandtheile, Phosphate sehr reichlich.
Die erste Nacht verläuft schlaflos, die auf den 16. wird auf 2.0 Chloral-
hydrat durchschlafen.
Am 16. früh ist Patient mimisch etwas freier, aber bald erscheint
wieder der Scharfrichter und übt seine facsinirende Wirkung. Man
erfährt vom Patienten, dass die Polizei jenem zwar das Hängen ver-
boten habe, aber er drohe, ihn nun durch einen seiner vielen Diener
vergiften zu lassen.
Trotz dieser peinlichen Situation bietet Patient in der Folge keinen
eigentlichen Affect und keine Versuche, sein vermeintlich bedrohtes
Leben zu retten.
58 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Grosse allgemeine Hemmung der psychischen Functionen, traum-
hafte Verfassung des Sensoriums. Am 16. Nachmittags etwa einstündige
Remission, in welcher H. folgenden Brief an seinen Bruder schreibt:
„Lieber Victor! Ich möchte Dich doch bitten, mir zu helfen, ich
bin seit der Zeit im Spital und weiss nicht warum, und bin bis auf
den letzten Kreuzer beraubt."
Patient klagt über Kopfdruck („Kappe") und globusartiges Gefühl.
Die Remission wird wieder durch die Vision des Scharfrichters ver-
drängt und Patient ist wieder traumhaft gehemmt.
Am 17. früh nach guter Chloralnacht ist H. nur noch dämmerhaft.
Er weiss, wo er ist, glaubt, es sei heute ein Sonntag im November.
Er erinnert sich nicht, dass er einen Brief geschrieben, hat summarische
Erinnerung für den Scharfrichter, den er vor einiger Zeit bei einer
Hinrichtung in N. (thatsächlich) gesehen habe.
Er beschreibt ihn als unheimlichen Mann mit rothem Bart und
grünem Mantel.
Im Laufe des Tages exacerbirt der Zustand. Patient sieht wieder
das Phantasma und hat ein Gefühl, als ob er am Nacken gepackt werde
(die ganze Nacken- und obere Wirbelsäule ist sehr druckempfindlich).
Correcturversuchen gegenüber ist H. ganz unzugänglich. Er begreift
nicht, dass Jemand ohne Strafthat, Gerichtsverhandlung, Urtheil in die
Gewalt des Scharfrichters gelangen könne, versucht auch seinen "Wahn
gar nicht mehr zu motiviren. Wiederholt Klagen über Kopfdruck, leb-
haftes Erzittern der geschlossenen Lider.
Am 18. October Abends wird Patient plötzlich lucid. Er kommt
wie aus einem „Traum" zu sich, hat Amnesie für die ganze Epi-
sode vom 14. October ab. Seine Erinnerung bricht an diesem Tage
mit der Thatsache ab, dass er Morgens 6 Uhr den Geschäftsladen
öffnete.
Von nun ab ist Patient noch einige Tage leicht dämmerhaft, aber
über seine Lage orientirt und ganz geordnet.
Er klagt heftigen Kopfdruck, allgemeine Mattigkeit und Zerschlagen-
heit, schläft nur mit Nachhülfe (Brom-Antipyrin Codein) und ist vom
Schlaf nicht recht erquickt.
Die ganze Nacken- und Rückenwirbelsäule ist höchst druckempfind-
lich. Die Steigerung der tiefen Reflexe in den UE. reducirt sich auf
Patellar- und Fussclonus. Das Lidzittern verliert sich.
Am 20. October Nachmittags wird Patient plötzlich wieder
traumhaft, starrt vor sich hin, erklärt auf Befragen wieder
den Scharfrichter zu sehen. Nach 5 Minuten Stat. quo ante
leichter Umdämmerung. Für diesen Anfall besteht Amnesie,
Dritter Aufsatz. 59
sodass derselbe eine Lücke in der seit 18. Abends continuir-
lichen und ungetrübten Erinnerung bildet
Vom 21. ab ist H. mimisch und psychisch endlich ganz frei und
bleibt so, ohne dass irgend welche epileptische Phänomene zur Beobachtung
gelangen, bis zur Entlassung am 31. October. Der Stat. retrospectivus,
der wegen anfangs jeweils rasch eintretender psychischer (ne urasthenischer)
Erschöpfung nur in mehreren Sitzungen möglich war, ergab Folgendes:
Keine hereditäre Belastung. Rachitis im 1. Jahr (untermittelgross, Schädel
etwas aufgetrieben an den Tubera, Cf. 54 Cm. Säbelbeine, etwas grosse
Epiphysen u. s. w.). Von jeher nervös, emotiv, schreckhaft, bei Schreck
am ganzen Leibe zitternd.
Seit Monaten neurasthenisch gewesen (Kopf druck, allgemeine Mattig-
keit, rasche psychische und körperliche Ermüdbarkeit, Zusammenfahren
beim geringsten Geräusch, grosse Erregbarkeit, ungenügender unerquick-
licher Schlaf, mit häufigem Aufschrecken). Neuerlich Kränkung über
den mit H.s Leistungen unzufriedenen Dienstgeber, der unter Anderem
schlechte Arbeit, Rasiren der Kunden nur auf einer Gesichtshälfte und
andere Zerstreutheiten mit Recht bemängelte. Dazu Zerwürfniss mit
der Geliebten. Sorgen bezüglich der Zukunft, Gefühl beruflicher Insuffi-
cienz, schlechte Nächte kurz vor der Erkrankung.
Seit dem 11. Jahr Schwindelanfälle mit Bewusstseinstrübung
ohne Aura, in deren einem Patient zu Boden stürzte (restirende Narbe
am Nasenrücken.
Seit Jahren oft jeden 2. Tag petit mal Anfälle i plötzliche Erstarrung,
stierer Blick, Fallenlassen von Gegenständen, Dauer kaum eine Minute,
Amnesie).
Als Knabe schon jähzornig, oft grundloser Lachzwang, der ihm in
Schule und Haus Prügel eintrug. Nie Trauma capitis, kein Potator,
keine sexuelle Excesse.
1892 orster Anfall von impulsivem Fortlaufen nach Hause zu
den Eltern, mitten aus der Arbeit (hatte gerade einen Kunden ein-
geseift), mehrtägiger Dämmerzustand mit nur ganz summarischer
Erinnerung.
1895 2. analoger Anfall. Patient hatte damals ein eigenes
Geschäft in einem Landstädtchen in Böhmen. Plötzlich kam ihm der
Gedanke, nach Wien zu fahren und diese Stadt zu besehen. Er
Hess Alles stehen, seinen Laden offen, fuhr nach Wien, dämmerte
durch einige Strassen, kam plötzlich ganz traumhaft zu sich, schämte
sich des Vorgefallenen, getraute sich nicht heimzufahren, nahm eine
Stelle in Wien an, wo er bis auf die letzte Zeit zur Zufriedenheit
gedient hatte.
60 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Bei der Entlassung am 31. October psychisch normal, aber noch
neurasthenisch (leichter Kopf druck, gesteigerte tiefe Reflexe, Wirbel-
säule empfindlich, rasche Ermüdung, grosses Ruhebedürfniss).
Beobachtung 28. Neurasthenisch epileptischer Traumzustand mit
Delirien der Standeserhöhung.
Am 16. November 1893 wurde ein junger Mensch in den Strassen
von "Wien mit derangirter Toilette herumdämmernd aufgegriffen.
Er behauptete , Graf K. aus Böhmen zu sein und wurde der psychia-
trischen Klinik noch am gleichen Tage von der Sicherheitsbehörde zugestellt.
Der Unbekannte klagte über heftigen drückenden Kopfschmerz, bot
das Bild eines schwer neurasthenischen, erschöpften, im Bewusstsein tief
gestörten Menschen, gab aber ganz zusammenhängend an, er sei Graf K.,
vor 5 Tagen ungefähr nach Wien gekommen, weil ihn die anderen Grafen
zu Standesgenossen und Priestern führen wollten. Es sei hier ein gräf-
liches Haus mit lauter Grafen in Uniform (Spitalkleidung), die ihm aber
nicht gefalle. Es behage ihm hier nicht, er wolle fort, man lasse ihn
aber nicht weg. Er besitze viele Schlösser, Pferde, Wagen. Ueber
seine Herkunft ist nichts herauszubringen. Nach seiner Beschäftigung
befragt, äussert er mit einer gewissen Süffisance, ein Graf arbeite ja
doch nichts.
Sich selbst überlassen, versinkt Patient in traumhaftes Brüten. Er
ist ein schwächlicher, mangelhaft genährter Junge, hat leicht rachitischen
hydrocephalen Schädel, gesteigerten Patellarreflex, grosses Schlaf bedürf-
niss. Pupillen weit, etwas träge reagirend, die Lider wie die eines Schlaf-
trunkenen nur halb geöffnet. Bis zum 19. erschöpft, viel Schlaf, ohne spon-
tane Aeusserungen, auf Befragen immer die obigen Angaben wiederholend.
Yon da ab ist er etwas regsamer, erwartet seine Abholung mit
Equipage in das Schloss des Grafen X. in Wien. In der Nacht sieht er
ab und zu schwarze Wagen mit schwarzen Pferden , angefüllt mit Grafen.
Er beklagt sich, dass die anderen „Grafen", da sie Nachts zuviel Lärm
machten, ihn im Schlafe stören. Gelegentlich weigert er die Nahrung,
weil sie für einen Grafen zu schlecht sei.
Andauernd schwere Bewusstseinsstörung, ganz desorientirt, spontan
äusserungs- und actionslos bis auf gelegentliches Fortdrängen nach seinem
gräflichen Schloss. Viel Kopfdruck, erschöpftes Wesen, Tremor der
Hände, gesteigerte Patellarreflexe.
Am 15. December wird Patient mimisch und motorisch freier, klagt
nicht mehr über Kopfdruck.
Er ist „Consul", römischer Kaiser, Cäsar, Herakles, schreibt
Tags über endlos und confus Zahlenreihen nieder, wird auffällig reiz-
bar, unwirsch.
Dritter Aufsatz. 61
Am 21. Januar 1894 unter zunehmender Verstörtheit und Gereizt-
heit, wird er stuporös und bleibt so l1/» Tage. Dann wieder
dämmerhaft — Consul, Cäsar, Herakles.
Vom 20. Februar ab zunehmend freier und Klärung des Bewusstseins.
Am 3. März ist er endlich lucid, giebt seinen richtigen Namen an
(Bohumil C.) und hat Amnesie für alle Erlebnisse vom 12. November
1893, wo er ohne Motiv planlos von seinem Dienst als Lehrling in einem
Städtchen in Böhmen fortlief, bis Ende Februar 1894.
Am 22. März 1894 epileptoider Anfall (bewusstlos, Zuckungen
im Gesicht und OE), gefolgt von 2tägigem Stupor. Dann wieder
Stat. quo ante. C. erklärt, unbelastet zu sein, 16 Jahre alt, ohne epi-
leptische Antecedentien. Seit der Kindheit öfter Anfälle von Hemi-
crania simplex.
Seit einem Jahr Neurasthenia ex masturbatione et potu (viel Cognac,
den er als Lehrling in einem Kaufmannsladen trank). Ausser grosser
Reizbarkeit und einem geringen Grad von Imbecillität bis zur Entlassung
am 26. Juni 1894 nichts Auffälliges mehr.
Beobachtung 29. Traumzustand mit expansivem Delirium. Neur-
asthenie. Epileptische Antecedentien.
Am 15. Mai 1894 wurde im Inundationsgebiet am linken Donau-
ufer bei Wien ein Mann in mittleren Jahren aufgefunden, der ganz
nackt war, in der Hand einen Blumenstrauss hielt und als man sich
ihm näherte, dem Strom zueilte. Er gab auf Fragen keine Antwort,
äusserte spontan nur einzelne Sätze, wie „ich suche Eva, gieb ihr
es, da ist sie, dort steht's." Dabei sah er wie suchend ins Leere, erschien
schwer im Bewusstsein gestört.
Patient wird der psychiatrischen Klinik übergeben, geht in gleicher
Verfassung zu, schaut, wie suchend oder beobachtend nach einem
bestimmten Punkt oder geht ruhig in der Zelle auf und ab, ist stumm
bis auf das Verlangen nach einer Peitsche, reagirt in keiner Weise auf
die Vorgänge um ihn, nimmt Nahrung, ist schlaflos, episodisch leicht
stuporös.
Vom 19. Mai ab wird er regsamer, schreibt auf einen Zettel: „Rudolf
Polner hinausgesprungen", drängt verwirrt fort mit den Worten: „gehen
wir fort, gehen wir suchen, ich finde sie schon." Eine Auskunft ist
von ihm nicht zu erhalten.
Am 21. Mai Abends wird er zugänglicher, giebt seinen Namen mit
Josef Huber an, Schiffsmann aus Klosterneuburg, gestern mit dem Schiff
hergekommen, jetzt im Wartesaal, um mit dem Dampfschiff zurück-
zufahren. Die Mitpatienten sind Passagiere, der Arzt ist ein „Vor-
gesetzter-. Patient spricht von einem Rettungsgeld, das in Klosterneu-
62 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
bürg für ihn erliege. Er habe den Rudolf, einen grossen Herrn, einen
Verwandten des Herzogs, einen Sohn des Kaisers, den die Schwarzen
in einem Kloster gefangen hielten, befreit und zu seinem Vater in die
Burg gebracht. Er werde dafür ein Jahresgehalt von 4000 fl. von Rudolfs
Frau bekommen. Patient macht diese Angaben nur auf eindringliches
Befragen. Spontan fragt er nur, ob keine Waare zum Mitnehmen sei,
da er Mittags nach Hause fahre. Ueber sein Vorleben ist nichts heraus-
zubekommen, da Patient associationsfähig nur in seinem Wahnkreis ist.
Die am Tische schreibenden Aerzte hält er für Beamte des Dampfschiffs.
Am 23. Mai (klinische Demonstration) ist er J Herzog (wirk-
licher Name) hält die Beamten für Dampfschiffsbeamte, behauptet, Arbeiter
in einer Steindruckerei zu sein, aus Ungarn zu kommen, den Rudolf
aus einem Kloster befreit zu haben. Wo er ist und wie er da herein-
gekommen, weiss der dämmerhafte Kranke nicht.
Am 27. Mai hält er den Professor für einen Stabsarzt, glaubt sich
in einem Militärspital, verlangt zum 10. Artillerieregiment in W. -Neu-
stadt. Er sei im Militärspital, weil er auf der Reise von Ungarn herauf
vom Pferd gestürzt sei.
Anfang Juni wird Patient mimisch und associativ freier, dies aber
nur in seinem Wahnkreis. Er fabulirt, dass er den Prinzen Rudolf aus
den Händen der Schwarzen gerettet habe. Er ist Lieutenant der Artillerie,
im Dienst der Frau Kronprinzessin, seit 3 Tagen hier. Er drängt fort
zu einer gerichtlichen Commission, die im Kloster Untersuchung halte.
Die Schwarzen werden kriegsgerichtlich erschossen.
Am 18. Juni ist er Oberst der Infanterie. Es ist heute der 19. Juli
1895. Am 17. Juli ist er von Ungarn heraufgeritten. Einen Geistlichen, der
die Klinik betritt, hält er für einen Verschwörer in der Prinzenaffaire.
Derselbe kommt, ihn zu vergiften. Darüber sehr erregt und drohend.
Am 7. Juli schreibt Patient einen langen und ganz geordneten Brief
an die Frau Kronprinzessin. Er theilt mit, dass er 4 Jahre auf der
Suche nach Rudolf war, ihn endlich gefunden, befreit und ins Militär-
spital gebracht habe. Geistliche hätten sich hier eingeschlichen, um
Patient zu ermorden, aber er stehe unter gutem Schutz und fürchte
nichts. Er werde seine Mission zu Ende führen, sämmtliche Schwarze
justificiren, am 1. September R. auf den Thron setzen. Die 15 Mil-
lionen, die im Kloster gefunden wurden, habe er an einen sicheren
Platz in der Schweiz gebracht. Er habe noch 3000 fl. in Händen, um
das Befreiungswerk zu vollenden. Er dankt für die Ernennung zum
Oberst, nniss aber vorerst sich in der Schweiz aufhalten, um das Recht
zn requiriren und Rudolf in Sicherheit zu bringen, der, wenn er in die
Hände der Schwarzen (Geistlichen) fällt, verloren wäre.
Dritter Aufsatz. 63
Am 16. Juli löst sich fast plötzlich der Dämmerzustand. Patient
ist nun andauernd lucid und hat völlige Amnesie für alles Erlebte und
Gefabelte vom 7. Mai ab. Den ihm vorgelegten Brief vom 7. Juli
erkennt er nicht als von ihm geschrieben an. Er staunt über dessen
Inhalt und erklärt ihn für Unsinn.
Patient giebt nunmehr eine zusammenhängende Darstellung seiner
Vita anteacta.
Der Yater starb an Tabes, die Mutter litt viele Jahre an schwerer
Migräne. Als kleines Kind hat Patient an Convulsionen gelitten, vom
3. — 6. Jahre war er fast beständig bettlägerig (Scharlach, Typhus mit
Nachkrankheiten). Während der Knabenjahre bis zur Pubertät hat er
Noctambulismus gehabt. Seit der Pubertät viel Cephalaea („eiserner
Reif um die Stirne"), die nach Trauma mit Commotio cerebri (1867
und 1871) häufiger und heftiger wurde. Patient will immer ein träume-
rischer verschlossener Junge gewesen sein, habe nur an Leetüre, nicht
an Spielen mit Kameraden Gefallen gefunden, nie masturbirt, dagegen
früh in Venere excedirt. Beim Militär nach 1/a jähriger Dienstzeit wegen
Haemoptoe (1878) superarbitrirt. wurde er Steindrucker, ertrug aber die
scharten Dämpfe der Chemikalien nicht bei diesem Gewerbe, wurde
Kellner, orgab sich unregelmässiger Lebensweise, excedirte in Baccho
et Venere, legte dadurch den Grund zu schwerer Neurasthenie (allgemeine
Mattigkeit, Kopfdruck, Agrypnie, Paralgien, Spinalirritation, Verstimmung
u. s. w.), wurde berufsuntüchtig, verkam immer mehr, beging Dieb-
stähle, wurde zuletzt 1891 neuerlich mit 2 Jahren Kerkor bestraft, ver-
büsste die Strafe in dem Strafhause Carlau, machte dort eine 14tägige
Psychose mit Amnesie durch, während deren er getobt haben soll, wurde
im November 1893 in die Zwangsarbeitsanstalt in Korneuburg abgegeben,
von dort aus seit Mitte April 1894 bei Wildbachverbauungsarbeiten an
der ungarischen Grenze verwendet. Patient berichtet, dass er damals
viel an Kopfschmerzen und Digestionsstörungen gelitten habe und des-
halb nur mit leichterer Arbeit betheilt worden sei.
Am 7. Mai bricht seine Erinnerung plötzlich ab. Er weiss nicht.
wie er von dort weggekommen ist, hat nur noch verschwommene
Erinnerungsbilder von langer Strassen Wanderung, durchnässtem Liegen
im Walde. Ebenso bestehen nur dunkle fragmentäre Erinnerungsspuren
für die deliranten Erlebnisse der letzten Zeit der Krankheit. Er ver-
sichert aber nur ganz langsam durch Nachdenken seine Lucidität zurück-
gewonnen zu haben. Patient macht noch wichtige Mittheilungen über
seit der Kindheit vorgekommene Anfälle von Bewusstseins-
trübung, in denen er irgend eine sinnlose Handlung beging,
ohne hinterher, ausser durch Mittheilungen der Umgebung
64 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
von derselben zu wissen. So habe er z. B. ein Glas zu Boden
geworfen, in der Haftzeit wiederholt an seiner Arbeit (Lithographie)
etwas ganz Verkehrtes gemacht, ohne zu wissen wann und warum.
Einmal habe er sich bei der Arbeit geglaubt und sei zu sich gekommen
auf einer Bank sitzend. Dabei bestand jeweils gleichzeitig Gefühl
von Schwindel und Schwarz werden vor den Augen. Zeitweise
Bettnässen bis auf die letzten Jahre.
Patient, 37 Jahre, bot in der Beobachtung der Klinik, die bis zum
2. September dauerte, nie epileptische Phänomene, auch nur gering-
fügige neurasthenische. An der Stirn hat er einige oberflächliche unver-
dächtige Narben. Schädel normal. Cf. 56.
Die Prognose des transitorischen Irreseins auf neurasthenischer
Grundlage ist eine günstige. In allen Fällen bisheriger Erfahrung erfolgte
eine vollständige Genesung. Die Seltenheit der Recidive (3, 4, 25) erklärt
sich wohl daraus, dass eine Reihe erschöpfender Bedingungen zusammen-
treffen müssen, um die Psychose hervorzurufen und dass deren neuer-
liche Combination nur selten sich ereignen wird.
Hinsichtlich der Therapie scheint eine Selbstheilung schon durch
das Eintreten des Anfalls angebahnt, insofern während seines Bestehens
die psychische Leistung auf ein Minimum reducirt ist.
Unterstützend wirken jedenfalls gute Ernährung, Anregung des Stoff-
wechsels (Bäder), Bettruhe, Beförderung des Schlafes. Der letzteren
Indication werden nur ausnahmsweise Narcotica entsprechen, da die
Ganglienzellen ohnehin schon mit Ermüdungsstoffen und Stoffwechsel-
produkten überladen sind.
Die forensische Bedeutung dieser Irreseinszustände ist trotz sehr
reducirter Handlungsmöglichkeit eine nicht geringe. Fast alle meine
Kranken wurden Gegenstand polizeilicher Anhaltung, 2 machten grund-
lose Selbstbeschuldigungen, 2 Selbstmordversuche, gleichwie im Fall
von C. Mayer, der von einem weiteren berichtet, in welchem ein
Revolver gekauft wurde.
Hinweise auf die Bedeutung solcher Irreseinszustände für das
Forum criminale bieten die folgenden 2 Gutachten.
Vierter Aufsatz.
Gerichtsärztliche Gutachten.
a) Majestätsbeleidigung, Sinnesverwirrung (krankhafte Bewusst-
losigkeit) auf Grundlage von Neurasthenie.*)
Ergebnisse aus den Akten. Am 27. Juli 1888 führte der auf
der Durchreise in einem Gasthause in K. befindliche W. S., Privat-
gelehrter aus Polen, 42 Jahre alt, im Wirthszimmer ein politisches
Gespräch. Im Verlaufe desselben äusserte S., der Kaiser solle etwas
energischer gegen die Juden auftreten. Als ein Gast ihn ermahnte, er
möge die Person des Kaisers nicht in das Gespräch hineinmengen,
erwiderte S., es sei gerade nicht nöthig, von dem jetzigen Kaiser zu
sprechen, man könne ja in der Geschichte weiter zurückgehen Er dachte
einige Zeit nach und sagte dann, „wie hiess doch nur der Kerl-'? Als
Zeuge D. sagte, mit der Bezeichnung „Kerl'1 könne er doch einen öster-
reichischen Monarchen nicht meinen , sagte S. „Kaiser Josef II. meine ich".
Den Anwesenden machte S. den Eindruck, dass es bei ihm im
Kopfe nicht ganz richtig sei. Als der Gastwirth den Fremden auf sein
Zimmer führte, wackelte dieser etwas auf den Füssen. Die Kellnerin
con8tatirte, dass S. während seines Verweilens im Gastzimmer etwa
5—6 Glas Bier getrunken habe.
Im Verhör vom 29. Juli 1888 giebt S. an, dass er 1874 in M. die
Staatsprüfung über Philologie abgelegt habe und seit längerer Zeit an
einer Nervenkrankheit leide, welche ihn gegenwärtig berufsunfähig
mache. Er komme aus dem Kloster zu K, wo er sich vom 10. April
bis 27. Juli aufgehalten habe. Er sei im Begriff nach Graz zu reisen,
um dort einen Arzt wegen seines Leidens zu berathen.
Er könne sich nicht erinnern, über Kaiser Josef beleidigende und
die Ehrfurcht verletzende Aeusserungen gethan zu haben, als er im Gast-
zimmer am 27. anwesend war. Er stellt in Abrede, damals betrunken
gewesen zu sein. Er vertrage wegen seines Nervenleidens keine geistigen
Getränke, und es sei ihm ärztlich untersagt, solche zu gemessen. Dadurch
•) Zeitschrift fiir Psychiatrie, Bd. 46.
Krafft-Et.ini:. Arb«iten I. 5
66 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
dass er an jenem Tage gleichwohl einige Gläser Bier getrunken, sei er
bewusstlos geworden. Er gebe die Möglichkeit zu, die von den Zeugen
angegebenen und incriminirten Aeusserungen getban zu haben, stelle
aber in Abrede, die Absicht gehabt zu haben, die Ehrfurcht gegen den
Kaiser Josef zu verletzen.
Am 28. Juli 1888 stellte der Prior des Klosters K. ein Zeugniss
aus, wonach S. im Kloster verweilt habe, um sich von einer krank-
haften Ueberreizung des Nervensystems zu erholen. Er verliess ungeheilt
das Kloster, um einen Arzt zu berathen und sich einer Kur zu unter-
ziehen. Solange S. im Kloster weilte, war sein Verhalten ein tadel-
loses. Niemand konnte sich erinnern, eine unehrerbietige Aeusserung
über das kaiserliche Haus aus seinem Munde vernommen zu haben.
Der traurige Vorfall lasse sich nur erklären aus dem zerrütteten Zustand
seines Nervensystems, der sich durch den in der Sonnenhitze zurück-
gelegten Weg nach K. verschlimmert haben möge.
Aus den Zeugenangaben ist zu entnehmen, dass den incriminirten
Aeusserungen des S. ein lebhafter politischer Discurs vorherging, dass
S. dem Einen den Eindruck eines betrunkenen, dem Anderen eines im
Kopfe nicht richtigen, der Kellnerin den eines schwerhörigen Menschen
machte.
Die Aeusserungen dürften etwa um 11 Uhr Abends gefallen sein.
Ergebnisse der persönlichen Exploration am 18. Aug. 1888.
Explorat ist ein mittelgrosser Mann von regelmässigen Zügen, ziemlich
gut genährt. Die Untersuchung der vegetativen Organe ergiebt keine
auf organische Erkrankung hinweisende Symptome.
Der unstete Blick, die lebhafte Miene und Gesticulation, der in
seiner Frequenz äusserst wechselnde Puls weisen auf ein nervöses
Temperament hin.
Der sonst regelmässige und symmetrische Schädel hat einen die
Norm um circa 3 cm übersteigenden Umfang von 59 cm. Erhebliche
Steigerung der tiefen Reflexe, namentlich der Kniesehnenreflexe, sowie
Druckempfindlichkeit einzelner Dornfortsätze weisen auf eine vorhandene
Störung im Centralnervensystem hin.
Thatsächlich berichtet Explorat auf Befragen Symptome, die unschwer
als solche von sogenannter reizbarer Schwäche im Centralnervensystem
(Neurasthenie) und zwar speciell als Cerebrasthenie zu deuten sind.
So berichtet er von Kopfschmerz, Kopfdruck, zeitweisen Congestionen
zum Gehirn, geschwächter Gedächtnissleistung, erschwertem Denken bis
zur temporären Berufsunfähigkeit, schlechtem, unerquicklichem Schlaf
mit häufigem Aufschrecken, rascher geistiger und körperlicher Ermüdung.
Explorat versichert, seit über 10 Jahren an diesem Nervenübel zu leiden,
Vierter Aufsatz. 67
wenn auch mit zeitweisen, sehr erheblichen Remissionen. Dadurch sei
er in seinem Studium und Beruf vielfach behindert gewesen. In den
letzten Jahren habe sich sein Leiden so sehr gesteigert, dass er zu
anhaltender geistiger Beschäftigung ganz unfähig wurde. Diese "Ver-
schlimmerung sei durch widrige Schicksale und Gemüthsbewegungen
entstanden. Ein Trinker ist Explorat nicht, auch fehlen an ihm alle
für habituellen Uebergenuss von alcoholischen Getränken sprechenden
Symptome. In den letzten Jahren habe er geistige Getränke immer
weniger ertragen und sich derselben im Allgemeinen auch enthalten.
Anlässlich Gemüthsbewegungen und körperlicher Anstrengungen habe
er allerdings sich hie und da verleiten lassen im Genuss geistiger Getränke
Trost und Kräftigung zu suchen, aber derartige relative Excesse seien
ihm immer schlecht bekommen, und wiederholt sei es ihm passirt, dass
er dabei in Zustände gerieth, in welchen er anscheinend noch bei sich
war, conversirte und handelte, ohne hinterher das Mindeste von dem
zu wissen, was er gesprochen und gethan hatte. Thatsächlich befand
sich Explorat seit Mitte April zur Erholung im Kloster K, consultirte
kurzlich den Professor R. in G. und wurde von diesem zum Kur-
gebrauch nach S. gewiesen.
Er versichert, aus ganz gesunder Familie zu stammen, jedoch erfährt
man von ihm, dass sein Vater ein höchst aufgeregter, nervös erregbarer
Mann und dessen Mutter eine jähzornige, unverträgliche Frau war.
Ausser an einem Typhus mit 14 Jahren will Explorat nie schwer
krank gewesen sein.
Er vermuthet als Ursache seines Leidens Onanie, der er vom
20. Lebensjahre bis vor l1/« Jahren ergeben gewesen sei.
Als Motiv für diese perverse Geschlechtsbefriedigung ergiebt sich
eine angeborene krankhafte perverse Geschlechtsempfindung, insofern
Explorat zu Männern inclinirt und durch das Weib geschlechtlich uner-
regbar ist. Diese sogenannte conträre Sexualempfindung regte sich in
ihren ersten Anfängen schon im 10. Jahre. Sein geschlechtliches Bedürf-
niss war ein geringes, und so gelang es ihm, immer im Bereiche pla-
tonischer Verhältnisse Freunden gegenüber zu verbleiben. Die Befriedigung
durch Onanie war ein Aequivalent für die seinem moralischen Sinn
widerstrebende Befriedigung mittelst Männern und für die ihm von der
Natur versagte Möglichkeit sexuellen Umgangs mit Personen des anderen
Geschlechtes. Ein näheres Eingehen auf die charakterologische Besonder-
heit des Individuums ergiebt sehr entwickelte moralische und ästhetische
Gefühle, idealistische und stellenweise sogar verschrobene Lebens-
anschauungen und eine sehr rege Phantasie. Bezüglich der Vorfälle am
27. Juli wurde folgendes vom Exploraten ermittelt.
5*
68 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Als er um die Mittagsstunde das Kloster verliess, befand er sich
in einer erheblichen Gemüthsaufregung, da man ihm erklärt hatte, man
könne ihn nicht im Kloster behalten, und seine Tauglichkeit zum Beruf
eines Geistlichen bezweifelte. Bei heftiger Sonnenhitze will Explorat
nun die 21/» Stunden "Weges nach K. marschirt sein , wo er sehr ermattet
vor Hitze, ganz erschöpft von der ungewohnten Fusswanderung etwa
um 48/4 ankam. Er spürte heftigen Kopfdruck und Schmerz. Es liess
ihn nicht im dumpfen Gastzimmer, er schlenderte mehrere Stunden lang
in K. umher, da es ihm unbehaglich war, und trank da und dort ein
Glas Bier. Schon für die späten Nachmittagsstunden erscheint sein
Bewusstsein getrübt, insofern er sich nicht zu erinnern weiss, wo überall
er herumging; dunkel weiss er nur noch, dass er in einem Gasthause
am Marktplatz einkehrte.
Wie und wann er in den Gasthof, in welchem er abgestiegen war,
zurückkehrte, weiss er nicht. Er weiss nicht, dass und wie er im Gast-
zimmer verkehrte, was und mit wem er sprach, wie und mit wem er
in sein Wohnzimmer kam. Am Morgen des 28. sei er in seinem Bette
erwacht, mit vollständiger Erinnerungslücke für Alles seit der Kückkehr
am Abend des 27. im Gasthof Erlebte.
Explorat giebt bereitwillig und prompt auf Kreuz- und Querfragen
der Gerichtsärzte, bezüglich der Zeit, welche diese Erinnerungslücke
umfasst, Auskunft. Man stösst niemals auf einen Widerspruch und
gewinnt die volle Ueberzeugung, dass für die Zeit vom 27. Abends bis
zum Morgen des 28. die Erinnerung vollständig mangelt.
Explorat erkennt bereitwillig an, dass die Zeugen die Wahrheit
gesprochen, er gesteht freimüthig zu, dass er als sehr klerikal gesinnt,
mit den Ansichten und Bestrebungen, wie sie die Geschichte von Kaiser
Josef II. berichtet, nicht einverstanden sei, aber wenn er etwas gegen
diesen Monarchen gesprochen, so habe er es seiner selbst nicht bewusst
gethan. In bewusstem Zustand hätte er sich nicht so ausgesprochen,
jedenfalls müsse er jeglichen Animus injuriandi in Abrede stellen.
Er weiss sich nicht zu erklären, wie er in einen derartigen unbe-
wussten Zustand gerathen sei, stellt Berauschung in Abrede, wird ängst-
lich, als man ihm andeutet, dass jener Zustand mit seiner Nerven-
krankheit in Beziehung stehen dürfte, und meint, dann laufe er ja
Gefahr, abermals in' solche Zustände zu gerathen.
Gutachten. Die fehlende Erinnerung des Exploraten für die Erleb-
nisse am Abend des 27. Juli spricht zu Gunsten der Annahme, dass er
sich während der Zeit, welche die Erinnerungslücke umfasst, in einem
psychischen Ausnahmszustand befunden habe, in welchem Explorat nicht
seiner selbst bewusst dachte und handelte.
Vierter Aufsatz. 69
Solche Zustände sind wissenschaftlich constatirt und in den ver-
schiedenen Straf gesetzgebun gen als Sinnesverwirrung oder Zustände krank-»
harter Bewusstlosigkeit angeführt. Dass in solchem Zustand Jemand —
wenn auch des Selbstbewusstseins verlustig — combinirt denken und
handeln kann, ist Thatsache der Erfahrung und aus dem Automatismus
des Gehirnlebens und aus Aeusserungen unbewusster geistiger Thätig-
keit, wie sie im natürlichen Somnambulismus und im sogenannten Hyp-
notismus beobachtet wird, einigermaassen begreiflich. Dass Explorat
tempore criminis in einem psychischen Ausnahmezustand sich befunden
haben muss, geht schon aus den Zeugenaussagen, die von „Trunken-
heit", „im Kopfe nicht ganz richtig" berichten, hervor.
Auch der Umstand, dass Explorat sich auf den Narnen des doch
jedem Kind bekannten, in der Geschichte verewigten Monarchen nicht
gleich erinnern konnte, dass er dann, ohne in heftigem Affect zu sein,
seinem Bildungsgrad und seinem in normalem Zustand höchst anständigen
"Wesen entgegen sich so unziemlich über einen in der Geschichte hoch-
gefeierten Monarchen äusserte, all dies spricht zu Gunsten der Annahme,
dass er damals non compos sui gewesen sein mag.
Eine Sinnesverwirrung, sofern sie nicht auf der Höhe eines Affects
oder einer Intoxication (Berauschung) entstanden ist, lässt sich immer
auf ein schlecht aequilibrirtes (belastetes) oder von einer allgemeinen
Nervenkrankheit afficirtes Gehirn begründen. Sie hat jedenfalls eine
symptomatische Begründung, wie die transitorische Geistesstörung über-
haupt und nöthigt zur Aufsuchung ihrer ursächlichen Bedingungen. Im
concroten Fall erscheint es ausser Zweifel, dass eine belastete und wahr-
scheinlich erblich belastete Persönlichkeit (Abnormitäten der charaktero-
logischon Veranlagung, originäre Anomalie des Geschlechtssinns u. s. \v.
sprechen dafür), sowie eine constitutionelle Nervenkrankheit (Neurasthenie)
im Spiele sind.
Wio bei Epilepsie und Hysterie, so kommen auch bei der Neur-
asthenie zuweilen transitorische Störungen des Selbstbewusstseins vor.
Das labile Gleichgewicht der Hirnfivnctionen,' die abnorm leichte
Anspruchsfähigkeit des Gehirns auf Reize aller Art, die äusserst aus-
giobige Keaction desselben anlässlich solcher, machen diese Thatsache
begreiflich.
Im concreten Fall waren es offenbar gemüthliche Erregung, Sonnen-
hitze, ein anstrengender und erschöpfender Marsch in Verbindung mit
einem relativen Alcoholexcess, die das äusserst empfindliche Organ des
Bewusstseins (Gehirnrinde) vermöge temporärer Störungen der Blut-
vertheilung und der Ernährung ungünstig beeinflussten und damit einen
temporären psychischen Ausnahmezustand hervorriefen, welcher sich im
70 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Sinne des § 2 des österreichischen Strafgesetzbuchs als „Sinnes-
verwirrung" bezeichnen lässt.
b) Desertion. Zweifelhafter Geisteszustand.*)
(Erbliche Belastung. Epileptoide Anfälle. Zwangsvorstellungen und
Zwangsimpulse. Neurasthenie mit episodischem delirantem Traumzustand.)
Species facti. Am 24. Februar 1883 Nachmittags entfernte sich der
Cadet X. unerlaubterweise aus seiner Garnison (Böhmen), fuhr nach
Wien, von da am 25. weiter nach Graz, erkundigte sich nach der
Ankunft bei einem Wachmann, wohin er den Weg nach dem Dampf-
schiffbureau zu nehmen habe, um nach Afrika zu gehen und sich einer
wissenschaftlichen Expedition anzuschliessen. Da X. in Uniform war,
erschien er der Desertion verdächtig. Verhaftet und vor den Inspections-
offizier geführt, wiederholte er sein Verlangen, einer unter Lieutenant
Wissmann zur Erforschung Afrikas abgehenden Expedition sich anzu-
schliessen. Auf die Frage nach seinem Namen wusste er keinen Bescheid,
zog aber einen Brief seines in Graz wohnenden Vaters mit Couvert und
Adresse aus der Tasche, wodurch seine Person festgestellt wurde.
Er verbrachte die Nacbt im Kasernenarrest schlaflos, unruhig, ver-
wirrt. Am Morgen des 26. besuchten ihn der herbeigerufene Vater und
der Bruder, fanden ihn zusammengekauert, verstört auf einer Pritsche
und erkannten, dass er irrsinnig sein müsse. X. fiel zitternd dem Vater
um den Hals, bat, man möge ihn doch fortlassen, sonst versäume er
die Expedition nach Afrika.
X. kam nun in die Beobachtung des Garnisonsspitals.
Bei der Aufnahme am 26. erscheint Patient etwas ängstlich, ver-
wirrt, traumhaft. Er bietet starken Nystagmus, Zucken der Lippen, der
Mundwinkel und der Hände, ist in leichtem Schweiss, fieberlos, ohne
Erkrankung vegetativer Organe. Er schläft die Nacht auf den 27. mit
Chloral einige Stunden, glaubt sich dazwischen in einem Wald, berichtet
am 27., dass er Nachts Stimmen hörte, die ihn aufforderten, nach Afrika
zu gehen, dass er den Lieutenant Wissmann sah, mit ihm sprach. Er
glaubt nun genügend für seine Expedition vorbereitet zu sein, weiss,
dass er Grosses leisten und berühmt werden wird. Er ist unstet, ver-
wirrt, bietet noch Nystagmus, Tremor, schwitzt stark, fühlt sich matt,
erschöpft. Er erhält Bromkali, bringt die Nacht auf den 28. Februar
ruhig zu, wird mimisch freier, drängt aber noch fort nach Afrika.
Nach gut durchschlafener Nacht kommt Patient am 1. März aus
seinem traumhaften Zustand heraus, zum Bewusstsein seiner Lage, frei
von Nystagmus und Tremor. Er ist erstaunt, als man ihm erzählt, dass er
nach Afrika wollte, begreift die Situation nicht und giebt folgende Anamnese.
*) Friedrichs Blätter f. gerichtl. Median 1883. VI.
Vierter Aufsatz. 71
Am 24. Februar habe er sich eigenthümlich beklommen gefühlt und
den Drang verspürt, ins Freie zu gehen. Er erinnert sich dunkel, mit
einer Pappschachtel, in die er Einiges gepackt habe, auf den Bahnhof
gegangen zu sein und dort den Regimentsschneider getroffen zu haben.
Von da an hat er keine Erinnerung bis zur Ankunft in Wien (24. Abends),
wo er den Eindruck einer grossen Menschenmenge hatte. Er dämmerte
bis gegen Morgen auf dem Stephansplatz herum und gelangte mit Hilfe
eines Dienstmanns in ein Hotel. Er verliess es (mit Hinterlassung der
Schachtel, in welcher sich nur einige Bilder und ein Zahubürstchen
befanden), um eine befreundete Familie auf dem Rennweg zu besuchen,
gelangte aber nicht hin. Weiter weiss er, dass er am Südbahnhof mehr-
mals seine Fahrkarte vorwies, bis man ihn einsteigen Hess, dass er im
Coup6 schwarz gekleideten Damen gegenüber sass, die ihn ansprachen,
über seine Antworten aber lachten. In G., als er die Station ausrufen
hörte, kam ein unbestimmtes Heimathsgefühl über ihn. Er stieg aus,
fragte wiederholt Passanten um den ihm sonst wohlbekannten Weg,
wurde aber regelmässig ausgelacht, wohl „weil er dumm fragte" End-
lich habe ihn ein Wachmann mitgenommen, in eine Kaserne geführt.
Er erinnert sich, dass dort Jemand sagte: „wenn er den geringsten
Versuch zu entweichen macht, wenden Sie Eisen an". Im Kasernenhof
habe er eine dunkle Gestalt gesehen, mit der er über seine Reise sprach,
am anderen Morgen aber erkannt, dass es der Ofen war. Im Spital
habe er sich noch nicht ausgekannt, flüsternde Stimmen bezüglich seiner
Reise und öfter den Namen Wissmann gehört. Endlich am 1. März sei
er wieder zur Besinnung gelangt.
Patient ist lucid, geordnet. Nach einem Aerger am 4. März schlaf-
lose Nacht. Am 5. März besteht wieder Nystagmus, Zittern der Gesichts-
muskeln und der rechten Hand, leichte Parese des linken Mundwinkels.
Patient ist nervös erregt, unstet, wird in der Nacht auf den 6. zweimal
in hockender Stellung im Bett betroffen, weiss am 6. nichts davon. Am
6. ist er wieder wohl, unauffällig. Am 9. zeigen sich nach schlechter
Nacht wieder die motorischen Störungen. Bei der Aufnahme am 10. März,
im Civilspital, ist Patient ruhig, etwas moros, spricht mit matter Stimme,
klagt Schmerz in der Schläfengegend.
Er fühlt sich matt, erschöpft, schlafbedürftig, bedarf aber Nachhilfe,
um zu schlafen (Paraldehyd 3,0), geräth leicht in Affect, wobei sich
dann leichtes Zittern der Gesichtsmuskeln und Nystagmus zeigt, bietet
wechselnde Röthc und Blässe des Gesichts, jedenfalls sehr labile Vaso-
motoriusinnervation, ist absolut intolerant gegen Spirituosen, bekommt
davon gleich Kopfschmerz und Kopfdruck, erscheint unfähig zu geistiger
Beschäftigung.
72 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
Patient ist körperlich kräftig, gut genährt, ohne Degenerations-
zeichen, jedoch von exquisit neuropathischem Auge, fieberlos, vegetativ
in Ordnung. Er ist andauernd ganz lucid, hat nach wie vor Interesse
an Afrikaexpeditionen, aber in vernünftiger "Weise. Er hält es für mög-
lich, wenn er einmal gesund und nach Jahren in den Besitz aus-
reichender Kenntnisse und Mittel gelangt sei, diese Liebüngsidee zu
realisiren.
Unter gutem Schlaf, Kühe, Aufenthalt im Freien, Abreibungen, Sol.
Fowler, verlieren sich die neurasthenischen Beschwerden grossentheils
im Laufe des März.
Vita anteacta. Herr X., geboren 1860, stammt von einer nerven-
schwachen, mit Zuckungen behafteten Mutter. Deren Vater soll ein sehr
talentirter, aber excentrischer Mann gewesen sein. Des Vaters Bruder
führte ein abenteuerliches Leben, das er grossentheils auf Reisen in
fernen Ländern zubrachte. Des Vaters Mutter soll ziemlich lange vor
ihrem Tod blödsinnig geworden sein.
Patient war von Kindesbeinen auf sehr erregbar, emotiv, zu Con-
gestionen geneigt, litt viel an Nasenbluten. Er war begabt, jedoch wenig
ausdauernd. Ton Kindheit auf batte er Sinn für Naturwissenschaften,
schwärmte schon als Knabe für Forschungsreisen in fernen Ländern.
Gutmüthig und seine Eltern aufrichtig liebend, hatte er ihnen gleich-
wohl durch Unfleiss und leichtsinniges Schuldenmachen viel Kummer
bereitet.
Bis 1877 war Patient von schweren Krankheiten verschont gewesen.
Ein damals aufgetretener Typhus erschütterte seine Gesundheit. Er litt
von nun an an sehr häufigem und intensivem Kopfschmerz, wurde äusserst
emotiv und erregbar, gerieth, wenn vom Vater über seine Streiche zur
Rede gestellt, in heftige Aufregung, kam ganz ausser sich, zitterte am
ganzen Leib, sodass man ihn jeweils beschwichtigen musste. Etwa ein
halbes Jahr nach dem „Typhus", als er einmal den Zorn des Vaters
über versäumten Unterricht zu fürchten hatte, gerieth er zum erstenmal
in einen psychischen Ausnahmszustand, lief planlos davon. Man besorgte,
der excentrische Junge habe sich ein Leids angethan. Am andern Tag
kam von befreundeter Familie ein Telegramm aus M. des Inhalts, dass
X. da sei und was mit ihm geschehen solle? Patient wusste kein plau-
sibles Motiv für diese Flucht und hatte nur summarische Erinnerung
für die Details derselben.
Ein andermal, etwa 6 Monate später, lief Patient ebenfalls nach
einer Gemüthsbewegung planlos fort, wurde bewusstloss in einem Wald
in Zuckungen aufgefunden. Heimgebracht, soll er bewegungsunfähig
und bewusstlos bis zum folgenden Tag dagelegen sein.
Vierter Aufsatz. 73
Einige Zeit später, als Patient in der Cadettenschule in L. war (1879)
erlitt er aus Aerger über einen Kameraden, der ihm ein neues Bein-
kleid beschädigt hatte, einen dritten Anfall. Er stürzte bewusstlos
zusammen, lag einige Stunden so da, zitternd am ganzen Körper und
kam allmälig mit heftigem Rückenschmerz wieder zu sich.
An diese Anfälle schloss sich jeweils ein bis zu 2 Tagen dauernder
Zustand „eigentümlicher" Mattigkeit, in welchem Patient kein Glied
rühren konnte, Zittern in den Händen hatte, sich beklommen fühlte,
jedoch bei sich war.
Irgendwelche epileptische Antecedentien, Convulsionen in der Kind-
heit, Schlafwandeln u. s. w. werden in Abrede gestellt. Patient war
kein Trinker, hat nie eine Kopfverletzung erlitten und war nicht der
Masturbation ergeben. Sein geschlechtliches Bedürfniss war gering und
wenn er einmal zum Coitus sich herbeiliess, ärgerte es ihn hinterher,
„dass er sich wie ein Thier benommen habe, was er doch vom moral-
philosophischen Standpunkt verabscheuen müsse". Patient theilt weiter
mit, dass er an Zwangsvorstellungen und entsprechenden Impulsen leide.
Er sehe deren Unsinnigkeit zwar vollkommen ein, könne aber gleich-
wohl nicht Herr über dieselben werden.
Vor etwa 5 Jahren kam der Zwang über ihn, dass er Alles Mög-
liche dreimal oder in einer durch 3 theilbaren Zahl thun musste. Schon
beim blossen Gedanken Widerstand zu leisten, wurde ihm bang zu Muth
und kam es ihm vor, wenn er nicht folge, passire ihm etwas. Bald
darauf kam eine Zeit, in welcher er die Zahl 3 in jeder Weise ängst-
lich meiden musste. Diese Phase wurde abgelöst durch eine, in welcher
die Zahl 5 dieselbe Rolle spielte, wie früher die 3. In neuerer Zeit
stand er unter dem Zwang, auf das „Rechts" besonders zu achten. Alles
musste im Zimmer so stehen und hegen, dass es ihm nach rechts gedreht
erschien, resp. dass die rechte obere Ecke eine Vorzugsstellung einnahm.
So trug er auch mit ziemlicher Sorgfalt den rechten Schnurrbart um
ein Minimum länger als den linken. Wenn er Abends die Schuhe hin-
stellte, musste der rechte vor dem linken vorstehen. Seit einem Jahr
musste er Acht geben, dass kein Stuhlfuss auf eine Fuge des Fuss-
bodens zu stehen kam. Auf einem solchen Stuhl zu sitzen war ihm
unerträglich, brachte ihn aus der Contenance. Als Residuum aus der
Phase der Vermeidung der Dreizahl besteht noch ein Zwang, darauf zu
achten, dass nirgends auf Tisch, Kanten u. s. w. sich drei Dinge befinden.
Wenn dies der Fall, so muss irgend etwas und sei es nur eine Brod-
krume, ein Papierschnitzel dazu, sonst ist ihm die Situation unerträg-
lich. Ebenso machen ihm symmetrische Verhältnisse grösstes Unbehagen.
Auf seinem Nachttisch muss Alles nach rechts gedreht hegen und
74 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
die Gegenstände müssen in ungleichen Abständen von einander sich
befinden.
Sonst bestehen keine Zwangsvorstellungen oder Furchtarten. Patient
versicherte, dass seine Mutter ähnliche Tic's habe. So müsse sie beständig
nachsehen, ob Alles recht verschlossen sei, ob Niemand, selbst in unmög-
lichen Behältern, sich versteckt halte, ob nicht irgendwo ein Stäubchen
sich vorfinde und dergleichen.
Patient war von ungewöhnlich lebhafter Phantasie. Unmittelbar
nach der Lieblingslectüre — Reisebeschreibungen — war es ihm oft,
als habe er Alles gerade selbst erlebt. Auch auf Spaziergängen gerieth
er oft in Träumereien, bis ihn ein greller Sinnesein druck zur "Wirklich-
keit zurückführte. Auf Bahnhöfen erfasste ihn jeweils ein grosses Sehnen
und Behagen. Nach abgelegter Prüfung (October 1880) kam Patient
zum Regiment. Der militärische Beruf war ihm unsympathisch. Er
fand sich nur schwer in die stramme Ordnung des militärischen Lebens
und war unglücklich darüber, dass sein Vater ihm die militärische Lauf-
bahn als Lebensberuf vorschrieb. Wo immer er nur konnte, vertiefte
er sich in Reiseberichte aus fremden Ländern und schwelgte im Gedanken,
doch vielleicht einmal Entdeckungsreisen zu machen. Das Militärleben
wurde ihm immer unerträglicher. Er versuchte seinen Unmuth über
seine Lage durch Trinkgelage, die er seinen Kameraden gab, zu über-
täuben. Zudem war es ihm bange und peinlich, allein zu sein. Durch
seine Freigebigkeit gerieth er in Schulden und zog sich bittere, aber
verdiente Vorwürfe von Hause zu.
Bald wurde ihm die ausschweifende Lebensweise zuwider, auch
fing er an Spirituosen nur mehr schlecht zu ertragen und fühlte sich
leidend, abgespannt (1882).
Er studirte nun mit Furor Geographie, Mathematik und andere
Naturwissenschaften. Der Gedanke an Forschungsreisen, afrikanische
Expeditionen beherrschte ihn immer mehr. Schon vor einem Jahr meinte
er dem Vater gegenüber, Europa sei ihm zu klein; er habe Einiges von
Gerstäcker gelesen, ein so berühmter Mann müsse er auch werden.
In den letzten 4 Monaten war Patient immer deutlicher neur-
asthenisch und zugleich myopisch durch sein übermässiges Studium
geworden. Er fühlte sich matt, gerädert, abgespannt schon beim Auf-
stehen wie nach einem Uebungsmarsch, ertrug den Aufenthalt in ge-
schlossenen Räumen, z. B. Theater, nicht mehr, litt an Kopfschmerz,
Kopfdruck, schlechtem unerquicklichem Schlaf, schreckte leicht auf, hatte
wechselnde Sensationen von Hitze, Kälte, kitzelnde Gefühle in der Kopf-
haut, beim Schliessen der Augen oft Mouches volantes, Flammen- und
Woikenerscheinungen, wurde hyperästhetisch für Gehörseindrücke, äusserst
Vierter Aufsatz. 75
nervös, emotiv, erregbar. Gleichwohl fuhr er fort mit Furor von 5 — 10 Uhr
Abends zu studiren und als es in den letzten Wochen mit dem Studium
nicht mehr gehen wollte, suchte er sich mit angeblich zwei Litern
Thee unter Zusatz von etwas Rum zu Stimuliren! Die neurasthenischen
Beschwerden steigerten sich, die Zwangsvorstellungen (siehe oben) nahmen
immer mehr überhand. Die Idee, ein berühmter Reisender zu werden,
beschäftigte ihn immer mehr, bis er in den letzten Wochen Abends
Stimmen zu hören begann, er solle sich der afrikanischen Expedition
Wissmanns anschliessen. In den letzten Nächten hatte er gehört, es
sei jetzt Zeit, abzureisen.
Aus den letzten Wochen liegen Briefe an die Eltern vor (14. bis
21. Februar), die von grosser nervöser Erregung und Exaltirtheit zeugen.
So schreibt er unterm 14. Februar: „Ich bin eben ein excentrischer
Mensch. Meine Pläne für die Zukunft gehen über das Alltägliche hinaus."
Oberstlieutenant H. hat ja gesagt, „entweder er geht elend zu Grund,
oder er wird etwas Besonderes leisten". Wer mich verstehen wollte,
müsste ich selbst sein. Selbst meine Eltern können es nicht. Ein
edler Sinn wohnt in mir."
17. Februar. „Die Afrikaforschung ist ausgearbeitet, Hurrah, ich
werde berühmt. Von morgen an werde ich mir ein eigenes Tagebuch
einrichten, damit die Welt erkennt, wer ich sei".
Weiter findet sich ein Briefconcept ohne Datum, vermuthlich aus
den letzten Tagen vor: „nicht mehr vermag ich dem Traume meiner
Jugend, den Bildern, die mich umgaukeln, zu entsagen. Mein Ent-
schluss ist gefasst. Die grossen Erfolge des Lieutenant W. bewegen
mich auch, mein Körnlein für die Wahrheit herbeizuholen. Dort blüht
mir Ruhm und Ehre. Die nächsten Tage reise ich nach Zanzibar ab,
um dort den Spuren W.'s zu folgen. Ich halte mich in G. auf und bitte
Papa das nöthige Geld flüssig — (hier bricht das Schreiben ab).
Der Zimmercollege bemerkte an X. bis auf den letzten Tag keine
Spuren von Irrsinn, jedoch habe er beständig über Afrika studirt.
Bei X. fand sich das Concept einer dienstlichen Meldung de dat.
23. Februar vor: „Ich melde Ew. Hoch wohlgeboren meinen Abgang nach
Centralafrika, um mich der Expedition des Lieutenants W. anzuschliessen."
Gutachten. Herr X. befand sich vom 24. Februar bis 1. März
1883 in einem ziemlich genau abgegrenzten Zustande von tiefer hallu-
cinatorisch deliranter Bewusstseinsstörung (Sinnesverwirrung). Das
Pathologische dieses Zustandes erhellt aus dem Detail seiner Symptome,
aus dem Verlauf, den begleitenden motorisch cerebralen Störungen. Die
Tiefe der Bewusstseinsstörung lässt sich ermessen aus der höchst sum-
marischen, für längere Zeitabschnitte des Anfalls sogar fehlenden Erinne-
76 Transitorisches Irresein bei Neurasthenie.
rung. Als Vorboten (Aura) dieses Anfalles werden Gehörshallucinationen
ermittelt, die noch in die Zeit desselben hineinreichen. Die Vermuthung
einer Simulation, wenn auch berechtigt bei der Thatsache der Unerträg-
lichkeit des Berufslebens, wird unhaltbar durch die Details des empirisch
klar und wahr sich als Sinnesverwirrung darstellenden Anfalles. Auch
die allgemein psychologischen Kriterien (Entweichen in Uniform, Anhalten
in G. , Befragung eines Sicherheitswachmannes, was zur Arretirung führte),
sprechen gegen die Annahme eines geistesklaren und für die eines sinnes-
verwirrten Zustandes. Der Anfall lässt sich klinisch als ein dem des
Schlafwandelnden nahestehender Traumzustand bezeichnen und anatomisch
auf eine Störung der Blutcirculation im Gehirn begründen. Die Exper-
tise gewinnt weitere Anhaltspunkte aus der wissenschaftlichen Thatsache
dass transitorische Geistesstörung nur eine symptomatische Bedeutung
hat und der Zurückführung auf eine dauernde Nervenkrankheit oder Hirn-
störung bedarf. Eine solche ergiebt sich sofort aus der Vita anteacta
des Exploraten. Patient ist erblich neuropathisch belastet. (Ab-
normer Charakter, abnorm lebhafte Phantasie, Emotivität, abnorm leicht
afficirbares Gefässnervensystem, Neigung zu Congestionen u. s. w.). Seit
der Pubertät und möglicherweise im Anschluss an einen Typhus leidet
er an gesteigerter Nervosität und elementaren psychischen
Störungen (Zwangsvorstellungen und Zwangsimpulse). Er bietet zudem
zeitweise im Anschluss an Gemüthsbewegungen auftretende und jeden-
falls neurotisch (vasomotorisch) bedingte Anfälle von Bewusstlosig-
keit mit motorischen Störungen (epileptoide Zustände). Seit einer
Reihe von Monaten haben sich in Folge von Nachtschwärmerei, Gemüths-
bewegungen, excessivem Studium, übermässigem Genuss von die Hirn-
thätigkeit stimulirenden Mitteln die Symptome einer Nervenkrankheit
(Neurasthenie) eingestellt, welche den episodischen Anfall von Sinnes-
verwirrung überdauern und jetzt noch nachweisbar sind. Bei dieser
Neurasthenie sind Störungen der Gefässinnervation integrirende Symp-
tome. Es ist medicinisch vollkommen begreiflich, dass auf der Höhe
des neurasthenischen Allgemeinzustandes die Innervation der Gehirn-
gefässe derart abnorm wurde, dass eine tiefere Störung der Blutcircu-
lation und damit ein Zustand von Sinnesverwirrung entstand. Zur "Wür-
digung der Zurechnungsfähigkeit des Exploraten während seiner Sinnes-
verwirrung ist folgendes hervorzuheben: Die treibende Vorstellung zur
Entweichung war eine schon länger vorhandene, aber vernünftig beherrschte
Reiseidee. Wahrscheinlich gestaltete sie sich vor Ausbruch des Anfalls
bis zur Gehörshallucination. Mit Eintritt des Anfalls und der durch
ihn bedingten Bewusstseinsstörung verlor der Kranke, zugleich mit der
Trübung seines Bewusstseins, jegliche Hemmung gegenüber der treibenden
Vierter AufBatz. 77
Idee, jegliche Besonnenheit und Einsicht für seine Handlung und die
dadurch geschaffene Situation. Die Idee wurde das Leitmotiv einer
traumhaften Reise, die objectiv sich als Desertion ansieht, subjectiv nur
die unwiderstehliche Handlungsconsequenz eines delirirenden traumhaft
gestörten Bewusstseins bildet.
Die Wahl des militärischen Berufs muss für den cerebral belasteten,
psychisch nicht normalen Exploraten als eine unglückliche und unge-
eignete bezeichnet und die Gefahr betont werden, dass derselbe bei
Belassung in seinem Beruf neuerdings von Anfällen transitorischer
Geistesstörung heimgesucht werde, ja sogar dauernd an seinen geistigen
Functionen Schaden leide. Jedenfalls ist derselbe beim labilen Gleich-
gewicht seiner Gehirnfunctionen für Jahre hinaus ungeeignet zu körper-
licher und geistiger Anstrengung, in Gefahr bei Gemütsbewegungen
sofort wieder psychisch zu erkranken und ärztlicher Ueberwachung und
Behandlung bedürftig. Die Untersuchung gegen X. wurde eingestellt
und derselbe aus dem Heeresverband entlassen.
IL
BEZIEHUNGEN ZWISCHEN NEURALGIE UND
TRANSITORISCHER PSYCHOSE.
Seltene und noch recht der Klärung bedürftige Erscheinungen sind
Bilder peracuter psychischer Erkrankung im zeitlichen und wohl auch
genetischen Zusammenhang mit Neuralgie.
Bei der enormen Häufigkeit dieser und der grossen Seltenheit
begleitender Psychose bedarf es offenbar besonderer Dispositionen, über-
haupt des Zusammentreffens ganz ungewöhnlicher Bedingungen, um
diesen Zusammenhang zu vermitteln.
Als Wege, auf denen eine Rückwirkung einer Neuralgie auf das
psychische Organ denkbar wäre, würden zunächst ins Auge zu fassen
sein: das psychische Moment des Schmerzes, das organische Moment
einer Störung des psychischen Organs direct durch einen peripheren
Erregungsvorgang, indirect auf dem Wege einer Functionsstörung vaso-
motorischer Centren und Bahnen, und dadurch einer Aenderung der
Circulationsverhältnisse (Gefässkrampf oder Gefässlähmung) in jenem.
Vom Standpunkte klinischer Erfahrung aus drängt sich aber zur
Erklärung der Seltenheit des durch eine Neuralgie vermittelten Irreseins
die Vermuthung auf, dass in solchen Fällen die Neuralgie eine sympto-
matische Bedeutung haben mag, d. n. Symptom oder Syndrom eines
dauernd bestehenden krankhaften neurotischen Zustandes sein dürfte.
Auffallend häufig stösst man bei solchen Fällen auf epileptische
und auch hysterische Neurose.
Es wären alle Schwierigkeiten für die Pathogenese behoben, wenn
die sensible Affection hier die Bedeutung einer Aura eines folgenden
psychischen Aequivalents einer dieser Neurosen hätte, oder wenigstens
(hysterische Fälle) die Rolle eines Agent provocateur oder gar die der
spasmogenen Zone eines auf die Phase de delire beschränkten Hysteria
gravis- insults spielte.
An solche symptomatische Bedeutung einer Neuralgie muss man
ohne weiteres denken, wenn der Anfall auf traumhafter Bewusstseins-
stufe verläuft und Amnesie für das in demselben Vorgefallene hinterlässt.
Das Verdienst, zuerst auf den klinischen Zusammenhang von Neur-
algie und transitorischer Alionatio mentis aufmerksam gemacht zu haben,
gebührt bekanntlich Griesinger (1866) und Schule (1867). Schon diesen
Krafft-Ebiinr, Arbeiten II. 6
82 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
Beobachtern ist die Analogie der Fälle mit Aura und epileptischen
Delirien nicht entgangen.
"Weitere Förderungen haben diesem dunklen Gebiete Verf. (1868
„Transitorische Störungen des Selbstbewusstseins", 1883 „Dysphrenia
neuralgica transitoria", Mascbka's Handb. d. ger. Med. IV, 598), Anton
(Wiener klin. Wochenschr. 1889, 12—14), J. v. Wagner (Jahrb. f. Psych.
VIII, 287) und neuerdings Laquer (Archiv f. Psych. XXVI, 3) an-
gedeihen lassen.
Versucht man das vorliegende klinische Material nach den obigen
pathogenetischen Gesichtspunkten zu ordnen, so ergiebt sich zunächst
die Gruppe der durch den Schmerz via Affect, also rein
psychisch provocirten Fälle.
Am einfachsten sind hier die als Affectzustände bis zu pathologischem
Affect sich erstreckenden wuthzornigen Aufregungszustände von durch
übermässigen Wehenschmerz (Tetanus uteri) provocirter transitorischer
Störung der psychischen Function (vgl. d. Verf. Arbeit bei Maschka,
p. 631 und Lehrb. der ger. Psychopathol., 3. Aufl., p. 385).
In den übrigen Fällen von neuralgischer transitorischer Affect-
psychose sind es ausschliesslich Neuralgien in der Bahn des Quintus,
des Occipitalis und der Intercostalnerven, die in Betracht kommen.
Fälle von als durch Neuralgie vermitteltem Affectdelir anzusprechen-
der transitorischer Psychose scheinen sehr selten zu sein.
Ein solcher Fall scheint mir der von J. Wagner (Jahrb. f. Psych.
VUI, p. 287) berichtete. — Bauersfrau, offenbar etwas imbecill, bekommt
links Augenentzündung und links Kopfneuralgie, wird hypochondrisch
verstimmt, äussert Taedium vitae. Mit den Exacerbationen bezw. An-
fällen der Neuralgie, die sie als Fahren des Teufels in sie deutet, kommen
Allegorien des Kopfschmerzes im Sinne eines Thieres, das Patientin beisse.
Als Schmerz- bezw. Affectdelir dürfte auch der folgende Fall zu
bezeichnen sein.
Beobachtung 1.
S., 23 Jahre, stud. med., wurde am 9. October auf meiner Klinik
aufgenommen.
Keine erbliche Belastung. Aus bäuerlicher Familie. Als kleines
Kind einmal Convulsionen. Ausser Scharlach und Masern (bis zum
7. Jahre) nie schwer krank gewesen. Normale geistige und körperliche
Entwickelung. Seit der Pubertät in der heissen Jahreszeit öfter Schlaf-
losigkeit und diffuse Kopfschmerzen. Bei Emotion gleich Herzklopfen.
Geringe Toleranz für Spirituosa. Vita sexualis normal. Kein Potator.
Am 2. October 1893 war ein cariöser Backzahn, der schon längere
Zeit Schmerzen verursacht hatte, in Narcose extrahirt worden.
Beziehungen znischen Neuralgie und transitorischer Psychose. 83
Fortdauer der Schmerzen im Kiefer, sehr heftig, den Schlaf raubend.
Am 8. Extraction eines 2. Zahnes. Keine Linderung. Am 9. October
nahm Patient, der durch 8 Tage schlaflos gewesen war und auch fast
gar nichts genossen hatte, um Schlaf zu erzwingen, etwas Rum und
1/8 Liter Wein und schlief darauf kurze Zeit.
Von den folgenden Vorgängen weiss Patient aus eigener Er-
fahrung nichts.
Er erwachte nach kurzer Zeit, klagte über heftige Schmerzen, wurde
erregt, ganz verwirrt, gestikulirte lebhaft, sprach unverständliche Dinge,
beantwortete nicht an ihn gerichtete Fragen, rief fortwährend „Klinik,
Zahnarzt, Papa telegraphiren" , wälzte sich im Bett. So ging es durch
2 Stunden fort.
Man bi achte den Patienten auf die Klinik, auf welcher er bereits ganz
lucid ankam. Nach einer Weile klagte er wieder über Schmerz, wurde
vorübergehend erregt, störend, schimpfte über den Zahnarzt, das Zahn-
reissen, wurde dann aber ruhig, schlief den Rest der Nacht gut, fühlte
sich bis auf etwas „Ziehen" im Kiefer ganz wohl und bot auch objectiv
psychisch nichts Abnormes mehr. Für die Zeit des Anfalls hatte Patient
nur eine summarische Erinnerung.
Schädel normal, angewachsene Ohrläppchen, neuropathisches Auge.
Leichter feiner Tremor der Finger, etwas gesteigerte Patellarreflexe,
weite, überaus prompt reagirende Pupillen. Patient verweilte bis zum
14. October auf der Klinik. Er blieb in der Folge gesund.
Eine neuropatlüscho Veranlagung dürfte in solchen Fällen von
„Schmerzdelir" wohl immer vorhanden sein und prädisponirend wirken.
Die Fälle unterscheiden sich nicht wesentlich von anderweitigen
Aftectpsychosen. Hinweise auf das neuralgische Moment ergeben sich
eventuell in allegorisirenden Delirien.
Schwieriger ist die pathogenetische Deutung der nicht psychisch,
sondern organisch durch Neuralgie vermittelten Fälle.
Da wir über die dynamische Wirkung heftiger centripetaler
Reizungen (z. B. Neuralgien) der Hirnrinde wenig wissen und den Ein-
fluss des Schmerzes von der mit ihm meist gesetzten Schlaflosigkeit u. s. w.
nicht gut sondern können, ist der Hypothese freie Bahn gegeben.
Zweifellos dürfte es aber sein, dass durch fortgesetzten Schmerz die
Hirnrinde in den Zustand abnorm leichter Anspruchsfähigkeit und Er-
schöpfbarkeit versetzt wird, was auch für ihre vasomotorischen Functionen
gelten dürfte.
Beachtenswerth erscheint die Annahme La quer 's gegenüber seinen
Fällen, dass „durch Irradiation hochgradiger Schmerzen gewisse Erreg-
barkeitsveränderungen in der Hirnrinde und damit Zustände von Ver-
84 Beziehungen zwischen Neuralgie und trausitorischer Psychose.
wirrtheit und Incohaerenz (Delirien) auf hallucinatorischer Basis, mit
mehr oder minder ausgesprochener Amnesie" erzeugt werden können.
Eine besondere Praedisposition, für welche in erster Linie an eine
latente hysterische oder epileptische Neurose, dann an eine degenerative
Constitution der Nervenelemente gedacht werden muss, darf wohl auch
hier vorausgesetzt werden.
Die Verschiedenartigkeit der Pathogenese mag es mit sich bringen,
dass die Krankheitsbilder hier so verschiedenartig sind (blosse Dysthymie
mit noch auf der Grenze zwischen Obsession und Wahn stehenden
Delirien, flüchtige Hallucinationen bis zum voll entwickelten halluc.
Deliriuni, zornige Tobsucht, raptusartige Zustände u. s. w.).
Auch hier kann der neuralgische Factor allegorische Verwerthung
finden, insofern er den Kern von Wahnideen bildet.
Die Veränderungen des Bewusstseins sind sehr verschiedenartig.
In Fällen, wo es sich quasi um eine heerdartige umschriebene Afficirung
von dem Vorstellen und der Sinneswahrnehmung dienenden Rinden-
gebieten handelt (Mitvorstellungen, Mithallucinationen im Sinne Grie-
singer's), ist die Bewusstseinstrübung eine recht geringfügige. Da, wo
der neuralgische Reiz via Gefässnervensystem (vasomotorische Reflex-
neurose?) zu wirken scheint, ist das Bewusstsein tief getrübt und, ent-
sprechend der diffusen Hirnveränderung, die Psyche allseitig gestört.
Auch für diese Gruppe von Vesania transitoria findet sich nur
dürftige Casuistik in der Litteratur.
Griesinger's 4 Fälle sind zu aphoristisch mitgetheilt, um sichere
Verwerthung zu finden.
Die 3 ersten (1. 40jährige Frau, veraltete Occipitalis-Quintus-
neuralgie — Hallucinationen und unsinnige Gedanken, wenn Patientin
im neuralgischen Anfall die Augen schliesst; 2. Mädchen, linksseitige
Supraorbitalneuralgie mit Verwirrtheit, psychischer Verstimmung, Ero-
tismus; 3. Mann, 45 Jahre, rechts Prosopalgie — halluc. Delir) kann ich
nicht mit Verfasser als Schmerzdelir anerkennen , ebenso wenig folgenden
Fall von Laquer: 54 Jahre, Zugsführer, ohne neurotische Grundlage.
Kein Potus. Rheumatische (?) rechtsseitige Quintusneuralgie im 1. Ast.
Im Anschluss an Schmerzattaquen berufliches Beschäftigungs- und ex-
pansives Delir von 1/i—1l2 Stunde, mehrmals täglich, durch 8 Wochen.
Hier dürfte ein von Antou (Wiener klin. Wochenschrift 1889, 12)
beobachteter und in seinem Aufsatz „Ueber Beziehungen der Neuralgie
zu den Psychosen" berichteter Fall von mit einer Supraorbitalneuralgie
ausgelösten peinlichen Mitvorstellungen anzureihen sein.
KI., 23 Jahre, mos., ledig, Jurist, Russe, aus schwer belasteter Familie, rachitisch
gewesen, hatte sich gut entwickelt, war in politische Verwicklungen und Untersuchungs-
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose. 85
haft gerathen, in welcher quälender Kopfschmerz auftrat. Im 4. Haftmonat Anfälle von
„Bewusstlosigkeit" bis zu 20' mit gellendem Lachen. Später, nach der Freilassung,
Angstzustände mit Taed. vitae.
Kurz vor der Aufnahme in der psychiatrischen Klinik in Wien am 3. October
1888, seit einer heftigen Gemütbsbewegung, die eine Ohnmacht zur Folge gehabt hatte,
waren wiederholte Anfälle von durch 3 — 4 Tage bewusstlosem Handeln, Sprechen,
Lachen, Weinen aufgetreten.
In der Klinik psychische Depression, Angstgefühle, Taed. vitae, heftige Hyperaesthesie
und zeitweise Neuralgie im Gebiet der nn. supraorbitales.
Bei Exacerbation der Neuralgie zuerst Gefühl von Gedankenleere, geistiger Un-
fähigkeit, Oede im Kopf, dann Gedankendrang mit peinlichem Inhalt, der sich um
unangenehme Keproductionen, aber auch um widrige, selbst feindliche Beziehungen
zur Gegenwart und Aussenwelt dreht.
Anfälle besonders nach Affect und relativer geistiger Anstrengung. Auf faradische
Behandlung der kranken Nervengebiete bedeutende Besserung.
Die folgenden Fälle eigener Beobachtung mögen die jedenfalls in
Verschiedenheit der Pathogenese begründeten verschiedenartigen neur-
algisch psychotischen klinischen Bilder illustriren.
Der l. ist eine Dysphrenia im Sinne Griesinger's qua Mitvorstel-
lungen, der 2. ein hallucinatoriscb.es Delir mit Amnesie, der 3. offenbar
eine vasomotorische Keflexpsychose, ein Uebergangsfall zur epileptischen
Gruppe, aber ohno Nachweisbarkeit dieser Neurose.
Beobachtung 2.*)
Ludwig M., 10 Jahre alt, von hysterischer Mutter, schwächlich, von
neuropathischer Constitution, anaemisch, durch rasches Wachsen und
angestrengtes Lernen in der Ernährung herabgekommen, war seit 4 Mo-
naten episodisch verstimmt, ängstlich geworden und hatte unter Weinen
geklagt, dass ihm so abscheuliche Schimpfnamen und gemeine Gedanken
in den Sinn kämen, die auszusprechen, er sich kaum enthalten könne.
Dieser Zustand trat täglich ein, dauerte durch mehrere Stunden und
war von heftigem stechenden Schmerz in der linken Brusthälfte und
einem globusartigen Gefühl begleitet.
Kehrte der Schmerz wieder, so waren auch sofort die bösen Ge-
danken wieder da.
In den schmerzfreien Zeiten war der Knabe munter und wohl,
jedoch machte er sich in letzter Zeit Gedanken über die bösen Ideen
und fing an, sie für etwas Sündhaftes oder gar Uebernatürliches
zu halten.
Die genaue Untersuchung ergab Status nervosus, Anämie, konnte
Neurosen, Masturbation ausschliessen.
Der Verlauf des 1. 4. S. 9. n. intercostalis war schmerzhaft auf Druck.
*) S. m. „Transitor. Störungen des Selbstbewusstseins* 1868, p. 73.
86 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
Eine forcirte Durchtastung der neuralgisch afficirten Nervenbahnen
machte den Knaben ängstlich, weinerlich und erzeugte sofort die
Schimpfgedanken. Eine entsprechende allgemeine und örtliche Behand-
lung brachte nach einigen Monaten die Genesung.
Beobachtung 3.
S., Marie, Dienstbote, 17 Jahre, wurde am 28. Mai 1896 auf meiner
Klinik aufgenommen.
Aus dem polizeiärztlichen Bericht geht hervor, dass die S. seit
8 Tagen zur Zufriedenheit im letzten Dienstorte gedient hatte, in der letzten
Nacht aufgeregt geworden war, schrie, weinte, sich am Boden wälzte, un-
zusammenhängend sprach, u. A. von ihrer früheren Dienstgeberin, die
grundlos eifersüchtig auf sie gewesen, zu ihr heute Nacht mit einem
Messer ins Zimmer gedrungen sei und sie H . . . geschimpft habe.
Patientin geht verstört, weinerlich zu, ist kaum zum Sprechen zu
bringen, behauptet, man habe ihr heute Nacht ein Messer in den Kopf
gestossen, ein "Wagen mit Pferden sei in ihr Gehirn gefahren.
Patientin ist fieberlos, ohne vegetativen Befund. Schädelumfang 52
Sie klagt über starkes Kopfweh. Sämmtliche Trigeminus-, aber auch
die Occipitalisbahnen, namentlich rechts, sehr druckschmerzhaft und Sitz
spontaner Schmerzen. Keine Stigmata hysteriae.
Sich selbst überlassen, brütet Patientin vor sich hin, ist über ihre
Lage gar nicht orientirt, empfindet auch gar kein Bedürfniss nach
Orientirung, nimmt von den Vorgängen der Aussenwelt ' keine Notiz.
Vorübergehend ist sie ganz reactionslos, ohne jedoch stuporös zu sein.
Man gewinnt den Eindruck, dass innere Vorgänge sie ganz absorbiren.
Ab und zu Aeusserungen, sie werde fortwährend beschimpft von der
früheren eifersüchtigen Dienstgeberin. „Sie giebt keine Ruhe."
Patientin klagt, dass bewusste Frau ihr mit Messerstichen Schmerzen
im Kopf zufüge. Die Nächte werden ruhig und meist schlafend zu-
gebracht.
Am 2. Juni, mit Nachlass der Kopfschmerzen, wird Patientin besinn-
licher, freier, spürt aber, dass ein Messer im Kopf stecke und klagt
noch bis zum 4. Nachmittags über Messerstiche und dass die Frau mit
Schimpfen keine Ruhe giebt.
Nun wird sie ganz lucid und theilt mit, dass sie vom 26. März 1896
ab in dem früheren Dienst unter der Eifersucht der Herrin viel zu
leiden hatte. Am 13. Mai habe sie wegen der sich immer ärger wieder-
holenden Eifersuchtsscenen den Dienst endlich verlassen, einen neuen
in der Nähe des früheren angetreten.
So oft sie der früheren Dienstgeberin begegnete, habe diese sie
beschimpft. Patientin versichert, sie sei aus dem Kummer über das
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose. 87
erlittene Unrecht und über die infarnirenden Angriffe auf ihre Ehre gar
nicht mehr herausgekommen.
Am 25. Mai habe es neuerlich eine höchst peinliche Scene auf der
Strasse gegeben. Sie bekam in dem dadurch provocirten Affect heftige
Kopfschmerzen, Appetit- und Schlaflosigkeit.
In der Nacht auf den 28. Mai habe sie sich wegen Schlaflosigkeit
mit Bügeln die Zeit vertrieben. Vor Kopfweh und "Weinen konnte sie
von ll1^ Uhr Abends ab nicht mehr arbeiten. Sie setzte sich nieder.
Von dem, was nun mit ihr geschab, bis zum 4. Juni, wo sie Nachmittags
im Spital zu sich kam, weiss Patientin nicht das Mindeste.
Sie hat noch etwas Kopfschmerz, der sich aber binnen wenig Tagen
verliert, bietet keine Schwankungen ihres körperlichen und psychischen
Befindens, geräth nicht mehr in Affect bei der Erinnerung an die ihr
von der früheren Herrin angethanen Kränkungen.
Am 10. Juni auf die Nachricht, ihr Vater komme, geräth Patientin
neuerlich in einen psychischen Ausnahmszustand.
Sie erscheint bei der Krankenvisite verstört, dämmerhaft, kennt die
Umgebung nicht, auch nicht den Vater, hat wieder Kopfschmerz, zuckt
bei Durchtastung der rechten Kopfhälfte zusammen, blickt starr vor sich
hin, äussert keine Delirien und kommt nach etwa 4 Stunden wieder zu
sich, mit Amnesie für diese Zeit.
Am 17. Juni, nach gutem intervallärem Befinden, neuerlich neural-
gischer Kopfschmerz, Behauptungen, die Frau habe ihr ein Messer in den
Kopf gestossen. Tiefer Dämmerzustand wie früher. Keine Gehör-
hallucinationen.
Am 21. Juni wieder lucid. Von jetzt ab bis zur Entlassung
(29. Juni) noch täglich heftiger Kopfschmerz, aber ohne psychopathische
Symptome.
Vom Vater erfährt man, dass durchaus keine hereditäre Belastung
im Spiele sei, dass seine Tochter jedoch von Kindsbeinen auf sehr emotiv
war, gleich weinte, von jeher oft an Kopfweh litt und schon 1895 im
Anschluss an eine Ohrfeige, die sie von ihrer Dienstgeberin erhalten,
sich sehr gekränkt habe und in ähnlicher Weise wie diesmal verwirrt
gewesen sei, sodass sie 3 Wochen im Spital zu Pressburg zubringen musste.
Ein Trauma capitis habe sie nie erlitten.
Anamnestische und gegenwärtige Nachforschungen nach Epilepsie
und Hysterie ergaben ein völlig negatives Resultat.
Beobachtimg 4.
Fräulein Rov . . ., 26 Jahre, Erzieherin, in meiner Klinik aufgenommen
am 11. October 1874, soll von gesunden Eltern stammen. Eine Schwester
ist nervenleidend.
88 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
Patientin war als Kind gesund, litt vom 17. Jahr ab an Chlorose,
■wurde menstruirt mit 20 Jahren. Mit 24 Jahren 5 monatliche Tobsucht
mit nymphomanischen Erscheinungen. Vollständige Genesung. Ende
August 1874 nach Schreck (Vater verunglückte auf der Eisenbahn)
neuerlich erkrankt — Cardialgie, Druck im Epigastrium, trübe Stimmung,
grosse gemüthliche Keizbarkeit. Nach 3 Wochen Aufhören der epi-
gastralen Beschwerden, nun aber Kopfschmerz, unruhiger Schlaf, schwere
Träume, Praecordialangst.
Tom 20. October 1874 ab Temporal- und Intercostalneuralgie,
dabei psychische Verstimmung, Hang allein zu sein, Unlust zur Arbeit.
Die Neuralgien bestanden continuirlich mit Exacerbationen. Mit
solchen kam es jeweils zu Anfällen folgenden Charakters:
Mit sich steigerndem Temporalschmerz wird Patientin blass, ohn-
mächtig. Nach einigen Minuten kommt sie zu sich; sie ist weinerlich,
klagt über heftigen linksseitigen Temporalschmerz. Das Gesicht ist dabei
geröthet. Solcher Anfälle kommen zuweilen mehrere an einem Tag,
wobei die Temporalneuralgie die Kolle einer Aura zu spielen scheint.
Als Sitz des Schmerzes findet sich ein umschriebener Punkt nach oben
und aussen vom linken oberen Augenhöhlenrand. Dieser ist auf Druck
sehr schmerzhaft und lassen sich von diesem Punkt aus experimentell
Anfälle provociren. Der Schmerz irradiirt nirgends hin.
An dieser Stelle findet sich keine gewebliche oder Knochen-
veränderung. Der 1. Ast des linken Trigeminus ist allenthalben druck-
empfindlich. Von TJebelkeit, Flimmerscotom u. s. w. sind die Anfälle
nie begleitet. Der Augenspiegelbefund ist negativ. Das linke Ohr ist
hochgradig hyperaesthetisch, das Ticken der Uhr wird hier höchst lästig
empfunden. Stigmata hysteriae sind nicht auffindbar.
Neben der temporalen besteht eine linksseitige Intercostalneuralgie,
die zwar jeweils mit ersterer exacerbirt, aber auf die Auslösung der
Anfälle keinen Einfluss gewinnt.
Die vegetativen Organe functioniren normal. Uterus virginal, Druck
auf die Vaginalportion schmerzhaft. Ord. kalte Abreibungen, laue Bäder,
Tonica, Morphiuminjectionen ad locum dolentem.
Die Erscheinungen der Dysthymie verlieren sich in den folgenden
Wochen. Die Localerscheinungen und die Anfälle bleiben.
Diese treten 1—2 Mal täglich auf, dauern bis zu einer halben Stunde,
gehen mit völliger Aufhebung des Bewusstseins einher. Patientin ver-
hört dasselbe nicht plötzlich, sondern allmälig. Sie greift nach der
schmerzhaften Temporal- und Intercostalgegend, bedeckt sie, zuckt heftig
zusammen, wenn man an ersterer einen Druck ausübt. Es kommt zu
Jactation, Umherwälzen, Umsichschlagen, das den Eindruck bewusstloser
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose. 89
Reaction auf den intensiven Schmerzzustand macht. Oft kommt es auf
der Höhe des Anfalls zu Stöhnen, tremorartigem Zucken der unteren
Extremitäten, ähnlich einem Schüttelkrampf, Einkrallen der Finger in
die Kissen, Zähneknirschen, Rotation der Bulbi nach oben. Häufig
zeigen sich Spuren von Delirium — zusammenhangslose, abgerissene
"Worte, Gespräche mit dem Bruder.
Respiration und Circulation sind ungestört, aber der Puls wird
frequent und klein. Nach dem Anfall ist Patientin rasch wieder bei
sich, ohne Schwindel, matt, erschöpft. Keine Urina spastica.
Menses regelmässig, ohne Einfluss auf die Anfälle.
Seit Januar 1875 ist Patientin psychisch andauernd frei. Die Tem-
poralneuralgie äussert sich nur mehr als Aura. In der Zwischenzeit der
Anfälle besteht hier kein Druckschmerz mehr. Dafür ist die Intercostal-
neuralgie in den Vordergrund getreten. Sie vermag keine Anfälle aus-
zulösen, exacerbirt aber mit diesen und ist nach solchen besonders intensiv.
Die Anfälle werden seltener, durch psychische Reize nicht auslösbar,
sondern nur durch die Intercostalneuralgie. Unter Brombehandlung
(6,0 pro die) und Fortsetzung der Morphiumin jectionen (2 Mal täglich
0,03), bis zum Mai werden die Anfälle sehr selten.
Nachdem im September und October keine Anfälle mehr zu beob-
achten gewesen waren und das Krankheitsbild sich nur auf leichte
Temporalempfindlichkeit und nervöse Erregbarkeit beschränkt hatte,
wurde Fräulein R. am 9. November 1895 entlassen. Die Genesung hat
sicli erhalten.
Wohl am häufigsten besteht der Zusammenhang zwischen Neuralgie
und transitorischer Psychose darin, dass eine epileptische oder hysterische
Veränderung im Centralnervensystem vorhanden ist und die Neuralgie
nichts anderes als die Aura eines Insults einer dieser beiden Nervenkrank-
heiten darstellt. Kommt es, wie nicht selten, zu einem blossen psychischen
Insult — so bei Epilepsie als Aequivalent eines Krampfanfalls, bei
Hysteria gravis als rudimentärer Anfall (p6riode de dülire), — so entsteht
klinisch ein neuralgisches transitorisches Irresein, das nur verständlich
wird, wenn die Neuralgie in ihrer eigentlichen Bedeutung erkannt wird.
Es ist sogar wahrscheinlich, dass es bei der neuralgischen Aura
eines epileptischen Insults sein Bewenden haben kann, oder dass dieser
insofern abortiv bleiben kann, als nur Bewusstseinstrübung und einzelne
Symptome des sonst klassisch convulsiven Anfalls die Neuralgie begleiten,
bezw. den epileptischen Insult markiren. Dann gewinnt das Ganze das
Gepräge eines neuralgischen Aequivalents eines gewöhnlichen Anfalls.
Provocirt eine Neuralgie auf hysterischer Grundlage transitorisches
Irresein, so geschieht dies wohl immer in der Weise, dass das neuralgische
90 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
Gebiet die Bedeutung einer spasmogenen Zone gewann und damit den
Anfall, der auf die periode de delire beschränkt sein kann, auslöste.
Eine Deutung im Sinne eines epileptischen Aequivalents scheint
mir folgender von Anton (op. cit.) berichtete Fall zu verdienen.
K., 18 Jahre, Buchführer, von heiasteter Mutter, begabt, Dervös, seit der frühesten
Jugend mit Stirnkopfschmerzen behaftet.
Mit 16 Jahren im Anschluss an Tod der Mutter bewusstloses Zusammenfallen mit
sich anschliessender Erregung, Verworrenheit, sinnlosem Umsichschlagen, Beissen, Zähne-
knirschen. Solche Anfälle wiederholt. Seither reizbar, Steigerung des quälenden Stirn-
kopfschmerzes.
Juli 1888 Suicjdversuch in der Donau mit Amnesie.
Seither Groll gegen den Chef, Ideen, sich an diesem zu rächen.
Am 2. August zu diesem Zweck in dessen Geschäft eingedrungen, Wuthanfall mit
Amnesie. In Klinik erschöpft, desorientirt, nach 4 Tagen geordnet.
2. Aufnahme auf Klinik 15. September 1888 mit heftiger Hyperaesthesie im n.
supraorhitalis. Patient erschöpft, verwirrt, ist Dr. Faust, 300 Jahre alt, hat den
30jährigen Krieg mitgemacht u. s. w.
Patient fabulirt förmlich, spricht fliessend innerhalb seines Wahnkreises, ist sonst
arg gehemmt, amnestisch für Vita anteacta, für früheren Aufenthalt auf der Klinik.
Nach 2 Tagen rasche Lösung des psychischen Ausnahmszustands, mit völliger Amnesie
für die Zeit vom 9. — 17. September.
Die Schriftzüge sind nun ganz anders als die, welche Patient als Dr. Faust
gehabt hat.
Am 17. n. supraorbitalis noch schmerzhaft. Die Neuralgie klingt ab. Patient
erscheint noch psychisch leicht ermüdbar, nach wie vor nervös, erregbar, gedrückt.
Während des Aufenthalts im Spital, provocirt durch Gemüthsbewegungen, noch
2 Wuthanfälle von etwa 10' Dauer, analog dem am 2. August vorgekommenen, jeweils
mit Exacerbation der Neuralgie.
Die beiden folgenden, von mir vor vielen Jahren beobachteten Fälle
mögen als Typen für die klinischen Bilder des neuralgisch epileptischen
und hysterischen transitorischen Irreseins hier Abdruck finden.
Beobachtung 5. Epilepsia larvata in Gestalt von Vesania neuralgica
transitoria.*)
Es handelt sich im folgenden Falle um mit einer Intercostalneuralgie
zeitweise aufgetretene Hallucinationen und Delirien bei einem früher
epileptischen Anfällen unterworfen gewesenen Mädchen (Dysthymia
neuralgica epileptica), welche allmälig au die Stelle der letzteren
getreten waren, und wobei sich aus dem eigenthümlichen psychischen
Bilde der paroxysmalen und interparoxysmelleu Erscheinungen mit
Sicherheit auf die Grundursache (Epilepsie) zurückschliessen liess. Zu-
gleich gelang es der klinischen Beobachtung, die einzelnen Paroxysmen
auf die peripherische Ursache (Neuralgie) zurückzuführen, und die Be-
achtung dieser reflectorischen Auslösung derselben hatte einen günstigen
*) Zeitschrift f. Psychiatrie XXIV, 4.
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose. 91
therapeutischen Erfolg in Gestalt einer Beseitigung des Krankheitszustandes
mittelst subcutaner Morphiuminjectionen, womit ein experimenteller
Beweis des ätiologischen Zusammenhangs der einzelnen Krankheits-
erscheinungen und der reflectorischen Auslösung der Paroxysmen zugleich
geliefert war. Die Wichtigkeit und Schwierigkeit der Begutachtung der-
artiger Zustände für die forensische Praxis ergiebt sich aus einem Dieb-
stahl, den die Kranke in einem Anfalle ihres Leidens beging, der die
Gerichte zur Einforderung eines Gutachtens über ihren Gesundheits-
zustand zur Zeit der That veranlasste.
Wilhelmine W. . ., 33 Jahre alt, katholisch, ledig, Dienstmagd, später
Taglöhnerin und Vagabundin, wurde der Anstalt Ulenau aus der Unter-
suchungshaft, in der sie sich wegen eines am 26. April 1S65 begangenen
Wäschediebstahls seit dem 15. Mai befunden hatte und in Seelenstörung
verfallen sein sollte, am 10. Juli 1866 zum Zweck der Behandlung und
Begutachtung ihres Seelenzustandes übergeben.
Aus den gleichzeitig eingelaufenen Acten über das frühere Leben
der W. ergab sich Folgendes: Das Verbrechen, das sie zum letzten Mal
in die Gewalt der Gerichte geführt hatte, war ein Wäschediebstahl, den
sie am 26. April, Nachts zwischen 1 und 2 Uhr, auf einem Bleichplatz
in R. begangen hatte. Gleich nach dem Diebstahl war sie mit ihrem
Raub fortgeeilt, hatte sich mehrere Tage in verschiedenen Ortschaften
herumgetrieben, einen Theil der entwendeten Gegenstände veräussert
und mit dem Rest sich am 1. Mai bei ihrer Mutter unter dem Vorwand
eingefunden, dass sie die Wäsche von einer Familie, bei der sie gewesen,
zum Geschenk erhalten habe. Bei der Verhaftung, am 15. Mai, fand
man noch einen Theil der entwendeten Gegenstände, nebst anderen
früher gestohlenen vor, die übrigen hatten Mutter und Tochter theils
verkauft, theils verarbeitet. Die Angeklagte legte ein offenes Geständniss
ab und wurde einstweilen im Amtsgefängniss in Untersuchungshaft
gehalten.
Schon in der ersten Zeit ihrer Gefangenschaft, in welcher grosse
Anaemief Oodem der Füsse und Stuhlverstopfung bald auftraten, stellte
sich fast jeden Abend bedeutende ängstliche Unruhe ein; sie behauptete,
dass Nachts ein grosser, schwarzer Mann, mit Acten unter dem Arme,
zu ihr in die Zelle komme, sich auf ihre Pritsche setze und sie schreck-
lich anblicke. Die Nächte waren schlaflos, unruhig, unter Tags verhielt
sich die Gefangene ruhig. Trotz Versetzung in gemeinsame Haft stellte
sich, vom 5. Juli an, steigende Unruhe, blindes Fortdrängen aus dem
Gefängniss, Taedium vitae ein, so dass ihre Versetzung in die Irrenanstalt
vom Gefängnissarzt beantragt, und am 10. Juli ausgeführt wurde.
Wir fanden bei der Aufnahme eine kräftig gebaute, aber in ihrer
92 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
Ernährung sehr herabgekommene und in hohem Grade anämische Per-
sönlichkeit. Der Schädel etwas dolichocephal, symmetrisch; indifferente,
oft stupide Gesichtszüge, träge Mimik, träge Bewegungen, aber der
motorische Apparat frei von Störungen. Keine Erkrankung vegetativer
Organe, dagegen weit gediehene, in schwacher Circulation, wachsbleicher,
etwas gedunsener Haut, Oedem der Füsse sich wesentlich aussprechende
Anämie nebst Fluor albus.
Eine Reihe von Nervenbahnen, besonders aber der ganze Verlauf
des linken 8. Intercostalnerven zeigten sich auf Druck sehr empfindlich,
wobei sofort ein auf die Schmerzpunkte dieser Nerven (Valleix) aus-
geübter Druck eine eigenthümliche, ängstliche Erregung und Gereiztheit
bei der Kranken hervorbrachte, und sie fragen Hess, ob man ihr denn
die Geschichte mit dem „schwarzen Mann'1 machen wolle. Psychisch fand
sich zunächst ein hoher Grad von Gedächtnissschwäche und Beschränkt-
heit, derart, dass sie selbst über ganz einfache Thatsachen ihres früheren
Lebens keine Auskunft zu geben wusste, und ein anamnestisches Ein-
dringen in dasselbe unmöglich war. Wie die ganze Haltung und Mimik,
so verriethen auch die trägen, nur auf ganz concrete Fragen erfolgen-
den Antworten eine grosse Schwäche im psychischen Mechanismus, die
sich auch weiter in kindischem "Wesen, grosser Weinerlichkeit und
Eeizbarkeit aussprach. Ihren Diebstahl gestand sie auf Befragen unum-
wunden ein, gerieth aber sofort in Weinen und Klagen, sie sei unschuldig,
ein schwarzer Mann, den sie auch früher schon und jetzt wieder im
Gefängniss gesehen, habe sie geheissen, das Weisszeug zu nehmen; sie
habe nicht widerstehen können, auch Nichts weiter dabei gedacht. —
Schon einige Tage vorher und früher öfter, sei ihr so sonderbar gewesen
im Kopf; sie habe oft ein Hämmern darin verspürt, es sei ihr gewesen,
als ob eine ganze Menge Leute ihr zurufe. Wenn es ihr so wurde,
habe sie auf und davon gemusst; Tage lang sei sie oft planlos umher-
gelaufen. So sei es alle paar Wochen über sie gekommen. — Nach dem
Diebstahl habe es sie 3 Tage und 3 Nächte fortgetrieben, sie habe nichts
als laufen müssen, habe nicht mehr essen können und ein Gefühl im
Kopf und Herz gehabt, wie wenn sie die ganze Welt mitnehmen müsste.
An der Realität des Phantasma hielt sie fest; die Erinnerung daran
versetzte sie in lebhafte Unruhe; es werde doch nicht der Teufel gewesen
sein, und sie drüber verloren gehen müssen? Worüber sie dann in
läppisches Weinen, Klagen und einen in keiner Weise beherrschbareD,
schmerzlichen Gedankendrang im Sinn dieser dämonomanischen Vor-
stellung gerieth.
Im Verlauf der nächsten Wochen änderte sich dieses Bild blöd-
sinniger Schwäche mit kindischer Reizbarkeit und grosser Anämie nur
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose. 93
wenig. Ein bald nach der Aufnahme verlangtes Gutachten konnte bei
dem' Mangel aller anamnestischen Daten und der Kürze der Beobachtungs-
zeit nur ein vorläufiges sein; es machte geltend, dass ein Zustand blöd-
sinniger Schwäche vorhanden sei, wahrscheinlich hervorgerufen aus
Anämie in Folge zu langen Stillens bei ungenügender Nahrung, und
Dahm an, dass bei der weitgediehenen Ausbildung, die der Krankheits-
zustand schon bei der Aufnahme hatte, die geistige Störung schon früher,
wahrscheinlich zur Zeit des Diebstahls vorhanden gewesen sei. Patientin
habe sich in einem Zustand befunden, in dem sie der weder damals
noch jetzt als solche erkannten Hallucination, die sie zur That aufforderte,
keinen Widerstand leisten konnte. — Auf dieses vorläufige Gutachten
hin wurde die Untersuchung eingestellt und die Kranke in der Anstalt
belassen, wo wir durch fortgesetzte Beobachtung und sorgfältige Er-
forschung der Anamnese endlich im Stande waren, den Zusammenhang
der Erscheinungen und die Pathogenese aufzufinden und, darauf gestützt,
eine erfolgreiche Therapie zu gründen.
Nachdem bis zum Anfang November die bereits erwähnte intellec-
tuelle und Gedächtnissschwäche, grosse gemüthlicho Reizbarkeit, zeitweise
Gedrücktheit, Verstimmung, vage Angstgefühle, hie und da Klagen über
Intercostalschmerzen, dio hervortretenden psychischen und somatischen
Krankheitserscheinungen gebildet hatten, trat am 18. November ein
heftiger Paroxysmus auf, der über die Deutung des Falles volle
Klarheit verbreiten sollte. — Die Kranke, an welcher ausser einer
gewissen Verstörtheit und grösseren Gereiztheit nichts Auffallendes be-
merkt worden war, schreckte plötzlich auf, rannte davon und wurde von
den nacheilenden Wärterinnen auf dem Boden liegend, im verzweiflungs-
vollen Kampf mit einem schrecklichen Phantasma getroffen. Der Kopf
war glühend heiss und roth, der Blick wild, das Gesicht entstellt; plötz-
lich stürzte sich die Kranke auf die Umgebung, biss, trat, schlug um
sich aus Leibeskräften, so dass Beschränkung nöthig wurde. Zu Bette
gebracht dauerte das Umsichschlagen und Wüthen der Kranken noch
10 Minuten fort, dann wurde sie ruhig, begann Eindrücke aus der Aussen-
welt aufzunehmen, kam rasch zu sich, blieb noch einige Stunden sehr ge-
reizt, schwerbesinnlich, verstimmt, mit schmerzlichem Gedankendrang, dass
Gott sie verlassen habe, und ging dann in den Status quo ante über. Es
zeigte sich, dass sie gar kein Bewusstsein von dem, was während ihres
Anfalls mit ihr vorgegangen war, hatte, dagegen wusste sie ziemlich gut
Bescheid über die Erlebnisse ihres Traumzustandes zu geben.
Unter Hämmern im Kopf, Gefühl von Schauern durch den Körper,
sei plötzlich eine fürchterliche Bangigkeit über sie gekommen. Ein
schwarzer Mann mit langen Ohren, langem Barte und Rossfüssen sei vor
94 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
ihr gestanden, habe Feuer gegen sie gespieen, ihre ewige Seligkeit von
ihr verlangt, befohlen, dass sie Alles zusammenschlagen solle. Er habe
sie ins Herz gestochen, in der Seite getreten und gebrannt. Sie könne
nicht begreifen, wie er zur Thüre hereingekommen sei, aber "Wirklich-
keit müsse es doch sein, da sie ihn gesehen, gehört und gefühlt habe.
Dieser Zustand eines transitorischen Deliriums, das im ganzen Erank-
heitsverlauf isolirt stand, noch mehr die Angaben der Eranken, dass sie
in die Seite gebrannt, gestochen u. s. w. worden sei, was auf irgend
eine schmerzhafte Empfindung an dieser Stelle hindeutete, der Umstand,
dass schon früher an dieser Stelle Intercostalneuralgie beobachtet worden
war, mit deren Exacerbationen Zustände von psychischer Verstimmung,
Gereiztheit oder flüchtiges Auftauchen der hallucinatorischen Figur des
schwarzen Mannes aufgetreten waren, musste zunächst den Verdacht
erwecken, dass wir es mit einer Dysthymia neuralgica, einer Reflex-
psychose, die durch einen peripheren Reiz, vielleicht die schon constatirte
Intercostalneuralgie geweckt war, zu thun hatten.
Die Vermuthung sollte sich bald bestätigen, da am 30. d. M. wir
rechtzeitig zu einem weiteren Anfall gerufen, das Vorhandensein einer
äusserst heftigen Neuralgie des 8. linken Intercostalis nachweisen konnten.
Der Anfall dauerte dies Mal länger, etwa eine halbe Stunde, verlief im
Uebrigen genau wie der frühere. Druck auf die neuralgische Stelle
steigerte ihn zu einer enormen Höhe und führte sofort zur Wiederkehr
des Wahns, dass das Phantasma sie ins Herz stechen wolle. — Mit dem
Aufhören des Anfalls war auch die Neuralgie verschwunden. An der
Diagnose war somit nicht mehr zu zweifeln; wir hatten es mit einer
Dysthymia neuralgica zu thun, die, je nach der Intensität des
Schmerzes, bald als blosse psychische Depression, als flüch-
tige Hallucination, oder als furibundes Delirium sich äusserte)
dessen einzelne Wahnvorstellungen ihr Material von der
neuralgischen Stelle bezogen, gleichsam nur die allegorischen
Interpretationen des ins Traumleben hinüber percipirten
Schmerzes waren. Derartige Anfälle traten in der Folge noch am
4., 8., 23. December, am 4. und 23. Januar auf. Hämmern im Eopf,
Gefühl eines Schauers im ganzen Eörper, heisser, congestionirter Eopf,
verstörter, grosse Angst verrathender Blick, grosse Gereiztheit, barsche,
heftige Sprache, unruhiges Umhertreiben, plötzliche Angriffe auf die
Umgebung, waren regelmässig die Prodromi der Anfälle, die plötzlich
eintraten, bis ins Detail einander glichen, 10 Minuten bis 1/2 Stunde
dauerten, und nur eine Erinnerung für das im Traumzustand Erlebte
hinterliessen. — Heftiger Eopfschmerz, grosse Mattigkeit, Reizbarkeit,
Schwerbesinnlichkeit bestanden dann noch' einige Stunden, worauf die
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose. 95
Kranke wieder in den früheren Zustand zurückkehrte. — Mit der
Erkenntniss des Zusammenhangs der Erscheinungen war die Therapie
gegeben und einfach. Die Neuralgie wurde mit subcutanen Morphium-
Injectionen (2 mal täglich 0.01 — 0.03 an die Schmerzpunkte) behandelt
und gemildert, die Umgebung angewiesen, bei den geringsten prodromi
den Arzt sofort zu rufen; vorhandene Anfälle wurden durch starke
Injectionen coupirt, die Anämie durch Eisen und Diät gemindert, end-
lich unter fortgesetzter Anwendung der Injectionen die Neuralgie be-
seitigt*), worauf die Anfälle ausblieben, die intellectuelle und Gedächt-
nissschwächc sich besserte, die Reizbarkeit, Verstimmung und Hallucina-
tionen schwanden und die Kranke im Mai 1866 nach Hause entlassen
werden konnte und, wie bis zum Juni 1867 eingezogene Nachrichten
ergaben, von den früheren Erscheinungen ihres Leidens frei blieb.
Offenbar hatten wir es in unserem Fall mit einer neuralgischen
Psychose zu thun, und soweit war er klar. Weniger zu Tage aber lag
der pathologische Zustand des Centralorgans, die Bedingungen, durch
welche in diesem ein peripherer Reiz sonst unerreichbare Nervengebiete
in Erregung versetzen konnte. Waren die Bedingungen dieses krank-
haften Hirnzustandes einfach in der mangelhaften Hirnernährung, der
grossen Anämie zu suchen, oder bestand eine anderweitige centrale
Neurose, deren symptomatischer Ausdruck, vielleicht in transformirter
Gestalt, die bei der Kranken beobachteten Anfälle waren und von denen
die neuralgischen Erscheinungen nur eine Theilerscheinung darstellten?
Hier konnten zunächst nur zwei Neurosen in Betracht kommen, hysterische
und epileptische Zustände. Für Hysterie sprach, ganz abgesehen von
der inzwischen erhobenen Anamnese, weder die Form der Anfälle, noch
der psychische Zustand in der Zwischenzeit, wohl aber fanden sich starke
Indicien, dass ein epileptisches Leiden vorlag. Darauf deuteten ein
Mal die grosse Gedächtnissschwäche, grosse Reizbarkeit und zeitweise
psychische Verstimmung der Kranken, ihre ganz abrupt auftretenden
Hallucinationen schrecklichen Inhalts, die Art der Anfälle selbst, ihre
Gleichförmigkeit, die nur Intensitätswechsel zuliess, die Delirien und
Hallucinationen schrecklichen Inhalts in diesen, ihr plötzliches Auf-
treten, die Amnesie für Alles während der Anfälle um die Kranke Vor-
gegangene, der Uebergang derselben zum früheren Status quo durch
ein Stadium des Stupors und der Schwerbesinnlichkeit. Liess schon all
*) Eine auffallende Erscheinung war, dass während sonst 0.015 Morph, in sub-
cutaner Anwendung schon Brechen hervorrief, während des Anfalls 0.06 injicirt, durch-
aus keine toxische Erscheinung hervorbrachte, so dass also während desselben das
Nervensystem in einem ganz auderen Zustand sich befinden musste. Ebenso gelang es
nur den Anfall zu coupiren, wenn in dem Prodromalstadium injicirt wurde; im Anfall
selbst hatte die Injection gar keine Wirkung mehr.
96 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
dies die charakteristischen Züge einer epileptischen Störung erkennen,
so gewann die Vermuthung Gewissheit, als die Kranke einmal plötzlich
vom Stuhl fiel und eine mehrere Secunden dauernde vertigo epil. dar-
bot. Ebenso wurde sie eines Morgens mit aufgeschärfter Wange ausser
Bett in einem schwerbesinnlichen , gereizten Zustand getroffen, ohne
dass sie Auskunft über das, was mit ihr vorgegangen war, geben konnte.
Die Anamnese, die mit der fortschreitenden Besserung des psychischen
Befindens allmälig möglich geworden war, und durch Angaben der zum
Besuch gekommenen Mutter ergänzt wurde, sollte den Beweis vervoll-
ständigen, dass es sich um eine reine Reflexepilepsie handelte, deren
convulsivische Paroxysmen von eigentümlichen neuropsychischen Zufällen,
analog den epileptisch -maniakalischen, vertreten waren, und als Aequi-
valente jener, als transformirte Erzeugnisse ein und desselben Grund-
zustandes angesehen werden mussten.
Die bezüglichen anamnestischen Momente waren folgende:
W. W. ist keiner nachweisbaren Prädisposition zu Psychosen unter-
worfen; eine Schwester litt an epileptischen Krämpfen. Die W. war in
ihrer Jugend sehr kränklich und litt schon in ihrem 10. Jahr an links-
seitiger Intercostalneuralgie, mit deren Exacerbationen sie schon damals
häufig ängstlich , schwermüthig wurde , über einen Druck am Herz klagte,
und plan- und ziellos, oft mitten in der Nacht, davon lief, und ohne
zu wissen, was sie gethan, wo sie gewesen war, nach Stunden oder
Tagen wieder heimkehrte.
In ihrem 11. Jahr traten auf der Höhe der Intercostalneuralgie, die
sie charakteristisch beschreibt, Krampfanfälle auf, in denen man sie für
todt hielt. Sie hatte allgemeine heftige clonische Krämpfe; das Bewusst-
sein war völlig aufgehoben, oft stand Schaum vor dem Mund — , un-
zweifelhaft epileptische Krämpfe, die sich häufig, besonders zur Zeit
der Menses, wiederholten und bis zum 15. Lebensjahr die Kranke
heimsuchten.
Mit 131/2 Jahren traten die Menses unter Schmerzen ein und ver-
liefen in der Folge sehr unregelmässig und schmerzhaft. Von der Zeit
der Pubertät an scheint die Kranke mehrere Jahre an Chlorose gelitten
zu haben. Mit dem Aufhören der Krämpfe hörten aber die neural-
gischen Anfälle nicht auf. An die Stelle jener traten mit den Exacer-
bationen der Neuralgie die ersten Hallucinationen. Dasselbe dämonische
Phantasma, das im späteren Krankheitsverlauf eine so grosse Rolle spielt,
erschien in Zeiträumen von 4 — 12 Wochen, spie Feuer gegen sie, schlug
gegen sie (an die neuralgische Stelle) mit zwei grossen, schwarzen Flügeln,
befahl ihr, Das und Jenes zu stehlen und zu thun, und wenn sie ihm
sofort nicht zu Willen war, so verhöhnte und verfolgte es sie.
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitoriseher Psychose. 97
Diese schrecklichen Visionen stellten sich meist mit dem Gefühl
von Brausen und Hämmern im Kopfe ein. Wenn sie die Augen schloss.
wurden die Phantasmen, die sie früh als eine Teufelsvision erkannte,
heftiger. Erreichte der Anfall seine Höhe, so liess es ihr keine Ruhe
mehr, in blindem Drang, planlos auf und davon zu laufen. Der „Böse"
verfolgte sie dann Stunden weit, gebot ihr Gegenstände, die sie sah, zu
nehmen, zusammenzuschlagen u. s. w. Wenn sie ihm den Willen that.
wurde ihr sofort leichter. Ein klares Bewusstsein von der Umgebung
hatte sie während dieser Zufälle nicht; die Leute kannte sie nicht, die
ihr begegneten. Wenn sie, nach Stunden oder Tagen, erschöpft nach
Hause kam, wusste sie nicht, wo sie gewesen war, noch wo sie die
Gegenstände, die sie bei sich trug, entwendet hatte. — Diese Anfälle
traten seit ihrem 15. Jahr, nur nicht so ausgebildet, als die in der
Anstalt beobachteten, alle paar Wochen auf. Sie glichen wesentlich
bis ins Detail, einander, nur die Intensität war eine wechselnde. Bald
kam die Vision nur flüchtig, schattenhaft und rief ihr einen Befehl zu,
dem sie noch widerstehen konnte, bald war das Phantasma so lebhaft,
die Bewusstseinsstörung so gross, dass sie blind gehorchen musste. Sie
habe auf das Geheiss des „schwarzen Mannes" Viel wegnehmen müssen,
dadurch viel Kummer und Verdruss von den Leuten erfahren, sei oft
eingesperrt worden und habe doch von ihren Diebstählen nichts gewusst
und selbst oft, wenn sie wieder bei sich war, die Gegenstände den
Eigentümern wieder zurückgegeben. Es habe ihr viel Thränen gekostet.
Zuweilen kam es auch nicht bis zur Visnn, sondern die Neuralgie
führte blos zu grosser Bangigkeit und Ruhelosigkeit. Ein Gefühl unend-
licher Depression im Epigastrium kam über sie, ein Drang, auf und
davon zu laufen und aufzupacken, wessen sie nur habhaft werden konnte,
Gedanken, wie wenn sie Alles zusammenschlagen müsste. Auch hat sie
wirklich, in einem solchen Zustand, ihrer Dienstherrschaft einmal Zimmer-
geräthe demolirt. Im Allgemeinen entsprachen diesen Zuständen niedere
Grade der Neuralgie; mit der Steigerung derselben trat jedesmal die
bekannte Vision ein, und ihrer Hohe entsprachen die geschilderten furi-
bunden Delirien. So weit die Anamnese, aus der noch hervorgeht, dass
die Kranke in den letzten Jahren oft vom Stuhl gefallen, auf dem Feld
bei der Arbeit bewusstlos umgesunken und mit einem unendlichen Weh-
gefühl wieder aufgewacht war.
Wir haben der klinischen Erörterung des Falles wenig mehr bei-
zufügen. Offenbar handelt es sich nur um verschiedene Symptomen-
gruppen ein und desselben Grundzustandes, nämlich einer epileptischen
Reflexneurose, die bald als einfache psychische Depression mit ängst-
lichen Affecten uud destructiveu Antrieben, bald als hallucinatorisches
Krirtt-EbiDK- Arbeiten I 7
98 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
Delirium in bestimmter Weise, bald als vertigo, bald als genuiner epi-
leptischer convulsiver Paroxysmus in Scene tritt. — Trotz der Viel-
gestaltigkeit des Krankheitsbildes erkennen wir doch deutlich an der
Pathogenese, dem Verlauf, dem immer nachweisbaren peripheren ßeiz
und dem eigenthümlichen paroxysmellen und interparoxysmellen psy-
chischen Zustand die gemeinschaftliche epileptische Basis.
Beobachtung 6. Nach einer Kopfverletzung aufgetretenes hysterisches
Irresein.*)
Die ledige Elisabeth H., geboren 17. Februar 1838, wurde der Anstalt
Illenau wegen eines schweren Nervenleidens, von dem sie im April d. J.
1861 befallen wurde, im März 1864 übergeben.
Sie war keiner hereditären Disposition zu Neurosen und Psychosen
unterworfen, hatte sich körperlich und geistig gut entwickelt und nie
Störungen der Menstruation dargeboten. Ebenso wenig gelang es der
Anamnese, eine besondere Neigung zu nervösen Beschwerden, ein Ueber-
wiegen der sensiblen und Gemüthssphäre über die anderen Functionen
nachzuweisen. Ebenso fehlten alle Erscheinungen, die auf gewisse Eigen-
thümlichkeiten des Charakters hingedeutet hätten; thätig, sittlich, gut-
müthig, hatte Patientin bisher mit Handarbeiten und Besorgung der Haus-
haltungsgeschäfte im Hause ihrer Eltern, die als ruhige harmlose Leute
galten, ihr Leben zugebracht.
Am 4. April 1861 erlitt sie auf dem Feld ihres Vaters von einem
Nachbar eine rohe Misshandlung, indem dieser ohne weitere Veranlassung,
nach einem Wortwechsel, mit der Hand ihr heftige Hiebe auf die linke
Scheitelgegend versetzte. Sie sank in Folge dieser Misshandlung zu
Boden, erhob sich aber alsbald mit dem Gefühl heftigen Schwindels
und Kopfschmerz. Aeussere Verletzungen waren in Folge der Miss-
handlung keine zu bemerken; die H. ging nach Hause, fühlte sich aber
bald sehr angegriffen, sodass sie sich zu Bette legen musste. Sie war
in grosser Aufregung über das ihr widerfahrene Unrecht, „es stellte sich,
quälender Schmerz an der Stelle ein, an welcher sie geschlagen worden
war, sodass sie nichts mehr auf dem Kopfe tragen konnte'-. Eine Eeihe
von Umständen, die in der nächsten Zeit auf die Kranke einwirkten,
dienten dazu, die Aufregung derselben zu vermehren: einmal das ihr
vorgehaltene Beispiel einer Frau im Ort, die durch eine ähnliche Miss-
handlung an Krämpfen und Schmerzen erkrankt war, ferner die gerichts-,
ärztlichen Untersuchungen und gerichtlichen Verhandlungen, in die sie
durch den mit dem Nachbar angefangenen Process verwickelt wurde..
Der Kopfschmerz, der sich später als eine äusserst heftige linksseitige
*) Friedreichs Blätter f. gerichtl. Medicin. 1806.
Beziehungen zwischen Neuralgie unl transitorischer Psychose. 99
Cervico-occipital-Neuralgie auswies, wurde immer quälender; Sensationen,
als ob der Schädel ander dem Trauma entsprechenden Stelle herausbrechen
wolle, irradiirte Empfindungen auf andere sensible Trigeminus-Aeste,
Schwindel, Unruhe, Frösteln, Durst, unruhiger Schlaf gesellten sich
hinzu, sodass die Kranke meist das Bett hüten und ärztlicher Behand-
lung übergeben werden musste.
Bis zum 16. April bestand unter vorübergehender Besserung der
Erscheinungen (13. — 16. April) dieser Zustand, dessen hervortretende Symp-
tome ein sehr heftiger Kopfschmerz, verschiedene nervöse Beschwerden
und leichte Fieberbewegungen waren, fort. Der Kopfschmerz war äusserst
quälend, wurde vorwiegend auf der linken Hälfte des Kopfs gefühlt,
irradiirte aber oft auf andere Trigeminusprovinzen und verhinderte die
Kranke an anstrengenderer Arbeit. Unter Exacerbation desselben tritt
am 16. ein etwa eine halbe Stunde dauernder tetanischer Krampfanfall
ein, auf den am 17. heftige tonische und clonische Krämpfe folgen,
während deren Dauer das Bewusstsein der Patientin getrübt ist und
Nadelstiche nicht empfunden werden. Diese Anfälle, welche sich in der
Folge fast täglich monatelang wiederholen, bekommen immer mehr das
Gepräge hysterischer Attaquen, sie nehmen einen polymorphen Charakter
an, treffen bald die, bald jene Muskelgruppen, sind von sehr wechselnder
Intensität und Ausdehnung, bald mehr clonisch, bald mehr tonisch; häufig
werden sie von der Kranken voraus verkündet. Das Bewusstsein, anfangs
nur getrübt, erlischt später in den Anfällen gänzlich, sodass die Kranke
keine Erinnerung • für das in ihnen Geschehene behält, zuweilen aber
treten zwischendurch Anfälle auf, in denen das Bewusstsein frei bleibt.
Bemerkenswert ist, dass jeweils eine Exacerbation des Kopfschmerzes
die Anfälle einleitet und annähernd der Heftigkeit desselben die Inten-
sität dieser entspricht, eine Eigenthümlichkeit, die in prägnanter Weise
auch während des Aufenthalts der Kranken in der Anstalt beobachtet
wird. Im Herbste 1861 werden die spastischen Erscheinungen seltener,
aber das Bild der Neurose wird ein complicirteres, indem auch die
psychischen und sensoriellen Functionen in den Krankheitsprocess mit
hineingezogen werden. — Das Tagebuch des Arztes berichtet von Ver-
wirrung der Vorstellungen, religiösen Delirien, ecstatischen Zuständen,
tobsüchtigem Schreien, automatischen Handlungen, Zuständen von (hyste-
rischem) Coma (die sogenannten „stillen Krämpfe" der Kranken) u. s. w.
In den sogenannten freien Zeiträumen ist die Kranke relativ wohl, zur
Besorgung leichterer Geschäfte fähig, aber immer schwebt wie ein
Ihunoclesschwert über ihr der Kopfschmerz, dessen Steigerungen sie
den Anfällen preisgeben. Aus dem Diarium des Amtsgerichtsarztes M.
geht hervor, dass als der Sitz dieses Schmerzes genau dieselbe Stelle
7*
100 Ueber Beziehungen zwischen Meuralgie und transitorischer Psychose.
wie hier, beobachtet wurde, nämlich das linke Scheitelbein (Februar
1862). In den übrigen Functionen des Körpers zeigen sich während
dieser Zeit nur unerhebliche Störungen; die Menstruation nimmt ihren
regelmässigen Fortgang, nur steigern sich während ihrer Dauer die
Anfälle; die Thätigkeit des Darmkanals ist etwas träge, der Schlaf, ausser
wenn durch Anfälle unterbrochen, ruhig; Zeichen, die auf eine cerebrale
Heerderkrankung deuten, wie Lähmungen und dergl. kommen nicht zur
Beobachtung; die Pupillen reagiren meist träge und sind meist contra-
hirt. "Wie die erwähnten Krampfanfälle das deutliche Gepräge hyste-
rischer Paroxysmen trugen, deuteten auch gewisse Eigenthümlichkeiten
im psychischen Leben — rascher unmotivirter Wechsel der Stimmung
von grosser Depression und Reizbarkeit bis zum Gefühl grössten Wohl-
seins und der heitersten Lebensanschauung auf die hysterische Natur des
Leidens. Ein deutlicher Zusammenhang fand sich zwischen Kopfschmerz
und Stimmung, der während des Aufenthalts zu Illenau sich noch deut-
licher herausstellte, indem nämlich eine grössere Depression der Selbst-
empfindung immer mit Steigerungen des Kopfschmerzes einherging und
Zeiten behaglicher Stimmung mit Remissionen desselben zusammentrafen.
Im Frühjahr 1862 wurden der Kopfschmerz und die Anfälle seltener,
kehrten aber im Winter 1862/63 um so heftiger wieder und änderten
etwas ihren Charakter, indem die krampfhaften Muskelstörungen zurück-
traten und mehr das Bild der Chorea major mit zeitweisen Delirien und
Hallucinationen, die die erlittene Misshandlung zum Gegenstand hatten,
sie vertrat. Dieses Gepräge behielten sie in der Folge; das Bewusstsein
für das, was in den Anfällen vor sich gegangen war, fehlte immer, die
Kranke beging in diesen, die in Zwischenräumen von 14 Tagen bis
einigen Wochen immer wiederkehrten, eine Reihe ganz verwirrter Hand-
lungen, rannte z. B. auf und davon, in den Wald, aufs Feld, verkannte
in ihrem Delirium die Personen, griff sie, indem sie diese für vermeint-
liche Verfolger hielt, an und entwickelte dabei ausserordentliche Rück-
sichtslosigkeit, Gewandtheit und Muskelkraft. In den freien Zeiträumen
befand sich die Kranke, eine gedrückte Stimmung abgerechnet, frei von
psychischer Störung, litt aber sehr unter dem fortwährenden Kopfschmerz,
der sie auch fast gänzlich am Arbeiten verhinderte. Vergebens wurde
durch wiederholte Blutentziehungen, Vesicantien, Fontanellen, Haarseile
im Nacken, Chinin, Morphin etc. etc. eine dauernde Besserung des
Leidens versucht. Bemerkenswerth ist, dass allmälig die Sehaxen dauernd
eine convergirende Richtung annahmen.
Die Untersuchung der Kranken bei ihrer Aufnahme in die An-
stalt im März 1864 ergab folgenden Befund: Sie ist von mittlerer
Grösse, kräftigem Körperbau, gut genährt; der Schädel ist regelmässig
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose. 101
gebildet, die Sehaxen etwas convergirend ; keine motorischen Störungen,
keine Störung der Functionen in den vegetativen Organen; die Menses
sind regelmässig. Die Exploration der Stelle, an welcher die Kranke
geschlagen worden war, ergab keine krankhafte Veränderung des Knochens
oder der ihn bedeckenden häutigen Gebilde, dagegen war der ganze
linke Nervus occipitalis in allen seinen Verzweigungen hyperästhetisch
und beantwortete Druck in seinem Verlauf mit lebhaftem die ganze
Bahn durcbschiessendem Schmerz, auch konnte die Kranke seit langer
Zeit nicht die geringste Last auf dem Kopfe tragen, ohne sofort von
heftiger Neuralgie ergriffen zu werden. Besonders empfindlich war der
Parietalpunkt , auf der Höhe des linken Scheitelbeins, da wo es sich mit
dem der anderen Seite und dem Hinterhauptsbein verbindet; dieser
neuralgische Punkt hatte etwa die Ausdehnung eines Quadratzolls; ein
zweiter fand sich im Verlauf des N. occipitalis magnus, hinter dem Pro-
cessus mastoideus (Occipitalpunkt). Die Intensität der Neuralgie war
wechselnd, die Kranke nie ganz frei von Schmerz und unerschöpflich
in der Schilderung der Gefühle, die sie im Kopfe empfand; bald klagte
sie Kälte, Frieren, Brennen, Klopfen, Zucken, Stechen, das Gefühl, als
ob der Kopf gespalten sei, Wind vom Ohr hinauf (entsprechend dem
Verlauf des N. occip.) durch jenen Spalt blase Wasser zwischen Schädel
und Kopfschwarte hin- und herlaufe u. s. w. Sonstige Störungen der
Sensibilität fehlten, besonders etwaige Muskelbyperiisthosieen; die höheren
Sinne waren etwas hyperästhetisch, Hallucinationen bei der Aufnahme
nicht nachzuweisen. Die Gemüthsstimmung war eine trübe, geilrückte,
schmerzliche; das Sinnen und Vorstellen der Fat. vorzugsweise auf ihr
Leiden, ihre schmerzhaften Sensationen gerichtet und in der Erinnerung an
die ihr widerfahrene Misshandlung, der Sorge für ihr Lebensglück, ihre
Gesundheit befangen. Es that der Kranken wohl, wenn sie die ärztliche
Aufmerksamkeit und das Mitgefühl Anderer auf sich lenken konnte, wie
ihr umgekehrt der geringste Zweifel an der Schwere der Erkrankung
oder nur die Verminderung der Theilnahme Anderer sofort eine sehr
gedrückte Stimmung verursachte. Im Allgemeinen war diese durchaus
abhängig von der jeweiligen Intensität der Neuralgie, ein Abhängigkeits-
verhältniss, das sich in der Folge sehr deutlich herausstellte. Diese habi-
tuelle Gemüthsverstimmung, der krankhafte Zwang, in den das Vor-
stellen durch das schmerzliche Fühlen gebannt war, der bei allen der-
artigen Kranken zu beobachtende Drang, das Interesse und Mitleid Anderer
zu erregen, selbst, wenn nöthig, mit halbgewollter Selbststeigerung der
Krankheitssymptome, eine gesteigerte Erregbarkeit für Gemüthseindrücke,
entsprechend der Hyperästhesie im neuralgisch afficirteu Nervengebiet,
waren die bemerkenswerthen psychischen Anomalien, die sich bei der
102 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitori scher Psychose.
Aufnahme der Kranken vorfanden. Schon in den ersten Tagen ihrer
Anwesenheit vervollständigte sich das Krankheitsbild durch das Auftreten
spasmodischer Zufälle, die sich in der Folge binnen Tagen oder Wochen
beständig wiederholten. Immer waren sie durch heftige Exacerbationen
der Cervicoccipitalneuralgie bedingt und hatten als entferntere Ursache
fast ausschliesslich psychische Momente. Bald war es der Nachlass des
Interesses für ihren Krankheitszustand von Seiten der Umgebung, bald
Aussetzen mit medicamentösen Eingriffen, unangenehme Begegnungen
mit anderen Pfleglingen, Ruhestörungen oder Krampfzufälle anderer
Kranker, die bei der zu einem hohen Grade gesteigerten psychischen
Erregbarkeit die Anfälle provocirten, bald waren es direct die Neur-
algie hervorrufende Krankheitsreize, wie Anstossen mit dem Kopf, Sich-
aussetzen höheren Wärmegraden durch Sitzen in der Sonne mit unbe-
decktem Haupt, die bei der ebenfalls hochgradig gesteigerten spinalen
Reflexerregbarkeit, motorische Erscheinungen auslösten ; ja eine Zeit lang
genügten bei vorübergehend besonders hochgesteigerter Reflexerregbar-
keit Irradiationen anderer neuralgischen Beschwerden auf den locus
minoris resistentiae, unangenehme Geruchsperceptionen, grelle Sinnes-
eindrücke oder selbst Vorstellungsreize, z. B. die lebhafte, sich später
bis zur Hallucination steigernde Reproduction des Vorfalls auf dem Acker,
durch den sie unglücklich geworden war, um durch Wiederhervorrufung
der Neuralgie, spastische und hallucinatorische Phänomene hervorzurufen.
Der schon angedeutete Connex zwischen Stimmung, Neuralgie und Anfall
Hess sich immer deutlicher nachweisen: exacerbirte die Neuralgie, so
ging die Stimmung aus ihrer relativen Gleichgewichtslage auf die Seite
der Depression hinüber, und zum Uebergang in den Anfall war es nur
ein Schritt; aber auch Alles, was das Gemüth unangenehm berührte,
war geeignet, sofort die Neuralgie und damit die spastischen Zufälle
heraufzubeschwören — ein Zustand, der, als das Leiden sich steigerte,
widerstandslos die Kranke diesem krankhaften Zwang unterwarf. Da all
diese ursächlichen Momente fast ausnahmslos bei Tage einwirkten, ist
es begreiflich, dass Patientin Nachts von ihren Anfällen verschont blieb.
Es ist schwer für diese selbst ein Musterbild zu entwerfen, da bald
die, bald jene Function in Mitleidenschaft gezogen wurde und die
Erscheinungen gestörten Nervenlebens in ihrer Intensität sehr wechselten.
Unter steigenden Schmerzen im Gebiet des N. occipitalis und Irra-
diation derselben auf Aeste des Quintus und der Cervicalnerven, An-
deutungen von Globus, bemächtigte sich der Kranken eine immer mehr
zunehmende Unruhe und Bangigkeit, die bald als von der neuralgischen
Stelle, bald vom Epigastrium ausgehend angegeben wurde; die bulbi ver-
drehten sich, der Strabismus convergens nahm zu, es trat eine exquisite
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitoii6cher Psychose. 103
Gefässlähmung im Bereich der afficirten Nerven ein, eine Erscheinung,
die auch meist höhere Grade der Neuralgie, auch wenn es nicht zum
Anfall kam, begleitete Das Bewusstsein trübte sich, die Kranke fühlte
selbst eine Verwirrung der Gedanken, ein „Drunter- und Drübergeheu
im Kopf"', fing an, abgerissen vor sich hin zu sprechen, die Umgebung
zu verkennen und gab auf Anreden barsche, unzusammenhängende Ant-
worten; das Bewusstsein für die objective Welt erlosch völlig, das Gesicht
nahm einen fratzenhaften Ausdruck an und wurde krampfhaft nach allen
Richtungen hin verzerrt, es stellte sich die Vision des Mannes, der sie
geschlagen, ein, er verfolgte sie, drohte sie wieder zu schlagen, sie
fühlte die Schläge desselben, indem sie bei ihrem gestörten Bewusstsein
die Schmerzen, welche die Neuralgie setzte, dafür hielt. Diese waren
so heftig, dass selbst bei sonst völlig aufgehobener Sinnesperception
Druck auf die Schmerzpunkte empfunden wurde und den Anfall sofort
steigerte. Ein verzweifeltes Ringen und Kämpfen mit dem hallucina-
torischen Gebilde erfolgte nun, bei dem die Kranke eine unglaubliche
Gewandtheit und Muskelkraft entwickelte; sie hörte den Angreifer schelten,
spotten, drohen und erschöpfte sich in endlosen Vociferationen dagegen;
sie sprang auf Möbeln, Betten mit merkwürdiger Geschicklichkeit umher,
ihm zu entweichen versuchend, bis endlich diese das Gepräge von ge-
wollten Bewegungen noch tragenden Muskelaktionen in allgemeine
mangelhaft coordinirte, Chorea major ähnliche Bewegungen übergingen
oder statt dieser oder im Anschluss an diese, allgemeine clonische Krämpfe,
unterbrochen vorübergehend von tetanischer Starre der Extremitäten, sich
einstellten. Das Delirium dauerte dann noch einige Zeit fort; allmälig,
etwa nach Verlauf von 20 Minuten bis zu einer halben Stunde trat ein
soporartiger Zustand ein, die Kranke näherte sich dann ziemlich rasch
wieder der objectiven Welt, klagte über heftige Occipitalschmerzen, all-
gemeine Erschöpfung, sprach noch einige Zeit etwas verwirrt, zeigte
ein getrübtes Bewuss'.sein und kehrte dann, indem die Schmerzen
auf ein bescheidenes Maass zurückgingen, in ihren früheren Zustand
zurück. Die Erinnerung für das, was im Anfall vorgegangen war,
fehlte vollständig.
Nicht immer wurde die ganze psychische, sensorielle und motorische
Sphäre in Mitleidenschaft gezogen. Ohne dass ein Grund nachweisbar
war, kam es zuweilen nur zu unvollständigen Attaquen, die entweder
nur in hallucinatorischem Delirium, oder in Chorea magna ähnlichen oder
hysteroepileptischen Krämpfen sich abspielten.
Die Behandlung (Chinin, Morphium. Chloroform, Atropin, Argentum
nitricum mit extr. Aconiti, laue Bäder, traitement moral) hatte keinen
rechten Erfolg.
104 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
Im Januar 1865 entschloss man sich zur Anwendung der Inductions-
elektricität, indem 2 mal täglich eine kräftige cutane Faradisation des
Parietalschmerzpunktes ausgeführt und durch den Verlauf des N. occi-
pitalis ein starker Inductionsstrom 10 Minuten geleitet wurde. Der Erfolg
war ein überraschender; schon nach der ersten Sitzung ertrug die Kranke
starken Druck an den Schmerzpunkten, die Anfälle wurden seltener,
die Stimmung hob sich, die Neuralgie cessirte stundenlang und wurde
sehr gemässigt. Leider recidivirte diese aber immer wieder bei der
geringsten Gemüthsbewegung, die Faradisation wurde lästig und mit
subcutanen Morphiuminjectionen (1 — 2 Gran 2 mal täglich an die Schmerz-
punkte) vertauscht. Die Wirkung war palliativ eine noch günstigere
als die der Elektricität; der Zustand besserte sich sogar so, dass sub-
cutane Wasserinjectionen einige Wochen im August an deren Stelle ohne
Vorwissen der Patientin gemacht, den gleichen Erfolg gegen die Neur-
algie hatten. Nicht so war es aber mit der Unruhe, Bangigkeit, Reiz-
barkeit, die, so lange die Kranke unter der Wirkung hoher Morphium-
dosen gestanden hatte, verschwunden waren; die plötzliche Entziehung
des gewohnten Nervenreizes rief jene wieder hervor, es stellte sich dazu
noch Schlaflosigkeit ein, so dass die Morphiumbehandlung wieder begonnen
werden musste. Die günstige Wirkung aufs Allgemeinbefinden blieb
nicht aus, und als in Folge der subcutanen Injectionen im August an
der neuralgischen Stelle ein bedeutender Abscess der Kopf schwarte ent-
standen war, stand die Neuralgie einige Zeit gänzlich, kehrte nur noch
selten und schwach angedeutet wieder und die Kranke schien der Recon-
valescenz entgegen zu gehen.
Aber noch im August stellte sich eine heftige linksseitige Inter-
costalneuralgie in der Höhe der zweiten Rippe ein, nachdem schon in
früheren Monaten herumziehende neuralgische Beschwerden im Bereich
verschiedener Intercostalnerven sich gezeigt hatten. Merkwürdigerweise
vertrat nun die neue Neuralgie ganz die Stelle der erloschenen in
Bezug auf die Genese der Anfälle und auf die Stimmung der Kranken.
Jene traten wieder ganz in der alten Weise auf, sobald die Intercostal-
neuralgie exacerbirte und gingen nun auch deutlicher mit Globus und
epigastrischen Angstgefühlen einher, ohne dass sich aber in der Magen-
grube eine Muskelhyperästhesie je auffinden liess. Die Neuralgie wich
der Behandlung mit subcutanen Morphiuminjectionen ebenfalls, mit denen
bis zu 6 Gran pro die gestiegen werden musste. Unter dem Einfluss
dieser hohen Dosen zeigte sich endlich eine unverkennbare Abnahme
der gesteigerten Reflexerregbarkeit des Nervensystems, sodass endlich
die oben angedeuteten ätiologischen Momente, trotz der noch gemässigt
fortbestehenden Neuralgie, die Anfälle nicht mehr so leicht hervorzu-
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitori6cher Psychose. 105
bringen vermochten und die Kranke drohende durch Heranziehung der
wiedergewonnenen Willenskraft zu beherrschen im Stande war. Allmälig
wurde aber das Morphium, das eine sehr beruhigende Wirkung, behag-
liche Stimmung und Gemeingefiihlsempfindung hervorzubringen schien^
ein wahrer Lebensreiz und nur schwer gelang die Abgewöhnung, deren
Versuch von der Kranken schmerzlich empfunden wurde und sie zu
Nachlass in ihrer Willensanstrengung und sogar Selbststeigerung, wenn
spasmodische Zufälle sich einstellen wollten, veranlassen konnte. All-
mälig gelang es aber durch consequente Verminderung der Dosis und
strengere psychische Behandlung die Kranke zu entwöhnen. Was die
Behandlung beginnender Anfälle betrifft, so war es mehrmals möglich
durch Chloroform -Narcose, Faradisation oder subcutane Injection au der
neuralgischen Stelle, selbst mitten im Anfall, diesen zu coupiren, ein
Beweis für die reflectorische Auslösung desselben.
Das Befinden der Kranken in den freien Zeiträumen hing fast aus-
schliesslich von dem Vorhanden- oder Nichtvorhandensein der Neur-
algie ab. Dem schmerzlichen Fühlen ging das schmerzliche Vorstellen
durchweg parallel. Die Verminderung der psychischen Reizbarkeit ging
gleichen Schritt mit Abnahme der Reflexerregbarkeit in anderen Pro-
vinzen des Nervenlebons; das Heraustreten aus dem engen und krank-
haften Vorstellungskreis, in dem die Kranko gebannt war, war erst mög-
lich, als der krankhafte Zwang, in den sich das Fühlen durch den Schmerz
versetzt fand, gebrochen war. Zu Zeiten, wo sich dieser zu einem höheren
Grad steigerte, kam es selbst zu taedium vitae, zu Stimmen, die zu
Selbstmord aufforderten, zum Abschneiden der Zöpfe u. s. w., zu Visionen
des Mannes, der die Kranke geschlagen hatte, aber nur in ganz ephe-
merem Bestand. — Die übrigen Verzweigungsgebiete sensibler Nerven
waren selten afficirt. Einige Male fand sich einige Tage lang eine all-
gemeine spinale Hyperästhesie, mehrmals litt die Kranke an plötzlich
kommender und schwindender nervöser Aphonie und Arthralgie, aber
bemerkenswert!! ist, dass, wenn neuralgische Beschwerden vorübergehend
da waren, sie zwar die Stimmung verschlechterten, aber nie einen Anfall
hervorzurufen im Stande waren. Leichte Gastricismen, Neigung zu Obsti-
pation waren, nebst Cessatio mensium vom Juli bis November 1805, die
einzigen Störungen vegetativer Organe, die wir beobachteten.
Die Kranke kehrte wesentlich gebessert, d. h. bereits längere Zeit
frei von Anfällen und seltener und gemässigter von ihren neuralgischen
Beschwerden heimgesucht, im Januar 1866 in ihre Heimath zurück.
Bei einem Versuch, der transitorisch neuralgischen Psychose auf epi-
leptischer oder hysterischer Grundlage an der Hand der in der Literatur
106 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
niedergelegten Beobachtungen näherzutreten, stösst man auf nicht geringe
Schwierigkeiten. Die grosse Mehrzahl der bezüglichen Fälle ist ungenau
beobachtet oder lückenhaft mitgetheilt, so z. B. der interessante Fall
von Oppenheim (Archiv f. Psychiatrie XVI, p. 744), den ich eher als
einen Fall von hysterischer als von epileptischer transitorischer Psychose
in Anspruch nehmen möchte.
Die meisten älteren Beobachtungen sind klinisch ätiologisch nicht
ganz zuverlässig.
Einen bemerkenswerthen Beitrag zu dem Gebiet der traumatischen
psychischen Epilepsie hat J. von Wagner geliefert („über Trauma, Epi-
lepsie und Geistesstörung", Jahrbücher f. Psychiatrie, VIII, 1, 2).
Unter Anführung von Casuistik und Mittheilung eigener prägnanter
Beobachtungen von nach Kopfverletzung aufgetretener psychischer (Beflex-)
Epilepsie (op. cit. p. 84, 88, 94) betont Wagner die Thatsache der
Seltenheit der traumatischen Reflexepilepsie überhaupt und schliesst
daraus, dass besondere Bedingungen zu ihrer Entwicklung vorhanden
sein müssen.
Als solche findet er: besondere hereditäre oder sonstwie entstandene
Veranlagung, die mit dem Trauma verbunden gewesene Hirnerschütterung,
das Zustandekommen des Trauma in jugendlichem Alter, Trauma am
Kopf (andere Körperstellen jedoch nicht absolut ausgeschlossen), mit
Läsion von sensiblen Trigeminusbahnen, Bildung von drückenden oder
sonstwie reizenden Narben daselbst.
Besonders interessant ist des Autors Nachweis, dass die „psychische"
Epilepsie 3 mal häufiger bei traumatischer als bei nicht traumatischer
Ursache dieser Neurose vorkommt, wie sich aus dem vom preussischen
Kriegsministerium herausgegebenen Werk über die Erkrankungen des
Nervensystems beim deutschen Heere im Krieg gegen Frankreich ergebe.
J. von Wagner knüpft daran mit Recht die Forderung, dass in jedem
Falle von recidivirender transitorischer Geistesstörung vom Gepräge der
sogenannten Epilepsie eine sorgsame Untersuchung des Körpers auf
Residuen von Trauma (Narben) stattfinden möge.
Eine solche Narbe kann freilich nur dann als Ursache des Leidens
angesehen weiden, wenn sie sich als der Ausgangspunkt einer Aura
von Anfällen beobachten lässt. Bemerkenswert!! ist, wie schon von
Wagner hervorgehoben, die grosse Seltenheit von klassischen Insulten
der Neurose bei solcher Reflexepilepsie, an deren Stelle aber nicht selten
Erscheinungen von petit mal beobachtet werden. Die psychischen Anfälle
sind hier fast ausnahmslos Dämmer- oder Traumzustände.
Werthvolle, zugleich forensische gut beobachtete Fälle von trauma-
tischer psychischer Epilepsie hat Zierl in Friedreichs Blättern für gerichtl.
Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose. 107
Medicin mitgetheilt, 1882, 5, 1883, 2 (SchussverletzuDg des Arms bei
Sedan), 1885, 1 (Verbrechen des Mordes und Raubes. Vor 4 Jahren
Stichverletzung in die linke Brustseite. Reflexpsychose von epilept.
Charakter. — Stuporöse und Dämmerzustände). Auch von mir veröffent-
lichte Fälle (Psychopathie sexualis, 9. Aufl., Beob. 148 und Jahrbücher
f. Psychiatria, XIV, 3, verdienen Beachtung.
Beobachtung 7. Psychische Reflexepilepsie.
S., 42 Jahre, Advocatenschreiber, verheirathet, stammt von einem
Vater, der sehr jähzornig war; eine Schwester starb im Kindesalter an
Convulsionen, ein Bruder ist imbecill. Patient hatte als Kind an Scarlatina,
als Schulknabe bis zur Pubertät an Anfällen von Somnambulismus, von da
ab an alle paar Wochen wiederkehrenden Anfällen heftiger, im Stirn-
theil lokalisirter Cephalaea gelitten. Diese von bis 24 stündiger Dauer
und meist so heftig, dass er ganz deprimirt und lebensüberdrüssig war.
Er litt daran nur zur Winterszeit.
Patient diente 12 Jahre beim Militär, fühlte sich bis auf seine
Kopfwehanfälle gesund.
1866 in Verona, ohne Cephalaea, transitorischer Irreseinszustand von
14 stündiger Dauer mit Amnesie.
Es wurde ihm erzählt, dass er Nachts von der Schlafstelle auf-
gesprungen und in den Hof gerannt sei, wo er den ganzen folgenden
Tag verstört beim Brunnen gestanden habe.
Patient wurde später Conducteur einer Bahn. 1870 fiel ihm beim
Abladen eines Fasses dasselbe auf den Kopf. Er stürzte bewusstlns
um, hatte eine Rissquetschwunde längs der rechten Coronarnaht bis zum
Tuber frontale. Seither fühlte sich Patient nicht mehr so gesund und
leistungsfähig. Er war empfindlich gegen Sonnenhitze und Alcohol
geworden, merkte Gedächtnissabnahme, besonders für Namen und Num-
mern, fühlte sich von relativer geistiger Anstrengung leicht verwirrt,
empfand spontan, besonders aber bei Witterungswechsel, Genuss selbst
geringer Mengen geistiger Getränke, Schmerz in der Narbe der Kopf-
wunde und hatte bei heftigeren Exacerbationen desselben öfter eigen-
tümliche, wohl als petit mal zu deutende Anfälle von momentanem
Bewusstseinsverlust, aus denen er mit Starre der Augen, Unfähigkeit
zu fixiren und leicht verwirrt sich wieder fand. Er musste dann den
Kopf tüchtig schütteln, um wieder ganz zu sich zu kommen. Patient
hatte die letzten Jahre ein dürftiges Auskommen als Schreiber bei einem
Advocaten gefunden. Da dieser fand, dass S., obwohl ein williger,
fleissiger Mensch, vergesslich war, sich im Dienst oft überhastete, ganz
sonderbar ängstlich und stier momentan dreinschaute, kündigte er ihm am
13. November 1877 den Dienst S. erschrak heftig, da er seine miss-
108 Beziehungen zwischen Neuralgie und transitorischer Psychose.
liehe finanzielle Lage und seiner Frau Kränklichkeit bedachte. Er bat
um 15 fl. Vorschuss, ging mit diesem Geld in den Telegraphenkurs,
fühlte heftigen Schmerz an der Stelle der Narbe und zunehmende
Benommenheit. Er weiss nur noch, wie im Traum, dass er dort Alles
verwundert anschaute, ohne Grund bald wieder fortging, einen Dienst-
mann mit 3 fl. zu seiner Frau schickte, auf dem Heimweg ein Glas Bier
trank. Seine Verwirrtheit nahm immer zu. Auf der Strasse sah er
Alles im Nebel, fand nicht nach Hause. Von nun an Amnesie für
Alles, was sich ereignete, bis er sich staunend am 17. früh im Spital
wiederfand.
Am 14. Nachmittags wurde er betroffen, als er dämmerhaft und
verwirrt in den Strassen von Graz herumschlich, an den Mauern horchend.
Er murmelte fortwährend „6°/0 und öVg'/o Interessen, Sparkasse, Alle
einklagen", dabei lauschend und gestikulirend. Bei der Aufnahme auf
der Klinik am 15. noch grosse Bewusstseinsstörung. Patient wiederholt
auf alle Fragen stereotyp die obigen abgerissenen Worte. Er wird nach
einigen Stunden etwas besinnlicher, giebt richtig seine Personalien an,
klagt heftigen Kopfschmerz. Er glaubt sich zu Hause, ruft nach der
Frau, dem Caffee, kommt immer wieder auf „Sparkasse, 6°/o" etc. zurück.
Patient fieberlos, verworrene Miene, Schädel normal, im Verlauf der
Coronarnaht rechts lineare, im unteren Theil aber wulstige und sehr
schmerzhafte Narbe. Pupillen mittelweit, träge reagirend. Guter Schlaf.
Am 16. Abends weitere Klärung. Patient merkt, dass er nicht zu Hause,
vermag sich aber noch nicht zu orientiren. Am 17. früh, nach gut
durchschlafener Nacht, ist Patient lucid. Er bricht in Thränen aus über
sein Unglück, dass seine Frau krank zu Hause liege. Patient bietet
keine psychischen Störungen in der Folge mehr. Die Narbe ist nicht
mehr spontan und auf Druck nur wenig mehr schmerzhaft. S. verlässt
nach wenigen Tagen die Klinik, befindet sich unter Brombehandlung in
der Folge so wohl, dass er die ihm angerathene Excision der Narbe nicht
für nöthig hält.
III.
UEBER
HEMICRANIE UND DEREN BEZIEHUNGEN
ZUR EPILEPSIE UND HYSTERIE.
Jeder erfahrene Praktiker weiss, dass die so häufige und gefürchtete
Migräne überaus verschieden klinische Bilder darbietet. Es liegt nahe,
anzunehmen, dass diese Verschiedenheit des Erscheinungsbilds in diffe-
renter Aetiologie der Fälle begründet sei.
Vielleicht wird die nichts weniger als in glänzendem Ruf stehende
Therapie dieser Krankheit erfolgreicher, wenn man ihre verschiedene
ätiologische Begründung versteht.
Lange kannte man nur die Migräne als constitutionelle, wohl fast
ausschliesslich erblich degenerative Neurose, die gleich anderweitigen,
dergestalt bedingten Nerven- und auch psychischen Krankheiten mit
Vorliebe in biologischen Lebensphasen zum Ausbruch gelangt und zuerst
in Lieveing 1873, neuerlich in Möbius ihre ausgezeichneten Mono-
graphen fand.
Die Symptome dieser Migräneform sind, nach kürzeren oder längeren
Prodomi allgemeinen Unwohlseins, halbseitiger Kopfschmerz von beson-
derer Intensität, optische und acustische Hyperästhesie, Uebelkeit bis
zu Erbrechen, Anorexie, Lösung des Anfalls meist mit Schlaf. Im Anfall
Gesichtsblässe, selten Gesichtsröthe.
Als seltenere und wohl als Complicationen zu deutende Erscheinungen
des Anfalls sind initiales flüchtiges Trübsehen und Flimmern (Ueber-
gangsfälle zur Hemicrania ophthalmica), olfactorische Hyperästhesie, Ohren-
sausen, vasospastische Erscheinungen an den Extremitäten (eiskalte Hände
und Füsse) zu erwähnen. An die Erkenntniss dieser klassischen Migräne-
form reihte sich die der Hemicrania ophthalmica (Galezowski 1878,
Fere und Andere), d. h. das integrirende Mitgehen und Dominiren von
Augensymptomen (Scotoma scintillans) im Bild des hemicranischen Anfalls.
Diese Varietät ist häufig diejenige, in welcher sich die hereditär-
constitutionelle Form abspielt. Sie kann gleich von Anfang an als solche
einsetzen oder das Migränescotom entwickelt sich erst im Verlauf
des Leidens.
Unter allen Umständen ist diese Form der Migräne die schwerere.
So begreift es sich auch, dass hier häufig complicirende Hirn-
störungen eintreten, die dem Bild der einfachen Migräne sonst fremd sind.
112 Ueber Hernicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie.
Als solche sind halbseitige Parästhesien, motorische und amnestische
Aphasie, vorübergehende Hemiparesen, Reizerscheinungen in der Gehörs-
und Geschmackssphäre, Erscheinungen von Agraphie, Alexie, Worttaub-
heit, Seelenblindheit (Berbez) zu verzeichnen.
Ein weiterer Fortschritt in der klinischen Erkenntniss war die Er-
fahrung, dass die Migräne auch eine symptomatische Bedeutung haben
könne. So lernte man sie als eine erworbene, oft erst in späterem
Lebensalter entstandene Krankheit kennen auf Grund von Dispositionen
und Veränderungen, die Lues cerebri, Tumor cerebri (Lebert, Wernicke),
der Paralyseprocess (Sander, Mendel, Parinaud, Blocq, Charcot) und
Tabes (Oppenheim, Charcot, Roullet) im Gehirn vermittelten.
Damit erscheint die tardive Migräne in verdächtigem ominösem Licht,
aber es darf nicht übersehen werden, dass, in allerdings seltenen Fällen,
die hereditär constitutionelle Migräne auch erst in späteren Lebensjahren,
eventuell im Klimacterium sich entwickeln kann.
Absolut sichere Unterscheidungsmerkmale giebt es hier vorläufig
nicht, ausser etwa hereditäre Belastung und eventuelle familiäre Er-
scheinung der Migräne.
Zugegeben muss werden, dass die symptomatische Migräne auf
organischem Boden in der übergrossen Mehrzahl der Fälle als ophthal-
mische sich klinisch darbietet und zwar als solche von vornherein, nicht
wie in manchen Fällen von gutartiger Provenienz und Bedeutung, sich
erst all mal ig mit ophthalmischen Symptomen vervollständigend. Ganz
besonders ominös scheint mir nach meiner Erfahrung das Miteintreten
von Hemiparästhesie (sensibl. Jackson) in das Symptomenbild der tar-
diven Hemicrania ophthalmica. Ich habe hier nie das baldige Auftreten
von Paralysis progressiva oder von organischer Heerderkrankung (be-
sonders Excephalomalacia) vermisst.
Aber auch simple Migräne, ohne alles derartige Beiwerk, kanu
diese ominöse Bedeutung haben, wie ich u. A. bei einem 16 Jahre
alten, mit hereditärer Lues behafteten, ohne alle migränöse Familien-
disposition dastehenden, an progressiver Paralyse erkrankten Mädchen
beobachtete. Demnach wäre in diagnostischer Hinsicht auf das Fehlen
jeglicher familiärer Disposition zur Migräne das Hauptgewicht zu legen.
Angesichts der Thatsache einer möglichen symptomatischen Bedeutung
der Hemicranie drängt sich die Frage auf, ob die Anfälle dieser Krank-
heit nicht auch in einer Beziehung zu gewissen Neurosen (Epilepsie,
Hysterie) stehen können.
Was diese Frage gegenüber der Epilepsie anbetrifft, so haben schon
Dejerine 1886 (l'heredite dans les maladies du Systeme nerveux) und
Fere 1890 (les epilepsies) auf das überaus häufige Vorkommen von Bpi-
Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie. 113
lepsie und Hemicranie in der Ascendenz und Blutsverwandtschaft hin-
gewiesen. Parry, Liveing, Gowers und Andere halten beide Neurosen
für verwandt und glauben, dass sie in einander übergehen können.
Möbius weist darauf hin, dass beide überaus oft vererbt und zwar
gleichförmig vererbt vorkommen, beide meist in der Kindheit beginnen,
in Anfällen mit Tendenz zu Periodicität sich entäussern, vielfach die-
selben Gelegenheitsursachen haben, dass beide Vorläufer, Aura, Polymor-
phismus, Un Vollständigkeit der Anfälle, sogar Status aufweisen, in ein-
ander übergehen, bezw. einander substituiren können.
Bei beiden müsse eine dauernde „Veränderung'1 im Gehirn zu
Grunde liegen.
F6re ging noch einen Schritt weiter, insofern er Epilepsie und
Migräne, speciell die ophthalmische, für einander gleichwertig hielt,
somit für Manifestationen einer gemeinsamen Gehirnveränderung.
Fere (Revue de med. 1881 und „Die Epilepsie", deutsch von Ebers 1896) erklärt
die Augenmigräne ohne Weiteres für eine „partielle sensorielle Epilepsie" Diese
könne sich aus simpler Migräne herausbilden, bestehe aber meist von Anfang an als
solche. Diese sensorielle Epilepsie könno sich jahrelang auf die Augeusymptome
(Flimmerscotom oder Hemianopsie oder beide zusammen) beschränken. Die Symp-
tome der Augenmigräne könnten auch dissncirte sein, insofern auf eine transitorische
Amblyopie oder aut Flimmerscotom erst nach einigen Tagen die ergänzende Migräne
mit Erbrechen folge. Zur vollständigen oder incoinpletpn Augenraigräne könnten auch
Aphasie, Paraesthesie einer Seite, Hemiplegie hinzutreten. Es könne aber auch
geschehen, dass diese Erscheinungen losgelöst von der Hemicranie bei demselben
Individuum anfallsweise auftreten. Ebenso häufige Begleiterinnen der Augenmigräne
seien die Epilepsie und namentlich die partielle Fem derselben.
Die von Fere u. A. beigebrachten Fälle von mit Migräne zusammen-
hängender, bezw. aus solcher hervorgegangener Epilepsie, betreffen fast
ausschliesslich Fälle von ophthalmischer Hemicranie.
Auch Gowers machte aufmerksam, dass fast in allen seinen 12 Fällen
von Umwandlung der Migräne in Epilepsie die erstere mit sensorieller
Aura verbunden gewesen war.
Auch in meiner Erfahrung kenne ich keinen einzigen Fall, wo eine
simple Migräne in klinische Beziehungen zur Epilepsie getreten wäre und
muss somit das Zusammenvorkommen einfacher Migräne und Epilepsie
bei demselben Individuum für einfache Coincidenz resp. Complication
halten, leicht erklärbar aus der grossen Häufigkeit beider Neurosen an
und für sich und namentlich auf erblich belasteter Grundlage. Die fol-
gende Beobachtung, aus zahlreichen analogen ausgewählt, ist ein Beleg
für diese Annahme.
Beobachtung 1.
K., 19 Jahre, Arbeiter, aus belasteter, aber nicht epileptischer, auch
nicht mit Migräne behafteter Familie, etwas imbecill, leidet seit dem
Kiafft-Ebing, Arbeiteu III. 8
114 Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie.
13. Jahr an häufig wiederkehrender klassischer Epilepsie, der keine Aura
vorhergeht. Er ist sehr reizbar seit seiner Krampfkrankheit, wollte sich
tödten wegen Versagung eines geringfügigen Wunsches. Deshalb Auf-
nahme auf der Klinik. Dort wurde erhoben, dass er seit dem 12. Jahr
an meist linksseitiger heftiger, in Pausen von mehreren Wochen wieder-
kehrender Hemicranie leidet. Nie bestanden bei Anfällen dieser Augen-
symptome.
Die These Feres von der epileptischen Bedeutung der (ophthal-
mischen) Migräne bedarf nach meiner Erfahrung einer Einschränkung
und zugleich einer Erweiterung. In fast allen Fällen, wo in meinem
Beobachtungskreise klinische Beziehungen zwischen Migräne und Epi-
lepsie nicht abzuweisen waren, handelte es sich zwar um Augenmigräne,
aber ich habe andererseits eine grössere Zahl von Fällen verzeichnet
und durch eine Beihe von Jahren hindurch verfolgt, in welchen aus-
schliesslich Migräne ophthalmique bestand, gleichwohl aber keine epi-
leptische Grundlage oder auch nur epileptoide Symptome zu consta-
tiren waren.
Fere's Ansicht könnte nur zu Recht bestehen, wenn die Augen-
symptome innerhalb des Bildes der Migräne als etwas dieser an und für
sich nicht zukommendes, wohl aber der Epilepsie zuzuschreibendes, also
als ein Stück Epilepsie innerhalb der Migräne, die dadurch zu einer
epileptischen Migräne würde, nachgewiesen werden könnten. Dazu reichen
aber die bisherigen Erfahrungen nicht aus, und muss es offene Frage
bleiben, ob die Augenmigräne in allen Fällen klinische Beziehungen zur
Epilepsie hat. Die klinisch prognostische Wichtigkeit der Lösung dieser
Frage liegt auf der Hand.
Dass die Augenniigräne aber jene klinischen Beziehungen haben
kann, dürfte aus den folgenden Beobachtungen klar hervorgehen. Die
Fere'sche These bedarf andererseits einer Erweiterung, insofern die
gleiche Bedeutung, wie die Augensymptome innerhalb der Migräne, solche
von sensiblem Jacksonanfall haben mögen.
Bei dieser seltenen Combination der Migräne erscheint die Berech-
tigung der Zuweisung der sensiblen Jacksonerscheinungen zur Epilepsie
noch grösser, als bei den Augensymptomen.
Eiue Vorfrage entsteht freilich hier, nämlich die, ob man die Erschei-
nungen eines sensiblen Jacksonanfalls denen eines motorischen gleich-
wertig auffassen darf.
Erfahrungen, die ich an durch organische Erkrankung bedingtem moto-
rischem Jackson , an solchen durch Hysterie vermittelten Anfällen, sowie
bei Paralytikern machen konnte, wo sensible Anfälle den motorischen als
äquivalente sich beobachten Hessen, berechtigen mich zu dieser Annahme.
Ueber Hemirranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie. 115
Pitres (Revue de med. 1888, VIII) brachte den Erweis, dass nicht
blos sensible, sondern sogar psychische Insulte den motorischen Jackson-
anfall substituiren können.
Oppenheim (Handb. d. N.- Krankheiten, p. 437), erklärt, dass die
partielle (Jackson 'sehe) Epilepsie sich auch auf sensorischem Gebiet
abspielen könne, indem Paraesthesien den Krampfanfall einleiten, die
Zuckungen begleiten oder, „indem die Paraesthesien das einzige Symptom
des Reizzustands sind, also gewissermaassen ein Aequivalent des An-
falls bilden".
Von nicht geringem Interesse ist es auch, dass in der ungeheueren
Mehrzahl der Fälle von symptomatischer Migräne (Tabes, progressive
Paralyse u. s. w.), die Migräneform die ophthalmische oder die mit sen-
siblem Jackson einhergehende ist, sodass man versucht wäre, die sympto-
matische Migräne ausschliesslich in diesen beiden Formen anzuerkennen.
Dieser Standpunkt verdient jedenfalls vorläufig in der Untersuchung der
klinischen Beziehungen der Migräne zur Epilepsie festgehalten zu werden.
Versucht man auf solcher Grundlage der Frage näher zu treten, so
bieten sich zunächst Fälle dar, in welchen ein und dasselbe Individuum
innerhalb desselben Anfallsganzen einen epileptischen und einen hemi-
cranischen Insult erfährt, als deren gemeinsame Aura Flimmerscotom
erscheint. Dieses kann überdies, insofern es in rother Farbe sich dar-
stellt, eine direkt auf Epilepsie hinweisende Bedeutung gewinnen. Wäh-
rend die Migräne immer dieselbe bleibt, kann die epileptische comple-
mentäre Seite des Gesammtan falls verschieden sein.
In den folgenden 9 Fällen handelt es sich 3 mal um klassische epi-
leptische Anfälle (Beobachtung 2, 3, 4) 6 mal um sensiblen Jackson
(Beobachtungen 5 — 10). Einmal leitet dieser den Gesammtanfall ein (10),
so dass es in diesem einzigen Fall, wo keine visuelle Aura bezw. Flimmer-
scotom besteht, den Anschein hat, als könne die Paraesthesie (sensible
Aura) die Stellvertreterin des Flimmerscotoms einer Migräne darstellen.
In einem dieser Fälle (7) reiht sich an den sensiblen Jacksonanfall
jeweils ein Zustand von (postepileptischer) Verwirrtheit, jedenfalls eine
bemerkenswerthe Thatsache zur Stütze der oben verfochtenen These von
der Bedeutung sensibler Jacksonanfälle, als möglicher Aequivalente moto-
rischer, überhaupt epileptischer Anfälle.
Von nicht geringer Bedeutung ist die Thatsache, dass die irgendwie
gearteten epileptischen Anfälle nur in der Zeit und im Rahmen von
hemicranischen Insulten in der folgenden Casuistik sich vorfinden, nie
als freistehende und von der hemicranischen Neurose losgelöste.
Hier wird der klinische Zusammenhang unabweisbar und die obige
Vermuthung, dass epileptische und hemicranische Veränderung oder
8
116 Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie.
Disposition im Gehirn in sehr nahen Beziehungen zu einander stehen,
fast zur Gewissheit.
Die Beobachtungen, welche zu vorstehenden Schlüssen berechtigen,
sind die folgenden.
Es ist selbstverständlich, dass in allen die genaueste Beobachtung
und Untersuchung, auch mittelst Augenspiegels, keine Heerdsymptome
überhaupt keine Zeichen irgend eines organischen Hirnleidens aufwies,
sodass der Einwand eines organischen symptomatischen Bedingtseins
epileptischer und hemicranischer Symptome hinfällig würde.
Beobachtung 2.
Frau W., 43 Jahre, von sehr nervöser Mutter, selbst neuropathisch,
hat seit der Pubertät an gewöhnlicher Hemicranie gelitten. Seit etwa
einem Jahre Klimacterium. Seit 4 Monaten ist die Migräne sehr heftig
geworden und hat sich mit Flimmerscotom vergesellschaftet. Seither
auf der Höhe des Anfalls klassische epileptische Insulte.
Beobachtung 3.
Herr R., 34 Jahre, aus angeblich ganz gesunder Familie, frei von
Lues, potus nimius, Trauma capitis, leidet seit seinem 20. Jahre an Migraine
ophthalmique. Wenn der Anfall besonders heftig ist, bekommt er auf
der Höhe desselben einen epileptischen Insult (Bewusstlosigkeit, allge-
meiner tonisch -clonischer Krampf, Zungenbiss). Solche Anfälle treten
etwa 4 mal jährlich auf und hinterlassen jeweils bis zu 24 Stunden
anhaltende Mattigkeit und geistige Unfähigkeit.
Beobachtung 4.
Fräulein E., 18 Jahre, hat eine Mutter und Schwester, die an
Hemicrania simplex leiden.
Patientin hatte mit 5 Jahren Convulsionen, seit der Kindheit fast con-
tinuirliche Cephalaea, war eine unbegabte, geistig beschränkte Schülerin
und bekam mit 13 Jahren Anfälle von jeweils r. Hemicranie (Kopfweh,
Erbrechen), die mit schwarzem, den grössten Theil des ganzen Gesichts-
felds ausfüllendem Scotom sich einleitete. Nach wenigen Monaten stellten
sich auf der Höhe solcher Hemicraniezustände genuine epileptische Anfälle
ein (Bewusstlosigkeit, Suggilationen, Zungenbisse u. s. w.), die minde-
stens alle paar Wochen wiederkehrten, nie aber als freistehende, d. h.
von der Migräne losgelöste Paroxysmen erschienen.
Dazwischen, und ziemlich häufig lief der Complex ophthalmischer Mi-
gränesymptome ab, ohne sich mit epileptischen Erscheinungen zu combiniren.
Mit 15 Jahren wurde Patientin menstruirt. Die Pubertät hatte keinen
Einfluss auf die beiden Neurosen. Dagegen zeigten sich von nun an
hysterische Phänomene (globus, concentr. Einengung des Gesichtsfelds,
beiderseitige Ovarie u. s. w.).
Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie. 117
Mit 17 Jahren war Patientin oft Zeugin epileptischer Insulte eines
Knaben. Sie wurde davon sehr emotionirt und begann mit 173/4 Jahren
.Tacksonepilepsie in der rechten Oberextremität zu bieten, die ohne alle
Beziehungen zu Hemicranie, ohne Trübung des Bewusstseins, bei nicht
starren Pupillen, 1 — 5 mal täglich in Anfällen bis zu mehreren Minuten
sich zeigte und sich als eine schlechte hysterische Imitation von wirk-
lichen Jacksonanfällen, die Patientin bei jenem Knaben gesehen hatte,
auswies. Unter Brombehandlung schwanden die Anfälle von Epilepsie
und ophthalmischer Migräne, während die hysterische Imitation davon
unbeeinflusst blieb.
Beobachtung 5.
Fräulein S., 17 Jahre, stammt von sehr nervöser, mit Hemicranie
behafteter Mutter. Sie wurde mit 12 Jahren menstruirt, ist seither Consti-
tutionen neurasthenisch und von fast permanentem Kopfdruck geplagt.
Mit 15 Jahren entwickelte sich gewöhnliche Migräne. Viermal in
den letzten 2 Jahren wurde diese von Hemianopsie und Flimmerscotom
eingeleitet. Jeweils in diesen Anfällen, die von den gewöhnlichen men-
strualen auch dadurch sich unterschieden, dass sie nicht menstrual auf-
traten, kam es zu mindestens eine Stunde dauerndem sensiblem Jackson-
anfall in rechter Gesichtshälfte, Zunge und Hand.
Beobachtung 6.
S., Techniker, 58 Jahre, angeblich unbelastet, hat seit der Kindheit
ophthalmische Migräne. Die Anfälle kommen etwa 16 — 30 mal im Jahr,
in den letzten Jahren gehäuft. Der Anfall beginnt mit einem dunklen
Fleck im Sehfeld des Auges, auf dessen Seite der Kopfschmerz sich später
einstellt. An der Peripherie dieses Scotoms finden sich Lichtbüschel.
Das Migränescotom dauert etwa eine halbe Stunde bis zum Eintritt
des Schmerzes. Zuweilen besteht das ophthalmische Symptom auch in
einem weissen flimmernden C oder Z, das bald auf dem einen, bald
dem anderen Auge erscheint, ,,als gewellter, licht flimmernder Buch-
stabe, der schräg durch das Sehfeld zieht.-' Dieser Buchstabe entwickelt
sich aus einem weissen Fleck.
Auf der Höhe des dann folgenden Schmerzzustandes hat Patient
eingenommenen Kopf, erschwertes Denken, Gefühl peinlicher Verwirrung
und eine „grauenvolle" Empfindung, d. h. er fühlt auf der dem Kopf-
schmerz gleichnamigen Seite Vertaubung in Gesicht, Zunge, Oberextremität,
vermag nicht zu sprechen und hat das Bewusstsein, gelähmt zu sein
(sensibler Jackson).
Beobachtung 7.
Fräulein V., 18 Jahre, mit 15 Jahren menstruirt, angeblich unbe-
lastet, leidet seit der Pubertät an ophthalmischer Migräne, die Anfangs
118 Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie.
nur l1/^, neuerlich bis zu 4 Stunden dauerte. Auf der Höhe des Migräne-
anfalls, etwa 1/a Stunde nach Auftreten des Flimmerscotoms, setzt sensibler
Jackson ein (Gesicht, Zunge, Oberextremität), und zwar auf der dem
Schmerz gleichnamigen Seite. Einen Tag lang nach dem Anfall klagt
Patientin Schwindel, ist vergesslich, zerstreut, verwirrt, verloren, lässt
mit der betreffenden parästbetisch gewesenen Extremität Alles fallen,
hantirt damit ganz ungeschickt. Patientin hat nur summarische Erinne-
rung für dieses postmigränöse (postepileptische?) Stadium.
Intervallär ist sie ganz wohl. Epileptische Antecedentien fehlen.
Beobachtung 8.
Fräulein Z., 19 Jahre, von migränöser Mutter, Vater jähzornig,
mehrere Geschwister an Convulsionen gestorben.
Menses mit 14 Jahren Mit 18 Jahren Commotio cerebri. 3 Monate
später beginnt Hemicranie. Anfälle etwa alle 8 Tage.
Beginn mit Flimnierscotom vor beiden Augen. Dasselbe schwindet
nach etwa 20 Minuten. Nun Gefühl von Todtsein in der rechten OE.,
von den Fingern nach aufwärts sich erstreckend. Nach etwa 10 Minuten
vermindert sich die Paraesthesie der rechten OE., schreitet aber nun auf
Unterlippe, Zunge fort, sodass Patientin am Sprechen gehindert ist. Nun
erst Kopfschmerzen, die auf der ganzen linken Kopfhälfte lokalisirt werden.
Uebelkeit begleitet den ganzen Anfall. Selten Erbrechen.
Beobachtung 9.
H. M., Kleidermacherin , stammt von nervösem, jähzornigem Vater,
der viel an „Kopfschmerzen" leidet. Ihre Schwester bietet die gleichen
Anomalien.
Patientin ist nervös, aufgeregten Temperaments von Kindesbeinen
auf, wurde ohne besondere Beschwerden mit 15 Jahren menstruirt.
Seit dem 9. Jahr leidet Patientin an Kopfschmerzen, die bis 2 mal
wöchentlich auftreten , aus dem Schlaf heraus entstehen, den Tag über an-
dauern, auf der linken Schläfe beginnen, sich bei besonders schwerem Anfall
über die Stirn nach rechts verbreiten, mit Gähnen und Anorexie einhergehen.
In den ersten Jahren waren sie mit Brechreiz und Erbrechen verbunden.
Um die gleiche Lebenszeit traten Anfälle von sensiblem Jackson
mit Flimmerscotom, Acusmen und aphasischen Erscheinungen auf, die
regelmässig in einen Anfall gewöhnlicher Migräne übergehen.
Diese zweite Categorie von Anfällen stellt sich in Intervallen von
3 Wochen bis zu Monaten ein, ohne Anlass, plötzlich, jeweils in den
Morgenstunden. Der Anfall spielt sich auf der rechten Körperhälfte ab
und dauert bis zum üebergaug in den gewöhnlichen linksseitigen Migräne-
anfall V*— Vi Stunde. Ohne alle Vorboten fühlt Patientin ein „Stechen
wie mit Nadeln" auf der rechten Zungenhälfte; nach 1 — 2 Minuten
Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hyslerie. 119
erstreckt sich dieses „Stechen" auch auf das Zahnfleisch und die Wangen-
schleimhaut der rechten Mundhälfte. Dann kommt ein Gefühl vonYertaubung
und Schwellung auf der rechten Hälfte beider Lippen. Nach einigen
Minuten werden gleichzeitig ergriffen Auge, Ohr und Hand der rechten
Seite. Die rechte Gesichtshälfte erscheint von schimmernden Streifen
durchzogen auf dunklem Grund. Patientin sieht dabei nicht auf der rechten
Gesichtshälfte, ausser sie dreht den Kopf nach dieser Seite. Während
das Flimmerscotom schwindet, entsteht Sausen im Kopf, Klingen im
rechten Ohr. Patientin hört ihre eigene Stimme nicht; die der anderen
Leute kommt ihr ganz entfernt vor, das Ohr ist ihr wie verlegt. Nun
kommt ein Gefühl von Steifigkeit und Ameisenlaufen in der rechten OE.
das im Daumen beginnt, nach der Reihe die übrigen Finger ergreift
und von den Fingerspitzen bis zum Ellbogen- eventuell bis zum Schulter-
gelenk aufsteigt.
Während dieser Zeit muss Patientin langsam sprechen und sich
dabei sehr zusammennehmen, weil sie sonst Worte oder wenigstens
Anfangsbuchstaben verwechselt, z. B. statt „nützt" ,.rützt" sagt. Wieder-
holt geschah es ihr, dass sie den Namen für ganz gewöhnliche Gebrauchs-
gegenstände Anfangs gar nicht aussprechen konnte und endlich in falscher
Wortstellung, z. B. „Messerfeder" statt „Federmesser" herausbrachte, was
ihr ausserhalb des Anfalls nie passirte. Sie war sich dabei ihrer Aphasie
und der Unrichtigkeit ihres Sprechens in peinlicher Weise bewusst.
Das Bewusstsein in solchem Anfall ist ein ganz ungetrübtes, die
Stimmung eine traurige, weinerliche. Die Gesichtsfarbe zeigt keine
Veränderung.
Patientin von guter Intelligenz, etwas anämisch, bietet keine Zeichen
einer Störung im Nervensystem, ausser sehr lebhaften tiefen Reflexen
und starker Druckempfindlichkeit in der Gegend des linken Ovariums.
Augenhintergrund normal. An beiden Trommelfellen Residuen wieder-
holter Mittelohrerkrankung.
Beobachtung 10.
Am 29. September 1896 bat der 23 Jahre alte L. , verheirathet,
Buchhalter, auf der Strasse einen Sicherheitswachmann um Schutz vor
2 vermeintlich ihn verfolgenden Männern, erschien geistig gestört und
wurde auf die psychiatrische Klinik (Wien) überstellt.
Patient kommt verstört, weinerlich, verwirrt, schreckhaft dieUmgebung
appercipirend zur Aufnahme, wird bald ruhig, schläft ein und erwacht
nach einigen Stunden lucid. Er erinnert sich nur daran, dass er um
7 Uhr früh von Hause fort ins Bureau gegangen sei, wo er aber nicht
erschienen ist; für alles Folgende bis zum Zusichkommen auf der Klinik
bietet Patient absolute und dauernde Amnesie. Er stammt von einem
120 Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie.
sehr nervösen erregbaren Vater, dessen Schwester an Epilepsie gelitten
haben soll. PatieDt hat während der 1. Dentitionsperiode an Convulsionen
gelitten, desgleichen während eines Typhus als Knabe. Er war von
Kindheit auf nervös, sehr reizbar.
Vor 5 Jahren, im Theater, wahrscheinlich nach Alcoholexcess 1. epi-
leptischer Insult, dem eine ganze Serie durch 3 Tage gefolgt sein soll.
Im Juni 1896, neuerliche Serie nach Uebergenuss von Alcohol. Seither
öftere vereinzelte Anfälle Abends.
Seit 5 Jahren hat Patient überdies etwa 2 — 3 Wochen einen Anfall
von petit mal.
Seit einigen Jahren leidet Patient auch an hemicranischen Insulten,
die besonders leicht durch Emotion hervorgerufen werden, auf Einnehmen
von Antipyrin rasch und mit Schlaf schwinden. Der Anfall beginnt mit
Blasswerden im Gesicht, Paraesthesie (Gefühl von Eingeschlafensein) in
linker Hand, die einige Minuten dauert.
Dann kommt Schmerz in der rechten Schläfe, der sich nach der
linken Schläfe und linken Orbita zieht und dort fixirt bleibt. Dabei
wird die linke Lidspalte enger, Patient optisch und acustisch hyper-
ästhetisch. Zu Flirnmerscotom und Erbrechen kommt es nicht. Unter
fortdauernder Parästhesie in der linken Hand tritt lallende Sprache ein.
Das Bewusstsein ist nicht getrübt.
Intervallär fühlt sich Patient ganz wohl und berufsfähig. Hirn-
und Gesichtsschädel leicht assymetrisch. Keine Zeichen einer Heerd-
erkrankung. Bei Augenspiegelung negativer Befund.
In einer folgenden Serie von Fällen sind hemicranische und epilep-
tische Erscheinungen dissociirt, zeitlich von einander getrennt, aber klinisch
verbunden durch gemeinsame Augensymptome, die, je nachdem, sich
als die visuelle Aura eines epileptischen Insults oder als Migränescotom
ansprechen lassen.
Es kann hier bei der Aura bleiben (abortiver Anfall) oder die „Aura"
führt zum epileptischen oder zum Migräneanfall über. Die isolirte Migräne
mit Scotom (visuelle Aura) erscheint dann deutbar als Aequivaient eines
epileptischen Anfalles. Andererseits kann Epilepsie, die mit visueller
Aura einhergeht (11) und postepileptisch Erbrechen und halbseitiges
Kopfweh aufweist (15), als Aequivaient einer Migräne angesehen werden.
Auch die folgenden 6 Beobachtungen bieten bei invariablen Migräne-
erscheinungen Polymorphismus der epileptischen Phänomene. So erscheint
im Fall 15 statt motorischer Symptome jeweils Verwirrtheit.
Besonders interessant ist in dieser Hinsicht Fall 16, in welchem
ursprünglich nur Flimmerscotom erscheint, dann epileptische Insulte,
von solchem eingeleitet. Nach temporärer Verdrängung der Epilepsie
Ueber Hemicranie nnd deren Beziehungen zur Epilepsie und Hvsterie. 121
durch Anfälle von Flimmerscotom mit Migräne, erscheint neuerlich wieder
Epilepsie, aber in Gestalt von durch Flimmerscotom eingeleitetem psy-
chischen Aequivalent.
Auch diese zeitweise Verdrängung von Symptomencomplexen durch
andere ist ein häufiges Vorkommen bei Epilepsie.
In interessanter Weise zeigt sich dies in Beobachtung 11, 12 gegen-
über der Hemicranie.
Beobachtung 1 1.
G., 17 Jahre, Lehrling, aus erblich angeblich unbelasteter aber tuber-
culöser Familie, leidet seit dem 10. Jahr an meist linksseitiger Hemi-
cranie mit röthlichem initialem, ganz kurz dauerndem Scotom.
Mit 16 Jahren, ohne allen Anlass, setzte klassische Epilepsie ein.
Es wird ihm jeweils heiss im Kopf, er sieht einen Moment das ganze
Gesichtsfeld in dunkelrothem Schein und wird nun bewusstlos. Zuweilen
reiht sich an das convulsive Stadium ein postepileptischer hallucina-
torischer Zustand, in welchem er dann jeweils eine Markthalle in Wien
sieht, dio ganz gross ist, dann immer kleiner wird, bis sie nur noch
wie ein Punkt erscheint. Dann sieht er 20 und mehr solcher Gebäude
hintereinander, die in bedrohlicher Weise auf ihn eindringen, worüber
er heftig erschrickt und sich unter dem Bett verkriecht. Das Ganze
kommt ihm hinterher wie ein Traum vor. Seit dem Auftreten der Epi-
lepsie sind die hemicranischen Anfälle viel milder und seltener geworden.
Beobachtung 12.
Frau G., 40 Jahre, hat leicht rachitisches Cranium. Die Mutter litt
an Hemicrania ophthalmica. Patientin hat seit der Kindheit das gleiche
Leiden. Die Migräne leitet sich mit Flimmerscotom von kurzer Dauer
ein. Zuweilen bleibt es bei diesem ohne folgendes Kopfweh.
Mit 38 Jahren, nach heftigen Gemüthsbewegungen und Influenza,
setzte klassische Epilepsie ein, jeweils mit visueller Aura (Sterne, Funken,
Flimmern) beginnend. Seit dem Auftreten der Epilepsie sind die Migräne-
anfälle seltener geworden.
Beobachtung 13.
Fräulein L, 19 Jahre, trat im September 1889 in meine Behandlung.
Sie entstammt einer nervösen Familie, bot früher aber nie nervöse
Symptome, hatte keine schweren Krankheiten zu bestehen, menstruirte
ohne Beschwerde vom 15. Jahr ab, hatte bisher nie hysterische oder
irgendwelche epileptische Symptome geboten, war bis zum 18. Jahr heiter,
lebenslustig gewesen, hatte dann schwere Gemüthsbewegungen wegen
Heirathsangelegenbeiten gehabt, die aber ihre befriedigende Lösung fanden.
Nach heftigem Affect und Erkältung durch ein Seebad während der
Menses, eines Nachts im August 1888, Serie von 6 epileptischen Insulten
122 Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie.
mit Zungenbiss. Seither nervös, reizbar, emotiv. Neue, meist gehäufte
Anfälle November 1888, Januar, Mai, Juni, Juli, September 1889, jeweils
mit Erbrechen endigend und meist praemenstrual. Die bisher als simple
Epilepsie imponirenden Anfälle gewannen ein eigenes klinisches Relief
durch folgende Angaben der Patientin. Der Beginn jener Anfälle sei
die Vision einer drehenden glänzenden Scheibe von den verschiedensten
Farben, ausschliesslich im Sehfeld des linken Auges. Oft geschehe es,
dass die Scheibe immer kleiner werde und dann verschwinde. Dann
bleibe der Anfall aus. Wenn die Scheibe aber statt kleiner immer
grösser werde, so komme es, sobald sie das ganze Sehfeld erfülle,
zum Anfall.
Für dessen Vorkommnisse Mangel jeglicher Erinnerung.
Der Befund eines hervorragenden Gynäkologen war ein ganz nega-
tiver. Blühendes Madchen, keine Anämie, keine Erkrankung vegetativer
Organe, absolut keine Stigmata hysteriae. Bei Druck auf das linke Foramen
supraorbitale kein Schmerz, aber sofort Sehen eines goldenen Reifs, der
schwindet, sobald der Druck aufhört. Patientin wird dabei ganz ängst-
lich, offenbar in der Befürchtung eines neuen Anfalls. Sie theilt mit,
dass ähnlich die „Scheibe" sei, wenn der Anfall drohe. Sie bezeichnet
den Reif als äusserlich goldig, innerlich dunkelblau.
Druck auf andere Stellen des Trigeminus, auf die Bulbi u. s. w.
bringt diese Lichterscheinuug nicht hervor.
Die Verordnung bestand in Natr. bromat. 3.0 — 4.0 pro die.
Am 18. Mai 1890 meldete Patientin dankerfüllt, dass sie seit
8 Monaten unter dieser Behandlung von allen Krankheitserscheinungen
frei geblieben sei. Am 17. Mai habe sich zum ersten Mal wieder eine
„Vision" eingestellt. Sie sah 3 mal hinter einander vor dem linken Auge
eine rothglühende Kugel, die einen Moment sich drehen wollte, dann
eine schwarze Kugel, dann die gewöhnliche glänzende Scheibe. Unter
Ruhe und kalten Umschlägen schwand Alles rasch, aber am 18. hatte
Patientin das' Gefühl grosser Schwäche, wie nach einem (epileptischen)
Anfall . obwohl doch keiner aufgetreten war.
Am 19. Juni 1893 schrieb Patientin, dass sie unter Fortsetzung der
Brombehandlung von Krampfanfällen frei geblieben sei, dagegen leide
sie, namentlich nach angestrengter Goldstickerei (seit Winter 1890/91)
noch oft an „Visionen".
Sie unterscheidet 2 Arten:
1. Funken, wie von einer Elektrisirmaschine, die sich vor dem
linken Auge wie an einem Spinnwebfaden entlang spinnen und plötz-
lich einem Funkenregen weichen. Dann erscheint ein wolkenartiger
dunkler Fleck vor beiden Augen, der allinälig violettblau wird, um-
Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie. 123
geben von hellen glitzernden Sternen und nach etwa 3 Minuten ver-
schwindet.
2. Die Erscheinung der glänzenden Scheibe. Ihr geht fast regel-
mässig bis zu 10 Minuten dauernde Hemianopsie voraus. Dann kommen
2 glitzernde Punkte, aus denen sich ein über das ganze Sehfeld reichendes,
in Gold und allen Farben spielendes Flimmerscotom „wie ein Kalei-
doscop" entwickelt. Nun entstehen, während die glänzende Scheibe das
ganze Gesichtsfeld einnimmt, Schwindel und heftige Kopf- und Augen-
schmerzen, diese regelmässig auf der dem Migränescotom entgegen-
gesetzten Seite. Diese Anfälle dauern 25 Minuten. Sie lassen sich durch
Phcnacetin 0.5 abkürzen, während Antipyrin gegen sie wirkungslos ist.
Im December 1893 hatte ich Gelegenheit, Patientin wieder zu unter-
suchen. Sie war seit 4 Monaten glücklich verheirathet, frei von epi-
leptischen Insulten unter Brom 3.0 täglich, hatte seltene und meist nur
zur menstrualen Zeit einsetzende Anfälle von Hemicrania ophthalmica,
bald rechts, bald links, vorwiegend aber links. Die Hemianopsie war
aber jeweils bilateral. Druck auf den 1. n. supraorbitalis genügte auch
jetzt noch, um Liehterscheinungen zu provociren.
Beobachtung 14.
W., 14 Jahre, Schüler, stammt angeblich von ganz gesundem Vater.
Die Mutter ist. eine höchst nervöse Dame. Sein Bruder bekam in der
Pubertät Augeumigräne. An solcher leidet auch ein Bruder des Vaters.
Patient ist ein intelligenter Junge ohne Degenerationszeichen. Er
hat nie an Convulsionen gelitten. Seit dem 9. Jahr klagte Patient über
ein zeitweise vor dem rechten Auge auftauchendes Flimmerscotom, das
er seine „Sonne" nannte. Dasselbe entstand nach geringer körperlicher
oder geistiger Anstrengung, dauerte nie länger als 6 Minuten und war
gewöhnlich von rechtsseitigem intensivem Kopfschmerz gefolgt.
Patient, der eine Zeichnung seines Flimmerscotoms vorlegt, beschreibt
dasselbe folgendermaassen :
Es entwickelt sich, ausschliesslich vor dem rechten Auge, eine kreis-
runde Scheibe, allseitig von Zacken umgeben. Diese Scheibe zeigt ein
unregelmässiges oberes Feld in blauer, ein ebensolches mittleres in grüner
und ein unteres grösseres in gelber Farbe. Die Zacken sind silberweiss
und intensiv glänzend, gleich den Farbenfeldern der Scheibe. Die Scheibe
vergrössert sich und nimmt schliesslich das ganze Sehfeld des rechten
Auges ein. Episodisch kommen Momente, wo Alles verschwunden ist und
er schwarz auf dem rechten Auge sieht. Das linke Auge ist unbetheiligt.
Vom 10. Jahr ab schlössen sich an besonders intensive Anfälle von
Flimmerscotom genuine epileptische Anfälle. Er hat deren bis zum
Tag der Consultation (19. October 1895) 0 gehabt. Seither fürchtet er
124 lieber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie.
sich vor der Wiederkehr der „Sonne". Er wird dann ängstlich, auf-
geregt, verstört. Wenn die „Sonne" sich immer mehr vergrössert, weiss
er bestimmt, dass ein Krampfanfall eintritt. Er klagt dann, die Sonne
klopfe in sein Hirn hinein und verliert rasch das Bewusstsein. Solange
Patient Brom nahm (bis zu 4.2 täglich) blieben die epileptischen Insulte
aus, auch die Migräneanfälle wurden seltener und beschränkten sich
meist auf blosses Flimmerscotom ohne Kopfschmerz.
Patient intervallär ganz wohl. Augenspiegel ohne Befund. Ord.
Natr. bromat. 3.5 mit Antipyrin 0.8 pro die.
Unter dieser Behandlung frei von epileptischen Anfällen und nur
selten Migränescotom.
Beobachtung 15.
D., 26 Jahre, Arbeiterin, hat eine Mutter und Schwester, die an
simpler Migräne leiden. Patientin hat seit der Pubertät, jeweils prä-
menstrual Hemicranieanfall. Im Beginn hat sie Plimmern, das mit dem
Tanzen von Stäubchen in einem Sonnenstrahl verglichen wird. Zugleich
sieht Patientin auf dem linken Auge nichts. Dieses Flimmerscotom dauert
10 Minuten. Daran reiht sich der Kopfschmerz. Seit 2 Jahren wird
Patientin etwa bei jedem 2. Anfall, der dann besonders intensives Migräne-
scotom entwickelt, gleich beim Beginn desselben verwirrt, macht ganz
unarticulirte Lautbewegungen, reagirt nicht auf Anreden und Berühren,
lässt fallen, was sie gerade in der Hand hat, geht bewusstlos mit offenen
Augen und weiten Pupillen, herumdämmernd umher. Dieser Zustand
dauert solange als das Flimmern, d. h. 10 Minuten. Sie kommt dann
mit Kopfschmerz zu sich und weiss von allem während dieser Zeit mit
ihr Vorgegangenen nicht das Mindeste (psych. Aequivalent eines epilep-
tischen Anfalls). Sie ist in dieser Periode des Anfalls blass, während
sie in der Zeit des Kopfschmerzes roth und heiss im Gesicht ist. Vor
5 Monaten hatte Patientin zum ersten Mal einen genuinen epileptischen
Aufall aus dem Schlaf heraus. Als die Krämpfe vorüber waren, hatte
sie ihren gewöhnlichen Migräneschmerz. Seither häufige Wiederholung
der epileptischen Anfälle, meist Nachts aus dem Schlaf, sodass über
etwaiges Migränescotom nichts zu berichten ist, jedoch jedesmal mit
halbseitigem Kopfschmerz beim Zusichkommen aus dem Insult.
Intervallär ohne Krankheitszeichen. Unter Brombehandlung (5.0)
schweigen die Anfälle.
Beobachtung 16.
P., 29 Jahre, Techniker, von neuropathischer Constitution, unbe-
kanntem Vater, nervenkranker, durch Suicidium gestorbener Mutter, hatte
als Kind Convulsionen.
Vom 19. Jahre ab heftige Anfälle von Flimmerscotom, meist nach
Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie. 125
dem Erwachen, von 1 Minute Dauer, ohne sonstige hemicranische Begleit-
erscheinungen.
Schwinden dieser Anfälle auf Brombehandlung. Wiederkehr der-
selben mit 18 Jahren. Neuerliches Schwinden auf Brom.
Nach Aussetzen des Brom wieder obige Anfälle. 1890 im Anschluss
an einen Anfall von Flimmerscotom 1. epileptischer Insult. Nun trotz
Brombehandlung (bis 10.0 pro die) Fortdauer der epileptischen Anfallet
jeweils eingeleitet durch Flimmerscotom. Gelegentlich auch statt jener
blosse Absencen.
1891 postepileptischer Aufregungszustand mit Würgen der Mutter-
Amnesie. Seit dem 7. April 1895 keine epileptischen Insulte mehr, dafür
aber häufig Flimmerscotom als Aura genuiner Hemicranieanfälle, ohne
alle Bewusstseinsstörung, von 3 Stunden Dauer.
Am 25. December 1895 nach Genuss von 0.5 Liter Wein gut geschlafen
Am 29. Morgens Flimmerscotom, an das sich, ohne Convulsionen, ein
psych, epileptischer Aufregungszustand von mehrstündiger Dauer an-
schliesst. Amnesie.
Oranium rachiticum. Keine Narben am Kopf. Im Februar 1896
noch 2 solcho Anfälle. Unter Brom 1.0.0 Ausbleiben solcher, wie auch
der Anfälle von Augenmigräne.
Als Corrolarien aus der vorausgehenden Beobachtungsreihe und als
Gesichtspunkte für weitere Forschung lassen sich folgende Sätze formuliren :
1. Es giebt diagnostisch und prognostisch verschieden qualificirte
Hemicranien. Es können zweierlei Arten von Migräne bei demselben
Individuum sich vorfinden (Beob. 5, 9).
2. Die Hemicranie kann symptomatische Bedeutung haben, so bei
organischen Hirnerkrankungen, aber auch bei Neurosen (Epilepsie).
3. Die ophthalmische und die mit sensiblem Jackson verbundene
Migräne haben sehr häufig symptomatische Bedeutung, fast sicher dann,
wenn die Hemicranie eine erworbene (nicht veranlagte) und tardive ist.
4. Die in klinische Beziehung zur Epilepsie tretende Migräne scheint
ausschliesslich den sub 3 angeführten Categorien angehörig, jedenfalls
existiren keine Beweise dafür, dass eine einfache Migräne eine solche
Rolle spielen könnte.
5. Das äussere Merkmal klinischer Zusammengehörigkeit von Hemi-
cranie und Epilepsie ist zunächst eine gemeinsame visuelle Aura, die
überdies in rother Farbe auftreten kann (Beob. 11). Diese gemeinsame
visuelle Aura ist um so bemerkenswerther, als sie qua Migränescotom
weder der gewöhnlichen Hemicranie, noch qua optische Aura der vul-
gären Epilepsie zukommt, vielmehr besondere klinische Typen beider
Keurosen dadurch schafft.
126 Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur ETjilepsie und Hysterie.
Wüsste man Genaueres über die Bedingungen des Zustandekommens
dieses gemeinsamen Symptoms, so wäre der Einblick in die klinische
Zusammengehörigkeit beider neurotischer Bilder sehr erleichtert.
Dass diese visuelle Aura schon Symptom eines klinischen .Ganzen
ist, dürfte nicht zu bezweifeln sein.
Es ist möglich (Beob. 10), dass sensibler Jackson , quasi als sensible
Aura, jene optische substituiren kann. "Wie diese Aura (optische, even-
tuell sensible) als gemeinsames Symptom zweier Neurosen Beziehungen
gewinnt zu jenen dauernden Gehirnveränderungen, die wir sowohl für die
Hemicranie als auch für die Epilepsie annehmen müssen, ist recht unklar.
Die Thatsachen weisen darauf hin, dass dies um so leichter mög-
lich wird, wenn die Hemicranie mit Symptomen sich vergesellschaftet,
die auf eine ihr sonst nicht zukommende territoriale Ausbreitung in der
Hirnrinde hinweisen.
6. Die visuelle Aura kann isolirt auftreten (abortiver Anfall) oder
einen hemicranischen oder epileptischen Insult herbeiführen oder gar
beide auslösen.
Im letzteren Fall kann die eine Neurose nicht als der Agent provo-
cateur der anderen angesehen werden; beide sind vielmehr einander
gleichwertig, auf eine gemeinsame, in- oder extensiv verschiedene Hirn-
veränderung zu beziehen.
7. Die (migränöse) Epilepsie und die (epileptiforrae) Migräne können
einander substituiren. Im ersteren Falle sind psychische und krampf-
hafte Anfälle als Substitutionen möglich.
8. Da wo Migräne und Epilepsie in klinische Beziehungen zu ein-
ander treten, erscheint die letztere als sensibler Jackson (Beob. 5—10)
eventuell mit postepileptischem psychischem Insult (7), als klassischer
Insult (2, 3, 4) eventuell auch als psychisches Aequivalent (15, 16).
9. Einer epileptischen Bedeutung verdächtig ist immer ophthalmische
Migräne; fast sicher als epileptische Migräne anzusprechen ist die mit
sensiblem Jackson verbundene.
Beziehungen zu Migräne verdächtig sind immer epileptische Anfälle
irgend welcher Art mit visueller Aura (11—16), mit Erbrechen (13) halb-
seitigem Kopfschmerz ganz besonders aber dann, wenn sie nur tempore
Hemicraniae, nie intervallär auftreten.
10 Auch therapeutisch bedarf die Hemicranie einer Differenzirung
nach ihren ätiologischen Formen.
Die mit Epilepsie in klinischem Zusammenhang stehende Migräne
wird eventuell durch antiepileptischu Behandlung günstig beeinflusst
(13—16). Besonders nützlich erweist sich dagegen Brom in Verbindung
mit Antipyrin.
Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie. 127
Viel grösser sind die Schwierigkeiten, wenn man die Beziehungen
zwischen Hemicranie und Hysterie festzustellen versucht. Dass bei der
Häufigkeit beider Neurosen, besonders beim weiblichen Geschlecht, Coin-
cidenz beider bestehen kann, ist a priori zuzugeben und jedem Prak-
tiker bekannt. Auch das zeitliche Zusammentreffen von Hemicranie und
hysterischen Insulten kann nicht Wunder nehmen, da Gemüthsbewegungen
für beide Agents provocateurs sein können. Weiter gehen französische
Autoren (Charcot, Babinski, Fink und Andere), indem sie einen klinischen
Zusammenhang zwischen beiden Neurosen annehmen.
Der Ausgangsfall für diese klinische Auffassung ist folgende von Charcot
in seinen Lecons du mardi ä la Salpetriere 1887 — 88 p. 10 nieder-
gelegte Beobachtung:
Prud . ., 21 Jahre, Graveur, bekommt anlässlich einer Conjunctivitis Anfälle von
lancinirenden Schuier/en und Gesichtsfeldverdunklung, die zur selben Stunde täglich
wiederkehren.
Anlässlich einer Emotion stellt sich Ende Januar bei ihm der 1. Anfall von
Hysteria gravis ein. Dieser Anfall wiederholt sich bis Mitte Februar täglich zur
selben Stunde und erscheint ohne Vorboten.
Von nun an geht ihm durch eine Viertelstunde eine Aura (Schmerz, der vom
Vertex sich zum linken Auge forterstreckt, dann Flimmerscotom, das das ganze Seh-
feld erfüllt1, vorher.
Diese Aura (Migränesrotom) zeigt sich oft auch ohne folgenden Anfall. Nicht
selten erscheint statt dieser visuellen Aura vor dem hysterischen Anfall Mutismus.
Unter Brombchandlung (3 — 6,0) schwinden die hysterischen Anfälle und werden die
Migränesymptome milder.
Babinski, der (Archives de neurologie 1890 XX. 60) diesen Fall
reproducirt, macht zu Gunsten der hysterischen Bedeutung der hemi-
cranischen Symptome dieses Falles geltend, dass sie als Aura eines
hysterischen Insults öfters auftreten, ferner dass diese hemicranische
Aura zuweilen durch ein specifisches hysterisches Symptom (Mutismus)
vertreten werde. Deshalb müsse diese äquivalente Hemicranie ebenfalls
als hysterische angesprochen werden. Zur Stütze seiner Annahme, dass
die Hemicranie Syndrom der Hysterie sein könne, bietet Babinski (s. u.)
3 weitere Fälle, wobei er aber nur den 1. und 2. der ganzen Reihe als
beweisend ansieht.
Sein 2. Fall betrifft ein 16 Jahre altes Mädchen, das seit 3 Monaten Anfangs täg-
lich an rechtsseitiger simpler Migräne litt, naeh 10 Tagen dazu Schmerzen am 6. Dorsal-
wirbel, in der Supra- und Iufiainaiumargegend bekam, nach weiteren 5 Ta^en lokale
hysterische Krämpfe (Globus, Clonismen des rechten Augenlides) zugleich mit ophthal-
mischer Migräne bot, wobei sich vom 6. Dorsalwirbel aus („point migrainogcue") die
Migräne auslösen liess.
Im 3. Fall handelte es sich um ein 22 Jahre altes belastetes Fräulein, das vom
8.-5. Jahre Pavor nocturnus gehabt batte, mit 16 Jahren nach einer Emotion einen
128 lieber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie.
1. Anfall von ophthalmischer Migräne erlitt, dem ein solcher von Bewusstlosigkeit mit
Convulsionen folgte.
14 Tage später Flimmerscotom durch 1 Stunde mit folgendem mehrstündigem
hemicranischein Schmerz.
Solche Anfälle ophthalmischer Migräne kehren in der Folge etwa alle 14 Tage
meist im Schlafe wieder, werden wiederholt erfolgreich durch Brombeh.indlungbeeinflusst.
Neuerlich (ohne Brom) Anfälle täglich, aber auf blosses Scotom sich beschränkend.
Druck aufs linke Ovarium ruft es experimentell aber schwach jederzeit hervor, des-
gleichen Emotion oder auch die blosse Erinnerung an dasselbe , während Suggestiv-
behandlung dasselbe günstig beeinflusst.
Der 4. Fall Babinskys betrifft ein 21 Jahr altes Mädchen. Seit 4 Jahren Anfälle
von Hysteria gravis, seit 2 Monaten ophthalmische Migräne, mit deren Auftreten die
Hysterieanfälle geschwunden sind. Diese Migräneattaquen sind ad libitum durch hyp-
notische Suggestion hervorzurufen und zu beseitigen.
Diese Fälle beweisen jedenfalls einen näheren klinischen Zusammen-
hang beider Neurospn, insofern die ophthalmische Migräne Aura eines
hysterischen Insults werden, an die Stelle solcher Anfälle dauernd treten,
ja sogar durch Reizung einer hyperästhetischen Hautstelle, die aber nicht
zugleich spasmogen sich erweist, in einem Falle sogar durch hypnotische
Suggestion provocirt werden kann.
In einem anderen Falle, in welchem die blosse Erinnerungs-
vorstellung genügt, um Migränescotom hervorzurufen, ist dieses auch
durch Druck auf ein Ovarium auslösbar.
Immerhin niuss vor voreiligen Schlüssen gewarnt werden. Dass bei
Hysterie, die alles Mögliche, selbst organische Rückenmarkserkrankung
imitiren kann, auch Migräne durch psychische Einflüsse ausgelöst werden
kann, dass bei der ungewöhnlich intensiven und paradoxen Anspruchs-
fähigkeit des Nervensystems solcher Kranken auch ein mechanischer
peripherer Reiz dies vermag, darf doch nicht Wunder nehmen. Auf-
fallend bleibt jedenfalls, dass von den Verfechtern der Ansicht, dass
Migräne Syndrom einer hysterischen Neurose oder gar Aequivalent eines
hysterischen Insults sein könne, bis 1891 (vergl. Gilles de la Tourette
traite de l'hystörie p. 379) nur 13 bezügliche Fälle beigebracht werden
konnten, von denen die Mehrzahl nicht einwandfrei ist und nur
Coincidenz von ophthalmischer Migräne und hysterischen Syndromen
nachweist.
Angesichts dieser Umstände muss es offene Frage bleiben, ob die
Migräne eine Rolle der Hysterie gegenüber spielen kann, wie sie sie
thatsächlich der Epilepsie gegenüber besitzt.
Die bisherigen Beobachtungen erweisen nur, dass bei Hysterischen
psychische und mechanische Reize ausnahmsweise genügen, um einen
Migräneanfall zu provociren und dass ein Migräneinsult Agent provo-
cateur für einen hysterischen Anfall sein kann, etwa in der Weise, dass
Uelier Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie. 129
das Gebiet hemicranischer Hyperästhesie temporär oder dauernd spas-
mogene Zone wird, analog zahlreichen Fällen (Schützenberger, Bastian
und Andere), in welchen ein anderweitiges neuralgisch afficirtes Nerven-
gebiet diese Bedeutung gewinnt. Unter allen Umständen könnte, und
hier wieder in Analogie mit der Epilepsie, nur der ophthalmischen
Migräne eine Bedeutung als Syndrom oder Aequivalent innerhalb der
hysterischen Neurose möglicherweise zukommen, denn die sichere Ab-
grenzung der simplen Migräne von gewissen Fällen des Clavus hystericus
mit sensorieller Hyperästhesie und Erbrechen, sowie von sogenannter
Pseudomeningitis hysterica ist eine missliche Sache.
In meinem Erfahrungskreise finde ich zahlreiche Fälle von einfacher
und ophthalmischer Hemicranie bei Hysterischen, aber keinen einzigen, in
welchem der Migräneanfall sich als Syndrom oder Aequivalent der
hysterischen Neurose deuten Hesse; dagegen verfüge ich über einige
Fälle, in welchen der Migräneanfall offenbar der Agent provocateur für
die Wiederkehr von hysterischen Insulten war, wobei sich annehmen
lässt, dass das Migränegebiet temporär die Rolle einer hystero(spasmo)-
genen Zone bekommen hatte. Umgekehrt kann auch der hysterische
Anfall den Migräneanfall provociren.
Als solche Beispiele mögen die folgenden Fälle dienen:
Beobachtung 17.
Frau Z., 35 Jahre alt, leidet seit dem 30. Jahr an Augenmigräne.
Keine familiäre Beziehungen zu diesem Leiden. Der Vater litt an
Dementia senilis. Die Geschwister sind höchst neuropathisch. Schon seit
dem 25. Jahr leidet die sehr nervöse Frau an Hy. gravisanfällen. Diese
treten fast ausschliesslich nach Emotionen auf und kehren in Pausen
von Wochen bis Monaten wieder. Die Hemicranie entwickelte sich vor
5 Jahren im Anschluss an eine Gravidität Sie ist nie selbstständig,
sondern erscheint immer im Gefolge der hysterischen Anfälle, die mit
Kopfschmerz auf der linken Kopfhälfte beginnen und 1 — 2 Stunden
dauern. In seltenen Fällen entwickelt sich die Hemicranie schon auf
der Höhe des Anfalls, augenscheinlich aus der hysterogenen Zone heraus,
meist aber im Anschluss an den Krampfanfall. Die Hemicranie hat ihren
Sitz immer links und dauert bis zu 2 Tagen. Im Anschluss daran besteht
durch etwa 14 Tage Unfähigkeit den Kopf nach links zu drehen.
Grosse, stattliche Frau. Eine umschriebene Stelle links von der
Scheitelhöhe ist auch intervallär andauernd hyperalgetisch und auf Druck-
empfindlich. L. Ovarie. Sonst keine Stigmata hysteriae.
Beobachtung 18.
Fräulein T. 21 Jahre, aus Frankreich, Gouvernante, stammt von
neuropathischer Familie. Eltern und sämmtliche Geschwister leiden an
Krafft-Ehini,'. Artwiten III. 9
130 Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie.
Hemicranie, eine Schwester überdies an Hysteria gravis. Patientin gut
begabt, frei von schweren Krankheiten, leidet seit dem 15. Jahre an
typischer simpler Migräne. Seit den ersten Menses hat sie Hysteria
gravis mit seltenen Anfällen, den letzten vor einem Jahr. "Wegen Ver-
schlechterung der finanziellen Verhältnisse der Familie musste Patientin
neuerlich eine Gouvernantenstelle antreten. Sie war darüber sehr emo-
tionirt, bekam am 7. October 1893 einen Anfall von Hysteria gravis
(Lachen, Schreien, Herumwerfen, Augen verdrehen , Zähneknirschen,
Delirien von Blumen, der Vater sei verrückt geworden, sie solle es
auch sein, Protest dagegen u. s. w.).
Dieser Zustand dauert bei der Aufnahme auf die Klinik (9. October)
noch an und löst sich am 10. October. Nur summarische Erinnerung.
Patientin berichtet von ihrer Migräne, die nie ophthalmisch war.
Bemerkenswerth sind Mouches volantes und Erythropsie beim Fixiren
von Gegenständen. Als Stigma hysteriae bietet sie, ausser Clavus und
Ovarie, echt hysterischen Charakter.
Am 14., 19., 20., 29. October wiederholen sich die oben geschil-
derten und bis auf geringfügige convulsive Erscheinungen rein psychisch
sich abspielenden Anfälle von Hysteria gravis. Ihre Ausgangsstelle ist
offenbar der Clavus. In der Mehrzahl der Anfälle lässt sich nachweisen,
dass Hemicranie dieselben einleitet und begleitet. Patientin bestätigt
dies auch aus ihrer bisherigen Erfahrung. Als Ausgangspunkt der Hemi-
cranie wird die Scheitelhöhe (Clavus) angegeben.
Am 6. November letzter Anfall von Hysteria gravis (blosses Delir,
das sich um Blumen, episodisch aber auch um schreckhafte Hallucina-
tionen dreht), in der Dauer von 4 Stunden mit initialer und offenbar den
Anfall provocirender Migräne. Während der Dauer des Hysterieanfalls
besteht halbseitiger Kopfschmerz, ohne aber in den Delirien irgendwelche
Verwerthung zu finden. Am 20. December 1893 wird Patientin als
,.genesenli entlassen.
Beobachtung 19.
Am 19. Juli 1896 früh wurde die 22 Jahre alte, ledige M. K.
von einem Polizisten, den sie mit den Worten „Du bist mein Doctor"
angepackt hatte, auf das Commissariat gebracht. Sie erschien verwirrt,
aufgeregt, spuckte beständig, zeigte grossen Stimmungswechsel, klagte
heftigen Kopfschmerz, wegen dessen sie wiederholt schon internirt gewesen
sei. Sie sei wegen grosser Unruhe und Angst nach Wien gefahren,
habe den ganzen Tag ein Wasser gesucht, um sich zu ertränken, da sie
ihr Leben nicht freue. Darauf fing sie an zu pfeifen und zu singen.
Auf die Klinik gebracht, ist sie noch leicht verwirrt, hat nur summa-
rische Erinnerung für die jüngste Vergangenheit, ist schreckhaft, unstet,
Ueber Hemicranie und deren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie. 131
zeigt grossen Stimmungswechsel, erotisches Wesen. Sie klagt Kopf-
schmerz, bietet Druckschmerzpunkte am 1. n. supraorbitalis und tempo-
ralis, 1. Hemihyperästhesie, concentr. Sehfeldeinschränkung, sonst keine
hysterischen Stigmata. Patientin schläft die Nacht zum 20. ruhig. Am
20. Menses, unter heftiger Colik und Exacerbation des 1. Kopfschmerzes,
mit der Begleitvorstellung, es trete ihr Jemand auf den Kopf, welche
Idee aber nicht festgehalten wird. Patientin ist nicht mehr verwirrt,
aber emotiv, schreckhaft, bald erotisch, bald deprimirt mit Taedium vitae,
das ganze Bild von entschieden hysterischem Gepräge. Mit dem Auf-
hören der Menses am 25. treten diese Erscheinungen zurück. Patientin
wird ruhig, geordnet, erscheint geistig beschränkt, ethisch etwas defekt
und giebt folgende Anamnese:
In der Familie ist mehrfach Alcoholismus, Irrsinn und Tuberculose
vorgekommen. Der Vater ist an Pthisis gestorben, eine Schwester durch
Suicidium in der Irrenanstalt, die Mutter ist jähzornig.
Patientin hat Cranium rachiticum und Spuren von Rachitis am
sonstigen Skelet. Sie machte die gewöhnlichen Kinderkrankheiten durch,
litt nach heftigem Schreck vom 9. — 15. Jahre an Anfällen von Hysteria
gravis. Seit dem 18. Jahr traten diese neuerlich, aber seltener auf.
Vom 14. — 17. Jahr hatte Patientin sich in Gesellschaft einer herum-
ziehenden Volkssängergesellschaft umhergetrieben. Heimgekehrt und mit
der Mutter ausgesöhnt, Streitigkeiten wegen eines Mannes, den sie gegen
ihren Willen heirathen sollte. Als Patientin im 19. Jahre gewahr wurde,
dass sie gravid sei, machte sie in einem (hysterischen ?) psych. Aus-
nahmezustand einen Suicidversuch mit Phosphorlösung und Sturz aus
dem Fenster. Seit jenem Sturz Anfälle von linksseitigem heftigem Kopf-
schmerz, eingeleitet von Sehen schwarzer Ringe vor den Augen, jedoch
ohne Flimmern; auf der Höhe desselben Uebelkeit.
Dieser hemicranische Symptomencomplex ist seither in Beziehung
zu den Hy. gravis -Anfällen getreten, insofern, nach der Versicherung der
Patientin, der Aura des Globus und Schwindels sich Scotom und Kopf-
schmerz hinzugesellt haben.
Im Lauf der letzten Jahre sind die convulsiven Anfälle der hyste-
rischen Neurose sehr selten geworden. Dafür stellen sich aber im Ge-
folge der obigen Aurasymptome öfter psychische Anfälle ein, in Form
von Verwirrtheit, ängstlicher Unruhe, Taedium vitae. In einem dieser
Anfälle Sprung in den Fluss. Patientin war 2 mal wegen solcher Anfälle
in der Irrenanstalt, war episodisch Kellnerin, Femme entretenue gewesen.
Eines Tages wurde ihr Zuhälter als Hochstapler verhaftet. (7. Juli 1896.)
Sie floh erschreckt zur Mutter nach Graz. Von da ab gehäufte hemi-
cranische Insulte mit ängstlicher Verwirrtheit, Taedium vitae und schreck-
132 lieber Heniicranie und eieren Beziehungen zur Epilepsie und Hysterie.
haften Sinnestäuschungen. Man band sie daheim an. Im Anschluss au
eineu solchen Insult floh sie nach Wien (17. Juli), um dort Erwerb
zu suchen.
Am 18. früh setzte Hemicranie ein — sie wurde verwirrt, bekam
wieder Angst, Taedium vitae, wollte in die Donau, verschenkte ihre
Habseligkeiten, als für sie überflüssig an Passanten, irrte in der Stadt
herum. Sie erinnert sich summarisch, in mehreren Kirchen zu beten versucht
zu haben, aber vor Unruhe und Angst nicht dazu gekommen zu sein.
Sie sei auch auf einem Friedhof gewesen, um zu sehen, wie ihre künftige
Ruhestätte aussehe. Abends, unter Zunahme des Kopfwehs, sei sie
stärker verwirrt geworden und in diesem Zustand arretirt worden.
In der folgenden mehrwöchentlichen Beobachtung bot Patientin
Züge von psychischer Degeneration, neben solchen von hysterischem
Charakter. Neuerliche Anfälle von Migräne oder von hysterischem Delir
resp. Insult gelangten nicht mehr zur Beobachtung.
IV.
UEBER TRANSITORISCHE GEISTESSTOERÜNG
BEI HEMICRANIE.
Möbius gebührt das Verdienst, durch die in seiner Monographie
der Migräne (Nothnagels Handbuch) enthaltenen Bemerkungen zum
Studium von mit hemicranischen Anfällen offenbar in Beziehung stehen-
den psychischen Störungen Anregung geboten zu haben.
Er berichtet (p. 29 1. c.) von „nicht selten den Migräneanfall
begleitender Verwirrtheit, in welcher die Kranken sagen, sie seien wirr
im Kopf, die Gedanken liefen ihnen durcheinander, sie wüssten nicht,
was sie wollen, dabei zuweilen verkehrte Antworten geben oder gar
nicht antworten."
In seiner Erfahrung verzeichnet Möbius auch einen Fall, in welchem
die Migräne jedes Mal mit plötzlich eintretender Angst ohne anderweitige
Aura einsetzte. Er verweist auf Liveing, der mehrere solche Anfälle
beobachtet hat, ferner solche von Gemüthsdepression, die während des
ganzen Anfalls fortbestand.
Aehnliche Klagen hatte ich vielfach auch von meinen Kranken
vernommen. Bei Manchen bestand eine förmliche psychische Aura im
Sinne von „Aufgeregtheit, Angst". Einer derselben erklärte, dass er
schon Stunden lang vor dem Anfall nervös aufgeregt, zappelig, reizbar sei.
Es lässt sich schwer entscheiden, ob die nur elementaren psychischen
Functionsstörungen in solchen Fällen einfach seelische Reaction des
neuropathischen Kranken auf die zu gewärtigende oder bereits einge-
tretene hemicranische Krise seien oder in directer organisch ausgelöster
Beziehung zum Symptomencomplex der Migräne stehen.
A priori ist diese Möglichkeit Angesichts des Umstandes, dass die
Migräne eine Hirnrindenaffection sein dürfte, die, entsprechend ihrer
Schwere sich mit immer weiter reichenden Symptomen von Hemmung
oder Reizung von Hirnrindengebieten complicirt, nicht von der Hand
zu weisen. In meiner bisherigen Erfahrung finde ich psychische, über
Elementares hinausreichende Störung nur in Fällen von ophthalmischer
oder auch mit sensiblem Jackson sich verbindender Migräne.
Es ist ganz gut möglich, dass es bei der oder durch die Veränderung,
welche während des Migräneanfalls in dem Cortex angenommen werden
muss, auch einmal zu einer diffusen Rindenstörung im Sinne einer
Psychose komme, zumal da die Migränekranken ja durchwegs belastete
136 Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie.
Persönlichkeiten sind, bei welchen abnorme Anspruchsfähigkeit des
Centralorgans und abnorm leichte Irradiation von Reizvorgängen zuge-
geben werden muss.
Die folgende Beobachtung ist ein Beleg für die Berechtigung zur
obigen Annahme.
Beobachtung.
Frau N., 55 Jahre, Arbeitersfrau, angeblich früher gesund, ohne
epileptische oder hysterische Andecedentien, sehr gut conservirt, leidet
seit dem Eintritt ins Kliniacterium vor 11 Jahren, an ophthalmischer
Migräne. Sie versichert, dass sie niemals früher an derlei Anfällen
gelitten habe. Ueber die Gesundheitsverhältnisse der früh gestorbeneu
Eltern weiss sie nichts zu berichten.
Ursprünglich erkrankte Patientin an linksseitiger Augenmigräne. Nach
3 Jahren erschien die in ihrem Wesen gleiche Affection nur mehr
rechts. Der Anfall wurde besonders leicht durch körperliche Anstrengung
provocirt. Er beginnt mit einem schwarzen senkrechten, etwa 1 Finger
breiten Streifen im rechten Sehfeld, der nach etwa 10 Minuten schwindet,
recte zu einem schwarzen, das ganze rechte Sehfeld füllenden Scotom sich
ausbreitet. Nun erscheinen gelb glänzende Lichtbüschel und Sterne,
die */2 — 1 Stunde andauern. Patientin kann die Dauer dieses Stadiums
abkürzen, wenn sie sich rechtzeitig niederlegt. Bei Schluss der Augen
steigert sich das Flimmerscotom. Die Sterne werden bald grösser, bald
kleiner, bis sie endlich sich immer mehr verkleinern und schwinden.
Nun setzt heftiger, bohrender, drückender rechter Schläfenschmerz
ein, der sich nach dem rechten Auge zieht. Zugleich kommen „Carri-
caturen" (Fratzen, Statuen, Pagoden, die in beständiger Bewegung sind),
die etwa 10 Minuten andauern. Schliesst Patientin die Augen, so dauern
sie gleichwohl fort. Wird bloss das linke Auge geschlossen, so sieht
sie die Figuren im dunklen Sehfeld. Gewöhnlich erscheinen dann noch-
mals die goldglitzernden Sterne auf kurze Zeit.
Unter schwindendem Scotom und Fortdauer heftigen Kopfschmerzes
kommt nun das „kuriose" Stadium, das etwa 5 Minuten dauert
und erst seit 2 Jahren besteht. Patientin fühlt sich während
desselben wie sinnlos, sie kenne sich nicht aus, ihren Mann
nicht, habe ein banges Gefühl drohenden Irrsinns, sei ganz
verwirrt, bringe kein Wort heraus (Schilderung amnestisch
aphasischen Zustands), habe das Gefühl, dass sie von Jemand
verfolgt werde. Sie verliere in dieser Episode nicht das Be-
wusstsein, aber der Zustand sei entsetzlich peinlich durch
das Gefühl, dass der Verstand schwinde.
An diese Episode reihe sich Erbrechen. Im Kopf werde es nun
Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie. 13 f
frei, aber der Schmerz ziehe sich regelmässig in Wange und Unterkiefer
und tobe sich da aus. Dieses Ausklingen der Hemicranie in Gestalt
einer Neuralgie des 2. und 3. rechten Trigeminusgebiets dauere bis zu
2 Tagen an.
Ich sah Patientin wiederholt in diesem Stadium und fand alle
Gebiete des rechten 2. und 3. Trigeminus höchst druckempfindlich, wäh-
rend links selbst heftiger Druck schmerzlos war.
Die genaueste Untersuchung der Patientin vermochte keine Symptome
eines organischen Hirn- oder Rücken marksleidens bei diesem tardiven
Fall von Hemicrania ophthalmica aufzufinden. Die Untersuchung mit
dem Augenspiegel ergab ein negatives Resultat.
Unter fortgesetzter Behandlung mit Kai. bromat. 4,0 Antipyrin 1,0
pro die sind die Hemicranieanfälle seit mehr als 12 Wochen nicht mehr
wiedergekehrt.
Solche Fälle sind übrigens auch innerhalb des Rahmens der com-
plicirten Migräne seltene Vorkommnisse.
Ihre Seltenheit angesichts der enormen Häufigkeit der Migräne lässt
besondere Dispositionen und eventuell zufällige Hilfsursachen voraus-
setzen, auf Grund welcher es zu hemicranischer Psychose kommt.
Bezüglich der letzteren mögen psychische Traumen, calorische
Schädlichkeiten, auch Excesse in potu eine Rolle spielen. Hinsichtlich
der besonderen Dispositionen muss an die klinische Verwandtschaft der
ophthalmischen Migräne mit der Epilepsie erinnert werden.
In der bisherigen Litteratur sind nur transitorische Psychosen im
Zusammenhang mit einem Migräneanfall und zwar als inter- oder post-
hemicranischo Erscheinungen verzeichnet.
Damit erhebt sich die wichtige und interessante Frage, ob es sich
hier um eigenartige Psychosen im Sinne hemicranischer Psychose
handelt, oder ob nicht vielmehr eine larvirte Epilepsie (s. o.) im Spiele
ist, der psychische Antheil des Krankheitsanfalls somit dieser Neurose
zukommt.
Die Entscheidung dieser Frage ist beim gegenwärtigen Standpunkt
unseres Wissens eino recht schwierige, denn die Bilder, unter welchen
die sogenannte psychische Epilepsie auftritt, sind polymorph, nocli keines-
wegs endgültig festgestellt und möglicher Weise untrüglicher Kenn-
zeichen baar.
Unter allen Umständen scheint es mir Angesichts der klinischen
Verwandtschaft der Augenmigräne und der Epilepsie geboten, erst dann
an die Existenz einer an Hemicranie ausschliesslich gebundenen transi-
torischen Psychose zu denken, wenn alle Möglichkeiten für die Annahme
einer epileptischen Bedeutung des Falles sich als nicht stichhaltig
138 Ueber trausitorische Ueistesstöruug bei Hemicrauie.
erwiesen haben. Der Zusammenhang zwischen hemicranischer Psychose
und Epilepsie kann in folgender Weise sich darstellen.
1. Der Kranke leidet an (simpler) Hemicranie und ausserdem an
Epilepsie.
Der hemicranische Anfall ist blosser Agent provocateur für einen
Anfall der Krampfkrankheit.
2. Beide Neurosen stehen in inniger klinischer Beziehung.
Die (ophthalmische) Migräne ist nur eine symptomatische. Sie ver-
tritt die Stelle eines epileptischen Insults und an diesen symptomatischen
Migräneanfall reiht sich eine (postepileptische) psychische Störung
{vgl. p. 126). Entspricht diese bekannten Bildern des epileptischen Irre-
seins im Sinne des petit oder grand mal oder des Stupor u. s. w., so
ergeben sich Anhaltspunkte für die symptomatisch epileptische Bedeutung
des psychischen Symptomenbilds; ist dies nicht der Fall, so wird bei
unserer Unsicherheit der Diagnostik quoad psychischer Epilepsie der
Möglichkeit einer doch, d. h. unabhängig von aller Epilepsie, existirenden
hemicranischen Psychose der Weg gebahnt.
Darüber kann nur die künftige Forschung entscheiden. Wie aus
der folgenden Casuistik hervorgehen wird, entsprechen die bisher bekannt
gewordenen Bilder von peracuter an den Migräneanfall geknüpfter
Psychose nur ausnahmsweise den uns bekannten und doch recht häufig
zu beobachtenden von sogenannter psychischer Epilepsie oder psychischem
Aequivalent dieser Neurose. Im Falle, dass es gelänge, jene sämmtlicli
auf eine epileptische Grundlage zurückzuführen, müsste immerhin zu-
gegeben werden, dass die (symptomatische) Migräne offenbar Einfluss auf
die Gestaltung dieser psychischen Bilder gewinnt.
Klinisch muss noch an die Möglichkeit gedacht werden, dass auch
die Beziehungen des Psychoseanfalls zur Hemicranie verschleiert bleiben,
insofern diese abortiv bleibt und sich nur als Migränescotom äussert-
Es wäre das ein Analogon des epileptischen Insults mit visueller Aura
und würde meines Erachtens die Diagnose einer transitorischen Psychose
zu Gunsten der Annahme eines psychischen Aequivalents entschieden
stützen, sie wohl sichern, wenn das Scotom in rother Farbe spielen
würde. Endlich besteht noch die Möglichkeit, dass die an Hemicranie
sich anschliessende psychische Störung Aequivalent oder Theilbild eines
abortiv gebliebenen Hysteria gravis- Anfalles, der unvollkommen in die
Erscheinung trat, sein kann (vgl. die bezüglichen p. 130 mitgetheilteu
Beobachtungen).
Sehen wir uns in der bisherigen Litteratur nachpsycbischen Störungen
im Zusammenhang mit Hemicranie um, so sind zunächst Mingazzini's
Arbeiten in Betracht zu ziehen.
Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie. 139
Der genannte Autor veröffentlichte in der Rivista sperimentale XIX,
2, 3, folgende Fälle.
1. F., 24 Jahre, ledig, Militär, aus schwer belasteter Familie, vom 7. — 16. Jahre
Masturbant, erlitt mit 9 Jahren eine Kopfwunde durch Sturz.
Vom 16. Jahre ab Abusus Coitus und passive Fellatio. Psychopathische Minder-
werthigkeit. Anwandlungen zu Selbstmord. Reizbarkeit, Unverträglichkeit, Insubordi-
nationen, mehrfache Bestrafungen. Ethische Defectuosität.
Seit einigen Monaten Anfälle von linker Hemicrania ophthahnica, mit Vision eines
schwarzen Mannes, der drohend auf Patient losgeht. Im Moment, wo F. von diesem
an der Brust oder am linken Arm gepackt wird, verliert er das Bewusstsein unter
leichtem Schrei und kurzem Herumschlagen mit deu Armen. Einige Augenblicke später
ist F. wieder bei sich, empfindet Torpor und Formication in der linken OE., die sich
dann auf die linke UE. fortsetzt.
Während des Anfalls sind die Supraorbitalbögen drucksehmerzhaft und ist die
linke Stirn wärmer als die rechte. Nur für die Zeit der Bewusstlosigkeit besteht Amnesie.
Auf dem linken Os frontis findet sich eine kleine adhärente Hautnarbe. Als Dauer-
symptom constatirt man linke Heinihyperästhesie. Auf beiden Augen wird Grün für
Himmelblau angesehen. Auf dem linken Auge besteht conr, Sehfeldeinschränkung.
2. G. , 31 Jahre, verheirathet , stammt aus schwer belasteter Familie, ist Mastur-
bator strenuus. Mit 9 Jahren (1870) begannen Absencen, die bis zu einer Viertelstunde
dauerten und sich alle 2 — 3 Monate wiederholten. Als Aura solcher Anfälle hörte er
Anfangs r. ein Geräusch gleich dem eines heranrollenden Bahnzugs. Später trat an
dessen Stelle ein nur leichtes Bauschen im rechten Ohr, mit sofort folgender Hemi-
crania ophthalmica.
Vom 16. Jahr ab waren die Anfälle von Hemicranie heftiger geworden und gingeu
mit Torpor, Parese des rechten Arms und Mutismus umher.
In einer solchen Anfallszeit tödtete Patient im Affect die Dienstgeberin mit mehr
als 100 Messerstichen. Darauf ass er ruhig und legte sich schlafen. In die Irrenanstalt
gebracht, bot er 6 Monate lang einen Dämmerzustand mit Amnesie.
In der Folge hatte er wiederholt Anfälle von petit mal und befand sich deshalb
wiederholt in der Irrenanstalt.
Mit 25 Jahren (1886) bekam er den ersten klassischen epileptischen Insult, der
unter dem Einfluss von Alcoholexcessen sich häufig wiederholte.
Am 1. December 1892 wurde er auf der Strasse in tiefem Dämmerzustand (ist
Gott, Kaiser, will nach Amerika) aufgegriffen. Nach 2 Tagen kam er zu sich, mit
Amne3ie für das Vorgefallene. G. ist eine psychisch degenerative Persönlichkeit, ethisch
defekt, conträr sexual.
3. V., 34 Jahre, ledig, aus einer Säuferfamilie, seit dem 13. Jahre Masturbant.
später Potator, befand sich 1881 wegen Alcoholismus, 1889 wegen hallucinatorischer
Melancholie in der Irrenanstalt.
Seit 1889 (31 Jahre) litt er öfter an Anfällen von Hemicrania ophthalmica (linkes
Auge) in der Dauer von 7 — 8 Minuten mit Ameisenkriechen in der linken OE. und
motorischer Aphasie.
Am 25. August 1892 heftiger Anfall von linker Hemicrania ophthalmica. Unter
Fortdauer dieser bis 27. früh verstimmt, ruhelos, Erbrechen, schlechter Schlaf mit
schweren Träumen.
Am 27. früh beginnt ein psychischer Ausnahmszustand. Er geräth in eine Kirche,
fängt an zu predigen, über die katholische Religion und die Priester zu schimpfen
]4(J Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie.
Er sieht, wie ein Madonnabild ihn tadelnd ansieht, beginnt zu schluchzen, die Madonna
um Schutz anzuflehen. Sofort in die Irrenanstalt gebracht, kommt er zu sich und ist
amnestisch für alles Vorgefallene.
Plagio-submicrocephaler Schädel (Cf. 525). Sensible Anfälle. Concentrische Gesichts-
feldeinschränkung.
4. 0., 34 Jahre, von trunksüchtigem Vater, periodisch psychopathischer Mutter, hat
einen irrsinnigen Bruder. Seit 10 Jahren hat er Anfälle von rechtsseitiger „Cephalaea".
Sie dauert 24 Stunden, kehrt 2 — 3 mal monatlich wieder. Auf der Höhe der Anfälle
trübt sich sein Bewusstsein und bekommt er Antriebe sich umzubringen. 3 mal hat
er dies mit Sublimat versucht, 4 mal sich der Polizei wegen Taedium vitae in solchem
Anfall gestellt. Seine Erinnerung für die Erlebnisse in solchem Zustand ist eine
summarische.
In einem solchen Anfall kam er am 20. December 1892 in die Irrenanstalt. Auf
dem rechten Parietalbein eine Hautnarbe. Concentr. Gesichtsfeldeinschränkung. Kachi-
tischer Schädel.
Die vorausgehenden Fälle sind der Annahme einer besonderen hemi-
cranischen transitorisehen Psychose nicht günstig, denn sie bieten sowohl
nach der psychischen als auch der somatischen Symptomenreihe epilep-
tische und hysterische klinische Zeichen. Fall 2 ist eine zweifellose
Epilepsie. M. erkennt dies selbst in der Epikrise seiner Fälle an und
wirft die Frage auf, ob diese Anfälle von transitorischer Psychose bei
oder nach Hemicranie nicht psychische Aequivalente der Epilepsie seien.
Gleichwohl hält er die Annahme der Existenz einer besonderen
transitorisehen hemicranischen Psychose fest und sucht sie damit zu
erklären, dass ein dem hemicranischen Anfall zu Grunde liegender
vasospastischer Zustand der Hirnrinde, auf weitere Territorien dieser
irradiirend, das Zustandekommen solcher Psychose bewirke.
In der Rivista sperimentale XXI, 4, berichtet Mingazzini zur Stütze
dieser Anschauung weitere 6 Fälle.
5. Soldat, 22 Jahre, angeblich unbelastet, früher an Malaria leidend. Seit dem
IS. Jahre (1891) frontale persistirende Cephalaea.
1892 bei Exacerbation derselben optische Reizerscheinungen (Sternchen im Seh-
feld beider Augen, Flimmerscotora).
1893 in solchem Anfall schreckhaftes hallucinatorisches Delir von l Tag Dauer.
Amnesie.
Im November 1894 in neuerlichem Anfall von Hemicrania ophthalmica aber-
mals halluzinatorisches Delir.
Am 20. Februar 1895 3. Anfall (wollte sich umbringen, delirirte 1 Tag, Amnesie),
der ihn der Irrenanstalt zuführte.
In dieser andauernd leichter Stirnkopfschmerz, Emotivität, Reizbarkeit. Ab und
zu leichter Schwindel mft Verdunklung des Sehfelds, aber ohne Bewusstseinstrübung.
Andauernd conc. Sehfeldeinschränkung auf dem recht' n Auge.
6. B., 50 Jahre, belastet, wurde nach einer Kränkung im Mai 1894 melancholisch.
Zugleich bekam er heftigen Frontalschmerz und wurde mit Exacerbationen des Schmerz«
von Phosphenen heimgesucht. Vorübergehend kam es sogar zu Visionen von Gestalten,
allgemeinem Tremor und Verlust des Bewusstseins. Meist fehlte die Correctur flS
ITeber transitorische Geistesstörung bei Heinicranie. 141
diese Hallueinationen. Die Beobachtung ergab r. Hemihyperaesthesie für alle Quali-
täten, r. Amyosthenie, r. fehlenden Pharynxreflex.
Nach Am Anfällen fand sich eine bedeutende concentrische Einengung des Gesichts-
felds. R. Verminderung deB Geruclis- und Gehörvermögens. Intelligenz mtakt. Grosse
Eraotivität. Häufige Wiederkehr von Cephalaeaanfällen mit schreckhaftem hallucina-
torischern Delir, dem jeweils Phosphene vorausgingen. Nach Monaten Genesung.
7. Mädchen, 20 Jahre, unbelastet. Vom 5. — 17. Jahr häufige Convulsioneu, von
da ab klassische epileptische Insulte.
Mit 19 Jahren beginnen Anfälle von Hemicranie. Wenn diese heftig sind, stellen
sich 2 — 3 Stunden nach dem Beginn des Kopfschmerzes optische iieuerscheinungen
(Sterne) ein. Dann erscheinen Visionen (Paradies, Engel, Mutter Gottes) neben Hemi-
anopsie der Personen der Umgebung. Oft kommt es auch zu Erbrechen. Patientin
erkennt ihre Hallueinationen als solche.
Kürzlich Ausbruch eines hallucinatorischen Delirs (Hölle, Flammen, die Patientin
auf der Haut spürt, dazwischen Visionen der Madonna, Ecstase).
In solchem wird sie in der Irrenanstalt aufgenommen. Sie hat massenhaft Sensa-
tionen, ganz dieselben, wie sie auch als Aura ihrer epileptischen Anfälle aufzutreten
pflegen. Sie wähnt. Thiere im Leib zu haben, verlangt, dass man ihr den Bauch aul-
schneide, ist ängstlich, weint, schluchzt, unter heftigem Kopfweh, stundenlang. Plötz-
liche Lösung des Anfalls.
Am 6. März 1695 epileptischer Anfall unter vorausgehenden Sensationen im Leib,
die als Thiere interpretirt werden.
Am 7. März analoger Anfall, diesmal mit Globus als Aura. Dann automatische
Handlungen, Stupor. Der ganze Anfall dauert nur einige Minuten.
8. Weib, 39 Jahre, unbelastet, nie Couvulsiouen. Mit 21 Jahren Heiratli,
3 Partus. Seit Jahren Anfälle von leichter Cephalaea. Neuerlich solche Anfälle
gehäuft, heftig, Schmerz bilateral, mit Gefühl von Pulsiren.
In diesen heftigen Anfällen Ausbruch von Delir (Leute dringen ins Zimmer, um
Patientin umzubringen, sie hat ein Pteid gekauft und ist mit demselben auf Bergen
herumgeritten etc.). Im Anfall Trübsehen, Lärm in den Obren, Hitzegefiihl im Gesicht.
Plötzliche Lösung des Anfalls. Keine Amnesie.
Neuerlich, in einem besonders heftigen Aufall war Patientin 2 — 3 Tage lang
ganz verwirrt, delirant, schlaflos gewesen.
Ausser rechter Ovarie nichts Bemerkenswerthes. Unter Bromgebrauch Besserung
der Hemicranie.
9. A., 2(j Jahre, ledig. Maurer, kein Potator, vor Jahren luetisch inficirt,
1884 — 1885 3mal wegen Melancholie, 1885 — 1889 2mal mit unbekannter Diaguose iu
der Irrenanstalt gewesen, litt seit der Kindheit immer häufiger und heftiger an Anfällen
diffuser Cephalaea von 2 Stunden bis 3 Tagen Dauer, mit leichter Verwirrung, Phos-
phenen (Lichter, leuchtende Zickzackerscheinungen) bis zuVisioneu (schrceMi ifto Gestalten)
und Amnesie für die Erlebnisse des Anfalls.
In der Irrenanstalt bot A. nach 3 derartige Anfälle.
Ausser beidseitiger Gesichtsfeldeinschränkung nichts Abnormes.
10. Frau C. '■>' Jahre, unbelastet, hat nie geboren, war früher gesund bis auf
einige Coliken. Mai 1894 ohne Ursache heftiger stechender Schmerz über den Augen,
bald darauf Schwindelanfall. Sie bleibt nun wegen heftiger Cephalaea in Nacken und
Occiput 4 Monate zu Bett.
Der Schmerz wird nun milder und exaeerbirt nur noch episodisch heftig.
Januar 1895, auf der Höhe eines solchen Schmerzanfalls, durch einige Minuten
142 Ueber transitorisehe Geistesstörung bei Hemicranie.
Lichterscheinungen (Funken Sterne), aber keine Scotome. Nur 1 mal kam es anlässlich
heftiger Schmerzen zu Erbrechen. Wiederholt stellten sich auf deren Höhe Visionen
unheimlicher Gestalten ein, jedoch behielt Patientin Einsicht für das Krankhafte
dieser Phänomene.
Die Lambdanaht ist druckschmerzhaft, nicht aber der Quintus. Im Anfall besteht
auch Wirbelschmerz, der sich bis zum Epigastrium erstreckt und Nausea auslöst.
Zeichen im Sinne einer hysterischen oder epileptischen Neurose sind nicht auffindbar,
wohl aber leicht neurasthenische Stigmata.
Auch diese neuerliche Serie von (6) Fällen lässt die Frage nach
einer eigenartigen hemicranischen Psychose recht unentschieden. In
Fall 7 handelt es sich bestimmt um epileptische Phänomene; in 8 und
10 scheint mir die hemicranische Bedeutung der Fälle nicht sicher
gestellt, im 10. eher eine Cephalaea neurasthenia anzunehmen. In
5, 6, 7 sind hysterische Stigmata vorhanden und Beziehungen der
psychischen Phänomene zu Hysterie nicht von der Hand zu weisen.
Verf. erkennt selbst an, dass in seinen Fällen Symptome von Hysterie,
Neurasthenie und epileptoide Erscheinungen mit unterlaufen , glaubt sich
aber gleichwohl berechtigt, eine ,,Disfrenia emicranica transitoria" anzu-
nehmen, die er auf Arteriospasmus der Hirnrinde zurückführt, reflec-
torisch bedingt durch die gereizten sensiblen Nerven der Dura.
Er weist darauf hin, dass in seiner Casuistik der Kopfschmerz
immer diffus, bilateral war, meist mit ophtha] mischen Erscheinungen
(bilaterale Phosphene, einigemal auch Scotome) verbunden, dass hier
der Kopfschmerz den optischen Phaenomenen, im Gegensatz zu gewöhn-
lichen Fällen von (ophthalraischer) Migräne, voraufgeht. Er fand, dass
die Photopsien, gleichwie die sich daraus entwickelnden Gesichtshallu-
cinationen, dem Intensitätsgrad des Kopfschmerzes parallel gingen und
hält als typisch für seine Fälle von „Disfrenia emicranica" das etappen-
weise Auftreten von Schmerz, Phosphenen, Hallucinationen, Entwick-
lung von hallucinatorischem Delir auf der Höhe des Schmerzanfalls.
Aus der sonstigen Literatur sind zu erwähnen:
11. Sciamanna, Nevrosi emicraniche, Atti delF XI. Congresso med.
internaz. IV. Band, 1895.
Briefträger von 32 Jahren. Seit Jahren Anfälle von „Cephalaea". Im Verlauf
eines besonders heftigen Anfalls Zustand von Verwirrtheit. Später 2 weitere Anfälle,
im letzten tobsüchtige Aufregung. Während der ganzen Dauer der Cephalaea (circa
12 Stunden) waren dem manischen Insult Ameisenkriechen und aphasische| Sprech-
störung voraufgegangen. In der Folge noch einige mildere Anfälle von Cephalaea ohne
psychopathische Begleiterscheinungen.
12. Zacher, Berliner klin. Wochenschrift. 1892. 28.
B., 17 Jahre, hereditär schwer belastet, von migränöser Mutter, Convulsionen in
der Kindheit. Vom 14. Jahre ab eine Zeitlang Somnambulismus. Seit Jahren Migräne.
Bei heftigen Migräneanfällen, die häufig mit Augensymptomen (hellglänzender, in ver-
Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemieranie. 143
Bchiedenen Farben spielender Kreis vor dem linken Auge, allmälig grösser werdend
und dann schwindend oder auch Zittern und Vibriren der Gegenstände auf deren linker
Hälfte) sich einleiteten, seit dem 16. Jahr im Verlauf oder im Anschluss an Migräne-
anfälle bis mehrstündige Zustände geistiger Störung (getrübtes Bewusstsein, Verwirrt-
heit, grosse Reizbarkeit, bis zu Gewaltthätigkeit, episodisch schreckhafte Gesichts-
hallucinationen), die mit Schlaf sich lösten und Amnesie hinterlies3en. Nur heftige
und fast ausschliesslich ophthalmische Migräneanfälle lösten sie aus.
Brombehandlung machte beiderlei Anfälle allmälig schwinden. Z. bezeichnet seinen
Fall ausdrücklich als einen solchen von „Migräne ophthalmique mit transitorischer epi-
leptoider Geistesstörung", will ihn aber doch nicht schlechtweg mit Epilepsie identi-
ficiren und fasst ihn auf als „auf dem Boden der hemicranischen Constitution ent-
standene transitorische Psychose analog den postepileptischen Anfällen".
13. Löwenfeld, neurolog. Centralblatt, 1882, p. 268.
Frau, 27 Jahre, seit der Kindheit Hemicranie, früher geistig normal, körperlich
gesund, Mutter von 4 Kindern, bekam am 3. Februar 1889 mitten aus vollem Wohl-
sein morgens 9 Uhr Sehstörung (Schleierscotom) bis zur Unfähigkeit Gegenstände zu
erkennen, dann heftigen, den ganzen Kopf einnehmenden Schmerz, dann Erbrechen und
weiter Gesichtshallucinationen (Mehrzahl von Personen im Zimmer). Um 12 Uhr kommt
der Mann heim und sieht sich veranlasst, sofort nach dem Arzt zu schicken. L. findet
bei seinem Besuch um 12'/2 Patientin collabirt, blass im sonst blühenden Gesicht, mit
jedoch gerötheter Conjunctiva. Sie ist fieberlos, spricht verworren, verwechselt, ver-
kennt die Personen, äussert Kopfschmerz, ist aber eher heiterer Stimmung. Mit
Zunahme der Verwirrung stellt sich amnestisch -atactische Aphasie ein. Bei Ver-
suchen sich aufzusetzen, Erbrechen. Die Verwirrung schwindet circa 3 Uhr Nach-
mittags. Der Kopfschmerz dauert, immer mehr abnehmend, bis zum 6. Februar an.
Complete Amnesie für die Dauer der psychischen Störung.
Patientin hatte bisher nie einen solchen psychischen Anfall zur Zeit ihres Migräne-
insults gehabt. Epilepsie und Hysterie erscheinen ausgeschlossen. Ob Patientin schon
früher an der ophthalmischen Form der Migräne litt, geht aus der Beobachtung nicht
hervor.
L. versucht die Psychose als „Aequivalent des Hemicranieanfalls (entsprechend dem
psychischen Aequivalent des epileptischen Anfalls") zu deuten.
14. Brackmann, „Migräne und Psychose", Zeitschr. f. Psychiatrie 53,
p. 556.
S., Kaufmann, 26 Jahre, ledig, erblich schwer belastet (Mutter u. A. mit schwerer
Migräne behaftet), schwächlich, begabt; lebhaft, aufgeregt, seit früher Jugend an Diabetes
insipidus und Cephalaea leidend, ohne epileptische oder hysterische Zeichen, hat mit
9 Jahren eine Commotio cerebri ohne erkennbare Folgen erlitten. Seit dem 15. Jahre
typische Migräneanfälle ohne Augensymptome. Nach gemüthlicher Alteration Dämmer-
zustand. Dann Psychose (Gehörstäuschungen und Verfolgungsdelirien) von l1/« Jahren
Dauer. In der Beconvalescenz etwa 8 mal im Verlauf von Migräneanfa'len deliranter
Zustand von 1/i — l/a Stunden, in Schlaf übergehend und Amnesie hinterlassend. Inhalt
der Delirien schreckhaft („jetzt kommen sie und wollen mich todt machen; die Eltern
sind hier und haben Euch Geld gegeben, Ihr sollt mich todt machen") oder um Tages-
erlebnisse harmloser Art sich drehend. Nach 5 monatlichem Wohlbefinden neuerlich
schwere Migräneanfälle, Dämmerzustand mit Amnesie vom 20. Februar bis 7. März 1895,
daran anschliessend bis 18. März schreckhaftes hallucinatorisches Delirium. In der
Folge bis auf Reizbarkeit ohne Symptome. Juni 1895 begannen wieder einfache Migräne-
144 Ueber transitorisehe Geistesstörung bei Hemicranie.
anfalle. Beim Scbliessen des Auges der kranken Seite zuweilen ParbenempfinduDgeii
im Sehfeld desselben. Neuerlich im Anschluss an solche Migräneanfälle bis zu 3 Tagen
•lauernde Anfälle von psychischer Verstimmung, mit Hören von höhnenden Stimmen
und Ideen der Beeinträchtigung von Seiten bestimmter Personen. Die Erinnerung an
diese Zustände nicht getrübt.
Nie hisher epileptische oder epileptoide Anfälle.
Verf. hält es für möglich, dass diese transitorischen Zustände psychischer Störung:,
die er nicht als epileptische anzuerkennen vermag, dadurch zu Stande kommen, dass
Anfälle gewöhnlicher Migräne hei dem schwer belasteten und durch Commotio cerebri
noch weniger Widerstandsfähigen genügten, um jene auszulösen.
In „Feestbundel der Nederlaudsche Yereeniging voor Psychiatrie1,
s 'Hertogenbosch 1896 berichtet Buringh Boekhoudt über angebliche
psychische Migräneäquiralente.
a) X. , 42 Jahre, Gelehrter, Mutter migrüneleidend. Patient hat seit dem 5. Jahr
Augenmigräne. Mit 31 Jahren, unter dem Einfluss sitzender geistig angestrengter
Lebensweise, kamen neurasthenische Beschwerden, Atonie von Magen und Darm mit
erleichternden Kuctus. Episodische Zustände von Ermattung, die in Halbschlaf mit
.i btraum übergehen un>l aus denen Patient momentan zeitlich und örtlich desorientirt,
quasi schlaftrunken langsam zu sich kommt. Diese Zustände regelmässig nach der
Mahlzeit, von Müdigkeit im Hinterkopf eingeleitet, ohne alle Beziehung zu Hemicranie-
anfällen. Seit Eintritt dieser neurasthenischen Beschwerden und einer entsprechenden
Kur dagegen, fast gänzliches Zurücktreten der Migräne.
Verf. deutet die Intestinal- und Halbschlafzustände („Traumzustände") als Aequi-
valente der Hemicranie und bezieht sich bezüglich ersterer auf einen von Bary (neurolog.
Centralblatt 1895, (j) mitgotheilten Fall , in welchem (ebenso unberechtigt) Anfälle von
epigastralem Schmerz, die episodisch eine simple, seit der Kindheit bestehende Migräne
verdrängen , als Aequivalente solcher aufgefasst werden.
h) 0., cand. med., 23 Jahre, seit früher Jugend simple Migräne, an welcher
auch die Mutter litt.
Seit 1 Monat zeitweise momentane Verwirrtheit und Desorientirtheit , ohne be-
gleitende Migräne, ferner elementare, die Migräneanfälle complicirende psychische Er-
scheinungen im Sinne von Verstimmung und Streitsucht.
Auch hier spricht Arerf. von „Traumzuständen u und ist geneigt, sie als Migräne-
äquivalente anzunehmen. Da die Krankengeschichte höchst aphoristisch gehalten ist,
wird eine nähere Deutung jener Bewusstseinsstörungen unmöglich.
e) Kaufmann, 2(3 Jahre, Mutter mit Cephalaea, Patient seit dem 6. Jahr mit
Hemicrania simplex behaftet, seit der Jugend Masturbant. Mit 23 Jahren erschreckt
durch die Bemerkung eines Bekannten, dass Masturbation frühes Senium bedinge. Im
Anschluss mehrtägiger Angstzustand mit Furcht vor Senium praecox, Depression und
Selbstanklagen. Diese Anfälle lehren aller paar Wochen wieder und schwinden auf
Kaltwasserkur. Während dieser Episode zeigten sich die Migräneantälle nur spurweise.
Weil die dysthymischen Zustände (scheinbar) an deren Stelle treten, hält Verf. auch
sie für Migräneäquivalente!
Dies sind alle Erfahrungen, welche ich in der Literatur aufzufinden
vermochte. Ich wende mich zu den von mir selbst gesammelten Beob-
achtungen.
Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie. 145
Beobachtung 15.*)
M., 18 Jahre alt, Lehrling in einer Hutfabrik, gelangte am 7. Fe-
bruar 1895 auf der psychiatrischen Klinik des allgemeinen Kranken-
hauses in Wien durch Intervention der Sicherheitsbehörde zur Aufnahme
Er hatte am 7. früh Morgens, auf der Strasse umherirrend, einen Sicher-
beitswachmann um Schutz vor den Menschen und vor ihn verfolgenden
Geistern gebeten.
Auf's Polizeicommissariat gebracht, erschien er ängstlich, gehemmt,
sah böse, verfolgende Menschen, hörte beständig seinen Vornamen
„August" rufen. Er wusste nur anzugeben, dass er so heisse, sonst
hatte er Alles vergessen, selbst den Familiennamen. Bei der Aufnahme
am Vormittag des 7. auf der Klinik ist er ängstlich, gehemmt, im Be-
wusstsein schwer gestört. Er vermuthet, aus Oesterreich zu sein, glaubt
sich in einer Kanzlei, hat 5 — |- 5 = 9, später = 11 Finger.
Er versteht ganz einfache Fragen nicht, weiss z. B. nicht, was
„Profession", „Religion", nach denen er gefragt wird, bedeutet Er kennt
die Geldmünzen des Alltagsverkehrs nicht, weiss sie ihrem Werth nach
nicht zu unterscheiden. Seine Vita anteacta vermag er nicht zu repro-
duciren, er ist aber auch ganz interesselos für die Gegenwart, für die
Umgebung, sucht sich nicht zu orientiren, lebt nur im Augenblick,
apathisch, still, äusserungs- und bewegungsunlustig. Am Nachmittag des
7. erscheint er ein wenig freier, aber er bleibt desorientirt, ohne Zeit-
mass. Die meisten Perceptionen erheben sich nicht bis zur Stufe der
Apperception. Viele Begriffe mangeln, andere sind höchst vag. TJrtheil,
Kritik, erlerntes Wissen (z. B. Rechnen) liegen ganz darnieder. Selbst
das mechanische Gedächtniss ist schwer geschädigt (Patient zählt die Monate
und die Wochentage lückenhaft und in ganz verkehrter Reihenfolge auf).
Erinnerungen sind aber leicht wachzurufen, ebenso Associationen,
wenn man ihm das Stück einer Gedankenreihe oder eines Satzes giebt.
Er weiss, dass er „walken" musste, vermag aber sein Gewerbe nicht
zu benennen. Als man es ihm nennt, agnoscirt er es.
Oft zuckt er zusammen, indem er sich plötzlich „August" rufen hört.
Seine Geliebte ruft ihn. Er fragt plötzlich, ob er ihr schreiben dürfe,
und schreibt dann ohne Mühe correct folgenden Brief:
„Geehrtes Fräulein! Ich ersuche Sie freundlich, mir Aufklärung
darüber zu verschaffen, warum Sie immerwährend mich beim Namen
rufen; es berührt mich nämlich dies schmerzlich. Sie sind ein zu ernst-
haftes Mädchen, als dass Sie mit mir einen so grausamen Scherz treiben
könnten. Deshalb ersuche ich Sie inständig um Aufklärung darüber.
Ihr ergebener AM"
*) Aus „Wiener kliu. Rundschau'' 1895, 40.
Krafft-Ebing, Arbeiten IV. 10
146 Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie.
Patient ist von kräftigem Wuchs. Schädelumfang 53 cm, steiler
Gaumen. Geringer Grad von Anämie, Puls 80, Temperatur normal,
Urin eiweiss- und zuckerfrei, vegetative Organe befundlos. Klagen über
stechenden Stirnkopfschmerz ; Pupillen übermittelweit, gleich, etwas träge
reagirend. Tiefe Reflexe normal, keine Stigmata Hysteriae aut Neur-
astheniae. Der Kopf ist weder percussions- noch druckempfindlich.
Im Laufe des 7. dämmern M. einige Erinnerungen auf. Er weiss
nun, dass er am Vortag Abends „heim ging". Da kam ihm ein Haufe
mit Stöcken und Säbeln bewaffneter Menschen entgegen und ging auf
ihn los. Er floh durch viele Strassen, erinnert sich, dass er die Ring-
strasse, den Votivkirchenplatz passirte, überall von dem Haufen bedroht
und verfolgt. Er floh über den Ring zurück, irrte Stunden lang umher,
bis er den Wachmann um Schutz bat.
Von da an hat er nur ganz summarische Erinnerung an Herren in
einem erleuchteten Zimmer (Polizeicommissariat), Wagenfahrt (nach dem
Spital), Zimmer, in welchem ein Herr schrieb (Spital). In der Nacht
auf den 8. schläft er unruhig einige Stunden.
8. Februar. Unverändert. Einige Erinnerungen vom Vortag haften,
aber sie werden falsch in der Vergangenheit, um Tage zurück, localisirt.
Patient hält die anderen Patienten für Geister, glaubt sich selbst im
Geisterreiche, todt, weiss aber nicht, wann er gestorben. Er hört sich
noch immer beim Namen rufen, bleibt erschöpft, ruhebedürftig. Er ist
partiell seelenblind, erkennt z. B. einen vorgezeigten Metallknopf nicht,
sofort aber, als man durch Aussprechen des Namens das acustische Er-
innerungsbild weckt.
Nach der ärztlichen Morgenvisite schreibt M. an seine Mutter mit
richtiger Adressangabe:
„Liebste Mutter! Ich bitte Sie inständig, besuchen Sie mich sobald
als möglich, da ich mich sehr einsam fühle und ich sehr melancholisch
bin. Es ist wohl schon sehr lange her, dass ich Sie nicht gesehen habe.
Ich weiss nicht, wo ich mich gegenwärtig befinde, auch leide ich an
heftigen Kopfschmerzen.
Ihr dankbarer Sohn
A."
Nachmittags kommt seine Mutter zu kurzem Besuch. Er ist erfreut,
sie zu sehen, aber auffällig gehemmt und nach den Angaben der Mutter
ganz anders als in gesunden Tagen. Diese weiss zur Erklärung des
Zustandes nichts beizutragen.
9. Februar. Patient hat die Nacht über gut geschlafen. Seine Miene
ist heute etwas freier. Er äussert keine Klagen über Stirnkopfschmerz.
Des Besuches der Mutter am Vortag erinnert er sich nicht. Er ist
Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie. 147
wesentlich in demselben psychischen Status wie gestern, unorientirt über
Zeit und Raum, geistig gehemmt his zur partiellen Worttaubheit, Seelen-
blindheit, hallucinirend.
In dieser Verfassung wird Patient als Fall von transitorischer
Geistesstörung in der Klinik vorgestellt, unbekannt auf welcher neuro-
tischen Grundlage, mit dem Hinweis auf die Aehnlichkeiten, aber auch
Verschiedenheiten, welche der Zustand gegenüber gewissen Bildern
transitorischer Psychose auf Grund neurasthenischer und epileptischer
Neurose biete.
Bis zum 10. Februar ändert sich am Bilde nichts. An diesem Tage,
Nachmittags 4 Uhr, löst sich plötzlich der traumhafte Ausnahmszustand.
Patient ist mimisch frei, vollkommen orientirt und geordnet Er hat
summarische Erinnerung für die wirklichen und delirirten Vorkommnisse
vom 6. bis 10. Februar. All' das stehe ihm wie ein Traum in der Er-
innerung. Bis zum 10., Nachmittags, habe er sich noch immer „August"
rufen gehört. Das sei natürlich eine Illusion gewesen.
Interessant gestaltete sich bei dem in der folgenden Beobachtung
sich ganz normal erweisenden und von Recidive verschonten M. die
Feststellung der Vita prämorbida und der einleitenden Symptome seines
Anfalls. Explorat stammt von einer Mutter, die vom 18. bis zum
36. Jahre an häufigen anfallsweisen, halbseitigen Kopfschmerzen mit
Uebelkeit, aber ohne Aura litt. Deren Mutter litt an Migräneanfällen
mit jeweiligem Erbrechen.
M. hat als kleines Kind an Rachitis gelitten und Convulsionen
gehabt; er war schwächlich, lernte erst mit 6 Jahren gehen, war geistig
gut begabt, Vorzugsschüler, nie schwer krank gewesen, von etwas jäh-
zornigem Temperament. Nach wiederholt aufgenommener Anamnese
sind bisher bei M. Erscheinungen einer neurasthenischen, epileptischen
oder hysterischen Neurose nie beobachtet worden. Dagegen leidet er
seit der Kindheit an anfallsweisem, heftigem, auf Stirn und in beiden Augen
localisirtem Kopfweh, dem häufig Flimmerscotom vorausgeht. Nie komme
es aber bei diesen Migräneanfällen, die, sobald er schlafen könne, sofort
schwinden, zu Uebelkeit oder Erbrechen, Parästhesie, Hemianopsie. Diese
Anfälle sind in ihrer Intensität ziemlich gleich, von ganz unregelmässiger
Wiederkehr. Seit einigen Jahren sei der Anfall immer von Flimmerscotom
als Aura durch etwa 3 Minuten eingeleitet; dasselbe spiele in allen
Farben des Regenbogens, jedoch sei die violette Farbe prävalent.
Seit l'/g Jahren war Patient in einer Hutfabrik als Lehrling. Er
war daselbst in keiner Weise angestrengt gewesen, aber er war unzu-
frieden in seiner Stellung, wünschte schon lange eine Aenderung, hatte
sich endlich, wobei er sich gemüthlich sehr erregte, entschlossen, den
10*
148 Ueber transitorische Geistesstörung bei Heraicranie.
Posten aufzugeben, am 4. Februar einen Abschiedsbrief an den Herrn
geschrieben und vom 5. ab sich bei einem Freund auf Besuch befunden,
dem M. heiter und ganz wie sonst vorgekommen war. Am 6. Februar
gegen Abend merkte M. an dem Auftreten von Scotoma scintillans die
Wiederkehr eines Migräneanfalls, der auch bald in ungewöhnlich heftiger
Weise sich einstellte. Aus diesem Grunde zog er es vor, zur Mutter
heimzugehen. Etwa eine halbe Stunde nach Auftreten der Aura dürfte
das hallucinatorische Delir eingesetzt haben.
Leider kann M. nicht bestimmt angeben, wann er seine Migräne-
schmerzen los wurde. Bestimmt lässt sich nur sagen, dass er am 8.
Nachmittags noch über solche klagte. Der Anfall transitorischer Geistes-
störung, welcher einen ungewöhnlichen, weil abnorm starken, lange an-
dauernden, durch Schlaf wie sonst sich nicht lösenden Migräneanfall
begleitete, überdauerte also diesen um etwa 36 Stunden. Als ich den
Fall publicirte, schrieb ich: „ich glaube berechtigt zu sein, einen klini-
schen Zusammenhang zwischen den beiden Symptomengruppen des
Migräne- und des psychischen Insultes anzunehmen. Am naheliegendsten
ist die Deutung im Sinne der Fortentwickelung einer umschriebenen
Störung in der Function der Hirnrinde (Migräne) zu einer diffusen
(Psychose) unter allerdings ausnahmsweise bestehenden besonderen Be-
dingungen. (Patient, der seither von Psychose verschont blieb, ver-
sicherte, dass er früher niemals anlässlich seiner häufigen Migräneanfälle
psychisch irgendwie leidend gewesen sei.)
Erweist sich meine Annahme stichhaltig, so gäbe es eine migränische,
transitorische Geistesstörung, gleichwie wir eine neurasthenische, epilep-
tische, hysterische kennen."
Bald nach der Entlassung des Patienten stellten sich täglich 2 bis
3 Mal, selbst mitten im Gespräch, Schlafanfälle ein, die etwa eine Viertel-
stunde dauerten und angeblich jeweils von Migräne eingeleitet waren.
Nach etwa 14 Tagen gesellten sich, während Patient in diesem Schlaf-
anfall war, allgemeine tonisch -cloniscbe Krämpfe von mehreren Minuten
Dauer hinzu, der Beschreibung nach epileptische. Die Dauer der Schlaf-
anfälle dehnte sich auf etwa 1 Stunde aus.
Patient wurde moros, reizbar, beschuldigte grundlos seine Mutter,
sie sei ihm schlecht gesinnt, weil er sich nichts verdienen könne.
Seit August 1895 Aufhören dieser Anfälle, wie auch der hemicra-
nischen Erscheinungen. Patient trat nun einen Dienst als Schreiber an.
Am 7. März 1896 hatte er einen Verdruss mit seinem Vorgesetzten
gehabt. Nachmittags 5 Uhr war er noch ganz wohl und unauffällig bei
einer befreundeten Familie gewesen. Von da ab ging seine Spur verloren.
In der Nacht zum 9. März wurde Patient aufs Polizeicommissariat
Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie. 149
gebracht, weil er, in den Strassen umher irrend, einen Wachmann um
Schutz vor imaginären Verfolgern gebeten hatte.
In der Klinik wurde er in tiefem Dämmerzustand aufgenommen.
Er war ganz desorientirt, in sich versunken, körperlich und psychisch
erschöpft, schreckte auf, wenn man an ihn das Wort richtete, faselte von
Menschen, die ihn bedroht hätten, gab sonst richtige, aber spärliche
Auskünfte, glaubte andauernd, es sei der 7. März, klagte über diffusen
Stirnkopfschmerz, lag ruhig im Bette, schlafbedürftig, fieberlos, mit weiten
Pupillen und blassem Gesicht. Gesichtsfeld nicht eingeschränkt, Trige-
minus nirgends druckempfindlich. Am 10. März Abends kommt Patient
rasch zu sich.
Er hat summarische Erinnerung dafür, dass er am 7., als er hörte,
dass seine Mutter um ihn besorgt sei (er hatte in letzter Zeit Lebens-
überdruss geäussert) heim wollte, auf dem Heimweg Kopfweh bekam,
ängstlich, verwirrt wurde, herumdämmerte, im Gedanken, sich zu retten,
mit der Bahn fortfuhr. Thatsächlich fuhr Patient nach W.-Neustadt,
übernachtete im Freien, brachte am 8. Vormittags, weil ihn fror, mehrere
Stunden daselbst in einer Kirche zu. Darauf fragte er einen Mann, wo
er sei, erfuhr, dass er 10 Stunden von Wien entfernt sei. Er war er-
staunt, beschloss, da er kein Geld hatte, zu Fuss nach Wien zu gehen.
Unterwegs hörte er grossen Lärm, sah in weiter Entfernung einen
Haufen von mit Stöcken und Säbeln bewaffneten Menschen auf ihn los-
stürzen und ihm zurufen „wir werden Dich erstechen'1. Er floh, gelangte
endlich nach Wien, dämmerte den 9. Tags über in den Strassen herum,
sah immer noch ab und zu in gleicher Entfernung Verfolger und bat
endlich einen Wachmann um Schutz.
Patient bot seit dem 10. März Abends keine psychopathischen
Symptome mehr und wurde nach einigen Tagen entlassen.
Beobachtung 16.
Kr., J., 46 Jahre, Geschäftsmann, kam laut Angabe des Polizei-
commissariats am 15. Januar 1896 Morgens in die Aufnahmskanzlei des
allgemeinen Krankenhauses in Wien und verlangte, man solle ihm einen
grossen Stein, den er im Kopfe habe, entfernen, da er vorher nichts
essen könne.
Aufs Commissariat gewiesen, wiederholte er diese Angabe, erschien
sehr niedergeschlagen und verwirrt. So äusserte er u. A., er sei 300 Jahre
alt, im gelobten Lande geboren, wo er die Bekanntschaft mehrerer
Heiligen gemacht habe. Während der polizeiärztlichen Exploration setzte
er sich einen Lampenschirm als Hut auf den Kopf, um auf einen Lall
zu gehen u. s. w.
Am 15. Januar Abends auf der Klinik aufgenommen, erscheint er
150 Ueber transitorische Geistesstörung bei Heraicranie.
moros, einsilbig, zeitlich und örtlich ganz desorientirt, faselt von einem
Stein im Kopf, den man da (Stirngegend) entfernen müsse. Er giebt
an, an dieser Stelle heftigen Kopfschmerz zu haben. Druck und Per-
cussion sind daselbst nicht empfindlich, Temperatur, vegetative Functionen
normal. Patient schläft etwas in der Nacht zum 16., klagt neuerdings
über Schmerz und Stein im Kopf, bleibt Tags über ruhig, apathisch, ver-
wirrt zu Bett, behauptet, er habe Heilige gesehen, u. A. den heiligen
Petrus, ganz weiss gekleidet.
Abends 9 Uhr kommt Patient aus diesem dämmerhaften Zustand
zu sich und orientirt sich mit Hilfe des Wärters über die Situation.
Am 17. früh findet man ihn geistig vollkommen klar.
Er weiss nichts von allen Vorkommnissen während seines psychi-
schen Ausnahmszustandes.
Kr. berichtet von ab und zu vorkommenden Anfällen von rechtsseitigem
Kopfschmerz, die bis zu 2 Tagen dauern. Sie beginnen mit schwarzen
Flecken im Gesichtsfeld, die mit dem Auftreten des Schmerzes schwinden.
Er leide während dieser Anfälle an optischer und acustischer Hyper-
ästhesie, habe Uebelkeit, Brechreiz, ohne dass es jedoch zum Erbrechen
komme. Dabei sei er arbeitsfähig, aber vergesslich und schlafe schlecht.
Solche Anfälle, an denen auch sein Vater gelitten habe, kehren alle
paar Monate wieder, besonders nach Potus, dem er aber nicht übermässig
huldige.
Patient ist die folgenden Beobachtungstage ganz geordnet, frei von
Kopfschmerz.
Im Status praesens sind weder Zeichen von Alcoholismus noch von
Neurasthenie aufzufinden. Auch die Nachforschung nach epileptischen
oder hysterischen Antecedentien fällt negativ aus.
Patient hat vor 4 Jahren einen Sturz auf den Kopf erlitten und
eine ca. 2 cm lange, leicht verschiebbare Narbe am rechten Arcus
superciliaris zurückbehalten, aber diese Narbe ist nicht druckempfindlich
und nach seiner Angabe niemals der Ausgangspunkt seiner Kopf-
schmerzen. Der Augenspiegelbefund ergiebt beiderseits leichte Neuritis
optica. Im Uebrigen ist an dem kräftigen Manne nichts Pathologisches
«ufzufinden. Dem psychischen Ausnahmszustand war Genuss mehrerer
Viertel Wein am 14. Abends vorausgegangen. Am frühen Morgen des
15. war Kr. mit rechtsseitigem Kopfweh erwacht. Genesen entlassen am
18. Januar 1896.
Beobachtung 17.
St. M., Wittwe, 36 Jahre, Handarbeiterin, wurde am 30. Mai 1896
Nachts 108/4 als irrsinnsverdächtig von einem Wachmann aufs Commis-
sariat gebracht. Derselbe hatte sie auf einem Platz vor der G.-Kirche
Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie. 151
sitzend getroffen, wo sie angeblich ihren (verstorbenen) Gatten erwartete,
der ihr versprochen habe, sie um 12 Uhr früh abzuholen. Auf dem
Commissariat wurde sie unruhig, rief nach ihrem Philipp, der ihr gesagt
habe, er werde sie mit dem Kinde abholen. Sie habe ihren 1891 ver-
storbenen Mann gebeten, zu ihr zu kommen, da alle Welt sie als Diebin
bezeichne und auf sie mit den Fingern deute. Sie besitze noch eine
13jährige Tochter, die sich auf ihrer Villa befinde. Sie selbst sei in
einem Hotel als Stubenmädchen bedienstet. Im Uebrigen sind von der
ganz desorientirten Patientin keine präcisen Auskünfte zu erlangen. Sie
ist in fortwährender Aufregung, rauft sich die Haare aus und erwartet
mit grösster Ungeduld ihren Philipp.
Auf der Klinik am 31. Mai aufgenommen, ist sie schwer verwirrt,
glaubt sich im Hotel, in welchem sie bisher bedienstet war, klagt über
heftiges Kopfweh, erwartet angstvoll ihren Philipp und weint, weil er
noch nicht kommt.
Die Personen der Umgebung werden als Hotelbedienstete verkannt.
Patientin giebt ihr Alter auf 48 Jahre an, glaubt sich im April 1880.
Sie klagt, dass man allseitig sie für eine Diebin halte.
Patientin ist afebril, das rechte Os temporale und der angrenzende
Theil des Os parietale höchst druckschmerzhaft und der Sitz spontaner
Schmerzen.
Nach einer Morphiuminjection schläft Patientin einige Stunden, wird
freier, weiss nichts von allem Vorgefallenen, bis auf Kopfschmerzen,
orientirt sich, bleibt aber moros, über Kopfweh klagend, zeitlich unklar.
Am 2. Juni Menses.
Am 3. Juni, unter neuerlichem heftigem Kopfschmerz wieder ganz
unorientirt und delirant. Sie jammert wieder nach ihrem Mann, der viel
zu lange ausbleibe, giebt gleichzeitig zu, Wittwe zu sein, ohne einen
Widerspruch darin zu finden. Dabei Klagen, dass man sie ungerecht
für eine Diebin erklärt habe.
Am 5. Juni wird Patientin lucid. Sie erzählt, dass sie schon oft
solche Anfälle von Kopfweh gehabt habe, aber nie so heftig. Es beginne
mit Flimmerscotom auf dem rechten Auge, dann komme rechtsseitiger
Kopfschmerz, Uebelkeit.
Ihre Hemicranie habe mit 19 Jahren tempore primae rnenstruationis
begonnen.
Ueber ihre Familie und etwaige familiäre Disposition vermag Patientin
nur zu berichten, dass die Schwester an Migräne leide, ihre Tochter
nervös und eine Cousine epileptisch sei. Die Heftigkeit des diesmaligen
Anfalls von Migräne motivirt sie mit einer schweren Gemüthsbewegung.
Sie wurde nämlich im Hotel, wo sie bedienstet war, am 22. Mai eines
152 Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie.
Diebstahls beschuldigt, ihre Effecten in Gegenwart eines Polizisten durch-
sucht. Sie hatte sich sehr über diesen Vorfall aufgeregt. Nachdem sie
am 23. Mai ein Verhör bei der Polizei zu bestehen gehabt hatte, war ein
aussergewöhnlich heftiger Anfall von ophthalmischer Migräne aufgetreten
mit mehrstündiger Amnesie. Seither hatte bei ihr ein Status hemicranicus
bestanden, mit täglichen Exacerbationen, begleitender psychischer Störung
und auch für die Remissionszeiten nicht lückenloser Erinnerung.
Vom 26. Mai erinnert sich Patientin, dass sie ganz verstört über
die ihr angethane Kränkung war, dass sie die Absicht hatte, das Grab
ihres Gatten zu besuchen, um sich dort auszuweinen, aber vor Kopf-
schmerz und Flimmern vor dem Auge auf halbem Wege umkehren
musste.
Am 27. und 28 war sie etwas freier im Kopf, trug sich mit Gedanken,
eine andere Stelle zu suchen. Vom 29. und 30. weiss sie nur wenig
zu berichten, u. A. von ihrem Kummer als Diebin zu gelten, von
heftiger Migräne. Bezüglich der Tage vom 30. Mai bis 5. Juni fehlt
jegliche Erinnerung. Ihr Lucidwerden trat ziemlich plötzlich ein und
fiel zeitlich fast zusammen mit der Mittheilung ihrer sie besuchenden
Cousine, der Dieb sei eruirt und sie selbst sei wieder unbescholten.
Frau St. blieb bis auf einen leichten Migräneanfall, nach Gemüths-
bewegung entstanden am 10. Juni, ganz wohl. Die genaueste Anamnese
und Untersuchung vermochte weder hysterische noch epileptische Zeichen
aufzuweisen.
Am 30. Juli 1896 wurde Patientin zum zweiten Male der psychia-
trischen Klinik zugesendet. Der polizeiärztliche Bericht enthielt nur die
Notiz, dass die Patientin sehr aufgeregt sei, nach ihrer „Burg" wolle
und ihre sämmtlichen Diener um sich zu haben verlange.
Bei der Aufnahme auf der Klinik ist sie desorientirt, verwirrt,
delirant, faselt von ihrer Burg, grossem Besitz, glaubt sich dazwischen
in einem Krankenhause, sei daselbst aufgenommen wegen heftigem Kopf-
weh. Die ihr von früherem Aufenthalt bekannten Räume und Personen
erkennt sie nicht. Gesicht sehr blass. Die ganze rechte Gesichts- und
Kopfhälfte sehr druckempfindlich. In der Nacht zum 31. etwas Schlaf.
Am 31. Mai um 5 Uhr, unter Aufhören des Kopfwehs, kommt Patientin
plötzlich zu sich, ist sofort orientirt, berichtet, dass sie seit 27. Juli
beschwerdelos menstruirte, am 30. früh mit ihrer Migräne erwachte,
mühsam ihren Geschäften nachging, mehrmals erbrach. Um circa 9^ Uhr
begann der psychische Ausnahmszustand, für dessen Dauer bis zum
31. Nachmittags Patientin vollkommen amnestisch ist. Der Migräne-
anfall sei diesmal ungewöhnlich heftig quoad Schmerz gewesen. Sie
schreibt dies der grossen Sommerhitze und der Arbeit in der dumpfen,
Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie. 153
heissen Küche zu. Der vorletzte Anfall von ophthalmischer Migräne
vom 12. — 13. Juli war ohne alle psychische Störung abgelaufen.
Patientin erhielt bei der diesmaligen Entlassung (3. August) den
Rath, praemenstrual 5.0 Kai. Brom, pro die und bei drohendem Anfall
1.0 Phenacetin zu nehmen.
Beobachtung 18.
H. Th., 21 Jahre, Bauersfrau, stammt von einer Mutter, die viel
an Cephalaea gelitten hat. Nervenkrankheiten, speciell Epilepsie und
Hemicranie sind in der Familie nicht vorgekommen. Patientin war
früher gesund, menstruirte vor Jahren zum ersten Mal ohne Beschwerden,
seither regelmässig, heirathete vor einem halben Jahre. 2 Monate vor-
her erkrankte sie an heftigen Kopfschmerzanfällen, die sich seither etwa
alle 14 Tage wiederholten.
Eingeleitet wird der Anfall jedesmal von Aengstlichkeit und Bangig-
keit. Dann kommen stechende Kopfschmerzen über beiden Augen. Diese
Schmerzen sind nun das Hauptsymptom während der 2tägigen Dauer
des Anfalls.
Episodisch sieht Patientin graue glänzende Wolken vor den Augen.
Diese Erscheinung wiederholt sich mehrmals während der Zeit des An-
falls und fällt mit Exacerbation der Schmerzen zusammen (Status hemi-
craniae ophthalmicae?).
Patientin fühlt sich sehr unwohl im Anfall, klagt über heftiges
Kältegefühl in Händen und Füssen, hat grosses Ruhe- und Schlaf-
bedürfnis«, erträgt nicht Licht noch Geräusch und bleibt am liebsten
allein im dunklen Zimmer. Sie schläft wohl auch bei Tage ein, empfindet
flüchtige Erleichterung davon. Zu Erbrechen kam es nur einmal. Seit
einiger Zeit sind diese Anfälle heftiger geworden, gehen mit Bangigkeit
einher und dauern bis zu 4 Tagen. Die beiden letzten Anfälle Ende
Juli und 11. — 14. August waren besonders schwer.
Sie gingen mit psychischer Störung einher, die nach 1 — 2 tägiger
Dauer der Kopfschmerzen einsetzte und weitere 2 Tage andauerte.
Patientin wurde ganz verwirrt, gab verkehrte Antworten, lachte und
weinte ganz unmotivirt. Sie wollte immer davon gehen und konnte nur
mit Gewalt davon abgehalten werden. Die Erinnerung war für diesen
Zeitraum eine ganz summarische.
Patientin behauptet, seit Beginn ihrer Krankheit vergesslich geworden
zu sein. Auch käme es vor, dass sie etwas sage oder thue, von dem
sie hinterher nichts wisse. Petit mal-artige Zustände haben aber die
Angehörigen nicht beobachtet, auch fehlen alle Anhaltspunkte für die
Annahme einer epileptischen oder hysterischen Neurose. Patientin ver-
weilte zur Beobachtung vom 17. — 28. August 1896 auf meiner Klinik.
154 Ueber transitorische Geistesstörung bei Heinicranie.
Intelligente Frau, normaler Schädel, Centralnervensystem und vege-
tative Organe ohne Befund.
Bedeutende Druckempfindlichkeit des 1. linken und des 1. und 2.
rechten Trigeminusastes.
Am 17. August durch 1 Stunde heftige stechende Stirnkopfschmerzen.
Am 19. August Menses.
In der kurzen Zeit der Beobachtung war kein weiterer Anfall ein-
getreten.
Beobachtung 19.
Herr F., 48 Jahre, Kaufmann, stammt aus sehr nervöser Familie,
in der jedoch Migräne und Epilepsie bisher nicht vorgekommen sein
sollen. Patient war von entschieden neuropathischer Constitution, seit
der Jugend beruflich angestrengt, seit etwa 6 Jahren deutlich neur-
asthenisch. Epileptische und hysterische Antecedentien fehlen durchaus.
Schwere Krankheiten hat Patient nie durchzumachen gehabt, speciell
nicht Lues. Seit etwa 5 Jahren hat Patient zeitweise, besonders nach
beruflicher Anstrengung oder Emotionen, Anfälle von heftigem halb-
seitigem Kopfschmerz, die Morgens früh beim Erwachen einsetzen und
bis Nachmittags dauern. Häufig, aber nicht immer, geht ihnen das
Gefühl voraus, als ob ein Schleier vor dem rechten Auge sich befinde.
Nie kommt es zu Flimmerscotom. Das anfallsweise Auftreten eines
Schleiers vor dem rechten Auge erfolgt häufiger, ohne dass ein Anfall
von Kopfweh erfolgte. In diesem besteht Anorexie, leichte TJebelkeit,
jedoch kam es nie zu Erbrechen. Seit 2 Jahren, wohl veranlasst durch
Sorgen über schlechten Geschäftsgang, sind die Anfälle heftiger und
häufiger geworden.
Als Patient seiner neurasthenischen Beschwerden wegen sich ent-
schloss, blos seiner Gesundheit auf dem Lande zu leben, bleiben jene
aus. So oft er es versuchte, wieder in seinem Berufe thätig zu sein,
kehrten sie wieder.
Seit dem October 1893 haben sich zur Zeit solcher Anfälle wieder-
holt Störungen der Geistesfunktion gezeigt.
Am 9. Januar 1894 sah ich ihn zum ersten Mal in einem solchen
Zustand. Er lag zu Bett, war blass im Gesicht, afebril, Puls 56. Das
Bewusstsein war schwer gestört. Auf Ansprache reagirte Patient nicht
Er klagte über heftigen linksseitigen Kopfschmerz. Druck in der Gegend
des linken Schläfebeins wurde schmerzhaft empfunden. Einen Eisumschlag
appercipirte er als steifen Hut und wollte sich desselben entledigen.
Seine Frau gab an, der Anfall sei, gleich den gewöhnlichen, aus
dem Schlaf heraus, unter Kopfweh erfolgt. Ihr Mann sinke dann plötz-
lich zusammen, wisse nichts mehr von sich und phantasire dann gleich.
Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie. 155
Sein Delir drehe sich um schlechten Geschäftsgang, finanziellen Eiün, in den
er verwickelt sei. Er beklage Frau und Kinder, die er um das Vermögen
gebracht habe, jammere über seinen Kopfschmerz, verlange ins Spital,
aber unentgeltlich, da er nichts mehr habe, sonst müsse er sich umbringen.
Der Anfall dauere so gegen 8 Stunden, endige mit Schlaf, aus dem
Patient mit völliger Amnesie für die Vorgänge in der deliranten Zeit, frei
von Kopfweh erwache und bis auf eine Sensation von „Hohlsein" im Kopf
sich wohl fühle. Intervallär sei er ohne Beschwerden, falls er sich schone.
Am 9. Februar 1894 hatte ich Gelegenheit, einen dem früheren
typisch gleichen Anfall zu beobachten. Patient jammerte über seinen
Kopf, war auf Druck und Percussion höchst empfindlich in der linken
Schläfegegend, verlangte stürmisch ins Spital, sonst geschehe ein Unglück,
war ganz unorientirt über seine Lage, kannte die Umgebung nicht,
stöhnte stundenlang vor sich hin.
Dieser Anfall soll bis zum 10. Februar Nachmittags gedauert und
sich plötzlich, diesmal ohne Schlaf, gelöst haben.
Für die Zeit des Anfalls bestand völlige Amnesie.
Intervallär bot Patient bis auf leichte neurasthenische Beschwerden,
nie etwas Pathologisches.
Ich gab nun 3.5 Natr. brom. und 1.0 Antipyrin pro die und erfuhr 1895,
dass Patient, der von der Leitung seines Geschäftes sich zurückgezogen
habe, von neuerlichen Anfällen seiner Krankheit verschont geblieben sei.
Beobachtung 20.
Am 13. Mai 1895 erschien in meiner Sprechstunde ein löjähriger
Schüler in Begleitung seiner Mutter, die, gleichwie ihr Mann, an Migräne
leidet. Mit 11 Jahren stellte sich auch bei dem Sohn das Leiden der
Eltern ein und zwar zunächst als gewöhnliche Hemicranie.
Seit 6 Wochen hat sich bei ihm die Migräne mit Flimmerscotom
vergesellschaftet und ist ungewöhnlich heftig geworden. Sie stellt sich
alle paar Tage ein, dauert aber nur etwa P/a Stunden.
Gleich mit dem ersten Anfall der Migraine ophthalmique, die nun
auch angeblich mit Hemiopie einhergeht, stellten sich ganz sonderbare
psychische Reactionserscheinungen ein. Patient ist, solange der Anfall
dauert, wie „toll", es ist mit ihm „nicht zu verkehren"
Er „tobt und wüthet", zerschlägt und zerreisst, was ihm nur in die
Hände fällt, stösst sich den Kopf an die "Wände, bis er blutet, beisst
sich in die Hand. Für das im Anfalle Vorgekommene besteht voll-
ständige Amnesie. Patient ist ein riesiger Dolichocephalus, der Schädel
deutlich rachitisch. Er war von Kindsbeinen auf nervös, reizbar, jäh-
zornig. Alle Hinweise auf Epilepsie fehlen völlig. Auch in der Ascen-
denz und Blutsverwandtschaft giebt es keine Epileptiker. Die Stirne ist
156 Ueber transitoiisctae Geistesstörung bei Hemicranie.
contusionirt. Mein Rath, den Kranken der Klinik zu übergeben behufs
Feststellung der Diagnose, wurde acceptirt, aber nicht befolgt. Das
psychische Verhalten dieses degenerativen Individuums scheint mir
Reactionserscheinung auf den Migräneschmerz, aber dieselbe ist ganz
absonderlich und mindestens als pathologischer Affect zu bezeichnen.
Beobachtung 21.
P., 17 Jahre, Conditorlehrling, hat einen asymmetrischen, submicro-
cephalen (53 cm) rachitischen Schädel.
Muttersmutters Schwester endigte durch Suicidium. Mutters Schwester
litt seit der Kindheit an simpler Migräne. Seit dem Klimacterium bekam
sie auf der Höhe besonders intensiver Migräne anfalle solche von Bewußt-
losigkeit ohne Krämpfe, in der Dauer von 2 Stunden.
Deren Sohn leidet an typischer Migräne.
Patient selbst war gut begabt, hat aber seit dem 15. Jahr alle
8 — 14 Tage Migräneanfälle, beginnend frühmorgens beim Erwachen mit
Drehschwindel und Erbrechen, welche Symptome etwa 5 Minuten dauern.
Dann kommt acustische Hyperaesthesie, bifrontaler stechender Kopf-
schmerz und plötzliches Kraftloswerden beider Oberextremitäten, die
gefühllos werden von der Peripherie bis zu den Schultern herauf; neigt
Patient den Kopf nach vorwärts, so kommt es sofort zu Erbrechen.
Gegen Mittag endigt der Anfall. Intervallär ist Patient ganz wohl.
Am 6. Januar 1896 war wieder ein solcher Anfall Mittags vorüber.
Am 7. Januar Abends ertheilte ihm der Geschäftsführer einen Ver-
weis und gab ihm einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. Patient war
darüber sehr erregt, empfand einen leichten Druckschmerz am Hinter-
kopf, aber nicht den gewöhnlichen Stirnkopfschmerz des Migräneanfalls.
Er legte sich bald zu Bett, schlief einige Zeit unruhig, erwachte in der
Nacht zum 8. Januar, äusserte lebhafte Angst vor ihm unbekannten
Männern, die ihn berauben, erschlagen, verbrennen wollten.
Auf das Commissariat gebracht, war Patient schreckhaft, klagte über
Männer, die ihn mit Drohungen obigen Inhalts verfolgen, mit Messern,
Stangen über ihn herfallen wollen. Er wolle die Sache der Polizei an-
zeigen und dann recht weit hinein nach Italien flüchten.
Im Spital stat. idem bis 8. Abends, dann plötzliche Lösung der
Psychose und volle Lucidität. Patient hat summarische Erinnerung für
seine Krankheitserlebnisse — er sah Männer in drohender Haltung, die
ihm mittheilten, sie würden ihn erschlagen und verbrennen.
Er erinnert sich nur dunkel seiner Verbringung ins Krankenhaus.
Während der ganzen Dauer des hallucinatorischen Delirs habe
er keinen Kopfschmerz, überhaupt keine Symptome seines
Migräneanfalls gehabt. Dieser Anfall von Delir sei der erste in
Ueber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie. 157
seinem Leben gewesen. An Patient sind in der Folge keine Krankheits-
symptome zu ermitteln. Er bot keine Stigmata hysteriae, auch keine
epileptische Antecedentien und wurde nach wenigen Tagen entlassen.
Auch die vorausgehende, die Beobachtungen 11 — 21 umfassende
Casuistik giebt keine Gewissheit, dass es eine eigene Psychosis transi-
toria hemicranica giebt.
Fall 11 möchte ich als symptomatische Hemicranie (sensibler Jackson!)
mit folgendem postepileptischem Aufregungszustand ansprechen.
Auch 12 (epilepsieverdächtige anamnestische Thatsachen — Con-
vulsionen in der Kindheit, Somnambulismus) ist als psychisch epilep-
tisches Aequivalent deutbar.
Fall 14 ist durch mehrmalige Dämmerzustände ebenfalls epilepsie-
verdächtig. Die posthemicranischen hallucinatorisch-deliranten Zustände
sind von zweierlei Charakter, die einen 1/i — '/2 Stunde dauernd, mit
Amnesie, die anderen 3 Tage während, ohne Erinnerungsdefekt. Die
ersteren können epileptische Bedeutung haben, wobei die übrigens simple
Hemicranie der Agent provocateur gewesen sein könnte; die letzteren
mögen in einer Beziehung zum hemicranischen Anfall stellen, in der
reaktiven Weise, wie sie Verf. zu erklären sucht.
Fall 15 glaube ich als epileptisches psychisches Aequivalent an-
sprechen zu dürfen, zumal da die Hemicranie später dem psychischen
Insult gleichwerthige Anfälle von epileptischer Marke (Schlafanfälle, solche
mit Convulsionen, Dämmerzustände mit Deambulatio und schreckhaften
Gesichtshallucinationen ) auslöst.
Ueberdies sind die Hallucinationen im letzten Anfall dem 1. an-
scheinend hemicranischen congruent.
In den übrigen Fällen schwindet die klinische Basis der epilep-
tischen Neurose.
Davon könnte Beobachtung 17 ein blosses Affectdelir sein, das sich
neben einer Hemicranie praemenstrual abspielte, wenigstens giebt es
genug solcher Fälle ohne hcmicranische Complication.
Im 2. freilich inhaltlich (Grössendelir) ganz anders gearteten Anfall
fehlen alle Beziehungen zu einem Affect und ist ein möglicher Zusammen-
hang der Psychose mit Hemicranie nicht auszuschliessen.*)
*) Während des Druckes dieser Arbeit kam Patientin neuerlich (23. December 1896)
zur Aufnahme auf der Klinik, wesentlich im gleichen Zustande (transitorische Geistes-
störung und Hemicranie) wie die beiden ersten Male. Diesmal gelang aber der Nach-
weis einer hysterischen Neurose (1. Hemianaesthesie , 1. Ovarie, 1. starke concentr. Seh-
feldeinschränkung als Dauersymptome, r. Ovarie, r. Hemihyperalgesie, Clavus tempor.
insultus) sodass mögliche Beziehungen der transitorischen Psychose zur hysterischen
Neurose nicht von der Hand zu weisen sind, zumal da eine neuerlich aufgenommene
Anamnese frühere Lethargusanlälle wahrscheinlich macht.
158 lieber transitorische Geistesstörung bei Hemicranie.
Fall 19 (nihilistisches Delir auf der Höhe hemicranischer Anfälle)
lässt eine Beziehung zu dieser Neurose zu. Das „Wie" ist frag-
lich, möglicherweise durch den körperlichen Schmerz provocirtes
Affectdelir.
Fall 20 gestattet kaum eine andere Deutung als die einer psychischen
Reaction auf den Schmerz im Sinne eines pathologischen Affects.
Fall 21 (simple Hemicranie, 1 Tag nach deren Ablauf, im Anschluss
an einen Affect, hallucinatorisches schreckhaftes Delir) findet seine ein-
fachste Erklärung unter der Annahme eines Affectdelirs.
Es bleiben als unanfechtbare Beispiele von mit Migräne und zwar
ophthalmischer in engen klinischen Zusammenhang tretenden Fällen nur
Beobachtung 13, 16, 18 übrig. In 13 besteht Verwirrtheit mit Gesichts-
hallucinationen, in 16 ein Dämmerzustand mit religiösen Delirien, in
18 Verwirrtheit.
Daraus lassen sich keine sicheren ätiologisch-klinischen Schlüsse
ziehen. Die Aehnlichkeit mit gewissen psychisch epileptischen Bildern
ist nicht zu verkennen.
Wäre die These der epileptischen Bedeutung der ophthalmischen
Hemicranie (Fere) erwiesen, so würden auch jene Fälle als psychische
Aequivalente anzusprechen sein.
V.
ZUR „INTERMITTENS LARVATA".*)
*) Wiener med. Presse. 1892. 1.
Am 13. Februar 1889 wurde A. S., Arbeiter aus Krain. auf die
Grazer Nervenklinik wegen angeblicher Epilepsie aufgenommen.
Patient ist 29 Jahre alt, unbelastet, kein Potator. In der Jugend
gesund, keine Fraisen. Keine epileptischen Antecedentien. Vor 5 Jahren
Rheumatismus articulor. acutus mit Endocardilis (restirende Insuff. valvul.
mitralis). Im August 1886 erkrankte Patient in Laibach an Febris inter-
mittens (Tertiana). Er lag 3 Monate deshalb im Spital, bekam vorüber-
gehend Chinin. Die Anfälle wurden seltener und schwanden gänzlich.
Sie waren niemals mit Delirien oder epileptischen Insulten complicirt
gewesen. Er blieb gesund bis zum Juni 1888. Da kehrte das Fieber
wieder, Anangs nur 2 — 3 mal im Monat.
In einem solchen Fieberanfall stürzte er in einen Canal und trug
eine leichte Verletzung am r. Processus mastoideus davon. Seit diesem
Sturz Abnahme der Sehkraft, zeitweises Flimmern und Schwarzwerden
vor den Augen.
Zwei Tage nach dem Sturz (Ende Juni 1888) Anfall von bewusst-
hisem Hinstürzen. Dauer 1 Minute. Keine Krämpfe.
Nach 1 Monat zweiter ähnlicher Anfall.
Im August 2 Anfälle.
Im September Anfälle fast täglich mit postparoxysmalen Dämmer-
zuständen von Minuten bis zwei Stunden Dauer. Dabei Delirien. Patient
sah sich in einem schönen Garten, sah viele Wägen, mit Schimmeln
bespannt. Patient hatte für diese Erlebnisse des Deliriums nur höchst
summarische Erinnerung.
Seit 14 Tagen will er täglich neben diesen Anfällen auch an solchen
von Fieber gelitten haben.
Patient geht fieberlos zu. Er ist gross, kräftig, anämisch, in der
Ernährung reducirt.
Schädel normal. Am r. Processus mastoideus eine 2 Cm. lange,
horizontale, auf Druck nicht schmerzende Hautwunde, mit einem kleinen
hygromartigen Gebilde. Die Anfälle gehen nie auraartig von dieser
Stelle aus. Gehirnnerven normal. Geringer Grad von Amblyopie. Seh-
feld nicht eingeengt. Farbenempfindung intact. Augenspiegel negativ.
Sensibilität normal. Keine Stigmata hysteriae. Milz vergrössert. Sonst
K r.i ri t -K I. i ii lt . Arbeiten V. U
162 Zur „Iutermittens larvata".
keine vegetativen Anomalien. Urin ohne Albumin und Zucker. Ord.
5.0 Bromkali pro die.
17. Februar. Patient klagt über Frieren, springt aus dem Bette,
stürzt bewusstlos zu Boden, bietet einige Minuten clonische Krämpfe
in allen Extremitäten, erscheint dann noch eine Weile dämmerhaft.
19. Februar. Heute 3 Anfälle = 17, hintereinander. Darnach
1 Stunde delirant (meint, er sei auf einem Ball, hört schöne Musik,
wähnt sich dann in einer Kirche, betet. Dann schreckhaftes Delirium —
verkriecht sich unter's Bett).
Temp. im Beginn der Anfälle 38.5, Abends 39.7. Milz stark geschwellt.
21. Februar. Ohne Aura heute 5 Anfälle mit 1/i Stunde Intervall
nach dem 3. Anfall. Im Anschluss an den 5. schreckhaftes Delirium
(Patient schlägt wie wüthend um sich und bäumt sich auf mit stierem Blick).
Dann kurzes Stadium mit tonischer Starre der Extremitäten mit
folgendem schreckhaftem Delirium (Sichverkriechen unter's Bett), aus
welchem Patient rasch zu sich kommt.
28. Februar. Abortiver Anfall mit folgendem Delirium (glaubt sich
bei einer Tanzmusik, wird dann ängstlich, sieht sich von einer Menge
Menschen verfolgt, meint in einen Abgrund zu stürzen).
Keine Temperaturerhöhung.
3. März. Patient wird heute plötzlich bewusstlos, stiert vor sich
hin. Darauf blindes Umsichschlagen, Aufbäumen, Hin- und Herschleudern
des Körpers. Augen geschlossen. Ab und zu Zähneknirschen. Wird
dann ruhiger, murmelt vor sich hin, delirirt davon, dass er Geld gestohlen
habe, angezeigt sei. Er glaubt sich in einem Gebüsch, schreckt plötz-
lich vor einem Mann, der ihn schlagen will, zurück. Er glaubt sich
in Triest, wird allmälig ruhig und lucid. Solcher Anfälle werden 8 hinter-
einander beobachtet. Vor dieser Serie klagt er über Frösteln.
Temp. 36.8. Nach den Anfällen 39.0, bis Abends auf 38.7 zurückgehend
7. März. Heute 2 Anfälle, Dauer 4 — 6 Minuten, angeblich mit
völliger Extremitätenstarre. Temp. 38.0.
8. März. Temp. 6 Uhr früh 36.3. Um 7 Uhr 2 Anfälle; danach
38.9. Von heute an täglich 0.3 Chinin.
12. März. Temp. 7 Uhr früh 37.9, kurz vor Anfällen gemessen,
deren 4 von 7 — 8 Uhr mit Delirium beobachtet werden.
Milz vergrössert (13.5 Cm. lang, 12 breit), Temp. um 8 Uhr früh
39.7, Nachmittags 4 Uhr 38.5, Abends 36.7.
15. März. Heute aus vollem Wohlbefinden Anfälle von 2—5 Uhr
Nachmittags. Temp. früh 36.6, um 2 Uhr 37.5, 4 Uhr 39.5, 6 Uhr 38.2.
Der Anfall beginnt mit Frösteln. Nun Verlust des Bewusstseins,
Zähneknirschen, allgemeine tonische Starre, darauf kurzes Aufbäumen,
Zur „Intermittens larvata" 163
Opisthotonus, Kissenbohren, Pusten, Blasen. Bulbi nach oben fliehend,
anästhetisch. Pupillen maximal erweitert, nicht reagirend, krampfhafte
Respiration, unarticulirte Laute. Nach kurzer Pause neuer Insult, ein-
geleitet durch schreckhaftes Umherblicken. Nun wieder Zähneknirschen,
allgemeine Starre; die Wangen blähen sich bei der Exspiration segel-
artig auf, zeitweise clonischer Krampf im 2. und 3. r. Facialis. Nach
einigen Minuten ist der Krampf vorüber. Nun tiefer Traumzustand mit
Delirium. — Patient rafft Polster und Bettdecken zusammen, verkriecht
sich mit weit aufgerissenen Augen unter das Bett. Man holt ihn her-
vor. Er faselt von einem Manne, der ihn schlage, schaut angstvoll
nach dem Plafond; frequente Respiration, Puls weich, dicrot, 108.
Schüttelfrost.
Patient bleibt noch eine Weile delirirend (faselt von einem Manne,
der ihn schlagen will, von Sturmwind, Musik, Brücke, von der man
ihn hinabstossen will). Milz stark vergrössert. Endlich Ruhe, Schlaf.
16. März. Temp. 37.5 — 36.3. Kopfweh, Milz detumescirt. Von
heute an 1.0 Chinin, bisulf. pro die.
17. März. Heute 2 Anfälle mit anschliessendem Delirium, aber
ohne Temperatursteigerung und ohne Milzschwellung.
1. April. Unter 0.5 Chinin pro die keine Anfälle mehr. Völlige
Euphorie. Temp. nie über 36.8. Milz nicht vergrössert. Entlassung.
Neue Aufnahme 10. April 1889.
Seit 3 Tagen wieder Anfälle. Patient hat heute 2, am 11. April
3 Insulte. Vom 11. ab täglich 1.0 Chinin. Milz wieder geschwollen.
Der erste Anfall beginnt am 11. April um 6 Uhr früh. Temp.
38.9, Mittags 2 Uhr 40.0, auf 1.0 Chinin um 4 Uhr vorübergehend 37.0,
Abends 8 Uhr 38.4, 11 Uhr 38.1.
Anfall ganz wie am 15. März, jedoch episodisch Schaum vor dem
Munde, Daumen eingeschlagen, bei allgemeiner Gliederstarre.
Solcher Anfälle 3 mit jeweils folgendem Delirium (an dem Plafond
erscheint ein Mann, der Patient erstechen will; er flüchtet unter's Bett,
das Haus, das Bett brennen, grosser Sturmwind, der Patient fort-
zutragen droht).
12. April. Heute 1 milder Anfall. Temp. maximal 39.4. Milz
stark geschwellt.
13. April. 4 Anfälle. Temp. bis 39.4. Nach denselben dämmer-
haft, tief verstimmt. Er wolle lieber heute als morgen zu Grunde gehen.
Er versucht sich den Schädel an der Wand einzurennen und den Kn
in den Abortschlauch zu zwängen. Amnesie für Alles in der Folge.
15. April. Milz noch geschwellt. Heute 1 Anfall. Temp. 40.5.
18. April. Von heute an Chinin 0.5 und Sol. Fowler. gtt. 10 — 20
11*
164 Zur „Intermittens larvata"-
23. April. Bisher Euphorie, Temp. unter 37.0. Heute Abends 6 Uhr
Temp. bis 38.5 mit Milzschwellung. Die nervöse Reaction auf Schwindel
und Makropsie beschränkt.
27. April. Heute leichter Fieberanfall (38.7) mit Kopfweh, Hitze,
Schmerzen in der Milzgegend, wässerigem Erbrechen.
5. Mai. Euphorie, Milzdämpfung normal. Temp. andauernd unter
37.0. Chinin bleibt weg; noch täglich 16 gtt. Fowler.
12. Mai. Volles Wohlbefinden. Absque medicatione.
15. Mai. Patient nicht länger zu halten. Keine Symptome mehr.
Entlassung. Genesung erhält sich.
Epikrise. Der vorstehend skizzirte Krankheitsfall bietet nach mehr-
facher Richtung klinisches Interesse. Er lässt sich symptomatologisch
als epileptoide Hirnneurose bezeichnen. Von entscheidender Bedeutung
erscheint seine ätiologische Begründung.
Bis zur Klarstellung der Anamnese liess sich an traumatische Epi-
lepsie denken, und da die Anfälle in Ablauf und Symptomendetails,
sowohl motorisch als psychisch Vieles gemein mit Hysteroepilepsie hatten,
auch an diese Neurose.
Beide Möglichkeiten Hessen sich bald ausschliessen. Das Geknüpft-
sein der Anfälle an die einer Febris intermittens ergab sich sofort bei
eingehender klinischer Beobachtung Sie larvirten die Symptome des
Fieberanfalles, der sie gewöhnlich überdauerte. Die neurotischen Symptome
(Krämpfe, Delirium) sind nicht durch das Fieber als solches bedingt,
jedenfalls lässt sich das Delirium nicht als febriles ansprechen, denn
seine Intensität entspricht nicht der des jeweiligen Fiebers. Die Anfälle
am 28. Februar und 17. März verlaufen sogar ohne Temperatursteigerung,
Die Ursache kann somit nur in toxischen Einflüssen gesucht und ge-
funden werden.
Interessant ist, dass das centrale Nervensystem bei dem Malaria-
kranken erst nach einem Trauma capitis anlässlich Fieberanfällen mit-
afficirt wird. Das Trauma scheint das Gehirn in seiner Widerstands-
kraft gegen das toxische Agens geschwächt zu haben, in analoger Weise,
wie wir dies bezüglich des Alcohols wissen und auch hinsichtlich der
Lues, die vielfach erst nach einem Trauma oder sonst einem Insult sich
im Centralnervensystem lokalisirt.
Die Anfälle sind Anfangs unvollkommen entwickelt, von tertianem
Typus, der eine Zeit lang durch die Therapie beeinflusst wird, dann
Neigung zum quotidianen zeigt. Therapeutisch erscheint Anfangs Chinin
ausreichend, um die nervösen und pyretischen Anfälle zu bannen, aber
erst Arsen vermag Genesung herbeizuführen. Es ist bemerkenswerth,
dass zuerst die nervösen Insulte schwinden und dann die Fieberanfälle.
Zur „Intermittens larvata'- 1(35
Leider wurden im geschilderten Falle Blutuntersuchungen unterlassen.
Sie dürften in künftigen Fällen für Pathogenese und Diagnose von
grossem Werth sein. Krankheitsfälle von sog. Intermittens larvata sind
ziemlich selten in unseren Gegenden , wenn man von solchen von Fieber-
delirium absieht.
Sie erscheinen auf der Acme des Fiebers (furibundes, angstvolles
Delirium, transitorische Manie) oder vicariirend für einen Intermittens-
anfall (Intermittens larvata stricte sit dicta).
Die ziemlich zerstreute Literatur findet sich bei: Wuuderlich, Handb. IV, p. 468
(Uebersicht der älteren Literatur); Canstatt, Handb. d. med. Klinik I, p. 3919; (Jrie-
singer, Virchow's Handb. U, 2, p. 329; Focke, Zeitschr. f. Psychiatrie, V, p. 376
(M. intermittens mit religiös -dämonomanischem Inhalt); Flemming, Path. u. Therapie
d. Psychosen, p. 87 (heftige quotidiane Anfälle von Präcordialmelancholie); Nockher,
Med. Ver.-Ztg. 1845, Nr. 32; Zeitschr. „Irrenfreund" 1868, Nr. 3; Horn's Archiv f.
med. Erfahrg. 1813; Januar, Februar; Henke, Zeitschr. f. Staatsarzneikunde, 1834,
Heft 2, Erhardt, Zeitschr. f. Psychiatrie, XXIII, p. 87; Champouillon , Gaz. des
hopitaux, 1857, Nr. 81; Walliser, Schmidt's Jahrb. d. Med. Bd. 180, Nr. 10; Schwartzer,
Transitor. Tobsucht, Fall 14.
Dnack von C, Grnmbarh in Leipzig.
ARBEITEN AUS DEM GESAMMTGEBIET
DER PSYCHIATRIE UND NEUROPATHOLOGIE.
II. HEFT.
ARBEITEN AUS DEM GESAMMTGEßlET
DER
PSYCHIATRIE UND NEUROPATHOLOGIE
VO.N
R V. KRAFFTEBING.
H. HEFT.
LEIPZIG
JOHANN AMBROSIÜS BARTH
1897.
Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung, vorbehalten.
Inhalt.
Seite
1. Die Aetiologie der progressiven Paralyse 1
2. Ueber Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nerven-
systems durch Hysterie 25
Einleitung ■ 27
Hysterische Hemiplegien . . . ... .30
Pseudoparesis spastica . 64
Paraplegia hyslerica .... 8-
Vortäuschung von multipler Sklerose . 106
Vortäuschung von Tabes dorsalis . . • 121
3. Zur Athetosis bilateralis .... 139
4. Varia 152
Gutachten des k. k. obersten Sanitätsrathes bezüglich der gesetzlichen
Regelung des Hypnotismus in Österreich . . . 153
Gutachten über die Berechtigung des spiritistischen Vereins in . . . . zur
Anwendung des Hypnotismus 161
Zur Verwerthung der Suggestionstherapie bei Psychosen und Neurosen 165
Zur Suggestivbehandlung der Hysteria gravis .181
Ueber Paraldehyd- Gebrauch und Missbrauch, uebst einem Falle von
Paraldehyddelirium . 186
Ein Fall von Paraplegia brachialis 192
Ueber Drucklähmung von Armnerven durch Krückengebrauch . . . 196
Eine Diagnose auf Tumor in der Grosshirnschenkel-Haubenbahn . . 201
Zur Kenntniss der primären Rückenmarksblutung . . . 200
I.
DIE AETIOLOGIE DER PROGRESSIVEN
PARALYSE.*)
*) Entwurf eines Vortrags für den internationalen medieinischen Congress in
Moskau.
Krafft-E bing, Arbeiten n. 1
Wir befinden uns an der Neige eines Jahrhunderts, das in der
Geschichte menschlicher Evolution einzig dasteht. Soviel geistige
Arbeit ist jedenfalls in keinem der vergangenen Jahrhunderte geleistet
worden. Auf allen Gebieten menschlichen Schaffens und Strebens hat
das zu Ende gehende Säculum einen Fortschritt inaugurirt, der nach
einzelnen Richtungen ein geradezu überstürzter war und den Zeit-
genossen kaum die nöthige Sammlung und Anpassung an neue sociale
Daseinsformen und Lebensbedingungen ermöglichte.
Es sei in dieser Hinsicht nur auf die colossalen Umwälzungen
hingewiesen, welche Handel und Arerkehr, Gewerbe und sociales Leben
erfahren haben, indem der Menschengeist zwei gewaltige Naturkräfte in
Gestalt des Dampfes und der Elektricität sich dienstbar zu machen
vermochte.
Für All das, was wir als Civilisation und Culturfortschritt schätzen,
hat das Gehirn der Menschen des 19. Jahrhunderts ein äquivalentes Maass
von Arbeit leisten müssen. Wenn man auch zugeben muss, dass Uebung
und Anpassung allmälig ein Organ zu höheren und ausgiebigeren
Leistungen befähigen, so lässt sich doch nicht bestreiten, dass die über-
mässige Inanspruchnahme des Centralnervensystems in einem Jahr-
hundert, das an socialen Evolutionen und Umwälzungen, sowie an sich
überstürzenden Erfindungen seines Gleichen sucht, das Gehirn unzähliger
Menschen empfindlich geschädigt und gegen krankmachende Einflüsse
widerstandsunfähig gemacht hat.
Aber die geänderten gesellschaftlichen, speciell die politischen,
mercantilen, industriellen, agrarischen Verhältnisse wirken ihrerseits
wieder zurück auf die in ihnen Lebenden. Sie beeinflussen bürgerliche
Stellung, Beruf, Besitz, und zwar auf Kosten des Nervensystems, das
gesteigerten socialen und wirthschaftlichen Anforderungen durch ver-
mehrte Verausgabung von geistiger Kraft bei vielfach ungenügendem
Ersatz gerecht werden muss.
Das Schlagwort der modernen Civilisation, der „Kampf ums
Dasein1' ist keine leere Phrase, vielmehr ein die körperliche und geistige
1*
4 I. Die Aetiologie der
Gesundheit der Massen tief und ungünstig beeinflussender Factor. Er
ist gleichbedeutend mit einem Concurrenzkampf, nicht blos der Individuen
sondern auch ganzer Völker auf mercantilen, industriellen und agrarischen
Gebieten.
Die enorme Entwicklung der Verkehrsmittel macht die fernsten
Länder concurrenzfähig, entwerthet die Bodenproducte Europa's durch
überseeischen Import, entfremdet dadurch die Landbewohner dem nicht
mehr genügenden Ertrag bietenden Ackerbau, drängt sie in die Städte
und damit in die Verhältnisse eines antihygienischen Fabriklebens, das
überdies in socialer und sittlicher Hinsicht bedenkliche Consequenzen
hat. Dadurch sind Millionen von Menschen, die früher ein zwar ein-
faches, aber gesundes und sicheres Dasein hatten, zu Sclaven der
Civilisation geworden, in den Dienst maschinellen und gross-
kapitalistischen Getriebes gestellt, in ihrem Geschick abhängig von inter-
nationalen Handelsbilanzen, Constellationen des Weltmarktes, denn nur
das Grosskapital und die Association sind heutzutage noch concurrenzfähig.
Aber auch das Kleingewerbe ist massenhaft zu Grunde gegangen.
Nicht dem Grosskapital ist es erlegen, wie thörichter "Weise so viele
Proletarier glauben, sondern Naturkräften in Gestalt des Dampfes und
der Elektricität, die Massenproduction gestatten und dabei besser und
billiger arbeiten, als es die unvollkommenen Behelfe des Kleinbürgers
vermögen.
Damit sind aber unzählige Menschen genöthigt, im aufreibenden
"Werkstätten- und Maschinendienst ihre Existenz zu fristen.
Indem Millionen von Proletariern erstanden sind, die, unzufrieden
mit ihrer Lage, dem Kapital als solchem ihren Pauperismus zur Last
legen, entstand Unzufriedenheit der Massen, Drang nach Aenderung der
besitz- und der gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne des Socialismus
und des Anarchismus. Aber auch die Fabrikanten und Kaufherren sind
nicht immer glückliche Besitzer. Sie sind beständig genöthigt, im Wett-
bewerb des Weltmarktes ihre Kräfte anzustrengen und dabei von
Massenausständen, Handels- und Zollconjunkturen, Unsicherheit der
Weltlage und des Besitzes bedroht. Indem heutzutage die Menschen
nach den Städten sich drängen und die Emporien des Handels und der
Fabrikthätigkeit Übervölkern, erschweren sie sich gegenseitig den Kampf
ums Dasein. Hygienisch ungenügende Wohnungen, Theuerung und Ver-
schlechterung der Nahrungsmittel sind die nothwendige Folge dieser
Uebervölkerung der Städte und als weitere Consequenzen: ungenügende
Ernährung der Massen, Scrophulose, Tuberculose, Rachitis. Als Ersatz
für schlechte, unzureichende Nahrung greift der Proletarier zur Brannt-
weinflasche und giebt damit den Anstoss zu eigenem und seiner Descen-
progressiven Paralyse. 5
denten Nervensiechthum. Die vermehrte Arbeit bringt aber auch den
Anspruch auf ein genussreicheres Dasein. Die fortschreitende Civilisation
hat das Leben bedürfnissreicher gestaltet. Auch dafür muss das strapa-
zirte Gehirn des Culturmenschen aufkommen.
Unzählige Menschen macht der Kampf ums Dasein, richtiger wohl
Genusssucht und Geldgier, zu rücksichtslosen Strebern. Man sieht sie
in beständiger fieberhafter Erregung auf ihrer Jagd nach Gelderwerb,
mit Einsetzung aller physischen und geistigen Kräfte, unter Benutzung
aller Hülfsmittel, wie sie eine überhastete Culturentwicklung an die
Hand giebt.
Ein derart strapazirtes Nervensystem hat aber ein grosses Bedürfniss
nach Genuss- und Beizmitteln. Der ins Ungemessene steigende Ver-
brauch solcher in Gestalt von Caffee, Thee, Alkohol, Tabak in allen
Culturländern ist ein Massstab für die Bedeutung dieses Auswuchses
der Civilisation.
Mit den geschraubten Existenzbedingungen der Neuzeit wird aber
auch die Schwierigkeit, einen eigenen Heerd zu gründen, eine immer
grössere. Die Folge davon ist Cölibat oder verspätete Ehesehliessung.
Daraus resultirt aussereheücher Geschlechtsverkehr, fast ausschliess-
lich in Gestalt der Prostitution, mit allen daraus entstehenden Gefahren
für Leib und Seele.
Die Verschlechterung der Aussichten, durch die Ehe eine Ver-
sorgung zu finden, bringt aber auch das Weib in der modernen Gesell-
schaft in eine schiefe Position.
Für das Mädchen aus den höheren Ständen entsteht daraus die
Nöthigung, durch Ergreifen eines seine materielle Existenz sichernden
Berufes ein Aequivalent für die ihm vorenthaltene Versorgung durch
die Ehe zu finden.
Zu solchem Streben vermöge seiner Organisation nicht oder noch
nicht befähigt, muss das Weib seine wichtige Entwicklungszeit auf Schul-
bänken versitzen und sich unverhältnissmässig anstrengen, um mit dem
Manne social und geistig in Wettbewerb zu treten und eine berufliche
Existenz sich zu erkämpfen.
Nicht minder beklagenswerth ist die Existenz des jungen Mädchens
aus dem Volke, das um wahre Hungerlöhne im Fabriksaal oder an der
Nähmaschine seine Existenz fristen muss und endlich vielfach der
Prostitution anheimfällt.
Ein nicht zu übersehender Factor für die Schädigung der Volks-
gesundheit ist die Aenderung früherer patriarchalischer Begierungsformen
im Sinne moderner politischer Zustände, in welchen die Individualität
zur Geltung kommt und der Ehrgeiz entfesselt wird.
(j I. Die Aetiologie der
Das öffentliche Leben der Gegenwart mit seinen politischen Auf-
regungen, "Wahlkämpfen u. s. w. mag eine nothwendige und berechtigte
Folge der socialen Entwicklung sein, aber vom Standpunkt der Volks-
gesundheit ist es eine Schädlichkeit, denn es zieht den Mann ab von
Beruf und Familie, stört und zerstört das Familienleben und ist mit
eine Ursache für den Missbrauch des Alkohols in der modernen
Gesellschaft.
Es ist unmöglich, im Kahmen eines Vortrags alle die Schatten-
seiten unseres Culturlebens hervorzuheben und sie auf ihre Bedeutung
als ätiologischer Factoren hinsichtlich der Entstehung der progressiven
Paralyse hin zu prüfen.
Auch ohne Pessimist zu sein, rnuss man zugeben, dass der sociale
Organismus krankhafte Züge an sich trägt. Erscheint uns doch der
moderne Europäer vielfach als ein blasirter, mit sich und der Welt un-
zufriedener, in seiner Ethik und Religion zerfahrener, an dem Bestehenden
nörgelnder, zur Aenderung der gesellschaftlichen Zustände hindrängender,
von Furcht vor der ungewissen Zukunft angekränkelter Mensch.
Alle diese Züge lassen sich auf eine Desequilibration seines Nerven-
systems zurückführen und es giebt zahlreiche Schwarzseher, die eine
weitere Verschlechterung der Nervengesundheit prognosticiren und,
unter einseitiger Hervorhebung der Schattenseiten unserer Cultur-
entwicklung, unser Jahrhundert als das „nervöse" bezeichnen möchten.
Es ist höchst wahrscheinlich, dass die übermässige Inanspruch-
nahme geistiger und physischer Kräfte in dem zur Neige gehenden
Jahrhundert, das in sich überstürzender Weise gleichsam nachholte, was
vergangene in träger, oft stagnirender Entwicklung versäumt haben, von
einer Zeitperiode relativer Ruhe gefolgt sein wird. In dieser mag eine
Anpassung an geänderte Lebensbeziehungen, eine friedliche, natürliche
Ausgleichung socialer und nationaler Gegensätze, eine Angewöhnung
und Correctur hinsichtlich stürmisch eingetretener gesellschaftlicher Ver-
änderungen sich vollziehen.
Ist doch die Möglichkeit jeglichen Fortschritts von dem Gehirn ab-
hängig und gerade die Anpassungsfähigkeit dieses Organs an geänderte
Verhältnisse eine unbegrenzte !
Für den Arzt und Forscher, der mitten in einer solchen socialen
und geistigen evolutiven Bewegung steht, ist es von hohem Interesse,
Krankheitserscheinungen näher ins Auge zu fassen, die mit sociolo-
gischen Verhältnissen des zu Ende gehenden Jahrhunderts in einem
offenbaren genetischen Zusammenhang stehen. Neben der sogenannten
Neurasthenie, der an dieser Stelle als Culturkrankheit des Jahrhunderts
progressiven Paralyse. 7
nur gedacht sein mag, gebührt der progressiven Paralyse in diesem
Sinne eine ganz hervorragende Stelle.
Die Berechtigung in einer allgemeinen Sitzung eines der letzten inter-
nationalen medicinischen Congresse dieses Jahrhunderts die Frage der
Aetiologie dieser unheilvollen Krankheit zu erörtern, schöpfe ich daraus,
dass sie vor 100 Jahren fast unbekannt war, während sie von Jahr-
zehnt zu Jahrzehnt fast allenthalben in geradezu unheimlicher Weise
zunimmt, sodass sie heutzutage bereits jeder Laie kennt. Angesichts
dieser Thatsachen kann man sich dem Eindruck nicht verschliessen,
dass diese Krankheit, ein wahres Schreckgespenst für den Cultur-
menschen, in ungünstigen Einflüssen des Culturlebens ihre Begründung
findet, Einflüsse, die jedoch bei der bisherigen Unsicherheit hinsichtlich
der Aetiologie der Krankheit, nur vermuthet, nicht aber nachgewiesen
werden konnten.
Zur endgiltigen Feststellung ihrer Ursachen bedarf es offenbar
des Zusammenwirkens von Forschern aus den verschiedensten Ländern
und auf verschiedenen "Wissensgebieten, wie sie eben nur ein inter-
nationaler medicinischer Congress zusammenbringt.
Gestattet sei noch der Hinweis darauf, dass, wenn man von einem
nicht ganz sicheren Hinweis auf die Krankheit bei Willis1) (1672) ab-
sieht, es genau hundert Jahre her sind, dass sie ihre erste wissenschaft-
liche Besprechung durch den englischen Arzt Haslam2) gefunden hat.
Eine interessante und wichtige Vorfrage betrifft die der Zunahme
der Paralysekrankheit in der modernen Gesellschaft. Wenn auch fast
allenthalben diese Frage entschieden bejaht wird, so begegnet doch ein
Versuch, diese Zunahme wissenschaftlich und statistisch zu begründen,
nicht geringen Schwierigkeiten. Da diese Krankheit fast ausnahmslos
tödtlich endet, wäre eine vergleichende Statistik der aus ihr hervor-
gehenden Todesfälle der sicherste Maassstab ihrer Frequenz. Aber eine
Speciticirung der Krankheit in der allgemeinen Mortalitätsstatistik giebt
es nicht und wird es auch so leicht nicht geben.
Man darf nicht übersehen, dass zahlreiche Paralytiker, als solche
undiagnosticirt, in den Anfangsstadien der Krankheit zu Grunde gehen
und der statistischen Aufnahme dadurch entgehen, dass sie in der all-
gemeinen Mortalitätsstatistik unter Rubriken wie Schlagt'! uss, Pneumonie,
Gehirnentzündung, Selbstmord, Tod durch Unglücksfall u. s. w. er-
scheinen, während die in den Endstadien mit Tod abgehenden Fälle
ausserhalb der Krankenhäuser als „Hirnlähmung", ..Hirnerweichung"
rubricirt und mit Heerderkrankungen des Gehirns aller Art zusammen-
geworfen werden.
8 I. Die Aetiologie der
Unter allen sonstigen Wegen bleibt nur der, die Statistik der
Irrenanstalten der verschiedenen Länder heranzuziehen und die relative
Zunahme der paralytisch Kranken gegenüber dem Gros der übrigen
Geisteskranken festzustellen.
Auch diese Methode giebt keine sicheren Werthe hinsichtlich der
Zunahme der Krankheit, da die Paralyse heutzutage vorwiegend in der
milden Form der einfach progressiven Dementia verläuft, und als solche
auch ausserhalb einer Anstalt behandelt werden kann.
Ueberdies ist ein Vergleich zwischen Einst und Jetzt nur für
wenige Decennien möglich.
Die am weitesten zurückreichende bezügliche Statistik von Althaus3)
ergiebt, dass 1838 — 40 der Procentsatz der Paralytiker in englischen
Anstalten 12,6 %, dagegen von 1867 — 91 schon 18,1 °/0 betrug, während
in den gleichen Zeiträumen die Gesammtzahl der Geisteskranken nur
um circa 0,2 °/0 zugenommen hatte.
Ende der 70er Jahre berechnete Mendel (Berlin) den Procentsatz
der Paralytiker in Irrenanstalten:
in Preussen für Männer mit 16,3, Weiber 3,6 °/0
„ Frankreich „ „ „ 19,9, „ 8,0 %
„ England „ „ „ 18,0, „ 6,0 %
Gegenüber dieser Ziffern erweisen die in den letzten 2 Decennien da
und dort ermittelten Procentzahlen eine gewaltige Zunahme.
So ist beispielsweise in der bayerischen, ihie Kranken aus einer
vorwiegend agricolen Bevölkerung beziehenden Irrenanstalt Deggendorf,
die 1869—74 9,3% Männer und 5,2 °/0 Weiber betragende Ziffer der
Paralytiker auf 23,2 bezw. 9,3 °/0 in der Zeitperiode von 1885—90 an-
gestiegen. In der nassauischen Anstalt Eichberg hat sich die Zahl der
Paralytikeraufnahmen nahezu verdoppelt. Zu analogen Erfahrungen ge-
langten Snell4) für Hannover, Regis5) für gewisse französische Anstalten,
Huppert6) für Sachsen, Townbridge7) für England. Noch viel markanter
ist aber die Zunahme der Paralyse in den Grossstädten.
Aus Recherchen, die ich anstellte, ergab sich, dass von 1888—92
der Procentsatz der Aufnahmen von Paralytikern in Irrenanstalten sich
belief in Hamburg auf 21,5 % Männer und 8,5 °/0 Frauen der Gesammt-
aufnahme, in Berlin auf 34,6 und 17,5 °/0, in München auf 36,3 und
11,2%, in Pest auf 36,5 und 7,5%.
Dieser procentarische Zuwachs erfolgt auf Kosten anderweitiger,
wesentlich functioneller und gutartiger psychischer Krankheiten8). Es
deutet dies auf besondere Dispositionen in der heutigen Population hin,
vermöge welcher Schädlichkeiten, die früher nur functionell das Gehirn
progressiven Paralyse. 9
beeinflussten, nunmehr den Anstoss zu organischer Erkrankung in Gestalt
entzündlicher und atrophischer Vorgänge geben.
Angesichts solcher Thatsachen kann man nicht umhin zuzugestehen,
dass die progressive Paralyse in geradezu unheimlicher Weise die
moderne Gesellschaft heimsucht und sie decimirt.
Nicht minder bedeutsam ist die Erfahrung, dass die Paralyse heut-
zutage in viel früherem Lebensalter ihre Opfer heimsucht. Calmeil9) in
Frankreich ermittelte in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts als Durch-
schnittsalter der Erkrankung an Paralyse 44,5 Jahre. Ende der 80er
Jahre stellten Arnaud dasselbe mit 39,5, Regis mit 38 Jahren fest, während
Kaes10) (Hamburg) die grösste Morbilität vom 36. — 40. Jahre fand.
Die Erklärung für dieses verfrühte Auftreten der Krankheit kann
nur in einer verminderten Widerstandsfähigkeit gegen die Ursachen
derselben oder auch in einer grösseren Häufung dieser gesucht und ge-
funden werden.
Noch auffälliger ist aber das neuerliche Vorkommen dieser Krank-
heit im kindlichen und jugendlichen Alter. Während beispielsweise
Baillarger vor 1850 unter 400 weiblichen Fällen von Paralyse nur
einen einzigen unter 20 Jahren zählte, wimmelt es seit 1877 geradezu
von Fällen juveniler Paralyse in der Literatur.
Eine der bedenklichsten Erscheinungen stellt endlich die Zunahme
der Paralyse beim weiblichen Geschlecht dar. Während bis weit in die
60er Jahre das Verhälrniss der männlichen Paralytiker zu den weib-
lichen Fällen in den Irrenanstalten 8 : 1 betrug, war es nach Jung
(Leubus) Ende der 70er Jahre 4 : 1. Anfangs der 80er Jahre be-
rechneten es Reinhard für Hamburg mit 3,2 : 1, Meynert für Wien mit
3,4 : 1, Siemerling11) für Berlin mit 3,5 : 1.
Für den Anfang der 90er Jahre stellte es Idanoff12) fest für
Dänemark mit 3,49:1, für Mittel- und Oberitalien mit 3,3:1, für
Russland mit 3,15 : 1, England mit 2,9S : 1, Belgien 2,76 : 1, Frank-
reich 2.4 : 1.
Diese Zahlen entsprechen aber sicher nicht ganz der wirklichen
Morbiditätsziffer der heutigen Frauenparalyse, die auch beim Weib vor-
wiegend in der einfach dementen Form und dazu noch vielfach so mild
verläuft, dass viele Fälle den Irrenanstalten, aus welchen die obigen
Ziffern gewonnen sind, nicht zugeführt werden.
Die Ermittelung der Ursachen dieser seit den 20er Jahren des
Jahrhunderts im Mittelpunkte der Aufmerksamkeit ärztlicher Kreise
stehenden Krankheit ist seit Jahrzehnten mit dem grössten Eifer unter-
nommen worden.
\Q I. Die Aetiologie der
Man erkannte bald, dass ihre Aetiologie wesentlich in exogenen Be-
dingungen wurzeln müsse, denn das sonst bei psychischer Krankheit
ausschlaggebende Moment der erblichen Disposition oder der Belastung
fand sich höchstens in 15— 20°/0 der Falle von Paralyse vor.
Den schädlichen "Wirkungen des Geist und Körper gegen früher
unverhältnissmässig in Anspruch nehmenden Culturlebens, dem Surme-
nage, dem Missbrauch von Genussmitteln, besonders des Alkohols, De-
bauchen überhaupt, schiebt man in erster Linie das Ueberhandnehmen
der Paralyse zu. Thatsacheu, wie die unverhältnissmässige Häufigkeit
der Krankheit bei Grossstädtern, besonders bei ledigen Arbeits- und Genuss-
menschen, in ganz hervorragender Weise bei Militärs, die fast völlige
Immunität der Frau aus höheren Ständen, das vermeintliche Nicht-
vorkommen der Paralyse bei jugendlichen Individuen, die grösste
Häufigkeit derselben bei irgendwie Veranlagten oder sonstwie Exponirten
auf der Höhe des Lebens, all dies schien das Auftreten und Ueberhand-
nehmen dieser „Krankheit des Jahrhunderts" genügend zu erklären.
Ganz unbekanut und ungewürdigt waren lange Zeit hindurch ur-
sächliche Beziehungen der Paralyse zur Syphilis.
Es geschah 1857 zum ersten Mal, dass zwei Forscher, Esmarch
und Jessen18) mit der Behauptung auftreten, dass Syphilis die Ursacbe
von Paralyse sein könne. Ihre Mittheilung stützte sich auf 3 Fälle bei
Luetischen, von welchen aber 2 hinsichtlich der Diagnose „Paralyse"
nicht einwandfrei waren.
Ihnen folgte Kjellberg14), der in seinem Erfahrungsbereiche Paralyse
überhaupt nur bei syphilitisch Gewesenen beobachtet haben wollte, ferner
Ole Sandberg.
Diese Anschauung, welche sich bei Einzelnen bis zur Annahme
erhob, die Paralyse sei eine Form der Lues cerebri, fand lebhaften
Widerspruch15), aber die Frage des Zusammenhangs der Paralyse mit
Syphilis verschwand von nun an nicht mehr von der Tagesordnung
wissenschaftlicher Forschung und Discussion.
Die Heranziehung der Statistik ergab sehr ungleiche Resultate, in-
sofern der Procentsatz früherer Lues bei männlichen Paralytikern
zwischen 11% (Eickholt) und 94°/0 (Regis) ermittelt wurde. Diese
Differenzen erklärten sich grösstentheils aus der verschiedenartigen
Provenienz des statistischen Materials, je nachdem es höheren oder
niederen Gesellschaftsklassen, der grossstädtischen oder der ländlichen
Bevölkerung entstammte.
Einen vorläufigen Abschluss der statistischen Forschungen bot eine
Arbeit von Rieger15), der aus der Zusammenfassung von 11 verläss-
lichen Statistiken verschiedener Beobachter ermittelte, dass unter rund
progressiven Paralyse. 11
1000 nicht paralytischen Geisteskranken 40, unter rund 1000 Paralytikern
etwa 400 mal Syphilis in der Vorgeschichte sich nachweisen Hess. Zu
ähnlichen Resultaten gelangten Goldstein16), Binswanger17), Barwinski18),
Ziehen"), Dietz20), Oebecke21).
Mendel22) ermittelte bei Paralytikern, und zwar vorwiegend bei solchen
aus höheren Standen, in 75°/0, bei anderen Psychosen nur in 18,6 °/0
luetische Antecedentien.
Den Einfluss des Umstands, ob das Material aus höheren oder
niederen Ständen kommt, illustrirte eine Statistik von Oebecke, der bei
Paralytikern ersterer Categorie 73,3 °/0, letzterer nur 16,7 °/0 luetisch
Gewesene ermittelte.
Werthvolle neuerliche Untersuchungen über die Beziehungen der
Syphilis zur Paralyse verdanken wir Hougberg23) in Finnland und
Hirschl24) in Wien.
Der erstere Forscher fand unter seinem Material sichere luetische
Fälle 75,7 °/0, wahrscheinliche 11,2 °/0, in Summa 86,9 °/0, während bei
nicht paralytischen Irren Lues in deren Vorgeschichte nur bei 4,24 °/0
Dachgewiesen werden konnte.
Hirschl hat an meiner Klinik mit ausserordentlicher Gewissen-
haftigkeit und Mühe die Frage studirt. Es gelang ihm, von 175 paraly-
tischen Männern bei 98 (56%) sicher, bei 44 (25°/0) mit Wahrschein-
lichkeit Lues nachzuweisen, während in 33 Fällen (19 °/0) die Frage
ganz ungelöst bleiben musste.
Das Moment dieser negativen Fälle ist es nun, auf welches sich
die Gegner der von Kjellberg vertretenen Anschauung stützen und
logischer Weise kann man von der Syphilis als einer notwendigen Vor-
bedingung für die Entstehung der Paralyse nicht reden, solange die
negativen Fälle aus der Statistik sich nicht eliminiren lassen.
Jeder Erfahrene wird aber das Gewicht dieser nicht überschätzen,
Angesichts der Thatsache, dass Syphilis hereditär, extragenital und un-
beobachtet ein Individuum heimsuchen kann, dass sichere Zeichen über-
standener Lues, mit Ausnahme der Immunität, die aber nur durch
Impfung festgestellt werden könnte, nur ausnahmsweise nachweisbar
sind, dass Anamnesen über frühere Gesundheitsverhältnisse, namentlich
bei Leuten aus niederem Stande, selten sichere Resultate ergeben und
dass zwischen der Erwerbung der Lues und dem Ausbruch der Paralyse
Jahrzehnte liegen können.
Es war ein glücklicher Gedanke Hii'schl's, die anamnestische Nach-
weisbarkeit der Lues auf einer syphilitischen Abtheilung zu erproben
und die gewonnenen Resultate mit denen der Nachforschung an den
Paralytikern der psychiatrischen Klinik zu vergleichen.
12 !• Die Aetiologie der
In Ausführung dieser Idee ergab sich, dass auf der syphilitischen
Abtheilung des Prof. Lang in Wien unter 63 Fällen syphilitischer Spät-
formen nur in 54% Lues als sicher, in 9,5 % als wahrscheinlich, in
36,5 °/0 aber, trotz gegenwärtiger luetischer Erkrankung, anamnestisch
nicht nachweisbar war, während Hirschl's Anamnesen bei seinen Para-
lytikern die Procentzahlen 56, 25, 19 ergeben hatten.
Die positiven Resultate blieben bei den Syphilitischen gegenüber
den Paralytikern somit um 26,5 % zurück !
Die Analogie der Frage der Beziehungen der Syphilis zur pro-
gressiven Paralyse mit der gleichnamigen zur Tabes ist eine zu nahe-
liegende, um sie ganz unerwähnt lassen zu können.
Auch hinsichtlich der Tabes, die überdies auffällig häufig mit Para-
lyse zusammen vorkommt und gleich dieser in exogenen Bedingungen
ihre Entstehung findet, ist die Frage nach ihrer luetischen Provenienz
eine gegenwärtig noch recht umstrittene.
Auch sie hat ihre Gegner und Yorkämpfer. Zu den ersteren ge-
hört in hervorragender Weise die Schule v. Leyden's28). Sie schmälert den
Werth statistischer Studien über das Verhältniss der Lues zur Tabes,
hält den anamnestischen Nachweis der ersteren für zu unsicher, verweist
auf die grosse Zahl negativer Fälle, auf die Thatsache, dass man in den
Sectionsprotocollen von Tabikern in höchstens 30% der Fälle luetische
Residuen fand, dass Reumont bei seinen Syphilitischen nur ein Tabes-
procent von 1,1 % fand, dass in gewissen luetisch durchseuchten Ländern
Tabes selten sei, selten auch bei Prostituirten und dass antiluetische
Therapie bei Tabes versage.
Mit derartigen, zum Theil recht anfechtbaren Argumenten wird
man eine solche Frage nie zur Entscheidung bringen.
Möglich wäre dies nur, wenn man die negativen Fälle auf ihre
luetische Bedeutung durch Impfung mit syphilitischem Virus prüfen
könnte.
Bekanntlich besitzt der menschliche Organimus der Lues gegenüber
keine Immunität, ausser derselbe wäre durch hereditäre Lues oder durch
acquirirte früher immun geworden, wobei die Möglichkeit einer übrigens
sehr seltenen Reinfection immer noch in Betracht käme. Ein solcher
Versuch der Probeimpfung wurde an Paralytikern unternommen.
Es lagen mir im vorigen Jahre 9 Krankengeschichten und Proto-
colle vor, die ein durch wissenschaftliche Leistungen hervorragender
und höchst zuverlässiger College mir zur Einsicht überlassen hatte.
Sie betrafen 9 männliche Paralytiker, bezüglich welcher, da es sich
um typische Fälle handelte, diagnostisch nicht der geringste Zweifel be-
stehen konnte. Bei diesen 9 Kranken hatte weder die sorgfältigste Anam-
progressiven Paralyse. 13
nese, noch die genaueste fachmännische Untersuchung irgendwelche
Beweise für vorhanden gewesene Lues zu erbringen vermocht.
Der genannte Forscher, dessen Befähigung und Gewissenhaftigkeit
ich verbürgen kann, entschloss sich bei diesen hinsichtlich Lues nega-
tiven 9 Fällen zur Impfung mit Syphilisvirus, als dem einzigen Mittel,
um eine etwaige latente Lues zu ermitteln. Er unternahm dieses Wag-
niss der principiellen Wichtigkeit solcher Versuche wegen und in der
wissenschaftlichen Ueberzeugung, dass er seinen Kranken, die ja in
einem hoffnungslosen Stadium einer zum Tode führenden Krankheit sich
befanden, keinen Schaden zufügen werde.
Als Material für die Impfungen dienten 3 Fälle von Lues und
zwar ein Weib mit Initialsklerose, bezw. der Belag des Geschwüres und
ein Theil des Gewebes, die mit dem scharfen Löffel ausgekratzt wurden ;
ferner ein Mann und ein Weib mit nässenden Papeln. Die hohe
Virulenz dieser 3 Kranken war durch einen Fachmann vorher fest-
gestellt worden. Mein Gewährsmann impfte mit der Lanzette, machte
bei jedem der 9 Paralytiker 15 — 20 Einstiche und rieb in diese das
Impfmaterial ein.
Die betreffenden Kranken waren, mit Ausnahme eines einzigen,
dessen Beobachtung nach der Impfung nur 72 Tage dauern konnte,
durch 180 Tage und darüber Gegenstand der genauesten klinischen
Beobachtung.
Weder an den Impfstellen, noch an den Drüsen, noch am übrigen
Körper traten bei 8 der Geimpften irgendwelche Reactionserscheinungen
im Sinne einer Syphilis ein, sodass nach dem 180. Tag, als dem Termin
der längsten Incubation, die Beobachtung eingestellt und der Versuch
einer Impfung aus Syphilisvirus als resultatlos constatirt wurde.
Nur in einem Falle war eine Reaction an der Impfstelle durch
Infection von Aussen erfolgt, aber es war ein einfaches, sicher nicht
specifisches Geschwür, was auch von einem hervorragenden Syphili-
dologen anerkannt wurde. Es fehlten auch in diesem bis zu 180 Tagen
beobachteten Falle jegliche Reactionserscheinungen im Sinne der Syphilis.
Die Erwartungen des Experimentators haben sich somit bestätigt. Seine
Patienten haben nicht die geringste Schädigung durch diese Versuche
erfahren. Diese, meiner Meinung nach einwandfreien Experimente sind
aber geeignet, die Fälle von Paralyse mit negativem Resultat hinsicht-
lich Lues in ein helles Licht zu setzen, denn die Immunität jener 9 Fälle
gegen Lues lässt sich nur im Sinne latenter Syphilis deuten.
Mit diesen Versuchen hat aber der vorläufig ungenannt sein
wollende College der Erkenntniss der Bedeutung der Lues als Vor-
bedingung für Paralyse jedenfalls einen grossen Dienst geleistet und es
14 I- Die Aetiologie der
läge den Gegnern der Ansicht von Kjellberg ob, durch positive Impf-
resultate, die seltene Möglichkeit einer Reinfection allerdings vorbehalten
den "VVerth jener negativen Resultate zu vernichten!
Wer noch an der Bedeutung der Versuche meines Gewährsmannes
zweifeln möchte, vergleiche damit die Resultate eines Pfälzer Arztes25),
der 1854 und 55 11 Geistesgesunde und offenbar nie luetisch Gewesene
mit syphilitischem Virus geimpft hat, ferner analoge Versuche von
Gibert, Guyenot, v. Bärensprung20), bei welchen in allen Fällen, wie ja
auch nicht anders zu erwarten war, Primäraffekt und allgemeine Syphilis
erfolgten.
Dass Paralytiker wahrscheinlich immun gegen Lues sein dürften,
Hess sich übrigens schon aus der Thatsache folgern, dass man niemals
einen solchen Kranken mit einem syphilitischen Primäraffekt in ärzt-
liche Behandlung bekommt, obwohl derartige Unglückliche doch in den
Anfangsstadien ihrer Krankheit meist recht libidinös sind und durch
häufig bei ihnen vorkommende Gonorrhöen und Ulcera niollia beweisen,
dass sie der Venus vulgivaga ergeben waren und genug Gelegenheit ge-
habt hatten, auch mit Lues sich zu inficiren.
In dem Lichte, welches durch diese Erfahrungen auf die Aetiologie
der Paralyse fällt, gewinnt aber eine ganze Reihe von sociologischen
und klinischen Thatsachen, die man längst für die Entstehung dieser
Krankheit als bedeutungsvoll erkannt hat, eine weitere Klärung und
werden sie Stützen für die Vermuthung, dass frühere Syphilis conditio
sine qua non für die Entstehung von progressiver Paralyse sein möge-
Eine der bemerkenswerthesten Thatsachen ist die, dass das
Relationsverhältniss der Paralyse bei Mann und Weib, nämlich 4 bis
3,5:1 dem relativen Vorkommen der Syphilis in der betreffenden Be-
völkerung bei den verschiedenen Geschlechtern sich analog erweist.
Allerdings lässt sich das nur für Dänemark erweisen, wo Anzeige-
pflicht bezüglich der venerischen Erkrankungen an die Behörde durch
das Gesetz besteht.
Nach Blaschko27) ist in diesem Lande das Relationsverhältniss der
venerisch erkrankten Männer und Frauen 4,1 : 1, während nach Idanoff
das der Männer- zur Frauenparalyse 3,49 : 1 ist."
Noch bedeutungsvoller ist die Ermittelung der ursächlichen Be-
dingungen für die erst in neuester Zeit bekannt gewordene infantile
und juvenile Paralyse.
Alzheimer28) gelangte in einer bezüglichen Statistik zu 91 %
sicherer oder wahrscheinlicher, meist hereditärer Lues. Er betont über-
dies die auffallend häufige hereditäre Belastung durch progressive
Paralyse des Vaters oder auch der Mutter.
progressiveu Paralyse. 15
Fournier29) fand gar in 100 °/0 seiner 37 Fälle von juveniler
Paralyse Lues, meist als hereditäre, seltener als erworbene. Zu ähn-
lichen Resultaten gelangte ich30j bei 11 in meiner Klinik von 1894 — 96
zur Aufnahme gelangten Fällen von juveniler Paralyse.
Die enormen Luesprocente in der Paralyse der Kinder und jungen
Leute sind umso bemerkenswerther, als die Schädigungen, auf Grund
welcher man sich früher das Entstehen der Paralyse bei Erwachsenen
dachte, hier gar nicht oder nur minimal zur Geltung gelangen. Bedeut-
sam ist weiter der Morbiditätsuntersehied bei Stadt- und Landbewohnern.
Schon Mendel wies nach, dass der Procentsatz der Paralyse in den
Irrenanstalten der ackerbautreibenden Provinzen Schleswig-Holstein und
Hannover 1876 nur 4,56 betrug, während man in denen der Provinz
Brandenburg 19,7 °/0 und in Berlin sogar 26 °/0 zählte.
Analog lauten die Erfahrungen von Pontoppidan hinsichtlich
Irland und Dänemark, in deren ackerbautreibenden Bevölkerungen die
Paralyse sehr selten ist, ferner die von Hougberg über Finnland, in
dessen Landesirrenanstalt Lappvik die Zahl der in 18 Jahren auf-
genommenen Paralytiker nur 7,03 °/0 der Gesammtaufnahmen betrug
und das Verhältniss der männlichen zu den weiblichen Paralytikern sich
wie 11 : 1 stellte.
Hougberg hebt speciell hervor, dass unter den 1875 — 92 auf-
genommenen 107 Paralytikern sich kein einziger Landmann befand, da-
gegen auffallend viel städtische Arbeiter.
Auch in einer Statistik von Stark31) über die Aufnahmen in der
elsässischen Landesirrenanstalt ergab sich markant dieser Unterschied
von Stadt und Land, insofern der Unterelsass exclusive Strassburg
10,6 °/0, Strassburg allein 40,3 °/0 Paralytiker lieferte. Der Procentsatz
von 100 Aufnahmen des Oberelsass exclus. der Fabrikstadt Mülhausen
war 15,5 °/0, von Mülhausen allein 29 °/0.
Arnaud32) wies nach, dass in den grossen Städten Frankreichs die
Paralyse 4 mal häufiger vorkommt, als bei der ländlichen Bevölkerung.
So gross können das Surmenage und andere kulturelle Schädlich-
keiten der Gross-, Fabriks- und Handelsstadt an und für sich nicht sein,
um das vierfach häufigere Vorkommen der Paralyse in ihrem Bereich
zu erklären.
Der Grund dafür liegt wohl wesentlich in der grösseren Häufigkeit
der Syphilis, wozu die Prostitution das Ihrige beiträgt.
Bedeutsam in dieser Hinsicht ist Blaschko's Statistik von Däne-
mark, wonach in Kopenhagen 2,9 °/0 Fälle von venerischer Krankheit
vorkommen, während die entsprechende Zahl auf dem Lande exclusive
Städte nur 0,62 °/0 ist. Diese Zahlen repräsentiren ungefähr die gleichen
IQ I. Die Aetiologie der
Relationen, wie sie hinsichtlich der Morbidität an Paralyse in der Stadt
gegenüber dem Lande feststehen, nämlich 4 : 1.
Sehr bemerkenswerth und wesentlich auf Lues zurückzuführen ist
ferner die grosse Morbidität gewisser Berufsklassen gegenüber der
relativen Immunität anderer Stände.
Die grössten Gegensätze ergeben sich, wenn man die Morbidität
an Paralyse bei Officieren und Geistlichen vergleicht.
Kundt33) (Deggendorf) hatte unter 1090 Aufnahmen in seiner An-
stalt 17 katholische Geistliche, von denen kein einziger an Paralyse
litt, dagegen 13 Militärpersonen (5 Officiere), davon 8 Paralytiker
(3 Officiere) = 61,5 °/0.
Bouchaud M) ermittelte unter 288 in 3 verschiedenen französischen
Irrenanstalten aufgenommenen Geistlichen 9 Paralytiker (3,1 °/0) und
vermuthet wohl mit Recht, dass die Seltenheit von Lues und Alkohol-
ausschweifung bei diesem Stand die geringe Mortalität erklärt.
Ich selbst habe unter rund 3000 männlichen Paralytikern nur
einen (katholischen) Geistlichen gezählt. Dieser eine hatte als Student
an Lues gelitten. Wiederholte Berechnungen bezüglich der Paralyse bei
Officieren ergaben mir in meinem Beobachtungskreise bis zu 90°/0
Paralysefälle.
So kolossal kann der Unterschied des Berufs sich nicht geltend
machen.
Auch die enorme Seltenheit der Paralyse bei Damen aus hohem
Stande lässt sich aus ihrer geschonten, dem Kampf ums Dasein ent-
rückten Position, wie man dies früher sich dachte, nicht erklären. Hier
ist offenbar die Seltenheit luetischer Infection das Ausschlaggebende.
Die Annahme, dass die Syphilis in irgend einer "Weise die Grund-
bedingung für die Entstehung der Paralyse sei, findet wichtige Be-
stätigung dadurch, dass in Gegenden, in welchen Lues selten ist, auch
die Paralyse kaum vorkommt.
Besonders bemerkenswerth sind die Erfahrungen von Rabow86),
nach welchen im Schweizer Canton Wallis die cantonsangehörigen
Paralytiker nur 1,1 °/0' der Gesammtaufnahme der männlichen Kranken
in der Irrenanstalt ausmachten. Nun ist aber im Canton Wallis Syphilis
äusserst selten. Analoge Erfahrungen machte Ehlers86) auf Island. Er
fand dort nur 1 Mann und 2 Frauen, die an Paralyse litten. Ihre Tor-
geschichte ergab Lues. Lm Uebrigen soll die Syphilis auf Island sehr
selten sein und die Paralyse gar nicht vorkommen.
Umgekehrt giebt es Länder, in welchen neben der unverhältniss-
mässig grossen Zahl der Syphilitischen, die Paralyse, aber auch die Tabes
sich in fataler Weise bemerklich macht, so z. B. in Rumänien, wo die
progressiven Paralyse. 17
sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Prostitution bis vor Kurzem noch
eine sehr mangelhafte war.
Eine bemerkenswerthe Thatsache ist die, dass die Paralyse auf der
Höhe des Lebens die grösste Morbidität zeigt. Man erklärte sich dies
damit, dass man annahm, zur Zeit der grössten Inanspruchnahme und
physiologischen Turgescenz sei das Gehirn des Culturmenschen am
meisten exponirt dieser Krankheit gegenüber. Es kann nicht bezweifelt
werden, dass accessorische Schädlichkeiten, welche sie zum Ausbruch zu
bringen geeignet sind, gerade in dieser Lebenszeit in Gestalt von Sur-
menage, Debauchen, mechanischem und psychischem Shok auf das Gehirn
besonders häufig vorkommen und von Einfluss auf die Morbidität in
diesem Lebensalter sein mögen, aber die Erfahrung lehrt, dass es doch
unzählige Fälle giebt, in welchen solche Schädlichkeiten nicht oder in
nicht genügender Intensität nachgewiesen werden können und gleich-
wohl die Krankheit in dem Alter der besonders grossen Morbidität
(35.-45. Jahr) zum Ausbruch gelangte. Hier dürfte als erklärendes
Moment die frühere Lues heranzuziehen sein, denn die meisten von ihr
Heimgesuchten acquiriren sie in der Zeit vom 20—30. Lebensjahre und
der Ausbruch der Paralyse erfolgt in der ungeheuren Mehrzahl der
Fälle 5 — 15 Jahre nach der Infection.
Wenn Paralytiker viel früher oder viel später als vom 35. — 45. Jahre
erkranken, so kann man fast immer in solchen Fällen ungewöhnlich
frühe oder späte Infection nachweisen. Die juvenile Paralyse, bei
welcher ja fast immer hereditäre, zuweilen auch acquirirte Lues nach-
weisbar ist, mag als Beleg für die Richtigkeit dieser Annahme gelten.
Von einzelnen Forschern, so z. B. neuerlich von Westphal37) wird,
zum Theil zur Widerlegung der Bedeutung der Lues für die Entstehung
von Paralyse, hervorgehoben, dass Prostituirte selten an Paralyse er-
kranken. So fiel es Westphal auf, dass unter seinen 148 weiblichen
Paralysefällen keine einzige Puella publica sich befand. An der Wiener
Klinik sind solche Fälle nicht gerade selten. Man darf diesen, auch
für Tabes herangezogenen Beweis nicht ernst nehmen, denn da die
meisten Puellae um die 30er Jahre ihr Schandgewerbe aufgeben müssen
und zur Zeit ihrer Erkrankung an Paralyse einen anderen Beruf
repräsentiren, findet ihr früheres Gewerbe in der Statistik keine Be-
rücksichtigung.
Ob die frühere Syphilis eine Conditio sine qua non für die Ent-
stehung von Paralyse ist, kann, beim gegenwärtigen Stand der Forschung,
als nur sehr wahrscheinlich behauptet werden. Jedenfalls sind die Impf-
versuche meines Gewährsmannes in hohem Grade geeignet, diese An-
schauung zu stützen.
9
Kraff t-Ebing, Arbeiten II. "
18 I. Die Aetiologie der
Auch die hochwichtige Frage, durch welche Zwischenglieder die
Lues pathogen wird, muss zur Zeit als eine ganz offene bezeichnet
werden. Mendel und Hirschl vermuthen, dass die Syphilis, analog der
interstitiellen Hepatitis luetica, eine interstitielle Encephalitis hervorrufe.
Mendel lässt ferner die Möglichkeit offen, dass die Lues feinere Ver-
änderungen an den Gehirngefässen , mit dem Erfolg abnormer Durch-
lässigkeit derselben, bewirkt. Andere nehmen bekanntlich als Ursache
der durch Lues im Gehirn des Paralytikers vermittelten geweblichen
Veränderungen Toxine (Strümpell) an oder ein unter dem Einfluss der
früheren Syphilis entstandenes fermentartiges Gift (Möbius — Paralyse
eine metasyphilitische, Fournier — parasyphilitische Erkrankung). All das
sind vorläufig nur Hypothesen.
Sicher ist nur, dass die Paralyse keine specifische (luetische) Hirn-
erkrankung, weder im Sinne gummöser noch arteriitischer Processe dar-
stellt, womit sich auch die Erfolglosigkeit antiluetischer Behandlung
dieser Krankheit gegenüber erklären dürfte.
Unzweifelhaft stellt die frühere luetische Infection das constanteste
und einzige nicht zufällige Moment in der Aetiologie dieser Krankheit
dar (Hirschl) und damit die wichtigste (praedisponirende) Ursache
derselben.
Dadurch erscheint die Krankheit, im Gegensatz zu den meisten
gewöhnlichen Psychosen (abgesehen von den alkoholischen) im Lichte
einer nicht sowohl erblich gezüchteten als vielmehr einer erworbenen
und meist vermeidbaren Krankheit.
Von diesem Standpunkt aus gehört zu den Ursachen der Paralyse
Alles, was, wenn auch nur indirect, der Entstehung der Syphilis Vor-
schub leistet.
Die Zunahme der Paralyse legt die Frage nahe, ob denn die
Syphilis in der modernen Gesellschaft zunimmt und in welchen Pro-
portionen ?
Eine Statistik der venerischen Krankheiten giebt es nur in Däne-
mark. Selbstverständlich entgehen ihr viele Fälle. Die Berechnung des
Syphilisprocentes der Bevölkerung nach dem Vorkommen der Lues bei
der Armee ist kein verlässlicher Maassstab.
Der Procentsatz der Syphilis in den europäischen Heeren schwankt
zwischen 2 und 8,4 °/0. In Grossbritannien berechnete man 1875, dass
5,4 °/0 der Gesammtbevölkerung syphilitisch waren.
Dass die Lues allenthalben in bedenklicher Zunahme begriffen ist
begegnet nirgends einem Widerspruch.
progressiven Paralyse. 19
Neumann38) sagt: ,,Die Prostitution hat gerade heutzutage eine
ungeahnte Ausdehnung gefunden. Sie ist es, welche an der ausser-
ordentlichen Verbreitung der Syphilis hauptsächlich Schuld trägt."
Schuld daran ist in erster Linie die zunehmende Ehelosigkeit, dann
das Zusammendrängen der Menschen in Städten, die riesige Ausbreitung
von Handel und Wandel, überhaupt des menschlichen Verkehrs, die
Genuss- und Putzsucht breiter Schichten der weiblichen Bevölkerung,
die Hungerlöhne, welche arme Mädchen dem Laster in die Arme treiben
Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Zunahme der stehenden
Heere und die allgemeine Wehrpflicht. Unzählige junge Leute, die auf
dem Lande geblieben wären, kommen heutzutage zur Ableistung ihrer
Militärpflicht in die Garnisonsstadt und fallen dort der Prostitution in
die Hände, um dann eventuell später eine Infectionsquelle für die
Heimath zu werden. Die meisten jungen Leute, welche der Syphilis
zum Opfer fallen, haben dieselbe während ihrer Militärzeit erworben.
In den Gross-, Handels- und Fabrikstädten hält es die Mehrzahl
der jungen Männer für eine Schande, keusch zu bleiben. Was nicht
das böse Beispiel der Kameraden und die Verführung bewirken, kommt
auf Rechnung des Alkohol, der erogen wirkt, Gewissen und Vorsicht
betäubt und damit den oft so verhängnissvollen sexuellen Verkehr mit
dem anderen Geschlecht fördert.
Es ist Erfahrungsthatsache, dass nur ein gewisser, leider nicht be-
stimmbarer Procentsatz von syphilitisch Gewesenen der Paralyse an-
heimfällt.
Nothwendiger Weise müssen zu der durch Lues erworbenen
Disposition noch andere disponirende und überdies accessorische Ur-
sachen hinzukommen, um Paralyse hervorzubringen.
Eine besonders wichtige Disposition scheinen biologische Lebens-
phasen darzustellen, gleichsam kritische Zeiten, in welchen die trophischen
Vorgänge im Organismus durch Entwicklung und Functionsbethätigung
bisher unentwickelter Organe (Pubertät) oder Ausschaltung derselben
(Klimacteriuni) grosse Schwankungen durch Veränderungen der all-
gemeinen Ernährungs- und Circulationsbedingungen zu bestehen haben.
Offenbar schädigt die Lues die Vitalität und Resistenzfähigkeit der Ge-
webe. Es liegt nahe, zu vermuthen, dass damit evolutive Vorgänge ge-
stört und involutive beschleunigt werden.
So würde es sich erklären, dass die fast ausnahmslos mit dem
Beginn der Pubertät einsetzende juvenile Paralyse dadurch zu Stande
kommt, dass durch hereditäre Lues geschädigte Ganglienzellen und
Nervenfasern den geänderten Ernährungsbedingungen in dieser biolo-
gischen Phase sich nicht anzupassen vermögen und der Atrophie verfallen.
2*
20 I. Die Aetiologie der
Auch das auffallend häufige Auftreten der Paralyse in den
Involutionsjahren beim Weibe würde damit eine Erklärung finden.
Für diese Annahme spricht auch die Thatsache, dass die juvenile
Paralyse geradezu, die der Erwachsenen heutzutage vorwiegend in der
als einfach atrophische Form anzusprechenden klinischen Erscheinungs-
weise simpler Dementia beobachtet wird.
In verallgemeinerter Auffassung Hesse sich der Einfluss der Lues
überhaupt dahin deuten, dass durch sie die in ihren Lebensbedingungen
veränderten Nervenelemente abnorm früh der Involution zugeführt
werden. Die Paralyse wäre also in diesem Sinne, wie Schuele u. A.
längst lehrten, ein Senium praecox (e lue.) und das Einsetzen der
Krankheit bei Männern schon Anfangs der vierziger Jahre würde ein-
fach im Sinne eines solchen zu deuten sein. Als unterstützende
praedisponirende Momente wären dabei noch zu berücksichtigen: die
erbliche Belastung und neuropathische Constitution, die durch Rachitis
hervorgerufenen Schädigungen von Schädel und Gehirn, ein durch
körperliche und geistige Ueberanstrengung, Debauchen und andere
Schädlichkeiten vorzeitig abgenütztes Gehirn.
Ein theilweiser Ausdruck der Wirksamkeit solcher Factoren in
der Bevölkerung wäre die Thatsache der fortschreitend früheren Er-
krankung an Paralyse in den letzten Decennien.
Man ist jedenfalls berechtigt, diese Thatsache mit der anti-
hygienischen Lebensweise, namentlich dem Surmenage und anderen
Auswüchsen der Civilisation in ursächlichen Zusammenhang zu bringen.
Es bliebe aber immerhin noch übrig zu untersuchen, ob heutzutage die
Gelegenheit zu luetischer Infection (Grossstädte!) nicht früher sich er-
giebt, als in vergangenen Generationen. Geringfügig gegenüber diesen
aus Lues und sociologischen Bedingungen resultirenden ätiologischen
Momenten erscheinen gewisse, offenbar nur den letzten Anstoss zur Er-
krankung gebende oder den Ausbruch beschleunigende Factoren, wie
z. B. psychische (Schicksalsschläge) und mechanische Traumen. Falls
man es versuchen wollte, die Aetiologie der Paralyse in 2 Worten zu-
sammen zu fassen, so hätten sie zu lauten: Syphilisation und
Civilisation.
Das Endziel aller wissen seh aftlichen Forschung ist die Erkenntniss
der Wahrheit. Die Philosophie kann sich mit einem solchen Resultat
zufrieden geben. Für die Medicin erwächst daraus aber ein weiteres
ethisches und ein praktisches Bedürfniss — nämlich aus solcher Er-
kenntniss Gewinn zu ziehen für die Wohlfahrt der Mitmenschen. Auf
dem Gebiete der Krankheitsursachen ist dies gleichbedeutend mit der
Prophylaxe von Krankheiten, deren Aetiologie klar gestellt ist. Bei
progressiven Paralyse. 21
einer so tragischen und unheilvollen Krankheit, wie sie die progressive
Paralyse darstellt, bei einem Leiden, dem gegenüber die Therapie fast
machtlos sich erweist, erscheint die Prophylaxe von eminenter Be-
deutung.
Auch ihr stehen grosse Hindernisse im Wege, denn sie hat mit
einem der mächtigsten Naturtriebe und mit socialen Factcren sich ab-
zufinden, deren Beeinflussung zum Guten überhaupt schwierig ist.
Wir können die Civilisation nicht zurückschrauben, aber wir ver-
mögen ihre Auswüchse und Schädlichkeiten zu bekämpfen.
Hier bietet sich ein ungeheures Feld für die Wohlfahrtsbestrebungen
der Sociologen und Philanthropen, für die der Medicin und der Staats-
wissenschaft.
Kampf gegen die Prostitution und die aus ihr resultirende Syphilis,
Kampf gegen den Alkoholmissbrauch, der die Menschen körperlich
schwächt und Gesittung, Wille und Gewissen untergräbt, Schutz der
Jugend vor Allem, was der Reinheit und Keuschheit abträglich ist, Er-
ziehung derselben zu körperlich kräftigen Wesen, womöglich abseits von
den Gefahren der Grossstadt, sind nur einige und zunächst liegende
Aufgaben, die sämmtlich der Entstehung der Syphilis und damit der
Paralyse entgegenzuwirken geeignet sind. Nicht gering wäre dabei an-
zuschlagen die rechtzeitige Aufklärung der heranwachsenden Jugend
bezüglich der Gefahren der aussereheliehen Befriedigung des Geschlechts-
triebes.
Diese Seite der Jugenderziehung ist ein fast noch unbeschriebenes
Blatt der Pädagogik.
Den elementaren Regungen eines mächtigen Naturtriebes gegen-
über kann nur eine klaie Darstellung der sittlichen Pflichten, die der
Einzelne gegen sich und seine Mitmenschen zu erfüllen hat, ein Gegen-
gewicht bieten. Ganz besonders handelt es sich dabei um die Be-
kämpfung der unsinnigen Vorurtheile, dass ein an und für sich
berechtigter, aber durch schädliche Auswüchse der Civilisation und ge-
züchtete Nervosität vielfach präpotenter Sexualtrieb befriedigt werden
müsse, ferner um die Aufklärung bezüglich der Gefahren, welche auf
den der Venus vulgivaga sich Ergebenden lauern.
Wenn die medicinische Wissenschaft in der Lage sein wird, nach-
zuweisen, dass eine der gefürchtetsten Krankheiten im Dasein der
heutigen Culturmenschen nur unter der Voraussetzung einer Lues denk-
bar ist, so wird die Furcht unzählige Menschen davon abhalten, sich in
solche Gefahr zu begeben. Das ist dann die wirksamste Prophylaxe.
Es lässt sich hoffen, dass im Lauf der Zeiten die Menschen durch Ver-
nunft, Erstarkung ihrer Sittlichkeit, durch entsprechende sociale und
22 I. Die Aetiologie der
Wohlfahrtseinrichtungen sich eines der schlimmsten Feinde, der an ihrem
Marke zehrt, zu erwehren wissen werden.
Eine Prophylaxe der Paralyse durch energische therapeutische
Behandlung der Lues giebt es nach meiner Erfahrung nicht. Die Ver-
meidung von Schädlichkeiten, die den Ausbruch herbeiführen könnte, ist
das Einzige, was hier übrig bleibt, aber dieser Forderung zu entsprechen,
ist nur ausnahmsweise möglich.
') Willis, de aninia brutoruni. Amstelodami 1072, Cap. IX. p. 280, „observavi in
pluribus, quod, cum cerebro primum indiBposito mentis bebetudine et oblivioDe et
deinde stupiditate et /koqwoei afficerentur, postea in paralysin (quod jam praedicere
solebam, incidebant . . . ."
2) Haslam, observations on madness and melancholy London 1798 p. 259: „Die
paralytischen Affectionen sind eine häufigere Ursache des Irreseins, als man glaubt, und
sind ebenso eine sehr häufige Folge der Manie. Die Paralytischen zeigen in der Kegel
Motilitätsstörungen, die ganz unabhängig von ihrer Geisteskrankheit sind. Die Sprache
ist gestört, die Mundwinkel sind verzogen, Arme und Beine mehr weniger ihrer will-
kürlichen Bewegungen beraubt und bei der Mehrzahl der Kranken ist das Gedächtniss
erheblich geschwächt. Auch das Bewusstsein ihrer Lage fehlt diesen Kranken in der
Regel. Schwach, dass sie sich kaum auf den Beinen halten können, halten sie sich
dennoch für äusserst stark und der grössten Leistungen fähig."
3) Althaus, med. Times and Gazette 1876. Schon 1850 hat übrigens Moreau
(Annales med. psychol. 1850, p. 679, als einer der Ersten und gestützt auf die Statistik
der Irrenanstalten Charenton und Bicetre, die zunehmende Häufigkeit der Paralyse
constatirt. Er suchte die Ursache davon in dem Fortschritt der Civilisation.
4) Snell, Zeitschrift f. Psychiatrie 44, p. 648, findet für Hannover, dass in den
letzten Jahren vor 1880 die Zahl der Irren nur um 7 °/0, die der Paralytiker aber um
27 °/0 gestiegen ist.
6) Begis „l'encephale" 1885, No. 5.
6) Huppert, Schmidt's Jahrbücher, Bd. 173 p. 181.
7) Townbridge, Alienist and Neurologist 1891.
6) Wille, Corr.-Blatt f. Schweizer Aerzte 1881. 3.
9) Cahneil, de la paralysie chez les alienes. Paris 1826.
10) Kaes, Zeitschrift f. Psych. 49. 5; Ascher (Dalldorf) ebenda 46. 1. und Eick-
holt (Grafenberg) ebenda 41. 1 fanden die giösste Häufigkeit der Erkrankung vom
35.— 50. Jahr.
") Siemerling, neurolog. Centralbl. 1888. 11.
12) Idanoff, Annales med. psychol. 1894. 3.
13) Esmarch und Jessen, Zeitschr. f. Psychiatrie 14, p. 20.
14) Kjellberg, Virchow's Jahresbericht 1868 II, p. 16.
,s) Rieger, Schmidt's Jahrbücher, Bd. 210, No. 4.
lö) Goldstein, Zeitschr. f. Psychiatrie 42. 2.
17J Binswanger, Festschrift, Hamburg 1891.
18) Barwinski, Mitthl. a. d. Wasserheilanstalt Elgersburg 1890/91.
w) Ziehen, neurolog. Centralbl. 1889. 9.
!0) Dietz, Zeitschr. f. Psychiatrie 43. 3.
3,j Oebecke, ebenda 48. 1 und 2.
progressiven Paralyse. 23
22) Mendel, Berlin. Klin. Wochenschr. 1885. 33. 34.
S3) Hougberg, Zeitschr. f. Psychiatrie 50, p. 546.
21) Hirschl, die Aetiol. d. progr. Paral., Wien 1890.
") Aerztl. Intelligenzblatt 1856. 35 . . . Cannstatt'sJahresb. pro 1856 IV, p. 336 .. .
Auspitz, die Lehren vom syphil. Contagium, Wien 1866, p. 183.
ac) Auspitz, op. cit, p. 188—196.
a') Blasehko, Syphilis und Prostitution vom Standpunkt der öffentl. Gesundheits-
pflege. Berlin 1893.
s8) Alzheimer, Die Frühformen der allg. progr. Paral. Zeitschr. f. Psychiatrie 52. 3.
20) Fournier, paral. gen. juvenile d'origine heredosyph. Academie de med. (scance
du 14. 5. 95) u. Revue neurolog. 1896 IV, p. 119.
30) Von 11 Fällen juv. Paral. in meiner Klinik waren zur Zeit ihrer Behandlung
mit (hereditärer) Lues behaftet 4, wahrscheinlich 2, unentscheidbar 5.
Der Werth dieser negativen 5 Fälle wurde aber erheblich herabgemindert da-
durch, dass bei einem derselben nach dessen Tode die ältere Schwester mit heredi-
tärer Lues in ambulatorische Behandlung kam, bei einem zweiten post mortem eruirt
wurde, dass er als dreimonatliches Kind an Pemphigus syphiliticus gelitten hatte und
bei einem dritten, mit 17 Jahren Gestorbenen die Necropsie „Endartenitis aortae „pro-
babiliter elue" ergab, sodass also bei 9 unter meinen 11 Fallen Lues sieher oder höchst
wahrscheinlich war.
31) Stark, Archiv f. öffentl. Gesundheitspflege in Elsass-Lothringen XIV. 1.
") Arnaud, Annal. med. psychol. 1888 Juli.
33) Kundt, Zeitschrift f. Psychiatrie 50, p. 258.
M) Bouchaud, Aunal. med. psychol. 1891 Mai.
35) Babow, Extrait du Becueil iuaugural de l'uuiversite de Lausanne. 1892.
M) Ehlers, Deutsche Med. Zeitung 1896 .... neurolog. Centralbl. 1897, p. 39
"j Westphal, Aetiologisches und Symptomatologisches zur Lehre d. progr. Paral.
der Frauen. Charitc'annalen 1893.
ss) Neumann, Nothnagels Pathol. und Therapie. XXIII, p. LIII.
IL
UEBER VORTÄUSCHUNG ORGANISCHER
ERKRANKUNGEN DES NERVENSYSTEMS
DURCH HYSTERIE.
liin Umstand, der bei der Diagnostik von Hirn- und Rücken-
niarkskrankheiten beständig berücksichtigt werden muss, ist die Vor-
täuschbarkeit solcher, durch organische Veränderungen von Centren und
Leitungsbahnen bedingter Krankheitsbilder, in Gestalt von durch Neu-
rose vermittelter blosser funktioneller Störung der gleichen Gebiete.
Schon Sydenham hat 1681 auf diese die Sicherheit der Diagnose
und damit der Prognose trübende Thatsache aufmerksam gemacht und
gerade die neuere Literatur, iu welcher es an Belegen für die imitatorische
Leistungsfähigkeit der hysterischen Neurose in der Hervorbringung
pseudoorganischer Hirn- und Rückenmarkserkrankung wimmelt, beweist,
wie begründet die Warnungen des grossen Klinikers des 17. Jahrhunderts
waren.
Trotz aller Fortschritte der Diagnostik, sowohl auf dem Gebiet der
organischen als auch dem der sog. funktionellen Nervenkrankheiten,;erscheint
noch heutzutage die Möglichkeit einer Verwechselung zwischen beiden
Erkrankungsformen nicht ausgeschlossen. Ganz besonders schwierig ist
die Situation da, wo es sich um zweifellos hysteropathische Individuen
handelt.
Da die Hysterie alle möglichen organischen Krankheitsbilder imi-
tiren kann, andererseits aber jede organische Erkrankung des Nerven-
systems als Complication der hysterischen Neurose nicht ausgeschlossen
ist, begreift sich die Schwierigkeit einer sicheren Unterscheidung von
Organischem und Pseudoorganischem, die oft erst nach längerer Beobach-
tung, wesentlich durch die Instabilität, Discongruenz und eigenthümliche
Combination der Symptome zur Entscheidung im Sinne einer blos funk-
tionellen, speciell hysterischen Bedeutung der gebotenen Erscheinungen
vorzudringen vermag.
"Wäre innerhalb des Rahmens der Hysterie alles Gebotene rein
psychisch vermittelt, die Pathogenese des Krankheitsbildes und die Ab-
hängigkeit der Syndrome von „Vorstellungen" überhaupt und im con-
creten Falle völlig sichergestellt, so wäre die Schwierigkeit der Unter-
scheidung der Fälle von hysterischer Bedeutung von organisch vermittelten
auf ein Minimum reducirt.
28 IL Ueber Vortäuschung organischer Erkrankungen
Nur in einer gewissen Zahl von Fällen lässt sich aber das in seiner
Bedeutung zweifelhafte Krankheitsbild auf den Einfluss eines vermitteln-
den Vorstellungsbildes zurückführen und als dessen mehr weniger ge-
lungene, unwillkürliche, selbst ganz unbewusste Imitation nachweisen.
Ueberdies handelt es sich ja gewöhnlich nicht um die einfache
plastische Uebertragung eines empfangenen psychischen Eindrucks in die
Leiblichkeit, sondern um complicirte, indirekt damit verbundene Hem-
mungs- oder Eeizvorgänge im psychischen Organ. Diese können wieder
in durch den seelischen Eindruck geweckten emotionellen Vorgängen be-
stehen, in associirten secundär ausgelösten Vorstellungen, die überdies
durch das Hereingreifen der Phantasie, durch bewusste oder unbewusste
TJmprägung des originalen afficirenden Vorgangs dessen Wirkungsweise
modificiren und den ursprünglichen Zusammenhang verwischen.
In solchen Fällen kann, neben der Incongruenz und Instabilität der
gebotenen Phänomene, zunächst nur ihre grosse Beeinflussbarkeit durch
psychische Momente die Erkenntniss der rein funktionellen Bedeutung
der vorhandenen Symptome anbahnen helfen. Diagnostischen Werth
kann eventuell auch die hypnotische Suggestion gewinnen, unter der
Voraussetzung ihrer Ausführbarkeit d. h. genügender Suggestibilität.
Entscheidend kann aber dieser Versuch nur dann sein, wenn er
in vollem Umfang positiv ausfällt, denn auch bei organischer Krankheit
ist oft gar Manches an den Symptomen funktionell und somit hypnotischer
Suggestion zugänglich, während allerdings rein organisch vermittelte
Symptome psychischem Einfluss unzugänglich bleiben. Um diagnostisch
sicher vorzugehen, erscheint es räthlich, an den zweifelhaften Fall in der
"Weise heranzutreten, dass die organische Bedeutung des Krankheitsbildes
präsumirt wird.
Ergiebt die Genese, der Verlauf, die Gruppirung und der Zusammen-
hang der Symptome die Unhaltbarkeit einer organischen Begründung der-
selben, findet sich kein einziges klinisches Zeichen (Neuroretinitis,
Atrophia n. optici, Stauungspupille, reflectorische Pupillenstarre, qua-
litative Aenderung der electrischen Erregbarkeit u. s. w.), das im
Sinne einer organischen Bedeutung des Leidens angesprochen werden
könnte, so ist es gerechtfertigt, im Sinne einer functionellen Bedeutung
des Falles zu ihm Stellung zu nehmen.
Eine Stütze im weiteren Vorgehen gewährt dann der Nachweis,
dass der Kranke Zeichen der hysterischen Neurose aufweist. Ihr Mangel
spricht aber nicht gegen die obige Vermuthung, denn es giebt nicht wenig
Fälle, in welchen sie fehlen (monosymptomatische Erkrankung).
Aber auch die Häufung hysterischer Stigmata giebt umgekehrt keine
Gewähr, dass Alles im Krankheitsbild functionell ist. Neben der Hysterie
des Nervensystems durch Hysterie. 29
kann eine beliebige organische Erkrankung vorhanden sein. Solche Coni-
bination ist in der Praxis gar nicht so selten, wie z. B. Fälle von Hysterie,
complicirt mit multipler Sclerose oder auch Syringornyelie erweisen. Die
letztere Combination kann überdies recht schwierig für die Diagnostik
sein, da die dissociirten Störungen der Empfindung, wie sie der
Syringornyelie zukommen, auch durch Hysterie geboten sein können.
Um zu einer sicheren differentiellen Diagnostik zu gelangen, erscheint
es wünschenswerth, dass Fälle, welche der Diagnose Zweifel hoten oder
zu diagnostischen Irrthümern führten, gesammelt und studirt werden.
Souques hat in einer sehr werthvollen Studie über die „Syndromes
hysteriques", welche organische Erkrankungen des Rückenmarks vor-
täuschen (Paris 1891), versucht, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Die
deutsche Wissenschaft hat sich mit dieser wichtigen Frage differentieller
Diagnostik bisher wenig beschäftigt. In theilweiser Erweiterung und Er-
gänzung des von Souques Gebotenen habe ich die nachfolgenden Fälle
aus eigenem Beobachtungskreise zusammengestellt. Sie werden dem an-
gehenden Praktiker den Beweis liefern, dass die Typen von Hirn- und
Rückenmarkskrankheit, welche er in einseitiger Vorbildung an der Klinik
fast ausschliesslich in organischer Begründung gesehen hat, in der Praxis
auch als blos functionell bedingte Bilder vorkommen können. Wie die
folgende Casuistik lehrt, hat die Verwechslung functioneller und orga-
nischer Erkrankung oft verhängnissvolle Consequenzen. Zunächst be-
stärkt sie die Autosuggestionen des Kranken, organisch krank zu seinr
raubt der wichtigen psychischen Therapie ihre Grundlagen und stellt
schon dadurch die Möglichkeit einer Genesung in Frage. Aber auch
die auf die falsche Diagnose gestützten directen therapeutischen Eingriffe
können dem Patienten zu grossem Schaden gereichen.
Der Ausdruck „Simulation" organischer Krankheiten durch Hysterie
ist ein unglücklicher, denn er fusst auf der irrigen Vorstellung, dass
bewusst und absichtlich der Kranke ein solches Krankheitsbild biete.
Ebensowenig passt die Bezeichnung der „Imitation" für alle Fälle, wenn
sie auch der Thatsache einer ivnbewussten Projection von Vorstellungen
in die Leiblichkeit gerecht wird. Einzig richtig erscheint die Bezeich-
nung solcher Krankheitsbilder als „Vortäuschung organischer Erkrankung",
wobei das Schwergewicht hinsichtlich der Vortäuschung nicht auf der Seite
des Beobachteten, sondern des Beobachters zu suchen ist und von dessen
Erfahrung abhängig gedacht werden muss.
Hysterische Hemiplegien
J. Hemiplegien, einsetzend mit apoplectiformem Insult
(„Apoplexia hysterica").
Beob. 1. Wiederholte rechtsseitige Hemiplegie, jeweils
nach Emotionen, mit imitatorischer Verwerthung bezüglicher
Erinnerungsbilder.
W., 37 J., Friseur, Wittwer, erblich nicht belastet, nie schwer krank
gewesen, Vater tou 3 gesunden Kindern, ohne hysterische Antecedentien,
kein Potator, frei von Lues, mit Spuren von Eachitis am Skelet und
einem Schädelumfang von nur 52,8 cm, hat Jahre lang seine Schwieger-
mutter mit r. Hemiplegie vor Augen gehabt. 1885 erlitt seine Frau eine
Apoplexie mit r. Hemiplegie und r. Schulterschmerz, genas aber bis auf
geringfügige Residuen.
1891 im April erlitt "W. eine heftige Gemüthsbewegung. Sofort
gab es ihm einen intensiven Stich in der r. Schulter und stürzte er
bewusstlos zusammen. Nach einigen Minuten biss er um sich, wurde
dann ruhig, blieb bei getrübtem Bewusstsein noch etwa 24 Stunden, kam
dann ganz zu sich, mit Amnesie für Alles, was seit dem psychischen Shok
sich zugetragen hatte.
Pat. bot eine schlaffe Lähmung in r. OE. und TJE., totale r. Hemianästhe-
sie inclus. Sinnesorgane, aber mit Ausschluss einer Stelle am r. Ober-
arm, an welcher man ein Vesicans applicirt hatte. An dieser Stelle em-
pfand er lebhaften brennenden Schmerz. Er blieb noch einige Tage ver-
gesslich, sprach schlecht, bekam Jodkali, trat eine Badekur in Pistyan
an und wurde bis April 92 von allen Beschwerden frei.
Im Juni 92 bekam Frau W. einen zweiten Anfall von Apoplexie
mit restirender r. Hemiplegie, anfänglicher Sprachlosigkeit und starken
Schmerzen im r. Schultergelenk. Sie genas nicht. Herr W. hatte viel
Sorgen und Kummer wegen seiner gelähmten Frau, musste seine 3 Kinder,
die er sehr liebte, allein betreuen, überdies in seinem Beruf angestrengt
arbeiten.
Am 14. 11. 93 erfuhr "W. auf einem Geschäftsgang die Nachricht
vom plötzlichen Tode seiner Frau. Er erschrak heftig, bekam sofort,
Hysterische Hemiplegie. 31
ohne apoplectischen Insult, eine schlaffe LähmuDg der r. OE. mit Anästhe-
sie im r. Oberarm und Schultergürtel, sowie Parese der r. UE.
Jodbehandlung und neuerlicher Gebrauch von Bad Pistyan waren
diesmal erfolglos, weshalb Pat. sich am 10. 11. 94 in meinem klinischen
Ambulatorium vorstellte.
Pat. mittelgross, gut genährt, vegetativ ohne Befund. Augenhinter-
grund normal, concentrische Einschränkung für Weiss und Farben auf
r. Auge, Dyschromatopsie; Pupillen, Augenmuskeln ohne Fuuctionsstörung.
Facialis intact, tactile, algetische thermische Hypästhesie in der r. Kopf-
hälfte, Ohr- und Nasenreflex r. schwächer. Geruch, Geschmack, Gehör
intact; Gaumen- und Rachenreflexe sehr prompt, beiderseits gleich.
Das r. Schultergelenk ist spontan und bei passiver Bewegung
äusserst schmerzhaft, ohne anatomische Veränderung. Bei passiver Be-
wegung stellt sich Rigor in den Schultergelenksmuskeln ein und wird
das Gelenk steif. Keine Diathese de contracture.
Gelingt es, die Aufmerksamkeit des Pat. abzulenken, so ist die Be-
wegung im r. Schultergelenk unbehindert und schmerzfrei.
Die r. OE. ist im Zustand schlaffer Parese, aber alle Einzelbeweg-
ungen sind möglich. Es besteht hochgradige Muskelschwäche, aber virtuell
ist die grobe Muskelkraft vorhanden. So contrahirt sich bei befohlener
Widerstandsbewegung gegen passive Streckung des gebeugten Armes
kräftig der Triceps, bei gestrecktem Arm die Bicepsgruppe.
Wenn Pat. nicht an seine Lähmung denkt, verwendet er die r. Hand
gleich der linken. Intentioneil und emotionell besteht feinwelliger Tremor
der ausgestreckten Arme, r. deutlicher als 1.
Die tiefen Reflexe sind in den OE. nicht gesteigert.
Die cutane Sensibilität ist für alle Qualitäten an r. OE. distal bis
übers Handgelenk herauf, herabgesetzt, hier ringförmig abschliessend.
Noch intensiver sind die sensiblen Ausfallserscheinungen an der
Innenseite des Oberarms, an Schulter, Hals, Stamm, vorne bis zur- Höhe
der 5. Rippe, hinten bis zur Höhe des 10. Brustwirbels.
Tiefe Sensibilität und Lagevorstellung sind in r. OE. ungestört.
In den r. UE. werden häufig blitzartig durchfahrende Schmerzen
geklagt.
Es besteht hier Amyosthenie, leichtes Schwanken des erhobenen Beins.
Der Gang ist normal, die Sensibilität unversehrt, der Patellarreflex
prompt, gleich links. Der Bauchhautreflex ist beiderseits vorhanden.
Stigmata hysteriae sind nicht aufzufinden. Faradisation und Magnet
bessern Motiliät und Sensibilität; die Gelenkneurose weicht Wasser-
injectionen, die an die Stelle einmaliger subcutaner Morphiurninjection
treten.
32 II. Vortäuschung organischer Nervenkrankheiten durch Hysterie.
Vorübergehend stört die Genesung eine episodische Myodynie mit
Contractur im r. pectoralis, wobei Pat. sofort wieder in seiner Energie
nachlässt, an seiner Zukunft zweifelt und das Vorbild seiner gelähmten
Frau vor Augen hat. Faradisation und Wachsuggestion thun ihre
Schuldigkeit.
Am 30. 12. 94 hält sich Pat. für gesund und verlässt das Spital.
Am 2. 1. 95, als Pat. gerade einen Kunden bediente — er hatte
wieder eine Gemüthsbewegung erfahren — bekam er Schwindel, stürzte
bewusstlos zusammen, blieb einige Stunden bewusstlos, kam dann mit
schlaffer Lähmung der r. OE und stotternder Sprache zu sich. Schon
am folgenden Tage gesellte sich eine sehr schmerzhafte Omalgie hinzu.
Pat. kommt am 5. 1. ins Ambulatorium der Klinik und bietet
folgenden Befund:
Schlaffe Lähmung der r. OE., Amyosthenie der r. UE., Anästhesie
für alle Qualitäten in beiden r. Extremitäten, Hypästhesie der 1. TJE.,
Hypästhesie auf r. Kopf-, Gesichts- und Halshälfte, r. Amblyopie, r. Ge-
hörstörung, insofern die Perception durch die Kopfknochen null, durch
den Meatus minimal ist.
Im r. Mundfacialis und in r. Zungenhälfte leichte Contractur, dabei
zeitweise tic convulsifartige Zuckungen im r. Zygomaticus. Die vorge-
streckte Zunge weicht nach links ab.
Pat. lässt sich am 14. 1. 95 neuerlich auf der Klinik aufnehmen.
Er klagt über heftige stechende Schmerzen in der Gegend des r.
Schultergelenks, ausgehend vom r. Proc. coracoideus und von hier
ins Gelenk, Arm bis zu den Fingerspitzen, Hinterhaupt und durch die
r. Rumpfseite ins r. Bein ausstrahlend.
Die r- Facialis- und Zungencontractur noch angedeutet und Ur-
sache von Klagen, zeitweise den Mund nicht ordentlich öffnen, nicht gut
sprechen zu können.
Die r. Schulter ist in die Höhe gezogen und der Oberarm an die
Thoraxwand angepresst (Contractur des Cucullaris und Pectoralis). Diese
Contractur scheint eine reflectorische, von Omalgie hervorgerufen. Sie
wird aber psychisch entschieden beeinflusst, denn wenn die Aufmerk-
samkeit des Pat. abgelenkt ist, erträgt das Gelenk ziemlichen Druck und
lassen die Contracturen bedeutend nach.
Werden dem Pat. active Bewegungen aufgetragen, so gelingen die-
selben im Schultergelenk nicht, da sich sofort die betr. Muskeln con-
tracturiren. Oft nimmt sogar der Latissimus dorsi und selbst der Biceps
Theil. Dabei kommt es zu lebhaftem Schütteltremor der r. OE. Der-
selbe Erfolg tritt bei passiver Bewegung ein.
Ellbogen-, Hand- und Fingergelenke sind andauernd schlaff und
Hysterische Hemiplegie. 33
anscheinend gelähmt. Fordert man aber den Pat. auf, eine Bewegung
vorzunehmen, so entsteht eine kräftige Contraction in den Antagonisten.
Wiederholt wird beobachtet, dass wenn Pat. nicht an seine r. Schulter
denkt, er rascher und ausgiebiger Bewegungen im r. Schultergelenk
fähig ist.
Die r. Hemihyp- bezw. Anästhesie beschränkt sich auf eine 15 cm.
im Durchmesser haltende, für alle Qualitäten anästhetische Stelle am
vorderen äusseren Abschnitt der Schulterhöhe. Innerhalb dieses anästhe-
tischen Bereiches ist der Processus coracoideus höchst druckschmerzhaft.
Sonst finden sich keine Stigmata hysteriae. Unter anfänglicher
Morphiuminjection, die aber inscio aegroto durch Aqua ersetzt wird,
Faradisation des r. Schultergelenks und Anlegung eines Magnets all-
mäliges Schwinden der Beschwerden, wobei aber, anlässlich Gemüths-
bewegungen des sehr emotiven Pat., wiederholt noch Relapse vorkommen.
Entlassen am 5. 3. 95.
Beob. 2. Hemiplegia dextra, durch Emotion ausgelöst.
Ph., Sophie, 29 J., Handarbeiterin, aufg. 28. 2. 96 behauptet aus
gesunder Familie zu stammen und stets gesund gewesen zu sein. 1895
Abortus im 5. Monat.
Am 27. 2. 96 hatte Pat. einen heftigen Auftritt mit einer Nach-
barin in deren Zimmer gehabt. Sie ging darauf in ihre eigene Wohnung
und stürzte daselbst bewusstlos nieder.
Nach einer halben Stunde kam sie zu sich, war noch gemüthlich
sehr erregt, fühlte Kopfweh, Kriebeln in den Fingern der r. Hand und
Schwäche in der ganzen r. OE., am folgenden Morgen Kriebeln in den
Zehen des r. Fusses und Schwäche.
Pat. erschien bei der Aufnahme von kräftigem Körperbau. Schädel
leicht rachitisch, Umfang 53 cm. Geringe Intelligenz, weinerliches Wesen,
sehr emotionirt und gedrückt.
Die ganze 1. Kopfhälfte auf Percussion sehr empfindlich. Sprache,
Facialis, überhaupt Gehirnnerven ohne jegliche Functionsstörung.
Die Papillen bieten leichte Verschleierung an deren innerem Rande
jedoch bleibt es von fachmännischer Seite unentscheidbar, ob dieser Be
fund als pathologisch anzusprechen ist.
Am Stamm und auf der 1. Körperhälfte keine Functionsstörungen.
Bauchhautreflex beiderseits auslösbar.
Die r. OE. ist im Zustand einer schlaffen Lähmung und wird zu
bewussten und willkürlichen Bewegungen nicht benutzt. Fordert man
Pat. zu solchen energisch auf, so kommt es zu ganz geringfügigen kraft-
losen Bewegungsleistungen in den grossen Gelenken, während die Finger
gar nicht bewegt werden können. Auch im Bette liegt die r. OB. schlaff da.
Krafft- Eliing, Arbeiten II. 3
34 H. Vortäuscliung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Am r. Bein sind alle Einzelbewegungen möglich, jedoch im Hüft-
und Kniegelenk mit sehr reducirter Kraft. Dorsalflexion des Fusses
und Extension der Zehen gleich kräftig wie links. Plantarflexion wird
wegen "Wadenschmerzen nicht ausgeführt. Die r. Wade ist auf Druck
äusserst schmerzhaft, aber auch leichtes Kneipen der Haut in ihrem Be-
reich ruft Schmerz hervor.
Wohl auf Grund dieser Schmerzen hinkt auch Pat. auf diesem
Bein, das oft mit der Sohle am Boden schleift.
Vasomotorische und trophische Störungen bestehen nirgends. Tac-
tile Sensibilität im Lähmungsgebiet, gleichwie tiefe unversehrt. Ther-
mische und algetische Empfindung auf r. UE., OE., aber auch in r. Ge-
sichtshälfte deutlich herabgesetzt.
Keine Rigorerscheinungen. Die tiefen Reflexe sind r. erheblich
gesteigert.
Pat. verweilt nur bis zum 12. 3. 96 auf der Klinik. Geringfügige
Besserung der Beschwerden.
Beob. 3. Recidivirende linksseitige Hemiplegie.
Ha., 38 J., ledig, Taglöhner, von trunksüchtigem Vater, von Kindes-
beinen auf emotiv, reizbar, nie schwer krank gewesen, kein Trinker,
ohne hysterische Antecedentien, erlitt am 6. 3. 94 einen heftigen psy-
chischen Shok, indem ihm im Gasthause während des Schlafes sein
Koffer mit all seinen Ersparnissen und Dokumenten gestohlen wurde.
Er war darüber sehr aufgeregt, verspürte sofort Kopfweh, Schwindel,
konnte sich gar nicht beruhigen, blieb schlaflos. Am 10. 3. auf der
Weiterreise, im dumpfen Eisenbahncoupe, wurde ihm plötzlich unwohl,
schwindlig; er bemerkte, wie sein Gesichtsfeld sich verdunkelte, empfand
mit einem Male ein blitzartiges Durchfahrenwerden („Riss") in der linken
Körperhälfte, verlor das Bewusstsein und stürzte zu Boden.
H. blieb 2J/2 Tage lang in anscheinend tiefem Coma mit allgemeiner
Resolution, kam in einem Spitale in Steiermark wieder zu sich, bemerkte,
dass er auf der linken Körperhälfte gelähmt war und als er sie anfühlte,
dass er Berührungen derselben nicht empfand. Die ärztliche Unter-
suchung ergab complete 1. Hemiauästhesie inclusive Sinnesorgane, Un-
beweglichkeit der 1. OE. und UE. Darauf, ob der Facialis mitgelähmt
war, wurde nicht geachtet.
Pat. hatte ein Gefühl von Steifheit im 1. Auge, war unfähig, beide
Augen associirt zu bewegen, auch beide Lider vollständig zu öffnen
und zu schliessen, sodass er, wenn er schlafen wollte, sich die Augen
verbinden lassen musste.
Bei geschlossenem linkem Auge waren aber das rechte und dessen
Augenlider frei beweglich.
Hysterische Hemiplegie. 35
Pah konnte mit der 1. Kieferhälfte nicht beissen, den Kiefer nicht
nach links bewegen. In der Mundhöhle konnte die Zunge nach allen
Richtungen hin bewegt werden, wenn vorgestreckt, aber nur nach rechts.
Flüssigkeiten regurgitirten per nasum, feste Substanzen konnte Paf.
anstandslos schlucken. Anosmie, Ageusie, 1. Anacusie, und Amaurose.
Er war unfähig zu sprechen, brachte nur unarticulirte Töne her-
vor und empfand bei Sprech versuchen, aber auch sonst, ein Gefühl, als
ob ein Knödel im Halse stecke und ihn würge (Globus). Das Yerständ-
niss für an ihn gerichtete Fragen war ungestört. Die Bewegung des
Kopfes nach links war eingeschränkt.
Pat. empfand Kopfweh, war frei von Schwindel und Erbrechen, der
Schlaf war gestört durch schwere Träume, der Puls 48.
Schwitzen wurde nur auf der rechten, auch in allen sonstigen
Functionen intacten Körperhälfte bemerkt. Kein Fieber, vegetative Or-
gane ohne Befund.
Um den 21. 3. schwand der Kopfschmerz; Ende März kehrte die
Sprach-, Schling-, Riech- und Schmeckfähigkeit wieder, auch besserte sich
die 1. Hörfähigkeit.
Anfang April änderte sich die 1. Sehstörung in der Weise, dass in
Armlänge vor dem 1. Auge eine schwarze, gegen das Centrum hellere
Scheibe auftauchte, deren Ränder zugleich das ganze 1. Sehfeld ab-
schlössen. Diese Scheibe (Scotom) rückte allmälig bis auf 2 m weit
hinaus und verschwand eines Tages. Zugleich stellte sich monoculare
Diplopie auf dem 1. Auge ein. Das Gefühl der Steifheit in diesem
schwand, desgleichen die Lähmung in der 1. Portio minor trigemini und
in den 1. Extremitäten. Pat. fühlte sich Mitte April wieder arbeitsfähig
und verliess am 16. 4. das Spital.
Am gleichen Tage machte er einen Marsch von 2 Stunden, war in
Sorge, noch rechtzeitig auf der Bahnstation anzukommen, regte sich darüber
auf, empfand plötzlich Schmeiz im 1. Oberschenkel, Schwere, Schwäche
und Ungeschicklichkeit im 1. Fuss, der herabzuhängen begann und beim
Gehen den Boden streifte.
Er erreichte mühsam die Station, der Zug war fort. Zunehmende
Schwäche in der 1. ÜE. erweckte in ihm die Befürchtung neuerlicher
Lähmung.
Am 17. war auch der 1. Arm paretisch geworden. Pat. ging neuer-
lich ins Spital und als nach 8 Tagen keine Besserung zu bemerken war,
liess er sich nach Wien bringen.
Stat. praes. 26. 4. 94 in der Klinik: Pat. von kräftigem Körperbau,
vegetativ ohne Befund, Schädel normal. Sensorium frei. Miene eines
3*
36 H. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
schwer Leidenden, Gefühl schwerer Krankheit, grosse Eniotivität, Be-
sorgnisse wegen Siechthums. Kein Schwindel, kein Kopfschmerz, Puls 90.
Schlaue Parese in 1. OE. und UE., besonders insufficient das
Peroneusgebiet; der 1. Puss beim Gehen nachschleifend, aber keine
Circumduction des 1. Beins wie bei länger bestehender organischer
Hemiplegie.
Alle Einzelbewegungen in 1. OE. und UE. möglich, aber ganz
kraftlos, unter sichtlicher Anstrengung und unter reichlichen Mitbeweg-
ungen. Das beim Gehen sichtbare Herabhängen des 1. Fusses ist in
Bettlage nicht zu bemerken. Bei mehrfacher Wiederholung werden die
betr. intendirten Bewegungen immer ausgiebiger. Ist die Aufmerksam-
keit des Pat. abgelenkt, so bewegt er Augen, Zunge, 1. OE und UE. viel
besser. Die tiefen Eeflexe auf beiden Körperhälften gleich und etwas
gesteigert. Bauchhautreflex r. und 1. vorhanden. Ein Ausfall der Facialis-
iunction besteht nirgends.
In der Mundhöhle wird die Zunge anstandslos nach allen Rich-
tungen bewegt; wenn vorgestreckt, weicht sie constant und stark zitternd
nach rechts ab.
Die Bewegung derselben nach links gelingt trotz bedeutender
Anstrengung nur unvollkommen und unter gleichzeitiger krampfhafter
Mitbewegung von Hals- und Schultergürtelmuskeln.
Krampfhafte Erscheinungen an der Zunge sind nicht wahrzunehmen.
Das Sprechen erfolgt anstandslos.
Die Leistungen in der Portio minor trigemini erweisen sich intact,
bis auf Unfähigkeit den Unterkiefer nach links zu verschieben.
An den Augenlidern keine Störung, keine Schielstellung der Bulbi.
Fordert man aber den Pat. auf binocular rechts oder links seitwärts zu
blicken, so bleiben die Bulbi, trotz sichtlicher Anstrengung, starr ge-
radeaus gerichtet. Intentionszittern tritt bei solchen Bemühungen nicht ein
Die gleichzeitige Bewegung der Bulbi sursum oder deorsum ist nicht-
gestört.
Verdeckt man dem Pat. das linke Auge mit der Hand, so ist das
rechte von seinem Bann befreit und nach allen Richtungen frei beweg-
lich, aber bei plötzlicher Entfernung der deckenden Hand zeigt sich auch
das vollständige associative Mitgehen des 1. Auges mit den Bewegungen
des rechten.
"Wird blos eine Scheidewand zwischen beiden Augen errichtet, so
ist dieser Erfolg nicht zu erzielen.
Die etwas über mittelweiten Pupillen reagiren normal. Rechts
normale Sehschärfe, links bedeutende Amblyopie. Fundus normal; Ge-
sichtsfeld 1. für Weiss und Farben bedeutend concentrisch eingeengt (auf
Hysterische Hemiplegie. 37
10 — 12°). Es besteht 1. Anacusie, Anosmie, Ageusie, Hemihypästhesie
für alle Reize. Lagevorstellung und Gefühl passiver Bewegung sind 1.
sehr mangelhaft, Haut- und Schleimhautreflexe desgleichen sehr herab-
gesetzt. Die Sprache ist gedehnt, saccadirt; die Exspiration erfolgt
ruckweise.
Kauen und Schlingen sind nicht gestört. Die Functionen der r.
Körperhälfte sind intact.
Die weitere Beobachtung lehrt, wie sehr objective Symptome psy-
chisch beeinflusst sind. So erweist sich die associative Augenbewegung
im Affekt intact.
Bringt man durch Faradisation die 1. OE. in horizontale Lage, so
behält Pat. diese Lage auch nach dem Oeffnen des Stromes bei.
Unter Wachsuggestion und etwas Elektrisation rasche Aufbesserung
der gestörten Motilität und Sensibilität.
7. 5. noch etwas Amyosthenie im früheren Lähmungsgebiet. Die
associirte Blicklähmung geht zurück, aber der 1. Rectus superior und
inferior zeigen sich nunmehr insufficient und bei offenen Augen und
Intention sursum und deorsum bleibt auch der r. gleichnamige Muskel
zurück, während bei geschlossenem 1. Auge der Bulbus in der Richtung
des betr. Muskels die volle Excursion leistet.
Das 1. Gesichtsfeld ist auf 20° erweitert. Es besteht noch 1. monoculäre
Polyopie und Amblyopie in der Entfernung von 0.3 — 1.5 m. Bei An-
näherung eines Gegenstandes unter 0.3 m tritt Diplopie durch Insufficienz
des 1. M. rectus int. ein (Doppelbilder parallel, einander nahe).
Eine bekannte Gestalt, die sich nähert, sieht und erkennt Pat. deut-
lich erst bei Annäherung auf etwa 2 m. In gleicher Entfernung etwa
ist das Seototn localisirt.
Es hellt sich gegen das Centrum auf, bildet eine Scheibe von etwa
1.5 m Durchmesser.
Schwaches Intentionszittern des r. Rectus int. bei Convergenz.
Gaumen- und Rachenreflex 1. noch stark vermindert. L. nur noch
Hypästhesie.
16. 5. (Gesichtsfeld auf 32° erweitert, um ein Geringes weniger
für Roth und Grün.)
Diplopie und Polyopie geschwunden. Scotom auf 10 m hinaus-
gerückt. Monoculäre Bewegungen links nach allen Richtungen noch in-
sufficient, binoculäre besser, aber schwächer als rechts.
Ausser geringfügiger Herabsetzung der 1. Hörschärfe bei Knochen-
und Luftleitung und ganz geringer cutaner Hypästhesie, Sensibilität in-
tact. Motorische Störungen geschwunden. Gaumen- und Rachenreflexe
1. wiedergekehrt. Am 17. 5. wurde Pat. genesen entlassen.
38 H. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Folgender von Dr. Bischoff in der Grazer Nervenklinik beobachtete
und in der Wiener klin. Wochenschrift 1894. 18 niitgetheilte Fall von ,,hy-
sterischer Apoplexie" ist dem vorausgehenden so überaus analog und er-
weist damit eine solche empirische Gesetzmässigkeit der Symptome, dass
ich es mir nicht versagen kann, jenen im Auszug hier mitzutheilen.
Beob. 4. Analoger Fall.
J., Tischlergehilfe, 28 J., unbelastet, frei von allen hysterischen Antecedentien
bis auf irrelevante Infectionskrankheiten. Früher gesund, intelligent, fleissiger Arbeiter,
hatte vor Kurzem eine heftige Gemüthsbeivegung erlitten.
Am 23. 11., unter heftigem Kopfweh, plötzliches apoplectisches Zusammenstürzen
Nach 2 T. im Spital, regungslos (Comai, congestiv, Respiration mühsam, stöhnend
Auf Anrufen geringes Oeffnen der Augen und des Mundes.
Schlaffe Lähmung der 1. Extremitäten, aber bei passiver Bewegung leichter Wider
stand derselben. Tiefe Reflexe in beiden UE. gesteigert. Plantarrefiexe fehlend. R. Pu-
pille etwas weiter als 1., beide auf Licht reagirend.
Puls 48, Herztöne schwach.
24. 11. früh Bewusstseiu wiedergekehrt, 1. Hemiplegie, 1. complete Hermanästhesie,
Zunge nach r. abweichend. Die passive Eröffnung des Mundes gelingt Anfangs nicht
wegen sofort sich einstellender Contractur der Masseteren. Mutismus, Kopfschmerz,
1. Unterlippe unbeweglich, Puls 48, Mund nach r. verzogen.
25. Sensorium frei, Schrift- und Geberdensprache. Husten phonisch. Pat. kann
A aussprechen. Zunge wird zitternd nach r. vorgestreckt, nach jeder Richtung, ausser
nach links, bewegbar.
Augenschluss unter Zittern. Stirnrunzeln wenig möglich.
Das 1. Auge amblyojiisch. Sein Gesichtsfeld von einer schwarzen Scheibe ein-
genommen. Bei binocularem Versuch der Augenbewegung ist die conjugirte Bewegung
frei bis auf erschwerte Blickbewegung nach links, gelingt aber auch nach dieser Rich-
tung bei rascher Bewegung.
Bei bedecktem r. Auge gelingen die des linken nur minimal nach innen, oben,
unten, gar nicht nach aussen. (Das gesunde r. Auge erleichtert somit die associirte
Bewegung des linken, mit Ausnahme der Leistung des Abducens).
Bei bedecktem linken Auge erfolgt die Bewegung des r. Auges und die associirte
des 1. frei nach allen Richtungen. (Das 1. Auge übt somit eine Hemmung auf die Be-
wegung des r.).
Bei Convergenz bleibt das 1. Auge zurück. (Es wiederholt sich also in diesem
Fall bis zu einem gewissen Grad die in Beob. 3 beobachtete vollständige Hernniungs-
■Wirkung des 1. functionell in seinen Bewegungen gestörten Auges auf das andere —
offenbar ein psychischer Akt, insofern der Kranke die bewusste 1. Insuffizienz auf die
assoeiativen Bewegungen des gesunden r. Auges überträgt und sie damit hindert. Bei
ausgeschaltetem 1. Auge, in welcher Situation Pat. bewusst nur r. imnervirt, fehlt
dieser hemmende Einfiuss auf das andere Auge).
In 1. UE. am 25. 11. geringfügige active Beweglichkeit der Zehen und des Unter-
schenkels möglich. Fortdauer 1. totaler Hemianästhesie, mit concentr. Einengung des
1. Sehfelds für Weiss und für Farben. Fingerzählen nur bei Annäherung derselben
auf 2 cm. Gehör 1. schwach, aber Kinne positiv; 1. Anosmie, Ageusie; Niess- und
Würgreflexe verspätet eintretend. Die tiefen Reflexe in UE. sind r. stärker als 1. ge-
worden.
Plantarreflex fehlt links.
Hysterische Hemiplegie. 39
In den folgenden Tagen keine Aenderung, bis auf Entwicklung hyperästhetische,:
Plaques im anästhetischen Gebiet.
Am 30. 11. nach Aerger Comaanfall von 2.5 Std. Dauer mit 48 Pulsfrequenz.
Beim Zusichkommen verlangt Pat. nach dem Geistlichen, da er nun sterben werde.
Vom 1. 12. ab Faiadisation. Nach der 2. Sitzung sind Arm und Bein wieder gebrauchs-
fähig. Nach 3. Sitzung Wiederkehr der Sprache. Facialisparese (?) geschwunden. An
ihre Stelle tritt rhythmischer Klonus im Platysma und Sternocleidomastoideus, r. stärker
als 1. Sensible, sensorielle und Augenmuskelstörungen unverändert.
Pat. furchtsam, wehleidig. Unter Gymnastik und Faradisation allmälige Be-
seitigung der motorischen Störungen der Extremitäten.
Im Januar neuerlich Parese in 1. OE. und 1. Mundfacialis , dabei Zunahme der
1. Gesichtsfeldeinsehränkung.
Allmälig Schwinden dieser Beschwerden.
Am hartnäckigsten bleibt die associative Augenmuskelstörung, die erst nach
2 Monaten sich verliert. Die klonischen Krämpfe waren rasch auf Suspensionsbehand-
lung geschwunden.
Als Pat. nach 2 monatlichem Aufenthalt das Spital verliess, bestand 1. noch eine
leichte Amyosthenie und Hypästhesie, besonders im 1. Auge.
Beob. 5. Rechtsseitige Hemiplegie nach Emotion.
K, Elise, 18 J., Gutsbesitzerstochter, angeblich unbelastet, früher
gesund, erkrankte vor einem halben Jahre ohne bekannte Ursache an
Hysterie (Globus, epigastrische Myodynie, 1. Ovarie, Palpitationen, grosse
Emotivität) und verlor die Menses.
Wegen sehr schmerzhafter Contractur der Mm. recti abdominis hatte
man Morphiuminjectionen gemacht. Daraus waren Abscesse entstanden.
Pat. kam deshalb am 26. 8. 88 auf die chirurgische Klinik in Graz.
Pat schwächlich, durch Anorexie und geringe Nahrungsaufnahme
sehr abgemagert, anamisch.
Globus, Oppressionsgefühl auf dem Sternuni, Mm. recti abdominis
bretthart, in Contractur und sehr empfindlich. Spiualirritation, 1. Ovarie.
Sensibilität und Motilität ungestört. Grosse Emotivität, Furcht vor
Operation und Tod im Spital.
Am 26. 9. Chloroformnarcose behufs genauer Untersuchung wegen
eines vermutheten Tumor abdominis. Incision der Abscesse.
Nach der Narkose war Pat. wieder bei sich. Auf dem Transport
ins Krankenzimmer Bewusstseinsverlust mit allgemeiner Resolution
(Lethargus)- Nach einigen Stunden dazu Klonismen im r. Accessorius-
gebiet, inspiratorischer Krampf der Stimmritzenmuskeln (Laryngismus
stridulus), Singultus, enorme Reflexerregbarkeit im Pharynx, mit Unfähig-
keit zu schlucken.
In diesem Zustand gelangt Pat. auf die Nervenklinik. Lethargus
schwindet, Krampferscheinungen fortdauernd. Druck auf hysterogene
Zonen dagegen erfolglos.
40 II- Vortäusclmng organischer Erkrankungen des Nervensy-stenis durch Hysterie.
Das r. Auge ofl'en, aber anlässlich Krämpfen sich schliessend, r.
Nasenloch enger als links und bei der Exspiration der r. Nasenflügel
sich aufblähend; r. Mundwinkel steht tiefer als links, die r. Wange er-
schlafft. Das 1. Auge meist geschlossen, im 1. Facialisgebiet keine Spuren
von Krampf.
Die r. OE. schlaff, paretisch, beide UE. gestreckt, starr, steif. Rechts
dor epigastrische und Bauchreflex prompt, 1. schwach.
R. Heniihypästhesie. Nahrungsaufnahme wegen enormer Reflex-
erregbarkeit im Pharynx nicht möglich. Grosse Schwäche, Nährklysmen.
Campherinjection. Auf heisse Umschläge ad nucham schwinden am
23. 9. die Krämpfe. Bougirung des Pharynx beseitigt allmälig die
Hyperästhesie, sodass Sondenfütterung möglich wird.
Bemerkenswert!] ist, dass während der der Pat. sehr unangenehmen
Fütterungen sie unbewusst beide OE. zur Abwehr braucht und sich mit
beiden Füssen gegen das Fussbrett des Bettes stemmt, während
in Ruhe r. Arm und Bein den Befund einer schlaffen Lähmung zeigen.
Pat. wird gut genährt, schläft wieder, erholt sich, bietet aber bei der
Anfangs Oktober erfolgenden Abholung durch die Mutter noch r. Hemi-
parese incl. Facialis.
Beob. 6. Linksseitige Hemiplegie nach Emotion.
Frau L, 38 J., stammt von neuropathischer Mutter. Eine Schwester
leidet an Asthma.
Pat. ist seit 10 Jahren, in Folge von Gemüthsbewegungen, an Hysterie
leidend (Lach-, Weinkrämpfe, Schlafanfälle u. s. w.). Nach einer heftigen
seelischen Aufregung stürzte sie im Juli 94 bewusstlos zusammen. Nach
etwa einer Stunde wieder zu sich gekommen, bot sie 1. Hemiplegie
incl. Facialis und Heinianästhesie im Lähmungsgebiet. Die ersten
Tage habe sie nur lallen können. Rasche Besserung der 1. Lähmung;
nach 4 Wochen reisefällig. Ein hervorragender Kliniker vernnithete
luetische Ursache, sandte Pat. nach Hall, wo eine Inunctionskur neben
der Badebehandlung durchgeführt wurde. Sie genas dort vollständig.
Im October 94 neuer psychischer Shok. Sofort bewusstlos, blieb
so 2 Tage, delirirte noch 1 Tag und will schwer gesprochen haben. Keine
Hemiplegie diesmal.
Anlässlich einer Consultation am 26. 4. 95 constatirte ich r. Am-
blyopie, Gesichtsfeld stark concentrisch eingeschränkt, sonst keine Stig-
mata hysteriae. Keine Residuen von Lähmung, überhaupt keine moto-
rischen Störungen. Vegetative Organe ohne Befund. Keine Spuren von
Lues (3 gesunde Kinder). Pat. behauptet, dass sie anlässlich Eniotiou
in 1. Zunge und 1. Wange Ameisenkriechen verspüre und erschwert
spreche.
Hysterische Hemiplegie. 41
Beob. 7. Rechtsseitige Hemiplegie nach Sturz von einem
Gerüst.
L. 43 J., Maurer, Wittwer, angeblich unbelastet, nie luetisch er-
krankt gewesen, ziemlicher Potator (2 Liter Wein täglich), früher gesund,
stürzte am 10. 6. 92 vom 3. Stockwerk eines Neubaues herab und konnte
erst nach mehreren Stunden bewusstlos unter den Trümmern hervor-
gezogen werden.
Ob Pat. gleich von Anfang an bewusstlos geworden war oder erst
im Verlauf, konnte nicht festgestellt werden. Er blutete aus Mund, Nase,
Ohren, hatte, ausser zahlreichen leichten Verletzungen an Stamm und Ex-
tremitäten, eine Verletzung des 1. Bulbus und beiderseitige Ruptur des
Trommelfells erlitten. Pat. soll 6 Tage bewusstlos geblieben sein und
bot eine Lähmung der r. OE. und UE.
Als Pat. sich im Frühjahr 93 auf der Augenklinik einer Operation
unterzog, constatirte man Anästhesie der r. Zungenhälfte und des r. Nasen-
kanals.
Pat. war bis 1894 bettlägerig. Von da ab besserte sich seine r.
Lähmung soweit, dass er mit Hilfe eines Stocks mühsam gehen konnte.
Von nun an stellten sich aber Jacksonanfälle ein, die folgender-
massen beschrieben werden: Etwa 10 Minuten vor Eintritt des Anfalls
heftiger Schwindel und Gefühl von Ameisenkriechen im ganzen Körper.
Pat. stürzt dann bewusstlos zusammen und bekommt theils tonische
tlieils klonische Krämpfe, die jeweils in der r. UE. beginnen, sich dann
auf die r. OE. und manchmal auch aufs Gesicht fortsetzen. Es handelt
sich immer um Anfallsserien von 6 Stunden bis 2 Tagen.
Nach dem Anfall allgemeines Schwächegefühl, Zunahme der Schwäche
in den r. Extremitäten, heftige Kopfschmerzen und Aphasie, welche 3 — 14
Tage die Krampfanfälle überdauert. Solcher Anfälle will Pat. bisher
etwa 12 gehabt haben. Er weiss sie nicht zu erklären. Bemerkens-
werth ist jedoch, dass Pat. nach wie vor viel "Wein trinkt. Von Alkohol-
intoleranz seit dem Trauma hat er nichts bemerkt.
Seit Sommer 95 bemerkte Pat. Schmerzen im ganzen Körper und
neuerliche Zunahme der Schwäche der r. Extremitäten, dazu Polydipsie
(bis 12 Liter täglich), weshalb er am 9. 12. 95 die Nervenklinik aufsuchte.
Pat. gross, kräftig, Schädel ohne Narben, Cf. 58 cm. Intelligenz ohne
Defekt. Vegetative Organe ohne Befund.
Der ganze Schädel auf Percussion sehr empfindlich, die "Wirbelsäule
auf Druck, besonders im Lendentheil. Clavus, Globus, Druckschmerz
in den Hypochondrien, r. stärker als 1., mit regionärer cutaner Hyper-
ästhesie. R. Anosmie, r. starke concentrische Einengung des Gesichts-
felds, aber keine Amblyopie (1. durch Iriscolobom und Cornealnarbe nur
42 U- Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Ifysterie.
quantitative Lichtempfindung); 1. Nictitatio bis zu temporärem Blepharo-
spasmus. Auf der r. Gesichtshälfte Hypästhesie für alle Empfindungs-
qualitäten. Scleral-, Ohren-, Nasen-, Gaumen-, Rachenreflex r. bedeutend
vermindert. Die Geschmacksempfindung fehlt im vorderen Drittel der
Zunge. Der r. Facialis vollkommen sufficient. Beiderseits Otitis media
chronica suppurativa; r. Hypacusie, dabei fehlt r. für Taschenuhr und
tiefe Stimmgabeltöne die Knochenleitung.
Die r. OE. bietet schlaffe Parese, aber von wechselnder Intensität.
Zeitweise begegnen passive Bewegungen durch Contraction der Anta-
gonisten erheblichem Widerstand, sodass unbewusst erhebliche Innervation
möglich ist und an dem Vorhandensein latenter ansehnlicher grober Muskel-
kraft nicht zu zweifeln ist. Bei abgelenkter Aufmerksamkeit werden auch
active Bewegungen gelegentlich beobachtet. Rigor oder Contracturen
bestehen nicht, auch keine trophischen und vasomotorischen Störungen.
Die tiefen Reflexe sind beiderseits gleich und gesteigert. R. Rumpf
und OE. bieten cutane Hypästhesie für alle Qualitäten. Auch die Lage-
vorstellung und das Gefühl passiver Bewegung sind sehr herabgesetzt;
die Stereognose fehlt. Der Bauchreflex (sehr schlaffe Bauchdecken)
fehlt beiderseits.
An der r. UE. besteht schlaffe Parese. Beim Gehen erfolgt Nach-
ziehen derselben. Beim Stehen Tremor, Angst zu stürzen, aber die blosse
Markirung einer Stütze genügt, um Pat. frei stehen zu lassen.
Trophische und vasomotorische Störungen bestehen nicht. Die tiefen
Reflexe sind r. und 1. massig erhöht. Die oberflächliche und tiefe Sen-
sibilität ist für alle Qualitäten sehr gestört. Durchstechen einer Haut-
l'alte ist schmerzlos und erfolgt ohne Blutaustritt. Der Plantarreflex ist
r. etwas herabgesetzt.
Pat. klagt über Detrusorschwäche, Obstipation, stechenden Schmerz
in Kopf und OE., Herzklopfen, fliegende Hitze, schlechten Schlaf. Er
bietet Polydipsie, ist sehr emotiv.
In mehrwöchentlicher Spitalbehandlung unter Gymnastik, Wach-
suggestion, Electrisirung bedeutende Aufbesserung der r. Parese.
Beob. 8. Linksseitige recidivirende Hemiplegie.
R. 27 J., ledig, Techniker, angeblich aus unbelasteter Familie, hat
ausschweifend gelebt, ist jedoch nicht luetisch inficirt geworden.
Im Februar 96 erlitt er durch eine Detonation einen heftigen
Schreck, stürzte bewusstlos zusammen und kam nach etwa 10 Minuten
mit 1. Hemiplegie zu sich. Ueber Details sind keine Angaben zu ge-
winnen. Die Lähmung soll sich rasch gebessert haben. Pat. blieb aber
emotiv, verstimmt, schlief schlecht, träumte schwer, schreckte über schreck-
Hysterische Hemiplegie. 43
haften Träumen oft aus dem Schlafe auf. Im April und am 10. Mai 96
erfolgten mehrstündige Anfälle hysterischer Verwirrtheit.
Am 29. 6. 96 nach Alkoholexcessen stürzte R. bewusstlos auf der
Strasse zusammen, wurde in ein Spital gebracht, wo er durch 3 Tage
bewusstlos geblieben sein soll. Zu sich gekommen, bot er eine 1. Hemi-
plegie. Diese besserte sich rasch. Gegen den Eath der Ä.erzte verliess
er schon am 10. 7. das Spital, zechte und excedirte bis zum 12. 7., an welchem
Tage er wegen eines hysterisch deliranten Zustands auf die psychiatr.
Klinik gebracht werden musste. Am 15. 7. kam Pat amnestisch für
diese delirante Zeit zu sich.
Er bot 1. Hemiparese, zeitweiliges tremorartiges Zucken des I. Mund-
winkels, Kinns und der 1. Hand. Der 1. Buccinator insufficient, die
1. Nasolabialfalte etwas tiefer und kürzer (Andeutung von Con-
tractur), Hypoglossus, motor. Trigeminus, Augennerven intakt in ihrer
Funktion.
In 1. OE. und UE. alle Einzelbewegungen möglich, aber grobe
Muskelkraft sehr gering. Die galvanische iudirecte Erregbarkeit leicht
gesteigert.
Gesichtsfeld 1. concentrisch eingeschränkt, 1. Hypacusie, Geruch,
Geschmack herabgesetzt. Hemihypästhesia sinistra. Schleimhaut- und
tiefe Reflexe 1. erhalten. Bauchhautreflex r. und 1. auslösbar. Globus.
Mit diesem Befund wurde Fat. auf sein Verlangen am 20. 7. 96
entlassen.
Folgende hierher gehörige Fälle hat Higier (Warschau) in der
Wiener Klin. Wochenschrift 1894. 18. 19. 21 veröffentlicht.
Beob. 9. Linksseitige Hemiplegie nach Emotion. X., Uhrmacher,
IS J. , aus neurotisch belasteter P'amilie, war als Kind sorophulös, litt mit 11 J. eine
Zeitlang an Erbrechen, später G Monate an Singultus, vor 5 Jahren 7 Monate lang
an Polyuria, Polydipsie, Polyphagie, wahrscheinlich auch Glycosurie, nach Pneumonie
vor l1/-. Jahren 9 Monate an Aphonie, die plötzlich schwand und an Globus.
Seit Jahren reizbare Schwäche der UE., gedrückte oft hypochondrische Stimmung,
seit 1 J. häufig Herzpalpitationen. Keine Masturbation. In Folge physischer uud in-
tellectueller Anstrengung oft Migräue und Insomnie.
Drei Wochen vor der Aufnahme, nach reichlichem Mittagsmahl und psychischer
Erregung, unter Gefühl als schiesse ihm plötzlich etwas in die Stirn, apoplectiformes
Zusammenstürzen. Anscheinend 2'/a Stunden comatös, ganz reactionslos, mit lang-
samer, tiefer schnarchender Respiration. Zu sich gekommen sprachunlahig uud unver-
mögend die Zunge zu bewegen durch 5 Tage (Mutismus). Etwa 4 Stunden nach dem
Insult, unter anhaltendem Kopfweh, schlaffe Lähmung der 1. OE. und UE. exclus. Facialis.
Nach 7 Tagen Rückgang der Lähmung im 1. Bein.
Stat. präs. 3 Wochen post insult.: vegetativ normal, Intelligenz und Sprache intact.
Aufgeregtheit, Schlaflosigkeit. Kopf-, Zahnschmerz. Motilität r. intact, 1. Facialis gut
innervirt. L. OE in schlaffer Lähmung bis auf Flexion und Extension im Index und
Coutractur in 1. Cucullaris, dabei 1. Schulter in die Höhe gezogen. L. UE. paretisch.-
44: n. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
nicht atactisch, auch nicht spastisch. Bewegung in den Zehen ziemlich normal, in den
übrigen Gelenken beschränkt. Beim Gehen 1. Bein nachschleppend. Tiefe Reflexe normal.
Plantarreflex r. und 1. fehlend, sonst cutane Reflexe erhalten. Scleral- und Corneal-
reflex beiderseits, Uvula- und Pbarynxreflex I. aufgehoben. L. Hemianästhesie inclus.
tiefe Sensibilität, bis auf erhaltene Stellen cutaner Sensibilität an 1. Gesichtshälfte,
1. Bein und Rumpfhälfte.
Im Gebiet der unteren Facialisäste öfter clonisch- tonische Contractionen, öfteres
Verziehen von Unterlippe und Zunge nach r. o. Auf Commando kann Pat. nicht Lippen
spitzen, pfeifen, wohl aber wenn unbeobachtet und zufällig innervirend.
Heiserkeit, nasale Sprache. L. Gehör, Geschmack, Geruch minimal, 1. Amblyopie,
inonoculare Polyopie und Makropsie bei Nah- und Fernsehen. Augenspiegel negativ.
L. Gesichtsfeld concentrisch für Weiss und Farben eingeengt.
Behandlung: Hypnose und Magnet. In 1. Sitzung Lähmung suggestiv behoben.
Wiederholte Hy. gravisanfälle. Unter einfacher Hypnose ohne Ertheilung von Suggestionen
bedeutende Besserung bis zum Austritt am 30. 9.
Beob. 10. Rechtsseitige Hemiparese. Frau, 62 J.. Arteriosclerose, hyste-
rische Antecedentien bis vor 10 Jahren. Unter vorausgehendem Schwindel apoplectiforme.3
Zusammenstürzen. Darauf r. Hemiparese bei intactem Facialis und Hypoglossus, r. sensi-
tiv sensorielle Hemianästhesie, concentr. Sehfeldeinschränkung an beiden Augen, leicbte3
hyster. Oedeni am r. Unterschenkel. Schwinden der meisten Symptome unter Magnet-
behandlung.
Beob. 11. Rechtsseitige spastische Hemiparese. Frau, 60 J., ohne
palpable Ursache 6 Wochen vor der Aufnahme apoplectiformes Zusammenstürzen. Lag
1 Stunde „wie todt", bewusstlos.
Bei der Aufnahme: R. spastische Hemiparese. Hyperästhesie der paretischen
Glieder, posthemiplegisches Zittern derselben, ähnlich Paral. agitans. Permanent Kopf-
schmerz in 1. Scheitelgegend, bei Druck gesteigert, epileptiforme Anfälle im Lähmungs-
gebiet.
ATerdächtige Papillen; hysterische Stigmata. Labilität und schliessliches Schwinden
der Krankheitssymptome bei indifferenter Therapie.
Hysterische Hemiplegie.
2. Hemiplegien ohne apoplectiformen Insult, meist allmälig
entstanden.
Beob. 12. Linksseitige Hemiparese nach psychischem
Trauma.
D., 32 J., Hebamme, stammt aus einer Familie, in welcher mehr-
fach Psychosen und schwere Neurosen vorgekommen sind. Sie erlitt
mit I'/ä J- einen Anfall von Convulsionen mit vierstündiger Bewusst-
losigkeit, war geistig schlecht begabt, sehr nervös, emotiv, zu Auto-
suggestionen geneigt, bildete sich schon als Mädchen alle möglichen
Krankheiten ein.
Menses mit 16 J., unregelmässig und mit Schmerzen. Seit 1892
zeitweise Detrusor vesicae insufficient, ohne alle Begründung. Seit 1893
oft heftige Cephalaea mit Furcht vor Irrsinn, häufig Globus. Im Früh-
jahr 95 einige Wochen angeblich binoculäre Diplopie, die auf Electri-
siren schwand.
Ende März 96, einige Tage nach an einem psychischen Trauma
(eine von Pat. gepflegte Wöchnerin wurde plötzlich irrsinnig, bedrohte
sie) Kopfweh, Erbrechen, Schüttelfrost, zunehmende Schwäche in 1. OE
und UE. Pat. bringt einige Tage im Bett zu, geht dann, den 1. Fuss
nachschleifend, herum und kommt am 26. 5. 96 zur Aufnahme auf der
Klinik.
Kachitischer Schädel, Cf. 54. Klagsam, weinerlich, vom Gefühl
schwerer Krankheit praeoccupirt. Keine Lues, kein Potus, keine Nephritis,
kein Vitium cordis.
In Ruhe keine Störung im Facialis; bei mimischer Bewegung leichte
Contractur im r. Mundfacialis, die eine Insufficienz des 1. Facialis vor-
täuscht. Bei festem Lidschluss tritt eine verstärkte Mitbewegung im
r. Mundfacialis zu Tage.
Es besteht auch eine leichte Contractur der r. Zunge. Diese weicht
beim Vorstrecken nach 1. ab, ist aber nach allen Richtungen frei be-
weglich.
Das Gesichtsfeld ist r. beträchtlich, 1. weniger stark für Licht und
46 II. Vortäuschnng- organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Farben eingeengt. Sonst ist im Bereich der Gehirnnerven keine Störung
auffindbar.
Die 1. OE. ist theils durch Amyosthenie, theils durch Contracturen
in ihrer Beweglichkeit sehr behindert. Die 1. Schulter steht tiefer (ge-
legentlich aber auch höher) als die r. Die 1. Scapula ist der Wirbel-
säule genähert (Rhomboideuscontractur), der Oberarm gegen den Thorax
angepresst (Pectoraliscontractur) , der Vorderarm ist leicht supinirt, die
Hand und Finger sind flectirt, aber ohne Contractur.
Diathese de contracture besteht nicht. Die tiefen Reflexe sind
sehr gesteigert, der 1. plexus brachialis und seine Nerven im Verlauf
sind sehr druckempfindlich, die Sensibilität ist intact.
Am Rumpf wandelbare myosalgische Stellen und Ovaria duplex.
Bauchhautreflex beiderseits vorhanden.
Die 1. UE. ist höchst muskelschwach, die Peroneusgruppe aus-
gesprochen paretisch. Der Gang ist spastisch, aber ohne Circumduction,
der Fuss wird am Boden geschleift und stösst mit der Spitze an. Es
besteht Patellar- nnd Fussclonus. Die Sensibilität ist unversehrt, aber
die Nervenstämme sind sehr druckempfindlich, der Plantarreflex normal.
Gelegentlich tritt spontan oder auf blosses Anfassen des Beins Schüttel-
tremor in demselben auf. Die r. OE. und UE. sind ohne pathologischen
Befund.
Am 28. 5., gelegentlich einer klinischen Demonstration, bietet Pat.
ganz das Bild einer organischen Hemiplegie, sogar Circumduction im
Hüftgelenk.
Dieser Eindruck schwindet aber bei genauer Beobachtung, die einen
auffälligen, mit einer organischen Hemiplegie unvereinbaren Wechsel in
der Intensität, Extensität und Qualität der motorischen Störungen auf-
weist. Ueberdies sind diese Insufficienzen und Contracturen durch
Auto- und Fremdsuggestion sehr beeinflussbar. Die Contracturen werden
durch Emotion oder Intention jeweils hervorgerufen. Anch bei passiver
Bewegung findet man in denselben Muskelgruppen zeitweise hochgradigen
Rigor, dann wieder freie Beweglichkeit.
Aus diesen Gründen konnte die klinische Diagnose nur im Sinne
einer functionellen (psychischen, hysterischen) Lähmung lauten.
Dazu kam 1. das Fehlen jeglicher, organische Erkrankung moti-
virenden Ursache; 2. die Erkrankung bei einer Hysteropathischen im
Anschluss an ein psychisches Trauma; 3. das Fehlen 1. Facialislähmung
und ihr Ersatz durch r. Facio (lingual) contractur; 4. das Ausbleiben
antagonistischer Contracturen durch Radialis- und Peroneusparese; 5. der
links prompte Bauchhautreflex.
Pat. verweilte nur bis zum 31. 5. auf der Klinik und verliess sie
Hysterische Hemiplegie. 47
in unverändertem Zustand. Von neuen Symptomen wurden nur cutane
Hyperästhesie der r. Mamma und der Bauchhaut verzeichnet.
Beob. 13. Linksseitige Hemiparese nach Emotion, mit
posthemiplegischen choreiformen Erscheinungen.
T., Anna, 29 J., verh., stammt angeblich von unbelasteter Familie.
Mit 5 J. soll sie ohne Ursache einmal von einem Krampfanfall befallen
worden und 2 Std. lang bewusstlos dagelegen sein. Ein solcher Anfall
wurde in der Folge nie mehr beobachtet. Er hinterliess auch keine
Folgen. Bis zum 15. Jahr viel Cardialgien. habituelle Obstipation. Von
jeher bis heute Idiosyncrasie gegen Thea chinensis, von deren Genuss
sie gleich Erbrechen bekam.
Menses mit 18 J., in der Folge regelmässig, aber prämenstrual hef-
tige Schmerzen. Pat. hat vier mal normal geboren und ihre Kinder
selbst gestillt.
1890 hatte Pat. ihr Kind gerade 8 Monate gestillt, als sie, nach
geringfügiger Emotion, von demselben Leiden, das sie neuerlich 1892
ins Spital führte, befallen wurde.
Dieses Leiden war eine 1. Hemiparese mit choreiformen Erscheinungen
auf der gleichnamigen Seite. Es verlor sich vollständig nach 3 Wochen.
1892 stillte Pat. gerade ihr letztes Kind seit 14 Monaten, als sie
durch das Wiedererscheinen der Menses dasselbe abzusetzen veranlasst
war. Wenige Tage darauf bemerkte sie, dass der 1. Arm und dann auch
das 1. Bein schwerer und schwerer wurden und das letztere sich über-
dies versteifte.
Einige Tage später stellten sich im paretischen Gebiet unbedeutende
choreiforme Zuckungen ein, die aber bald sich zu solcher Intensität
steigerten, dass Pat. sich genöthigt sah, am 19. 10. 92 Spitalspflege auf-
zusuchen.
Pat. ist zart, anämisch, von normalem Skelet und ungestörten vege-
tativen Functionen.
Sie ist sehr emotiv, besorgt wegen der Heilbarkeit ihres Leidens.
Bei der Aufnahme der Anamnese bricht sie häufig in Weinen aus.
Interscapular und lumbar finden sich Druckpunkte an der Wirbelsäule.
Hinweise auf Hysterie gestatten nur beiderseitige Ovarie. Der
Druckschmerz ist links bedeutend heftiger als rechts.
An Gehirnnerven, Stamm und r. Extremitäten keine Functions-
störungen.
Die 1. OE. und UE. sind paretisch, von gesunkenem Muskeltonus.
Das Facialisgebiet ist weder im Sinne einer 1. Parese noch einer r. Con-
tractur mit betheiligt. Die Sensibilität ist allenthalben unversehrt. Im
1. Sprunggelenke werden geringfügige Schmerzen angegeben. Dieses
48 II- Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
sowie auch die übrigen Gelenke sind anatomisch unverändert. Die
tiefen Reflexe sind an 1. OE. und UE. beträchtlich gesteigert. Bauch-
hautreflex vorhanden.
In der 1. Gesichtshälfte, in 1. OE. und UE. finden sich fast con-
tinuirliche, rasch aber nicht blitzartig ablaufende arhythmische regellose
Zuckungen von ziemlichem locomotorischem Effect. Dieser besteht im
Heben, Senken, Ein- und Auswärtsrollen des Oberarms, der bald in Ad-,
bald in Abductionsstellung sich befindet. Im Ellbogengelenk, das meist
in spitzwinkliger Beugung verharrt, spielen sich Flexions- und Exten-
sionsstösse ab. Im Handgelenk wechseln Ad- und Abductionsstellung;
in den Fingergelenken, besonders denen des 1., 2., 3. erfolgt abwechselnd
Streckung, Beugung, Speizung, während der 4. und 5. Einger meist ge-
beugt bleiben.
In der 1. UE. kommt es zu Beugungen im Knie, Rotation, Pro- und
Supination im Fussgelenk.
Alle diese Bewegungen erfolgen zum Theil gleichzeitig, zum Theil
nacheinander ganz regellos. Sie nehmen bedeutend zu, wenn Pat. im
Affect ist oder sich beobachtet weiss, und sistiren im Schlafe.
Alle Einzelbewegungen der 1. OE. und UE. sind möglich, aber
ganz kraftlos und meist vereitelt (als Zielbewegungen) durch die sie
störenden choreiformen. Im Stehen ist Pat. in permanenter Unruhe,
wird von Krampfbewegungen im 1. Arm und Bein geradezu geschüttelt
und nach links gerissen. Der Gang ist unsicher durch häufiges Ein-
knicken des Kniees und die Verdehnungen im Fussgelenk.
Unter Behandlung mit Solut. Fowler und "Valeriana, Bettruhe,
Behandlung der Agrypnie mit Brom, Paraldehyd, vom 23. 10. ab ent-
schiedene Besserung. Die choreiformen Erscheinungen werden milder,
setzen Stundenweise aus. Vom 2. 11. ab sind schon Handarbeiten möglich.
Auch die kinetischen Störungen verlieren sich. Bei der Entlassung
Mitte November nur noch Spuren der Neurose.
Beob. 14. Rechtsseitige autosuggestiv entstandene Hemi-
plegie mit dissociirter Empfindungsstörung, ähnlich einer
Syringomyelie.
Er., 26 J., Schneidergehilfe, wurde am 25. 11. 96 auf der Klinik
aufgenommen.
Der Mutter Bruder litt an Epilepsie. Sonst sind angeblich keine
Nervenkrankheiten in der Blutsverwandtschaft vorgekommen. Pat. be-
zeichnet sich selbst als einen leicht erregbaren Menschen, der von jeher,
selbst über Kleinigkeiten, heftig erschrak.
Am 23. 6. 95 wurde er Morgens von heftiger Uebelkeit und
Schwindel befallen (stat. gastricus?). Er eilte auf den Abort. Dort kam
Hysterische Hemiplegien. 49
die Idee eines drohenden Schlaganfalls. Er erschrak heftig, bekam einen
allgemeinen Schüttelkrampf. Von diesem Moment an war die Sprache
gestört und kaum mehr verständlich. Pat. zitterte heftig an den OE
Hess einen Arzt rufen, der des Pat. Befürchtung, es handle sich um
einen Schlaganfall, bestätigte und Pat. in ein Spital sandte.
Dort anfänglich noch Fortdauern des Zitterns und völliger Verlust
der Sprache (Mutismus?).
Am 27. 6. kehrte die Sprache allinälig wieder, das Zittern verlor
sich. Pat. wurde ruhiger, aber am 29. früh verspürte er Parästhesie in
der r. OE. und UE. und zunehmende Schwäche in diesen Extremitäten.
Bis Mitte Juli war er wegen r. schlaffer Lähmung ans Bett ge-
fesselt. Allmälig kehrte r. die Beweglichkeit wieder, aber bei Be-
wegungen verspürte er heftigen Schmerz in den bewegten Gelenken,
schonte sich deshalb sehr und hielt sich für sehr krank.
Vom August bis Anfang November 96 war Pat. wieder leidlich
arbeitsfähig, aber nach relativer Ueberanstrengung fühlte er wieder
Schwäche in der r. OE., in welcher zugleich Zittern auftrat.
Pat. suchte nun die Klinik auf, in welcher er am 28. 11. 96
eintrat.
Pat. zart, schlecht genährt. Blasiger rachitischer Schädel, Of. 55.5 cm,
schmale Stirn, eingesunkene Fontanellgegend.
Gehirnnerven: Hypalgesie und Thermohypästhesie der r. Gesichts-
hälfte, r. fehlender Gaumenreflex, schwacher Rachenreflex, r. Gesichts-
feld für Weiss und Farben concentrisch eingeschränkt, r. Hypakusie
(Knochenleitung mehr gestört als die durch den Meatus).
An r. Zungenspitze fehlt die Geschmacksempfindung für süss und
salzig (sauer und bitter wird gut empfunden). Sonst alle Functionen
der Gehirnnerven normal, auch bei Augen- und Kehlkopfspiegelung. Im
Facialisgebiet speciell keine Anomalie.
Fi. OE. leicht cyanotisch und etwas kühler. Alle Bewegungen im
physiologischen Ausmass möglich, bis auf Parese der Handstrecker, aber
äusserst kraftlos; jedoch ist die Inner vationsstärke sehr wechselnd und
psychisch sehr beeinflussbar.
Alle tiefen und periostalen Reflexe sind hoch gesteigert, jederzeit
Handclonus hervorzurufen. Das Volumen des Ober- und Unterarms ein
wenig reducirt. Durch Beklopfen des Proc. styloid. radii lässt sich in
der ganzen r. OE. Schütteltremor hervorrufen.
Die r. UE. fühlt sich distal bis zum Kniegelenk etwas kühler an
als 1. Active Bewegung in Sprung- und Zehengelenken etwas eingeschränkt.
Passive Bewegung vollkommen frei. Motorische Kraft gleich links.
Patellar- und Fussclonus. Im ganzen Lähmungsgebiet electrisch
Krant-Ebing, Arbeiten II. 4
50 II. Vortäuschung organischer Erkrankung des Nervensystems durch Hysterie.
normale Keaction. Das r. Bein -wird beim Gehact geschont, ist aber ganz
sufficient.
Auf der ganzen r. Körperhälfte tactile Sensibilität vollkommen
normal. Dagegen vollständige r. Hemianalgesie (selbst bei Pinselung
mit tetanisirenden faradischen Strömen). Gleichwohl fährtPat. bei geschlosse-
nen Augen gelegentlich eines ihm unversehens in der r. Vola manus
beigebrachten Stiches ebenso zurück, wie es ein Gesunder in gleicher Lage
thun würde.
Die Thermoästhesie ist auf der gan.^n r. Körperhälfte gleichmässig
und erheblich für Kalt und Warm herabgesetzt. Die tiefe Sensibilität
in Finger-, Hand-, Zehen-, Fussgelenken ist vermindert.
Bei geschlossenen Augen und abgelenkter Aufmerksamkeit zeigt
sich eine erhebliche Aenderung resp. Besserung der motorischen Störungen
in der r. OE. Auffallend ist auch, dass die anscheinend rein spinal ge-
steigerten tiefen Reflexe auch psychisch beeinflusst werden, insofern sie
unter obigen Bedingungen lange nicht so bedeutend ausfallen, als bei
offenen Augen und bei auf den Versuch concentrirter Aufmerksamkeit.
Wenn Pat. auf seine Lähmung vergisst, ist er in r. OE. oft recht er-
heblicher Kraftentfaltung fähig.
Die Möglichkeit einer Syringomyelie musste trotz der classischen
und für diese Krankheit sprechenden dissociirten Empfindungsstörung
Angesichts dieser Thatsachen, wie auch der rein psychischen und plötz-
lichen Entstehung der Krankheit wegen, fallen gelassen werden.
Dazu kamen die Steigerung der tiefen Reflexe, die hemiplegische,
streng halbseitige motorische Insufficienz, die hemian ästhetische Aus-
breitung der Empfindungsstörung, die Störung der tiefen Sensibilität, die
blos als Hypotrophie (ex inactivitate aut perturbat. troph. hyster.?) nicht
als regionäre und progrediente imponirende trophische Störung der Mus-
gulatur, die unversehrte electrische Reaction u. s. w.
Unter Gymnastik, Faradisation und Wachsuggestion besserten
sich die sensiblen und motorischen Störungen der r. Körperhälfte so sehr,
dass Pat. sich eines Tages für gesund erklärte und am 10. I. 97 das
Spital verliess.
Beim Austritt bestand noch leichte Hypalgesie und thermische
Hypästhesie, sowie ein gewisser Grad von Amyosthenie in der r. OE.
Beob. 15. Rechtsseitige, durch Emotion entstandene reci-
divirende Hemiparese. Erfolg von Suggestivbehandlung.
Seh., 44 J., Schneiderin, aus angeblich nervengesunder Familie,
aber von der Pubertät ab menstrual an Migräne leidend, heirathete
mit 29 J., coneipirte nie, hatte in unglücklicher Ehe gelebt und sich
vor 8 Jahren scheiden lassen. Auch in der Folge viele Gemüthsbewegungen.
Hysterische Hemiplegien. 51
Vor 4 Jahren begannen tonische Krämpfe in den Händen (Hyper-
extension), verbunden mit centrifugalen parästhetischen Sensationen vom
Kopf bis in die Fingerspitzen, die in der letzten Zeit 3 — 4 mal täglich
auftraten und stundenweise anhielten. Seit dem Erscheinen dieser localen
Spasmen sind die Hemicranieanfälle geschwunden.
Im Januar 91, nach vorausgehenden heftigen Gemüthsbewegungen,
entwickelte sich binnen 8 Tagen in der r. UE., dann auf die r. OE.
fortschreitend Parese, zugleich mit Anästhesie im Lähmungsgebiet.
Facialis unbetheiligt.
Auch die Sinnesfunctionen intact.
Gefühl des Geschwollenseins r. der Extremitäten, Vertaubungsgefühle
in denselben, Kältegefühle, von den Füssen aufsteigend, mit Herzklopfen.
Nach einem Monat völlige Wiederausgleichung aller Functionsstörungen.
Nach neuerlichen Gemüthsbewegungen im Mai 91 Wiederkehr der
r. Parese. Bei der Aufnahme am 8. 8. 91 mittelgrosse, ziemlich kräftige
Persönlichkeit.
Lues negirt und im Status praesens nicht nachweisbar. Vegetative
Functionen ungestört. Bauchhautreflex r. und 1. auslösbar. Keine Stig-
mata hysteriae. Gang breitbasig, schwankend, auf r. UE. ausfahrend,
atactisch. Romberg positiv, aber in der Intensität stark schwankend und
psychisch sehr beeinflussbar.
Patellarreflex r. und 1. sehr gesteigert, r. Fussclonus. Bedeutende
Herabsetzung der groben Muskelkraft in r. OE. und UE. Muskeltonus
herabgesetzt, jedoch leichte Versteifung beim Gehact in r. Hüft- und
Kniegelenk.
In r. OE. und UE. Hypästhesie für alle Qualitäten der cutanen
Empfindung; tiefe Sensibilität intact.
Facialis unbetheiligt. Alle übrigen Hirnnervengebiete ohne Befund.
Unter Wachsuggestionen und Electrotherapie keine Besserung. Von
Anfang October ab hypnotische Behandlung nach Bernheim'scher Me-
thode. Pat. ist leicht in tiefes Engourdissement zu bringen. Suggestion
der Heilbarkeit des Leidens, der wiederkehrenden Kraft, Sicherheit der
Bewegung und der Wiederkehr der Sensibilität.
Schon in der ersten Sitzung bedeutende Aufbesserung der Muskel-
kraft, der Ataxie und Sensibilitätsstörung. Während der Hypnose ist die
volle Muskelkraft vorhanden.
Ende October sind die Beschwerden auf ein Minimum reducirt.
Pat. legt weite Strecken zu Fuss zurück. Neue Gemüthsbewegungen.
Unterbrechung der Behandlung der ambulanten Patientin wegen Bronchial-
catarrh.
Bei Wiederaufnahme derselben 19. 11. 91 wieder Amyosthenie, leichte
52 !!• Vortäuschung organischer Erkrankung des Nervensystems durch Hysterie.
Ataxie. Sensibilität erhalten. Unter entsprechenden Suggestionen und
Verbot, Getnüthsbewegungen aufkommen zu lassen, fortschreitende
Besserung, sodass Pat. am 28. 12. sich für genesen hält und aus der
Behandlung austritt. Bei der Entlassung noch leichte Amyosthenie in
r. UE. und Steigerung der tiefen Keflexe.
Beob. 16. Rechtsseitige autosuggestive Hemiparese.
H., 23 J., ledig, Dienstbote, angeblich aus gesunder Familie,
früher nie schwer krank, in letzter Zeit angestrengt und Gemüthsbeweg-
ungen ausgesetzt gewesen, schlief in vollem Wohlsein am 1. 5. 95
ein und erwachte am andern Morgen mit einem heftigen Schmerz
in der r. UE., der das Gehen fast unmöglich machte. Sie schleppte sich
so noch einige Tage herum, bekam dann Schmerzen auch in der 1. UE.,
wurde amblyopisch, sodass sie nicht mehr lesen und schreiben konnte,
war sehr beunruhigt über ihre Krankheit, liess sich in ein Spital auf-
nehmen, wo man mit Schmierkur, dann mit Electricität und anderen Be-
handlungsweisen erfolglos sich bemühte, sie zu kuriren. Das Leiden
wurde immer intensiver. Grosses Krankheitsgefühl, allgemeine Schwäche
und Hyperästhesie veranlassten Pat. Hilfe im allgemeinen Krankenhause
zu suchen.
Stat. 2. 12. 95. Kräftiges, gut genährtes Individuum, vegetativ ohne
Befund, ohne Lues. Grosses Krankheitsgefühl, leidende Miene. Pat.
ganz präoccupirt von ihrem Leiden. Am ganzen Körper ruft -schon
massiger Druck lebhaften Schmerz hervor.
Grosse Sehschwäche (zählt Finger r. auf 2 m, 1. auf 3 m, r. Jäger
Nr. 20, 1. Nr. 15) aber Augenspiegel ohne Befund. Auch keine concentr.
Sehfeldeinschränkung, keine Dyschromatopsie. Von Seiten der Hirnnerven
überhaupt keine Störung.
In r. OE. und UE. grosse Muskelschwäche, aber nirgends
localisirte Lähmung. Der Händedruck r. ganz kraftlos. Muskeltonus
herabgesetzt.
Tiefe Reflexe r. und 1. gesteigert, bedeutend mehr r. Erhebliche
Gehstörung. Pat. schont sehr ihr r. Bein und hinkt auf Grund von
Schmerz temporär. An anderen Tagen ist sie schmerzfrei und geht an-
standslos oder nur leicht das Bein nachziehend. Von Seiten der Ge-
lenke besteht weder eine anatomische Störung noch Hyperästhesie. Die
cutane und tiefe Sensibilität normal. Bauchhautrefllex r. und 1. prompt
auszulösen.
Pat, eine höchst emotive, willensschwache, in der Einbildung un-
heilbarer Krankheit befangene Persönlichkeit, reagirte weder auf Wach-
suggestionen, überhaupt Traitement moral, noch auf Gymnastik undElectro.
therapie in der wünschenswerthen Weise, sodass der Erfolg der Behand-
Hysterische Hemiplegien. 53
lung bei ihrem nach einigen Wochen erfolgten Austritt als ein negativer
bezeichnet werden musste. Angenscheiulich handelte es sich um eine
rein psychische Lähmung durch Autosuggestion, die durch Schmerz-
empfindungen genährt und ursprünglich hervorgerufen wurde.
Beob. 17. Rechtsseitige Hemiplegie.
Gr., 36 J., Händler, mosaisch, aufg. 28. 7. 95, wahrscheinlich aus
belasteter Familie, früher gesund, massiger Potator, nicht luetisch ge-
wesen, bekam vor 3 J. auf der Strasse, nach körperlicher Ueberanstreng-
ung, Schwindel und Hitzegefühl im Kopfe, woran sich eine r. Lähmung
und Sprachstörung anschloss.
Pat. will sich bestimmt erinnern, dass der Mund nach r. verzogen
war und dass er Anfangs ihn nur eine Spur öffnen konnte (Contractur
im Gebiet des r. Facialis und der Portio minor trigemini?). Die Zunge
habe er anstandslos in der Mundhöhle bewegen können, aber die Sprache
sei fast unverständlich gewesen, der Beschreibung nach durch Articu-
lationsstörung, bei Ausschluss jeder aphasischen Störung. Der r. Arm
hing unbeweglich herab, das r. Bein wurde mühsam nachgezogen. So
schleppte er sich nach seiner nahegelegenen Wohnung.
Nach etwa 5 Wochen besserten sich gleichzeitig r. Hemiparese und
Sprachstörung. Er konnte seine OE. zu groben Hantirungen wieder ge-
brauchen und leidlich wieder gehen. Im weiteren Verlauf kam es zu
wechselnden Besserungen und Verschlimmerungen. Die letzteren knüpften
an relative Ueberanstrengung, Gemüthsbewegungen und Genuss geistiger
Getränke an. Besonders belästigte ihn dann stockende stotternde Sprache.
Seit der Lähmung behauptet Pat. r. stärker zu schwitzen als 1. Seit
kurzer Zeit litt er an heftigen Schmerzen in der 1. Scheitelgegend.
Pat. erscheint bei der Aufnahme kräftig gebaut, gut genährt, ohne
Spuren von Rachitis und Lues. Der Schädel misst 59,5 cm im grössten
Umfang, Gaumen steil, Gaumennaht linibös. Vegetative Organe ohne
Befund.
Pat. ist emotiv, sehr von seinem Leiden occupirt. Sobald er emo-
tionirt ist, namentlich wenn man ihn über seine Krankheit ausfragt,
wird seine Sprache stotternd, sonst ist sie ganz ungestört, selbst bei den
schwierigsten Proben.
Im Gebiet der Hirnnerven findet sich sonst absolut keine Störung.
Augenspiegel ohne Befund. Keine Stigmata hysteriae.
Die r. OE. ist dem Stamme adducirt, im Ellbogengelenk gebeugt,
im Handgelenk flectirt.
Diese eine Contractur markirende Haltung lässt sich aber passiv
ohne Schmerz oder Schwierigkeit ausgleichen. Nirgends findet sich eine
Contractur oder nur Rigor. Pat. ist fähig, alle Einzelbewegungen, auch
54 n. Vortäuschung organischer Erkrankung des Nervensystems durch Hysterie.
die Extension im Ellbogen- und Handgelenk, mit ziemlicher Kraft aus-
zuführen, jedoch steht Pat. sichtlich unter dem Bewusstseirj , dass sein
Arm krank sei und schont er denselben wo immer möglich. Die Nerven-
stämme sind r. druckempfindlich, die Gelenke frei bei activer und passiver
Bewegung, wie auch bei Druck. Die tiefen Reflexe sind gesteigert, die
Sensibilität ist in allen ihren Qualitäten ganz intact.
Am Stamm normale Verhältnisse ; Bauch- und epigastrischer Reflex
r. erhalten.
Auch an der r. UE. zeigt sich nirgends ein Ausfall grober Muskel-
kraft oder Störung der Beweglichkeit in irgend welchem Muskelgebiet.
Die cutane und tiefe Sensibilität ist normal.
Die Ränder der Knieschneibe sind druckempfindlich. Der Patellar-
reflex ist beiderseits gesteigert, r. bis zu Clonus.
Trotz des negativen Befundes an der r. UE. streift Pat. beim
Gehen mit der r. Fussspitze am Boden und schleift etwas das Bein nach,
ohne dasselbe jedoch im Bogen herumzuführen.
Die psychische Bedeutung dieser „Lähmung" ist eine evidente.
Man gewinnt den Eindruck, dass Pat. unter dem Einfluss der Idee einer
r. Functionsbehinderung mangelhaft willkürlich r. OE. und UE. in-
nervirt.
Bei darauf gerichteter Forschung ergiebt sich, dass der impressionable
Patient, als er vor 3 Jahren Schwindel und Hitzegefühl im Kopfe ver-
spürte, einen Schlaganfall befürchtete und sich dabei eines Mannes seiner
Bekanntschaft erinnerte, der vor Jahren von einer Lähmung mit fast
völligem Verlust der Sprache heimgesucht worden war. Das Bild dieses
unheilbaren Gelähmten schwebe ihm seither beständig vor.
Unter "Wachsuggestionen, unterstützt durch Electrotherapie, besserte
sich diese Hemiplegia imitatoria ex imaginatione bedeutend, sodass Pat.
befriedigt nach 3 Wochen das Spital verliess.
Beob. 18. Linksseitige Hemiplegie nach psychischem
Trauma.
Frl. M., 21 J., Theaterelevin, erblich angeblich unbelastet, von
Kindesbeinen an blutarm, nervös, emotiv, machte die gewöhnlichen
Kinderkrankheiten ohne Folgen durch und litt mit 10 J. etwa 6 Wochen
lang an einer r. nach einer Otitis media aufgetretenen peripheren Facialis-
lähmung.
Am 26. 8. 95 fiel sie in vollem Wohlsein von einem Tramway-
wagen herab, erlitt keine Verletzung, erschrak aber heftig.
Keine Commotionserscheinungen, ging allein heim. Dort sofort
schlaffe Lähmung der 1. OE. und UE., Sprachstörung (Zungenkrampf),
Gesicht nach r. verzogen, Speichel aus dem 1. Mundwinkel ausfliessend.
Hysterische Hemiplegien. 55
Pat. blieb noch 3 Tage zu Hause, klagte Kopfweh, war aufgeregt,
vorübergehend verwirrt und wollte planlos davonlaufen.
Vom 28. 8. bis 14. 9. befand sie sich deshalb im Spital, wurde
ruhig und konnte allmälig die gelähmten Extremitäten wieder etwas be-
wegen.
Die Krankheitsgeschichte des Spitals bot folgenden Status bei der
Aufnahme:
Afebril, keine Störung vegetativer Organe, Harn ohne fremde Be-
standtheile.
Linke Gesichtshälfte glatt, Stirnfalten 1. verstrichen, 1. Mundwinkel
tiefer stehend, 1. Auge weiter geöffnet als rechtes, Augenschluss prompt;
keine Sprach-, keine bulbäre Störung, keine Augenmuskellähmung;
linker Arm schlaff gelähmt, unbeweglich, Parese des 1. Beines; Tast-,
Schmerz- und thermische Sensibilität in 1. Gesichtshälfte, 1. OE., 1. Thorax-
hälfte bis zum Mammillarniveau stark herabgesetzt, weiter abwärts er-
halten. Bauchhautreflex r. und 1. prompt.
Decursus: vom 6. 9. ab Besserung der gestörten Sensibilität, Rück-
gang der Facialislähmung, Wiederkehr der Gehfähigkeit, Lähmung der
1. OE. stationär. Tiefe Reflexe an dieser nicht auszulösen, Patellarreflex
1. stärker als rechts. Keine sensorischen Störungen.
Therapie: Faradisation, Trional.
Gebessert entlassen am 14. 9.
Am 24. 9. 95 stellte sich Pat. wegen andauernder Schwäche der
1. Extremitäten in meinem Ambulatorium vor.
Pat., eine zarte Persönlichkeit von feinem Teint, ist zunächst auf-
fällig durch mimische Entstellung, insofern der untere Abschnitt des Ge-
sichts nach rechts verzogen ist. Bei genauer Prüfung handelt es sich
nicht um Facialisparese links, sondern um r. Contractur des 11. zygo-
maticus und levator menti.
Durch einfaches Streichen der Haut im Bereich dieser Muskeln
lässt sich diese Contractur verstärken bezw. hervorrufen (Diathese de
contracture). Die Contractur, welche meist auch im Quadratus menti er-
scheint, verliert sich bald nach Aufhören der Hautreizung, entsteht aber
spontan bei willkürlicher Bewegung, ganz besonders aber bei emotioneller
Erregung. Dann verengert sich auch die r. Lidspalte (Contractur). Vom
Stamm des Facialis aus lässt sich durch Druck auf denselben keine Con-
tractur erzielen.
Die linke Gesichtshälfte ist in ihrer Beweglichkeit uneingeschränkt,
desgleichen die rechte. Bei geöffnetem Mund erscheint die 1. Zungen-
hälfte hart, gewölbt, die r. weich. Beim Vorstrecken der Zunge er-
56 II. Vortäuschung organischer Erkrankung des Nervensystems durch Hysterie.
weitert sich die rechte Mundspalte mehr als die linke und wird nach r.
verzogen.
Die Zunge ist nach allen Richtungen frei beweglich, aber sie
weicht beim Vorstrecken nach rechts ab.
In Emotion tritt articulatorische Sprachstörimg durch Zungenkrampf
ein. In ruhiger Stimmungslage ist die Sprache frei.
Im ersteren Falle zeigen sich gelegentlich blitzartige Zuckungen
(Tic) in der r. Gesichtshälfte.
Die Sinnesorgane sind intact, das Gesichtsfeld ist nicht eingeengt.
Es besteht linksseitige Hemihyperalgesie, inclusive Gesicht, Zunge,
"Wangenschleimhaut, während die anderen Sensibilitätsqualitäten sich
normal erweisen. Rachen- und Gaumenreflex sind r. kaum, 1. gar nicht
hervorzurufen.
In 1. OE. und TJE. besteht schlaffe Parese, das 1. Bein wird etwas
beim Gehen nachgezogen. L. leichte Peroneusparese mit Andeutung
von Pes varoequimus. Die tiefen Reflexe in 1. OE. und TJE. nicht ge-
steigert.
Allgemeinbefinden gut. Unter faradischer Behandlung allmäliger
Rückgang der 1. Extremitätenparese. Alle Einzelbewegungen möglich,
aber noch im December 95 grobe Muskelkraft etwa um 50°/0 gegen
rechts herabgesetzt. Die 1. Hyperalgesie beschränkt sich nur mehr auf
die 1. OE. Dagegen hat sich die r. Facialiscontractur mehr ausgebildet
und besteht im Dec. 95 schon im Zustand der Ruhe. Auch die 1. Zungen-
hälfte ist mehr verkrampft, beim Besehen in der Mundhöhle oft vor-
gewölbt und, anlässlich Emotion, die Ursache von erschwertem Sprechen.
Im Laufe der nächsten Monate keine wesentliche Aenderung. Pat.
ist durch Schwäche der 1. Extremitäten andauernd berufsunfähig.
Stat. 1. 5. 96. Contractur gebessert, aber bei geringster psychischer
Erregung im r. Orbicularis oculi und oris zu Tage tretend. Augen-
schluss ruft überaus starke Mitinnervation des r. Mundwinkels hervor.
Nur noch emotionell Zungenkrampf und Sprachstörung.
L Amyosthenie unverändert; 1. Sensibilität normal; r. Hypalgesie,
1. Extremitäten bedeutend kühler als r., besonders an den distalen
Partien; tiefe Reflexe in 1. OE. und TJE. sehr gesteigert; r. fehlender
Rachenreflex; Clavus.
Die vorstehenden, aus eigener und fremder Erfahrung berichteten
Pälle von f unctioneller (hysterischer) Hemiplegie sind geeignet, die Häufig-
keit derartiger Krankheitsbilder in der Praxis zu illustriren und zur
Klärung ihrer klinischen Eigenthümlichkeiten Einiges beizutragen. Sie
Hysterische Hemiplegien. 57
sind es umso mehr, als eine Deutung derselben im Sinne toxischer Er-
krankung (Alkoholismus, Saturnistnus, Urämie, Diabetes u. A.), ausge-
schlossen werden kann.
Das klinische Interesse wendet sich in erster Linie der Frage zu,
wie sich diese functionellen von den organischen Lähmungen unterscheiden
lassen. Das ist nach Umständen für den Anfänger, dessen ärztliches
Wissen nur auf anatomischer Grundlage aufgebaut ist und bezüglich der
Neurosen meist erst in der Praxis, nach unangenehmen diagnostischen
Irrthümern die nöthige Erweiterung erfährt, ziemlich schwer, zumal da
man zugeben muss, dass das organische Krankheitsbild zuweilen über-
raschend gut von der Neurose copirt wird.
Jedenfalls giebt es weder nach Aetiologie, nach Entstehung und
Detailsymptomen sichere trennende Merkmale, sodass nur die synthetische
Verwerthung aller Krankheitszeichen, ihre eigenartige Gruppirung, die
Abhängigkeit derselben von psychischen Einflüssen, der Verlauf, die
Diagnose sichern können.
Vorweg muss darauf hingewiesen werden, dass der anamnestische
und im Stat. praesens gelingende Nachweis hysterischer Neurose nur Ver-
muthungen, nicht Gewissheit im Sinne functioneller Bedeutung des
Krankheitsfalles bieten kann, da auch bei Hysterischen jederzeit organische
Complicationen eintreten können.
Umgekehrt muss aber auch betont werden, dass die hysterische
Hemiplegie als primäre und monosymptomatische Kundgebung dieser
Neurose in die Erscheinung treten kann. Dies trifft sogar für die Mehr-
zahl der von mir gesammelten Fälle zu.
Dass man auch beim Manne auf solche Hemiplegien gefasst sein
muss und dass das Sexus gar keine Praesumptionen gestattet, geht aus den
7 männlichen Fällen meiner Casuistik deutlich genug hervor und bedarf
bei unseren heutigen Erfahrungen über Hysteria virilis keiner weiteren
Ausführung.
Von viel grösserer Bedeutung ist die Nichtauffindbarkeit von ätio-
logischen Bedingungen für organische Erkrankung (Vitium cordis, Nieren-
erkrankung, Atherosis arteriarum u. s. w.), ferner die Erkrankung in
jugendlichem Alter, wobei aber zu beachten ist, dass auch im höheren
(Beob. 10, 11) functionelle Lähmungen noch vorkommen können.
Anamnestisch wird der Nachweis früher bestandener und ausge-
heilter Hemiplegien von Bedeutung sein, insofern bei solchen ex Haemor-
rhagia, Embolia, Encephalomalacia nur ausnahmsweise und im Sinne
einer indirecten Heerdlähmung eine Restitutio ad integrum möglich ist.
Immer bleibt in solchen Fällen auch noch die Möglichkeit einer
symptomatischen Bedeutung früherer Hemiplegien, so als Episode einer
58 H- Vortäuschung organischer Erkrankung des Nervensystems durch Hysterie.
multiplen Sclerose, Dementia paralytica, eines Tumor u. s. w., zu berück-
sichtigen.
Bedeutungsvoll ist es immerhin, dass die hysterischen Lähmungen
in der Regel unmittelbare oder mittelbare Folgen eines psychischen
Trauma's sind, jedoch kann psychischer Shok auch der Anlass zu einer
Haemorrhagie oder Embolia cerebri werden.
Deutlicher wird die neurotische Bedeutung des Falles dann, wenn
Auto- oder Fremdsuggestion die psychische Vermittlung desselben nahe-
legt (Beob. 1, 12, 14, 17).
Dieselbe Vermuthung ist berechtigt, wenn die Lähmung im An-
schluss an einen Hysteria gravis insult gefunden wird, ein Vorkommen,
das in der Erfahrung französischer Forscher als häufig bezeichnet wird,
in meiner Casuistik aber nicht zu Tage tritt, falls man nicht den apo-
plectischen Insult, der oft der Lähmung vorausgeht, als Aequivalent eines
hysterischen anerkennt.
Die Präsumption einer organischen Begründung der Hemiplegie
wird durch diese Thatsache mächtig gefördert. Es ist Aufgabe der dif-
ferentiellen Diagnose, vor Allem Unterschiede zwischen dem hysterischen
apoplectiformen Insult und der wirklichen Apoplexie aufzufinden.
In Higier's Fall (Beob. 9), „Comaartiger Zustand, ganz reactionslos,
langsame tiefe schnarchende Respiration", schien diese sehr gut copirt.
Schon Löwenfeld hat an der Hand der Literatur und eigener Er-
fahrung diese Zustände von hysterischer „Apoplexie" als Modificationen
desselben pathologischen Grundzustandes (hysterischer Schlaf) zu erweisen
versucht und sie als den Erscheinungen des hysterischen Lethargus,
Coma, der Syncope gleichbedeutend erklärt. Leider sind die Zustände
von hysterischer „Apoplexie" im „comatösen" Stadium bisher fachärzt-
licher Beobachtung kaum zugänglich gewesen. Vorkommenden Falles
wäre diagnostisch wichtig und darauf zu achten, ob in diesem „Coma"
nicht zeitweise Schütteltremor, vereinzelte Contracturen, besonders Tris-
mus, Strabismus, episodisches Delir (Beob. 1), Erweckbarkeit aus diesem
Zustand durch Druck auf hysterogene Zonen die hysterische Bedeutimg
verrathen. Die Lähmung des Gaumensegels (stertoröses Athmen) ist
jedenfalls sehr selten im hysterischen Coma, dagegen Regel im organisch
bedingten. Auch die fast regelmässige Albuminurie und das Sinken der
Eigenwärme bis zu 1.5° während des Coma in organischen Fällen
wären zu verwerthen. Die tiefen Reflexe fehlen hier anfangs (Hem-
mungs- und Reizwirkung von Seiten des apoplect. Heerdes auf die
Reflexbahn), während sie bei hysterischer Bedeutung des Falles normal
(Gilles de la Tourette u. A.) bleiben oder früh schon gesteigert erscheinen
(Bischoff's Fall, Beob. 4).
Hysterisehe Hemiplegien. 59
Auch die Dauer des hysterischen „Conia" kann Fingerzeige geben,
insofern sie selbst bei durch Encephalomalacie vermittelten organischen
Fällen 24 Stunden kaum übersteigt, bei Hysterie bis zu 21/2 Tage
(Beob. 3), ja sogar 6 Tage (Beob. 7, wo geradezu das Bild einer Schädel-
basisfractur vorgetauscht war) dauern kann.
Das Erhaltensein des Bauchhautreflexes bei hysterischem, sein Ver-
lust bei organisch bedingtem Coma kann einen weiteren Fingerzeig
geben. Deviation conjuguee ist meines "Wissens bei hysterischer Apoplexie
nie beobachtet worden.
Versuche, den Unterschied von Apoplexia hysterica und cruenta
festzustellen, hat übrigens schon Rendu (Semaine medicale 1894,
29. August) unternommen. Wie schwierig die differentielle Diagnose
von Heerderkrankung sein kann, lehrt ein Fall von Diller (Med. Record
1894, 28. April) von für hysterische Hemiplegie fälschlich gehaltener
Encephalomalacie.
Löwenfeld (Archiv f. Psychiatrie XXIII, p. 715) giebt die inter-
essante historische Notiz, dass schon Forestus die differentielle Diagnose
zwischen Apoplexie und anderen Syndromen versuchte.
Gilles macht darauf aufmerksam, dass schon Sydenham (traduct. Jault,
p. 477) die hysterische Apoplexie genau kannte. Er beschrieb sie mit
folgenden Worten: „Wenn diese Krankheit (Hysterie) das Gehirn ergreift,
entsteht zuweilen eine Apoplexie, die ganz der gewöhnlichen gleicht und
auch Hemiplegie hinterlässt".
Die Unterscheidung der hysterischen Hemiplegie als primär auf-
getretener oder aus einem apoplectiformen Insult hervorgegangener von
organischer bietet beim heutigen Stand klinischen Wissens keine beson-
deren Schwierigkeiten.
Versucht man das Bild hysterischer Hemiplegie, wie es der heutigen
klinischen Erfahrung erscheint, zu zeichnen, so lässt sich der Typus des-
selben in folgender Weise fixiren Mit oder ohne apoplectiformen In-
sult, meist im unmittelbaren oder mittelbaren Anschluss an ein psy-
chisches Trauma findet sich eine schlaffe Parese bis Paralyse der OE.
und UE. einer Seite, häufig ohne Betheiligung von Facialis und Hypo-
glossus. Die Hemiplegie ist in der grossen Mehrzahl der Fälle von
gleichseitiger cutaner Anästhesie begleitet, häufig auch von Ausfalls-
erscheinungen der tiefen Sensibilität und der Function der Sinnesorgane
auf der Seite der Lähmung. Diese bleibt eine schlaffe, sodass es beim
Uehact nicht zu Circumduction des lahmen Beines, sondern zum einfachen
Nachschleifen desselben kommt. War die Lähmung eine gleich inten-
sive auf Arm und Bein, so ist dieselbe hartnäckiger auf letzterem als
ersterem. Umfang und Intensität der Lähmung zeigen sich stark be-
60 n. Vortäuschung organischer Erkrankung des Nervensystems durch Hysterie.
einflusst durch psychische Einwirkungen, die, als günstige Einflüsse, so-
gar ein jähes und vollständiges Schwinden der Lähmung bewirken
können.
Versucht man den Detailerscheinungen dieses Lähmungsbildes näher
zu treten, so kommt hier in erster Linie die Frage der Betheiligung des
Facialis an demselben in Betracht.
Die klinische Erfahrung constatirt die Seltenheit der Facialisbetheiligung bei
hysterischer Hemiplegie (Althaus, Weir Mitchell, Charcot u. A.). Schon Todd hat 1856
darauf hingewiesen. Man glaubte längere Zeit, dassFaciallähmung hier gar nicht vorkomme.
Pipet, Helot, Kolioff, Seeligmiiller, Chantemesse, Ballet, Pitres, König u. A. bewiesen
das Irrthümliche dieser Annahme. Charcot, Brissaud, Marie u. A. zeigten, dass die
angebliche Facialislähmung vielfach durch einen gleichseitigen Spasmus fglosso) labialis
vorgetäuscht werde. Schon Brodie hatte dies erkannt. Briquet, später Gilles de la Tou-
rette wiesen auf das gleichzeitige Vorkommen von Sensibilitätsi-törung im Rayon der
Lähmung, und zwar Anästhesie bei solcher, Hyperästhesie bei Spasmus, hin.
Man fand, dass die hysterische Facialislähmung nur den unteren Ast betreffe
und flüchtig sei und bezweifelte, dass sie als totale vorkommen könne. Zuweilen con-
statirte man nur Lähmung einzelner Muskeln (Buccinator, Zygomaticus) , sodass es
dann schwierig erschien, eine angeborene, in der Praxis nicht seltene Lähmung dieser
Muskeln auszuschliessen. Ballet fand einen Fall, in welchem nur mimische Lähmung
bestand. In einem traumatisch entstandenen Falle Bicher's constatirte man aber totale
halbseitige Facialislähmung. In einem spontan entstandenen Thomsen's (Archiv f. Psych.
17, p. 849) war nur der Stirnast frei von Lähmung.
Bezüglich der Localisation fand man meist der Extremitätenlähmung gleichseitige,
seltener gekreuzte Facialisbetheiligung. Sehr selten war die Lähmung doppelseitig
(Chantemesse). Was die Facialiscontractur betrifft, so sah man sie meist der Lähmung
gleichseitig, selten contralateral, höchst selten doppelseitig. Sie erschien meist nur
partiell und im unteren Facialgebiet. Nur ausnahmsweise war der Sphincter ocnli mit-
betheiligt. Meist ist die Contractur nicht von Lähmungbegleitet, nur eine solche vortäuschend,
dann häufig mit Zungencontractur der gleichen Seite verbunden. Der Spasmus steigert
sich bei Emotion und mimischer Bewegung. In der Ruhe verräth er sich oft durch
leichte Klonismen der von ihm befallenen Muskeln.
Als weitere Zeichen des Krampfes ergaben sich: Grössere Weite der Mundspalte,
Entweichen der Luft beim Blasen, stärkere Entblössung der Zähne beim Lachen, inten-
siveres Hervortreten der Nasolabialfalte auf der Krampfseite.
Die von mir zusammengestellte Casuistik ist geeignet, zur Klärung
dieser Frage Einiges beizutragen. Zunächst bestätigt sie die relative
Seltenheit der Facialislähmung, die nur in drei unter 18 Fällen constatirt
wird (Beob. 5, 8, 18). In sieben Fällen kommt es zu selbständiger
(1, 4, 9, 12, 17, 18) oder der Lähmung associirter (8; Contractur.
Während in Beob. 8 die Facialislähmung nur in einem Muskel
nachweisbar ist, erscheint sie in 5 und 18 als eine totale und damit
paradoxe und excessive, gegenüber der organischen cerebralen. Bezüg-
lich der in Beob. 4 erwähnten Facialsparese muss ich die Vermuthung
aussprechen, dass sie nur scheinbar und durch eine r. Ueberinnervation
bedingt war.
Hysterische Hemiplegien. 61
Viel -wichtiger erscheint diagnostisch die Facialiscontractur.
Sie besteht isolirt nur in Beob. 8, sonst associirt mit Zungencontractur
(1, 9, 12, 18) und überdies mit Contractur der Masseteren (4, 17). Die
Contracturen sind der Hemiplegie gleichseitig (1, 8, 17) oder gekreuzt
(4, 9, 12, 18). Zweimal erscheint die Zungencontractur der Facialis-
contractur contralateral (4, 18).
Die Letztere ist ziemlich persistent und verbindet sich häufig mit
Klonismen des Contracturgebietes (1, 8, 18). Statt dieser erscheint in
Fall 4 Klonus im Platysma und Sternocleidomastoideus. Die Facialis-
contractur beschränkt sich wesentlich auf die Muskeln des Mundwinkels.
Nur in Fall 18 verbreitet sie sich auch auf den Augenschliessmuskel,
wobei sich sonst nicht nachweisbare Diathese de contracture entwickelt
und die Contractur eine dauernde wird.
Dieser bei hysterischer Hemiplegie so häufige Hemispasmus labialis
scheint für die Diagnose von ganz besonderer Bedeutung, da er bei
organisch bedingter, speciell ins Cortex gesetzer Erkrankung nicht vor-
kommt.
Dies gilt ganz besonders da, wo er als Hemispasmus glosso labialis
vorkommt. Der Glossospasmus bedingt dann das bei organischer Hemi-
plegie paradoxe Abweichen der vorgestreckten Zunge nach der gesunden
Seite. Mit Spasmus der Zunge dürfte auch die nicht seltene Sprachauf-
hebung oder Sprachbehinderung zusammenhängen, die Anfangs bei hy-
sterischer Lähmung bestehen kann, unbeschadet seltener Fälle von Mutis-
mus (Beob. 4, 9), der an und für sich einen sicheren Schluss auf Hy-
sterie gestattet.
Die Hemiplegie von functioneller Bedeutung ist durchweg eine
schlaffe und bewahrt dieses Gepräge so lange sie besteht, unbeschadet
gelegentlicher, an ungewöhnlichem Ort auftretender und sicher nicht auf
absteigende Degeneration der corticomusculären Bahn zurückführbarer,
vielmehr als Complication aufzufassender Erscheinungen von Spasmus.
Jedenfalls ist der hysterischen Hemiplegie die der organischen zukommende
Contractur in Ellbogen-, Hand- und Fingergelenken vollkommen fremd,
ebenso die der Hüftgelenksmuskeln, mit daraus resultirender Circumduc-
tion. Dass diese aber episodisch, offenbar unter imitatorischer Verwen-
dung von an Hemiplegikern gewonnenen Eindrücken vorkommen kann,
zeigt Beob. 12. Dass dieser imitatorische Einfluss nach Umständen eine
grosse Rolle spielen kann, ergiebt sich u. A. auch aus Beob. 1.
Die als Complication auftretenden Contracturen (1, 5, 9, 11, 12)
sind entweder Reflexerscheinungen, abhängig von Gelenkneurosen oder
regionärer cutaner und muskulärer Hyperästhesie, oder es handelt
sich um hysterische Contracturen (so in Beob. 5, wo eine solche die
62 H. Vortäuschung organischer Erkrankung des Nervensystems durch Hysterie.
r. und 1. UE. befällt, während die r. OE. die typische schlaffe Lähmung
markirt).
Was die (hysterischen) Lähmungen betrifft, so bieten sie Inten-
sitätsgrade von Amyosthenie bis zu ausgesprochener Paralyse, sind
äusserst wandelbar in ihrer Intensität durch psychischen Einfluss, viel-
fach von Auto- und Fremdsuggestion beeinflusst (Beob. 1, 12, 14, 17)
und, als psychisch ausgelöste, auch dadurch deutlich, dass sie, gleichwie
spastische Erscheinungen, oft nur solange existiren, als die Aufmerksam-
keit des Pat. auf sie gerichtet ist, andernfalls (Ablenkung, Affect) zurück-
treten.
Auffällig ist auch, dass mitten im Lähmungsgebiet einzelne Mus-
keln intact erscheinen können (Beob. 9), während andere umgekehrt,
mitten in einer nur psychisch vorhandenen Lähmung, wirklich gelähmt
erscheinen (Beob. 18, z. B.: Peroneuslähmung). Ganz ungewöhnliche
Combinationen sind z. B. die in Beob. 3 bestehende Lähmung der Portio
minor Trigemini und des Gaumensegels.
An eine corticale, wenn auch nur functionelle Localisation erinnern
Fälle (3, 15), wo die Hemiplegie sich aus Monoplegien entwickelt. Dass
auch posthemiplegisches Zittern (ähnlich Paralysis agitans), Chorea und
Ataxie hier vorkommen können, lehren Beob. 11, 13, 15.
Selbst Jacksonanfälle im Lähmungsgebiet können hier zur Beobach-
tung gelangen (Beob. 7, 11).
Die Steigerung der tiefen Eeflexe ist bei hysterischer Hemiplegie
eine viel weniger markante als bei organischer.
Viel wichtiger ist das Verhalten des Bauchhautreflexes, der bei
organischer Hemiplegie auf der Seite der Lähmung regelmässig fehlt,
bei hysterischer erhalten ist. Eine Ausnahme bildet nur Beob. 7, wo
er (schlaffe Bauchdecken) beiderseits fehlte.
Von ganz hervorragender diagnostischer Bedeutung ist jedenfalls
das Verhalten der Sensibilität im Lähmungsgebiet.
Während bei organischer Hemiplegie die Sensibilität nur shokartig
und flüchtig mitbetroffen ist, selbst bei Getroffensein des hintern Drittels
des hinteren Schenkels der Capsula interna bald sich aufbessert und auf
eine nur leichte Hypästhesie für alle oder einzelne Empfindungsquali-
täten, mit Schonung der tiefen Sensibilität sich beschränkt, zeigt sich Fehlen
der Empfindungsstörung nur in vier (12, 13, 16, 17) von den obigen
18 Beobachtungen.
Sie ist ziemlich hartnäckig, betrifft alle Empfindivngsqualitäten,
ausser in 14, wo sie einen syringomyelischen Typus aufweist, befällt
auch die Sinnesorgane (1, 3, 7, 8, 10) und einige Male die tiefe Sensi-
bilität (9, 14).
Hysterische Hemiplegien. 63
In einem Falle (11) erscheint die Sensibilitätsstörung in paradoxer
Weise als Hemihyperästhesie.
Eine interessante, den Verlauf hysterischer Hemiplegie begleitende
Erscheinung ist die in Beob. 3 und 4 in nahezu identischer Weise be-
obachtete Hemmung der Bewegungen des gesunden Auges von Seiten des
anderen, von Amblyopie und Anästhesie befallenen.
Diese associative Hemmung der Blickbewegung ist eine
rein psychische Erscheinung und so begreift es sich, dass sie nur bei
voller Bewusstheit des Defects auf dem kranken Auge, nicht aber bei
vermeintlicher Ausschaltung dieses Auges vom binocularen Sehact (durch
Verdecken des betr. Auges) und im Affect zu Tage tritt.
Bischoff bringt in seinem Fall 4 das Phänomen, wohl mit Recht, in Ana-
logie mit jenen Anästhesien, bei welchen Bewegungen (mit dem anästhe-
tischen Arm) nur unter Controle der Augen ausführbar sind, und weist
darauf hin, dass in seinem Fall Anfangs auch in allen bilateral ge-
brauchten Gesichtsmuskeln die Beweglichkeit auf beiden Seiten ein-
geschränkt war.
Dass die hysterische Hemiplegie nach Umständen sehr hartnäckig
ist, lehren Beob. 7, 16, 17, 18. Die Gefahr von Recidiven oder Recru-
descenzen in Folge von Emotionen oder relativen Ueberanstrengungen
wird durch Beob. 1, 3, 4, 6, 8, 13, 15 dargethan.
Die Therapie kann nur eine psychische sein, unter Verwerthung
von Wach- (12) oder Schlafsuggestionen (15). Dass auch blosse Hypnose
ohne Ausnützung derselben zu Suggestionen werthvoll sein kann, lehrt
Beob. 9. Behandlung mit Electricität oder Magnet dürfte nur im Sinne
von larvirter Wachsuggestion wirksam sein.
Ueber Pseudoparesis spastica.
(Vortäuschung spastischer Spinalparalyse durch Hysterie.)
Unter dieser, sich an neuere Publicationen von Nonne und von
Fürstner anlehnenden Bezeichnung, stelle ich im Folgenden eine Anzahl
von Fällen meiner Beobachtung zusammen, die in ihrer Mehrzahl das
Bild der sog. spastischen Paralyse vortäuschen, -wobei sich aber gleich-
wohl nachweisen lässt, dass weder Parese noch Spasmus in Wirklich-
keit bestehen, vielmehr durch psychisch vermittelte Innervationsanomalien
Seitens Hysterischer vorgetäuscht werden.
Diese eigenartige Störung in der Function der Unterextremitäten
erinnert an Charcot's und Grasset's „Ataxie choreiforme", d. h. Abasie,
theils durch Störung der coordinatorischen Leistung des Gehens, theils
durch Verkrampfung von Muskeln hervorgerufen.
Auch ein Fall von „Zitterabasie", den Charcot (Poliklinische Vor-
träge, übersetzt von Kahane, Bd. II, p. 305) am 5. 3. 89 vorstellte,
dürfte hierher gehören.
Marie (Krankheiten des Rückenmarks 1894, p. 110) erwähnt Fälle
von „Paraplegie mit Contractur, die der Tabes spastica nahezu gleichen",
jedoch seien bei ihnen die Steigerung der tiefen Reflexe minder aus-
geprägt und überdies meist Störungen der Sensibilität und andere Stig-
mata hysteriae nachweisbar.
Auch an die Fälle von „pseudospastischer Parese mit Tremor", die
Nonne (Neurolog. Centralblatt 1896, 12), Fürstner (ebenda 1896, 15) und
Onuf (ebenda 1897, 8) im Rahmen einer hysterischen traumatischen
Neurose veröffentlicht haben, erinnern die folgenden Beobachtungen, ja
sind ihnen vielleicht gleichzustellen, als Varianten ein und desselben
neurotischen Bildes, das eventuell nur durch Verschiedenheit der
ätiologischen Momente, differente Züge bietet.
Am nächsten kommt dieser Bewegungsstörung die „psychische Con-
tractur" Richet's (die hysterischen Lähmungen und Contracturen,
Paris 1892). R. fasst sie als einen in der Hirnrinde ausgelösten Vor-
gang auf und führt als Beleg dafür, dass auch die motorischen Hirn-
Pseudoparesis spastica. 65
rindencentren bei Hysterie Erregungsvorgänge im Sinne einer „Con-
tractu^1 vermitteln können, die Thatsache an, dass solche „Contracturen"
im künstlich (hypnotisch) provocirten Somnambulismus erfolgreich
suggerirt werden können.
Richer denkt sich diese psychische Contractur als auf dem Wege
der Autosuggestion entstanden, ohne auf die Art und Weise ihres
Zustandekommens näher einzugehen.
Im Gegensatz zur vulgären (spinal, meist reflectorisch entstandenen)
Contractur hebt er hervor, dass die psychische durch psychische Reize
und Eingriffe aller Art, besonders aber durch die Aufmerksamkeit des
Kranken auf sein Leiden erheblich gesteigert, durch Ablenkung jener
temporär beseitigt wird und im ruhigen Schlafe vollständig schwindet.
Diese psych. Contractur zeigt nach Richer grössten Wechsel der Inten-
sität, allen empirischen Gesetzen spottende Lokalisationen, ist selten vonSen-
sibilitätsstörungen begleitet und reagirt demgemäss nicht auf physikalische
Behandlung (Magnetotherapie), die wesentlich eine psychische sein muss.
Beobachtung 1.
Dr. med. A., 29 J., consultirte mich im Sommer 1887 wegen eines
complicirten Nervenleidens, unter dessen Symptomen ganz besonders Er-
scheinungen im Sinne einer spastischen Parese der UE. den Patienten
belästigten und beunruhigten. In der Familie findet sich neuropathische
Constitution vor. Der Vater soll von reizbarem Temperament sein.
Drei Brüder des Patienten sind nervös erregbare Leute. Eine Schwester
litt vom 18. Jahr ab an Neurasthenie mit Agoraphobie und temporärer
Dysthymie. Eine Tante erkrankte an Hysterie im Klimacterium.
Patient machte als Kind Rachitis, später Morbillen und Typhus
abdominalis durch. Früh und mächtig regte sich die Vita sexualis.
Von der Pubertät ab viel Pollutionen. Abstinenz trotz grosser Libido
führte zu Neurasthenia sexualis mit Spermatorrhoe. Im weiteren Ver-
lauf Entwicklung von Neurasthenia spinalis. Mit 25 Jahren Spitzen-
katarrh, der bald ausheilte. Nun aber allgemeine Neurasthenie, Anämie,
überaus rasche Ermüdung nach relativen Muskelanstrengungen, be-
sonders in den UE. Aufenthalt im Süden bewirkt keine Besserung.
Die Ermattung der Beine nimmt zu, Patient ist zeitweise kaum mehr
gehfähig. Besonders leicht versagt die 1. TJE., was Patient nicht ohne
Grund mit relativer Ueberanstrengung des 1. Beins, anlässlich fünf
Monate betriebener Fechtübungen, in Zusammenhang bringt.
Patient fing an, Anfangs 1886 über seine Gehschwäche besorgt zu
werden. Er konnte sich die Situation nur unter Annahme einer Myelo-
pathie erklären, consultirte ärztliche Koryphäen, zumal da sich Er-
scheinungen von krampfhafter Starre der Beine, besonders Morgens beim
Krafft-El.ing, Arbeiten II. 5
66 IL Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Aufstehen, und eine enorme Steigerung der tiefen Reflexe bis zu Fuss-
clonus, der reizbaren Schwäche hinzugesellt hatten.
Seine Autodiagnose wurde von den Koryphäen bestätigt. Vergebens
wurden Hydro- und Elektrotherapie, Sondenkur und Aetzung des Caput
gallinaginis contra Pollutionen und Spermatorrhoe angewendet. Auch
Seeale und Nervina hatten versagt.
Stat. praes. 20. 7. 87: Patient unterraittelgross , nicht anämisch.
Vegetative Organe ohne Befund. Bild piner Hysteroneurasthenia levis
(Dyspepsie, durch Gemüthsbewegungen sehr beeinflussbare Herzaction,
grosser Stimmungswechsel, Emotivität, zeitweise grundlose Gemüths-
depression, rasche geistige Ermüdung, Unlust zur Arbeit, Nosophobie im
Sinne spastischer Spinalparalyse, Hyposmie, concentr. Sehfeldeinschränkung,
schweres Einschlafen, wirre Träume, unerquicklicher Schlaf u. s.w.) Dazu
Defäcations- und Mictionsspermatorrhoe. Coram aliis mictio difficilis.
Sonst Blase und Darm in ihren Functionen intact. Nirgends am Körper
finden sich Störungen der Sensibilität.
In den OE. erhebliche Amyosthenie, besonders in der 1. und rasche
Erschöpfung. R. Dynamometer 45, 1. 30, bei Wiederholung des Druck-
versuches überaus rasch absinkend auf minimale Werthe. Die tiefen
Reflexe unbedeutend gesteigert. Keine Dystrophien. Hier und da,
besonders im 1. Thenar fibrilläre Contractionen.
In den UE. besteht beim Erwachen ein Gefühl von Steifigkeit
Objectiv zeigt sich, namentlich in der 1. UE. jeweils bei Intention, aber
auch bei passiver Bewegung, Massage, unter demEinfluss vonKälte, endlich
auch beim Gähnen eine Versteifung der Beine. Zuweilen nehmen an
dieser Streckung und Versteifung auch die OE. Theil.
Bei vorsichtiger Innervation lässt sich die Neigung zu diesen Ver-
steifungen einigermassen überwinden, am wenigsten aber in der r. UE.
Springt Patient nach dem Erwachen aus dem Bett, so vermag er
die Steifigkeit seiner Beine erst nach einigen Secunden zu überwinden
und zu gehen. "Wacht er schon nach 3 Stunden auf, so besteht diese
Starre nicht.
Der Gang ist spastisch, aber nicht scharrend. Die Ausdauer des
Gehens ist eine beschränkte und sehr wechselnde. Sie schwankt
zwischen 2 und 301. Sie hängt vom Allgemein- und psychischen Be-
finden ab und ist nach schlafloser Nacht, Spermatorrhoe und nach
psychischer Erregung eine viel geringere als sonst.
Schon nach den ersten Minuten, oft schon nach wenigen Schritten
kommt ein Gefühl von Müdigkeit und man bemerkt ein kürzeres Ver-
weilen auf dem linken Fusse. Dann nimmt die Müdigkeit rapid zu, der
Pseudoparesis spastica. 67
Gang wird immer unsicherer, bis der Kranke zuletzt den 1. Fuss nach-
schleift und über die geringste Unebenheit seines Weges stolpert.
Die Marschfähigkeit ist am grössten Morgens nach dem Aufstehen
und Abends nach der Mahlzeit. Nach dem Mittagessen ist sie am ge-
ringsten. Stiegensteigen und Bergaufgehen gelingt besser als die um-
gekehrte Leistung. Stehen und Umwenden auf dem 1. Fusse ist un-
möglich. Die Hebung der ausgestreckten 1. UE. ist nicht in dem Umfang
möglich, wie mit der r., auch nicht in liegender Position. Auch die Leistung
im 1. Peroneusgebiet ist viel geringer als im r. Romberg ist negativ,,
der Muskelsinn, überhaupt die tiefe Sensibilität intakt. Der Muskeltonus
ist nicht gesteigert. Die elektrische Erregbarkeit ist normal. Die tiefen
Reflexe sind erheblich gesteigert. Fussclonus ist r. und 1. jederzeit
hervorzurufen. Schon nach kurzem Gehen erhöhen sich diese Reflexe
bedeutend, um in der Ruhe abzusinken, jedoch bleiben sie constant be-
deutend über die Norm gssteigert.
Die 1. UE. ist allenthalben um 2 cm schmächtiger im Yolumen
als die r.
Unter Hydro- und Elektrotherapie bessert sich das Befinden. Die
Beobachtung bis Anfang October stellt die hystero-neurasthenische Grund-
lage des Krankheitszustandes fest. Der Gang des Patienten ist, wenn
er sich beobachtet weiss, viel schlechter als sonst. Auch bei sciroccalem
Wetter, ganz besonders aber bei schlechter Stimmung und nach
Pollutionen geht er viel schwerer. Die Versteifung der UE. tritt nur
dann auf, wenn Ermüdungsgefühl sich einstellt. Man gewinnt den Ein-
druck, dass Patient auf Grund eines Ermüdungsgefühls unbewusst dann
seine Extensoren übermässig innervirt. Jedenfalls ist der psychische
Eiufluss, der aber dem Patienten nicht zum Bewusstsein kommt, dabei
ausschlaggebend. So erklärt sich auch der überaus grosse Wechsel der
„Rigor"-Erscheinungen. Auch die Steigerung der tiefen Reflexe steht im
correlaten Verhältniss zur reizbaren Schwäche der UE. und sinkt, wenn
Patient ausgeruht ist, bedeutend ab.
Die Autosuggestion desselben, von einem organischen Rückenmarks-
leiden heimgesucht zu sein, liess sich nicht ganz eliminiren. Auf eine
Anfrage nach seinem Befinden erwiderte der in einer grossen Stadt des
Südens in erspriesslicher specialärztlicher Thätigkeit stehende College
am 15. 2. 1897 Folgendes:
„Die Fortsetzung meiner Krankheitsgeschichte lässt sich in wenigen
Worten zusammenfassen: Das Wesen der Krankheit ist dasselbe ge-
blieben — Steigerung der Sehnenreflexe (Kniephänomen und Fussclonus
beiderseits) und spastisch paretischer Zustand der UE. Letzterer ist
68 II. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
aber in den letzten 10 Jahren entschieden schlechter geworden, sodass
das Gehvermögen bedeutend erschwert ist. Mein anstrengender Special-
beruf lässt mich mein Leiden leichter ertragen."
Beobachtung 2.
B., 51 J., Hilfsarbeiter, gelangte am 26. 11. 1896 auf der Klinik
zur Aufnahme.
Patient ist Findelkind, Gesundheitsverhältnisse der Ascendenz nicht
zu ermitteln. B. war nie luetisch, ausser an Typhus vor vielen Jahren
nie krank.
1890 im Herbst, auf einer Landparthie, auf welcher Patient sich
angestrengt und 1,5 Liter neuen Wein getrunken hatte, fühlte er beim
Aufstehen vom Wirthstisch, um den Heimweg anzutreten, grosse Müdig-
keit und Steifheit in den Beinen, hatte Mühe, vorwärts zu kommen und
empfand diese Beschwerden bis zur Bettruhe.
Am anderen Morgen fühlte er sich ganz wohl und konnte wieder
anstandslos seinem anstrengenden Beruf in der Fabrik nachgehen. Diese
Steifigkeit und Müdigkeit kehrte aber bis 1893 jeweils nach Genuss von
5 — 6 Halblitern Wein wieder.
Seit 1893 wurden diese Beschwerden aber dauernd und nur mehr
durch Abusus vini temporär gesteigert.
Auch wenn er eine starke (Virginia) Cigarre rauchte, war sein
Gehen verschlechtert. Noch eigenthümlicher war, dass, wenn Patient
sich in der Fabrik von Jemand, besonders von einem Vorgesetzten be-
obachtet wusste, er keinen Schritt machen konnte. Er fühlte dann seine
Beine wie „verhext" und wurde erst wieder Herr derselben, wenn der
Beobachter den Saal verliess. Patient motivirte diese auffällige psycho-
motorische Reaction damit, dass er in der Angst lebte, seine Stellung zu
verlieren, wenn man merken würde, dass er ein Fussleiden habe.
Indem er sich unbeobachtet wusste, konnte er selbst bis auf die
letzte Zeit leicht, ohne Stock, mit einer Last von 50 Kilo gehen.
Im Frühjahr 1893 will Patient durch 4 Wochen Formications-
gefühle in den UE. empfunden haben, ferner eine Zeit lang an der
Aussenfläche des 1. Oberschenkels tactil anästhetisch gewesen sein.
In den letzten 2 Jahren hatte sich der Zustand bedeutend ver-
schlechtert, was Patient dem Abusus vini, namentlich aber dem Aus-
spruch eines Arztes, sein Leiden könne zu vollständiger Lähmung führen,
zuschrieb.
Am 21. 3. 1896 stellte sich mir Patient im Ambulator. clinicum
zum ersten Male vor. Er bot exquisit spastisch paretischen Gang, der
psychisch auffallend beeinflussbar war, erhaltene grobe Muskelkraft, m-
tacte Sensibilität, gesteigerten Patellarreflex und Fussclonus.
Pseudoparesis spastica. 69
Im September 1896 unterzog sich Patient einer sogenannten
Kneippkur und empfand davon temporär grosse Besserung. Als er
einmal Eisumschläge machte, waren im Anschluss daran die UE. durch
3 Stunden unbeweglich geworden.
Wegen bedeutender Verschlimmerung liess sich Patient im No-
vember 1896 auf der Klinik aufnehmen.
Stat. 30. 11. 1896. Kräftiger Mann, vegetativ ohne Befund. Hirn-
nerven und OE. frei von jeglicher Störung.
In den UE. alle Bewegungen möglich. Keine Abnahme der groben
Muskelkraft, ausser in den Kniebeugeru. wo auch bei passiven Be-
wegungen ein leichter Grad von Kigor zu finden ist. Die tiefen Reflexe
sind stark gesteigert. Vasomotorische, trophische, sensible Störungen
sind im Bereiche der UE. nicht aufzufinden. Blase und Mastdarm in
normaler Function. Stigmata hysteriae sind nicht auffindbar. Der
Gang des Patienten ist eigenartig, spastisch. Die Beine werden steif ge-
gehalten, in den Gelenken nicht abgebogen, im Hüftgelenk circumducirt.
Dabei tritt Patient mit dem inneren Fussrand auf und hält den Fuss
dorsalflectirt, sodass, wenn er am Boden streift, dies nicht mit dem
Vorderfuss, sondern mit der Ferse geschieht. Er geht ohne Stütze
sicher, mit grossen Schritten, ohne zu schwanken. Das Bewusstseiu
beobachtet zu sein, psychische Erregung, verschlechtern im Sinne der
Versteifung das Gehen enorm. Bei abgelenkter Aufmerksamkeit geht
Patient ziemlich gut. Auffallend ist auch, dass er nur beim Vorwärts-
gehen, nicht aber beim Rückwärtsschreiten, überhaupt nicht bei un-
gewöhnlichen Bewegungen die geschilderte Versteifung zeigt. Gym-
nastik, Gehübungen unter Leitung des Arztes bessern bedeutend.
Schliesslich steht Patient anstandslos auf einem Bein. In Emotion die
frühere Situation. Gebessert entlassen am 21. 1. 97.
Beobachtung 3.
Am 8. 10. 1890 stellte sich mir Herr Z., Beamter, 39 J., vor und
bat um Hülfe gegen ein schweres, seine Gehfunction empfindlich
störendes Leiden.
Patient stammt von gesunden Eltern. Zwei Brüder starben in
frühem Alter gehirnkrank (Meningitis tuberc. ?), zwei Schwestern sind
lungenleidend.
Er selbst war stets gesund, kräftig, kein potator, nie luetisch
gewesen.
Um Weihnacht 1889 intensive Erkältung auf einer Bahnfahrt. Seit-
her Kältegefühl in oberer Lenden- und Kreuzgegend. Anfang Februar 1890
Sturz auf dem Glatteis ohne Beschädigung. Pat. erschrak dabei heftig.
Im Anschluss daran am folgenden Morgen Steifigkeit in Rumpf und
70 II. Vortänschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
UE., etwas Schmerz interscapular. Erschwerte Bewegungen des Rumpfes
und schwieriges Gehen mit Gefühl eines Drucks am Steiss, Vertaubung
der Zehen, überaus rasche Ermüdung, Brennen unter der Haut der
Schenkel. Obstipation, leichte Dysurie.
Im Laufe des Frühjahrs 1890 zunehmende Parästhesien und
Paralgien in der Kreuz- und 1. Lumbaigegend, Brennen an der Innen-
fläche der Oberschenkel und am Abdomen. Kälte- und Vertaubungs-
gefühle an UE. und Stamm bis zur Höhe des Epigastriums. Zunehmende
Versteifung der Beine und Bewegungsstörung. Ein Anfangs Juli con-
sultirter Specialist diagnosticirte Myelitis und verordnete Jodnatrium und
Badener Bäder. Während dieser Kur zunehmende Verschlechterung.
Nach Abbrechen dieser Behandlung unter leichter Wasserkur geringe
Besserung.
Der Status Mitte October 1890 ergab folgenden Befund: grosser,
äusserst muskulöser, gut genährter Mann. Wirbelsäule ohne Ver-
änderung. Grosse Emotivität. Gehirnnerven und OE. ohne Functions-
störung. Hypästhesie für alle Qualitäten bis zur Höhe des Epigastriums
herauf. Klagen über schwammiges Gefühl in den Plantae pedis. Keine
Schmerzen, keine Wurzelsymptome, kein Gürtelgefühl.
Spastisch paretischer, nicht atactischer Gang, nur mit Stock mög-
lich, überaus rasche Ermüdung. Bis auf geringe Amyosthenie in r. UE.
kein Ausfall grober motorischer Kraft. Rigidität sämmtlicher Muskeln
der UE., rechts stärker als 1., in der Ruhe am stärksten, nach längerer
passiver oder activer Bewegung abnehmend.
Bei jeder Gemüthsbewegung heftiger Zitterkrampf in den Ober-
schenkeln und Bauchmuskeln. Ohne Unterstützung vermag sich Patient
aus horizontaler Lage nicht aufzurichten. Bei motorischen Leistungen,
die Patienten sichtlich sehr anstrengen, geräth er gleich in Transpiration
und wird dyspnoisch.
Enorme Steigerung sämmtlicher tiefen Reflexe in den UE., Patellar-
und Fussclonus.
Bauch-, epigastrische, Ciemasteren- und Plantarreflexe nicht hervor-
zurufen. Der 1. Cremaster zeigt fast continuirliche zuckende Contractionen.
Die tiefe Sensibilität (Lagevorstellung, Gefühl für passive Be-
wegung) ungeschädigt, Romberg'scher Versuch negativ.
Geringer Grad von Dysurie. Urin ohne fremde Bestandtheile,
vegetative Organe ohne Befund. Seltene Erectionen. Elektrische Unter-
suchung weist keine Reactionsanomalien auf.
Diagnostisch wird die Möglichkeit einer Myelitis dorsalis an-
genommen. Unter Behandlung mit lauen Soolbädern, Galvanisation der
Wirbelsäule und Seeale mit Belladonna intern Verschlechterung — ver-
Pseudoparesis spastica. 71
mehrte Parästhesien, Muskelrigidität fast permanent und auch auf Lenden-
und Bauchmuskulatur ausgedehnt, enorme Steigerung der tiefen Reflexe,
aufgehobene Geh- und Stehfähigkeit.
Bei Aussetzen dieser Behandlung und Ersatz derselben durch
Halbbäder Erschlaffen der Muskeln, ausgenommen der des Becken-
gürtels und der Adductoren. Vom 29. 10. ab der frühere Zustand,
aber milder. Erheblicher Nachlass der Muskelversteifung jeweils Abends.
Durch äussere Verhältnisse ganz unbeeinflusste Remissionen und
Exacerbationen. Auch Brombehandlung bis zu 8.0 pro die, Extr. Conii
maculati bis zu 0.5 täglich, bringen keine Veränderung der Muskel-
rigidität zu Stande. Erscheinungen von Diathese de contracture werden
nie beobachtet.
Im Laufe des December 1896 deutliche Hypästhesie von den
Füssen bis zur Höhe des Proc. xyphoideus, hinten bis zum 6. Brustwirbel
hinauf.
Bei einem Versuch der Hypnose geräth Patient in tiefes Engour-
dissement. In diesem Suggestion, dass die Muskelrigidität schwinden werde.
Nach dieser Sitzung volles Befreitsein von derselben durch viele
Stunden. In weiteren Sitzungen ebenfalls Erfolg, aber nicht mehr von
so langer Dauer, sodass schliesslich auch dieses Mittel versagt.
Anfang Februar 1891 wohl spontane Abnahme der Rigidität. Sie
beschränkt sich auf die Flexores cruris et femoris.
Ende Februar ebenso grundlose Exacerbation — beide Beine, ganze
Beckenmuskulatur und untere Bauchgegend wieder rigid, letztere bretthart
und qua Bauchpresse bei der Urinentleerung (erschwertes Harnen) sehr
mangelhaft. Patient geh- und stehunfähig. Des Morgens ist die Muskel-
versteifung immer am heftigsten. Jede Willensintention, jeder passive
Bewegungsversuch steigert sie episodisch, während Hautreize und Druck
auf die Nervenstämme sie nicht beeinflussen. Bis zur Abreise des
Patienten nach Hause im Juni 1891 nach erfolgloser Kur beständiger
Wechsel zwischen Remissionen und Exacerbationen, die ganz unver-
mittelt auftreten; die letzteren waren jeweils von bedeutender Steigerung
der tiefen Reflexe begleitet. In den Remissionen beschränkte sich die
Muskelcontraction auf bestimmte Muskelgruppen. Nie waren die meist
brettharten Muskeln schmerzhaft. Auffallend war auch der grosse
Wechsel in der Intensität und Extensität der Sensibilitätsstörungen in
den TJE. So war z. B. der Befund im Mai der, dass die cutane und
tiefe Sensibilität bis zum Knie herauf kaum merklich gestört war, sich
daran bis zum Becken eine Zone schwer gestörter Empfindung anschloss,
während von da bis zur Höhe des Proc. xyphoideus die Sensibilität
72 II. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
kaum mehr gestört war. Diese Gebiete der Hyp- und Anästhesie
schwankten auf und ab.
Stigmata hysteriae waren nie zu constatiren gewesen. Bernerkens-
werth war die grosse Emotivität des allerdings hilflosen und einer
zweifelhaften Zukunft entgegensehenden Patienten. Ich verlor Herrn Z.
aus den Augen, erfuhr eines Tages, dass er genesen sei und erbat und
erhielt von ihm folgende Auskünfte über den weiteren Verlauf seiner
Krankheit.
„Als ich im Juni 1891 nach Hause fuhr, wurde noch Professor
Kahler consultirt, welcher mir Hoffnung auf Genesung machte, allerdings
dürfte es noch 2 — 3 Jahre bis dahin dauern. Er empfahl mir leichte
Wasserkur und Elektrisiren. Ende August 1891 fuhr ich nach der
Wasserheilanstalt Gr., wo ich bis October 1892 blieb. Ich nahm täglich
(im Sommer 2 mal) ein Halbbad von 23 — 21 ° E., 5 Min. lang, bekam
leichte Abreibungen, wurde elektrisirt vom Lendenmark zur Leisten-
gegend und überdies durch 2 Monate mein Rücken gedehnt (in liegender
Position die Füsse gegen den Kopf gebracht). Medicamente wurden
keine gebraucht.
Im Frühjahr 1892 trat eine Reaction ein — es kamen heftige
Schmerzen in der Hüfte und den Beinen, langsam stellte sich die
Beweglichkeit und Empfindung wieder her, kleine Unterbrechungen, in-
dem die Muskelspannungen wieder stärker waren, abgerechnet.
Als ich im October 1892 nach Hause kam, konnte ich wohl die
Beine etwas heben, aber nicht strecken. Zu Hause besserte es sich
zusehends. Bald konnte ich allein stehen und gegen Neujahr 1893
etwas gehen. Im März ging ich frei, ohne Stock, ermüdete aber bald.
Es stellte sich der frühere Zustand beinahe vollständig wieder her, nur
manchmal, besonders bei feuchtem Wetter und beim Herabgehen von
Stiegen, verspürte ich eine leichte Schwäche. Noch 1893 wurde ich
wieder vollständig berufstüchtig."
Beobachtung 4.
G., 39 J., ledig, Knecht, kam am 8. 12. 1896 wegen einer Geh-
störung zur Aufnahme auf der Klinik.
Patient hat Cran. rachiticum, ist geistig beschränkt, behauptet, seine
Mutter und eine Cousine des Vaters hätten an einer ähnlichen Geh-
störung, wie die seinige, gelitten.
Vor 7 J., als Patient beim Graben eines Kellers Tage lang im
Wasser stand, stellten sich rheumatische Schmerzen in Knieen und
Unterschenkeln ein, die in der Folge, namentlich bei Witterungs-
wechsel recrudescirten und ihn sehr plagten. Bald nach dem Auftreten
dieser Schmerzen, wobei er lebhaft seiner dysbasischen Verwandten ge-
Pseudoparesis spastica. 73
denken rnusste, stellte sich die unten zu beschreibende Gehstörung ein,
die ihn seither nie mehr ganz verliess. Besonders empfand er sie, wenn
er nach nächtlicher Ruhe seine Beine gebrauchen wollte. Er bemerkte
dann darin Schmerz und Steifigkeit.
Stat. prasens: Cranium 565 mm mit Hinterhauptstufe, stark vor-
springende Tubera parietalia. Gebiss defect. Von Seiten der Hirnnerven
keine Functionsstörung, ausser beiderseits fehlenden Gaumen- und
Rachenreflexen.
Wirbelsäule normal. OE. ohne Befund, bis auf sehr prompte tiefe Reflexe.
Die UE. sind in der Rückenlage im Hüft- und Kniegelenk leicht
gebeugt, die Flexores cruris (1. stärker als r.) etwas contrahirt. Die
grobe Muskelkraft und die Sensibilität normal. Beiderseits Patellar- und
Fussclonus. Der Gang ist spastisch paretisch. Die Beine werden im
Hüftgelenk circumducirt, die Kniee kaum gebeugt, an einander gewetzt,
die Füsse in ihrem vorderen Abschnitt am Boden scharrend geschleift;
der Gang erinnert vollkommen an den bei sog. spastischer Paralyse,
nur macht Patient auffallend grosse Schritte und ist jener psychisch sehr
beeinflussbar, indem bei abgelenkter Aufmerksamkeit die Gelenke, nament-
lich die Hüftgelenke auffallend freier werden. In den Gelenken findet
sich keine anatomische Veränderung. In den Sehnen der Kniebeuger
ist bei passiver Bewegung Knarren zu verspüren.
Bei solcher findet sich nirgends Versteifung. Patient wird mit
Gymnastik, Faradisation und Wachsuggestion behandelt. Allmälig ge-
winnt man solchen Einfluss auf ihn, dass er ohne Steifigkeit, mit freier
Beweglichkeit in den Gelenken, mit grossen sicheren Schritten einher-
schreiteu kann. Sich selbst überlassen, fällt aber Pat. wieder in seine
fehlerhafte Gehweise zurück. Pat. drängt heim und wird am 10. 1. 1897
gebessert entlassen.
Beobachtung 5.
D., 55 J., Schneidergehülfe, auf der Klinik aufgenommen am
20. 1. 1897, stammt von einem Vater, der potator war. Sonst findet
sich nichts Belastendes in seiner Ascendenz und Blutsverwandtschaft.
Seine 3 Kinder haben sämmtlich an Convulsionen gelitten, seine Frau
hat überdies 3 mal abortirt. Lues ist weder anamnestisch, noch in der
Beobachtung an ihm nachweisbar, potator war er nicht. Als Kind gesund,
kräftig gewesen, mit 19 J. „Kopftyphusu, im Anschluss daran möglicher-
weise Tetanie. Mit 35 J. fragliche Hirnhautentzündung, mit 49 J. heftige
Contusion des Gesässes, im Januar 1895 fieberhafte Erkrankung (Influenza?)
darauf wieder Wohlbefinden.
Im Mai 1895 zunehmende rasche Ermüdung beim Gehen, im No-
vember 1895 brennende Schmerzen im 1. Gesäss und 1. Knie, im Früh-
74 II- Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
jahr 1896 Formication und Kältegefühl im 1. Ulnarisgebiet bis zum Ell-
bogen herauf.
Dazu Parästhesie in den UE., Steifheit derselben, besonders links,
Schmerzen in Vorderarmen und Unterextremitäten, als lancinirende ge-
schildert. Schwinden von Libido und Potentia sexualis. Obstipation.
Stat. praes. 25. 1. 1897. Pat. mittelgross, gut genährt, Schädel
regelmässig, Umfang 56 cm. Vegetativ ohne Befund, bis auf geringes
Lungenemphysem. Pat. von gewöhnlicher Intelligenz, sehr präoccupirt
durch sein Leiden, Siechthum befürchtend. Gehirnnerven ohne Befund.
OE. grobe Muskelkraft etwas reducirt, keine trophischen oder
vasomotorischen Störungen, alle Bewegungen ohne Ataxie, Zittern u. s. w.
möglich. Tiefe Reflexe und directe Muskelerregbarkeit gesteigert, r.
mehr als 1.
Am 1. Kleinfinger besteht tactile, algetische und thermische
BTypästhesie , an der r. OE. derselbe Befund im ganzen' Ulnarisgebiet
bis zum Ellbogen herauf. Das Lagebewusstsein der r. OE. ist erheblich
gestört. Sonst keine Störung der Sensibilität.
Am Stamm besteht Schwerbeweglichkeit und Steifheit, die Pat. mit
Schmerzhaftigkeit und Müdigkeit im Kreuz motivirt.
UE. Die active Beweglichkeit in allen Gelenken ist durch Rigor
eingeschränkt, 1. mehr als r., ganz besonders rigid sind Adductores und
Flexores cruris. Klagen über Versteifung der Beine r. mehr als 1. Ob-
jectiv besteht temporär Krampf im Extensor hallucis.
Bei passiver Bewegung zeigt sich in allen Gelenken Widerstand
gegen solche, der aber auffallender "Weise bei geschlossenen Augen oder
auch bei abgelenkter Aufmerksamkeit des Pat. gänzlich schwindet. Die
grobe Muskelkraft ist unversehrt, desgleichen die Sensibilität in allen
ihren Qualitäten. Die tiefen Reflexe sind sehr gesteigert, beiderseits ist
Fussclonus erzielbar.
Pat. bietet den Gang eines an spastischer Spinalparalyse Leidenden.
Er geht mit kleinen Schritten, trippelnd, leicht scharrend, die Kniee an-
einander wetzend, mühsam sich vorschiebend, steif in allen Gelenken.
Er ermüdet rasch und fängt dann an mit dem 1. Bein zu zittern. Bei
geschlossenen Augen steht er Anfangs sicher, wird aber dann ängstlich,
geräth ins Schwanken, das aber suggestiv sich beseitigen lässt. Auch
bei offenen Augen ist Pat. im Gehen ängstlich und fürchtet beständig zu
fallen, was ihm aber nie passirt.
Da Pat. in seiner gestörten Motilität psychisch sehr beeinflusst
wird, sein Rigor offenbar nur unbewusster Innervationsexcess ist und
bei abgelenkter Psyche schwindet, da jegliche Parese fehlt und geome-
trisch begrenzte Sensibilitätsstörungen an den OE. vorhanden sind, wird
Pseudoparesis gpastica. 75
die Diagnose auf ein functionelles Leiden gestellt und Pat. entsprechend
mit Wachsuggestionen, Electro- und Hydrotherapie behandelt.
Anlang Mai 1897 bessert sich etwas der Gang. Pat. geht weniger
steif, rascher und ausdauernder, jedoch hat sich eine Contractur des 1.
Gastrocnemius eingestellt, sodass die active Dorsalflexion des Fusses
nicht und passiv nur mit Anwendung ziemlicher Kraft gelingt.
An den OE. besteht beiderseits an der Beugeseite eine Par-
ästhesie, welche die drei letzten Finger und die Hälfte des Vorderarmes
an seiner ulnaren Seite bis zum Ellbogengelenk umfasst. Au der
Streckseite betrifft diese Parästhesie die 3 letzten Finger und aufwärts
den ganzen Vorderarm bis zum Ellbogen.
Innerhalb dieses parästhetischen Gebietes besteht cutane Hyper-
ästhesie und Hyperalgesie. Sonst stat. idem. Pat. verlässt am 15. 5. 1897
das Spital, um eine Badekur anzutreten.
Am Tage der Entlassung sind die tiefen Reflexe in den UE. noch
sehr gesteigert, 1. besteht Fussclonus und bei Manipulationen an der 1.
UE. kommt es zu Schütteltremor des ganzen Beins. Der Rigor besteht
nur beim Gehen und bei passiver Bewegung, wenn Pat. die Augen offen
hat. Sonst fehlt er vollkommen. Nirgends besteht eine Herabsetzung
der groben Muskelkraft.
Beobachtung 6.
Seh., 31 J., Friseur, aufgen. 3. 2. 1897, stammt von einem von
jeher neuropathischen, jähzornigen Vater. Ein Bruder des Pat. ist
psychisch krank.
Früher gesund, erkrankte Pat., angeblich ohne vorgängige Emotion,
Trauma, fieberhafte Krankheit, Lues, 1890 unter Ameisenlaufen im Fuss,
rascher Ermüdung und zunehmender Schwäche, an einer Monoparese
der I. UE., sodass er den Fuss beim Gehakt nachzog. Der Arzt sprach
damals von Hysterie und stellte ihn nach 5 Wochen wieder her.
1891, ohne Anlass, kehrten diese Störungen in der 1. UE. wieder
und wichen diesmal nicht der ärztlichen Behandlung.
Seit 1894 fühlte Pat. in der Ruhe eine Versteifung im 1. Bein,
die aber bei Bewegung jeweils sich verlor. Anfang 1896 zeigte sich
Schwäche und Versteifung auch in der r. UE. Pat. führt dies auf über-
mässige Inanspruchnahme der r. UE. zurück, da die linke beim Gehakt
insufficient war. Parästhesien bestanden r. nicht. Seit Ende 1896 will
er bei der Urinentleerung ab und zu ein schneidendes Gefühl in der
Blase und Dysurie gehabt haben. Temporär sei auch relative Incon-
tinenz dagewesen.
Anfaag Januar 1897, nach einem warmen Bad, sei er in den Beinen
ganz steif und gehunfähig geworden.
76 II- Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Stat. praes. 5. 2. 1897. Kräftiges, gut genährtes Individiuum, geistig
etwas beschränkt, sehr durch die Functionsstörung der UE. präoccupirt
die er offenbar für eine schwere Krankheit hält. Cranium leicht difform.
Hinterhauptsstufe, Cf. 56.5, Torus palatinus. Vegetativ ohne Befund, ohne
Spuren von Lues. Hoden auffallend klein, weich. Masturbation wird
nicht zugegeben. Hirnnerven intakt, jedoch Sehfeld minimal temporal
eingeschränkt, Fundus und Visus normal.
Am Stamm vorn eine vom Rippenbogen bis zur Nabelhöhe, hinten
4 Querfinger unter dem Angulus scapulae bis zum Darmbeinkamm
reichende gürtelförmige Zone tactiler, thermischer und algerischer
Hypästhesie. Pat. vermag sich im Bett nicht frei aufzurichten, leicht
aber, wenn der in den Rücken gesetzte Finger des Arztes eine bezüg-
liche Unterstützung markirt. In den OE. keine Functionsstörung.
UE. Muskulatur kräftig, Tonus gut, nirgends Atrophie. Sensibilität
intact, keine vasomotorischen oder cutanen trophischen Störungen.
In Bettlage sind die Beine gestreckt, adducirt, die Füsse in leichter
Varoequinusstellung.
Bei Gehversuchen tritt sofort Versteifung ein, totale Gehunfähigkeit
und Niederfallen mit einknickenden Gelenken.
Die tiefen Reflexe sind hochgesteigert, beiderseits Andeutung von
Fussclonus.
Bei genauerer Prüfung ergiebt sich bloss in den Adductores craris
und in den Plantarflexoren ein gewisser Grad von Versteifung, die aber
nicht jederzeit nachweisbar ist und im Schlafe vollkommen fehlt. Bei
auf die Füsse gerichteter Aufmerksamkeit des Pat. macht sich die Ver-
steifung sofort bemerklich. Stellt man ihn auf die Füsse, so wird sie
allgemein, schwindet aber sofort, wenn Pat. ohne Stütze gelassen wird,
wobei er sogleich zu Boden sinkt. Jedenfalls ist diese Versteifung
psychisch stark beeinflusst. Weder durch Kneten der Muskeln, noch
durch Hautreize oder Druck auf die Nervenstämme, bei verbundenen
Augen, lässt sich Contractur erzielen.
Es besteht keine Diathese de contracture. Eine durch faradischen
Reiz hervorgerufene Contraction schwindet sofort nach Aufhören des Reizes.
Bei verbundenen Augen und bei plötzlicher passiver Bewegung
in einer beliebigen Muskelgruppe zeigt sich kein Widerstand. Im
anderen Falle, sobald der Pat. darauf vorbereitet ist, tritt Versteifung
ein und bedeutender passiver Widerstand.
Ab und zu gelingen dem Pat. unbewusst Bewegungen in seinen
UE., auch gewinnt man den Eindruck, dass nirgends eine eigentliche
Lähmung besteht, aber die willkürliche Leistung einer Bewegung in den
UE. stösst auf die grössten Schwierigkeiten und liefert nur minimale
Pseudoparesis spastica. 77
locomotorische Effecte. Jene lassen sich zurückführen auf sofortige
"Versteifung der betr. Muskeln bei Intentionen, wesentlich aber auf eine
enorme Innervationsungeschicklichkeit, gleich als sei Pat. aller Bewegungs-
anschauungen verlustig. Dabei irradiirt der Intentionsreiz auf ganz ent-
legene, gar nicht zur Action gehörige Muskelgruppen, während er in
den eigentlichen Gebieten nur minimal oder gar nicht zur Geltung
gelangt.
Verlangt man, dass Pat. die grosse Zehe eines Fusses dorsal flectire,
so gelingt ihm dies nicht; dafür treten Abductions- und Flexions-
bewegungen im betr. Fussgelenk ein, gelegentlich sogar solche im Knie-
und Hüftgelenk.
Beim Versuch, die grosse Zehe volarwärts zu bewegen, entstehen
momentan kräftige Impulse dazu, aber der Effect wird vereitelt durch
ganz ungehörige rotatorische Bewegungen im Hüft- und Fussgelenk und
Vorstreckbewegungen des betr. Fusses. Macht man dem Pat. die betr.
Bewegungen vor und übt ihn darauf ein, so geht es momentan ein
wenig besser.
Pat. ist auch nicht im Stande, eine Extremität isolirt zu bewegen;
immer geht die andere mit.
Die Functionen der Blase sind ganz ungestört.
Beobachtung 7.
Im Juli 1895 consultirte mich ein College, Herr Dr. X., 54 J.,
wegen einer Gehstörung. Er stammt aus einer Familie, in welcher, bis
auf einen Fall von Paranoia beim Bruder des Vaters, keine Neurosen
oder Psychosen vorgekommen sind. X. war körperlich kräftig, aber
emotiv, erregbar, von massiger Lebensweise, hat nie an Syphilis gelitten.
In 22 jähriger Ehe verschiedene Schicksalsschläge, Gemüths-
bewegungen. Lebensgefährliche Erkrankung einer Tochter, bei welcher
Pat. gezwungen war, einen schweren operativen Eingriff selbst zu
machen. Daneben Familiensorgen, angestrengte Berufstätigkeit als
Arzt und Sanitätsbeamter. Im Anschluss an diese Schädigungen be-
merkte X. Ende 1884 Steifheit im r. Sprunggelenk, leichte Ermüdung
beim Gehen, tauben, handtellergrossen Fleck auf der Streckseite des
r. Oberschenkels und grosse Emotivität.
Im Juli 1895, nach vermehrter Anstrengung, bemerkte Pat., dass
seine r. UE. vor Schwäche und Steifheit kaum leistungsfähig war, beim
Gehakt nachschleifte und einen Bogen nach auswärts beschrieb. Ein
hervorragender Kliniker diagnosticirte Myelitis, fand r. Patellar- und
Fussclonus, die 1. UE. intact. Besserung unter Hydrotherapie und
Galvanisation. Nach neuerlicher Anstrengung Verschlimmerung, zu-
gleich auch Schwäche und Steifheit in 1. UE.
78 II- Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Hauptbeschwerden des Pat. in der Folge waren rasche Ermüdung
Schwere und Steifheit der Beine, besonders im rechten, Zucken und
Tremor in beiden, namentlich Morgens im Bette und nach Anstrengung
im Gehen, danu auch lästige Muskelspannungen mit förmlichem Hervor-
treten der Muskeln und erheblicher Zunahme der allgemeinen Steifheit
zeitweise Formication an Zehen, Dorsum pedum, Wadenmuskulatur.
Blase und Mastdarm waren ungestört in ihren Functionen. Oft
Schwindel, besonders auf der Strasse und bei grellem Licht. Nachts
öfters Aufschrecken und Angstgefühle.
Stat. |praes. 20. 7. 1895, stattlicher, kräftiger Mann ohne Zeichen
von Senium. Vegetativ normal. Keine Störungen von Seiten der Hirn-
nerven. Function der OE. normal. Nirgends Störungen der Sensibilität.
Hier und da flüchtige Parästhesien am r. Unterschenkel. In der Gegend
der Tubera ischii beim Sitzen öfter Schmerzen.
Blase und Mastdarm intact.
Pat. geht mühsam, mit kurzen Schritten, spastisch. Die freie
Beweglichkeit in allen Gelenken erscheint behindert, besonders aber im
Hüft- und Kniegelenk und r. stärker als 1. Ab und zu zeigt sich
leichter Schütteltremor. Bei passiver Bewegung besteht kein Rigor. Je
mehr Pat. geht, um so freier wird sein Gang. Auch nach morgend-
lichem Halbbad ist dies temporär der Fall. Trotz seiner Gehstörung
vermag Pat. seinem ziemlich beschwerlichen Berufe nachzukommen.
Die tiefen Reflexe sind gesteigert, r. Andeutung von Fussclonus.
Die grobe Muskelkraft ist unversehrt. Die genaueste Prüfung der
Sensibilität vermag keine Störungen nachzuweisen. Sinnesorgane intact.
Augenspiegel bietet negativen Befund.
Stigmata hysteriae aut Neurastheniae sind nicht aufzufinden, jedoch
ist Pat. emotiv, nervös und berichtet, dass er öfters das Gefühl eines
elektrischen Schlags vom Kopf bis ins Rückenmark hinein empfinde.
Meine Diagnose lautete auf functionelles Leiden. Ich stellte
Besserung in Aussicht und empfahl den Fortgebrauch von Halbbädern
und Galvanotherapie, auf welche Pat. grosse Stücke hielt.
Versucht man, die vorstehenden Fälle zu analysiren und das
ihnen gemeinsam Zukommende hervorzuheben, so ergeben sich 2
Symptomereihen :
1. eine Störung der Innervation in den Unterextremitäten,
die sich temporär oder dauernd bis zur theilweisen oder allgemeinen
Aufhebung des Willenseintlusses oder wenigstens bis zum Versagen der
coordinirten Innervation der zum intendirten Bewegungsakt erforderlichen
Muskeln erstreckt.
l'seudoparesis spastica. 79
Diese Erscheinung ist eine rein cortical zu localisirende und
psychisch bedingte Functionsstörung. Sie täuscht eine Lähmung vor,
deren Möglichkeit aber sofort abgelehnt werden muss, wenn man
die freie Beweglichkeit und ansehnliche Muskelkraft bei abgelenkter
Aufmerksamkeit, bezw. unbewusster Bewegung bei solchen Kranken
wahrnimmt. Derlei Erfahrungen sind aber bei Hysterischen nichts Un-
gewöhnliches. Es genügt, an die Thatsache zu erinnern, dass bei
Solchen das amaurotische Auge bewusst keine Wahrnehmungen ver-
mittelt, unbewusst aber (Sehen durch ein Stereoskop) sich beim (bino-
culären) Sehakt als betheiligt erweist.
In den obigen Fällen sind zweifelsohne die Bewegungsanschau-
ungen virtuell vorhanden, unbewusst verwerthbar, nicht aber bewusst.
Dies deutet auf hemmende Einflüsse, die ihre Verwerthung im be-
wussten Geistesleben stören. Als solche sind nur psychische Factoren
in Gestalt von irgendwie autosuggestiv entstandenen hemmenden Vor-
stellungen denkbar. Interessant ist dabei, dass eventuell ungewohnte
Leistungen, wie z. B. Rückwärtsgehen (Beob. 2) auffallend gut erfolgen
können.
In allen obigen Fällen, wo eine psychologische Analyse möglich
war, stiess man auf hemmende Vorstellungen. In Beob. 1 macht sicli
dieser Einfluss nur temporär geltend, wenn Pat. durch Ermüdungs-
gefühle (complicirende Neurasthenie) an das Schreckbild einer Myelitis
erinnert wird. In Beob. 2 besteht er Anfangs nur temporär unter der
durch Abusus vini bedingten Innervationsstörung der UE., oder indem
sich Pat. von einem Vorgesetzten beobachtet weiss.
Er wird endlich dauernd durch ärztliche Suggestion drohenden
Siechthums. In Beob. 4 üben einen solchen Hemmungseinfluss Angst
vor Siechthum und zu stürzen, in 5 ein vermeintlich schweres
(organisches) Leiden, in 7 Angst vor Myelitis.
Von wirklichem Ausfall der groben Muskelkraft kann in keinem
der obigen 7 Fälle die Rede sein, höchstens von rascher Ermüdung ex
neurasthenia (Beob. 1) oder hysterischer Amyosthenie (Beob. 3), die ge-
eignet sind, die obigen Hemmungsvorstellungen zu stützen.
2. Zu solcher Pseudoparese, recte "Willenslähmung gesellen sich
spastische Erscheinungen. Auch dieser Rigor ist ein Pseudo-
spasmus, rein psychisch bedingt, im Schlaf und bei abgelenkter Auf-
merksamkeit verschwindend, dagegen im Zustand des Wachens und der
Aufmerksamkeit jederzeit vorhanden, durch Intention, passive Bewegung,
Kältereiz jeweils einer bedeutenden Steigerung fähig.
Weist schon das Fehlen aller sonstigen Bedingungen für das
Zustandekommen einer Contractu!' (Fehlen von Diathese de contracture,
80 II- Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
von Reflexreizen von den Gelenken und peripheren Nerven aus, von
Zeichen einer organischen Erkrankung im Bereich der corticornusculären
Bahn) auf eine psychische Auslösung dieser Spasmuserscheinungen hin,
so ist die grosse Wandelbarkeit dieses Pseudospasmus in In- und Ex-
tensität geradezu bezeichnend.
Es handelt sich hier aber gar nicht um Contractur, sondern um
eine abnorm intensive, der willkürlichen gleichzusetzende, aber unbewusst
erfolgende übermässige Contraction von Muskeln.
Die Erklärung für diese so wandelbaren und vorzngsw eise dieExtensoren
befallenden Muskelcontractionen kann nur darin gesucht und gefunden
werden, dass der von der Vorstellung der Insufficienz seiner Unter-
extremitäten und der Gefahr, umzufallen, präoccupirte Kranke unbewusst
und unwillkürlich seine virtuell unversehrte Muskelkraft ungebührlich
stark im gegentheiligen Sinne verwerthet, wobei es ihm bei der Un-
geschicklichkeit seiner Innervation gelegentlich passirt, dass auch antago-
nistische oder zur Wahrung der aufrechten Stellung irrelevante Muskel-
gruppen diesen übermässigen Innervationseinfluss erfahren.
3. Von den übrigen Symptomen ist das ausnahmslose Vorhanden-
sein einer Steigerung der tiefen Reflexe hervorzuheben, ein Ver-
halten, das sich auch bei allen anderweitigen psychischen „Lähmungen11
vorfindet und offenbar überall da zu gewärtigen ist, wo in der cortico-
musculären Bahn der Einfluss von Hemmungsnerven herabgesetzt wird.
In Beob. 1 schwankt die Intensität der Steigerung der tiefen Reflexe
auf und ab mit dem Minder oder Mehr psychocorticaler Innervation.
Störungen der Sensibilität kommen offenbar diesem Krankheitsbild
an und für sich nicht zu. Wo solche vorkommen, handelt es sich um
Complicationen im Sinne einer traumatischen Neurose (Beob. 3).
Der Tremor, der in Fürstners Fällen so markant hervortritt, scheint
nur bei traumatischer Entstehungsweise eine Rolle zu spielen, so auch
in meiner Beob. 3. In Beob. 4 erscheint er nur flüchtig und dürfte
da als Ermüdungstremor anzusprechen sein.
Auch Störungen der Blase kommen der Pseudoparesis spastica
an und für sich nicht zu. Die leichte Dysurie in Beob. 3 erklärt sich
wohl aus Störung der Bauchpresse, in Folge unwillkürlicher Contraction
der betr. Muskeln.
Durch die positiven Momente der Steigerung tiefer Reflexe und
die negativen der intacten Sensibilität und Blasenfunction nähert sich
das Bild vielfach dem der spastischen Spinalparalyse. Diese Täuschung
wird dadurch vermehrt, dass diese Pseudoparesis spastica eine mono-
symptomatische Manifestation der Hysterie zu sein pflegt.
Pseudoparesis spastica. 81
Die Schwere des Leidens wird durch das Stationärbleiben des
Falles 1 durch über 10 Jahre, sowie durch den geringen Erfolg der
Behandlung in 4, 5, 6, 7 dargethan.
Die Therapie kann nur eine psychisch suggestive sein, unter
Benützung des suggestiven Einflusses der Elektricität, Anleitung des
Kranken zum neuerlichen Erlernen des Gehens (Beob. 6) und Be-
kämpfung seiner Autosuggestionen.
K rafft-Ebing, Arbeiten H.
Paraplegia hysterica.
1. Fälle von schlaffer Lähmung.
Beob. 1.
B., 27 J., verheirathet, Kürschner, mos., aufgenommen 23. 12. 94,
ist angeblich erblich nicht belastet, entwickelte sich normal, machte
mit 6 J. Typhus ohne Folgeerscheinungen durch. Er war starker
Baucher, kein Trinker, heirathete 1889, acquirirte Anfang 1890 Ulcus
durum mit folgendem Exanthem, gebrauchte eine Schmierkur, bot in
der Folge keine Spuren von Syphilis, zeugte 1892 und 1893 gesunde
Kinder, fühlte sich vollkommen gesund, als er am 18. 7. 94 eine Reise
auf der Donau antrat, hatte aber kurz vorher Gemüthsbewegungen
gehabt und ging einer ungewissen Zukunft entgegen.
Pat. ging Abends 8 Uhr aufs Schiffsdeck, promenirte, wobei er einen
stechenden Schmerz im Kreuz verspürte. Er setzte sich nieder, schlief
circa 2 Stunden, ohne zu träumen, wollte, erwacht, aufstehen und be-
merkte zu seinem Entsetzen, dass seine Füsse total gelähmt und gefühllos
waren. Man trug ihn auf ein Bett. Am folgenden Morgen wurde er
ausgeschifft und in ein Spital gebracht. Es zeigte sich Lähmung des
Detrusor vesicae, sodass der Katheter nothwendig war. Er bot schlaffe
Lähmung der UE., Anästhesie bis zum Nabel herauf, scharf in einer
horizontalen Linie abschneidend. Am 19. erkrankte Pat. an „Influenza",
fieberte stark, war nach 14 Tagen von dieser Krankheit wieder frei.
Die Paraplegie blieb unverändert bis zum September 1894. Von da ab
unter elektrischer Behandlung Besserung, sodass Pat. im October notn-
dürftig wieder gehen konnte.
Bei der Aufnahme im December 1894 kräftig, ziemlich gut genährt,
ohne Störung in den vegetativen Organen. Indolente Drüsen in inguine
et ad nucham. Narbe am Penis. Hirnnerven intact bis auf r. herab-
gesetzten Gaumen- und fehlenden Rachenreflex. Cranium rachiticum,
Cf. 53 cm, Klagen über anfallsweisen Kopfschmerz. OE. ohne Befund.
Wirbelsäule normal, bis auf leichte Scoliose nach r. im Brustsegment. Vom
2. Lendenwirbel dornfortsatz abwärts bis zum Steissbein, enorme Druck-
empfindlichkeit. Im ganzen r. Hypogastrium bis zur Nabelhorizontalen
aufwärts ist tiefer Druck sehr empfindlich.
Paraplegia hysterica. 83
Die UE. werden im Bett in normaler Stellung gehalten. Alle
activen Bewegungen derselben sind gut ausführbar, die grobe Muskel-
kraft erweist sich bei Widerstandsbewegungen nahezu normal. Die
tiefen Reflexe sind wesentlich gesteigert. Beklopfen der Patellarsehnen
ruft, ausser der Quadricepscontraction, häufig complicirte Bewegungen des
ganzen Beines hervor. Der Gang des Pat. bietet ein sehr wechselndes
Bild. Während er bei der Ankunft mit zwei Stöcken schlürfend ivnd
mühsam sich fortbewegte und bei Wegnahme der Stützen umfiel, geht
er am folgenden Tage frei, aber nach Art eines Hemiplegischen, das
1. Bein am Boden schleifend und im Bogen nach vorne führend, an
anderen Tagen wieder mit der 1. UE. schleudernd atactisch. Diese
Ataxie zeigt sich 1. auch in liegender Position beim Kniefersenversuch,
um bei entsprechender Suggestion und Einübung temporär völlig zu
schwinden. Der Gesammteindruck dieser zwischen Dysbasie, spastischer
Parese und Ataxie schwankenden Gehstörung ist der einer rein psychisch
bedingten. Pat. hat häufigen Harndrang, Detrusor- und Sphincterschwäche
(relative Incontinentia urinae) und behauptet gar keine Libido sexualis
seit seiner Erkrankung zu empfinden.
Ebenso paradox, wie die motorischen Störungen, sind die der
Sensibilität. Bis zur Umbilicallinie herab ist sie normal. Von da ab
bis zu den Zehen abwärts, gleichwie an den OE., ist die Tastempfindung
und die tiefe Sensibilität normal, die Schmerzempfindung aber ge-
stört. Von der Nabellinie bis zum Poupartischen Band besteht
höchst wandelbare Hypalgesie. Analgesie besteht vom Pouparti-
schen Band beiderseits, hinten vom Darmbein abwärts bis zu den
Zehen, wobei aber hinten das Kreuzbein und vorn die Genitalgegend
segmentförmig algetisch bleiben. Auf dem Dorsum penis findet sicli
eine thalergrosse, runde hyperalgetische Zone. Im analgetischen Gebiet
durchstochene Hautfalten bluten nicht. Der Plantarreflex ist sehr schwach.
Unter Suggestivbehandluug und Elektrotherapie schwinden alle sensiblen
Störungen. Die motorischen reduciren sich bis zum Tag der Entlassung
auf Amyosthenie der 1. UE.
Die Diagnose hatte zu berücksichtigen, dass die Paraplegie plötzlich
im Schlafe, ohne psychisches oder mechanisches Trauma, bei einer prä-
morbid nicht nervenkranken, ohne hysterische Stigmata erscheinenden,
wohl aber luetisch gewesenen Persönlichkeit entstanden war, sodass die
Möglichkeit einer Hämatomyelie oder auch die einer luetischen, spinalen
Erkrankung nicht a limine abzuweisen war. Auch der Umstand, dass
im lncubationsstadium einer fieberhaften, wohl infectiösen Krankheit die
Paraplegie erfolgt war, musste bezüglich der Möglichkeit einer organischen
Begründung dieser in Betracht gezogen werden. Der Stat. praesens,
6*
84 II. Vortäuechung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
speciell die eigenthümliche , nur bei Hysterie vorkommende Art und
Ausbreitung der Sensibilitätsstörung, nicht minder die rein psychisch
vermittelten Störungen der Motilität sprachen zu Gunsten einer functionellen
Bedeutung der Krankheitserscheinungen in diesem interessanten Fall
welcher Annahme auch der Verlauf und der Ausgang desselben ent-
sprachen.
Beob. 2.
Frau Z., Gattin eines Arztes, 57 J. alt, seit 24 J. verheirathet,
Mutter von 4 Kindern, aus neuropathischer Familie, von jeher aufgeregt,
reizbar, emotiv, nervös, neurasthenisch, an Phobien leidend, mit Migräne
bis zum im 50. Jahr absolvirten Klimacterium behaftet, nie schwer krank,
in den letzten Jahren vielen Aufregungen unterworfen gewesen, erkrankte
ohne palpablen Aulass am 12. 5. 93 unter schiessenden, reissenden
Schmerzen vom Kreuz bis zu den Zehen, zunächst in 1. UE., bald auch
in r. UE. Die Schmerzen wurden vorwiegend im Gebiet der Nn. ischia-
dici, peronei und tibiales empfunden. Sie bestanden continuirlich, waren
sehr heftig, raubten den Schlaf. Wenn sie etwas nachliessen, klagte
Pat. über Parästhesien in den UE. Schon nach wenigen Tagen gesellte
sich eine höchst lästige, cutane Hyperästhesie hinzu, die bis zum Becken-
gürtel sich herauf erstreckte. Seit Ende Mai hatte sich zunehmende
Paraparese entwickelt, seit Anfang Juni Harnverhaltung und hartnäckige
Obstipation. Pat. klagte Ueblichkeit, wenn man sie im Bett aufrichtete.
Die Temperatur schwankte zwischen 37 und 37,5. Am 11. 6. zum
Consilium gerufen, fand ich Pat., eine grosse, stattliche Frau, sehr auf-
geregt. Sie erklärte sich schwer rückenmarkskrank, sie schaue faul aus,
ihre Füsse seien ganz blau, sie könne so nicht weiter leben, müsse sich
umbringen.
Die Inspection der UE. bot nichts Abnormes. Mit Ausnahme der
Zehengelenke und des Fussgelenkes der 1. UE. waren alle Articulationen
frei beweglich und nirgends druckschmerzhaft. Sehr schmerzhaft auf
Druck waren beide Nn. crurales, ferner sämmtliche Muskelgruppen, aus-
genommen die Muskulatur der r. "Wade.
Der Muskeltonus war nicht gesunken, die grobe Muskelkraft war
allenthalben erhalten, jedoch vermied Pat. aus Schmerz Bewegungen
vorzunehmen. Die wiederholt und mit allen Cautelen geprüften Patellar-
reflexe waren nicht hervorzurufen. Dieses an Meningitis spinalis und
theilweise an Polyneuritis erinnernde Krankheitsbild erschien aber eigen-
tümlich durch die sehr wandelbaren Befunde der Sensibilität. Pat.
klagte, neben Schmerzen, über massenhafte Paralgien und subjective
Gefühle, z. B. in der Beckengegend, wie wenn Nägel eingeschlagen
seien. Ihre Klagen waren ganz ungeheuerlich. Trotz heftiger cutaner
Paraplegia hysterica. 85
Hyperästhesie war derbes Anfassen der UE. vielfach schmerzlos. Gelang
es, die Aufmerksamkeit abzulenken, so waren Stellen, die kurz vorher
selbst bei leiser Berührung sehr schmerzhaft reagirten, temporär schmerzlos.
Die Berührung mit Faden wurde im Bereich der UE. überall
percipirt, für Nadelstiche bestand Hyperalgesie. Kältereiz wurde allent-
halben empfunden, warm als kalt percipirt. Die tiefe Sensibilität war
ungeschädigt. Der Plantarreflex vollzog sich prompt.
Die Wirbelsäule war nirgends empfindlich und frei beweglich. Die
Symphysis sacroiliaca war beiderseits höchst druckschmerzhaft. Vaso-
motorische und trophische Störungen bestanden nicht. Die elektrische
Reaction war allenthalben normal. Von Seiten der OE. und der Hirn-
nerven war keine Functionsstörung zu ermitteln. Die Diagnose wurde
auf eine functionelle Erkrankung gestellt. Es gelang, Pat. einigermaassen
über ihre Zukunft zu beruhigen und sie zum Eintritt in ein Sanatorium
zu bestimmen.
Anfang Juli trat Pat. in meine Behandlung ein. Unter Anwendung von
Codeinsuppositorien hatten die Schmerzen etwas nachgelassen und waren
die Nächte besser geworden. Sonst differirte der Befund gegen den erst-
maligen nur insofern, als Pat. entschieden paraparetisch war, auch im
Bett ihre Beine nur mühsam und unvollkommen bewegte. Sie stand
noch immer unter dem Gedanken, gelähmt zu sein, aber es war schwer
zu sagen, ob es sich um eine psychische Lähmung durch Autosuggestion,
anknüpfend an die initialen Schmerzen, oder um eine Art Akinesia
algera handle. Die Harnverhaltung Hess sich bestimmt auf Sphincter-
krampf zurückführen, da der Katheter schwer eindrang und beim Aus-
ziehen festgehalten war.
Pat. fasste Vertrauen zur Behandlung, der Hausarzt war sympathisch
und aufopfernd, der Aufenthaltsort angenehm. Die Schmerzen wurden
milder, die Hyperästhesien schwanden, bis auf die hartnäckig druck-
empfindlichen Nn. crurales. Die Behandlung bestand in Wachsuggestion,
Massage (Effleurage), dipolaren faradoelektrischen Bädern, die sehr wohl-
thätig empfunden wurden. Vorübergehend lästiger Cystospasmus. Ende
Juli kehrte die volle Muskelkraft und Beweglichkeit in allen Gelenken
wieder, sodass Pat. wieder zu stehen und zu gehen vermochte. Vom 3. 8.
ab konnte der Harn wieder spontan entleert werden. Nun zeigten sich
spurweise wieder die Patellarreflexe, zugleich mit abnehmender Empfind-
lichkeit der Nn. crurales. Als Pat. genesen Ende August entlassen
wurde, waren die Patellarreflexe immer noch schwer hervorzurufen.
In der Epikrise wurde angenommen, dass eine ursprüngliche leichte
Polyneuritis, wesentlich der sensiblen Nerven, der Agent provocateur
für eine hysterische Neurose geworden war, die zu einer psychischen (auto-
86 II. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
suggestiven) Parese der UE. geführt hatte. Der temporäre Verlust der
Patellarreflexe dürfte wohl mit einer Neuritis cruralis in Zusammen-
hang gebracht werden. Weder anamnestisch noch im Verlauf der
Beobachtung waren Stigmata hysteriae zu ermitteln gewesen. Die Ge-
nesung hat sich erhalten.
Beob. 3.
Frl. N., 24 J., Vater mit Asthma behaftet, Schwester hysterisch.
Pat. als Kind gesund, bis auf Variola, begabt, normale Entwicklung,
Menses ohne Beschwerden mit 15 J. Im Anschluss Chlorose. Mit 18 J.
heftige Contusion der Gesässgegend. Seither Schmerzen daselbst bei
längerem Gehen. Zunehmend rasche Ermüdung, in den letzten Jahren
oft Einknicken beim Gehen, bald mit r., bald 1. Fuss. Zunehmende
Functionsschwäche der UE., wahrscheinlich unter der Autosuggestion
beginnenden Rückenmarksleidens. Anfang Februar 1897 wechselnde
Incontinentia vesicae und Dysuria, dazu Unempfindlichkeit der UE. bis
zur Beckenhöhe (Pat. will vom Stuhl herabgerutscht sein, ohne es zu
bemerken).
Stat. 22. 3. 97. Pat. kräftig, intelligent, gut genährt, ohne Zeichen
ron Chlorose, ohne Stigmata hysteriae. Hirnnerven, OE., Stamm ohne Be-
fund. An Stelle des früheren Trauma (Os sacrum) handgrosse hyper-
ästhetische Stelle. Haut und tiefe Gebilde auf Druck daselbst sehr
empfindlich. UE. normale Haltung, grosse Amyosthenie, Hebung nur
bis 30° möglich, auch sonst Bewegungen nicht bis zum physiologischen
Ausmaass gelingend. Sehr geringe, active Innervation, bei passiver Be-
wegung auffälliger (unbewusster) Widerstand, der Rigor vortäuscht.
Gang nur mit Unterstützung, sehr wandelbar, zeitweise, besonders 1. Stepper-
gang. Bei geschlossenen Augen starkes Schwanken, das aber auf Zu-
spruch schwindet. Cutane Sensibilität intact, tiefe nur in den Zehen-
gelenken fehlend. Tiefe Reflexe sehr gesteigert, beiderseits Fussklonus.
Bauchreflex nicht hervorzurufen, ebensowenig Plantarreflex. Unter
Faradisation rasche, bedeutende Besserung. Bei der Entlassung am
29. 3. nur noch geringe Amyosthenie, ausdauerndes, freies Gehen. Tiefe
Sensibilität in den Zehen wiedergekehrt.
Beob. 4.
L.. 47 J., Verkäuferin, angeblich unbelastet, von jeher nervös, früher
nie erheblich krank, war Zeugin im Winter 1888/89, als Jemand unter
die Räder eines Wagens gerieth und diese ihm über die Füsse gingen. So-
fort fuhr ihr der Schreck in die Beine. Sie befand sich gerade auf einem
Wagen, und als sie nach einer halben Stunde am Ziel war, bemerkte sie,
dass ihr r. Bein steif, gefühllos war und ihrem Willen nicht gehorchte.
Man musste sie vom Wagen herunterheben. Nach einer Stunde schwand
Paraplegia hysterica. 87
die Steifigkeit, Pat. kormte auch etwas ihr r. Bein wieder bewegen, aber
es blieb schwach, versteifte sich bei geringster Emotion und war nicht
mehr recht gebrauchsfähig. Seit jenem Shok war die im Klimacterium
befindliche Pat. sehr emotiv geworden, war von häufigem Kopfschmerz,
Schlaflosigkeit und Verstimmung gequält.
Daneben bot sie die gewöhnlichen Beschwerden des Klimacterium
(Fluxionen, Schwindelgefiihl u. s. w.), aber nie ausgesprochene hyste-
rische Erscheinungen.
Anfang 1890, nach einer Emotion, stellte sich eine Lähmung beider
UE. ein. Pat. will 3 Monate ohne Einfluss auf ihre Beine gewesen
sein und die geringste psychische Erregung, z. ß. durch ein Klopfen an
der Thüre, habe genügt, temporär die Beine zu versteifen. Blasen-
beschwerden hatte sie nicht. Nach 3 Monaten sei plötzlich die Be-
wegung in den 1. UE. wiedergekehrt, jedoch sei das 1. Bein immer
schwach geblieben.
Am 3. 6. 92 begab sich Pat. eines Heilversuches wegen ins Spital.
Pat. kräftig,, ohne Zeichen von Senium, bietet 1. Ovarie, mit auf Druck
eintretenden ascendirenden Sensationen bis zum Halse herauf, wo sie
dann Globus empfindet. Puncta dolorosa unterhalb der 1. Mamma. Pat.
vermag nur mit zwei Begleitern zu stehen und zu gehen. Es besteht
grosse Muskelschwäche, rechts mehr als links. Alle Bewegungen sind
fast bis zum physiologischen Ausmaass möglich, bis auf solche im r.
Fussgelenk und den Zehen am r. Fuss, die ganz unbeweglich sind. Bei
passiver Bewegung zeigt sich leichter Widerstand in den Streckern beider
Kniee. Der Muskeltonus ist sehr herabgesetzt. Patellarreflex r. und 1.
sehr gesteigert. Fussklonus besteht nicht. Die cutane Sensibilität ist
intact, die tiefe, ausgenommen an den Zehen des r. Fusses, ebenfalls.
Plantarreflex nicht auszulösen. Klagen über zeitweise Parästhesien in
beiden UE. Pat. behauptet, das r. Kniegelenk nicht bewegen zu können,
erweist sich aber recht suggestibel und beugt und streckt es auf be-
zügliche Suggestion. Faradisation und Wachsuggestion stellen bei ambu-
latorischer Behandlung Bewegung und Gefühl in Zehen und Fussgelenk
r. wieder her. Die Dysbasie bessert sich bedeutend.
Beob. 5.
T., 28 J., ledig, Näherin, aus schwächlicher, neuropathischer Familie,
mit Spuren von Rachitis an Schädel und Skelet, von jeher kränklich,
neuropathisch, erkrankte, nach relativen Ueberanstrengungen und an-
geblicher Erkältung, um Weihnachten 1S94 an Schmerzen in den Beinen,
die beim Gehen sich so steigerten, dass Pat. auf Gehversuche verzichtete
und sich ins Bett legte. Sie lag nun herum, las und dachte viel nach
über ihr Leiden, hielt sich für rückenmarkskrank, da die Schmerzen und
88 II. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Schwäche auch im Bett fortdauerten, wurde verstimmt, empfand Heim-
weh und Hess sich endlich ins Spital aufnehmen.
Stat. 27. 4. 95. Pat. gross, schwächlich, mager, anämisch, vegetativ
ohne Befund. Massenhaft Druckschmerzpunkte an Wirbelsäule, Thorax,
Sternum. Pat. ganz von ihrer Krankheit präoccupirt, ohne rechtes Ver-
trauen in die Kunst der Aerzte, klagsam, emotiv, leicht verletzlich, bietet
von Seiten der Hirnnerven und OE. keine Störungen. An den UE. ist
sie paraplegisch bis auf erhaltene Zehenbewegung. Der Muskeltonus ist
sehr herabgesetzt. Passive Bewegungen sind vollkommen frei. In den
grossen Gelenken der UE. werden sie als schmerzhaft angegeben. Die
Patellarreflexe sind gesteigert, der Fussreflex ist es nicht und gerade
hervorzurufen. Die Beine sind kühl, feucht durch profuse Schweiss-
secretion, nicht cyanotisch. Nirgends besteht Atrophie. Die cutane
Sensibilität ist unversehrt. Ausfall der tiefen Sensibilität findet sich nur
in den Zehen der 1. UE. Der PlantarrefLex ist nur sehr schwach auslösbar.
Pat. verlässt das ihr unsympathische Spital schon nach wenig Tagen,
weil sie nur in der Waldluft ihrer Heimath genesen könne.
Beob. 6.
H., 32 J., Büglerin, stammt angeblich von gesunden Eltern, hat
eine neuropathische Schwester, war selbst, bis auf leichte Kinderkrank-
heiten, bis zum 24. Jahr immer gesund. Damals erkrankte sie an
Puerperalfieber. Mit 27 J. angeblich Peritonitis und Neuritis nach
Abortus. In den letzten Jahren viel Anstrengungen, Gernüthsbewegungen
(Tod eines Kindes u. s. w). Mit 31 J. begann ihre gegenwärtige Krank-
heit, im Anschluss an eine Gemüthsbewegung. Sie bekam Schwindel-
anfälle mit Ueblichkeit, Palpitationen, Globus, Schmerz am Sternum,
irradiirend in 1. Brusthälfte und Epigastrium, Formicationsgefühle in 1.
OE. und UE., wurde sehr emotiv, schlief schlecht, hatte wiederholt An-
fälle von tonischer Starre in beiden OE., die aber vom Arzt jeweils
leicht gelöst wurde, und Hess sich, da Nacken-, Bückenschmerz und
allgemeine zunehmende Schwäche sie arbeitsunfähig machten, Anfang
November 1891 im Spital aufnehmen.
Pat. schlecht genährt, blutarm, vegetative Functionen ungestört.
Hitzegefühl und Hyperidrosis am ganzen Körper. Leidende Miene.
Bewusstsein schwerer Krankheit. L. Hemianaesthesia inclus. Sinnes-
organe, concentr. Sehfeldeinschränkung für Licht und Farben, 1. be-
deutender als r. Innerhalb der Hemianästhesie eine hyperästhetische
Zone in der Ausdehnung des 1. Deltoides, eine zweite submammar.
Diese ist spasmogen. Mit Einsetzen von Schmerzen daselbst entstehen
Lethargusanfälle. L. Ovarie. Pat. ist hypnotisabel, aber nicht suggesübel,
weshalb hypnotische Behandlung unterlassen wird. Elektrische Pinselung
Paraplegia hysterica. 89
hat auf die Hemianästhesie keinen bessernden Einfluss. Motorisch bietet
Pat. allgemeine Amyosthenie und gesteigerte tiefe Reflexe. Anlässlieh
Erkrankung eines Kindes drei Lethargusanfälle. Seither Meteorismus,
Globus, Gefühl, dass die Beine immer schwächer werden, Spinalirritation.
Unter der Autosuggestion beginnender Rücken markserkrankung, rasch
zunehmende schlaffe Paraparese. Pat. bleibt zu Bett, behauptet, ihre
Beine nicht bewegen zu können und bedient sich der Hände, um sie
umzulegen. Suggestiver Einfluss vermag gegen diese Paraplegie durch
Vorstellung nur wenig. Bedeutendes Absinken des Muskeltonus, enorme
Steigerung der tiefen Reflexe, 1. Fussklonus.
Die Störungen der Sensibilität sind gleichzeitig im Januar 1892
folgende:
Von den Zehen bis handbreit über den Knieen, ringförmig ab-
schliessend, findet sich eine Zone fehlender cutaner und tiefer Sensibilität,
wobei aber im 2. Zehen jederseits die letztere erhalten ist.
Von der erwähnten Zone bis zur oberen Beckenapertur findet sich
eine zweite, in welcher bloss die Tastempfindung fehlt. Von der
Beckenapertur aufwärts bis zur Höhe der Brustwarze fehlt r. bloss die
tactile Empfindung, von da bis zum Scheitel die tactile und die Schmerz-
empfindung.
Auf der 1. Körperhälfte, ausgenommen Hals und Gesicht, wo alle
Empfindungsqualitäten fehlen, besteht cutane Hyperästhesie, bei Verlust
der tiefen Sensibilität.
Diese Sensibilitätsstörungen schwanken in der folgeuden mehr-
wöchentlichen Beobachtungszeit sehr. Unter Elektrisation und Wach-
suggestionen stellt sich die Gehfähigkeit allmälig wieder her. Pat.
erklärt sich für genügend hergestellt, um ihren häuslichen Pflichten
wieder nachkommen zu können und verlässt das Spital.
2. Fälle von spastischer Lähmung.
Beob. 7. Frau Z., 27 J., Grosskaufmannsgattin, wurde mir am
27. 9. 91 anlässlich einer Consultation vorgestellt. Aus neuropathischer
Familie, von jeher nervösen, lebhaften Temperamentes, seit 8 J. verhei-
rathet, Mutter eines 7jährigen, gesunden Kindes, früher nie erheblich
krank gewesen, hat sich die Dame im letzten Jahr sehr darüber ge-
kränkt, dass sie, der Berufsverhältnisse ihres Mannes halber, die "Welt-
stadt, in welcher sie bisher gelebt hatte, meiden musste. Sie wurde
verstimmt, bekam Weinkrämpfe, Globus, ass, schlief schlecht, magerte
ab, ermüdete rasch, ging nach Franzensbad, langweilte sich dort, über-
müdete sich mit Spazierengehen, empfand Schwere-, Schmerz- und
90 II- Vortäuschung organischer Erkrankungen dee Nervensystems durch Hysterie.
Schwächegefühl zuerst in der r., dann auch der 1. UE., knickte oft
ein mit dem Fuss, stolperte. Schmerzen und Schwäche nahmen immer
mehr zu, Pat. machte sich mit dem Gedanken vertraut, von einer
Rückenmarkslähmung heimgesucht zu sein.
Im Laufe des Juli kamen rheumatoide Schmerzen in den OE., fast
gleichzeitig Erscheinungen von Spinalirritation.
Anfang August wurde die r. OE. schwach und fing an abzumagern.
Die UE. wurden ganz gelähmt und hoten episodisch Streckcontractur.
Die hervorragendsten Aerzte wurden zu Rathe gezogen. Zwei
stellten die Diagnose auf hysterische Lähmung, ein anderer Hess die
Frage offen, ob es sich um Myelitis oder Polyneuritis handle, ein vierter
sprach gar von der Möglichkeit einer Pacchymeningitis cervicalis.
Pat. bekam Jodkali und wurde an der Wirbelsäule galvanisirt. Später
versuchte man Magnetotherapie, Hydrotherapie, als dies nichts half,
Hypnose, jedoch war Pat. nicht in Schlaf zu bringen.
Slat. praes. 27. 9. 91: Zarte, etwas magere, sehr intelligente Frau.
Keine Stigmata hysteriae. Cerebralnerven ohne Befund, Augenspiegel
ergiebt normalen Augenhintergrund. Die r. OE. ist um 1,5—2 cm
gegen die linke im Volumen reducirt. Besonders auffällig ist die Muskel-
atrophie in den Muskeln des Daumenballens und in den Interossei. Die
r. Vola manus etwas abgeplattet. Die Kraft der Interossei ist sehr, in
allen übrigen Muskelgebieten etwas herabgesetzt, jedoch sind alle Einzel-
bewegungen erhalten. Der Druck der Hand r. kraftlos, 1. normal. In
der Muskulatur der r. OE. finden sich da und dort fibrilläre Zuckungen.
Die elektrische Untersuchung ergiebt normale Reactionen. Die tiefen
Reflexe sind vorhanden.
Cutane trophische oder vasomotorische Störungen bestehen nicht
Die Sensibilität im Bereich der r. OE. normal. Nirgends Druckschmerz-
haftigkeit der NN. oder MM. Die 1. OE. ist in allen ihren Functionen
normal, Pat. kann sich ohne Unterstützung im Bett nicht aufrichten.
Die Wirbelsäule ist anatomisch unverändert. Interscapular und dorsal
besteht Druckempfindlichkeit einiger Wirbeldornfortsätze.
An den UE. findet sich das Bild völliger Paraplegie. Die Lähmung
ist eine schlaffe, der Muskeltonus ist gesunken. Das Volumen der
Muskeln ist allgemein etwas reducirt, aber beiderseits in gleichem Maasse,
und offenbar handelt es sich um blosse Inactivitätsatrophie. Die elek-
trische Erregbarkeit ist normal, die elektromuskuläre Sensibilität herab-
gesetzt, aber erhalten. Beiderseits Patellarreflex sehr gesteigert und
Fussklonus. Plantarreflex fehlt. Die cutane Sensibilität ist für alle
Qualitäten bis zur Beckenapertur herauf bedeutend reducirt, im Bereich
der Genitalien und des Perineum jedoch erhalten. Die tiefe Sensibilität
Paraplegia hysterica. 91
fehlt in den UE. Pat. wird sich der Lage ihrer Beine und passiver
Bewegungen derselben nicht bewusst. Plantarreflex erhalten. Die
Functionen von Blase und Rectum ungestört.
Meine Diagnose lautete: (Hysterische) functionelle Paraplegie der
Unterextremitäten, möglicherweise Residuen von Neuritis in r. OE.
13. 10. 91. In r. OE. keine Aenderung. Häufig paralgisches
Brennen am condyl. ext. des EHbogengelenks.
In UE. Klagen über Versteifung und minutenlange Contractionen
in den Streckern des Kniegelenks und den Volarflexoren des Fuss-
gelenks. R. Andeutung von Varoequinus. Cutane Anästhesie r. bis
zur Höhe des Umbilicus, 1. bis zur Beckenapertur, aber inselförmiges
Erhaltensein der Sensibilität im Bereich der Genitalien und des Dammes.
Eine Zone cutaner Hypästhesie reicht r. bis zur Mammarlinie herauf, 1. bis
3 Querfinger unterhalb. Diese Grenzen sind nach oben sehr schwankende.
Massage, faradische Pinselung, Faradisation der Muskeln im Lähmungs-
gebiet.
Im Verlaufe des Winters 1891/92 bot Pat. ein recht Wechsel volles
Krankheitsbild.
Die Beweglichkeit des Rumpfes stellte sich im December 1891 wieder
ein, sodass. Pat. frei sich aufsetzen konnte, die Paraplegie der UE. be-
stand trotz aller Heilbestrebungen fort. Es entwickelten sich fast per-
manente Streckcontracturen allenthalben, so dass die muskuläre Faradisa-
tion eingestellt werden musste. Vorübergehend bestand deutliche Diathese
de contracture. Pat. war von massenhaften paralgischen Sensationen
(qualvolles Brennen u. s. w) in den UE. (besonders r.) und am Ab-
domen, von heftigen neuralgischen Beschwerden an Nacken, in r. Schulter,
ausstrahlend bis in die Fingerspitzen, gequält. Die Schmerzen in der
r. OE. wurden als identisch den ursprünglichen, mit Muskelatrophie ver-
bundenen, bezeichnet.
Die Neuralgien und Paralgien waren jeweils von Contracturen be-
gleitet und schienen diese hervorzurufen.
Die Atrophie in der r. OE. schwand bis zum December 1891 voll-
ständig, sodass Pat. die feinsten Leistungen (Schreiben, Handarbeiten)
wieder verrichten konnte.
Die Sensibilitätsverhältnisse waren sehr wechselnde. Auf der r.
Seite entwickelte sich die Anästhesie bis zum Januar 1892 bis zur Höhe
der 2. Rippe, links änderte sich nichts bis zum Februar. Von da ab
bestand durch 2 Wochen 1. an Brust und Abdomen Hyperalgesie. Sie
leitete eine nahezu vollständige Wiederherstellung der cutanen Sensi-
bilität 1. ein. Eines Tages erschien Transfert der Sensibilität von 1.
nach r. Dazu entwickelte sich 1. Hyperalgesie. Diese Aenderung der
92 II. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Sensibilität erhielt sich. Trophische und vasomotorische Störungen be-
standen nicht im Lähmungsgebiet. Die tiefen Reflexe blieben andauernd
hochgradig gesteigert. Die Blasenfunction war sehr gestört. Sphincter-
krampf und Parese wechselten ganz regellos, die Krampferscheinungen
überwogen. Vorübergehend kam es zu Anaesthesia vaginae, vesicae,
recti. Gelegentlich wurden Globus und Weinkrampf beobachtet.
Der Augenspiegel bot negativen Befund. Das Gesichtsfeld war für
Weiss nie eingeschränkt, vorübergehend für Farben (roth, gelb, blau).
Die Behandlung bestand in elektrischen Bädern, faradischer Pinselung,
später Einpackungen mit folgendem Halbbad.
Nach einer Unterbrechung von einigen Monaten begab sich Pat.
wieder in meine Behandlung. Bei der Wiederaufnahme derselben An-
fang September 1892 bot sie folgenden Befund:
Hirnnerven ohne Befund. Stimmung gedrückt, Hoffnung auf Ge-
nesung sehr herabgesetzt. Oefters Weinkrämpfe. In r. OE. ab und zu
Schmerzen, anlässlich Manipulationen gelegentlich krampfhafte Streckung
einzelner Finger. Noch öfter fibrilläre Zuckungen im Gebiet der
Ulnarismuskeln.
L. OE. in allen ihren Functionen intact. Rumpfbewegung ungehindert.
Häufig r. Ovarie mit Irradiation der Schmerzen in die r. UE. Dysurie,
wechselnd mit Incontinentia.
An den TJE. nach wie vor Paraplegie. Contracturen selten, nur
mehr auf Adductoren und Muskeln der Sprunggelenke beschränkt.
Deutliche locale Diatbese de contracture. Beim Stellen der Pat. auf die
Füsse tritt allgemeine Versteifung der UE. ein. Die Contracturen je-
weils mit Spinalirritation, Paralgien in der Kreuzgegend und brennenden
Schmerzen in r. UE. erscheinend, ruenstrual besonders intensiv.
Die Sensibilität der r. UE. ist quoad Tastsensibilität und Localisation
sowie tiefer Sensibilität wieder hergestellt, es besteht aber Analgesie
und Thermoanästhesie. An der 1. UE. wird Wiederkehr der tiefen und
der tactilen Sensibilität constatirt; dabei thermische Anästhesie und
Hyperalgesie. Der Plantarreflex ist beiderseits leicht zu erzielen. Die
tiefen Reflexe sind gesteigert, r. bis zu Fussclonus, der 1. nicht mehr
hervorzurufen ist. Vasomotorische und trophische Störungen bestehen
nicht. Unter 1. Pinseihehandlung und Faradisation der Gelenke erfolgt
weitere Aufbesserung der gestörten Sensibilität, aber die Paraplegie
ändert sich nicht. Man gewinnt den Eindruck, dass unbewusst bleibende
Hemmungseinflüsse die Bethätigung des Willens verhindern. Die Stö-
rungen der Blase schwinden im Laufe des Octobers.
Ende November trat Pat. aus meiner Behandlung aus, um den
Winter im Süden zuzubringen.
Paraplegia hysterica. 93
Die letzten Nachrichten über die bedauernswerthe Kranke reichen
bis zum April 1893.
Keine wesentliche Aenderung im Lähmungsgebiet. Episodisch war
die 1. UE. willkürlich etwas beweglich. Seit März 1893, unter brennenden
Schmerzen in der 1. OE., Schwäche und fortschreitende Atrophie, ganz
besonders in den Muskeln des Daumenballens und der Lumbricales,
ganz ähnlich, wie seiner Zeit die trophische Störung in der r. OE. be-
gonnen hatte (hysterische Muskelatrophie?).
Beob. 8.
K., 25 J., ledig, Bedienstete, aufgenommen 28. 10. 90, stammt an-
geblich aus gesunder Familie, wurde mit 12 J. menstruirt, litt in der
Folge an Menstrualkoliken , war von jeher nervös, emotiv, hatte nie
schwere Krankheiten durchgemacht. Pat. hatte vor 5 J. heftige Gemüths-
bewegungen erfahren. Als sie bald darauf Nachts auf den Corridor
ihrer Wohnung ging, empfand sie plötzlich einen heftigen Schmerz in
Rücken und Kreuz, fiel, einen Schrei ausstossend, bewusstlos zu Boden.
Sie bekam nun angeblich Fieber, delirirte und die Aerzte diagnosticirten
„Nervenfieber". Es dürfte sich jedoch um ein Delir. hystericum ge-
handelt haben, denn Pat. hatte dabei häufige Anfälle von etwa 3 Stunden
Dauer, mit Verlust des Bewusstseins , allgemeiner Starre und Trismus
(Katochus?). Auch nach Ablauf dieser etwa 5 Wochen währenden
deliranten Periode kehrten solche Erstarrungsanfälle, besonders nach
Emotionen, häufig wieder und verloren sich erst 1889.
Als Pat. in der 6. Woche ihrer Krankheit aufstehen wollte, empfand
sie Schwere, Schwäche, Vertaubung in den UE. Aerztlicherseits wurde
der Verdacht einer sich entwickelnden Rückenmarkskrankheit geäussert.
Es entwickelte sich nun eine Lähmung der UE. mit Versteifung der-
selben und Contracturen , gegen welche Tenotomie in Aussicht gestellt
wurde. Pat. war präoccupirt vom Gedanken eines schweren Rückenmarks-
leidens.
Nach 2 Monaten war sie unfähig, ihre Beine zu bewegen, auch sich
aus der horizontalen Lage zu erheben. Zugleich entwickelte sich Incon-
tinentia urinae.
Nach 3/4 Jahren kam wieder etwas Gefühl in die Füsse, die Steif-
heit liess nach. Pat. konnte wieder aufsitzen, etwas gehen, aber der
Gang blieb schleppend, schwerfällig.
Ein ärztlicher Befund vom 28. 10. 90 lautet: Paraparese, Muskel-
tonus sehr gesunken, besonders links. Nirgends Rigidität, Patellar- und
Achillesreflex bis nahe an Klonus gesteigert. Keine trophische, keine
vasomotorische Erscheinungen. Elektrische Erregbarkeit normal, aber
fehlende elektrocutane Sensibilität. Verlust der cutanen Sensibilität in
94 II- Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
allen ihren Qualitäten an UE. aufwärts bis dicht über dem Kniegelenk
Der Sensibilitätsausfall schneidet hier ringförmig ab und macht einer
Zone nur leicht herabgesetzter Empfindung Platz, die in der Höhe des
Beckens normaler Sensibilität weicht.
Die riefe Sensibilität fehlt in Zehen-, Fuss-, Kniegelenken, ist sehr
herabgesetzt im Hüftgelenk. Die ganze Wirbelsäule wie auch das Kreuz-
bein sind höchst druckempfindlich.
Am Stamm, OE. und im Gebiet der Hirnnerven absolut keine
Functionsstörungen. Vergebens wird nach Stigmata hysteriae gefahndet.
Pat. wird in ambulatorische Behandlung genommen, am Rücken
galvanisirt, an den Extremitäten faradisirt.
Diese Behandlung hat wenig Erfolg und Pat. bleibt geraume Zeit weg.
Am 17. 11. 91 kommt sie wieder. Sie geht mit r. Krücke und 1.
Eegenschirm. Der Gang ist langsam, Pat. rollt beim Gehen förmlich
die Füsse bis zur Spitze auf, ohne jedoch am Boden anzustreifen. Sie
geht vorsichtig, unbeholfen, leicht schwankend, die r. UE. versagt mehr
als die 1.
Alle Einzelbewegungen sind möglich, aber die Innervation der ver-
schiedenen Muskelgruppen erfolgt auffällig ungeschickt, unter Innerva-
tion nicht zugehöriger Muskeln, gleichwie wenn Pat. defect in ihren
Bewegungsanschauungen wäre. Die Innervationsenergie ist eine geringe,
Pat. ermüdet rasch. Das Gehen ist psychisch sehr beeinflusst, durch
Suggestion und indem Pat. sich einhängt, sehr beeinflnssbar, im All-
gemeinen sehr wechselnd. Pat. ist sich dieses Umstandes selbst bewusst.
Sie gesteht, dass sie den ihr ärztlich suggerirten Gedanken einer
Rückenmarkslähmung nicht los werde, der zudem in der Schwäche,
Insufficienz, Schwere und Gefühllosigkeit der Beine beständig Nah-
rung finde.
Der Befund ist wesentlich der gleiche wie Ende 1890 — sehr ge-
sunkener Muskeltonus, keine Bigidität, keine Ataxie, sehr gesteigerte
tiefe Reflexe, fehlende tiefe Sensibilität, Romberg. Die ringförmige cutane
Anästhesie ist tiefer gerückt, bis unter das Knie. Der Plantarreflex fehlt.
Wachsuggestionen sind gegen die Autosuggestion erfolglos. Man
entschliesst sich zu Hypnose. Sie gelingt nach der Wetterstrand'schen
Methode (Chloroform). Pat. kommt in tiefes Engourdissement. Man
versucht die Idee, rückenmarkskrank zu sein, abzusuggeriren und ver-
spricht völlige Genesung. Faradische Pinselbehandlung der anästheti-
schen Gebiete, faradische Durchströmung der anästhetischen Gelenke
unterstützt die psychische Behandlung.
Als Pat. am 1. 6. 12 aus der Behandlung austrat, waren alle Be-
Paraplegia hysterica. 95
schwerden, bis auf geringfügige Amyosthenie und etwas gesteigerte tiefe
Eeflexe der UE., geschwunden.
Beob. 9.
P., 29 J., Beamtensgattin, angeblich unbelastet, als Kind an Rachitis
leidend gewesen, mit 20 J. menstruirt, in der Folge immer dysmenorrhoisch,
hatte im März 1890 ihre erste Geburt (Frühgeburt) ohne Beschwerden
überstanden. Auch das "Wochenbett war normal verlaufen. Pat. hatte
schon vor der Entbindung heftige Gemüthsbewegungen gehabt, war
immer eine zarte, nervöse Persönlichkeit gewesen. Als sie am 11. Tage
post partum, sich ganz wohl fühlend, aufstand, bemerkte sie Ameisen-
laufen in den Füssen, das etwa 14 Tage anhielt. Im Juli 1890, nach
neuerlichen Gemüthsbewegungen, Herzklopfen, Angstgefühle, Athemnoth.
Anfang 1891 begann Brennen in den Fusssohlen, Vertaubung daselbst,
„als ob kein Fleisch, sondern "Watte an den Beinen wäre", die sich all-
mählich bis zur Höhe des Nabels herauf erstreckte.
Um den 20. 2. 91 entwickelte sich ein lästiges Gürtelgefühl um die
Taille, Paraparese der UE., Gefühl, als ob Pat. auf Bürsten ginge, Steif-
heit, Spannung der UE., Obstipation.
Stat. praes. März 1891: Schwächliche, anämische, nervöse, kleine
Persönlichkeit. Spuren von Rachitis am Schädel. Keine Stigmata
hysteriae. Klagen über nagenden, stechenden Schmerz im Dorsaltheil
der Wirbelsäule, starke Druckempfindlichkeit sämmtlicher Dorsalwirbel,
aber keine anatomischen Veränderungen. Von Seiten der Hirnnerven
kein Befund. Leichter Tremor der OE. Ameisenlaufen in den Fingern
beider Hände, Gefühl von Gespanntsein in der I. OE. In den OE. aber
kein objectiver pathologischer Befund.
Giirtelgefühl in der Höhe des Nabels.
In den UE. grosse Muskelschwäche, Einzelbewegungen erhalten.
Paraparetischer spastischer Gang, nicht schwankend, nicht atactisch,
Romberg negativ. Patellarreflex hochgesteigert, r. Fussclonus, 1. an-
gedeutet. Sensibilität ungestört, Plantarreflex prompt.
Die Diagnose wurde auf Myelitis transversa gestellt, Pat. mit
Galvanisation der Wirbelsäule, Extr. Seealis cornut. 0,5, extr. Bella-
donn 0,05 pro die behandelt. Es zeigte sich eine auffallende Besserung
und Anfang Juni 1891 waren alle Störungen geschwunden.
Mitte März 1893 Recidive, angeblich nach Gemüthsbewegungen.
Pat. will in der Zwischenzeit, bis auf zeitweilige Spinalirritation im
Dorsaltheil der Wirbelsäule, ganz wohl und leistungsfähig gewesen sein.
Um den 15. 3. hatte sich wieder Vertaubung der Füsse gezeigt,
einige Tage darauf Gürtelgefühl in der Nabelhöhe, Anfangs zeitweilig,
96 II- Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
dann continuirlich, zugleich mit Schwere, Schwäche, und rascher Er-
müdung der UE.
Mitte April litt Pat. durch 8 Tage an Amblyopie des 1. Auges.
Der ophthalmoskopische Befund war ein negativer gewesen. Ende April
begann die r. UE. beim Gehact am Boden zu streifen.
Der Stat. praes. vom 1. 5. 93 ergab einen eigentümlichen, mit
einer Myelitis transversa nicht vereinbaren, eher an M. disseminata er-
innernden Befund.
Pat. anämisch, schlecht genährt. Lues nach wie vor negirt und
Spuren dieser Krankheit nicht aufzuweisen. Eieber, überhaupt Symp-
tome, die auf eine Infectionskrankheit bezogen werden konnten, waren
der diesmaligen Erkrankung nicht vorausgegangen. Stigmata hysteriae
sind nicht auffindbar.
Von Seiten der Hirnnerven kein Befund, ausser Intentionszittern
der Bulbi und fibrilläres Zucken der Zunge. Die OE. zeigen leichten
Tremor, der aber auch in der Ruhe besteht, und gesteigerte tiefe Reflexe.
Am Stamm finden sich keine Functionsstörungen.
Der Gang ist spastisch und anstreifend. In der 1. UE. ist die
active Beweglichkeit im Ileopsoas und in den Plantarflexoren des
Fusses herabgesetzt. In der r. UE. ist die grobe Muskelkraft minimal
im Ileopsoas, etwas herabgesetzt im Qudriceps, sehr bedeutend reducirt
im Peroneus- und Tibialisgebiet. Patellar- und Achillesreflex sind beider-
seits sehr gesteigert. Rigor bei passiven Bewegungen besteht nicht. Die
ausgestreckten UE. zeigen Intentionstremor.
An beiden Oberschenkeln und an der Innenseite des 1. Unter-
schenkels scharf abgegrenztes Gebiet thermischer Hypästhesie, an der
Vorderfläche der Oberschenkel bedeutende tactile Hypästhesie. Sonst
allenthalben cutane Sensibilität intact. Auch die tiefe Sensibilität er-
weist sich in allen Gelenken der UE. ungeschädigt.
Bis zum 10. 5. Stat. idem, bis auf leichten Fussklonus und Rigidität
in r. UE.
Am 10. 5., unter Zunahme des Gürtelgefühls in der Höhe des
Epigastriums und Hyperästhesie in der handbreiten Gürtelgefühlszone,
plötzlich Paraplegie und Detrusorlähmung, sodass der Urin nur mittelst
Katheter entleert werden kann. Dabei heftiges, schmerzhaftes Spannungs-
gefühl im Kreuz und Unfähigkeit, sich aufzurichten. Obstipation. In
der Gürtelzone heftiges Brennen. Sensibilität unverändert.
Am 24. 5. plötzliche AViederkehr der Motilität und der Blasen-
function. Schwinden der Obstipation und des Gürtelgefühls. Die grobe
Muskelkraft ist allenthalben vorhanden; passiv besteht kein Rigor, aber beim
Gehen Spasmus und Spannungsgefühl. Ablenkung der Aufmerksamkeit
Paraplegia hysterica. 97
bessert auffällig den Gang. Tiefe Keflexe sehr gesteigert, beiderseits
Fussklonus. Hochgradige Druckempfindlicbkeit des 7. üorsalwirbels und
des ganzen Kreuzbeins.
Fortschreitende Besserung.
Beim Stat. retrospectivus am 6. 7. 93 noch etwas Druckempfindlich-
keit des 6. Dorsalwirbels und der Bahn der 6. Intercostalnerven. Gefühl
von Druck bei Inspiration und bei Streckung der Wirbelsäule in diesen
Nervenbahnen. Palpitation und leichte Tachycardie.
An den UE. nur noch Steigerung der Patellarreflexe und r. An-
deutung von Fussklonus. Sonst alle Störungen geschwunden, u. A. auch
das Intentionszittern der Bulbi. Pat. fühlt sich gesund und tritt aus
der Behandlung aus.
Beob. 10.
L., 52 J., Wittwe, Handarbeiterin, stammt aus einer Familie, in
welcher mehrfach Erkrankungen an Tuberculose und an üarcinom vor-
gekommen sind. Sie selbst war gesund, bis auf Parametritis und In-
fluenza, hat 3 mal geboren und das Klimacterium vor einigen Jahren
gut überstanden.
Am 4. 4. 91 erfuhr sie einen heftigen Schreck, indem sie gewahr
wurde, dass ein Miether sie um 50 fl., ihre ganze Baarschaft, bestohlen
hatte. Bei dieser Entdeckung fiel sie bewusstlos um, kam nach einer
halben Stunde zu sich, konnte aber eine Stunde lang kein Wort sprechen.
Dann erholte sie sich und machte die Anzeige bei der Polizei.
Seit diesem Shok erschrak Pat. sehr leicht und fand dann nicht
gleich die Worte (Aphasie). Ueber den Verlust ihres Geldes vermochte
sie sich nicht zu trösten und wurde immer emotiver und nervöser. Im
März 1892, nach einem Sturz, bekam sie Beschwerden, die auf eine r.
Wanderniere zurückgeführt und durch eine Ceinture ziemlich behoben
wurden. Am 10. 7. 92 wurde sie aus dem Schlaf aufgeschreckt. Sie
war vorübergehend aphasisch, zitterte am ganzen Körper, konnte sich
nicht beruhigen, schlief kaum in der Nacht zum 11., und als sie Morgens
aufstehen wollte, stellten sich solches Zittern und Schmerzen in den
Beinen ein, dass sie darauf verzichten musste. Bis Mitte September
1892 entwickelte sich eine schlaffe Paraplegie, um deren willen Pat.
am 18. 9. 92 sich im Spital aufnehmen Hess.
Stat.: Gracile, abgemagerte, blasse Frau; ausser chron. Bronchial-
katarrh und r. Wanderniere vegetativ kein Befund. Pat. klagt über
allgemeine Schmerzhaftigkeit. Thatsächlich sind alle tastbaren Nerven
auf Druck höchst empfindlich, desgleichen die Wirbelsäule. Allgemeiner
continuirlicher Tremor, r. stärker als 1., intentionell sehr gesteigert.
Cutane Hypästhesie im Bereich der UE. Anscheinend Paraplegie mit
Krafft-Ebinfr, Arbeiten II. 7
98 II. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Streckcontractur der UE., beiderseits Pes varoeqninus-Stellung. Activ ist
die r. UE. bewegungslos, passiv hindert die Contractur die Bewegung.
An der 1. UE. geringer Bewegungseffect, der aber sofort, gleichwie
passive Bewegung, die Contractur auslöst. Continuirlicher Klonus im
r. Quadrineps, der bei activer oder passiver Bewegung gelegentlich auch
1. beobachtet wird. Patellarreflex sehr gesteigert.
Am 29. 9. liess sich Pat. auf die Klinik transferiren. Die Hyp-
ästhesie hatte sich auf die ganze r. Körperhälfte ausgebreitet. An der
r. UE. bestand auch in der Ruhe ein permanenter Schütteltremor. Alle
Nervenstämme waren sehr druckschmerzhaft. Pat. war unerschöpflich
in Klagen über reissende Schmerzen im Gebiet des ganzen r. N. ischia-
dicus, über Ameisenkriechen und cutane Schmerzen am ganzen Körper,
als ob 1000 Nadeln eingestochen würden.
Magnetotherapie und Wachsuggestionen waren wirkungslos. Pat.
verweilte an der Klinik nur kurze Zeit. Bei der Entlassung, Ende No-
vember 1892, war sie leidlich gehfähig, aber r. spastisch, 1- sehr aniy-
osthenisch. Der Schüttelkrampf hatte auch die r. OE. ergriffen. Die
spontane und auf Druck entstehende Schmerzhaftigkeit hatte sich ver-
mindert. Die r. Hemianästhesie war weiter vorgeschritten, insofern zur
tactilen Hypästhesie Analgesie getreten war und, ringförmig unter dem
Knie beginnend und bis zu den Zehen reichend, Anästhesie für alle
Qualitäten bestand. Die tiefe Sensibilität war in den r. 2. und 3. Zehen-
gelenken Null, im 1. Gelenk dumpf, im Fussgelenk gering herabgesetzt,
in den höheren Gelenken intact. Die 1. Körperhälfte bot nirgends
Sensibilitätsstörungen. Die Sinnesorgane waren r. und 1. unbetheiligt
Pat. wurde mit Magnet und Elektricität behandelt.
Beob. 11. Souques (op. cit. p. 105), Paraplegia hyster. mit
Incontinentia urinae.
J., 21 J., Arbeiterin, aufg. 9. 3. 90, erblich belastet, hatte Convulsionen als Kind,
Enuresis, später nach Schreck mehnnonatliche Chorea. Mit 15 J. begannen Hysteria
gravis-Anfälle, die von der Heirath (mit 18 J.) an seltener werden.
Am 9. 2. 90, Schreck'über den betrunkenen, sie mit einem Messer bedrohenden
Ehemann. Hysterieanfall mit retroactiver Amnesie. Am folgenden Morgen beginnt
Schwäche der UE., die in wenigen Tagen zur Paraplegie wird. Aus Verzweiflung über
die vermeintlich unheilbare Erkrankung Selbstmordversuch.
Im Spital Paraplegie mit Contractur, heftige Schmerzen in der Kniegegend,
cutane Hyperästhesie von Schenkelmitte bis zum Fuss, schmerzhafte hyperästhetische
Plaques an Sternum, Vertex, Armen und Rücken. Eine Keine von hyster. Stigmata,
Sphincterenlähmung. Unter Hydrotherapie bedeutende Besserung, aber episodisch
Chorea rhythmica der 1. OE. und Aphonie.
Im August 90 hyperästhet. Plaques an den Kniescheiben, anästhetische Plaques
da und dort, Spinalirritation, 1. Ovarie und spasmogene Zone. Sonstige Stigmata hyst.
Chorea rhythmica. Paraparese. Incontinentia urinae. Hysterischer Charakter.
Paraplegia hysterica. 99
Beob. 12. Souques (op. cit. p. 109).
M., 13 J., aufg. 19. 3. 90, aus nervös unbelasteter aber tuberculöser Familie, früher
nie bemerkenswerth krank gewesen, litt seit seiner Uebersiedlung nach Paris vor l*/2 J-
an häufiger Cephalaea mit Erbrechen, sodass mau an tuberculöse Erkrankung im Ge-
hirn dachte. Am 22. 12. 89 begann zunehmendes Kopfweh, am 28. Starrkrampfanfall.
Seither zunehmende Schwäche der UE., enorme Steigerung der tiefen Reflexe, Rigor,
Streckcontracturen. Pat. wurde mit Diagnose: piimäre Sclerose der Seitenstränge zu
Charcot gesandt.
Stat.: Keine Stigmata hysteriae, nirgends Sensibilitätsstörungen. Keine Störungen
der Sphincteren. Gehirnnerven, OE. ohne Befund. UE. in completer Streckcontractur mit
maximaler Dorsalflexion im Fussgelenk. Willkürlich beweglich nur die Zehen. Tiefe Reflexe
enorm gesteigert. Pat. steht ganz unter der Suggestion, dass ihm in Paris geholfen
werde. Während man noch an die Möglichkeit einer Compressionslähmung oder eines
medullären Tuberculoms denkt, fängt Pat. unter der Autosuggestion, die Function der
Beine kehre wieder, zu gehen an, Anfangs rasch ermüdend.
Am folgenden Tage ist er gesund bis auf Steigerung der Reflexe, die aber im
Laufe der nächsten Monate sich ebenfalls verliert.
Beob. 13. Souques (op. cit. p. 94).
Fräulein B., 20 J., aufg. 29. 1. 81, gross, kräftig, aus belasteter Familie, früher
nicht nervös, erleidet Mai 79, anlässlich Sturz mildem Wagen, eine leichte Hirnerschüt-
terung und Wunde über 1. Augenbraue. Seither kränkelnd. December Ovarie, Meteo-
rismus, Constipation, später hysterische Krisen, Charakteränderung, bellender Husten.
Anfang März beginnt 1. dorsale Hyperästhesie und Schmerz mit 1. Hemiamyosthenie.
Unter Ausbreitung der Hyperästhesie über den ganzen 1. Stamm. Entwicklung von
Paraplegie.
Stat. 29. 1. 81. Paraplegie mit Strecket ntractur, episodisch sich lösend, mit
Freiheit willkürlicher Bewegung. Patellarreflexe gesteigert. Fussclonus. L. Ovarie mit
ascendirender Aura, 1. cutane Hemih) perästhesie für alle Qualitäten. Gang möglich
mit r. Krücke, scharrend, aber ohne Rückstoss, wie bei spast. Spinalparalyse. Schmerz
und Rigor scheinen die Gangstörung zu bedingen. Kautschukgefühl in den Beinen,
Schwanken bei geschlossenen Augen, fehlender Plantarreflex.
Ende 1881 nach Traum, Cbarcot drohe ihr, wenn sie nicht bald gehe, werde sie
von den geliebten Angehörigen getrennt, vermag Pat. plötzlich zu gehen, schleift aber
das 1. Bein, hat gesteigerte 1. Hemibyperiisthesie, die aber bald durch eine Analgesie
ersetzt wird. Pat. hatte nach jenem schrecklichen Traum die Hülfe der Mutter Gottes
angerufen und plötzlich zu gehen begonnen.
1882 noch leichter Rigor, 1. Hyperästhesie, Spinalschmerz, 1. Parese, gesteigerte
tiefe Reflexe. Allmählich auch Schwinden dieser Krankheitsreste. Heirath, Geburten,
dauernde Genesung.
Bemerkenswerthe weitere Casuistik:
Huchard (These de Paris 1881). Hysterische Lähmung, eine syphilitische
Paraplegie vortäuschend: Ch., 40 J., Schneiderin, aufg. 10. 4. 80. Hysteribche Antece-
dentien, Lues mit 18 J. Mit 31 J., nach Streit mit dem Mann, plötzlich schlaffe und
schlaff bleibende Paraplegie. Keine Sensibilitätsstörung. Nach 15 Monaten spontan
plötzlich Genesung. Später Aphonie. Neuerlich Recidive der schlaffen Paraplegie.
Auch diesmal Sensibilität intact. Tiefe Reflexe minimal. Dorsolumbale und epigastrale
Schmerzpunkte hysterischen Charakters. Keine Stigmata hysteriae. Sphincteren intact.
Allmälige und dauernde Genesung.
7*
100 n. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Sperling, Neurolog. Centralhlatt 1888. E., 14 J., zunehmende Schwäche
der UE. Nachschleifen der Beine. Lumbarwirbel schmerzhaft. Sphincteren intact,
tiefe Kenexe gesteigert, Fussclonus. Sensibilität intact. Wahrscheinliche Diagnose:
„myelitis tubcl."- Nach 2 Monaten Genesung.
Pontoppidan, Centralbl. f. Nervenkrankh. 1886. Mann, 36 J., von hy-
sterischer Mutter, erkrankt plötzlich nach Emotion an Paraplegie. Sensibilität intact.
Schmerzhafte Zone vom 5.-7. Dorsalwirbel. Genesung nach 3 Monaten. Nach 8 Tagen
Kecidive, diesmal mit Hyperästhesie der UE. Genesung mit Paquelin.
Zeni, Gazzetta degli Ospitali. Eavenna 1888, 35. Frau, nach Abor-
tus vor 19 J. allmalig Paraplegie, zugleich einseitige Amaurose mit negativem oph-
thalmoscopischem Befund. Blutbrechen, Harnverhaltung. In den letzten Jahren Con-
tractur der Flexores und Adductores cruris. Unter Galvanisation, kalten Bädern und
Massage Genesung nach 19 Jahren.
Brieger, Charite Annalen 1887, p. 140. Anstreicher, 21 J., wiederholte
Bleikoliken. 1881 plötzlich Paraplegie mit Streckcontractur, die ersten 5 Tage Anästhesie
im Lähmungsgebiet. Vermuthete spastische Bleilähmung. Nach 25 Tagen wieder
gehfähig.
Marina, lo Sperimentale 1883, p. 399. Junger Mann, keine Lues. 1870
nach Durchnässung und Ueberanstrengung als Pompier Nackenschmerz, etwas Fieber,
nach 12 Tagen Paraparese. 1878 Paraplegie, mit Anästhesie der UE. Gelegentlich
clonische Krämpfe in denselben, lligor bei passiver Bewegung. Diagnose: Myelitis
der Seitenstränge a frigore. Nach 240 elektrischen Sitzungen genesen 1883.
Die vorausgehende Casuistik, soweit sie meinem Beobachtungs-
material entnommen ist, besteht aus ausgewählten Fällen von theils
schlaffer, theils spastischer, sicher hysterischer Paraplegie, geeignet, die
verschiedensten spinalen Erkrankungen vorzutäuschen, zumal da es sich
fast ausschliesslich um monosymptomatische Lähmungen handelt.
Dieses Vorkommen ist in meinem Erfahrungskreise das entschieden
häufigere; aber auch da, wo hysterische Stigmata vorhanden sind, kann
dies nur zur Vorsicht in der Diagnosestellung mahnen, niemals aber
diese entscheiden, da Hysterie keineswegs vor organischer Rückenmarks-
erkrankung schützt.
Die Diagnose kann nur aus Aetiologie, Pathogenese, Verlauf und
Symptomencombination gemacht werden.
Organischer Erkrankung verdächtig mag immer eine Paraplegie
in luetico erscheinen. Dass sie gleichwohl rein functionell sein kann,
lehrt Beob. 1.
Eine Paraplegie durch psychischen Shok (wozu auch die meisten
traumatischen Fälle gehören mögen) überhaupt im Anschluss an eine Ge-
müthsbewegung, ist mindestens als functionelle verdächtig, zumal wenn
sie sich binnen Tagen und Wochen entwickelt (im Gegensatz zur
Haematomyelie u. s. w.).
Ganz besonders wichtig ist es in solchen Fällen, die psychische
Genese der Lähmung zu verfolgen und sie auf imitatorischen Einfluss
Paraplegia hysterica. 101
(Beob. 4) oder auf Fremd- oder Autosuggestion (Beob. 5, 6) drohender
Rückenmarkslähmung zurückführen zu können.
Nicht minder bedeutsam ist die deutliche Beeinflussbarkeit der
Intensität und des Wechsels der Symptome durch psychische derartige
Factoren, wobei die Aufmerksamkeit des Patienten auf seinen Leidens-
zustand mit verschlechternder Wirkung, und die Ablenkung jener mit
dem umgekehrten Erfolg, eine hervorragende Rolle spielt.
Gewinnt mau den wünschenswerthen Einfluss auf die Psyche des
Kranken, so vermag man oft temporär die Paraplegie in eine blosse Dys-
basie zu verwandeln, das scheinbar vorhandene Roruberg'sche Symptom
zu eliminiren u. dergl. mehr.
Unter allen Umständen ist die psychologische Signatur des Falles wich-
tiger, als das klinische Detail der Symptome und ist die minutiöse Feststel-
lung des bisherigen Verlaufs mit seinen oft ganz paradoxen Schwankungen
und Complicationen diagnostisch viel bedeutsamer als der Stat. praesens.
Aus diesem Grunde (verschleierte Aetiologie des Falles, unvollständige
Anamnese) erklärt es sich, warum so oft bei Consilien, selbst von Cory-
phäen, diagnostische Irrthümer, d. h. Verwechseln functioneller mit
organischer Paraplegie begangen werden.
Erst das eingehende Studium des Falles — meist ist hierzu Spitals-
beobachtung erforderlich — pflegt ihn in das richtige Licht zu stellen.
Man muss zur Klarheit darüber gelangen, wie das Verhältniss von Psyche
und Lähmung ist.
In seltenen Fällen mag erst der Ausgang der Krankheit die Ent-
scheidung vermitteln. Gleichwie Myelitis durch emotionellen Einfluss
eine bedenkliche, durch nichts erwiesene ätiologische Annahme ist, so
muss das grösste Misstrauen einer angeblichen Myelitis entgegengebracht
werden, die noch nach Monaten zur völligen Ausheilung gelangt, ausser
es handelte sich um eine luetische und die Heilung wäre durch eine
antiluetische Behandlung zu Stande gebracht worden. Lehrreich in dieser
Hinsicht ist Beob. 9, die erst anlässlich einer Recidive als Das, was sie
schon das erste Mal gewesen war, erkannt wurde. Wahrscheinlich steht
es mit den anderen geheilten Myelitisfällen gerade so.
Versucht man die Symptomatik zur Gewinnung der differentiellen
Diagnose zwischen functioneller und organischer Paraplegie heranzuziehen,
so ergiebt sich aus der voranstehenden Casuistik deutlich, wie nahe das
functionelle Bild dem organisch bedingteu stehen, ja symptomatologisch
und im Stat praesens geradezu sich mit demselben decken kann. Strenge
genommen giebt es in der Erfahrung kein einziges Symptom des para-
plegischen Erscheinungsbildes, das nicht auch als functionelles mög-
lich wäre.
102 H. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Eine Ausnahme machen blos Cystitis und Decubitus, aber diese
erscheinen oft erst spät im Bilde einer Myelitis, ausser es handelt sich
um eine centrale Localisation derselben.
Ebensowenig sind der Nachweis von Muskelatrophie und quanti-
tativer und qualitativer Aenderung der elektrischen Erregbarkeit als
sichere Zeichen für organische Paraplegie zu betrachten, da sie auf
Grund neuerer Erfahrungen auch bei Hysterie (wahrscheinlich auf Grund
blos functioneller Störung in den Ganglienzellen der Vorderhörner des
Eückenmarks) möglich sind.
Beim Versuch, die Einzelsymptome für die Diagnose heranzuziehen,
scheint es geboten, ganz besonderes Augenmerk dem Verhalten der Sen-
sibilität und ihren Störungen zuzuwenden.
Souques, in seiner werthvollen Monographie, stellt diese in den
Vordergrund seiner differentiell diagnostischen Erwägungen.
Er verweist darauf, dass Parästhesien und andere subjective Sen-
sationen, Hyperästhesien und Schmerzen bei functioneller Paraplegie
selten, bei organischer ganz gewöhnlich seien, was aber bei Beob. 2, 7,
9, 10 keineswegs zutrifft.
Wichtiger ist Souques' Hinweis darauf, dass bei organischer Para-
plegie die Anästhesie, je nach dem Sitze der Läsion, in verschiedener
Höhe ringförmig abschliesse und dass oft dicht oberhalb der Grenze
der Anästhesie eine schmale hyperästhetische Zone sich vorfinde, während
in klassischen Fällen von functioneller Paraplegie segmentäre Anästhesie
bestehe, mit \J förmiger Begrenzung nach oben, Genitalien und Regio
sacralis freilassend. Diesen Typus repräsentirt z. B. Beob. 7, aber dass
dieses Criterium der ringförmigen Anästhesie nicht blos organischer
Lähmung zukommt, lehrt Beob. 9, bei welcher jene in 2 Krankheits-
anfällen zu constatiren war.
Immerhin wird die segmentäre Anästhesie mit Freibleiben der
Pudendal- und der Sacralgegend diagnostisch alle Beachtung verdienen.
Das Gleiche gilt für paradoxe und namentlich hemianästhetische Sen-
sibilitätsstörungen, die mit organischer Paraplegie nicht verträg-
lich sind.
Dissociirte Störung der Empfindungsqualität wäre aber auch bei
einer lumbal localisirten Syringomyelie möglich.
Die Intactheit der cutanen Sensibilität schliesst eine hysterische
Paraplegie nicht aus (Huchard, de la parapl. hyst. sans anesthesie. These
de Paris 1881). Dass auch Gürtelgefühl, ganz wie bei einer organisch
vermittelten Paraplegie, möglich ist, lehrt Beob. 9.
Bedeutungsvoller als das Verhalten der cutanen Sensibilität, ist das
der tiefen. Schon Duchenne hatte darauf hingewiesen, dass die elektro-
l'araplegia hysterira. 103
muskuläre Sensibilität bei hysterischen Lähmungen zu fehlen pflegt.
Das häufige Fehlen der tiefen Sensibilität wird auch durch meine
Casuistik ausgewiesen. Besonders bemerkenswerth erscheint der regionäre
Ausfall jener, und zwar an dem distalen Ende der TJE.
Von Wichtigkeit erscheint das Verhalten der Reflexe- Was die
tiefen Reflexe betrifft, so fand sie Richer immer gesteigert, unbeschadet
seltener unerklärter Fälle, wo sie fehlten. In meiner Casuistik er-
schienen sie immer gesteigert, ausgenommen in Beob. 2, wo ihr Fehlen
auf eine Neuritis bezogen werden konnte. Ganz besonders bemerkens-
werth ist das dauernde Fortbestehen schlaffer Lähmung mit gesteigerten
tiefen Reflexen, während bei organisch bedingter Lähmung doch das
Eintreten spastischer Erscheinungen zu gewärtigen wäre. Die plantareu
Reflexe fand Richer meist fehlend, auch dann, wenn keine Anästhesie
bestand. Auch Buzzard hält ihr Erhaltensein für einen Hinweis auf
organische Bedeutung des Falles. In meinen Fällen waren sie schwach
erhalten (1, 5), fehlend (3, 4, 7, 8), erhalten (2, 9). In 2 Fällen (6, 10)
wurde über ihr Verhalten leider nichts notirt. Das Verhalten der plan-
taren Reflexe bei functioneller Paraplegie verdient weitere Unter-
suchungen.
Ganz gewöhnliche, auch bei hysterischer Paraplegie aufzufindende
Symptome sind solche von Seiten der Blase. Sie können zur Stellung
der Diagnose beitragen, insofern sie oft eine Wandelbarkeit zeigen, die
den organisch bedingten Blasenstörungen nicht zukommt, ferner, indem
etwaige Harnverhaltung häufig auf Spasmus des Sphincter vesicae zurück-
geführt werden kann. Jedenfalls muss man bei dem Vorkommen jener
zunächst an diese Wahrscheinlichkeit denken. Der Widerstand, welchen
man beim Eindringen und Entfernen des Katheters findet, spricht jeden-
falls für Spasmus. Dass Harnverhaltung aber auch gelegentlich durch
Detrusorlähmung eintreten kann, lehrt Beob. 9.
Auch relative und selbst absolute Incontinenz ist der hysterischen
Lähmung nicht fremd (Beob. 1, 3, 7, 8). Wenn sie mit Spasmus des
Sphincter wechselt, ist die Annahme einer hysterischen Bedeutung dieser
Symptome jedenfalls berechtigt.
Wenden wir uns zu den Erscheinungen gestörter Motilität an den
Extremitäten, so finden sich alle Gradunterschiede von Paraparese bis
zu völliger Paraplegie vor. Diese entwickelt sich nicht selten aus Abasie
und zeigt auch episodisch das Bild dieser. Jedenfalls bestehen fliessende
Uebergänge zur Abasie.
Die Lähmung ist in der Mehrzahl der Fälle eine schlaffe. Sie
kann dieses Gepräge durch den ganzen Verlauf der Krankheit hindurch
bewahren, jederzeit aber sich mit spastischen Erscheinungen combiniren.
1 04 II- Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Zuweilen sind diese nur bei passiver Bewegung vorhanden und als
Pseudospasmus, auf Grund unbewusster Innervation von Seiten des
Kranken, zu bezeichnen. "Wirkliche Spasmen beruhen auf Diathese de
contracture und sind dann auch ohne Hyperästhesie, selbst bei regionärer
Anästhesie möglich; oder aber es handelt sich um Reflexspannungen
durch Arthralgien, Neuralgien, regionäre Hyperalgesien, bei mangelhafter
Leistungsfähigkeit der reflexhemmenden Mechanismen.
Diese spastischen Erscheinungen sind somit als Complicationen zu
betrachten. Der Typus der hysterischen Lähmung scheint die schlaffe.
Die schlaffe Lähmung ist prognostisch günstiger als die spastische. Auf
ihre psychische, speciell autosuggestive Bedeutung wurde oben hin-
gewiesen. Man gewinnt vielfach den Eindruck, dass sie als rein psychisch
corticale Lähmung anzusprechen ist, d. h. als Monoplegia corticalis duplex.
Die Aehnlichkeit mit solcher aus organischer Ursache im Sinne von Un-
vollständigkeit der Lähmung, vorwiegend distaler Ausprägung derselben,
regionärer Störung der Sensibilität, besonders der tiefen, ist oft unver-
kennbar.
Ein bemerkenswerthes Moment in solchen Fällen ist die eigen-
thümliche, dem Bild organischer Erkrankung an und für sich nicht zu-
kommende Combination und Vertheilung der Symptome. Dies tritt in
der von mir mitgetheilten Casuistik auffällig oft zu Tage.
In Beob. 1 erscheint bei dem paraparetischen Kranken im Gebiet
der Lähmung bald Spasmus, bald Ataxie, welche letztere durch Wach-
suggestion jederzeit sich temporär beseitigen lässt. Auch in Beob. 3 ist
die Gehstörung sehr wandelbar. In Beob. 5 sind die Zehen frei von
Lähmung. In Beob. 9 erinnert die Recidive vorübergehend an Myelitis
disseminata, insofern Intentionszittern der Bulbi, der Extremitäten, re-
gionäre Muskelparesen, spastischer Gang auftreten. Dazu gesellt sich
eines Tages ganz unvermittelt und episodisch eine Paraplegie mit
Detrusorlähmung !
In Beob. 10 begleitet längere Zeit ein (hysterischer) Klonus im
Gebiet der Quadricipites das Bild der schlaffen Paraplegie!
Die Prognose dieser Lähmungen ist immer eine zweifelhafte
Schwer versündigt sich der unwissende Arzt, wenn er die impressio-
nablen, autosuggestiblen Kranken in ihren Befürchtungen organischer
Begründung ihres Falles bestärkt, indem er von der Möglichkeiteiner Rücken-
marksentzündung spricht. Solche Fremdsuggestion, wenn sie von einem
Arzt, der das Vertrauen des Patienten geniesst, ausgeht, kann fast un-
überwindlich sein. Aber auch der Einfluss des Milieu (allzu besorgte
oder auch lieblose Angehörige) ist nicht zu unterschätzen. Am schlimmsten
sind jedenfalls (meist traumatische) Fälle mit Anästhesie, bei welchen die
Paraplegia hysterica. 105
kranken Glieder aus dem Bewusstsein ausgeschaltet sind, ferner Fälle,
wo Arthralgien, traumatische Hyperästhesien u. dergl. beständig das Be-
wusstsein des Kranken auf seine Infirmität hinlenken. Kürzlich sah
ich eine Kranke mit hysterischer Paraplegie, die sich in die Einsamkeit
einer Pension geflüchtet hatte, weil ihr die Existenz daheim bei dem
von ihr verabscheuten Gatten unerträglich war. Ihre Lähmung war ihr
ein nicht unwillkommener Grund, isolirt leben zu können. In diesem
Fall hatte natürlich die psychische Therapie kein Terrain. Unter ähn-
lichen Verhältnissen habe ich eine seit über 20 Jahren bestehende Para-
plegie gesehen, die allen ärztlichen Bestrebungen trotzte.
Spontanheilungen kommen vor durch den Einfluss der Zeit, mit
welcher der Functionswerth autosuggestiv geschaffener Hemmungsvorstel-
lungen nachlässt, etwaige sie im Bewusstsein fixirende Affecte und
locale Schmerzen schwinden, der impressionable Zustand des im Sinne
einer (traumatischen) Neurose afficirten Nervensystems sich verliert.
Meist bedarf es aber der unterstützenden Mitwirkung von Gemüth und
Verstand anderweitig in Anspruch nehmenden (ablenkenden) Vorstellungen,
oder auch — ein Affect übt eine lösende Wirkung oder lässt (in Lebens-
gefahr) auf die Autosuggestion vergessen, sodass der Kranke, indem
er seine Beine wiedergefunden hat, sich selbst eine Contrasuggestion ad
oculos schuf. In anderen Fällen wirkt der contrasuggestive Einfluss von
für heilkräftig geltenden Bädern, Volksmedicinen, Reliquien, Gnadenorten.
Die ärztliche Kunst hat die schwere Aufgabe, den Autosuggestionen der
Kranken entgegenzuwirken. Zuweilen gelingt es der autoritativen Wach-
suggestion, dies zu erreichen, unterstützt durch zielbewusste moralische
Behandlung, eventuell unter Zuhülfenahme von Magnetotherapie, der
bei complicirender Anästhesie ein gewisser Werth nicht abgesprochen
werden kann.
Werthvoll kann es sein, weiter einzugreifen durch Weckung
optischer Erinnerungsbilder (passive Bewegung, manuell oder durch
Elektricität) sowie sensibler (Massage, elektrischer Pinsel). Gewöhnlich
kommt man mit Wachsuggestion nur zum Ziele in einem Krankenhause
oder mindestens unter Entfernung aus den krankmachenden familiären
und localen Verhältnissen. Unerlässlich erscheint in schweren Fällen
die Trennung von den Angehörigen. Was man mühsam und des Er-
folges nicht sicher durch Wachsuggestion erzielt, erreicht man hier und
da unverhältnissmässig rasch durch Suggestion in Hypnose.
Vortäuschung von multipler Sklerose.
Beob. 1.
Fräulein K., 29 J., gew. Schauspielerin, stammt von einer Mutter,
die an Asthma litt und gelähmt starb, wahrscheinlich in Folge einer
Hirnkrankheit.
Pat. wurde mit 12 J. menstruirt, hat bis zum 15. Jahr masturbirt.
Vom 16. bis 19. J. litt sie an einem nervösen Magenleiden.
Von da ab zeigte sich Müdigkeit beim Gehen, später auch rasche
Erschöpfung bei Leistungen der OE., beim Kauen und bei Bewegungen
des Stammes.
Allmälig gesellten sich dazu Steifigkeit der Beine, des Eückens und
Nackens, zeitweises Nachschleppen des 1. Beines.
Der Gang wurde schwankend, wie „betrunken". Pat. konnte beim
Gehen die Richtung nicht einhalten, es „riss sie nach der einen oder
andern Seite."
Beim Liegen, besonders im Bett, fühlte und sah sie Zuckungen an
den Beinen.
Gelegentlich Gürtelgefühl in der Höhe des Epigastriums.
Schon vom Beginn des Leidens an zeigte sich zeitweise Cystospasmus,
einige Mal auch Incontinentia urinae.
Seit Jahren grosse Emotivität, psychische Erregbarkeit, Nosophobie,
Zerstreutheit, Klagen über Gedächtnissschwäche, gelegentlich Kopfdruck.
Daneben Parästhesien bis zum Knie herauf, neuerlich auch in 1. Hand,
mit grosser Ungeschicklichkeit derselben, ferner Gefühl des Wankens, mit
Schwindel.
Pat. fand selbst, dass ihre Gehstörung sehr wechselnd war, viel
besser, wenn sie auf häuslichen Kummer und Sorgen vergass und in
heiterer Gesellschaft verweilte. Wenn sie lange ging, wurden ihr die
Beine steif.
Eine erstmalige flüchtige Consultation am 12. 10. 95 stellte Fol-
gendes fest:
Das Leiden war acut nach heftigen Gemüthsbewegungen aufgetreten,
die seither fortdauern und durch die Erwerbsunfähigkeit der Pat. seit
4 Jahren gesteigert werden.
Vortäuschung von multipler Sklerose. 107
Ausser gelegentlichen Lachkrämpfen ermittelte die Anamnese keine
hysterischen Antecedentien. Auch Stigmata hysteriae sind nicht auf-
zufinden. Pat. ist mittelgross, gracil, der Schädel leicht rachitisch ver-
bildet. Von Seiten der Hirnnerven besteht keine Anomalie, bis auf In-
tentionszittern bei forcirtem Seitwärtssehen.
Nirgends Störung der Sensibilität. An allen Extremitäten, beson-
ders den unteren, bedeutende Herabsetzung der groben Muskelkraft.
Es besteht locomotorische und statische Ataxie. Pat. bedarf eines Stockes
zum Gehen. Dann bessert sich ihr Gang auffällig. Weder an OE. noch
UE. Intentionstremor. An den OE. ist bei geschlossenen Augen leichte
Ataxie nachweisbar. Das Komberg'sche Symptom ist angedeutet. Pat.
ermüdet rasch beim Gehen und scharrt dann mit den Füssen am Boden.
Bei passiven Bewegungen tritt Versteifung im Hüft- und Kniegelenk
ein. Die tiefen Reflexe sind an den UE. sehr gesteigert, jederzeit ist
beiderseits Fussclonus erzielbar. Pat. klagt über Versteifung und Er-
müdung in den Knieen und Unsicherheit des Gehens. Im Dunklen ver-
mag sie kaum sich auf den Beinen zu erhalten.
Die Diagnose schwankte zwischen Hysterie und multipler Sklerose.
Pat. erhielt Halbbäder und Sol. Fowler. verordnet
Anlässlich neuer Consultation am 25. 11. 95 berichtete Pat., eine
Zeitlang sei es besser gegangen, seit einem kürzlichen Todesfall in der
Familie schlechter. Der Zustand wechsle sehr, Emotionen wirkten jeweils
verschlimmernd.
Nur dann seien die Beine steif. Neuestens Gefühl von Unsicher-
heit und Vertaubung in der 1. OE. Der Stat. objectiv derselbe wie am
12. 10.
Am 13. 1. 96 eutschloss sich Pat. zur Aufnahme auf der Klinik.
Keine Zeichen von Hysterie. Beiderseits 5 D. Hypermetropie,
Asthenopie. Fundus normal, desgleichen Sehfeld. Nirgends Sensibilitäts-
ausfall.
An den OE. kleiner, feinwelliger. 7 Oscillationen per Secunde über-
steigender, inconstanter, in der Intensität sehr wechselnder Tremor, der
intentionell gesteigert wird, aber auch in der Ruhe zu bemerken ist.
Die 1. Hand ist etwas ungeschickt in ihren Bewegungen. Amyosthenie
tiefe Reflexe gesteigert. Nirgends Rigor.
An den UE. keine Amyosthenie. Die tiefen Reflexe hochgesteigert,
beiderseits Fussclonus.
Ueberaus rasche Ermüdung, dann leichtes Schleifen der 1. UE. Bei
Augenschluss geräth Pat. ins Schwanken, das aber suggestiv und durch
Markirung einer Unterstützung schwindet, offenbar rein psychisch bedingt
ist (Pseudo-Romberg).
108 II- Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Die Störung des Ganges ist eine überaus wechselnde. In voller Ruhe
des Gemiiths zeigt sieh nur eine Spur von Ataxie. In Emotion, ferner
nach relativer Ermüdung wird der Gang zunehmend unsicher. Pat. setzt
dann die Beine nicht voreinander, sondern innen oder aussen von der
Gangrichtung auf, kommt dadurch von dieser ab und ins Schwanken.
Alle diese Beschwerden zeigen einen sehr grossen Wechsel der
Intensität, sowohl während desselben Tages, als auch in längeren Zeit-
abständen. Basselbe gilt für das Intentionszittern der Bulbi. Pat. ist
sehr emotiv, steht unter der von anderer ärztlicher Seite erfolgten
Suggestion eines ßückenmarksleidens und ist wegen ihrer Zukunft sehr
besorgt.
Unter Wachsuggestionen und Gymnastik bedeutende Besserung des
Leidens, dessen Beeinflusstsein von der Stimmung überaus deutlich ist.
Pat. ist andauernd sehr emotiv und psychisch nicht zu voller Ruhe ge-
langend. Am 22. 2. 96 gebessert entlassen.
An der hysterischen Bedeutung des vorstehenden Falles kann kein
Zweifel bestehen. Wenn auch statische und locomotorische Ataxie, In-
tentionszittern der Augenmuskeln, Amyosthenie, zeitweiser Rigor, hoch-
gradige Steigerung der tiefen Reflexe der UE. bis zu Fussklonus an
multiple Sklerose denken Hessen, so musste doch die plötzliche Ent-
stehung des Leidens nach einer Gemüthsbewegung, die jeweils auf
Emotion zurückführbaren Schwankungen der Intensität und Extensität
der Symptome, die rein psychisch vermittelten Erscheinungen der Dys-
basie und des Romberg'schen Symptoms, der blos emotionell auftretende
Rigor u. s. w., dasselbe rein im Sinne von Hysterie deuten. Dazu kam
der auch in der Ruhe bestehende, intentionell nur gesteigerte, 7 Oscilla-
tionen in der Secunde übersteigende Tremor.
Beob. 2.
Fräulein L. M., 20 J., wurde am 19. 3. 96 auf der Klinik auf-
genommen. Sie stammt von gesunden Eltern. Eine Schwester der
Kranken ist höchst nervös und mit Stottern behaftet.
Pat. hat, ausser Diphtheritis als kleines Kind und Scarlatina mit
10 Jahren, keine Infectionskrankheiten durchgemacht.
Menses mit 12 J., anfangs unregelmässig. Vom 16. bis 18. Jahr
Chlorose.
Mitten in vollem Wohlsein erlitt Pat. am 16. 5. 91 einen heftigen
Shok durch plötzlichen Tod des geliebten Vaters. Sie war halb bewusst-
los, zitterte stundenlang am ganzen Körper, war von nun an nervös,
erregbar.
Im Winter 1891/92 litt sie 3 Monate lang an Parästhesie der
Hände, sodass sie zu jeder feineren Verrichtung (Nähen, Knüpfen u. s w.)
Vortäuschung von multipler Sklerose. 109
unfähig war, während Berührungs-, Temperatur- und Schmerzempfindung
angeblich ganz normal waren.
Während dieser Zeit geschah es einige Male, dass, unter heftigen
Schmerzen an der Ulnarseite des Vorderarms, der Kleinfinger der 1. Hand
in Contractur gerieth.
Mit der r. Hand richtete Pat. dann den Finger wieder gerade,
womit zugleich der Schmerz schwand.
Vom September 92 ab war Pat. als Verkäuferin in einem feuchten
Räume beschäftigt.
Anfang 1893 hatte Pat. anlässlich Emotionen, die ihr häufig zu
Theil wurden, heftiges Zittern.
Eines Tages, anlässlich Niesen, heftiger Schwindelanfall, so dass
sie zur Seite taumelte.
Am 24. 2. 93 scherzte Pat. mit einer Freundin und lief ihr nach.
Plötzlich knickte ihr dabei das linke Bein ein. Die Umgebung lachte,
Pat. selbst hielt den Vorfall für belanglos, allein die Schwäche des
1. Beins bestand fort und dazu gesellte sich eine Parästhesie in der
1. Oberextremität.
Pat. wurde nun besorgt, consultirte verschiedene Aerzte. Anläss-
lich einer Consultation bei mir am 13. 3. 93 constatirte ich:
Spastische Parese der r. UE., zeitweiser Schüttelkrampf in der-
selben, 1. Patellarreflex sehr gesteigert, Fussclonus. In 1. OE. bedeutende
Herabsetzung der groben Muskelkraft, hochgesteigerte tiefe Reflexe,
Mangel der Stereognose in der 1. Hand, sonst Sensibilität intact.
Classisches Intentionszittern der Bulbi, r. Pupille weiter als linke,
prompte Reaction.
Hirnnerven im Uebrigen intact. Rechte OE. und UE. normal in
ihren Functionen. Keine Stigmata hysteriae.
Bis Anfang 95 keine Aenderung. Neue heftige Schmerzen in der
r. UE., die mit Zahnschmerz verglichen wurden. Der Schmerz sass bald
im Hüftgelenk, bald im Oberschenkel, Knie, oberhalb des Sprunggelenks,
häufig an mehreren Stellen zugleich; er wurde in der Tiefe empfunden
und hielt viele Stunden in gleicher Intensität an derselben Stelle an.
Im Anschluss an kräftige Faradisation trat in der Nacht vom 19.
zum 20. 2. 96 ein heftiger Angstzustand mit Oppressionsgefühl und
stundenlangem Herzklopfen auf. Seither vermehrte Schwäche im 1. Bein
und Klagen über Amblyopie.
Nach fruchtlosen mehrjährigen Kurversuchen zahlreicher Aerzte
( Faradisation, Galvanisation, Massage, Thermen, Kneippkur, Strychnin-
injectionen, Jodbehandlung, Versuchen auf hypnotisch-suggestivem Weg
1 10 II. Vortäusi hung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
eine psychische Genese der Symptome festzustellen) entschloss sich Pat.
auf der Nervenabtheilung der psychiatr. Klinik Hilfe zu suchen.
Im Stat. praes. vom 19. 3. 96 erscheint Pat. in psychischer Be-
ziehung wenig auffällig.
Mit einer ihrer Gesellschaftsklasse entsprechenden Bildung ver-
bindet sie einen ungewöhnlich hohen Grad von Intelligenz. In ihren
Gedanken meist mit ihrer Krankheit beschäftigt, verschmäht sie es spontan
Klagen vorzubringen, ist jedoch dankbar für ihr bewiesene Theilnahme.
Sie ist von sanguinischer Hoffnung gleichweit entfernt wie von muth-
loser Resignation.
Pat. ist mittelgross, von kräftiger Constitution, etwas abgemagert,
vegetativ ohne Befund.
Cranium regelmässig, bis auf leichte Hinterhauptstufe, Umfang
55 cm.
Pat. ermüdet rasch geistig und klagt dann über Zerstreutheit und
eingenommenen Kopf. Visus normal, Augenspiegel und Perimeterauf-
nahme ohne pathologischen Befund. Sowohl bei forcirtem Seitenblick,
als auch anfänglich beim Fixiren, lebhaftes Intentionszittern der im
Uebrigen normal functionirenden Augenmuskeln. Pat. giebt an, dass
bei längerem Lesen ihr die Buchstaben verschwimmen und tanzen. Die
r. Pupille viel weiter als die linke, beide prompt auf alle Reize reagirend.
Der Skleral-, Würge- und Schluckreflex fehlen, der Nasen- und Ohren-
reflex sehr herabgesetzt. Sonst keine auf Hysterie hindeutende Erschei-
nungen. Die Hirnnerven im Uebrigen normal in ihren Functionen.
Die r. OE. ist intact in allen ihren Leistungen. An der 1. OE. ist
•das Volumen um 1.5 cm allenthalben geringer als r. (Pat. ist Rechts-
händerin.) Die Eigenwärme ist in der 1. Axilla constant um 0.15—0.95°
geringer, als rechts. Alle Einzelbewegungen sind in der 1. OE. möglich.
Sie erfolgen aber kraftlos.
Ganz besonders deutlich ist eine Insufficienz im 1. Cucullaris, der
auch etwas atrophisch ist.
Index und Kleinfinger sind in der Grundphalanx meist in Hyper-
extension und gerathen bei Intention in Extensionscontractur. Diathese
de contracture, gesteigerte mechanische Erregbarkeit der motorischen
Nerven sind nicht vorhanden.
Der Muskeltonus ist im Bereich der 1. OE. sehr herabgesetzt, die
tiefen Reflexe sind sehr gesteigert, oft gelingt Handklonus. Rigor bei
passiven Bewegungen besteht nicht.
Die 1. Hand ist ungeschickt in ihren Bewegungen, greift neben das
Ziel (Ataxie). Diese Störung nimmt bei verschlossenen Augen erheb-
lich zu. Die cutane Sensibilität ist in allen ihren Qualitäten intact, die
Vortäuschung von multipler Sklerose. 111
tiefe Sensibilität ist im 1. Schultergelenk herabgesetzt, in den anderen Ge-
lenken aufgehoben. Das Bewusstsein passiver Bewegung und die Lage-
vorstellung fehlen im Bereich des 1. OE. Die Stereognose ist sehr
gestört.
An der 1. UE. ist der Muskeltonus herabgesetzt, die grobe Muskel-
kraft allenthalben erheblich vermindert. Patellar- und Fussclonus ist
jederzeit leicht zu erzielen.
Es besteht eine Volumsabnahme im Gebiet der Mm. glutaei und
der Oberschenkelmuskeln. Der Umfang ist 15 cm unter dem oberen
Patellarrande 1. 43, r. 47 cm. Der grösste Unterschenkelumfang ist r.
und 1. 35 cm. Die electrische Untersuchung ergiebt sowohl in den UE.
als auch OE. durchaus normale Verhältnisse. Fibrilläre Contractionen
kommen nicht zur Beobachtung.
Es besteht eine leichte Parese im Peroneusgebiet. Beim Gehen,
wie auch bei Zielbewegungen in liegender Position zeigt sich Ataxie.
Die cutane Sensibilität ist intact, der Plantarreflex erhalten. Die
tiefe Sensibilität ist herabgesetzt im Hüft- und Kniegelenk, aufgehoben
in Fuss- und Zehengelenken.
Die r. UE. ist motorisch intact, jedoch Patellar- und Fussklonus
angedeutet.
Die cutane Sensibiltät ist erheblich gestört. Es findet sich überall
im Bereich der r. UE. Hypästhesie, Hypalgesie, thermische Anästhesie
und zwar über r. Bauch- und Thoraxhälfte herauf, in der Mittellinie
genau abschneidend, bis zur Mammahöhe.
Dabei bestehen continuirlich dumpfe, ziemlich heftige Schmerzen
in der r. UE. und ist die Gegend des Trochanter major druckempfind-
lich. Die tiefe Sensibilität ist unversehrt.
Pat verweilte an der Klinik bis zum 26. 6. 96. Gymnastik,
Suggestivbehandlung versagte. Die Schmerzen in der r. UE. schwanden
auf Suspensionsbehandlung. Am Stat. änderte sich nichts, bis auf eine
vom Mai ab an der Volarfläche der Finger und der Hände beiderseits
aufgetretene und ringförmig 4 cm über den Handgelenken abschliessende
tactile Hypästhesie. Desgleichen fand sich eine von den Zehen beginnende,
bis zum unteren Drittel des Unterschenkels am r. Fuss heraufreichende
ringförmig abschliessende Herabsetzung der Tastempfindung.
Am 13. 10. 96 liess sich Pat. zum zweiten Mal aufnehmen. Im
Stat. ist keine Veränderung aufgetreten, bis auf Hinzukommen algetischer
Hypästhesie und von Störungen der Thermästhesie zur tactilen Hypästhe-
sie am r. Fuss und am unteren Drittel des Unterschenkels, wo „warm" nur
als Berührung, „kalt" schmerzhaft empfunden wird. Von da aufwärts,
in abnehmender Intensität, erstreckt sich über r. Bein und r. Rumpf-
112 n> Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
hälfte bis zur Mammarhöhe eine Zone leicht gestörter Tast-, Schmerz-
und Temperaturempfindlichkeit.
Die 1. Dystrophie ist unverändert, die elektrische Eeaction nach
■wie vor normal. Sprachstörung und Intentionszittern der Extremitäten
fehlen nach wie vor.
Bei der klinischen Vorstellung der Kranken wurde die functionelle
(hysterische) Bedeutung des Falles erörtert, die Wahrscheinlichkeit be-
tont, dass alle von der Pat. gebotenen Störungen nicht organischer Natur
seien, gleichwohl aber die Möglichkeit offen gelassen, dass es sich hier
um eine Complication von hysterischer Neurose mit organischer Er-
krankung handle. Im Sinne einer solchen konnte nur an multiple Skle-
rose und an Syringomyehe gedacht werden.
Zu Gunsten der ersteren Krankheit sprach nur der Nystagmus.
Gegen Syringomyelie die Steigerung der tiefen Reflexe in der 1. OE.,
die auf die 1. OE. beschränkte, stationäre, nur proximal vorhandene,
distal sich verlierende Muskelatrophie mit Fehlen fibrillärer Zuckungen
und normalem elektrischem Befund.
Diese Atrophie liess sich im Sinne neuerer Forschungen auch als
hysterisch bedingte ansprechen Bestimmt musste Hysterie für die eigen-
artigen Sensibilitätsstörungen, speciell die der tiefen Sensibilität ange-.
nommen werden.
Pat. verweilte den "Winter über auf der Klinik. Subjectiv keine
Aenderung des Befindens, zeitweise Klagen über diffusen Kopfschmerz,
unangenehme Sensationen im r. Hüft- und Kniegelenk.
Ein Ende Februar 97 aufgenommener Stat. praes. ergiebt Folgendes:
Augenspiegel, Perimeter, Sehschärfe normal. Nystagmus bei for-
cirter Seitwärtsbewegung fast ausschliesslich in verticaler Richtung, bei
Bewegungen nach oben und unten bedeutend abnehmend. Alle Augen-
muskelleistungen vollkommen sufficient, auch bei Convergenz bis in die
allergrösste Nähe. Nie Diplopie.
Der beim Blick in die Ferne stets vorhandene Nystagmus schwindet
bei Annäherung des Fixatiousobjects auf 30 cm und darunter, jedoch
nur bei Fixation eines Punktes in der Mittellinie. Pupillen wie früher,
normale Reaction.
Andeutung von Hippus. Farbensinn ungestört. Gaumen- und
Rachenreflex schwach, aber vorhanden.
Im Uebrigen alle Hirnnerven- Functionen normal. Wirbelsäule nicht
deformirt, auch nicht druckempfindlich.
OE. Das Volumen des 1. Oberarms nur um 0.5, am 1. Vorderarm
nur um 1 cm geringer als r., somit bei Pat. (Rechtshänderin) noch als
physiologisch zu betrachten. Muskulatur von gutem Tonus.
Vortäuschung von multipler Sklerose. 113
In r. OE. volle Muskelkraft, in 1. OE. Amyosthenie (r. Dynamometer
12.5, 1. 9—10 beim Händedruck).
Active Streckung im 1. Ellbogen- und 1. Handgelenk ist erschwert
durch eine dabei auftretende Spannung in den Antagonisten, die aber
vollkommen überwunden wird. Auch das Spreizen der Finger und die
Opposition von Daumen und Kleinfinger ist durch hemmende Spannungen
erschwert. Bei passiver Bewegung finden sich im 1. Ellbogengelenk flüch-
tige und wechselnde Spannungswiderstände bald in den Streckern, bald
in den Beugern. Constant findet sich eine Spannung in den Fingerbeugern
bei Dorsalflexion der Hand. Wird dieser Versuch rasch ausgeführt, so
entsteht kurzer Klonus des 2. — 5. Fingers unter begleitendem Klonus
des gar nicht berührten Daumens. Alle Spannungen sind leicht und
schmerzlos zu überwinden. Sämmtliche tiefe Reflexe sind in der l. OE.
sehr gesteigert.
Intentionstremor besteht nicht. Bei offenen Augen erreicht der
1. Zeigefinger, unter groben Schwankungen und sichtlich gestört durch
Spannungsvorgänge der Muskeln, langsam die Nasenspitze. Bei geschlosse-
nen Augen wird das Ziel grob verfehlt.
UE. Das Volumen der 1. UE. ist gegenüber der r. am Oberschenkel
um 2, am Unterschenkel um 1.5 cm allseitig reducirt. Der Gang ist
breitspurig, stark schwankend, mit unregelmässigen kleinen Schritten.
Mit geschlossenen Füssen, aufwärts gerichtetem Blick oder gar geschlosse-
nen Augen wird das statische Gleichgewicht nicht behauptet Schleudernde
Ataxie besteht nicht.
Auch an der 1. UE. ist der Muskeltonus ein guter, aber es besteht
Amyosthenie, besonders in den Hüft- und Kniebeugern, sowie in den
Dorsalflexoren des Fusses.
Alle activen Bewegungen sind auch links in vollem Ausmaass möglich,
aber Zielbewegungen finden stark schwankend und unter Verfehlen des
Ziels statt. Diese letzteren Erscheinungen sind auch rechts angedeutet
(Ataxie); beiderseits besteht Andeutung von Patellarklonus und constant
Fussklonus. Fusssohlenreflex beiderseits vorhanden. Beim Sitzen ist das
Aequilibrium nicht gestört. Rumpfmuskulatur ohne Befund. Störungen
der cutanen Sensibilität finden sich nur mehr in r. UE. und r. Stamm-
hälfte.
Tactile und algetische Hypästhesie besteht von den Zehen der r.
UE. ausgesprochen bis zur Beckenhöhe streng halbseitig, reicht von da,
immer mehr abnehmend und sich unmerklich verlierend, vorne bis zur
Höhe der 6. Rippe, hinten bis zum Angulus scapulae.
Bezüglich der Wärmeempfindung wird constatirt, dass auf der
r. Körperhälfte aufwärts bis zur 7. Rippe Eprouvetten, mit 60° C warmem
Krafft- Ebinf», Arbeiten II. °
1 14 II. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
"Wasser gefüllt, nur Berührungsempfindung vermitteln; hinten ist die
Grenze der Angulus scapulae.
Von da aufwärts bis zum Nacken, vorne bis zur Höhe der Clavicula
besteht einfach Hypästhesie für Wärmereiz.
Das Gebiet gestörter Kälteempfindung deckt sich wesentlich mit
dem obigen Gebiet, jedoch findet sich insofern eine Nuance, als Eprouvette
mit Eis r. vorne bis zur Mitte des Oberschenkels, hinten bis zur Gluteal-
falte aufwärts nur als Berührung, von da ab vorne bis zum Nabel, hinten
bis zum Darmbeinkamm aufwärts nur als heftiger Schmerz empfunden
wird. "Weiter aufwärts im Rayon der tactilen und algetischen Hypästhesie
besteht auch thermische für beide Reize.
An allen übrigen Körperstellen erweist sich die cutane Sensibilität
vollkommen normal.
"Was die tiefe Sensibilität betrifft, so werden passive Gelenkbeweg-
ungen von geringer Excursion, die aber physiologisch noch sicher er-
kennbar sind, an der r. OE. nicht percipirt.
Dasselbe gilt für feine Gelenkbewegungen der r. Zehen. Im
Uebrigen werden solche feine Bewegungen rechts allenthalben wahr-
genommen.
An 1. OE. werden nur im Schultergelenk grobe Bewegungen
wahrgenommen, aber nicht unterschieden. An 1. UE. fehlt jegliche
Perception passiver Bewegung.
Die Lage Vorstellung der 1. Extremitäten ist schwer gestört, rechts intact.
Ein Schwanken der Symptome durch psychische Beeinflussung tritt
im Laufe der Beobachtung nie zu Tage.
Die Sphincteren sind ungestört. Fibrilläre Muskelzuckungen sind
nie zu bemerken. Psychisch bietet Pat. nicht das geringste Auffällige.
Sie ist ruhig, gleichmüthig, resignirt, fern von jeder Tendenz zur TJeber-
treibung oder zur Klaghaftigkeit. Somatische Stigmata Hysteriae werden
andauernd vermisst
Eine energische tägliche faradische Durchströmung der ihrer tiefen
Sensibilität verlustigen Gelenke der 1. UE. hatte einigen Erfolg, insofern
gröbere passive Bewegungen wieder zur Perception gelangten und das
Gehen sicherer wurde. Pat. begnügte sich mit dieser Besserung und
verliess, im Uebrigen im Status quo ante, am 18. Mai 97 die Klinik
Beob. 3.
B., 28 J., Tischler, aufg. 11. 3. 95, Ascendenz nicht zu eruiren,
war gesund bis auf Typhus und Erysipel mit 16 J., hatte nie Lues, soll
Potator gewesen sein.
1887 als Militär, Splitterfractur an r. Tibia. Protrahirte Heilung.
Seit der Heilung von der Narbe zeitweise zum r. Knie ausstrahlende
Vortäuschung von multipler Sklerose. 115
Schmerzen. 1890, unter Zunahme solcher Schmerzen, Parese, Anästhesie
und Versteifung in r. UE. Temporäre Besserung in einer Therme.
Seit 1892, anlässlich Schmerzen in r. UE., auch solche in r. OE.
und Parästhesien, die Pat. mit dem Gefühl des Elektrisirtwerdens
verglich.
Seit 1894 zeitweise secundenlange Schwindelanfälle mit Schwarz-
werden vor den Augen, auraartig eingeleitet mit einem von der Narbe
am r. Fuss bis zum Occiput ausstrahlenden Schwarz. 1892 will Pat. längere
Zeit an Diplopie gelitten haben. Seit dem Auftreten der Schwindel-
anfälle ist er psychisch sehr erregbar geworden.
Stat. Mitte März 1895: Pat. mittelgross, kräftig, Schädel normal.
Vegetative Organe ohne Befund.
Concentrische Einengung des Sehfelds beiderseits. Abblassung
beider Papillen, die auf Alkoholmissbrauch zurückgeführt wird. An
beiden Augen Insufficienz des M. externus.
Insufficienz des M. int. dexter und des Ext. sin. beim Blick
nach links (associative Insufficienz). Beim Sehen nach r. und 1.
Nystagmus. Amyosthenie der r. OE., tiefe Reflexe in dieser Extremität
gesteigert. Ameisenlaufen in der ganzen r. OE., in der 1. bis zum Ell-
bogen hinauf.
In beiden OE. bis zur Höhe des Ellbogengelenks herauf cutane
Hypästhesie und Hypalgesie bei intacter Temperaturempfindung und tiefer
Sensibilität. Die gleiche Störung auf der r. Thoraxhälfte.
In r. UE. Amyosthenie, Andeutung von Ataxie, Hypästhesie, Hyp-
algesie, thermische Anästhesie, gestörtes Muskelgefühl und Lagebewusst-
sein. Patellarreflex gesteigert, r. mehr als 1., 1. UE. im Uebrigen ohne
Befund. Nirgends Atrophie.
Gang taumelnd. Die r. UE. wird langsam und steif mit supinirtem
Fuss aufgesetzt. Bei geschlossenen Augen droht Pat. nach rechts um-
zusinken.
Pat. verweilte 2 Monate im Spital, wurde elektrisirt, erfuhr eine
massige Besserung, die in Trenczin sich noch weiter steigerte.
Im November 95, unter allgemeinem Unwohlsein, Schmerz in der
r. UE., Globus, bedeutende Verschlechterung des Gehens bis zu tempo-
rärer Paraparese, mit Gefühl von Vertaubung in der UE., die Pat. am
18. 3. 96 der Spitalsbehandlung zuführte.
Stat.: geringe conc. Einschränkung des Gesichtsfelds auf beiden
Augen (nach aussen um 20°, nach innen um 10°, nach oben und unten
um 10 resp. 20°).
Sehschärfe etwas herabgesetzt (Jäger beiderseits 5 — 6, Finger werden
auf 6 m Entfernung ziemlich gut gezählt). Beiderseits Abblassung der
116 II. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
temporalen Papillenhälften. Der 1. m. rect. int. ist bei Convergenz in-
sufficient, nicht aber bei associirter Bewegung mit dem r. ext. Beider-
seits Nystagmus horizontalis. Basche Ermüdung beim Sehen, unter
Eintritt von Nebel und Mouches volantes. Hirnnervengebiet sonst frei,
bis auf leicht behinderte, aber nicht skandirende Sprache.
In den OE. bei Greifbewegungen ein dem Intentionszittem ähn-
licher Tremor, aber in Auftreten und Intensität sehr wandelbar und
zeitweise auch in Buhe bemerklich. In r. OE. tiefe Beflexe gesteigert.
Sonst kein Befund.
In den UE. nirgends trophische oder vasomotorische Störungen.
Amyosthenie, auffallend geringe und ungeschickte Innervation.
Tiefe Beflexe gesteigert, kein Fussclonus. Muskeltonus etwas herab-
gesetzt. Gang schwankend, vorsichtig, deutlich psychisch beeinflusst
durch beständige Angst zu fallen.
Beim Augenschluss Umfallen nach rückwärts. Sensibilität intact,
bis auf Herabsetzung der tiefen Sensibilität in den Zehengelenken,
Klagen über Schmerzen in allen Gelenken, die auch als Ursache der
Gehstörung angegeben werden. An der r. Patella (oberer und innerer
Band) Druckschmerzpunkte.
Zu Gunsten von multipler Sclerose sprach die frühere Diplopie,
der Nystagmus, die temporale Abblassung der Papillen, die Amblyopie, die
Andeutung von Intentionszittem im Stat. praesens.
Die nicht zu Atrophie fortschreitende Abblassung konnte mit Potus
in Beziehung stehen, desgleichen die Amblyopie.
Für Hysterie sprachen die traumatische Genese (traumatische Neur-
ose), die conc. Sehfeldeinschränkung, die associative Augenmuskelparese,
die segmentären und dissociirten Empfindungsstörungen, die Art des
Tremor, die Arthralgien mit Schmerzpunkten, die äusserst wechselnde
und deutlich psychisch bedingte Gangstörung u. s. w., sodass, trotz des
Fehlens von weiteren Stigmata hysteriae und monosymptomatischer Be-
deutung des Falles, die Diagnose auf Hysterie (traumatische Neurose) ge-
stellt werden musste.
Das Krankheitsbild änderte sich nicht in mehrwöchentlicher Spitals-
beobachtung.
Beob. 4.
B., 27 J., Fleischhauer, stammt angeblich von geistes- und nerven-
gesunden Eltern. Er hat eine krampfkranke, wahrscheinlich hysterische
Schwester und leidet seit der Kindheit an Migräne.
Mit 2 J. machte er Diphtheritis, mit 17 J. Varicellen durch. Nie
Lues. Seit dem 14. J. Potator strenuus, in den letzten Jahren Consum
von bis 10 Liter Bier und Wein täglich, auch reichlich Thee mit Rum
Vortäuschung von multipler Sklerose. 117
In der Militärzeit viel Strapazen, im Beruf später viel Erkältungen (Eis-
keller).
Beginn jetziger Krankheit, angeblich nach heftiger Erkältung, im
August 1892.
Pat. erwachte Nachts mit einem Schüttelfrost und Sprachunfähig-
keit. Der Mund soll schief nach 1. verzogen gewesen sein, er habe ihn
nur auf der r. Seite öfi'neu können. Die Zunge sei nach 1. abgewichen
(gekreuzter Zungenlippenkrampf?) Pat. liess sich in ein Spital auf-
nehmen, sah dort andere Patienten mit Lähmungen, emotionirte sich
darüber und bekam am 6. Tage seines Spitalsaufenthaltes eine binnen drei
Tagen sich entwickelnde schlaffe Lähmung der r. OE. und UE., die nach
14 Tagen vollkommen schwand. Er verliess das Spital, bekam bei einem
Zechgelage im Wirthshaus plötzlich die Sprache wieder und befand sich
wieder wohl.
Zwei Monate später bekam er Schmerzen in der r. Schulter, zu-
gleich mit Parese in den Muskeln dieses Gelenks, die nach einigen Tagen
wieder geschwunden war.
Vom 28. 12. 93 bis 9. 1. 94 lag Pat. auf einer Augenabtheilung
wegen Neuritis retrobulbaris oculi dextri. Er war acut erkrankt mit
Schmerzhaftigkeit des r. Bulbus, Stirn-, Kopfschmerz, Nebel vor dem
Auge, Mouches volantes. Die Papille erschien nasal verwaschen. Bei
der Entlassung war das Sehvermögen wieder normal.
Seither häufig Schwindel, Kopfweh, gestörter Schlaf, Tremores, im
Frühjahr 95 r. Amblyopie, im Herbst des gleichen Jahres auch 1.,
Erscheinungen, die auf Alkoholismus bezogen wurden.
Im Juni 95 begann Zittern in beiden UE. und Schwäche in der r.
Wegen Zunahme dieser Beschwerden liess sich Pat. im Januar 96
auf der Nervenklinik aufnehmen.
Stat.: Cranium rachiticum, Cf. 59 cm.
Pupillen normal, Abblassung der Papillen, mit leichter Ver-
schleierung ihrer Grenzen, 1. nur an der äusseren Papillenhälfte. Visus
Snellen r. ^ 1. -j^. Bei extremer Seitenbewegung Andeutung von
Nystagmus, aber nur zeitweise. Sonst Hirnnerven intact.
An den OE. Motilität normal, bis auf temporal- auftretendes, nur
nahe dem Ziel bemerkbares, grob welliges, äusserst unregelmässiges In-
ten tionszittern. Tiefe Keflexe lebhaft. Sensibilität normal.
An den UE. minimale Amyosthenie, bedeutende Steigerung der
tiefen Reflexe, r. und 1. Fussklonus, Sensibilität normal, Romberg ange-
deutet. Gang weder spastisch noch paretisch, aber Andeutung von
Fersengang und leichte Ataxie, die aber in Bettlage nicht nachweise
bar ist.
118 H. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Pat. erfuhr unter Hydro- und Electrotherapie eine Besserung seines
Befindens.
Stigmata hysteriae waren in mehrwöchentlicher Beobachtung nicht
nachweisbar. Die Diagnose wurde auf Hysterie und Alkoholismus chron.
gestellt und der an Sclerosis multiplex erinnernde ophthalmoscopische Be-
fund im Sinne von Residuen einer Neuritis retrobulbaris ex abusu alkohol.
gedeutet.
Beob. 5. (Souques etude des Syndromes hysteriques, p. 16.)
D., 49 J., Schmied, aufg. 27. 7. 90, aus schwer belasteter Familie, als Kind
schwächlich, aber gesund, nie luetisch gewesen, kein Trinker, war durch den Verlust
seiner Frau, sonstigen Kummer und berufliche üeberanstrengung seit Jahren hystero-
neurasthenisch geworden.
Im März 87 bei der Arbeit apoplectiformer Anfall. Nach 40 Minuten zu sich ge-
kommen, r. Hemiplegie mit Aphasie. Nach 5 Monaten wieder arbeitsfähig, aber r.
amyosthenisch und Sprache noch leicht gestört.
Anfang 89 Kopfweh, Verstimmung, Schwindelanfälle, Zittern, allmälige r. Amaurose.
Stat. Juli 90: Bradyphasische, skandirend stotternde Sprachstörung. Seim Auf-
stehen allgemeiner Tremor, Schwanken, mit Steigerung dieser zwei Symptome beim
Augenschluss. In der Kühe kein Zittern. Das Intentionszittern der Hände, nahe dem
Ziele gesteigert, durch Anstrengung und Emotion vermehrt, rhythmisch, 6 — 7 Mal per
Secunde, ist klassisch. R. Hemiplegie exclus. Facialis. Contractur der i: Zunge mit
Abweichen nach 1., Intentionszittern von Zunge und Unterkiefer. Patellarreflex r. ver-
mindert. Anlässlich Emotion Schwindelanfälle mit Globus, Sprechunfähigkeit, zuweilen
solche Anfälle mit Bewusstlosigkeit. K. Hemianästhesie mit Betheiligung von Sinnes-
organen. B. Amaurose, 1. concentr. Sehfeldeinschränkung, Dyschromatopsie. Fundus
ophthalmoscopisch normal. Kein Nystagmus. Hysterogene Zonen an 1. Hoden und
1. Hüfte.
Besserung im Spital. Das durch vorwiegende Localisation im Lähmungsgebiet,
rhythmischen Character, die Frequenz der bei Sklerose beobachteten Oscillationen über-
steigende, wandelbare Intentionszittern schwand gänzlich.
Beob. 6. (Souques op. cit. p. 31.)
D., 88 J„ Dachdecker, aufg. 14. 6. 90, hat 1869 au Sumpffieber gelitten, vor
3 J. Lues acquirirt. Vor 1 J. apoplectischer Insult mit 1. Hemiplegie, Sprachstörung,
Trübsehen, angeblich Nystagmus. Besserung. Am 1. 6. beim Erwachen Zittern, Schwindel,
Betäubung, Kopfweh, vermehrte Sprachstörung. Bei der Aufnahme Gang schwankend
wie der eines Betrunkenen, klassisches Intentionszittern, 1. schlaffe Hemiparese, Patellar-
reflex r. schwach, 1. erloschen.
L. sensitivo6ensorielle Hemianästhesie, skandirende Sprache, tremulirende Stimme.
Kopfweh, Betäubung, ^ehstörung. Dieulafoy (Hospital Necker) stellte die hysterische
Bedeutung des Falles fest. In zwei anderen Spitälern hatte man multiple Sklerose
diagnosticirt.
Weitere Fälle: Souques, op. cit. p. 26, 31, 43; Charcot, Progres medical 1890,
Sept.; Bristowe, Diseases of the'nervous System, London 1888; Eendu, Gaz. des böpit.
1890. Nr. 56; Westphal, Archiv f. Psych. XIV, 1; Rendu, Bullet, et mem. de la
societe med. des höp. 1889, p. 181; Edge, The lancet, 1885, Sept.; Maguire, Brain 1888,
p. 71; Wagner, Berlin, klin. Wochenschr. 1880, p. 519; Kolland, Journal de med. de
Bordeaux, 1889; Langer, Wien, med. Presse, 1884; Babinski, These inaugurale, Paris
VortäuBchung von multipler Sklerose. 119
1885; Killian, Dissertat. Strassburg 1878. Francotte, Annal. de la boc. med. chirur.
de Liege 1887.
Die klinische Erfahrung lehrt, dass Verwechslung von Hysterie
mit multipler Sklerose kein seltenes Vorkommen ist. Nur eine genaue
Beobachtung und Anamnese vermag nach Umständen zur richtigen
Diagnose gelangen. Anamnestisch wäre auf Ausbruch der Krankheit
vor dem 40. Lebensjahre, im Anschluss an refrigeratorische Schädlich-
keiten und acute Infectionskrankheiten Gewicht im Sinne einer Sklerose
zu legen. Erkrankung nach einer Gemüthsbewegung muss Präsump-
tionen zu Gunsten hysterischer Bedeutung des Falles erwecken.
Apoplectiformes Einsetzen der Krankheit mit oder ohne Mono- oder
Hemiplegie, Erbrechen, Kopfweh, Schwindel kommt in beiden Krank-
heiten vor.
Die Kriterien, welche für eine hysterische „Apoplexie" sprechen,
habe ich p. 58, die Unterschiede von functioneller und organischer Hemi-
plegie p. 57 besprochen.
Auch der jähe Wechsel der Symptome, das plötzliche Einsetzen
und Zurücktreten von Krankheitserscheinungen findet sich bei Sklerose
und bei Hysterie, bei letzterer aber bei genauem Zusehen in Abhängig-
keit von psychischen Einflüssen.
Aber auch eine Reihe von Einzelsymptomen findet sich bei beiden
Krankheiten vor, jedoch ergaben sich bei genauerem Eingehen Nuancen,
die zur Differenzirung führen können.
Mit Recht macht die Schule der Salpetriere geltend, dass das
hysterische Intentionszittern auch im Zustand der Ruhe erkennbar ist,
dass Intention nur seine Oscillationsamplitude, nicht aber seine Frequenz
vermehrt. Ueberdies ist es in Intensität und Extensität sehr wechselnd,
oft intermittirend , rhythmisch und von seelischen Einflüssen noch viel
stärker beeinflusst, als bei der Sklerose.
Die hysterische Sprachstörung ist viel mehr Stottern, als Skandiren,
sehr wandelbar, emotionell hochgesteigert, bis zum temporären Versagen
der Sprache.
Der vielfach bei Hysterie geläugnete Nystagmus kommt bei dieser
Krankheit vor. Auch hier können sich Paradoxien zeigen, wie z. B. in
meinem Fall 2, wo es sich um Nystagmus verticalis handelte.
Dauernde Störungen der cutanen Sensibilität fand ich nie bei
Sklerose vor, nur flüchtige, gering ausgeprägte und meist im Anschluss
an neue Insulte und Vorstösse der Krankheit. Dauernde Störungen der
tiefen Sensibilität werden beobachtet (Freund), aber ich fand sie immer
nur an den distalen Enden der Extremitäten.
Paradoxes Fussphänomen (Westphal) habe ich nur bei Hysterischen
120 n. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
vorgefunden, nie bei Sklerose. Differentiell diagnostisch entscheidend zu
Gunsten von Sklerose sind positive Augenspiegel (Uhthoff u. A.), beson-
ders die temporale Abblassung der Papille bis zur partiellen Atrophie.
Dieser Befund kommt aber der Sklerose nicht ausschliesslich zu und be-
darf reiflicher Erwägung, um Verwerthung zu finden. In Beob. 3 und
4, die wohl Jedermann der Hysterie zuzählen wird, findet er sich als
Complication des neurotischen Bildes, in 3 wahrscheinlich, in 4 sicher
auf Alkoholmissbrauch zurückführbar. Es muss aber noch daran erinnert
werden, dass Jäger immer darauf hingewiesen hat, dass die Hysterischen
sehr blasse Papillen haben, was er auf einen Gefässkrampf in der Retina
deutete. Jedenfalls kann blosse Abblassung der Papillen nicht auf
einen organischen Process zurückgeführt werden, sondern nur Atrophie
derselben.
Die Sehstörungen bei Sklerose zeigen zwar auch ein wechselndes
Bild, aber nicht so wie bei Hysterie, die brüsk Amaurose herbeiführen
kann. Centrales Skotom scheint nur der Sklerose zuzukommen. Ein-
engung des Sehfelds ist bei Hysterie immer concentrisch, bei Sklerose
in unregelmässiger Form. Nicht selten geschieht es, dass Sklerose für
Hysterie gehalten wird. Charcot und Marie haben nachgewiesen, dass
beide Krankheiten sich oft combiniren, was bei der grossen Häufigkeit
beider nicht auffallen kann. Leicht geschieht es dann, dass bei der
grossen Eülle von hysterischen Symptomen auch der durch Sklerose
vermittelte Rest der Hysterie zugeschrieben wird. Hier ist grosse Vor-
sicht geboten. Es mag Fälle geben, wo nur die Untersuchung mit
dem Augenspiegel die verschleierte organische Krankheit enthüllt, indem
er Atrophie nachweist.
Vortäuschung von Tabes dorsalis.
Beob. 1.
J., Marie, Näherin, 24 J., ledig, wurde am 5. 1. 95 auf der
Klinik aufgenommen.
Hereditäre und acquirirte Lues können bestimmt ausgeschlossen
werden. Die Mutter leidet an constitutioneller simpler Migräne, Pat.
desgleichen seit ihrem 13. Lebensjahr.
Erste Menses mit 16 J. Nach halbjährigem Bestehen setzten
dieselben Jahre lang aus.
Mit 15 J. begann Pat. an zeitweise wiederkehrendem Cystospasmus,
sowie an temporärer relativer Incontinentia urinae et alvi zu leiden.
Seit der Pubertät grosse Erregbarkeit, Emotivität, oft grundloses
Weinen, im Affect Globus.
Seit dem 16. Jahre bemerkte Pat, dass, wenn sie die Füsse herab-
hängen Hess, sodass die Fussspitze den Boden berührte, Zittern der
Beine (Trepidation spinale) eintrat, auch fühlte sie Unsicherheit im
Gehen, besonders auf schlüpfrigem Boden.
Im 19. Jahr (Januar 1890), während eines Migräneanfalles und im
Anschluss an eine heftige Gemüthsbewegung, bemerkte Pat., als sie sich
aus dem Bett erheben wollte, Ameisenkriechen, Zittern, Schwäche,
Gebrauchsunfähigkeit der UE. Sie lag nun 8 Tage angeblich para-
plegisch zu Bett. Dann war sie wieder leidlich gehfähig, aber schwach,
unsicher auf den Beinen, in den Knieen einknickend, überaus rasch
ermüdend. Dabei Kriebeln in den Beinen von den Knieen abwärts.
Besonders schwer fiel ihr das Gehen Nachts im dunklen Zimmer.
Nach zweimonatlicher elektrischer Behandlung vermochte Pat.
wieder ohne Stütze zu gehen, jedoch fiel sie öfter.
Im Juli, 1894 nach Gemüthsbewegung, bedeutende Verschlechterung
des Gehens, d. h. Zunahme von Ataxie, Amyosthenie und anfänglich
beim Gehact Versteifung im Hüft- und Kniegelenk.
Seit October 1894 bemerkte Pat. auch Ungeschicklichkeit bei
feineren Manipulationen. Die Nadel fiel ihr öfters aus der Hand, wenn
122 H. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Pat. nach der Seite blickte; sie musste beständig Acht geben und kam
mit der Arbeit nicht so flink vorwärts.
Vorübergehend leichter Schmerz in der oberen Wirbelsäule. Cessatio
mensium seit September 1894.
Neuerlich wurde das Gehen so schlecht, dass Pat. beständig an
Thürstöcke und Möbel anstiess, sodass sie blaue Flecke davontrug.
Stat. praes. 7. 1. 95.
Pat. mittelkräftig, gut genährt, ohne vegetative Störungen. Schädel
mit querer Einsattelung. Cf. 54 cm.
Bei extremer Seitwärtsbewegung Intentionstremor der Bulbi. Die
Pupillen reagiren normal und zeigen continuirlich Hippus. Gesichtsfeld
beiderseits leicht concentrisch eingeschränkt, keine Dychromatopsie, ge-
ringe Amblyopie auf 1. Auge, Fundus normal. Im Uebrigen von Seiten
der Hirnnerven keine Störung.
An den OE. keine Amyosthenie, kein Rigor, Spur von Intentions-
zittern; in der Ruhe kein Tremor, keine Ataxie, auch nicht bei ver-
bundenen Augen. Tiefe Reflexe erheblich gesteigert.
UE. unsicherer schwankender, oft nach r. übertaumelnder Gang.
Grosse statische Ataxie, verstärkt durch Augenschluss bis zum Umfallen.
Auch beim Stehen mit geschlossenen Augen starkes Schwanken.
Grobe Muskelkraft, bis auf geringe Amyosthenie in den Muskeln
der Fussgelenke, gut.
Sowohl locomotorisch als bei Bewegungen im Bett zeigt sich
Ataxie in den UE.
Rigor besteht weder bei passiver noch activer Bewegung. Die
tiefen Reflexe sind hochgesteigert bis zu Fussklonus, der Plantarreflex
ist lebhaft, die cutane und tiefe Sensibilität intact, gleichwie auch an
den übrigen Körpertheileu. Die ganze Wirbelsäule, das Sternum und
die untere Hälfte des Abdomen sind sehr druckempfindlich.
Die Störung der Statik und der Lokomotion wechselt in der folgenden
Beobachtungszeit überaus. An manchen Tagen repräsentirt Pat. mehr
das Bild einer Tabes, an anderen das einer Friedreichschen Ataxie. Sie
schwankt dann hochgradig beim Gehen, kann ohne auf die Füsse zu
sehen überhaupt nicht gehen, nicht einmal mit geschlossenen Füssen
stehen und fällt dann regelmässig nach r. über. Auch in liegender
oder sitzender Position, z. B. beim Nachfahren einer geometrischen Figur,
besteht erhebliche Ataxie. Gleichwohl ist Pat. im Stande, ziemlich
sicher Springbewegungen zu leisten. An manchen Tagen findet der r.
Zeigefinger bei geschlossenen Augen den 1. nicht.
Am 18. 1. ergänzt Pat. ihre anarr. nestischen Mittheilungen dahin,
dass ihr Leiden durch getäuschte Liebeshofinungen entstanden sei und
Vortäuschung von Tabes dorsalis. 123
dass dazu viel ein an ihr gegen ihren Willen vollzogener Coitus bei-
getragen habe. Die Erinnerung an diese Vergewaltigung sei eine sehr
lebhafte und mit Ekel verbundene.
Nach diesen der Abgleichung eines lange bestehenden Affectes
entsprechenden Mittheilungen und unter bezüglichen Wachsuggestionen
ist am 19. 1. die Ataxie verschwunden, aber auch Fussklonus nicht
mehr hervorzurufen. Der am 28. 1. erfolgte Tod einer Schwester ruft
die Ataxie wieder hervor. Seither wechselndes Verhalten. Auch in
Stunden, wo Pat, sich selbst überlassen, starke, besonders statische
Ataxie zeigt, lässt sich dieselbe durch entsprechende Wachsuggestionen
unterdrücken.
Am 15. 2. 95 rudimentärer hysterischer Insult (Streckkrampf der
OE. und UE. mit leichter Bewusstseinstr Übung),
Unter Gymnastik und Wachsuggestionen allmäliges Schwinden
aller motorischen Störungen. Genesen entlassen am 9. 3. 95.
Eine neuerliche Untersuchung im August 1896 constatirt Fehlen
aller objectiven Symptome. Pat. klagt aber, dass sie nach längerem
Gehen sich unsicher fühle.
ßeob. 2.
K., 31 J., Hilfsarbeiter, stammt aus unbelasteter Familie, war bis
zum 21. Jahr ganz gesund, machte mit 21 J. zuerst Variola, dann
Diphtheritis durch.
Er war massiger Weinpotator, starker Kaucher, hatte viel in Venere
excedirt, war, bis auf Gonorrhoe (1887), von venerischen Erkrankungen
bisher verschont geblieben.
Im Juni 1889, mit 26 J., erkrankte Pat. ohne auffindbare Ursache
an Schmerzen beiderseits im Cruralisgebiet, die in Intervallen von 1 — 5
Tagen auftraten, bis zu 2 Tagen andauerten und der Beschreibung nach
ein durchaus lancinirendes Gepräge hatten. Während dieser Schmerz-
anfälle bestand Harnverhaltung, die jeweils die Anwendung des Katheters
nötbig machte. In schmerzfreier Zeit war die Function der Blase normal.
Anfang 1890 stellte sich unsicherer Gang ein. Er schwankte, war
oft in Gefahr zu stürzen, getraute sich ohne Stock nicht mehr aus-
zugehen, war sehr unsicher beim Treppensteigen; diese Beschwerden
waren sehr vermehrt im Dunkeln. Im Juli kam es zu asthenopischen
Erscheinungen — die Buchstaben wurden beim Lesen undeutlich, ver-
schwommen.
Vom 3. 10. 90 — 5. 3. 91 verweilte Pat. wegen einer Pleuritis im Spital.
Aus dem damaligen Protocoll ergiebt sich Folgendes: R. Ab-
ducens paretisch, im äusseren Sehfeld Doppelbilder, Lichtreaction der
Pupillen träge.
124 n. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Eine anästhetische Stelle (s. u.) auf der Mitte der Stirne; r. Facialis
etwas paretisch, die Zunge beim Vorstrecken nach links abweichend.
Der Proc. spinosus des 11., 12. Dorsal- und 1. Lumbarwirbels druck-
empfindlich. Blitzartiges Zucken der Muskulatur der Oberschenkel. Die
motorische Kraft in den UE. herabgesetzt, r. stärker als links.
Ataxie der OE. und UE., im Dunklen bedeutend vermehrt. Eom-
berg positiv. Am äusseren Rande der r. "Wade unterhalb dem Knie-
gelenk eine 10 cm lange, 5 cm breite, scharf abgegrenzte anästhetische
Stelle. Der Muskelsinn in den UE. aufgehoben (fehlendes Lagebewusst-
sein, mangelndes Gefühl passiver Bewegung in allen Gelenken. Patellar-
reflex sehr prompt; bei Prüfung des Fussreflexes tritt das "Westphal'sche
paradoxe Phänomen ein. Der Plantarreflex hoch gesteigert. Gürtel-
gefühl in der Höhe des Epigastriums, Gang breitspurig, schwankend.
In der Spitalbehandlung bedeutende Besserung all dieser Er-
scheinungen. Die Abducensparese schwand im Februar 1891. Zu gleicher
Zeit Schwinden der Facialisungleichheit und der Zungendeviation.
Von 1891 — October 1894 war Pat. leidlich berufsfähig, jedoch
kehrten ab und zu die Schmerzen im Cruralisgebiet wieder. Wegen
bedeutender Exacerbation dieser suchte Pat. am 13. 12. 94 neuerdings
Hilfe im Spital.
In der letzten Zeit, im Anschluss an Gemüthsbewegungen und
daran sich anschliessenden Potus war Pat unlustig zur Arbeit, reizbar
geworden, hatte Kopfdruckbesch werden, unsicheren Gang und Gefühl
von Eingeschlafensein der UE. beim Erwachen gehabt.
Stat. vom 27. 12. 94: Pat. gross, kräftig gebaut, gut genährt,
ohne pathologischen Befund Seitens der vegetativen Organe, frei von
Spuren einer Lues, bietet negativen Befund im Gebiet der Hirnnerven
bis auf Hypästhesie für alle Qualitäten in einem umschriebenen Haupt-
gebiet auf der Stirne, das von der Nasenwurzel bis zur Haargrenze
reicht und die Mittellinie rechts um 0.5, links um 1 cm. überragt.
Von Seiten der OE. findet sich kein pathologischer Befund, iuf
der r. Bauchseite findet sich eine kleinere, auf der 1. eine grössere
scharfumschriebene beckenförmige Stelle, an welcher die Empfindlichkeit
für alle Hautreize bedeutend herabgesetzt ist. Eine gleiche Zone er-
streckt sich dorsal vom 10. Dorsalwübel bis zur Mitte des Kreuzbeins.
In diesem Gebiet ist jedoch die Perception von Kältereiz erhalten.
Die Wirbelsäule ist vom 11. Dorsal- bis 3. Lumbarwirbel druck-
empfindlich.
Pat. steht mit breiter Unterstützungsbasis und geräth in Schwanken,
sobald diese durch Annäherung der Beine verschmälert wird. Beim
Aufwärtsblicken verstärkt sich dieses Schwanken bedeutend und bei ge-
Vortäuschung von Tabes dorsalis. 125
schlossenen Augen droht er umzustürzen. Der Gang ist breitspurig
classischer Fersengang, strampfend, schleudernd, von der Gehweise eines
vorgeschrittenen Tabikers kaum differirend.
Die motorische Kraft in den UE. ist allenthalben, besonders aber
im Gebiet der Nn. peronei, herabgesetzt, der Muskeltonus jedoch ein guter.
Bei Intention von Bewegungen stellt sich Tremor ein, der bei
Widerstandsbewegungen von Seiten des Arztes sich verstärkt, vorüber-
gehend bis zum Klonismus im Quadriceps cruris und in den Gastro-
cnemii sich steigert. Solcher Klonismus tritt auch bei beliebigen Haut-
reizen im Gebiet der UE. auf.
Rigor besteht weder activ noch passiv, jedoch stellen sich bei
passiven Bewegungen in den Kniegelenken active, wenn auch un-
gewollte Contractionen in den Streckern entgegen.
Der Patellarreflex ist bis zu Klonus gesteigert; beim Yersuch, den
Fussreflex auszulösen, tritt paradoxe Contractur auf.
In der Nabelhöhe, etwa 10 cm breit, besteht ein gürtelartiges
Oppressionsgefühl.
Etwa alle 3 Tage hat Pat. seine Anfälle von lancinirenden
Schmerzen im Gebiet beider Nn. crurales. Auch intervallär ist dieses
Gebiet druckempfindlich. Trophische Störungen, Aenderungen der
elektrischen Erregbarkeit bestehen daselbst nicht.
Die cutane und tiefe Sensibilität erweisen sich im Bereich der
UE. intact, bis auf Hyperalgesie an Dorsum und Planta pedis, sowie
thermische Hypästhesie von den Knieen abwärts bis zu den Zehen,
ferner die schon oben erwähnte Stelle am äusseren Rande der r. "Wade.
Diese etwa handgrosse Stelle ist tactil hypästhetisch. Innerhalb dieser
geometrischen Figur findet sich ein kleinerer Bezirk von Analgesie. In
diesem Bezirke wird überall Kältereiz richtig empfunden, nirgends aber
Wärmereiz, der jedoch ab und zu als „kalt" percipirt wird. Plantar-
reflex hochgradig gesteigert, Bauch- und Cremasterreflex normal. Die
Functionen der Blase ungestört, auch zur Zeit der Schmerzanfälle.
Cutane Reizung im hyperästhetischen Fussgebiet ruft jeweils
maximale Peroneuscontractur hervor.
Druck auf den^N. peroneus am Capitul. fibulae ruft r. prompte
Peroneuscontractur, I. nur eine Contractur des M. tibialis anticus hervor,
die dann von einer solchen in dem Extensor hallucis und den übrigen
Zehenstreckern abgelöst wird.
Das Krankheitsbild erfährt bei längerer Beobachtung Ergänzungen
im Sinne von zeitweisem Globus, beiderseitiger Myodynie („Ovarie") in
der Unterbauchgegend, concentrischer Sehfeldeinschränkung, gelegent-
lichen Ructus. Auffällig ist auch die Emotivität, Impressionabilität und
126 n. VortäuBchung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
der grosse Stimmungswechsel des Kranken. Die Gaumen- und Rachen-
reflexe erweisen sich im Verlauf herabgesetzt.
Die Nn. supraorbitales, sämnitliche Nerven der UE. sind andauernd
sehr druckempfindlich, ab und zu kommt es zu Wadenkrämpfen.
Unter Bädern (24—20° R) Elektrisation , Tonica bessert sich die
Motilität im Laufe des Frühjahrs 1895 bedeutend, die lancinirenden
Schmerzanfälle werden seltener.
Aus einem Stat. praes. vom 19. 5. 95 kurz vor der Entlassung
des Pat. geht hervor, dass die locomotorische Ataxie geschwunden ist
die grobe Muskelkraft sich der Norm nähert. Auffällig bleibt die
statische „Ataxie." Stehen ist nur bei breiter Basis und offenen Augen
gut möglich. Bei geschlossenen Augen tritt Zittern, Schwanken und
Tendenz rückwärts umzustürzen auf, jedoch gewinnt man den Eindruck
dass an diesem Phänomen ein guter Theil psychisch vermittelt ist und
lässt sich das Schwanken durch suggestiven Einfluss erheblich aufbessern.
Die hyperalgetischen Stellen an den Füssen sind geschwunden und mit
ihnen die Möglichkeit, Reflexcontracturen hervorzurufen. Die hyp-
ästhetischen Stellen an Stirn, Abdomen und r. Unterschenkel bestehen
unverändert fort. Sonst ist allenthalben die Sensibilität normal. Die
hyster. Stigmata sind geschwunden.
Bei der klinischen Vorstellung des Pat. im Januar 1895 war die
Diagnose auf Hysterie, wahrscheinlich combinirt mit Neuritis alkoholica
der sensiblen Nerven im Gebiet der Nn. crurales, gestellt worden.
Trotz grosser Aehnlichkeit des Krankheitsbildes mit einer Tabes
musste diese Möglichkeit, wenn auch nur als Complication, abgelehnt
werden, denn die Pupillenreaction blieb intact, die Patellarreflexe waren
gesteigert, desgleichen die plantaren. Dazu die tiefen Remissionen, der
psychisch suggestive Einfluss auf die gestörte Motilität, der intacte
Muskeltonus trotz mehrjähriger Dauer der Krankheit, die auffallende
Kürze des präatactischen Stadiums, die ausschliessbare hereditäre und
acquirirte Lues in der Vorgeschichte des Kranken, der frühe Beginn
der Krankheit mit 26 Jahren.
Für Hysterie sprach Alles, speciell die temporäre Hyperästhesie
der Füsse, genau in der Höhe der Fussgelenke abschneidend, die
temporäre Diathese de contracture im hyperästhetischen Gebiet, die
paradoxe Contractur (Westphal) u. s. w.
Beob. 3. Souques, etude des Syndromes hysteriques
simulateurs. Observ. 53. p. 133.
P., 37 J., Büglerin, aufgen. 29. 11. 88, anscheinend erblich nicht belastet, von
Kindesbeinen an schwächlich, kränklich, verliess ihren Mann, einen Trinker, mit dem sie
in unglücklicher Ehe gelebt hatte, nachdem sie von ihm am 25. 12. 78 ins Wasser
Vortäuschung von Tabes dorsalis. 127
geworfen worden war. Drei Monate später beginnt zunehmende Schwäche der ÜE.
1880 setzen laneinirende Schmerzen ein, zugleich mit Rückenwirbelschmerz und Zu-
ständen ähnlich gastrischen Krisen. Zunehmende Erschwerung des Gehens, Unsicherheit,
zeitweises Einknicken. Nach den Schmerzkrisen oft Stellen cutaner Hyperästhesie.
1889 Sehschwäche, zeitweise Diplopie, erschwertes Harnen.
1890. Seit 2 Jahren Paraplegie der ÜE. Pat. an's Bett gefesselt. Varoequinus-
stellung. Grobe Muskelkraft r. mehr herabgesetzt als 1. Tiefe Reflexe gesteigert. In
OE. Amyosthenie, r. mehr als 1. Fortdauer der Anfälle von lancinirenden Schmerzen,
gastrische Krisen, Verlust der cutanen und tiefen Sensibilität in den DE., der tiefen
in den OE. Am übrigen Körper cutane Hypästhesie. Druckschmerzhaftigkeit der
Dorsal- und Lumbarwirbelsäule.
Pupillenreaction normal, Augenspiegelbefund negativ, Sehfeld nicht eingeschränkt,
geringe Micromegalopsie. Beiderseits Amblyopia yV- Homonyme Diplopie von 1 m
Distanz ab. Leichte Detrusorschwäche. Allgemeinbefinden gut. Vegetative Organe
ohne Befund. Keine Syphilis. Anaesthesia pharyngis. Nie convulsive Anfälle. Launen-
haftes hysterisches Wesen.
Beob. 4. Souques (ebenda, Obs. 54. p. 137).
P., 42 J., Taglöhner, keine sichere hereditäre Belastung, irrelevante Krankheiten,
keine Lues. Im Anscbluss an Typhus abdom. 1890 Paraplegie der UE. mit Anfällen
von lancinirenden Schmerzen in denselben, zugleich mit Gürtel- und Wirbelschmerz.
Allmälig Anfälle von Hysteria gravis mit halluc. Delir. Nach einem derselben setzt
Harnverhaltung ein. Pat. wird launisch, unverträglich, zieht von Spital zu Spital.
Stat. August 1890: Schwieriger Gang, einknickend, mit vorgeneigtem Körper,
kleinen Schritten, atactisch, die Füsse sich überkreuzend, bei Augenschluss Umstürzen.
Schmerzanfälle, Gürtel- und Wirbelschmerz unverändert. Grobe Muskelkraft in UE. und
OE. sehr vermindert. Tiefe Reflexe normal. Retentio urinae. Cutane Anästhesie für
alle Qualitäten allenthalben, bis auf 8 sensible Inseln auf r. Gesichtshälfte. Anaesthesia
pharyngis. Hysterogene Zonen an r. Hüfte und an der Wirbelsäule (Lumbodorsal-
region), beiderseits concentr., Sehfeldeinschränkung. Achromatopsie. Fundus normal
Pupillen mittelweit, träge auf Licht und bei Accomodation reagirend.
Ageusie, Anosmie, Hypacusie. Keine vegetativen Störungen.
Beob. 5. Souques (ebenda. Obs. 55).
A., 36 J., Typograph, aufg. Juli 1890 unbelastet, frei von Lues und Alkoholismus,
gesund bis auf Sumpffleber und Typhus vor vielen Jahren, erkrankte Ende 1889 nach
heftiger Gemüthsbewegung an Morb. Basedow., trieb abus. Morphii, bekam seit
3 Monaten lancin. Schmerzen in den UE., Gürtelgefühl und gastrische Krisen.
Bei der Aufnahme keine Ataxie, aber Unsicherheit und Schwanken beim Um-
wenden. Romberg positiv.
Patellar-, Triceps- und Plantarreflex fehlt, desgleichen der Pharynxreflex. Teppich-
gefühl unter den Füssen. Schmerzhafte, hyperästhetische Zonen an Abdomen und
Wirbelsäule. Cutane Anästhesie für alle Qualitäten sonst überall, Anästhesie von
Conjunctiva und Mundhöhle. Gefühl passiver Bewegung und Lagevorstellung allent-
halben erloschen. Druckempfindlicbkeit der Schenkelmuskeln. Anosmie, Ageusie,
Hypacusie, concentr. Sehfeldeinschränkung, Dyschromatopsie, ausser für Grün und Roth.
L. Amblyopie,' monoculäre Diplopie und Micromegalopsie. Möbiussymptom. Aus-
gesprochener Morb. Basedowii. Grosse Emotivität und Reizbarkeit.
Beob. 6. Leval Piquechef (des Pseudotabes, These de Paris 1885).
0., 39 J., Schneiderin, aufg. Mai 1885, Belastet, emotiv, mit Migräne behaftet.
Vor 4 J. Beginn mit Wirbelschmerz, lancin. Gürtelschmerz, Schwäche der UE.,
128 II. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
gastrischen Krisen. Später Diplopie, Amblyopie, Schwindel. Bei der Aufnahme:
Spinalirritation, lancin. Schmerzen, r. herabgesetzter Patellarreflex , Pupillen normal
schwankender, unsicherer, leicht atactischer, bei geschlossenen Augen sehr er-
schwerter Gang.
Allgemein verlangsamte Apperception für cutane Reize, leichte Analgesie,
Pharynxanästhesie, Ameisenkriechen in den Fingern, tiefe Sensibilität intact, keine
Sphincterbeschwerden. Leval diagnosticirt Tabes, Huchard, Hysterie. Easche Genesung
unter Wachsuggestionen.
Beob. 7. Lecorche und Talamon (etudes medicales 1881,
p. 550).
M., 23 J., Kammerfrau, aufg. Februar 1879. Nach heftigen Gemüthsbewegungen
Schmerzen im Epigastrium und r. OE., Vertaubung in r. OE., dann solche, nebst
Formieation und Verkrampfung in beiden UE., Gürtelgefühl um Abdomen und Ataxie
der UE.
Globus, Emotivität, Lachen und Weinen ohne Anlass, Ovarie; Druck daselbst
provocirt Globus. Anästhesie der Conjunctiva. Vertaubung, Versteifung, Ungeschick-
lichkeit der r. Hand. Schleudernde Ataxie der UE., Andeutung von Romberg. Sensi-
bilität intact, dito grobe Muskelkraft und Sphincteren. Tiefe Reflexe gesteigert. Keine
lancin. Schmerzen.
Beob. 8. Michaut (contribution ä l'etude des manifestatkms de
l'hysterie chez l'homme, These de Paris 1890).
P., 33 J., Kaufmann, aus belasteter Familie, keine Lues, kein Alkohohsmus. Vor
2 J. Beginn mit Formicatio pedum, Teppichgefühl unter den Füssen, schwankendem,
unsicherem Gang. Allmälig Schwäche der Beine, Anästhesie, Verlust der 1 age-
vorstellung, schwere Coordinationsstörung.
Bei der Aufnahme classische Erscheinung schwerer tabischer Ataxie. Rom-
berg positiv.
Verlust der Lage Vorstellung und des Gefühls passiver Bewegung in den UE. Knie-
reflexe gesteigert. Complete Anästhesie derUE. in der Höhe der Kniescheibe ringförmig ab-
schneidend. Von da aufwärts überall Hypästhesie, besonders algetische, ausgenommen
hyperästhetische Zonen an Hüften, drei obersten Dorsalwirbeln und unter 1. Mamma.
Fehlender Pharynxreflex. L. Hyposmie, Herabsetzung der Sehschärfe. Keine lancin.
Schmerzen, keine Krisen, keine Augensymptome. Leichte Detrusorschwäche. Pat.
wurde anfänglich für einen Tabiker gehalten.
Beob. 9. Pitres (Archives de Neurologie, 1888 Mai).
Mann, 40 J., unbelastet, frei von Lues und Alkoholismus. 1877 beginnen lancin.
Schmerzen, 1880 Gürtelschmerz, unsicherer Gang, Gefühl von Geschwollensein der
Füsse, sexuelle Erregung, gefolgt von Frigidität. Romberg'sches Symptom. Bis 1886
Blasenstörung, Tenesmus recti, gastrische Krisen, klonische lancin. Schmerzen, locomo-
torische Ataxie. Tiefe Reflexe erhalten, keine Augensymptome. Diagnose: Tabes.
Tod an Pleuritis. Bei der Autopsie macro- und microscopisch Hinterstränge, hintere
Wurzeln und periphere Nerven intact.
Beob. 10. Higier (Wiener Min. Wochenschrift 1895. 1. 2. 3.)
R., 15 J., aufgen. 17. 10. 92, anscheinend unbelastet, war schon vor einem Jahr
9 Wochen hindurch in derselben Weise krank gewesen.
Seit 6 Wochen Schwäche, Taubheit der Beine, erschwertes Stehen, Unfähigkeit
zu gehen (Astasie und Abasie) mit Ueberkreuzen und Zusammenknicken der Beine
bei Varoequinusstellung. Romberg. In liegender Position Muskelkraft gut, alle Einzel-
Vortäuschung von Tabes dorsalis. 129
bewegungen erhalten, etwas Ataxie. Verlangsamte Schmerzleitung. Plantarreflex er-
halten, Patellarreflex fehlend. Hirnnerven und OE. intact. Hypalgesie nnd thermische
Hypästhesie in UE., lancinirende Schmerzen, Gürtelgefühl in Nabelhöhe. Verminderte
und retardirte faradocutane Sensibilität. Nach einigen Tagen verlangsamte Empfindung
und Spur von Ataxie auch in OE. Lagegefühl in Zehen und Pussgelenken gestört.
Vom 30. 11. ab Besserung — Schwinden von Schmerzen, Ataxie, Sensibilitäts-
störung, Wiederkehr der Gehfähigkeit. „Ovaria" duplex. Concentr. Einengung des
Sehfelds. Am 17. 1. 93 genesen entlassen, bei jedoch fehlendem Patellarreflex.
Analoge Fälle von Pitres (Gaz. med. de Paris 1890, 20. Sept., Mann betreffend),
von Mader (Wien. med. Presse 1885, p. 143, Weib, Diagnose: Myelitis, spontane
Heilung) v. Grasset und Apollinaris (Gaz. hebdomad. 1878, Nr. 8), Mann, für Tabes
irrthümlich gehalten v. Eaymond und Vulpian (These de Michaut, Paris, Mann
betreffend).
Die folgenden vier Beobachtungen sind von mir im Deutschen
Archiv für klinische Medicin IX, 1871, als Fälle von durch galvanische
Behandlung geheilter oder gebesserter Tabes veröffentlicht worden. Ich
bringe sie hier zum Abdruck, theils um meinen damaligen Irrthum —
handelt es sich doch um nicht tabische, sicher functionelle, in 1 und 3
bestimmt um hysterische Fälle — zu corrigiren, theils um den damaligen
unsicheren Standpunkt der Diagnostik zu charakterisiren, da Argyll
Robertsons's Zeichen in seiner Bedeutung noch nicht klar, Westphal's
Zeichen noch unbekannt und das Ophthalmoscop noch ungewohnt war.
Eine analoge Beurtheilung verdienen wohl alle Fälle von angeblich
geheilter Tabes, bezüglich welcher Romberg's triste Prognose nur zu
wahr sein dürfte.
Beob. 11.
Frau F., 24 J., ohne erbliche Anlage zu Neurosen, von Kindheit auf schwächlich,
mit 16 J. menstruirt, seit ihrer ersten Schwangerschaft vor 3 Jahren dysmenorrhoisch,
wurde am 19. April 1868 zum zweiten Mal entbunden. Etwa am 8. Tage des Puer-
perium traten bohrende nagende Schmerzen in den unteren Extremitäten, namentlich im
rechten Unterschenkel auf, die bald im rechten Arm, im Nacken und den Eücken herab
sich zeigten, die Nachtruhe störten, nach einigen Tagen später sich verloren, aber in
der Folge alle 3 — i Wochen in gleicher Heftigkeit wiederkehrten. Dazu gesellten sich
lästige Gürtelgefühle um die ganze Taille herum, Ameisenkriechen und pelziges Gefühl
in den Extremitäten. Die Hände wurden schwach, zitterig und etwas unsicher. Zeit-
weise sah Pat. wie durch einen trüben Schleier, hie und da auch die Gegenstände
doppelt. Seit etwa '/a Jaar gesellten sich locomotorische Störungen hinzu — das Gehen
wurde unsicher, wenig ausdauernd, sie strauchelte selbst auf ebenem Boden, klagte über
ein lästiges spannendes Gefühl um die Kniee herum, schwankte stark beim Umdrehen
und war im Dunkeln fast ausser Stand, im Hause umherzugehen.
Stat. praes. am 13. Mai 1870: mittelgrosser, graciler Körper. Bei angestrengtem
Sehen nach links und aussen treten Doppelbilder auf, nach allen übrigen Eichtungen
werden die Gegenstände einfach gesehen. Das linke Auge amblyopisch und nur Finger
zählend. Dornfortsätze der Brust- und Lendenwirbel auf Druck empfindlich. Die Be-
wegungen der rechten oberen Extremität etwas unsicher, von geringer Ausdauer.
Krafft-Ebi ng, Arbeiten II. "
1 30 H. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
Schmerz-, Temperatur- und Tastempfindung rechts vermindert, hei guter Localisation,
links sowohl ad motum als ad sensum normale Verhältnisse.
Dieselben Differenzen bezüglich der Sensibilität finden sich zwischen rechts und
links an den unteren Extremitäten. Während sie links nahezu normal ist, besteht
Analgesie und Verlust der tactilen Empfindung rechts bis zu dem Mittelfuss; in der Mitte
der Planta pedis findet sich Analgesie, aber tactile Empfindung und gegen die Ferse
zu nehmen Schmerz- und Tastempfindung gleichmässig ab. Reflexbewegungen werden
von der rechten Fusssohle aus nicht erzeugt, während sie links normal sind. Kechts
werden passive Bewegungen im Fussgelenke nicht empfunden, auch active Bewegungen
sind bei verbundenen Augen erschwert und gelangen nicht deutlich zum Bewusstsein.
Der Gang ist breitspurig, schwerfällig, unsicher. Beim Umdrehen und Stehen
mit geschlossenen Fersen tritt starkes Schwanken ein. Verbindet man die Augen, so
droht Pat. sofort umzufallen. Sie ermüdet bald beim Gehen, kann aber noch Gänge
von Vs Stunde machen. Vermag nicht frei auf einen Stuhl zu steigen, Stiegensteigen
sehr mühsam.
Die Exploration der Genitalien ergab negativen Befund. Pat, die Anfangs zu
warm gebadet und dadurch sich viel unsicherer und schwächer befunden hatte, bekam
nun täglich Thermalbäder von 25 °B. und wurde mit stabilen Eückenmarksströmen und
labilen Rückenm.-Feronäusströmen behandelt.
Schon nach wenigen Tagen zeigte sich subjectiv und objectiv erfreuliche
Besserung. Am 22. Mai, nach der 7. Sitzung, fand ich den Gang sicherer, aus-
dauernder; sie konnte mit verbundenen Augen bereits stehen und auch ein paar
Schritte machen. Die Schmerz- und Tastempfindlichkeit war auf der r. oberen und
unteren Extremität überall wiedergekehrt, aber noch sehr herabgesetzt, Reflexe von
der rechten Fusssohle aus noch nicht zu erzielen. Die Abducensparese war ohne
directe Behandlung gewichen, so dass selbst bei Accommodation für ganz nahe Gegen-
stände keine Doppelbilder mehr auftraten. Auch die Amblyopie des 1. Auges gebessert,
so dass Pat. grosse Druckschrift lesen konnte.
Nach 13 weiteren Sitzungen (13. Juni) war es weder mir, noch Hrn. Dr. Wil-
helmi, der mit mir Pat. behandelte, möglich, irgend welche Symptome des früheren
Leidens wahrzunehmen. Pat. hatte ohne unspr Vorwissen Tags zuvor einen 2000'
hohen Berg erstiegen, ohne durch diesen Excess besonders ermüdet zu sein, stieg frei
auf Stühle, ging vollkommen sicher mit verbundenen Augen und zeigte nicht mehr die
geringste Coordinationsstörung ihrer Bewegungen. Auch die Sensibilität war rechts
nach allen Qualitäten zur Norm zurückgekehrt, die Reflexerregbarkeit auch im rechten
Bein vollkommen vorhanden. Die Genesung hat sich seit 6/4 J. ungetrübt erhalten.
Beob. 12.
Hr. J., Hauptmann, 40 J., ohne erbliche Anlage, von kräftigem Körperbau und
solidem Lebenswandel, hatte die Strapazen des Krieges gegen Frankreich erfahren, viele
Erkältungen und Durchnässungen auf Märschen und in Bivouaks zu bestehen gehabt und
im Gefecht bei Nuits am 18. Dec. 1870 eine schwere Verwundung im linken Ellbogengelenk
erlitten. Während des nun folgenden Krankenlagers trat quälende Schlaflosigkeit und
hartnäckige Stuhlverstopfung auf. Als er Mitte März 1871 das Bett verlassen konnte,
bemerkte er pelzige Gefühle in den unteren Extremitäten und der rechten Haml,
Ameisenkriechen, Unsicherheit beim Gehen und flüchtige, zuckende Bewegungen in ein-
zelnen Muskelgruppen der Beine, bei gleichzeitig erheblieh gesteigerter spinaler Keflex-
erregbarkeit, sodass Pat. bei geringem Anlass oft heftig zusammenfuhr. Nach einigen
Wochen gesellte sich Parese des Detrusor urinae auf zeitweise lästigen Harndrang
Vortäuschung von Tabes dorsalis. 131
hinzu. Vor 2 Monaten wurden die Bewegungen der Hände unsicher und zitterig, seit
14 Tagen stellte sich Amblyopie und zeitweises Doppelsehen ein.
Stat. praes. am 16. Mai 1871: Linksseitige Abducensparese; beide Opticus-
scheiben stark gerötbet, der innere Rand der linken etwas verwischt. Das rechte Auge
in geringerem, das linke in bedeutendem Grad amblyopisch. Schon beim Sehen in die
Ferne tritt ab und zu Doppelsehen ein, das bei Accommodation für die Nähe beständig
vorhanden ist. Die Doppelbilder entfernen sich in dem Maasse, als die Objecte nach
der Seite des kranken Auges verschoben werden, jenseits der Mittellinie sieht Pat. ein-
fach. Geringer Grad von Ataxie in den Händen nebst lästigem Gefühl von Pelzigsein
in denselben, ohne wirklich nachweisbare Sensibilitätsstörungen. In den unteren Ex-
tremitäten, bei erhaltener Muskelkraft, ausgesprochene Coordinationsstörungen , breit-
spuriger, unsicherer Gang mit Hahnentritt, starkes Schwanken beim Umdrehen. Der
Eomberg'sche Versuch fällt negativ aus, Anomalien der Sensibilität sind nicht nach-
weisbar. Pat. steigt nur mühsam und unter starkem Schwanken frei auf einen Stuhl,
ermüdet rasch beim Gehen. Auf seit einigen Tagen genommene Thermalbäder von
29° R. fühlte er sich jedes Mal sehr ermattet und viel unsicherer, weshalb diese aus-
gesetzt wurden. Ich bebandelte nun Pat. mit möglichst starken galvanischen Strömen,
stabil, ohne Rücksicht auf die Stromesrichtung, täglich 5 Min. lang längs dem Rücken-
mark, wobei die eine Elektrode möglichst hoch am Nacken wegen der Augensymptome
applicirt wurde. Damit wurde örtliche galvanische Reizung des paretischen M. rectus
extern, verbunden. Schon nach der 2. Sitzung fand ich zu meiner Freude und Ueber-
raschung Gang und Sehen gebessert. Das Doppelsehen trat nur mehr bei Accom-
modation für ganz nahe Gegenstände und bei forcirtem Sehen nach links ein, auch
näherten sich die vor der Sitzung um 2 — 3" entfernten Doppelbilder jedes Mal nach
derselben bis auf 7a"- Nach etwa 5 Sitzungen konnte Pat. wieder die feinste Schrift
lesen. Während aber in der Folge sowohl die Gefühle von Pelzigsein, als auch die
locomotorischen Störungen vollständig verschwanden, gelang eine vollständige Beseitigung
der Augenmuskellähmung in keiner Weise. Als Pat. am 11. Juni nach der 21. Sitzung
entlassen werden musste, bestand noch ein geringer Grad von Amblyopie und Parese
des Rect. ext. auf dem linken Auge fort. Die spinale Reflexerregbarkeit war noch ge-
steigert, die locomotorischen Functionen waren ganz zur Norm zurückgekehrt. Die Be-
handlung wurde ganz in derselben Weise noch 4 Wochen von Hrn. Dr. Maier in Karlsruhe
fortgesetzt, ohne dass aber eine weitere Besserung des Augenleidens zu erzielen war.
Auch stellte sich Ende Juni vorübergehend wieder einmal unsicherer Gang ein. Pat-
ging nun zur Erholung in die Schweiz. Anfang October sah ich ihn wieder, vollkommen
genesen, im Stande, die grössten Bergtouren zu machen und seit einigen Wochen voll-
ständig befreit von den letzten Spuren seiner Abducensparese.
Beob. 13.
Justine L., 26 J., ledig, ohne erbliche Anlage zu Neurosen, früher gesund, bekam
mit etwa 13 J. eine schwere fieberhafte Krankheit, von der an sie sich nicht mehr
recht erholte. Sie litt in den 2 folgenden Jahren an mannigfachen hysterischen Be-
schwerden, brachte den grössten Theil dieser Zeit im Bett zu und kam durch nervöses
Erbrechen sehr von Kräften. Etwa mit 16 J. (feuchte, ungesunde Wohnung als Ur-
sache?) entwickelte sieh die gegenwärtig noch bestehende Krankheit. Sie habe einen
schwankenden, unsicheren Gang bekommen, im Dunkeln gar nicht mehr gehen können
und ab und zu einen trüben Schein vor den Augen gehabt. Mit 17 Jahren traten dif>
Menses ein, ohne Aenderung des Befindens. In den folgenden Jahren langsame Zu-
nahme der Gehstörungen, häufig Gefühle von Kälte und Taubsein in den Beinen. Vom
132 II. Vortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
20. — 25. Jahre blieb sich der Zustand wesentlich gleich. Sie konnte zur Notb allein
durch die Strassen gehen, fiel aber oft zu Boden; besonders schwer war das Stiegen-
steigen. Beim Gehen kam sie oft zwangsmässig in immer schnellere Bewegung hinein.
Auf eine Badekur in Baden (33 Wannenbäder) im Sommer 1868 Besserung.
Stat. praes. am 26. Juni 1869: kräftig gebaute, gut genährte Person von unter-
setztem Körperbau. Ausser hartnäckiger Verstopfung alle vegetativen Functionen un-
gestört. Massiger Grad von Nystagmus beider Bulbi, Insufficienz des M. rectus ext.
ocul. sin.; Amblyopie auf dem linken Auge. Bewegungen der Finger verrathen einen
geringen Grad von Ataxie. Der Gang ist sehr unsicher; kleine trippelnde Schritte,
kommt oft zwangsmässig auf die Ferse zu stehen, kann nicht in gerader Linie gehen,
beim Umdrehen starkes Schwanken. Bei verbundenen Augen sinkt Put. sofort zu
Boden. Treppensteigen sehr mühsam, Gehen bis zu l/a St. Dauer möglieh, aber sehr
ermüdend. Die Sensibilität erweist sich nach allen Richtungen unversehrt. Unter
Fortgehrauch der Thermalbäder Versuch einer Behandlung mit dem galvan. Strom
längs der Wirbelsäule. Schon nach wenig Sitzungen war Pat. im Stande, bei ver-
bundenen Augen zu stehen und einige Schritte zu machen. Auch die Sicherheit und
Ausdauer im Gehen gewannen ersichtlich. Jede Sitzung markirte einen weiteren Fort,
schritt; musste die Behandlung wegen der Menses einige Tage ausgesetzt werden, so
zeigte sich sofort wieder Verschlimmerung. Nach 32 Sitzungen musste die Behandlung
abgebrochen werden. Die Augenstörungen waren wenig, die locomotorischen Beschwerden
erheblich gebessert. Pat. konnte mit verbundenen Augen durchs Zimmer gehen und
bei unverschlossenen Wege von l]/2 — 2 Stunden, ohne besonders müde zu werden, machen,
frei auf einen Stuhl steigen und ziemlich gut treppauf- und abgehen.
Am 23. Mai 1870 kam Pat. wieder zur Behandlung. Der gebesserte Zustand
hatte sich, geringe Schwankungen abgerechnet, erhalten; Pat. war im Stande gewesen,
die verschiedensten Hausgescbäfte zu besorgen. 25 weitere Sitzungen im Sommer 1870
erzielten keine fernere Besserung.
Der Winter 1870/71 verlief gut, Pat. konnte selbst auf eisigem Boden sicher
gehen. Im Mai fand ich sie in demselben gebesserten Zustande, in dem sie entlassen
worden war; der Gang war sicher, ausdauernd, nur hier und da hatte sie das Tempo
desselben nicht in der Gewalt; schwankte etwas beim Umdrehen mit geschlossenen
Füssen und kam zuweilen auf die Fersen zu stehen. Entziehung des Lichts durch
Verschluss der Augen hatte durchaus keinen verschlimmernden EinSuss mehr aufs
Gehen. Die früher vorhandenen Parästhesien in den Beinen und die Augensymptome
waren sämmtlich verschwunden. Auch bei einer weiteren Serie von 21 Sitzungen ge-
lang es nicht, die letzten Spuren des Leidens zu tilgen, doch war Pat. bei der Ent-
lassung vollkommen arbeits- und erwerbsfähig.
Beob. 14.
Leopold M., 26 J., Metzger, früher gesund, von solider Lebensweise, ohne erbliche
Anlage, kam im Juli 1871 in meine Behandlung wegen fortschreitender Bewegungs-
störungen in den unteren Extremitäten, die seit einem Jahr sich eingestellt hatten. Als
Ursache des Leidens ergab sich mit grosser Wahrscheinlichkeit die äusserst feuchte
und ungesunde Wohnung zu ebener Erde, die Pat. bisher inne gehabt hatte.
Das Leiden hatte mit zunehmender Unsicherheit, Schwächegefühl, Ameisen-
kriechen, Pelzig- und Taubsein in den Beinen, namentlich dem linken, begonnen. Oft
hatten sich im Verlauf blitzende, bohrende Schmerzen in den unteren Extremitäten
eingestellt. Im Dunkeln war Pat. öfters hingefallen, Treppensteigen und Umdrehen
wurden immer schwieriger, das Gehen so ermüdend und unsicher, dass Pat. sich
genöthigt sah, zu Hause zu bleiben, wo er mit einem Stock im Zimmer umherwankte. A:s
Vortäuschung von Tabes dorsalis. 133
ich ihu zum ersten Mal im Januar 1871 sah, bot er das Bild einer vorgeschrittenen,
aber auf die unteren Extremitäten beschränkten Bewegungsatasie mit exquisiter Ver-
schlimmerung der Störung, sobald die Augen geschlossen wurden. Blase und Mast-
darm waren intact, desgleichen fehlten Complicationen von Seiten der Hirnnerven. Da
eine Behandlung mit dem constanten Strom nicht ausführbar war, rieth ich zu kalten
Abreibungen, auf die auch eine geringe Besserung sich einstellte; Argent. nitric, von
dem Pat. während der letzten 4 Monate 5,2 gr erhalten hatte, erzielte keinen
weiteren Erfolg.
Am 26. Juli fand sich Pat. wieder bei mir ein, um „einen letzten Versuch mit
der Elektricität" zu machen.
Pat. ist schlank gewachsen, kräftig gebaut, etwas anämisch. Die Ataxie ist auf
die unteren Extremitäten beschränkt, aber hochgradig; Locomotion schwierig, kaum 5'
lang und nur mittelst Stock möglich. Bei geschlossenen Augen tritt sofort starkes
Schwanken ein. Das Gehen erfolgt langsam, schleudernd, Pat. vermag keine gerade
Linie einzuhalten.
Dabei Gefühle von lästiger Muskelspannung in den Waden, als ob die Sehnen
zu kurz wären, zeitweise blitzende, bohrende Schmerzen im Verlauf der Nn. ischiadici,
namentlich bei Witterungswechsel; Gefühle von Kälte, Pelzigsein und Ameisenkriechen.
Im ganzen Gebiet des äusseren Astes des N. peronaeus dext. ist bei erhaltener
Schmerzempfindlichkeit die Tastempfindlichkeit aufgehoben ; im Bereich des N. plantaris
externus findet sich Tast- und Schmerzempfindlichkeit sehr herabgesetzt, die Localisation
der Eindrücke sehr gestört; im Uebrigen sind die sensiblen Functionen intact. Während
von der rechten Fusssohle aus Reflexbewegungen nicht ausgelöst werden können, zeigt
sich die Reflexerregbarkeit linkerseits entschieden gesteigert, sodass Hautreizung der
1. Fu8Ssohle bis zu l/a Min. andauernde, clonische Krämpfe im betr. Bein hervorruft.
Die Einzelbewegungen in den unteren Extremitäten geben ungestört von Statten;
nirgends bestehen Paresen, die volle Muskelkraft ist allenthalben vorhanden.
Die Behandlung bestand in täglichen Applicationen möglichst kräftiger constanter
Ströme längs der Rückenwirbelsäule und in labiler Ka-Reizung des rechten N. pero-
neus. Ein günstiger Erfolg bezüglich grösserer Sicherheit und Ausdauer in den loco-
motorischen Functionen gab sich schon nach der 4. Sitzung objectiv zu erkennen.
Deutlich zeigte sich auch hier, dass die Stromesrichtung völlig gleichgültig für den
Heilerfolg war. Bis zu Anfang September unterzog sich Pat. täglich der angegebenen
Behandlung, aus der er leider dann, Familienverhältnisse halber, austreten musste. Das
Resultat der Behandlung war bei der Entlassung folgendes: Die Parästhesieen und
Anästhesieen sind vollkommen beseitigt, die Schmerzanfälle seit 4 Wochen nicht
wiedergekehrt. Pat. schwankt nicht mehr bei verbundenen Augen, geht vielmehr
sicher in der Stube umher. Das Gefühl voller Kraft, Sicherheit und Ausdauer ist in
den Beinen wiedergekehrt. Spaziergänge von 1—2 Stunden Dauer sind möglich und
nicht ermüdend. Nur auf unebenem Boden und beim Treppensteigen zeigt sich noch
eine Spur von Unsicherheit, die aber nur einem geübten Auge bemerklich wird.
Ende October eingezogene Erkundigungen ergaben, dass der an Genesung
grenzende Zustand von Besserung sich erhalten hat, Pat. sich ganz gesund fühlt und
vollkommen im Stande ist, seinem beschwerlichen Beruf als Metzger obzuliegen.
Die Verwechslung der hysterischen Imitation der Tabes mit wirk-
licher ist heutzutage bei reiflicher Prüfung des Falles nicht mehr gut mög-
lich. Dass aber der Stat. praesens nicht immer vollen Aufschluss gewähren
kann, lehrt ein von Petit berichteter Fall eines Mannes, der seit 6 J.
134 H. Yortäuschung organischer Erkrankungen des Nervensystems durch Hysterie.
mit Ataxie und anderen tabesartigen Zeichen behaftet, von sechs Pariser
Sommitäten als Tabes diagnosticirt wurde, gleichwohl eines Tages im
brünstigen Gebet in Lourdes plötzliche Genesung fand. Man muss zu-
geben, dass die Hysterie fast alle Functionsstörungen der Tabes imitiren
kann, sogar lancinirende Schmerzen, Augenmuskellähmungen, Blasen-
störung, gastrische Krisen und classische Ataxie locomotrice. Aber
Opticus- Atrophie, reflectorische Pupillenstarre, gewisse trophische Störungen
der Tabes (Arthropathien, Mal. perforant u. dergl.) hat sie nicht aufzu-
weisen. Es scheint mir auch unwahrscheinlich, dass sie den Verlust
des Patellarreflexes bieten kann, obwohl zugegeben werden muss,
dass er von ausgezeichneten Beobachtern (vgl. Beob. 5, 6, 10) constatirt
wurde.
In solchen Fällen bleibt immerhin die Möglichkeit eines Irrthums
oder einer Complication. Erst weitere Beobachtungen können diese
wichtige diagnostische Frage klären.
Verlegenheiten werden sich nur da für die Diagnose ergeben,
wenn die Anamnese unklar ist, im Stat. praesens der Fall entschieden
werden soll und die erwähnten classischen Tabessymptome zur Zeit oder
überhaupt nicht nachweisbar sind. Unter allen Umständen sind laDci-
nirende Schmerzen, gastrische Krisen, Blasenstörungen und Ataxie für
die Diagnose nicht ausreichend.
Der weniger erfahrene Praktiker sollte nie vergessen, dass Ataxie
locomotrice nicht = Tabes ist. Dagegen wird oft gefehlt und polyneuri-
tische (besonders postdiphtheritische und alkoholische) Ataxie mit der
fatalen Rückenmarkskrankheit verwechselt.
In zweifelhaften Fällen berücksichtige man die Aetiologie des
Falles! Eine acut nach psychischem Trauma bei einem jugendlichen
weiblichen Individuum aufgetretene Ataxie weist bestimmt auf hysterische
Pseudotabes hin. Wenn auch der Streit bezüglich der luetischen Be-
gründung der Tabes noch nicht ausgetragen ist, so muss doch die Aus-
schliessbarkeit von hereditärer oder acquirirter Syphilis in der Annahme
einer Tabes höchst vorsichtig machen, bei positivem Nachweis der Lues
den Verdacht auf Tabes bestärken.
In einer Reihe von Fällen der hysterischen Pseudotabes war der
Ausbruch der Krankheit ein acuter. Die wirkliche Tabes zeigt immer
einen schleichenden Beginn.
Versucht man einzelne der Tabes wie der Hysterie gemeinsame
Symptome auf feinere Unterschiede zu prüfen, so kommen die regionären
Anästhesieen in erster Linie in Betracht. Oulmont (Soc. de biologie 1877,
17. Febr.) findet diese bei Tabes meist symmetrisch, an gewissen Prädi-
lectionsstellen (Wangen, Sternuni, Nabel, Ulnarisgebiet, Finger, Knie,
Vortäuschung von Tabes dorsalis. 135
Malleolen, Fersen, Fusssohlen, Zehen) und von ganz unregelmässiger
Ausbreitung, während die hysterischen asymmetrisch und geometrische
Figuren repräsentirend seien. Diese Angaben treffen vielfach zu, be-
dürfen aber weiterer Untersuchungen, um diagnostische Sicherheit bieten
zu können.
Dass die Schmerzanfälle bei Hysterie das Ulnarisgebiet verschonen,
wie Souques findet, kann ich aus eigener Erfahrung nicht bestätigen.
Die Dysurie dürfte bei Pseudotabes wohl immer durch Spasmus
sphincteris bedingt sein (der Katheter dringt schwer ein und wird bei
Versuchen, ihn zu entfernen, festgehalten), während die der Tabiker auf
Detrusorschwäche beruht.
Die Ataxie der Hysterischen ist eine äusserst wandelbare, ganz be-
sonders durch psychischen Einfluss. Dies gilt auch für das Eomberg'sche
Symptom, soweit es nicht durch Verlust der tiefen Sensibilität ver-
mittelt ist.
Ein beiden Krankheiten gemeinsames Symptom ist das plötzliche
Versagen der Beine, bis zur nach Umständen länger dauernder Para-
plegie. Auch dieses Symptom bedarf einer vergleichenden Studie. Bei
Hysterischen schien es mir immer im Sinn einer temporären Astasie
aufzufassen, während es bei Tabes eine wirkliche und totale Insufficienz
der UE. darstellte.
Was die Augensymptome betrifft, so handelt es sich bei Tabes um
durch Kern- oder periphere Nervenaffection vermittelte Lähmungen isolirter
Muskel, die allerdings mehrfach an demselben Auge auftreten können,
bei Hysterie dagegen meist um associirte Lähmungen oder auch um Vor-
täuschung von Lähmung durch Spasmus von Antagonisten; die Ein-
engung des Sehfeldes ist beim Tabiker eine mehr unregelmässige, bei
Hysterie eine streng concentrische. Die Achromatopsie erfolgt bei dieser
genau nach Maassgabe der Einengung des Sehfeldes und als Folge dieser,
wobei bekanntlich die Perception der rothen Farbe am längsten fort-
besteht, während Grün- und Kothblindheit zu den frühesten Symptomen
der tabischen Amaurose gehört.
III.
ZUR ATHETOSIS BILATERALIS.
Ein Beitrag zur Athetosis idiopathica
bilateralis.*)
Die Seltenheit des Vorkommens doppelseitiger idiopathischer Athe-
tose gegenüber Fällen von halbseitiger symptomatischer (posthemi-
plegischer), das Dunkel, das über Pathogenese und Localisation dieser
merkwürdigen, von Hammond 1871 zuerst beschriebenen motorischen
Neurose schwebt, rechtfertigen wohl ohne Weiteres die Mittheilung des
folgenden Falles. Er ist geeignet, die Bedeutung des ursächlichen
Momentes einer Erkältung, selbst ohne gleichzeitige Endocarditis (Fall
von Leube) plausibel zu machen, und ist ein um so reinerer Fall, als
er bei einem bisher psychischer und physischer Gesundheit sich er-
freuenden Individuum zum Ausbruche kam.
Andererseits zeigt er, dass (in Uebereinstimmung mit einem von
Gnauck veröffentlichten und in gleicher Weise behandelten Fall) die
Therapie (Brom, Galvanismus) hier nicht ohne Werth ist, und auch im
meinigen hätte, bei längerer Ausdauer des Patienten, voraussichtlich eine
dauernde Genesung sich erzielen lassen.
Der Hauptwerth des Falles dürfte aber darin liegen, dass er neben
dem Symptomencomplexe der Athetose eine Reihe anderweitiger, jeden-
falls central bedingter und den athetotischen Erscheinungen coordinirter,
den Ablauf jener begleitender nervöser Functionsstörungen aufzeigt.
Von hervorragendem Interesse unter diesen sind ein wesentlich auf das
Gebiet der Athetose beschränktes Kältegefühl und ein Sensibilitätsausfall,
eine Steigerung der tiefen Reflexe, fibrilläres Muskelzittern im Krampf-
gebiete und Herabsetzung der groben Muskelkraft
Dieser motorische Ausfall zeigt sich überdies in wesentlich herni-
plegischer Weise, während andererseits die Athetose ebenfalls auf einer
Seite intensiver ist.
Schlüsse auf die Art der Veränderungen im Centralorgan aus diesem
Befunde zu ziehen, dürfte kaum gestattet sein, aber er weist jedenfalls
*) Wiener klin. Wochenschrift 1889, Nr. 16.
140 HI Zur Athetosis bilateralis.
auf die Hirnrinde als Entstehungsort der idiopathischen Athetose hin
und ist geeignet, die Hypothese von Eulenburg zu stützen, wonach die
motorischen Rindenfelder des Grosshirns bei der Athetose afficirt sein
dürften. Auch Koranyi neigt sich dieser Anschauung (motorische Rinden-
neurose analog der Chorea?) zu, vermuthet jedoch organische Verände-
rungen (chronische Entzündung, die zur Sclerose führt?).
Am 1. December 1888 liess sich Anton Hebar, 42 J. alt, aus
Ungarn, verheirathet, Maurer, auf der Grazer Nervenklinik aufnehmen.
Patient ist aus gesunder Familie, kein Potator ; war nie luetisch, hat nie
ein Trauma capitis, auch nie eine Apoplexie erlitten.
Bis zum 29. September 1888 hatte sich Pat. ganz wohl gefühlt.
Am genannten Tage fuhr er drei Stunden lang auf offenem Wagen in
strömendem Regen, wurde ganz durchnässt, fror heftig und vermochte,
selbst heimgekehrt und im Bette, nicht warm zu werden.
Am 30. September begab sich Pat. in den Gottesdienst, hielt es
daselbst vor heftigem Frieren nicht aus und begab sich wieder zu Bett.
Das Kältegefühl bestand besonders intensiv in den UE., war aber auch
über Rumpf und OE. ausgebreitet. Am 1. October schwand es in
Beinen und Rumpf, bestand aber seither continuirlich in den OE. fort.
Am 1. October bemerkte Pat., dass er den Löffel nicht in der Hand zu
halten vermochte, da die Finger sich versteiften und dem Willen nicht
mehr gehorchten.
Die Finger beider Hände bewegten sich spontan, langsam, rhythmisch,
spreizten, näherten, reckten und streckten sich. Diese Bewegungen
spielten sich fast ausschliesslich in den Metacarpophalangealgelenken ab.
Energische Willensanstrengung vermochte momentan diese spontanen
krampfhaften Bewegungen zu bemeistern. Wenn aber Pat. z. B. die
Hand zur Faust geballt hatte, war er nicht im Stande, sie sofort wieder
zu öffnen. In der Ruhe waren diese Bewegungen schwächer, durch
Emotionen wurden sie angeblich nicht gesteigert. Ob sie im Schlafe
cessirten, wusste Pat. nicht anzugeben. Nur im Gebiete der Finger-
muskeln zeigten sich diese Bewegungen. Das Fassen, Festhalten von
Gegenständen war nicht mehr möglich, sodass Pat. kaum mehr die ein-
fachsten Hantirungen des Ankleidens, Essens ausführen konnte und
seinem Berufe entsagen musste.
Stat. praes. bei der Aufnahme : Pat. klagt über Kältegefühl in beiden
OE., von den Fingern bis zu den Ellbogen herauf, und über Steifigkeit
der Finger, die jedoch activ und passiv frei beweglich sind. Ernährung,
Hautcirculation, Puls, Temperatur sind ganz normal. Die Finger beider
Hände sind in beständiger beugender, streckender, sich anpressender
und spreizender Bewegung. Dieses krampfhafte Spiel beschränkt sich
Athetosis bilateralis. 141
auf die Finger, lässt die übrigen Muskeln der oberen Extremitäten sowie
die der unteren und die Gesichtsmuskeln ganz intact.
Entschieden mehr afficirt sind die linksseitigen Fingermuskeln.
Ausgenommen seltene Beugungen der zweiten Phalanx des vierten
und fünften Fingers finden die krampfhaften Bewegungen nur in den
Metacarpophalangealgelenken statt und bestehen in rhythmisch wieder-
kehrender und langsam ablaufender Flexion mit Adduction des Daumens.
Episodisch wird auch Ab- und Adduction (Spreizung und Pressung)
sowie leichte Dorsalflexion beobachtet. In der r. Hand kommt es zu
leichter Beugung, Spreizung und Adduction der Finger im ersten Ge-
lenke; Dorsalflexion kommt bloss im Mittelfinger vor. Schreiben ist
durch die Krampfbewegungen kaum ausführbar. Pat. schreibt mit
äusserster Anstrengung, kaum leserlich, obwohl er die Buchstaben mög-
lichst gross macht und thunlichst momentane Buhepausen zu verwerthen
sucht. Er vermag nothdürftig zu essen, ein Glas zum Munde zu führen.
Keine Spuren von Ataxie oder Intentionszittern. Der Händedruck
ist r. sehr schwach (Pat. ist Bechtshänder), 1. ausgiebiger. Ausser einer
geringen Herabsetzung der groben Muskelkraft im r. Biceps und in der
gesammten Musculatur der r. UE. ist diese nirgends anderswo geschädigt.
Sowohl während krampfhafter Bewegung, als auch intervallär zeigt sich
leichtes fibrilläres Zucken der Muskeln der Daumenballen.
Die Prüfung der Musculatur der oberen und unteren Extremitäten
ergiebt sowohl mit dem faradischen als galvanischen Strome normale
Beaction.
Die tiefen Beflexe sind an den oberen Extremitäten, besonders r.,
gesteigert. Der Patellarreflex ist beiderseits gesteigert. Selbst Beklopfen
der nach abwärts gedrängten Patella bei gestrecktem Beine macht die-
selbe emporschnellen. Dabei entsteht ein intensiver, aber rasch wieder
verschwindender Schütteltremor in beiden Beinen. Auch der Achilles-
reflex ist gesteigert, jedoch lässt sich kein Fussclonus erzielen.
An beiden Händen ist die Sensibilität erheblich gestört. Die Stö-
rung der Sensibilität ist am stärksten 1. und erstreckt sich beiderseits
abnehmend von den Fingern zur Handwurzel. Hier ist die Grenze der
Sensibilitätsstörung. Diese ist auf der Streckseite viel intensiver als auf
der Beugeseite.
Auf dem üorsum manus et digitorum werden Tast-, Temperatur-
und Schmerzeindrücke kaum wahrgenommen, jedoch richtig localisirt.
Geldstücke, Schlüssel u. dgl., welche dem Pat. in die Hand gegeben
werden, vermag er nicht zu erkennen. Er bemerkt nicht ihre Escamo-
tirung aus der geschlossenen Hand bei verbundenen Augen. Passiver
Bewegung der Finger wird sich Pat. bewusst.
142 HI. Zur Athetosis bilateralis.
Er klagt über ein Gefühl, als ob die Finger an beiden Händen mit
Leder überzogen wären. An den unteren Extremitäten keine Sensibilitäts-
störungen. Allgemeinbefinden vorzüglich. "Von Seiten des Gehirns und
der Hirnnerven kein Befund, ebensowenig im Gebiete der vegetativen
Organe. Temperatur normal.
Ord. 5,0 Kai. bromat. pro die. Galvanische Behandlung täglich,
stabil 3', 2 M. A. Anode plex. brachialis, Kathode im Nacken.
10. December. Im Schlafe nie krampfhafte Bewegungen. Das
Kältegefühl in den OE. verliert sich; in der r. Hand Besserung der
Sensibilität für alle Qualitäten, desgleichen L, jedoch hier Daumen,
2. und 5. Finger noch ganz anästhetisch.
14. December. Krampfbewegungen nehmen intensiv und extensiv
ab. Pat. kann bereits ein grösseres Geldstück vom Tische aufheben.
Klagen über stechenden Schmerz im 1. Daumen und Zeigefinger.
18. December. Zunehmende Gebrauchsfähigkeit der Finger bei ab-
nehmenden Krampfbewegungen. Pat. kann ein Kreuzerstück aufheben.
Schreiben und feinere Bewegungen noch erschwert. Die Vertaubung
der Finger reicht nur mehr bis zur zweiten Articulation herauf. Ord. 6,0
Bromkali täglich.
24. December. Grobe Muskelkraft in beiden Händen und im r.
Biceps und in r. UE. wiederhergestellt.
4. Januar 1 889. Sensibilität nur noch in dritter und zweiter Phalanx
herabgesetzt; 7 mm Zirkelspitzenabstand wird an sämmtlichen Finger-
beeren wahrgenommen.
Fingerkrampf minimal, auf zeitweise Volar- und Dorsalflexion des
gestreckten 5. Fingers r. und auf Volarflexion des gestreckten 2., 3.,
4. Fingers der r. uud 1. Hand beschränkt, sowie auf gelegentliche leichte
Adduction beider Pollices.
15. Januar Sensibilität hergestellt. Noch hie und da leichtes Ameisen-
kriechen in den Fingern. Pat. differenzirt bei verbundenen Augen
Gegenstände. Gebrauch der Finger nur noch durch leichte Dorsalflexion
im 3. Finger der r. und im 3. und 4. Finger der 1. Hand gestört. Die
tiefen Reflexe in beiden Ober- und TJnterextremitäten noch bedeutend
gesteigert.
27. Januar. Krampfbewegungen nur noch nach längerer An-
strengung und vorübergehend in Form von Beugebewegung des ge-
streckten 2. und 3. Fingers und des Daumens der r. Hand. Normale
Verhältnisse, bis auf immer noch bestehende, aber ermässigte Steigerung
der tiefen Reflexe in Ober- und Unterextremitäten.
In diesem Zustande wird Pat, der schon längst nach Hause ge-
drängt hatte, am 28. Januar entlassen. Auf eine bezügliche Anfrage
Athetosis bilateralis. 143
theilt Pat. leider am 24. Februar 1889 mit: „Meine Krankheit ist bereits
zurückgekehrt. Meine r. Hand ist viel schlechter als die 1. Die Finger
bewegen sich immer und in den Armen fühle ich immerfort Schmerzen.
Was ich mit den Händen fasse, halte ich wohl fest, aber ich kann nur
leichte Arbeit verrichten. Schreiben kann ich nicht."
1897.
Die Athetosis duplex ist zweifellos eine seltene Erscheinung. Während
die Hemiathetosis posthemiplegica , gewöhnüch auf eine Encephalitis
infantilis zurückführbar, überaus häufig in meinem Ambulatorium vor-
kommt, habe ich seit der Publication des vorstehenden Falles unter
circa 8000 Nerven- und Psychischkranken pro anno nur die folgenden
2 Fälle von doppelseitiger Athetose zu beobachten Gelegenheit gehabt.
Die Annahme, dass sie symptomatische Bedeutung haben, Residuum einer
infantilen Gehirnkrankheit sind, lässt sich nicht von der Hand weisen.
Beob. 1.
Del . . ., 34 J., Pfründner, wurde am 20. 8. 96 auf meiner Klinik
aufgenommen. Er stammt von einem angeblich gesunden Vater und
einer mit ophthalmischer Migräne belasteten Mutter, hatte 18 Geschwister,
von welchen 8 früh starben, einige unter Convulsionen; die lebenden
sollen gesund sein. Eine der des Pat. ähnliche Krankheit kommt in
der Familie nicht vor.
D. kam normal zur Welt, erkrankte mit 3 Monaten an Convulsionen
und litt daran 9 Monate lang. Während dieser Zeit entwickelten sich
die nachstehend zu berichtenden Athetoseerscheinungen an den Ober-
extremitäten. Mit 7 J. zeigte sich eine seither bestehende Struma. Pat.
war ein geistig schwach veranlagter Knabe, ein schlechter Schüler, der
jedoch trotz seiner Handkrämpfe ganz gut schreiben konnte. Im Gehen
und Sprechen hatte er sich zur normalen Zeit entwickelt.
Mit 28 J. bekam er r. Blepharospasmus, der mit 31 J. auch auf
dem 1. Auge auftrat, zugleich mit krampfhaften Verziehungen im Gesicht,
zuerst r., dann aber auch und vornehmlich 1.
Im Schlaf cessirten diese Krämpfe.
Stat. praes.: Kräftig gebautes, ziemlich gut genährtes Individuum,
ohne vegetative Störungen.
Struma parenchymatosa massigen Grades.
Keine Oedeme, keine Kachexie.
Schädel leicht blasig, Tubera prominent, Cf. 57,5 cm.
Geringe Intelligenz. Hirnnerven intact, bis auf das Gebiet des
Facialis. Im Gesicht laufen sehr häufig wiederkehrende Krämpfe ab-
Sie sind meist tonisch, selten clonisch und dann träge sich vollziehend.
144 ni. Zur Atbetosis bilateralis.
Sie bestehen in Corrugation, Stirnrunzeln, Augenschluss, seitlichem "Ver-
ziehen und Heben eines Mundwinkels, Aufziehen des Kinns und sind
r. stärker ausgeprägt als 1.
Auch in der Kühe sind die Lidspalten enger als normal, desgleichen
verharren Corrugatores und Mm. frontales in einem gewissen Contractions-
zustand. Die willkürliche und mimische Bewegung ist im Zustand der
Ruhe ungestört, jedoch bewirkt der Versuch, die Stirne zu runzeln, so-
fort krampfhaften Verschluss der Augen.
Pat. klagt fortwährend Stechen und Brennen im Bindehautsack,
welche Sensationen sich beim Eintreten der Krämpfe jeweils steigern.
Dabei hat er ein Gefühl von Starre der Lider, das ihn veranlasst, die-
selben zu reiben. Ein Bindehautkatarrh besteht nicht.
Die Sprache ist leicht verwaschen, die Articulation unrein. Beim
Sprechen kommt es öfters zu einer krampfhaften Verziehung der Mund-
winkel. Die mechanische Erregbarkeit im Facialisgebiet ist nicht erhöht.
An Stamm und Wirbelsäule normale Verhältnisse. Die r. Scapula
steht höher als die 1., die r. Schulter mehr vorwärts als die andere.
Die OE. sind in einem fast continuirlichen Zustand der Ver-
krampfung mit gebeugten und pronirten Ellbogen- und leicht volar-
flectirten Handgelenken, die aber unschwer passiv streckbar sind.
An den Fingern laufen athetoseartige Bewegungen ab im Sinne der
Flexion, Abduction, Streckung, vorwiegend in den Metacarpophalangeal-
gelenken. Diese, aber auch sämmtliche anderen Fiugergelenke sind
schlaff und abnorm überdehnbar bei passiver Bewegung. Mit den
Athetosebewegungen der Finger sind häufig leichte Krampferscheinungen
in den Handgelenken verbunden. Die Willkürbewegung ist durch diese
krampfhaften Erscheinungen sehr beeinträchtigt.
Nirgends an den OE. finden sich sichere Residuen einer Herd-
erkrankung, weder Ausfälle der Sensibilität, noch der Motilität oder
Atrophien. Die grobe Muskelkraft ist aber allenthalben gering. Dynamo-
meter r. nur 6, 1. 8 Ko.
An den UE. findet sich keine Störung, jedoch sind die tiefen Reflexe
gesteigert. An den OE. ist diese Steigerung noch mehr ausgesprochen;
auch die directe Muskelerregbarkeit ist gesteigert.
Pat. verweilte nur kurze Zeit an der Klinik und wurde erfolglos
mit Thyreoideatabletten behandelt.
Beob. 2.
B., 46 J., Privat., aufgenommen 20. 4. 97, stammt von einem Vater,
der an Apoplexia cerebri starb. Auch dessen Vater soll an Haemorrhagia
cerebri zu Grunde gegangen sein. Die Mutter und eine Schwester des
Pat. leiden an Cephaläa. Fünf weitere Geschwister sind gesund und
Athetosis bilateralig. 145
rechtzeitig geboren. Pat. ist Siebenmonatkind, wurde mühsam am Leben
erhalten. Lues lässt sich bestimmt ausschliessen.
Sechs Monate alt, bekam B. einen cerebralen Insult (Bewusstlosig-
keit, Daliegen wie „todt" durch eine Stunde). Ob Convulsionen damit
verbunden waren, ob Folgeerscheinungen, daran weiss sich die Mutter
nicht mehr zu erinnern. Sie weiss nur, dass das jetzt noch bestehende
Leiden schon im 1. Lebensjahre aufgetreten ist.
Sprech- und Gehversuche fanden zur rechten Zeit statt. Pat. ge-
langte aber nur zu mühsamem Gehen im Gehkorb und seine Sprache
sei gleich von Anfang an gestört gewesen. Eine Lähmung sei nie be-
merkt worden. Intensität und Extensität der jetzigen motorischen
Störungen bestehe unverändert seit mindestens 20 Jahren.
Pat. überstand mehrere Kinderkrankheiten ohne bemerkbare Folgen.
Eine Psoriasis vulgaris besteht bei ihm seit dem 7. Jahr. Er war von jeher
erregbar, jähzornig, fühlte sich grundlos gegenüber den Geschwistern
zurückgesetzt. Die geistige Begabung sei nicht schlecht gewesen. Er
lernte die Muttersprache und Französisch ziemlich leicht, auch Rechnen.
Zum Schreiben gelangte er vermöge seiner motorischen Störungen nicht.
Seit einem Sturz beim Gehen, ohne Verletzung, mit 15 J. machte Pat.
keine Gehversuche mehr. Er verweilte seither im Bett oder im Lehn-
stuhl. Er konnte sich nicht selbst aufrichten, musste gefüttert werden.
Unreinlichkeit kam nie vor.
Stat. praes.: Pat. klein, gracil, Schädelumfang 56 cm, Supraorbital-
bogen wulstig vorspringend. Zähne grösstenteils ausgefallen, Kiefer
atrophisch, Spuren von Rachitis am Thorax.
Vegetative Functionen ungestört. Volle Virilität. An dem Pat.
fällt auch in der Ruhe und in Bettlage ein continuirliches krampfhaftes
Muskelspiel auf, das nur im Schlaf, bis auf minimale Erscheinungen an
Fingern und Zehen, aufhört und durch Intention und namentlich Emotion
bedeutend gesteigert wird, sodass Pat. als ein grimassirendes, sich win-
dendes, reckendes, streckendes, regionär zuckendes, zappelndes Wesen
sich darstellt.
Am intensivsten und constant sind Hände und Füsse von ganz
ziellosen, uncoordinirten, äusserst träge ablaufenden Krampf bewegungen
befallen. Die Finger und Zehen werden in der rücksichtslosesten Weise
bis zu den extremsten Stellungen gebeugt, gestreckt, gedreht, gespreizt
und lösen fortwährend die verschiedenen Phasen einander ganz regellos
ab. Eine abnorme Schlaffheit und Ueberdehnbarkeit der Fingergelenke
leistet diesen extremen Bewegungen Vorschub.
An den grossen Gelenken der Extremitäten laufen ebenso langsam
Krafft-Ebing, Arbeiten II. 10
146 HI. Zur Athetosis bilateralis.
Bewegungen ab, wobei einzelne Phasen bis zu Minutenlänge unabgelöst
bleiben.
So findet man Phasen, in welchen die Oberarme fest an den Thorax
gepresst und nach aussen rotirt, Vorderarm und Hand in extremer
Beugestellung, letztere sehr stark pronirt und ulnarflectirt erscheinen.
Darauf folgt Streckung des Armes in allen Gelenken, zugleich mit Er-
hebung nach vorne. In den UE. laufen analoge Krampfbewegungen ab,
indem Ober- und Unterschenkel bald stark gebeugt, bald tetanisch ge-
streckt werden. Weniger als die Extremitäten sind die Eumpfmuskeln
betheiligt. Der Stamm wird im Bett hin- und hergewälzt, schlangen-
artig gedreht, nach rückwärts gebeugt; der Bauch erscheint bald ein-
gezogen, bald aufgebläht, das Becken nach allen Seiten gedreht. Auch
der Kopf wird geneigt, rückwärts in die Kissen gebohrt und gedreht.
Sehr bedeutend ist die Betheiligung der Gesichtsmuskeln. Das
Gesicht wird durch beständige Grimassiren entstellt und zum Ausdruck
der wirklichen Stimmung des Pat. ganz unfähig.
Bei jedem Versuch dazu steigern sich die Krämpfe und gehen auch
auf die Sprachmusculatur über. Versucht Pat. z. B. für eine kleine
Dienstleistung zu danken, so wird das Gesicht durch die heftigsten
Grimassen verzerrt, die Unruhe des ganzen Körpers steigert sich, Pat.
bringt Anfangs statt Worte nur ein wieherndes oder grunzendes Lachen
hervor, bis er endlich, nach vielfachen und vergeblichen Anstrengungen,
mühsam und abgehackt ein „Dan — ke" hervorpresst. Aber auch in der
Ruhe sind Gesichtsmuskeln und Sprache von beständigen Krampferschei-
nungen gestört. Der Mund wird gespitzt, die Lippen umgestülpt, rüssel-
artig vorgestreckt oder auch zurückgezogen, die Mundwinkel weit nach
einer oder beiden Seiten verzogen, wobei häufig auch das Platysma sich
anspannt; die Stirne wird gerunzelt, in Querfalten gelegt, die Augen
werden krampfhaft geschlossen oder weit aufgerissen.
Die Sprache ist abgehackt, scandirend. Die einzelnen Silben werden
mühsam, explosiv hervorgestossen , oft überlaut, fast schreiend, voll-
ständig von einander getrennt, ohne Modulation, öfters mit ganz un-
articulirten und gurgelnden Tönen untermischt.
Selten sind die Kiefer betheiligt und zwar in Gestalt unwillkürlicher
Oeffnung oder Schliessung derselben. Die Gaumenbögen werden nach
oben gezogen oder nach einer Seite gezerrt. Auch das Kauen und
Schlingen ist oft durch Krämpfe gestört. Pat. behauptet, dass ihm
häufig flüssige Nahrung per nasum regurgitire, was aber in der Klinik
nicht zu beobachten ist. Gelegentlich werden auch wiederholte krampf-
hafte In- oder Exspirationen mit schnarchendem oder röchelndem Ge-
räusch constatirt. Dyspnoe oder Cyanose kommt nicht vor.
Athetosis bilateralis. J[47
Alle die erwähnten Bewegungen erscheinen als athetotische, ver-
möge ihres äusserst langsamen Ablaufes.
Anders ist es mit der Zunge, die auch in der Mundhöhle in per-
manenter Bewegungsunruhe ist, sich wölbt, bäumt, hin- und hergewälzt
wird, gelegentlich herausgestreckt oder auch zurückgezogen wird. Diese
Krämpfe laufen mit bemerkenswerther Raschheit ab und erinnern viel-
mehr an Chorea, als an Athetose. Auch einzelne grimassirende , tik-
artige Gesichtsbewegungen machen diesen Eindruck, gleichwie an den
Extremitäten gelegentlich auftretende ruck- und schleuderartige, überaus
rasch einsetzende und ablaufende Krampfbewegungen. All' dies macht
bei längerer Beobachtung den Eindruck, als bestehe neben der Athetose
eine Chorea, die aber vor lauter Athetosekrämpfen nicht oder nur un-
vollkommen zur Entäusserung gelange.
Ganz frei von Krampferscheinungen sind nur die Augenmuskeln.
Eine sichere Prüfung auf Residuen von Herderkrankungen im
Gehirn in Gestalt von Lähmungen u. s. w. ist bei dem Pat. nicht
möglich. Das Bestehen solcher ist aber nicht wahrscheinlich. Localisirte
Atrophien bestehen nirgends. Auffallenderweise sind aber auch die be-
treffenden Muskelgebiete trotz vieljähriger luxuriirender Bewegungsaction
nicht hypertrophisch. Die Patellarreflexe sind gesteigert.
Von Seiten der Sinnesorgane besteht keine Functionsstörung. Die
cutane Sensibilität ist normal, die tiefe nicht untersuchbar. Pat. klagt
über häufige Gelenkschmerzen. Psychisch bietet Pat. nichts Auffälliges,
bis auf eine mit seiner Lage nicht im Einklang stehende Heiterkeit.
Die Psyche scheint ungestört, jedoch ist eine genaue Prüfung wegen
der Schwierigkeit der Verständigung nicht möglich. Pat. rechnet gut,
spricht Deutsch und etwas Französisch und ist in seinem äusseren Ver-
halten vollkommen geordnet.
Der Zustand des Kranken hat sich in der mehrwöchentlichen Beob-
achtung in der Klinik nicht geändert. Amylenhydrat, Hyoscin. muria-
ticum zu 0,001 pro die erwiesen sich wirkungslos gegen die motorische
Neurose. Eine Herabsetzung der groben Muskelkraft war nirgends und
niemals nachzuweisen.
Der Unterschied der beiden letzten Fälle von dem ersten, im reifen
Alter und idiopathisch aufgetretenen, ist nicht zu verkennen. Dieser
lässt keine andere Deutung als im Sinne einer corticalen Neurose, analog
einer idiopathischen Chorea zu, und gewinnt durch seine eigenthümliche
Aetiologie, durch die Störungen der cutanen und tiefen Sensibilität im
Rayon der Athetose, sowie durch den temporären Erfolg der Behandlung,
ein eigenartiges Relief.
Die beiden letzten Fälle haben vielfache Analogien und lassen sich
10*
148 III. Zur Athetosis bilateralis.
bestimmt als solche von symptomatischer Athetose, im Anschluss an
eine infantile Hirnerkrankurig, die als eine doppelseitige gedacht werden
nrass, ansprechen.
Im Falle D., in welchem ursprünglich die Athetose auf die OE.
beschränkt ist und bemerkenswerther Weise erst nach ca. 30 Jahren
als athetotische anzusprechende Krampferscheinungen im Facialisgebiet
hinzutreten, finden sich Hinweise auf die ursächlichen Herderkrankungen, in-
sofern beiderseits im Athetosegebiet die grobe Muskelkraft herabgesetzt ist
und die tiefen Reflexe gesteigert erscheinen. Im Falle B. gelingt ein solcher
Nachweis nicht, aber die auch hier offenbar an einen cerebralen Insult
sich anschliessende Entstehung der Krankheit spricht zu Gunsten ihrer
Auffassung als einer symptomatischen. Bekanntlich entwickelt sich
Athetose am leichtesten da, wo das Gebiet der betreffenden cortico-
musculären Bahnen nur gestreift, nicht aber zerstört wird. Damit er-
klärt sich die Thatsache, dass ausgesprochene Lähmung, spastischer
Charakter derselben u. s. w. nur ausnahmsweise mit Athetose ver-
bunden sind.
Die Analogie der Hemiathetose mit der schon früher bekannten
Hemichorea posthemiplegica hat schon Oulmont (1878) auf den richtigen
Weg gewiesen, die erstere auf eine Herderkrankung (infantile Cerebral-
lähmung, wohl durch Polioencephalitis) zu beziehen und die bilaterale
Athetose auf eine doppelseitige Localisation zurückzuführen, welcher
Anschauung Richardiere, Gowers, Gitotteau, Osler, Simpson, Massalongo,
Freud u. A. beigetreten sind. Mit Recht hält aber Audry (1892) diese
Anschauung nicht für alle Fälle von bilateraler Athetose zutreffend.
Er verweist in dieser Hinsicht auf Fälle bei Erwachsenen und Kindern,
bei denen eine Beziehbarkeit auf eine Herderkrankung nicht ausweisbar
war. Ein solcher Fall dürfte auch der obige von mir 1889 mitgetheilte sein.
Gerade wie es eine posthemiplegische, organisch bedingte und eine idio-
pathische, neurotische Chorea giebt, ebenso ist es denkbar, dass dies
auch bei der verwandten Athetose der Fall sei, nur muss aus der Er-
fahrung zugegeben werden, dass Fälle idiopathischer Athetose zu den
grössten Seltenheiten gehören.
Literatur der Athetosis duplex. Abhandlungen: Michailowsky, etude clinique
sur l'athetose double, nouvelle Iconographie de la Salpetriere V, p. 57. 251; Audry,
l'athetose double et les chorees chroniques de l'enfance Paris, 1892 (Sammlung von
79 Fällen der Krankheit); Sharkey, spasm in chronic nerve disease 1886; Brissaud et
Hallion, revue neurolog. 1893, 12. 15.
Casuistik (über Ath. duplex symptomat. im Anschluss an Herderkrankungen defl
Gehirns): Ross, on the spasmodic paralyses of infancy, Brain 1882; Delhomme, contribut.
ä l'etude de l'atrophie cerebrale infantile, These de Paris 1882; Greidenberg, Vratch,
St. Petersburg 1882. HI, p. 657; Pollak, Berlin, klin. Wochenschr. 1880; Adsersen,
Athetosis bilateralis. 149
Hospitale Tidende 1886; Beach, Brit. med. Journal 1879, p. 815; Blocq et Blin, Revue
de medecine 1888; Hall White, Brain 1887, p. 237; Kurella, Centralbl. I N. Heilkde.
1887; Massalongo, collez. ital. di letture sulla medicina. Serie V, Nr. 3; Dejerine et
Sollier, Bull, de la soc. anatom. 1888; Brousse, Gaz. hebdom. des sciences med. de
Montpellier 1888; Chavanis, Loire med. 1891, 15 März; Bourneville et Pilliet, Archiv,
de neurol. 1887, Nr. 42 u. 1888, p. 386; Greenless, Brain 1887; Hughes, weekly med.
Kev. St. Louis 1887. XV, p. 561; Olli vier, lecons clin. sur les malad, des enfants 1889,
p. 165; Barrs, med. Times and Gaz. 1885, p. 144; Hughes, Alienist and Neurol.
1887, VIH; Kinicutt, Boston med. Journ. 1878; Massalongo, rivista veneta di scienze
med. 1890; Osler, americ. neurolog. assoc. of Washington 1891; Putnam, Journal of
nerv. and. mental discase 1891, 1892, Febr.; Michailowsky, op. cit. p. 60, 72,85, 296,
297, 302, 304; Spehl, Journal de neurolog. et d'hypnot. I, p. 156; Clifford Albutt,
med. Times and Gazette 1892, Jan. 27; Pennato, Archiv, ital. di clin. med. 1893;
Hugh Hagan, New York med. Journ. 1892, 16. Jan.; Lannois, Bull. med. 1893, 31;
Massalongo, Gaz. degli oapedali 1894, No. 128; Papinio, Arch. itaL di clin. med.
1894, XXXH.
IV.
VARIA.
Gutachten des k. k. Obersten Sanitätsrathes
bezüglich der gesetzlichen Regelung des Hypnotismns in Oesterreich.*)
(Referent: Hofrath Professor Dr. R. Freiherr y. Krafft-Ebing.)
Die früher auf eine eigene Naturkraft, genannt animalischer Magne-
tismus, irrthümlich zurückgeführte Erscheinung der Beeinflussbarkeit von
Individuen in ihren leiblichen und geistigen Functionen durch Dritte,
vermittelst besonderer auf Einschläferung gerichteter Manipulationen, hat
eine in neuerer Zeit wissenschaftliche Klärung erfahren, nach welcher
es sich hier wesentlich um psychische Einwirkungen (sogenannte Sug-
gestionen) von einer Person auf die andere, künstlich durch Hervorrufung
von schlafähnlichen Zuständen, besonders empfänglich (suggestibel) ge-
machte Persönlichkeit handelt.
Dieser Erkenntniss entspricht die Verdrängung des Ausdruckes
„animalischer Magnetismus" und seine Ersetzung durch das Wort
„Hypnotismus'1 als Bezeichnung für alle durch jene psychischen Ein-
wirkungen sich ergebenden Thatsachen und Erfahrungen.
Da diese für die Physiologie und Pathologie des Nervensystems
höchst bedeutsam sind, da die Anwendung hypnotischer Proceduren zu
Heilzwecken nicht selten unerwartete Erfolge bietet, welche ohne jene
medicinisch nicht erzielbar wären, erscheint es Aufgabe der Wissenschaft
und Therapie, die Thatsachen des sogenannten Hypnotismus zu erforschen
und therapeutisch zu benützen.
Die bisherige Forschung hat aber zugleich ergeben, dass diese
subtile Art der Psychotherapie in unberufener ungeschickter Hand er-
heblichen Schaden für die Nerven- und geistige Gesundheit stiften kann.
Damit erwächst der Staatsverwaltung Recht und Pflicht, darüber
zu wachen und dafür zu sorgen, dass nicht etwa durch missbräuchliche
*) Wochenschrift „Das österreichische Sanitätswesen" 1896, 30.
154 IV. Varia.
Anwendung des Hypnotismus eine solche Schädigung wirklich herbei-
geführt werde.
Durch das Auftreten eines medicinischen Hochstaplers Messmer,
des Begründers der vermeintlichen "Wissenschaft vom animalischen Mag-
netismus in Wien, Anfangs der Siebziger-Jahre des 18. Jahrhunderts und
durch die schädlichen Folgen seiner roh empirischen, rücksichtslosen
mercantilen Verwerthung der von ihm entdeckten Kunst, war die öster-
reichische Staatsverwaltung schon sehr früh in der Lage, zu solchen
Fragen Stellung nehmen zu müssen. Anlass dazu bot nach der Landes-
verweisung Messmers, der 1778 nach Paris verzog, das Ersuchen eines
praktischen Arztes Scherr in Wien, magnetische Curen verrichten zu
dürfen.
Die bezüglichen Acten reichen bis 1794 zurück.
In diesem Jahre, im October, berichtete die medicinische Facultät,
welche über Auftrag der Regierung die Behandlungsweise Scherr's
untersucht hatte, dass diese neue Heilart in die Classe des thierischen
Magnetismus gehöre, folglich zu den von Schwärmern vertheidigten, von
Aufgeklärten verlachten und wegen des durch sie herbeigeführten mora-
lischen und politischen Unfuges an mehreren Orten landesverwiesenen
Messmeriaden.
Scherr behaupte, dass seine Somnambule auch mit geschlossenen
Augen sehe und in diesem Zustande die Krankheiten der Menschen er-
kenne. Aber die Facultäts-Commission habe bei der Probe, welche sie
anstellte, sich davon nicht überzeugen können.
Scherr habe sich dabei auffallend verlegen und befangen gezeigt,
seine Manipulationen mit dem Baquet, wohin der Lebensäther aus der
Atmosphäre mittelst eisernen Drahtes gezogen werde, für ein Ge-
heimniss erklärt, das er nicht verrathen könne und dadurch das grösste
Misstrauen hervorgerufen.
Daraufhin verbot die Regierung dem Scherr das Einschläfern, als
eine Gaukelei. Bezüglich des Baquets war sie zwar der Ansicht, dass
dies auch eine Gaukelei sei, hielt aber dafür, Scherr zu ermahnen, er
solle der Facultät die Kräfte seines Baquets enthüllen und sicherte ihm
zu, dass, wenn diese sich von dessen Kräften überzeugen sollte, Scherr
ein Privilegium zum ferneren Gebrauche des Baquets erhalten werde.
Unterm 20. Februar 1795 erschien Folgendes
Hofkanzlei- Decret:
„An dem an Scherr erlassenen Verbot alles ferneren Einschläferns
und dergl. Gaukeleien, ist ganz recht geschehen; so viel es aber das
sogenannte Aetherisiren betrifft, so glaubt man gerne, dass, wenn da-
Gesetzliche Regelung des Hypnotismus in Oesterreich. 155
mit doch eine gute Wirkung geschieht, dies nicht dem Baquet, son-
dern lediglich der exaltirtenEinbüdungskraft der Patienten zuzuschreiben
und die Sache ebenfalls nichts als Gaukelei sei; da jedoch die medic.
Facultät diese Operation der menschlichen Gesundheit nicht schädlich
findet, so ist zwar diese Curart nicht zu autorisiren, aber auch nicht
zu verbieten, dass, wenn Jemand das Vertrauen darauf setzt, er solche
gebrauchen und zu Scherr als einem geprüften Arzt und seinem ver-
mutlich eingebildeten Heilmittel seine Zuflucht nehmen möge.
Es ist sich also diesfalls lediglich connivendo zu verhalten und
weder auf die Eröffnung des sogenannten Arcani zu dringen, noch
weniger aber von einer Ablösung desselben oder Zusicherung eines
Privilegii Meldung zu thun.
Nur ist Scherr alle diesfällige Publicität, die Bestimmung ge-
wisser Tage und Stunden, die Offenhaltung eines eigenen Zimmers
für Jedermann zu dieser Operation zu verbieten und besonders scharf
dieses vorzuschreiben, dass sie nur an Einzelnen, die dies verlangen
imd nicht bei und an ganzer Gesellschaft vorgenommen und Gelegen-
heit zu einem Zusammenfluss von Menschen gegeben werde, worauf,
dass es geschehe, Regierung ein wachsames Auge zu tragen hat."
1815 resolvirte die Regierung anlässlich Schwierigkeiten, die sich
hinsichtlich der Anwendung magnetischer Curen durch die Aerzte: Mal-
fatti, Röhrich, Göllis ergeben hatten, man habe sich nach der Verord-
nung vom 20. Februar 1795 zu benehmen.
Eine ähnliche Resolution erfolgte am 8. Juli 1824, wonach das
Verbot der Anwendung des sogenannten Biomagnetismus dahin abgeändert
wird, dass es den Doctoren der Heil- und Wundarzneikunde gestattet
wird, den Biomagnetismus unter gewissen Bedingungen, wie sie 1795
bestimmt wurden, auszuüben, jedoch ausschliesslich zu Heilzwecken.
1845 erfolgte über ein Gesuch des Prof. Lippich, den Lebens-
magnetismus als Heilmittel anwenden zu dürfen, eine letzte Allerhöchste
Entscheidung (Hofkanzlei-Decret vom 26. October 1845, Z. 36098),
deren Bestimmungen folgende sind:
1. Nur an inländischen Universitäten promovirten Med. und Chir.
Doctoren und zur Praxis berechtigten, ist die Ausübung des thierischen
Magnetismus gestattet;
2. Nichtärzten, sowie insbesondere Patronen und Magistern der
Chirurgie bleibt die selbständige Ausübung magnetischer Curen unbe-
dingt verboten.
3. Jeder berechtigte Arzt, der eine magnetische Cur unternimmt,
hat in Wien dem betreffenden Polizei -Bezirks- oder Stadtarzte die An-
156 IV. Varia.
zeige zu erstatten, auf dem flachen Lande aber dem betreffenden Districts-
oder Kreisarzte.
4. Ueber den Verlauf der Cur selbst ist ein vollständiges, den Be-
hörden auf Verlangen vorzulegendes Tagebuch zu führen und den-
selben auch sonst jede zur gehörigen Beurtheilung des Falles in medi-
cinisch-polizeilicher Hinsicht erforderliche Auskunft zu ertheilen.
5. Die betreffenden Polizei- u. s. w. Aerzte haben die Anzeige der
betreffenden Polizei -Directum, Polizei -Commissariaten, Kreisämtern zu
überreichen und in den jährlichen zu erstattenden Hauptsanitätsberichten
diejenigen Aerzte zu bezeichnen, welche sich mit magnetischen Curen
befassen, sowie ihre Wahrnehmungen und Bemerkungen über die Erfolge
derselben beizusetzen.
6. Ordinationen von Somnambulen für andere Kranke können nur
unter specieller Vermittlung des dabei zu Rathe zu ziehenden Arztes
geschehen und sind ohne eine solche Vermittlung, wie oben sub 2, zu
bestrafen.
7. Die Besuche der Somnambule von Seiten der Aerzte zu ihrer
eigenen Belehrung, sowie die Vornahme von Versuchen an ihr, die mit
derlei Versuchen etwa verbunden werden wollen, sind nur dann gestattet,
wenn die Somnambule Besuche von fremden, ausserhalb des Kreises ihrer
Verwandten und Bekannten stehenden Personen annimmt.
Ist Letzteres nicht der Fall, so sind diese Besuche nur , den von
dem ordinirenden Hausarzte eingeführten oder zur Consultation verlangten
Aerzten erlaubt.
8. Das Heranziehen von Somnambulen aus dem gesunden Zustande,
ohne irgend einen Heilzweck dabei zu verfolgen, ist, ebenso wie das
Steigern des Somnambulismus auf einen höheren Grad als eben die vor-
genommene ärztliche Cur nach den ärztlichen Grundsätzen erfordert, auf
das Strengste untersagt.
9. Magnetische Behandlungen in ganzen Versammlungen, mögen
sie mit oder ohne Baquet geschehen, sind im Allgemeinen untersagt und
dürfen nur ausnahmsweise über eingeholte Bewilligung der Landesstelle
statthaben.
10. Gegen jede den obigen Bestimmungen zuwiderlaufende An-
wendung des Biomagnetismus, entweder durch unbefugte Personen oder
zu unerlaubten und strafbaren Zwecken, ist von der Polizeibehörde ein-
zuschreiten und gegen die Uebertreter entweder unmittelbar, oder nach
Befund, durch ihre Ueberweisung an die competente Strafbehörde das
Geeignete zu verfügen.
Insbesondere sind etwaige Verbindungen des Magnetiseurs mit
Personen, die sich im wirklichen oder vorgespiegelten somnambulen Zu-
Gesetzliche Regelung des Hypnotismus in Oesteweich. 157
Stande befinden, sorgfältig zu überwachen und gegen Vergehungen, die
von Somnambulen durch unbefugtes Ordiniren von Arzneimitteln oder
durch sonstige Ertheilung von ärztlichen Rathschlägen für andere Kranke
verübt werden, die festgesetzten Strafen in Anwendung zu bringen.
Unter dem Eindrucke dieses Hofkanzlei-Decretes entstand der
§ 343 des Str.-G. vom Jahre 1852, welcher u. A. den Umstand, dass Jemand
ohne gesetzliche Berechtigung zur Behandlung von Kranken als Heil-
oder Wundarzt, sich mit der Anwendung von animalischem oder Lebens-
magnetismus befasst, als Uebertretung erklärt.
Seither sind keine legislatorischen Acte zur Regelung des Hypno-
tismus in Oesterreich mehr erfolgt. Es geht dies aus einer Antwort des
österreichischen Ministeriums vom 26. März 1891, auf eine Anfrage der
kgl. grossbritannischen Regierung nach Gesetzen bezüglich der Anwen-
dung des Hypnotismus hervor, wonach auf das obige Hofkanzlei-Decret
verwiesen wird.
Zugleich heisst es in der erwähnten Antwort: „Obwohl diese Ver-
ordnung den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr vollkommen ent-
spricht, hat sich hinsichtlich der Ausübung des Hypnotismus bisher keine
genügende Veranlassung ergeben, besondere Bestimmungen zu treffen.«
Diese Bemerkung bezieht sich offenbar nur auf die therapeutische An-
wendung des Hypnotismus, denn es ist bekannt, dass wiederholt dem
Unfuge öffentlicher hypnotischer Vorstellungen durch reisende Hypno-
tiseure polizeilich entgegengetreten werden musste.
Um der Gesetzgebung und Polizeiverwaltung entsprechende wissen-
schaftliche Grundlagen und Aufschlüsse bezüglich der Regelung des Hyp-
notismus geben zu können, erscheint es vor Allem nothwendig, die Um-
stände, unter welchen der Hypnotismus zur Anwendung gelangt, zu
erörtern und dabei scharf seine Anwendung Seitens gesetzlich autorisirter,
d. i. ärztlicher Personen und Seitens Profaner, Unberechtigter, zu unter-
scheiden.
Was die heilärztliche Anwendung des Hypnotismus betrifft, so
ist dieselbe seit Decennien von der österreichischen Gesetzgebung an-
erkannt und durch § 343 des Str.-G. ausschliesslich der Domäne des
ärztlichen Wirkens zugewiesen. Diese Bestimmung ist eine höchst werth-
volle, und, Angesichts der Gefahren, welche nicht sachverständige An-
wendung des Hypnotismus herbeiführen kann, unter allen Umständen
beizubehalten. Jedoch erscheint es wünschenswerth, dass in einer künf-
tigen Strafgesetzgebung, entsprechend der wissenschaftlichen geänderten
und fortschrittlichen Auffassung Dessen, was man früher animalischer
Magnetismus nannte, der Terminus „Hypnotismus" eingeführt werde.
158 IV- vana.
Beim gegenwärtigen Stande der Studien- und Rigorosenordnung,
in welcher Psychiatrie weder obligates Studium noch Examenfach ist,
muss allerdings angenommen werden, dass mancher Arzt wohl de jure,
nicht aber de facto das Gebiet der Hypnose beherrscht; da aber das ge-
nannte Fach bald obligat werden dürfte, kann von diesem Mangel ab-
gesehen werden.
Eine andere Frage ist es, ob die hypnotische Behandlung durch
Aerzte einer staatlichen Controle, etwa im Sinne des Hofkanzlei-Decretes
vom Jahre 1845, auch künftig unterstehen soll.
Ueberblickt man die Bestimmungen jenes Hofkanzlei-Decrets, so
kann man sich dem Eindruck nicht verschliessen , dass sie unter Vor-
stellungen einer geheimnissvollen, geradezu mystischen und damit un-
absehbare Tragweite und Gefahr involvirenden Anwendungsweise unbe-
kannter Naturkräfte entstanden sind, welcher Bedeutung die hypnotische
Heilmethode von der vorgeschrittenen Wissenschaft, die sie nur als eine
besondere Art psychischer, speciell suggestiver Therapie erkennen lehrte,
gründlich entkleidet wurde. Angesichts der Thatsache, dass heutzutage
allenthalben hypnotische Therapie geübt wird, sogar per nefas von Laien,
mit Berücksichtigung ferner der Erklärung des Ministeriums vom Jahre
1891, dass hinsichtlich der Ausübung des Hypnotismus bisher kein ge-
nügender Anlass sich ergab, besondere Bestimmungen zu treffen, obwohl
diejenigen des Hofkanzlei-Decretes vom Jahre 1845 schon längst in Ver-
gessenheit gerathen waren, kann nicht eingerathen werden, die Bestim-
mungen jenes Decretes sub 3, 4, 5 aufrecht zu erhalten, da sie eine
ganz zwecklose Belästigung der Aerzte, Sanitäts- und Polizeibehörden,
endlose Vielschreibereien bedeuten und an Orten, wie Wien z. B., die
Creirung eines eigenen sanitätspolizeilichen Bureaus ad hoc nöthig machen
würden.
In den Bestimmungen des Hofkanzlei-Decretes vom Jahre 1845
fehlt eine, die in verschiedenen Rechtsgebieten, u. A. neuestens in
Ungarn, getroffen wurde, nämlich die staatliche Verfügung, dass eine
hypnotische Behandlung nur in Gegenwart eines Zeugen zulässig sei.
Diese Verfügung entspringt offenbar der durch Laboratoriumsexperimente
und durch Sensationsromane in Laienkreisen geweckten Furcht vor der
Möglichkeit der Bestimmung von hypnotisirten Individuen zu posthypno-
tischen Suggestionen in Gestalt unmoralischer oder verbrecherischer
Handlungen, sowie aus thatsächlicher Gefahr, dass ein ehrvergessener,
verbrecherischer Arzt ein hypnotisirtes weibliches Individuum zur Er-
duldung von Beischlaf und zu anderen sexuellen Delicten missbrauchen
könnte.
Die erstere Befürchtung ist in der Erfahrung nicht begründet, denn
Gesetzliche Regelung des Hypnotismus in Oesterreich. 159
obwohl alle Welt und damit auch der Verbrecher diese angebliche Ge-
fahr kennt, sind solche Fälle bisher nicht zur Kenntniss der Gerichte
gekommen und da, wo man sie als vorhanden glaubte (Process Bompard-
Eyraud in Paris, Process Cynski in München), erwies die Gerichts-
verhandlung ihr Nichtvorhandensein. Zudem handelte es sich um an-
gebliche Hypnose durch Nichtärzte.
Die zweite Gefahr hat sich als eine thatsächliche erwiesen, insofern
als bezügliche Verbrechen, an Hypnotisirten von Aerzten begangen, in
den Annalen der Justiz verzeichnet sind. Aber diese Gefahr besteht
auch anlasslich der Chloroformirung, Ohnmächtigwerden, Verfallen in
Bewusstlosigkeitszustände, Seitens nervenkranker weiblicher Individuen.
Bedenkt man, dass ein anständiger Arzt, wenn eine Clientin bewusstlos
wird, sofort Zeugen herbeirufen wird, dass Aufhebung des Bewusstseins
(Lethargie, Somnambulismus) nur ausahmsweise durch hypnotische Be-
einflussung erzielt wird, dass die obigen Verbrechen durch §§ 125 bis
128 des Str.-G. ihre Ahndung finden, so erscheint es überflüssig, dem
Arzte Hypnose nur in Gegenwart eines Zeugen zu gestatten, zumal, da
der Fall Levy in Frankreich lehrt, dass derlei Verbrechen sogar in
Gegenwart eines Zeugen möglich sind.
Eine solche Forderung verstösst aber auch gegen das vertrauliche
Verhältniss, in welchem der Arzt einem Clienten gegenüber sich befindet,
ein Verhältniss, das vielfach dem eines Beichtvaters einem Beichtkinde
gegenüber gleichkommt.
Gerade der hypnotischen Behandlung fallen sehr delicate Angelegen-
heiten der Clienten zu, z. B. die Befreiung eines jungen Mädchens von
Onanie durch Suggestivbehandlung, die gleichwohl der einzige Weg zur
Erlösung von solchem Uebel sein kann.
In solchen und gar vielen anderen Fällen wäre nur eine taube
Person als Zeuge zu verwerthen.
Eine solche Verordnung könnte nicht gutgeheissen werden, denn sie
wäre ein zu bedenklicher Eingriff in die ärztliche Discretionssphäre und
würde die hypnotische Suggestionsbehandlung gerade da oft unmöglich
machen, wo sie allein Hilfe gewähren kann.
Solche Angelegenheiten sollten dem Tacte des Arztes überlassen
bleiben.
Was die Anwendung der Hypnose in profanen Händen betrifft,
so kommen in Betracht:
1. Hypnose als Sport oder als Heilversuch Seitens Laien. Dagegen
richtet sich § 343 des Str.-G. (gleichwie Bestimmung des Hofkanzlei-
Decretes vom Jahre 1845).
160 IV. Varia.
2. Hypnose als Gewerbe durch sogenannte Somnambulen, und zwar
wirklich in solchen Zustand versetzte oder (häufiger) ihn nur vor-
täuschende. Die Clairvoyance solcher Personen hat sich als Irrthum,
beziehungsweise Schwindel erwiesen, und Z. 6, 8 des Hofkanzlei-Decretes
thut ihnen zu viel Ehre an, indem sie Modalitäten, unter welchen solche
therapeutische Hellseherinnen geduldet werden sollten, fixiren.
Diese Annahmen des Hofkanzlei-Decretes fussen auf irrigen Vor-
aussetzungen und können legislativ künftig keine Berücksichtigung finden.
Wissenschaftlich kann nur die Forderung erhoben werden, dass,
wo immer solche Somnambule auftreten und Clienten anlocken, die
Polizei ihnen das Handwerk legt.
Sucht ein Arzt Erwerb im Verband mit einer solchen Somnambule
(Process Dr. Gratzinger-Schaffarik, "Wien 1894), so ist es Sache der
Aerztekammer, ihm derlei Schwindel und unlauteren Erwerb unmöglich
zu machen.
3. Zu den gefährlichen Anwendungen des Hypnotismus gehören
öffentliche Schaustellungen durch ambulante Hypnotiseure (Hansen, Wien
und a. 0.), da sie, um Erfolge zu erzielen, rücksichtslos, ja gefährlich gegen
ihre Medien vorgehen und massenhaft Imitation und Sport züchten.
Die gleiche Gefahr erwächst durch Amateure in Privatcirkeln.
Dagegen sind im Sinne der Z. 9 und 10 des Hofkanzlei-Decretes
neuerlich polizeiliche Weisungen zu erlassen und hätte der Grundsatz
zu gelten, dass unter allen Umständen derartige hypnotische Versamm-
lungen oder gar Schaustellungen nicht zu gestatten, beziehungsweise zu
inhibiren sind.
Da wissenschaftliche Untersuchungen auf dem Gebiete des Hypno-
tismus, nur wenn von Fachmännern und in Kliniken angestellt, gefahr-
los und von Nutzen sein können, wäre ausserhalb dieser Bedingungen
keine Möglichkeit denkbar, unter welcher jene ausnahmsweise über ein-
geholte Bewilligung der Landesstelle statthaben könnten, womit die be-
zügliche Möglichkeit in Z. 9 des Hofkanzlei-Decretes entfallen dürfte.
Gutachten des k. k. Obersten Sanitätsrathes
über die Berechtigung des spiritistischen Vereines . . . in . zur
Anwendung des Hypnotismus.
(Eeferent: Hofrath Professor Dr. R. Freiherr t. Krafft-Ebing.)
Frau A. P. in . . . . wurde wegen Schlaflosigkeit, über ihr Bitten
und in Gegenwart ihres Mannes, von dem Präsidenten des Vereines ....
K. durch etwa 6 Monate wöchentlich drei Mal in den Sitzungen des
Vereins „magnetisch" behandelt, indem K. sie zuerst nach der Bernheim-
schen Suggestionsmethode einschläferte und in diesem so erzielten Schlaf-
zustande die Bestreichungen leidender Körpertheile vornahm.
Die P., welche übrigens schon lange vorher Zeichen von Geistes-
störung im Sinne einer Paranoia bot, reagirte übel auf diese „magne-
tischen" Einwirkungen.
Sie klagte am 2. September 1895, sie sei nun dem Magnet voll-
ständig verfallen, ihr Körper werde vom Magnet beherrscht. Es plagten
sie überdies Quälgeister, die beständig zu ihr reden, sie weder schlafen
noch essen lassen und nur auf ihren Ruin ausgehen. Sie wurde so auf-
geregt, dass sie vorübergehend in der Beobachtungsabtheilung des
Krankenhauses aufgenommen werden musste.
Da der Amtsarzt am 17. October 1895 fand, dass der P. durch
diese Behandlungsweise Schaden zugefügt worden sei, wurde dem K.
einstweilen das Hypnotisiren polizeilich untersagt, gegen ihn das Straf-
verfahren im Sinne des § 335 und § 431 österreichischen Strafgesetzbuches
eingeleitet und der Antrag auf Auflösung des spiritistischen Vereines ge-
stellt. Unterm 9. November 1895 recurrirte der Präsident des genannten
Vereines zunächst gegen das Verbot des Hypnotisirens, „weil dadurch
die Thätigkeit des Vereines, nämlich die im Gebiete der spiritistischen
Erscheinungen liegenden Kundgebungen zu erforschen und deren An-
wendung auf die moralischen, historischen, psychologischen und physi-
Krafft-Ebint;, Arbeiten II. 11
162 IV. Varia.
kaiischen Wissenschaften zu untersuchen, vollständig lahm gelegt und
unmöglich gemacht würde, denn ohne Anwendung des Magnetismus, be-
ziehungsweise Hypnotismus wäre dies unmöglich."
Das solche Anwendung nur den Aerzten gestattende Hofkanzlei-
Decret vom 26. October 1845 ist nach Ansicht des Recurrenten veraltet
und nicht mehr gütig, da dasselbe durch den § 343 des Str.-G. derogirt
wurde.
Er macht die Thatsache geltend, dass der Däne Hansen Anfangs
der 80 er Jahre im Ringtheater in Wien hypnotische Vorstellungen geben
konnte, dass im Deutschen Reiche, wo das Heilgewerbe nicht an gra-
duirte Aerzte gebunden ist, das magnetische Heüverfahren freigegeben
ist und gesetzlich ungehindert ausgeübt wird. K. polemisirt ferner gegen
den Amtsarzt, der behaupte, dass das Hypnotisiren schädüch wirke, es
jedoch nicht aus eigener Erfahrung wisse, da in Oesterreich noch heute
keine Lehrkanzel für animalischen Magnetismus, Hypnotismus, Spiritis-
mus bestehe!
Oesterreichische Aerzte, die nicht beweisen, dass sie jahrelang dem
theoretischen und praktischen Studium des Hypnotismus oblagen, können
kein Urtheil über diese Behandlungsmethode abgeben. Gegen die Be-
hauptung, dass der Hypnotismus gefährlich sei, führt Recurrent an, dass
er ja überall als Heilpotenz anerkannt sei, wobei K. eine ziemliche Be-
lesenheit in der wissenschaftlichen Literatur des Hypnotismus bekundet.
Dem spiritistischen Vereine das Hypnotisiren zu verbieten, hiesse
ihn lahmlegen, dessen Zweck doch ist, „die Beweisführung des indivi-
duellen Fortlebens nach dem Tode des Leibes, dessen Ziel ist Vervoll-
kommnung des Menschen".
Die Statthalterei beantragt gleichwohl beim Ministerium des Innern
die Auflösung des Vereins, da er durch nach § 343 des Str.-G. verpönte
Experimente seinen Wirkungskreis überschritten habe.
Der Verein petitionirte darauf um Ausserkraftsetzung des Hof-
kanzlei-Decretes vom 26. October 1845, Z. 36098, respective um die Ver-
fügung, dass dem Vereine, in Abänderung des Verbotes (Hypnose zu
treiben) gestattet werde, die Erforschung des spiritistischen Gebietes
unter Anwendung des Magnetismus und Hypnotismus unbehelligt fort-
setzen zu können.
Zur Entscheidung dieser Frage wird vom k. k. Obersten Sanitäts-
rathe ein Gutachten eingefordert.
Ueber Seancen des Vereines . . . finden sich in den Acten be-
merkenswerte Mittheilungen des Herrn P., der häufig bei den Hypno-
tisirungen seiner Frau anwesend war. Die Sitzungen dauerten 2 bis
3 Stunden, beiläufig 50 Personen waren regelmässig anwesend. Zuerst
Berechtigung zur Anwendung des Hypnotismus. 163
betete man, dann wurde das Erscheinen eines guten Geistes erfleht.
Darauf wurde der „Ring" geschlossen, indem Einer dem Anderen die
Hände auf die Knie legte. Nach etwa 5 Minuten schläft gewöhnlich
Jemand ein. Dieser erhebt sich dann unter Zuckungen und Zittern und
spricht über die im „Traum" sich bietenden Erscheinungen Herr S.,
noch öfter dessen Frau, sind meist Medien.
Frau S. sprach oft über eine Stunde und war dabei oft ganz steif.
Auch Schneider M. war oft Sprecher.
Zum Schlüsse meldeten sich gewöhnlich Kranke zum Einschläfern.
Herr P. glaubt mit Recht, dass seiner Frau diese Proceduren
schadeten, weil sie so viel betete und sich abmühte, ein gutes Medium
zu werden.
Gutachten.
Aus den Depositionen des Zeugen P. geht mit Sicherheit hervor,
dass unter einer Anzahl gleichgesinnter und gleichgestimmter Mitglieder
des Spiritisten -Vereines .... unter dem Einflüsse von künstlicher Er-
regung und Erwartungsaffecten einzelne nervös krankhafte Individuen
quasi durch Autohypnose und Autosuggestion in einen psychischen Aus-
nahmszustand gerathen, in welchem sie sich in der Rolle von Geister-
sehern fühlen und die Delirien ihrer auf's Höchste gesteigerten Ein-
bildungskraft den im minderen Grade exaltirten und jedenfalls höchst
suggestiblen Mitgliedern als vermeintliche Enthüllungen aus dem Jenseits
verkünden. Dass damit keine wissenschaftliche Leistung vollbracht
wird und das ein Verein, der derlei treibt, keine wissenschaftliche oder
ethische Berechtigung zu existiren hat, bedarf keines Beweises.
Solche autohypnotische Experimente sind aber eine schwere Ge-
fahr für die körperliche und geistige Gesundheit der an ihnen Theil-
nehmenden.
Aus den Schilderungen der Details, wie es in dem Vereine zugeht,
ergiebt sich klar, dass die spiritistisch Inspirirten und das Wort Er-
greifenden Nervenkranke sind, die in einer Art von hysterischer Extase,
welcher oft Zuckungen und Zittern vorausgehen, in delirirender Weise,
vermeintliche Enthüllungen aus dem Geisterreiche machen, wobei in
einzelnen Fällen (Frau S.) sogar kataleptische Erscheinungen den psychi-
schen Ausnahmszustand begleiten.
Dass der Verein seinen Wirkungskreis überschritten hat, insofern
daselbst Hypnotisirungen zu Heilzwecken ausgeführt werden, ist acten-
mässig festgestellt und wird auch von dem Präsidenten des gedachten
Vereines nicht bestritten.
Damit ist der Thatbestand des § 335 des Str.-G. erwiesen.
11*
164 IV. Varia.
Die der Frau P. zugefügte Schädigung an der leiblichen und
geistigen Gesundheit durch solche Hypnotisirungen kann aber nur als
eine Verschlimmerung eines schon lange vorher bestandenen körperlich
und geistig krankhaften Zustandes bezeichnet werden und entzieht sich
einer sicheren Schätzung.
Der Oberste Sanitätsrath kann nicht umhin, anlässlich dieses con-
creten Falles das hohe Ministerium darauf aufmerksam zu machen, dass
das Treiben spiritistischer Vereine ein gesundheitsgefährliches an und
für sich ist, auch wenn sie den Hypnotismus nicht in den Bereich ihrer
Proceduren ziehen. Zur Motivirung dieses Ausspruches genügt es, auf
die Vorgänge im spiritistischen Vereine in .... zu verweisen,
sowie auf das umfassende Gutachten, welches in Sachen des Spiritismus
vom Obersten Sanitätsrathe am 22. December 1883 anlässlich eines Ke-
curses des P. in B. gegen eine Entscheidung der k. k. Statthalterei in ,
welche die Bildung eines spiritistischen Vereins in B. untersagte, er-
stattet wurde.
Der einhellige Beschluss auf Grund des vom Prof. Schlager er-
statteten Referates lautete damals dahin, dass durch das Lesen spiritisti-
scher Schriften und durch die Vornahme sogenannter spiritistischer Ex-
perimente bei manchen Personen, besonders bei solchen, welche zu
neuropathischen Zuständen disponirt sind, gesundheitsschädliche Wir-
kungen herbeigeführt werden können, speciell in Rücksicht ihres Geistes-
zustandes und dass daher die Motivirung, welche der k. k. Statthalterei
in ... . bei der Abweisung des Gesuches des P. zur Grundlage diente,
vom psychiatrischen Standpunkte als vollkommen begründet und be-
rechtigt erklärt werden muss.
Es ist im concreten Falle eine vollkommene identische Situation
wie im Jahre 1883 vorhanden, insofern neuerlich eine von einem ge-
wissen Josef K. in C. gebildete spiritistische Vereinigung durch Erlass
der hohen k. k. Statthalterei in ... . vom 10. September 1895 inhibirt
wurde, und das Gutachten des Obersten Sanitätsrathes könnte auch in
diesem Falle nur identisch mit dem von ihm im Jahre 1883 abgegebenen
lauten.
Zur Verwerthung der Suggestionstherapie
(Hypnose) bei Psychosen und Neurosen.*)
Mit Recht hat von jeher psychische Therapie bei psychisch Kranken
Verwerthung gefunden. Schon im Alterthum, sicher zu biblischer Zeit,
hat Suggestion z. B. in Gestalt von Händeauflegung, Gebet, Beschwörung
u. dergl. bei Geisteskranken (speciell Hysteropathischen , Dämonomani-
schen) Erfolge erzielt.
Der Einfluss der psychischen Therapie auf die den psychischen
Anomalien zu Grunde liegenden leiblichen Vorgänge kann ein in-
directer und ein directer sein. — Ein indirecter Einfluss wird da-
mit gewonnen, dass Stimmungen, Gefühle, Vorstellungen, Strebungen
gewünschter Art hervorgerufen und dadurch auf leibliche Functionen
der Circulation (Herz), der Verdauung, des Schlafes u. s. w. eine Wir-
kung erzielt wird. Eine directe Beeinflussung der Leiblichkeit durch
Hervorrufung von psychischen Factoren (Vorstellungen) ergiebt sich aus
der empirischen Thatsache, dass man durch Vorstellungen auf die Leib-
lichkeit einwirken, bezügliche Empfindungen hervorrufen, ja selbst leib-
liche Veränderungen bewirken kann. Unzählige psychisch Kranke
(Hysterische, Neurastheniker, Hypochonder u. s. w.) besitzen diese Fähig-
keit der autosuggestiven Beeinflussung ihres Nervensystems durch Vor-
stellungen, und eine Hauptaufgabe der Psychotherapie erscheint die Be-
kämpfung dieser autosuggestiven Vorgänge durch die indirecte oder
directe zielbewusste Gegenwirkung des Arztes (Fremdsuggestion). Be-
kannt ist die Mangelhaftigkeit der Wirkung der Fremd Suggestion, sowohl
per directen, als der indirecten bei solchen Kranken im wachen Zustand, in
welchem ihre Autosuggestionen meist mächtiger sich erweisen, als die
Contrasuggestion des Arztes.
Von grösstem Werth muss daher theoretisch ein Verfahren sein,
mit Hülfe dessen die Macht der Autosuggestion verringert, bis auf Null
*) Wiener klin. Wochenschrift 1891, 43.
166 IV. Varia.
reducirt werden und zugleich die der Fremdsuggestion gesteigert
-werden kann.
Darauf beruht der eventuelle Sieg der Fremdsuggestion über die
Autosuggestion und möglicherweise die Genesung des Kranken.
Es handelt sich hierbei aber nicht um einfaches Ausreden von
Einbildungen, wie der Laie meint, nicht um Leistungen der Logik und
Dialectik, sondern um complicirte psycho -physiologische Vorgänge, die
nur der psychiatrisch gebildete Arzt verstehen und mit Aussicht auf Er-
folg beeinflussen kann.
An einem häufig sich darbietenden Beispiele lässt sich dies er-
weisen. Ein Individuum leidet an einer psychischen Lähmung. Es
bildet sich ein, seinen durch einen Eisenbahnunfall leicht contusionirten
Arm nicht gebrauchen zu können. Es handelt sich also um eine Läh-
mung durch „Einbildung"- Jedenfalls entspricht der chirurgische Befund
nicht dem Grad der Functionsstörung.
Zweifellos hat die Vorstellung der Lähmung die eingetretene Läh-
mung bewirkt, aber dieser ungewöhnliche Erfolg einer Vorstellung ins
Leibliche beruht auf einer geistig-leiblichen Modifikation, einer mole-
cularen Veränderung im Central-Nervensystem in Folge veranlagter und
durch den ursächlichen Shok geschaffener gelegentlicher Bedingungen.
Die eingetretene „psychische" Lähmung ist nur Theilerscheinung einer
allgemeinen („traumatischen") Neurose. Diese Lähmung ist aber über-
dies nicht blos ein undefinirbares psychisches Etwas, sondern ein klini-
scher, auch somatisch sich manifestirender Symptomencomplex.
Abgesehen von traumatischem, eventuell durch Richtung der Auf-
merksamkeit auf den leidenden Theil unterhaltenem und gesteigertem
Schmerz und dadurch im Bewusstsein angeregter und wach erhaltener
Vorstellung der Unfähigkeit zur Bewegung, hat die, gleichgiltig wie,
psychisch entstandene Lähmung einen Hemmungseinfluss auf das betr.
Armcentrum in der Hirnrinde gewonnen, der sich in Aufhebung der
cutanen Empfindung im Lähmungsgebiet, nach Umständen auch der
Muskeln, Gelenke u. s. w. kundgiebt. Damit ist das Individuum der Inner-
vationsgefühle und der Anregung derselben durch passive Bewegung
verlustig. Zu diesem traumatischen Torpor des betr. Hirnrindencentrums
kann sich Hemmung der Geltendmachung früherer Bewegungsanschau-
ungen bis zu förmlicher Seelenlähmung gesellen — das Individuum, im
Bannkreis seines Lähmungsgedankens, bekommt weder centripetale noch
centrifugale Anstösse zur Bewegung mitgetheilt.
Damit erscheint seine Lähmungsidee psycho-physisch fundirt, leih-
lich gefestigt.
Suggestionstherapie bei Psychosen und Neurosen. 167
Aber auch Störungen der Circulation (Anämie) im Lähmungsgebiet,
gesunkener Muskeltonus, Steigerung der tiefen Reflexe, als leibliche Er-
scheinungen der functionellen Störung, können das Bild der sogenannten
psychischen Lähmung vervollständigen.
Es wäre thöricht, zu erwarten, dass man durch einfache, wenn
auch noch so autoritative ärztliche Suggestion diese Lähmungen ohne
Weiteres beheben könnte. Spontanheilung ist möglich unter dem Ein-
flüsse der Zeit, mit welcher der Functionswerth der autosuggestiven Vor-
stellung nachlässt und der impressionable Zustand des im Sinne einer
(traumatischen) Neurose afficirten Nervensystems zurückgeht.
Unterstützend können wirken : der ablenkende Einfluss von lebhaft
Gemüth und Verstand inAnspruch nehmenden anderweitigen Vorstellungen,
zuweilen auch ein plötzlich die suggestive Hemmung im Rindengebiet
lösender Affect, z. B. eine Lebensgefahr, welche auf die Lähmung ver-
gessen, den gelähmten Arm gebrauchen lässt, sodass der Kranke in der-
artiger Leistung eine Contrasuggestion sich selbst ad oculos liefert; in
anderen Fällen wirkt der suggestive Einfluss für heilkräftig geltender
Bäder, Reliquien, Gnadenbilder u. s. w. Nicht selten gelingt es all-
mälig auch der ärztlichen Suggestion, den Hemmungseinfluss der Auto-
suggestion auf das Rindencentrum zu lockern und durch gleichzeitige
Gymnastik, Massage, Elektrisirung jetzt wieder mögliche Muskel- und In-
nervationsgefühle zu schaffen und die Wiederkehr von Bewegungs-An-
schauungen und willkürlicher Innervation anzubahnen.
Besitzt die medicinische Wissenschaft ein Mittel, um in solchem
Falle die Autosuggestion und ihre Wirkung zu eliminiren und gleich-
zeitig suggestiv Innervationsgefühle und Bewegungs-Anschauungen her-
vorzurufen, so wird die Genesung eine unverhältnissmässig raschere sein.
Dieses Mittel ist die Hypnose, d. h. ein wesentlich durch psychi-
schen (suggestiven) Einfluss erzeugter, dem normalen Schlafe nahestehen-
der, leiblich -seelisch er Zustand, in welchem es nicht blos möglich ist,
Autosuggestionen durch Auslöschen aus dem Gedächtniss, sondern auch
durch Fremdsuggestionen unwirksam zu machen.
In diesem Zustand besteht überdies der Vortheil, dass der in seinem
Willen und seiner Kritik sehr reducirte Patient nicht blos psychisch
sehr empfänglich für Fremdsuggestionen ist, sondern auch, dass — wenig-
stens in tieferer Hypnose — suggestive Einflüsse auch auf die Leiblich-
keit (Schlaf, Menstruation, Esslust u. s. w.) durch Vermittlung des
Nervensystems möglich sind, die im wachen Zustand einfach sich nicht
erreichen lassen.
Im Allgemeinen kommt es therapeutisch darauf an, dauernd
krankhafte Functionen zur Norm zurückzuführen, also auf posthypnotische
168 IV. Varia.
Suggestion, wie der Terminus lautet. Die Hypnose ist Mittel zur Er-
möglichung wirksamer Suggestion. Die "Wirksamkeit dieser ist
zwar zum nicht geringen Theil abhängig von der Tiefe des hypnotischen
Zustandes, aber Hypnotisirbarkeit und Suggestibilität sind einander nicht
parallel gehende Erscheinungen. Viel kommt auch an auf die Persön-
lichkeit des Patienten (unbeständige, haltlose, schwankende, oberflächliche
Menschen sind schwer suggestibel), sowie auf den autoritativen Eindruck
des!Arztes und ganz besonders auf die richtige Redaction der betreffen-
den Suggestion. Schon dadurch wird für diese Behandlungsweise ein
feines psychiatrisches und neurologisches Verständniss des concreten
Falles erforderlich. Praktisch wichtig ist die Dauerwirkung der Suggestion.
Sie ist individuell sehr verschieden und abhängig von Persönlich-
keit des Patienten und Arztes, Tiefe der Hypnose, in welcher die Sug-
gestion gegeben wurde, störenden äusseren Momenten, welche ihr ent-
gegenwirken, inneren Umständen, z. B. Krampfanfällen, welche die
Suggestion im Gedächtniss der unbewussten geistigen Persönlichkeit aus-
löschen u. s. w.
Auffrischung der Suggestion vermag die ursprüngliche Wirkung
dann jederzeit herzustellen.
Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass suggestive Heilwirkung —
Hypnotisirbarkeit vorausgesetzt — überall da möglich ist, wo es sich um
blose functionelle Erkrankung handelt.
Hypnotisch suggestive Behandlung muss ich nach meinen Er-
fahrungen für unschädlich erklären, sobald sie sachverständig und den
Umständen des individuellen Falles angepasst geübt wird.
Es lag nahe, sich eines so ausgezeichneten Mittels zur Ermöghchung
wirksamer Suggestionen, wie es die Hypnose darbietet, auch bei psychisch
Kranken versuchsweise zu bedienen.
Welche Aenderung des therapeutischen Könnens müsste damit ge-
geben sein, wenn man die Gefühle, Vorstellungen, Strebungen derartiger
Kranker bestimmen, gefährliche Symptome, wie z. B. Hallucinationen,
Wahnideen suggestiv beseitigen könnte! Für den auf dem Gebiete
des Hypnotismus und der Psychiatrie Erfahrenen müssen sich vorweg
Bedenken bezüglich des Erfolges dieser therapeuthischen Methode ergeben:
1. weil psychisch Kranke nur ausnahmsweise in jener geistigen
Verfassung der Aufmerksamkeit, Unbefangenheit, Gemüthsruhe und Be-
thätigung der Willenskraft sind, die zum Gelingen der Hypnose über-
haupt erforderlich ist;
2. weil viele psychische Erkrankungen auf organischen Verände-
rungen im Gehirn beruhen und die Suggestivbehandlung doch nur func-
tionelle Störungen beheben kann;
Suggestionstherapie bei Psychosen und Neurosen. 169
3. weil gewisse Symptome, wie z. B. viele Wahnideen und auch
Hallucinationen, wenn auch nicht gerade nachweisbar die Folge organi-
scher Veränderungen, doch so complicirte, im psychischen Mechanismus
so fest fundirte Phänomene sind, dass sie suggestiv kaum angreifbar er-
scheinen und die Redaction der gegen sie gerichteten Suggestion über-
dies schwierig wäre.
Theoretisch ergiebt sich somit die Vermuthung, dass Aussicht auf
Erfolg hypnotisch -suggestiver Behandlung nur bestehen kann bei so-
genannten functionellen Psychosen, und zwar: bei Kranken, bei welchen
Krankheitsbewusstsein vorhanden und die psychologische Eignung zu
Hypnose im Allgemeinen besteht.
Im Allgemeinen würden demnach für hypnotisch -suggestive Be-
handlung geeignet erscheinen:
Blosse Störungen im Gemüthsleben , formale Störungen im Vor-
stellen, speciell Zwangsvorstellungen; Wahnideen, insofern sie blos
autosuggestiv fundirte falsche Ideen, nicht aber Primordialdelirien oder
erklärende Ideen Melancholischer sind; endlich erworbene krankhafte
Triebrichtungen.
Der herrschenden psychiatrischen Terminologie entsprechend wären
es also die Melancholia sine delirio, das Heer der Neuropsychosen, spe-
ciell Hysterie, Hypochondrie, Neurasthenie, Psychose in Form von
Zwangsvorstellungen, der Alkoholismus, der Morphinismus, Cocainismus,
Masturbation, erworbene conträre Sexualempfindung.
Wenden wir uns an die Erfahrung, soweit sie bis jetzt vorliegt,
so decken sich die Eesultate zum Theil mit der theoretischen Vor-
annahme, theilweise erscheinen sie aber günstiger als das Raisonnement
a priori.
In geschichtlicher Hinsicht ist zu erwähnen, dass die ersten wissen-
schaftlichen Versuche zur Heilung von Psychosen von Braid unter-
nommen sein dürften. Braid berichtet von einigen Heilungen von Wahn-
sinn. Ihm reiht sich Liebault an mit einer seit acht Tagen bestandenen,
durch zweimalige Hypnose und Suggestion geheilten Manie. Seit Mitte
der 80 er Jahre hat Voisin sich mit der hypnotischen Behandlung
Geisteskranker, vorwiegend hysterischer Formen, beschäftigt. Auch von
Flechsig liegen analoge Beobachtungen vor.
1886 stand zum ersten Male auf der Tagesordnung eines psychiatri-
schen Congresses (Siena) die Frage der therapeutischen Verwendung des
Hypnotismus bei Geisteskranken.
Funajoli, Seppilli und Bianchi wurden als Berichterstatter erwählt.
Auf dem Congress der italienischen Psychiater in Novara 1889 er-
170 IV. Varia.
stattete Seppilli einen bezüglichen Bericht. (Vgl. Archivio italiano,
Sept. 1890.)
Seppilli fand, dass Geisteskranke in grosser Anzahl hypnotisirbar
sind, aber nie bis zu höheren Graden, d. h. bis zum Verlust des Be-
wusstseins, sodass Suggestionen wenig haften, viel weniger als bei
Hysterischen, Dipsomanen, Melancholischen sine delirio. Bei Paranoia
war der Erfolg ein negativer.
Auf dem Congress für Hypnotismus in Paris 1889 wurden von
v. Reuterghem, van Eoden, Voisin, Sanchez Herrero, De Jong, Bourdon
u. A. Erfolge bei Neurasthenie mit Zwangsvorstellungen, Agoraphobie,
functionellen Psychosen, Folie du doute, Hypochondrie, Impulsen zu
Suicidium, Vesania puerperalis mitgetheilt. Eine Klärung der Ansichten
pro und contra ist seither nicht erfolgt, die wissenschaftliche Leistung
wesentlich auf Casuistik beschränkt geblieben. Die grosse Mehrzahl der
Forscher, namentlich in Deutschland, verhielt sich skeptisch, wenn nicht
geradezu ablehnend.
Beachtenswerth und so ziemlich Alles resumirend, was von den
Gegnern des Hypnotismus vorgebracht wurde, sind die „Bemerkungen"
von Binswanger über „die Suggestionstherapie" in den Therapeutischen
Monatsheften 1889, 1—4.
Mit Recht weist Binswanger darauf hin, dass ein grosser Unter-
schied darin bestehe, ob eine physikalische (Braidismus) oder eine rein
psychische Methode (Nancy'er Verfahren) zur Erzielung der Hypnose
angewendet werde. Die erstere scheine sicherer, wirke tiefer, erscheine
aber gefährlicher.
Binswanger berichtet von Gefahren der Hypnose, die aber m. E.
vermeidbar sind, zeigt, dass der hypnotische Schlaf doch nicht identisch
dem physiologischen ist, nennt die Verwerthung von Vorstellungsreizen
zur Erzeugung bestimmter körperlicher (hypnotischer) Veränderungen
künstliche Züchtung von Hysterie, findet in der hypnotischen
Therapie wesentlich doch nur eine Beseitigung von Symptomen, nicht
eine Heilung von Krankheiten, und zwar auf oft recht kurze Frist.
Ueberdies werden nicht alle Suggestionen wirksam. In den höheren
Graden der Hypnose werden die Individuen willenlose Automaten.
Aus allen diesen Gründen zieht Binswanger die Wachsuggestion
vor, denn hier ist die Induction von Vorstellungen Selbstzweck, bei der
Hypnose aber Mittel zum Zweck. Dort wird das Urtheilsvermögen, die
logische Denkfähigkeit des Kranken, vermehrt, hier geradezu eliminirt.
Binswanger erkennt therapeutische Erfolge des Hypnotismus im
Gebiet der functionellen Neurose, besonders der hysterischen an, aber
er verlangt mit Recht, dass man den doch nicht ganz beherrsch- und
Suggestionstherapie bei Psychosen und Neurosen. 171
dosirbaren Hypnotismus nur da anwende, wo er indicirt sei durch die
Schwere des Falles, also bei Hysteria gravis, bei Hysteria mitis nur dann,
wenn keine schwereren Symptome als Folge der Behandlung zu besorgen sind,
endlich bei anderen Neurosen, wenn alle anderweitigen Mittel erschöpft sind.
Binswanger erkennt an, dass willenschwache, verkommene Säufer (gleich-
wie Morphinisten, Cocainisten) für hypnotische Behandlung sich eignen
mögen, aber dasselbe lasse sich vom Einfluss der Trinkerasyle erwarten.
Vor dem Hypnotismus als Erziehungsmittel für böse Buben, vor
der Hereinziehung der Hypnose in die Pädagogik glaubt er entschieden
warnen zu müssen.
Viel günstiger lauten die Erfahrungen anderer Forscher, wie sich
aus folgender Zusammenstellung ergiebt.
I. Melancholie.
1. Br6maud, Revue de l'hypnotisme. II. Juli, p. 16. Heilung von
puerperaler Melancholie.
2. Voisin, ebenda, IL p. 242.
3., 4., 5., 6. Forel, Corr.-Blatt für Schweizer Aerzte 1887. Besse-
rung einzelner Symptome (Angst, Heimweh).
7. Voisin, Revue de l'hypnotisme vom 1. Juni 1889. Melancholie
mit Selbstmorddrang, seit 8 Jahren bestehend, neben Erscheinungen von
Chorea (hysterica). Heilung durch hypnotische Suggestion. Frau X.,
30 J., Chorea durch Schreck 1870. Seit 1887 dazu Mel. sine delirio und
Taed. vitae. Seit 1888 hyster. Anfälle. Absuggerirung der Verstimmung,
der trüben Ideen und körperlichen Beschwerden. Genesung nach neun
Tagen.
8. Wetterstrand, Der Hypnotismus, 1891. Acute ängstliche Psy-
chose, tiefer Schlaf durch Hypnose. Genesung nach wenig Sitzungen.
9. Idem. Weib, 65 J., Nostalgie, hyster. Grundlage, tiefe Hypnose,
rasche Genesung.
10. Idem. Weib, 40 J., Mel. sine delirio. Nach 24 Sitzungen (An-
fangs nur leichte Hypnose möglich, selbst unter Benützung von Chloro-
form) Genesung.
11. Idem. Dysthymie. Heftiges Taed. vitae bei einem 36 J. alten
Capitän. Nach 24 Tagen dauernde Genesung.
12. Idem. Fräulein, 23 J., nach Gemüthsbewegungen Mel. sine
delirio. Genesung nach 16 Sitzungen.
13. Burkhardt (Prefargier) Revue de l'hypnot., 1. August 1888.
Frau, 67 J., dritter Anfall von Mel. passiva. Beruhigung, Besserung des
Allgemeinbefindens, sonst aber kein Erfolg.
172 IV. Varia.
14. Voisin, Revue de l'hypnot. 1. Mai 1888. Weib, 31 J., Mel.
mit Taed. vitae, rasche, auffallende Besserung.
15. "Weib, 35 J., Mel. mit Hailuc. Genesung durch Hypnose.
16. Idem. Revue de l'hypnotisme. 1. Januar 1890. Mel. anxia.
Misserfolg von Morphium -Behandlung. Heiluug in zwei hypnotischen
Sitzungen.
(D., 22 J., Näherin, aufg. 26. Februar 1889. Seit mindestens Monaten
krank. Beständiges Heulen und Klagen. Keine Hallucinationen. Mittelst
Fixiren der Augen, Aufforderung zum Schlafen, Stirnstreichen gelingt
nach 10 Minuten lethargisches Stadium des Hypnotismus. Am 11. April
Absuggerirung von Angst, Traurigkeit, Schlaflosigkeit. Nach zweiter
Sitzung (14. April) schwindet Psychose. Unter kurzer Fortdauer dieser
Behandlung volle Genesung. Heirath im September. Im December noch
ganz gesund.)
17. Roubinovitsch, ebenda, Februar 1890. P. Bauersfrau, 39 J.,
schwer belastet, Zwangsvorstellung, sie müsse sich verheirathen. Nach
der Heirath tiefe Melancholie, Nahrungsverweigerung, Taed. vitae. Pat.
kommt im zweiten Monat schwanger zur Behandlung. Hypnose gelingt
leicht. Schon nach erster Sitzung Nachlass der Verstimmung, Aufnahme
von Nahrung. Ende October genesen bei 42 kg Gewicht. Ende De-
cember 55 kg und völliges Wohlsein.
H. Manie.
1. Voisin, Revue de l'hypnot. 1. Mai 1888. Weib, 20 J., Mania
menstrualis. Erfolgreicher hypnotischer Schlaf während der ganzen Dauer
der Menses zur Verhütung eines befürchteten Anfalles.
2. Idem. Analoger Fall.
III. Wahnsinn.
1. Voisin, Revue de l'hypnot. I. p. 41. Heilung von Wahnsinn.
2. Lojacono, Annali di nevrologia IX. Jahrg. Fascicol. 1. Chro-
nisch sich gestaltender Wahnsinn, mit Ansätzen zu systematischem De-
lirium, bei einem 27 J. alten Manne. Absuggerirung der Wahnideen.
Grosse Hypnotisirbarkeit und Suggestibilität. Dauernde Genesung nach
wenigen Sitzungen; gut beobachteter Fall.
IV. Hysterisches Irresein.
Am reichhaltigsten ist die bisherige Casuistik beim hysterischen
Irresein, wohl aus dem Grunde, weil man, in der Annahme, dass bei
Hysterie die Hypnose besonders leicht gelinge, ganz besonders bei der-
artiger Grundlage zu Versuchen sich veranlasst sah.
Suggestionstherapie bei Psychosen und Neurosen. 173
1. Seglas, Zeitschr. f. Psychiatrie 43, Nr. 1 und 2, p. 5. Heilung
von hyster. Psychose.
2. Voisin, Annal. med. psychol. 1886. Hysteriu gravis, erotischer,
halluc. Wahnsinn, gestützt auf Gesichts- und Gehörs-Hallucinationen. Ab-
suggerirung des vermeintlichen Geliebten, Verbot seine Stimme zu hören,
ihn anzusehen, Genesung.
3. Idem. Ebenda. Hyster. halluc. Irresein. Heilung durch
Suggestion.
4. Idem. Ebenda. Hyster. Irresein. Verbot weiter zu halluci-
niren, rasche Genesung.
5. Idem. Hysteromanie. Genesung.
6. Idem. Furibundes halluc. Delir. Hypnose gelingt nach l1^
bis 3 Stunden bei der von 6 Wärterinnen festgehaltenen Kranken. Pat.
wird bis zu 18 Stunden zumeist in Hypnose erhalten. Genesung nach
4 Monaten.
7. Voisin, Revue de l'hypnot. I. p. 30. Hysteroepilepsie. Erfolgreiche
Absuggerirung von Anfällen, Taed. vitae, schreckhaften Hallucinationen,
Entweichungsgelüsten.
8. Idem. Ebenda. I. p. 46. Heilung einer seit 6 J. bestehenden
Hystero-Melancholie in 3 Sitzungen.
9. Burot, ebenda. 1. Mai 1889. »Manie hysterique avec impuisions
et hallucinations' , geheilt mit Suggestion (krankhafte Ideen zu über-
winden und gesund zu werden) in tiefem Engourdissement nach 3 Mo-
naten und zweijähriger Dauer der Krankheit.
Paranoia.
Vereinzelte Eälle von Paranoia haben Forel u. A. suggestiv-hypno-
tisch zu beeinflussen versucht, aber mit negativem Resultat, wie dies
zu erwarten war.
Auch Burkhardt (1. c.) konnte in einem Falle bei einer Frau nur
somatische Symptome (Schlafstörung) beseitigen.
Alcoholismus chronicus.
1., 2., 3., 4. Fälle von Forel, Corr.-Blatt für Schweizer Aerzte,
1887. Beseitigung der Trunksucht bei vier inveterirten Alkoholisten.
5. Forel, ebenda. Temporärer sehr befriedigender Erfolg gegen
die Hallucinationen eines Alkoholisten.
6. Bremaud, Revue de l'hypnot. IL Juiliet, p. 19. Sofortige Hei-
lung von länger bestehendem Delir. alcohol.
7. Ladame, ebenda. II. 5. und 6.
174 IV. Varia.
Frau N., 37 J., seit 6 Jahren trunksüchtig, unter Anderem Absynth-
missbrauch, chronisch delirant. Allmälig gelingt Hypnose bei Pat., die
davor Furcht hat. Sie wird anständig, trinkt nicht mehr. Allmälig
genesen.
8. Idem. Frau X., 47 J., Geschäftsfrau. Seit 15 Jahren Potatrix
maxima. Allmälig gelingt Hypnose, aber Suggestionen werden nicht an-
genommen und Patientin, eine Wirthsfrau, bleibt im Geschäft. Verf.
hofft bei Fortsetzung der Hypnose in Anstaltsbehandlung auf Heilung.
9. Berillon, ebenda. 1890, 1. August und 1. September. Mann.
Seit 15 Jahren Alkoholismus. Nach 13 Tagen Genesung trotz freier Be-
handlung. Rückfall nach 8 Monaten. Neuerlich genesen.
10. Idem. Frl. X., 26 J., schwer belastet, wird trunksüchtig, hy-
sterisch, verkommt ganz. Erzielung von Somnambulismus. Drei Rück-
fälle. Endlich Genesung.
11. Burkhardt, Revue de l'hypnot. 1. August 1888. Frau, 28 J,
hysterischer und alcohol. Eifersuchtswahn. Erfolgreiche Absuggerirung
von Wahn und Alkoholbedürfniss. Daheim bald wieder Rückfall.
12. Voisin, ebenda. 1. Mai 1888. Weib, 31 J., Alcohol. chron.
seit 12 Jahren. Genesung.
Diese guten Resultate bestätigt auch Wetterstrand (op. cit. p. 58
bis 62).
Dipsomanie.
1. Voisin, Revue de l'hypnot. II., 2, p. 48. Mann, 35 J., seit 10 J.
alle 15 Tage dipsom. Anfall. Hypnose leicht und tief. Seit zweiter
Sitzung Schwinden der Dipsomanie und diese seit zwei Jahren nicht
wiedergekehrt.
2. Idem. Frau X., 42 J. Seit 5 J. Dipsom. menstrualis. Trinkt
dann bis zu 6 Liter Wein täglich. Erzielung von Somnambulismus.
Entsprechende Suggestionen. Genesung Ende April. Im September noch
ganz gesund.
3. Idem. Frau T., 34 J., seit 6 Jahren alle 8—10 Tage dipsoman.
Anfall. Tiefe Hypnose. Voller Erfolg.
4. Idem. Frau X. Seit dem Tode des Mannes vor 12 J. Dipso-
manie-Anfälle etwa viermal monatlich. Chron. Alkoholismus. Volle
Genesung.
5. Ladame, ebenda. IL, 5. Mann. Seit 15 Jahren Potator. Seit
Jahren Dipsomanie. Nach einer Reihe von Sitzungen volle Genesung.
Moralische Verkehrtheit.
Ueber hypnotische Suggestion zu correctiv-pädagogischen Zwecken
finden sich Berichte in der Revue de l'hypnotisme, L, pp. 85, 97, 129
Suggestionstherapie bei Psychosen und Neurosen. 175
332, 359. II., p. 169 von Berillon, Voisin, Bernheim, Ladarne. Voisin
will einen moralisch Irren curirt und zu einem braven Spitaldiener ge-
macht haben, Liebault aus einem faulen Schlingel einen fleissigen
Schüler. Einen Idioten will er aufmerksam und damit bildungsfähig ge-
macht haben. Es wird geltend gemacht, dass im wachen Leben die
Suggestion erzieherisch ja beständig verwerthet werde, dass die Hypnose
die Suggestion erleichtere und verstärke, dass das böse Beispiel als Auto-
suggestion wirke. Schon 1860 schlug Dr. Durand den Braidismus zu
pädagogischen Zwecken vor. Diese Idee fand Beifall auf dem Congress
zu Nancy 1886. Kinder sind leicht zu hypnotisiren. In ihrem Schlaf
sind nicht selten wirksame Suggestionen beizubringen. Ein bemerkens-
werther Fall ist der 60. in Wetterstrands „Hypnotismus" Schüler, 14 J.
Im Anschlüsse an Chorea Aenderung des ganzen "Wesens im Sinne der
moral insanity, Stehlsucht; völlige Genesung nach 15 Sitzungen.
Ein Rückblick auf die bisherige Literatur bezüglich des Werthes
der hypnotischen Behandlung bei Geisteskranken lässt grosse Divergenz
der Anschauungen erkennen. Voisin ist mehr optimistisch und weist
auf Fälle von jahrelanger Psychose hin, die er zuweilen durch zwei bis
drei Sitzungen suggestiv geheilt habe. (Revue de Thypnotisme. I. p. 48.)
Jedenfalls hat er den Beweis erbracht, dass Geisteskranke mit Ge-
duld und Geschick in Hypnose versetzt werden können.
In der Revue de l'hypnot. vom 1. Juni 1889 spricht er sich auch
günstig bezüglich der Haltbarkeit der Genesung aus. Von 22 Geistes-
kranken, die er hypnotisch behandelt hat (moral. Irresein, Alkoholis-
mus, Melancholie, Manie), hat sich bei 19 die Genesung seit Jahren er-
halten, 3 sind recidiv geworden.
Forel (Corr.- Blatt für Schweizer Aerzte, 1887) ist weniger opti-
mistisch. Er findet Hypnotismus bei Geisteskranken (zu Hypnose ge-
eigneten, nicht veralteten Fällen) nicht erfolglos. In einer späteren
Arbeit (Münchener med. Wochenschrift 1888, Nr. 5) erklärt er das Feld
der Psychosen für die Suggestivbehandlung sehr ungünstig. Einzelne
Symptome, Schlaf, Arbeit, Besserung von Hallucinationen, Heimweh)
lassen sich für einige Zeit und bei milderen Psychosen beeinflussen.
Wetterstrand hatte Erfolg bei leichteren Psychosen. Seine Casuistik
(„Der Hypnotismus" 1891) Beob. 51 — 59 umfasst milde Fälle von Me-
lancholia sine delirio.
Meine eigene Erfahrung bezüglich der hypnotischen Behandlung
der Psychosen ist eine bescheidene, da ich bisher ohne rechtes Vertrauen
zu derselben sie wenig und nur im Nothfallle anwendete. In mehreren
176 IV. Varia.
Fällen von Melancholia simplex, von alkoholischem und hysterischem
Irresein, von Folie du doute, von Morphinismus, endlich bei conträrer
Sexualempfindung und zwar angeborenen und erworbenen Fällen habe
ich theils Heilung, theils erhebliche Besserung erzielt. Eine Kritik der
bisherigen Casuistik lässt sie als zu dürftig und vielfach nicht einwand-
frei erscheinen. Immerhin kann man sich des Eindruckes nicht er-
wehren, dass hypnotische Suggestivbehandlung bei manchen Psychosen
nicht werthlos ist und zuweilen ganz unerwartete und auch dauernde Re-
sultate liefert.
Im Allgemeinen entspricht der Erfolg den theoretischen Voraus-
setzungen und Bedigungen, insoferne im Grossen und Ganzen doch nur
lucide, willfährige, mit natürlicher Begabung zu hypnotischer Beeinflussung
versehene, relativ frische und leichtere Fälle sich für diese Behandlungs-
weise eignen. Eine Hauptsache ist die richtige Bedaction der Sug-
gestionen, bei der mangelhaften wissenschaftlichen Erkenntniss der Patho-
genese und des Zusammenhanges der Krankheitserscheinungen, eine recht
schwierige Aufgabe.
Es erscheint nach eigener und fremder Erfahrung möglich, krank-
hafte Stimmungen, Affecte, Gefühle, Triebe, Vorstellungen, selbst Sinnes-
täuschungen abzusuggeriren oder wenigstens günstig zu beeinflussen,
nicht minder körperliche Störungen, wie z. B. Agrypnie, Anorexie, Ob-
stipation, Neuralgie. Die Hypnose verdient daher weiteres Studium und
Anwendung bei Psychosen. Möglicherweise erleichtert ihre Anwendung
die Zuhilfenahme von Chloroform nach "Wetterstrand.
Als der Behandlung zugänglich sind zu bezeichnen: Melancholia
sine delirio, Wahnsinn, besonders alkoholischer und hysterischer, hyste-
rische Psychosen überhaupt, chronische Intoxicationen, besonders Alko-
holismus und Morphinismus. Besonders bemerkenswerth sind die Er-
folge bei Dipsomanie, conträrer Sexualempfindung. Auch die Folie du
doute lässt sich günstig beeinflussen. Symptomatisch sind krankhafte
Stimmungen, Affecte, Angstgefühle, krankhafte Triebrichtungen, besonders
sexuelle, alkoholische, Morphium- und Cocainhunger Angriffspunkte für
Suggestivbehancllung.
Auch die Vorstellungs- und Willensrichtung lässt sich oft günstig
beeinflussen, schädlichen Gewohnheiten, wie z. B. Onanie, begegnen.
Die Möglichkeit einer hypnotisch-suggestiven Bekämpfung von Wahn
und Sinnestäuschungen muss zugegeben werden, aber jedenfalls nur bei
den oberflächlich sich abspielenden Delirien des toxischen und hysteri-
schen Wahnsinnes. Für die tief fundirten primordialen Wahnideen der
Paranoia und der Melancholie erscheint die Suggestivbehandlung aus-
sichtslos.
Suggestionstherapie bei Psychosen und Neurosen. 177
Zur hypnotischen Suggestivbehandlung der Neurosen.
Ein dankbareres Feld für diese Art der Behandlung bietet jedenfalls
das der Neurosen dar.
Theoretisch ergeben sich keine Schranken auf diesem Gebiet der
functionellen Krankheit.
Hysteria gravis.
Ueberaus zahlreich sind die Beobachtungen und Erfahrungen be-
züglich dieser Neurose. Im Allgemeinen lauten sie günstig bezüglich
des Erfolges und seiner Dauer.
So leicht hypnotisirbar , als man vielfach meinte, sind Hysterische
aber keineswegs.
Die leichte Hypnotisirbarkeit verbürgt zudem nicht die Suggesti-
bilität. Diese lässt ebenfalls vielfach zu wünschen übrig. Gleich Voisin
finde ich, dass hysteroepileptische Anfälle die Fortdauer der Suggestion
aufheben, sodass diese neuerlich ertheilt werden muss.
Ich kenne zur Zeit kein besseres Mittel zur Bekämpfung hysterischer
Insulte, als Hypnose. Bei individuell richtiger Methode hört die Geneigtheit
derartiger Kranken, anlässlich hypnotischer Sitzung Krämpfe zu bekom-
men, bald auf. Lästig ist öfters bei solchen Kranken die Entstehung
von autohypnotischen Zuständen. Sie weichen energischer inhibitorischer
Suggestion, bei temporärem Aussetzen der Behandlung.
Der Erfolg dieser gegen Krampfhysterie ist ein sehr verschieden-
artiger. Ich kenne zahlreiche Fälle von rascher und dauernder Genesung
in eigener Erfahrung. Häufiger ist die Dauer des Erfolges eine recht
kurze. Dann sind vielfach ungünstige Aussenverhältnisse, die beständige
Fortwirkung von ursächlichen Momenten im Spiele.
Alle möglichen sonstigen Beschwerden der Hysterie sind der
Suggestivbehandlung zugänglich.
Die ärztlichen Journale wimmeln von der erfolgreichen Beseitigung
hysterischer Lähmungen, Neuralgien u. s. w. MaDche Enttäuschungen
bezüglich des erwarteten Erfolges oder seiner Dauer, bleiben aber nicht
erspart. Nur die positiven Fälle pflegeu erwähnt zu werden. Von nicht
geringei-, zuweilen geradezu pädagogischer Wirkung kann die hypnotische
Suggestion auf Stimmung, Vorstellen und Streben bei dieser so vielfach
von Autosuggestionen abhängigen Neuropsychose sein. Wenn man nicht
Alles, was beim weiblichen Geschlecht von Neurose vorkommt, Hysterie
nennt, kann ich den Hysterischen bezüglich Hypnotisirbarkeit und Sug-
gestibilität keine Vorzugsstellung einräumen.
Krafft-Ebing, Arbeiten II. 12
178 IV. Varia.
Neurasthenie und Hypochondrie.
Noch woniger beizukommen ist den Neurasthenikern, obwohl gerade
hier, wo an jedem Symptome der vielgestaltigen Krankheit Autosugge-
stionen sich entwickeln, eine kräftige Contrasuggestion ein grosser Segen
für Arzt und Patient wäre.
Gleich Wetterstrand (April 1891) finde ich Neurastheniker schwer
hypnotisirbar, da sie nur selten in ruhige Gemüthsstimmung und zur
Fixirung ihrer Aufmerksamkeit zu bringen sind, wie dies zum Gelingen
der Hypnose erforderlich ist. Nachhilfe mit Chloroform erleichtert nicht
selten sehr die Aufgabe. Ueber tiefes Engourdissement kommt man
meist nicht hinaus. Für leichtere Fälle ist es ausreichend. Die Bernheini-
sche Methode erscheint die beste. Braid verbietet sich meist wegen neur-
asthenischer Asthenopia und Zunahme von Kopfbeschwerden. Zu allen
Schwierigkeiten kommt noch die mangelhafte Suggestibilität dieser Kranken,
bezw. das Uebergewicht ihrer Autosuggestionen, besonders die, incurabel
zu sein.
Unter 37 bezüglichen Fällen vermochte Wetterstrand 9 gar nicht
in Hypnose zu bringen, 4 boten therapeutisch werthlosen, leichten
Schlummer. Die übrigen 24 eigneten sich zur Behandlung und von
denselben wurden 10 sehr gebessert, 14 geheilt.
Meine Erfahrungen stimmen wesentlich mit denen von Wetter-
strand überein. Auf glänzende Erfolge kann man hier nicht rechnen,
aber einzelne Symptome (Stimmung, Schlaf u. s. w.) werden oft rasch
gebessert und die psychische Therapie, die bei diesen Patienten die
Hauptsache ist, wird meist mächtig gefördert.
Im Allgemeinen handelt es sich hier um Suggestion von Muth,
Selbstvertrauen, ablenkender Beschäftigung, Beseitigung autosuggestiver
Ideen organischen Leidens (Herz, Hirn, Kückenmark), Absuggerirung
peinlicher Empfindungen, die jene autosuggestiven Ideen unterhalten,
Beseitigung ätiologisch wichtiger Masturbation, Bekämpfung krankhafter
Furcht („Agoraphobie") und lästiger Zwangsvorstellungen.
Bemerkenswerthe Beispiele aus der Literatur:
1. Voisin, Revue de l'hypnot., 1. Februar 1888. Frl. N, 24 J,
Neurasthenie, sexuelle Zwangsvorstellungen. Dysthymie. Pat. ist nur
mit Braid und nur oberflächlich hypnotisirbar, aber sehr suggestibel.
Suggestionen contra Zwangsvorstellungen und genitalen Eeiz. Ver-
heissung der Genesung, die vollkommen und dauernd eintritt.
2. Bernheim, Hypnotisme, nouvelles observations, 1891. Schwere,
erworbene, nicht constitutionelle Neurasthenie.
3. Idem. Seit zwei Jahren Neurasthenia cerebralis und Dysthymie.
Suggestionstherapie bei Psychosen und Neurosen. 179
Nosophobische Ideen, nicht mehr gesund zu werden, geistig zu ver-
sumpfen. Pat. ist schwer hypnotisirbar und nur schwach suggestibel.
Trotz nur leichter Hypnose triumphirt von der achten Sitzung ab die
Fremdsuggestion über die Autosuggestion. Dauernde Besserung.
4. Idem. Schwere Belastung. Seit vier Jahren Onanie. Schwere
allgemeine Neurasthenie. Nur tiefes Engourdissement erzielbar. Nach
sechs Wochen Genesung.
5. Berillon, Revue de l'hypnotisme, 1. Mai 1890. Stabsofficier,
40 J., durch geistige Ueberanstrengung schwer neurasthenisch seit zwei
Jahren, an seiner Zukunft verzweifelnd, mit Taed. vitae. Seine letzte
Hoffnung ist Hypnose. Pat. kommt in tiefen Schlaf. Absuggerirung
der Beschwerden. Nach drei Wochen (künstlicher Ruhe des Gemüthes
durch Befreitsein von Beschwerden und Autosuggestion) dauernde Ge-
nesung.
6. Burkhardt, Revue de l'hypnot. vom 1. August 1888. Frau,
43 J., schwere Hypochondrie. Anfangs bloss leichter hypnotischer Schlaf
erzielbar, später tieferer. Absuggerirung der krankhaften Beschwerden.
Rasche Genesung.
Morphinismus.
Von Bedeutung für die Behandlung der Morphinisten ist zweifellos
auch die Suggestivtherapie. Sie kann Nützliches leisten, um diesen
Kranken die Abstinenzbeschwerden zu erleichtern, besonders ihren
Morphiumhunger zu bannen, überdies auch, um, gleichwie bei Dipso-
manen, neuem Gelüste zu Morphiumgebrauch in Form von verbietenden,
besser Abscheu einpflanzenden Suggestionen wirksam zu begegnen. In
einem bezüglichen Fall, wo die Pat. Morphiumrecepte fingirte, gelang
es mir auch suggestiv, ihr das Schreiben des Wortes Morphium un-
möglich zu machen.
Ueber grössere Erfahrung verfügt Westerstrand (op. cit.), der
22 Fälle von Morphinismus mit hypnotischer Suggestion behandelt hat.
19 genasen, 2 stellten der Behandlung Widerstand entgegen, von einem
Fall fehlen Nachrichten. Seine Leistungen sind umso beachtenswerther,
als sie im Privathause zu Stande kamen. Verfasser giebt drei inter-
essante Beobachtungen in seiner Schrift. Seine Erfahrungen gehen da-
hin, dass Morphinisten schwer sich zu Hypnose und Suggestion bequemen.
Mit Geduld und der Zeit gelinge es aber doch meistens.
Auch Voisin (Revue de l'hypnot. I. p. 161) und Forel (Corr. -Blatt
für Schweizer Aerzte 1887) berichten günstige Erfahrungen; ferner Burk-
12*
180 IV. Varia.
hardt (Kevue de l'hypnot. 1. August 1888, Fall 6, Frau von 44 Jahren,
Hysteria gravis, Morphinismus).
Analog wie beim Morphinismus hat Wetterstrand (op. cit.) auch
bei einem Fall von Chloralismus, sowie bei 3 Fällen von Nicotinisnius
(Absuggerirung des Tabakbedürfnisses) volle und dauernde Genesung
erzielt. Schon in der Eevue de l'hypnotisme, II, p. 220, finden sich von
Yoisin günstige Erfahrungen bei dem Tabakmissbrauch Ergebenen mit-
getheilt.
Zur Suggestivbehandlung der Hysteria gravis.*)
Zu den schwierigsten Aufgaben ärztlicher Kunst gehört die Be-
seitigung der oft so störenden und Gefahren für den Kranken und die
Umgebung bietenden Anfälle von Hysteria gravis. Die auf Arzneimittel
(Antispasmodica, Tonica, Narcotica) beschränkte Therapie ist eine sehr
unsichere, wenn auch nicht zu leugnenj ist, dass Zinc. valerianicum,
Valerianapräparate überhaupt, besonders aber Arsenbehandlung etwas
zum Heilerfolg beitragen können.
Inhalationen von Bromäthyl, Chloroform, energische Reize auf die
individuellen spasmogenen Zonen applicirt, Morphiuminjectionen, sind doch
wesentlich nur palliative symptomatische, dem einzelnen Anfall gerecht
werdende therapeutische Eingriffe, in letzterem Sinne zudem nicht harm-
los wegen der Gefahr einer Züchtung von Morphinismus.
Viel mächtiger sind Hydrotherapie, Psychotherapie und zwar in
Form von Isolirung von dem Milieu, in welchem der Patient erkrankte
und positiv — im Sinne von zielbewusster methodischer ärztlicher
Psychagogie, wobei Wachsuggestionen eine' hervorrragende Rolle spielen
dürften.
Aber auch mit allen diesen Hülfen gelingt es häufig überhaupt
nicht, die fatalen Krankheitsanfälle zu bannen, im besten Palle erst nach
langer, selbst Monate umfassender Behandlungsdauer und auf Recidive
muss man auch hier immer gefasst sein.
Ueberraschend sind dagegen in zahlreichen Fällen die Resultate
einer hypnotischen Behandlung, namentlich wenn sie unter den gün-
stigen Verhältnissen einer Isolirung von der Familie und den krank-
machenden Einflüssen geübt werden kann. Ich habe, gleich anderen
Beobachtern, auf diesem "Wege Heilerfolge erzielt, welche an Raschheit
und Dauerhaftigkeit nichts zu wünschen übrig Messen und diese Behand-
lungsmethode allen übrigen weit überlegen zeigten.
Es wäre aber ein grosser Irrthum, zu glauben, dass diese eine
Methode sich für alle Fälle schickt und dass die Paradefälle, welche der
*) Zeitschrift für Hypnotismus. Jahrgang IV, Heft I.
jg2 IV. Varia.
über seinen Erfolg erfreute Beobachter mittheilt, der Maassstab für das
■wirkliche Können und Leisten so schweren Krankheitszuständen gegen-
über 'wären.
Neben solchen Treffern erscheinen viele Nieten und es kann dies
auch nicht anders sein, wenn man bedenkt, wie complicirt die Bedin-
gungen für einen Erfolg — genügende Hypnotisirbarkeit, Ueberwerthig-
keit der Fremdsuggestion über die Autosuggestionen des Kranken, die
oft durch Bornirtheit, Eigensinn, Vorurtheile u. s. w. fast unüberwind-
lich erscheinen, sich erweisen.
Dazu kommt nach Umständen ein psychisches Hinderniss — die ver-
schleierte psychische Aetiologie des Falles, -wodurch die psychische
Analyse desselben und damit die richtige Redaction der zu ertheilenden
Suggestionen nothleiden.
Aber selbst wenn die psychische Genese des Falles klar zu Tage
liegt, sind die wirksamen psychischen Momente (peinliche Erlebnisse,
Vorstellungen) oft so fest wurzelnd, dass selbst die sinnreiche, von
Freud und Breuer ersonnene Methode zu ihrer Eliminirung versagt,
zumal wenn es nicht gelingt, den Kranken in Zustände von tieferer
Hypnose (Somnambulismus) zu versenken.
Daran reihen sich den Erfolg oft sehr störend beeinflussende Inter-
ferenzwirkungen im Sinne äusserer, das Gemüth schädigender zufälliger
Vorkommnisse oder neuer Manifestationen der an Syndromen unerschöpf-
lichen Krankheit.
Am allerfatalsten ist es, wenn der hypnotische Eingriff absolut
wirkungslos bleibt — die besonders leichte und jeweils zu gewärtigende
Hynotisirbarkeit hysterisch Kranker trifft nach meinen Erfahrungen
keineswegs zu — womit der Arzt nothwendig empfindlich an seinem
Prestige dem Kranken gegenüber einbüsst, oder wenn bei jedem hyp-
notischen Versuch der Kranken darauf mit neuerlichen Anfällen seiner
Krankheit reagirt und innerhalb solcher hypnotischer Beeinflussung gegen-
über erst recht sich refractär zeigt.
Solche Erfahrungen sind in den letzten Jahren in meiner Klinik
geradezu die Regel. Zum Theil lassen sie sich auf durch vermeintlich
autoritative, den Unwerth und selbst die Gefahr hypnotischer Behand-
lung behauptende Suggestionen, welche dem Wiener Publikum zu Theil
wurden, zurückführen. Jedenfalls besteht in dieser Hinsicht ein grosser
Unterschied zwischen Wien und Nancy!
In manchen Fällen gelingt es durch Aenderung der Methode zum
Ziel zu gelangen, aber der Misserfolg ist Regel und es bedarf glänzen-
der Ausnahmsfälle, um den Werth der hypnotischen Behandlung nicht
aus dem Auge zu verlieren.
Suggestivbehandlung der Hysteria gravis. 183
Die im Anschluss mitgetheilten Fälle sind recht geeignet zu diesem
Zweck. In beiden Fällen wurde schwere hysterische Krampfkrankheit
in kurzer Frist und durch wenige Sitzungen anscheinend dauernd be-
seitigt.
Dass hier hypnotische Behandlung ausschlaggebend war, indem
krankhafte Bedingungen zur Auslösung von Krankheiten eliminirt und
die Widerstandskraft der Patienten gestärkt wurden, geht mit voller Be-
stimmtheit aus diesen Beobachtungen hervor.
Dieser hypnotische Einfluss muss um so mehr gewürdigt werden,
als das Milieu kein vortheilhaftes war, denn die Nervenabtheilung für
Männer an der Wiener psychiatrischen Klinik besteht nur aus einem
Saal, in welchem ein beständiges Zu- und Abgehen von Schwerkranken
stattfindet und die für hypnotische Behandlung wünschenswerte Ruhe
und Isolirung nicht zu erzielen sind.
Die folgenden Fälle zeigen auch, dass schon leichtere Grade von
Hypnose genügen, um Anfälle von Hysteria gravis wirksam zu be-
kämpfen und dass es wesentlich auf die Stärke der Suggestibilität der
Kranken dabei ankommt.
Der sich psychischer Mittel zur Einschläferung bedienenden Me-
thode möchte ich durchaus den Vorzug geben. Zuweilen (psychisch er-
regte, zur Concentration schwer gelangende Kranke) ebnet ihr die Ein-
athmung von ein wenig Chloroform (Wetterstrand) den Weg.
Beob. 1. Herr A., Kunstgärtner, stammt aus scbwerbelasteter Familie. Der
Vater der Mutter starb irrsinnig. Der Vater des Kranken, gleichwie dessen Bruder,
sind Constitutionen neuropatbiscb, zwei derselben an Hysteria gravis leidend.
A. war von Kindesbeinen an reizbar, emotiv, Stotterer, ehrgeizig. Bei Gemüths-
bewegungen stellte sich jeweils Globus ein.
1886 in Italien erfuhr er heftige Gemüthsbewegungen, indem er bei einer Garten-
bauausstellung nicht mit dem gehofften Preise bedacht wurde und indem er am 19. Juni
seine Verlobte, die er in voller Gesundheit glaubte, als er sie besuchen wollte, todt
antraf. Er war ganz verzweifelt, machte einen Suicidversuch , bekam am 2. 12. 86
einen ersten Anfall von Hysteria gravis, dem rasch mehrere folgten. Man brachte ihn
ihn ein Spital, wo man r. Hemibypästbesie und beiderseitige concentrische Sehfeldein-
schränkung constatirte. Pat. verliess das Spital schon am 12. 7., litt neuerlich an
AnfälleD (epileptoide Phase, grands mouvements), blieb nervös, reizbar, emotiv, über
Kleinigkeiten verstimmt, bekam 1887 im Anschluss an einen Anfall durch einen Monat
Contractur in 1. Ober- und Unterextremität , die sich in der Folge noch öfter im An-
schluss an Anfälle, aber von kürzerer Dauer zeigte.
Seit 1888 kehrten die Anfälle alle 2—3 Monate wieder.
r. Hemihypästhesie, Amyosthenie und concentrische Gesichtsfeldeinschränkung
blieben als Dauersymptome. 1892, nach Emotionen Häufung der Anfälle.
Seit 12. 1. 93 traten diese besonders gehäuft auf und hinterliessen bis zu vier
Tage dauernde Beugecontractur der 1. OE. und Streckcontractur der 1. UE. Dazu je-
weils nach Anfällen Kopf-Nackenschmerz, grosse Mattigkeit.
184 IV. Varia.
Intervallär erschien Patient schreckhaft, emotiv, klagte Schwindel, Schmerz und
Leere im Kopfe. Nach einem Anfall am 18. 1. 93 war hysterisches Stottern auf-
getreten.
Stat. praes. bei der Aufnahme auf der Klinik am 3. 2. 93.
Pat., 29 J., mittelgross, ziemlich kräftig, hlass, ohne Sensibilitäts- oder Sinnes-
störungen. Keine spasmogenen Punkte auffindbar. Amyosthenie in 1. Ober- und Unter-
extremität, mit Nachschleifen des 1. Beines beim Gehen.
16. 2. Bisher fast täglich 2 — 3 Anfälle (epileptoide Phase mit Are de cercle), be-
ginnend mit Kopfschmerz, Blässe. Bewusstsein aufgehoben. Dauer 3—5 Minuten.
Darnach jeweils Kopf- Nackenschmerz , stärkeres Stottern, Trübsehen auf dem 1. Auge
ohne Gesichtsfeldeinschränkung.
22. 2. Bisher vier Mal Hypnose, die nach Bernheim's Methode, unterstützt durch
Stirnstreichen, leicht gelingt, jedoch nur bis zu tiefem Engourdissement sich erstreckt.
Dafür ist Pat. höchst suggestibel.
Die ertheilten Suggestionen lauten:
1. Sie dürfen keine Gemüthsbewegungen mehr dulden, müssen volles Vertrauen
in Ihre Genesung haben, die binnen wenigen Tagen eintreten wird.
2. Ihre Krämpfe werden von nun an ausbleiben, denn Sie sind stärker als die
Krankheit und können sie beherrschen.
3. Ihre linke Seite wird wieder stark, Ihre Sprache frei (Bestreichen der 1. Seite
und der Zunge).
Schon nach der ersten Sitzung schwanden Stottern und Amyosthenie. Pat. em-
pfand noch Mahnungen im Sinne der früheren Krämpfe, vermochte sie aber leicht zu
unterdrücken. Pat. fühlte sich genesen, verliess das Spital Anfang März 93, blieb ge-
sund, berufsfähig, heirathete Ende 94 und befand sich bis zum Abschluss dieser Be-
obachtung (December 95) ganz wohl.
Beob. 2. Herr E., Juwelier, Bruder des Vorigen, von jeher neuropathisch, an-
lässlich Emotionen an Globus leidend, als Kind mit Convulsionen behaftet, wurde nach
bilateraler radicaler Bruchoperation (13. 6. 94) hysterisch (1. Amyosthenie, partielle Hyjj-
ästhesie des vierten und fünften Pingers bis zum Metacarpus). Nach heftiger Gemüths-
bewegung am 15. 8. 94 erster Hysteria gravis- in sult (epileptoide Phase und grands
mouvements).
Seither 1. schwere Amyosthenie und 1. Hemianästhesie.
Jacksonanfälle in Gestalt von 1. Facialiskrampf und assoeiirtem Krampf der Mm.
rect. int. ocul. sin. und rect. ext. oculi sin., in kurzen Intervallen wiederkehrend, je-
weils von heftigem Kopfschmerz begleitet und etwa 5 Minuten dauernd, zuweilen auch
auf die 1. OE. übergehend.
Die Anfälle von Hysteria gravis kehrten alle 2—3 Tage wieder, bis zu drei in
einem Tage.
Als Aura dieser Anfälle heftiger Kopfschmerz, Ziehen gegen den Nacken, dann
bewusstloses Zusammenstürzen. Der Anfall bestand in der epileptoiden Phase, darauf
Elexionscontractur in 1. OE, Streckcontractur in 1. UE., Masseterenkrampf, Andeutung
von Are de cercle. Dauer selten unter 5 Minuten. Während der Lösung des Anfalls
zuweilen noch clonischer Kinnbackenkrampf. Hie und da reihte sich noch eine periode
do delire an.
Am 21. 8. 94 auf die Klinik aufgenommen, erschien Pat. mittelgross, gracil, Schädel
normal, r. Hoden steckt noch im Leistencanal. L. Hemianästhesie für alle Qualitäten,
dabei 1. Anosmie, Ageusie, Akousie, 1. fehlende Gaumen- und Rachenreflexe, Visus
normal, keine Sehfeldeinschrünkung, 1. Amyosthenie.
Suggestivbehandlung der Hysteria gravis. 185
Pat. wird gewöhnlicher antihysterischer Behandlung unterworfen. Die Jackson-
anialle schwinden Ende September, die 1. Hemianästhesie reducirt sich auf das Gebiet
des vierten und fünften Fingers bis zum Metarcarpophalangealgelenk herauf, wo sie
hartnäckig bleibt.
Die Anfälle von Hysteria gravis ändern sich nicht und da die gewöhnliche Be-
handlung sich machtlos gegen sie erweist und Pat. schon wegen des Heilerfolgs bei
seinem Bruder zu hypnotischer Therapie das grösste Vertrauen hat, wird unter derart
günstigen Umständen mit solcher am 26. 10. 94 begonnen.
Durch einfache Verbalsuggestion gelingt es, Pat. in tiefes Engourdissement zu
versetzen. Die Sitzungen am 26. und 28. 2. beschränken sich darauf, Pat. zu erklären,
dasB sein Leiden identisch mit dem seines genesenen Bruders sei und dass an seiner
Heilung nicht zu zweifeln sei. Er möge Emotionen bekämpfen und Vertrauen zu seiner
Zukunft haben. Der jeweiligen Suggestion, eine Stunde post hypnosin zu schlafen, wird
entsprochen, aber nicht pünktlich.
Am 29. 10. zwei gewöhnliche Anfälle.
30. Hypnose, Suggestion. Emotionen zu meiden und Anfälle zu unterdrücken.
1. 11. unvorhergesehene heftige Gemüthsbewegung; Pat. kämpft sichtlich gegen
drohenden Anfall an, aber dieser bricht endlich doch aus, verläuft aber auffallend mild.
Vierte Hypnose 2. 11. = 30. 10. Pat. wird präcise in der Leistung der Schlat-
suggestion.
6. 11. Da Pat. keine Anfälle mehr bekommt, aber noch in der Klinik nicht vor-
gestellt wurde, heute in V. Hypnose Suggestion am 7. in den Hörsal um 430 zu kommen
und dort um 4" einen Anfall zu bekommen. Dieser werde mild und sicher der
letzte sein.
7. 11. Pat. vollzieht pünktlich den suggestiven Auftrag. Der bestellte Anfall
ist überaus mild und kurz, beschränkt sich auf die Markirung des tonischen Abschnittes
der epileptoiden Phase. Am 8. 11. VI. und letzte Hypnose mit der Erklärung, dass die
Krankheit geschwunden sei und kein Anfall mehr kommen könne.
17. 11. inzwischen, bis auf leichte Cephaläa, völliges Wohlbefinden.
27. 11. 94. Pat. hält sich für genesen. Auch die restirende Amnästhesie an der
1. Hand ist geschwunden.
18. 12. 95. Seither gesund und arbeitstüchtig.
Ueber Paraldehyd- Gebrauch und Missbrauch,
nebst einem Falle von Paraldehyd- Delirium.*)
In unserem nervösen Zeitalter, in welchem Schlaflosigkeit eine
überaus häufig gehörte und ärztliches Können in Anspruch nehmende
Klage ist, erscheint das fortgesetzte Streben der Wissenschaft, neue
Schlafmittel dem Arzneischatze einzuverleiben, nur zu sehr begründet.
Bedenkt man, dass selbst unsere heroischsten Hypnotica, wie z. B.
Chloralhydrat, nicht in allen Fällen als zuverlässig sich erweisen, dass
jedes Schlafmittel, auch das beste, mit der Zeit in seiner Wirkung nach-
lässt, dass gar manches — und darunter in erster Linie wieder das
Chloralhydrat — bei anhaltendem Gebrauche schädliche und selbst be-
denkliche Nebenwirkungen entfaltet, so begreift sich das Interesse,
welches der ärztliche Praktiker neuen Hypnoticis entgegenbringt, hoffend,
dass das neue Mittel gerade in den Fällen sich wirksam erweise, die
den bisherigen trotzten.
In der stattlichen Reihe der Hypnotica, vom Opium und seinen
Alkaloiden zum Brom, Chloralhydrat, der Piscidia, dem Urethan,
Hypnon u. s. w., nimmt das von Weidenbusch 1829 entdeckte Paral-
dehyd (C12 H12 03) eine hervorragende Stelle ein, insofern es in der
Mehrzahl der Fälle in einer Dosis von 4 — 6,0 (am besten mit 6—0,0 Tr.
Aurant. simpl. als Corrigens in einem Glase Zuckerwasser genommen)
prompt und sicher wirkt, einen mehrstündigen, dem physiologischen sehr
nahestehenden Schlaf hervorruft, erst nach Wochen seine Wirkung ver-
sagt, nach kurzer Pause neuerdings wirkt, keine unangenehmen oder
schädlichen Nebenwirkungen selbst bei längerem Gebrauche bei obiger
Dosis entfaltet. Ueberdies bilden selbst geschwächte Herzaction und
Kreislaufstörungen (Herzfehler), sowie febrile Zustände keine Contra-
indication und ist es per anum applicirbar, womit selbst bei besonders
sensiblen Individuen, denen der allerdings sehr penetrante Geruch des
Mittels widerlich ist, die Anwendung möglich wird.
*) Zeitschrift für Therapie 1887, 7.
Paraldehyd-Gebrauch und Missbrauch. 187
Berücksichtigt man noch die Erfahrungsthatsache, dass das Paral-
dehyd gerade bei Neurasthenischen und Hysterischen, wo gegen ander-
weitige Schlafmittel vielfach Idiosynkrasien bestehen und der Erfolg
fraglich ist, die hypnotische Wirkung selten versagt, so muss das Paral-
dehyd als eine der werthvollsten Errungenschaften unseres hypnotischen
Arzneischatzes bezeichnet werden.
Da Nervenleiden und die darauf basirende Schlaflosigkeit in der
Kegel chronische Uebel sind, erscheint das Paraldehyd doppelt berufen,
Nützliches zu leisten, insofern sich die Erfahrung bestätigt, dass es auf
lange Zeit hinaus prompt und sicher wirkt, vor Allem aber, dass es
bei anhaltendem Gebrauch keine Gefahren für den Organismus bietet.
Beides kann ich nach mehrjähriger und reicher Erfahrung ver-
bürgen, die Unschädlichkeit allerdings nur, so lange innerhalb medi-
cinischer Dosen geblieben wird. Die obere Grenze der Tagesdosis des
Mittels zu bestimmen, dürfte vorläufig schwer sein. Ich habe eine
Reihe von Fällen beobachtet, in welchen nun schon seit über zwei
Jahren fast allnächtlich 4 — 6,0 zur Anwendung gelangten, ohne dass irgend-
welche Störungen in den ersten Wegen, geschweige alkoholismusähnliche
Erscheinungen von Seiten des Centralnervensystems zu beobachten ge-
wesen wären.
In einem Falle von höchst peinlichem Krampf des Accessorius
Willisii nahm der Kranke Monate lang um 12,0 täglich ohne irgend
welche schädliche Nebenwirkung. In diesem Falle erprobte sich nicht
nur die hypnotische, sondern auch die allgemein sedative und krampf-
stillende Wirkung des Mittels.
In einem Falle von Delirium tremens habe ich bis 20,0 in 24 Stunden
ohne Nachtheil, mit endlichem hypnotischem und curativem Erfolge ge-
geben.
Anders ist die Sachlage, wenn — analog dem Morphium- und
Chloralmissbrauch — das Paraldehyd anhaltend und in den medicini-
schen Gebrauch weit übersteigenden Dosen incorporirt wird. Schon
Dujardin-Beaumetz, ein entschiedener Lobredner des Mittels, wirft im
„Bulletin genöral de Therapeutique" vom 30. Januar 1884 die Frage auf,
ob das Paraldehyd nicht, analog dem Alkohol, mit der Zeit dem Organismus
Schaden bringen möge.
Diese Frage kann ich für entschieden missbräuchliche und abnorm
hohe Dosen aus meiner Erfahrung bejahen, insofern vor nicht langer
Zeit ein Pat. sich mir vorstellte, der über Jahresfrist wegen neur-
asthenischer Beschwerden und Schlaflosigkeit täglich 35,0 Paraldehyd
zu verzehren pflegte und von dessen Gebrauch befreit zu werden
wünschte, weil er Tremor der Hände, Abnahme des Gedächtnisses und
188 IV- Varia.
der geistigen Frische bemerkte, welche Symptome auch thatsächlich vor-
handen waren. Ueberhaupt machte der blasse, aufgedunsene, anämische,
aber zugleich fettreiche, geistig abgestumpfte, in seinem Muskeltonus
herabgesetzte Mann den Eindruck eines in chronischer Intoxication be-
findlichen, dem Alkoholismus nahestehenden Patienten.
Noch deutlicher ist die schädliche Wirkung des Paraldebydabusus
in folgendem, auf der mir unterstehenden Nervenklinik beobachteten
Falle von Paraldehyddelirium.
Beob.
Sophie S., 27 J., angeblich aus unbelasteter Familie, von Kindes-
beinen auf nervös, von sehr labiler Vasomotorius-Innervation, auch ge-
müthlich reizbar, wurde mit 16 J. ohne Beschwerden menstruirt, strengte
sich in den Entwicklungsjahren geistig sehr an, da sie sich dem Beruf
einer Lehrerin widmen wollte. Die Menses wurden unregelmässig. Es
entwickelten sich Symptome von cerebraler Asthenie und hysterische,
klonische Krampfanfälle. Im Anschluss an ein von der Familie nicht
gebilligtes Heirathsproject litt sie vom 19. J. ab U/a J. lang an Melancholie
und hysteroneurasthenischen Beschwerden (allgemeine Mattigkeit, Spinal-
irritation, Globus, Furcht vor geschlossenen Räumen u. s. w.), sowie
an ungenügendem, schwer eintretendem und unerquicklichem Schlaf. Ein
vor 6 J. consultirter Arzt ordinirte Chloralhydrat. Pat. hatte damit
Ruhe vor ihren nervösen Beschwerden und ausgiebigen Schlaf. Sie
gewöhnte sich an das Mittel, glaubte dasselbe nicht mehr entbehren zu
können, consumirte nun jahrelang täglich etwa 5,0 Chloral. Sie wurde
im Laufe des J. 1884 davon muskelschwach , geistig stumpf, anämisch,
bekam Tremor und fühlte selbst das Bedürfniss, dieser Medication sich
zu entziehen, versuchte es wiederholt, konnte aber vor Angst, Unruhe
und vermehrtem Globus die Abstinenz nicht ertragen, musste immer
wieder zum Chloral greifen, bis sie am 30. Januar 1885 auf Rath der
Aerzte und Angehörigen sich entschloss, zur Entziehungscur und um
von ihrem Nervenleiden befreit zu werden, die Grazer Nervenklinik
aufzusuchen.
Der Stat. praes. ergab eine mittelgrosse, bleiche, anämische, auf-
gedunsene Persönlichkeit. Der Puls war weich, tard, die Herztöne etwas
dumpf, aber rein. Keine Albuminurie. Vegetative Organe ohne Befund.
Die neurotischen Beschwerden beschränkten sich auf Globus, Dyspnoe-
gefühl, jedoch ohne Beschleunigung der Respiration, leichten Tremor,
Muskelschwäche, Anorexie, zeitweise Bulimie. Keine Ovarie. Keine
Erscheinungen von vasomotorischem Rash, keine Oedeme.
Am 3. Februar wurde Chloral, von welchem Pat. bisher 5,0 täglich
genommen hatte, plötzlich entzogen, unter Substitution von 4,0 Paral-
Paraldehyd-Gebrauch und Missbrauch. 189
dehyd. Da dieses nicht ausgiebig hypnotisch wirkte und die nervösen
Beschwerden, speciell Athemnoth und Globus, verstärkt auftraten, wurde
mit Paraldehyd auf 8,0 täglich gestiegen. Bei dieser Dosis stellte sich
Euphorie ein. Pat. verlor ihr aufgedunsenes Aussehen, wurde geistig
frischer, der Puls gewann seine normale Spannung wieder und am
20. April 1885 wurde die inzwischen auf 5,0 Paraldehyd zurückgeführte
Pat. aus der Behandlung entlassen, mit der Weisung, diese nicht zu
überschreitende Dosis anlässlich neuerlicher nervöser Beschwerden fort-
zugebrauchen.
Am 8. Januar 1887 wurde Pat. der Klinik wegen Paraldehydmiss-
brauch wieder zugeführt. Sie geht, stark nach Paraldehyd riechend zu,
bleich, aufgedunsen, mit starkem Tremor der Zunge und Hände, Klagen
über zeitweises Hitzegefühl im Kopfe, Globus, Beengungs- und Angst-
gefühl in den oberen Partien des Brustkorbes. Pat. ist fieberlos, Puls 90.
Die vegetativen Organe ohne Befund. Sensibilität normal, ausgenommen
die Beugeseite beider Kniegelenke und die Gegend der Ovarien, wo
cutane Hyperästhesie besteht. Beide Ovarien druckempfindlich. Die
tiefen Reflexe an den unteren UE. sind normal.
Pat. giebt an, dass sie seit der Entlassung, wegen fortdauernden
Globus- und Athembeschwerden, andauernd Paraldehyd brauchte und
seit Jahresfrist auf die Dosis von 30,0 pro die gekommen sei.
Die Yerwandten berichten, dass Pat. über ärztliche Verordnung
täglich 10,0 nahm, ausserdem aber heimlich en gros das Mittel vom
Droguisten bezog. Sichergestellt wurde, dass das heimlich bezogene
Quantum etwa 1 kg im Monat betrug. Sie nahm in der letzten Zeit
das Paraldehyd sogar unverdünnt in den Mund und schluckte es unter
Nachtrinken von Wasser. Man habe sie fast andauernd in einem duseligen
oder rauschartigen Zustande gesehen.
Pat. gab beim Eintritt geringe Mengen von mit Wasser verdünnten
Paraldehyd ab, versicherte hoch und theuer, nichts von dem Mittel mehr
zu besitzen. Da sie aber bis zum 11. Februar fortfuhr, penetrant nach
Paral. zu riechen, wurde eine Durchsuchung ihrer sämmtlichen Effecten
vorgenommen und ein Quantum von 350,0 reinem Paral. bei ihr ge-
funden.
Gering gerechnet, hat Pat. per Tag 40,0 Paraldehyd bisher ge-
nommen. Da die Wirkungen einer plötzlichen Entziehung des in so
hohen Dosen gebrauchten Mittels wissenschaftlich nicht bekannt sind
und die Möglichkeit eines Delir. tremensartigen Zu Standes a potu inter-
misso, nach Analogie der plötzlichen Alkoholabstinenz, nicht ausgeschlossen
war, wurde, nach Rückgehen auf die medicinisch zulässige Dosis von 10,0,
eine allmälige Entziehung, unter Verminderung der Dosis um 1,0 täglich
190 IV. Varia.
angeordnet und der Kranken reichlich Wein und Bier gewährt. Zu-
gleich wurde sie isolirt und Bettruhe verfügt. Am 11. Abends hatte
Pat. ihre bis zum 12. früh gewährte Dosis von 10,0 schon verbraucht.
Sie wurde nun ängstlich, unruhig, äusserte Furcht vor der Nacht, die
sie ohne Paraldehyd nicht verbringen werde, nahm von den Medica-
menten anderer Patienten, in der Hoffnung, dadurch Beruhigung zu
finden und trank den "Wein einer Anderen aus. Die Nacht verlief
schlaflos. Sie lag im Bette, jammernd und ächzend.
Am 12. früh 5 Uhr wurde Pat. delirant. Sie sprang mit dem
Ausrufe: „Jetzt sterbe ich" zum Bett heraus, lief verzweifelt im Zimmer
herum, hörte die Stimme ihrer Mutter, die weinte und der Tochter die
bevorstehende Ueberführung nach der Irrenanstalt verkündete. Pat. ist
nicht zu beruhigen, hört beständig die Mutter vor der Thüre weinen und
schreien, sieht Kinder, einen Mann, der ihr droht. Starker Tremor
linguae et manuum.
Nachmittags IVa Uhr epileptiformer Anfall von 3' Dauer (Starre
der OE., clonische Krämpfe in der Gesichtsmusculatur , Starre der
Nackenmuskeln, Zähneknirschen, Zungenbiss, blutiger Schaum vor dem
Mund, Cyanose), darnach ruhig, aber getrübtes Bewusstsein.
Am 13. schlaflose, aber ruhige Nacht. Pat. hat kaum die Hälfte
der ihr bewilligten Paraldosis (9,0) verbraucht. Bewusstsein etwas freier.
Tremores fortdauernd. Klagen über Zusammenzucken in den Knie-
kehlen. Erinnerung nur ganz summarisch für die Erlebnisse vom 11.
Nachmittags, wieder tiefere Störung des Bewusstseins. Hört Stimmen,
dass sie schwanger sei, dass ihr das Kind aus dem Leib gerissen werde. .
Sie hört ihre Eltern auf dem Corridor, sieht massenhaft kleine Kinder,
ferner einen Mann mit einer Narrenmaske, weiss, dass sie im Narren-
thurm sei, macht mit den Händen Kreuzbewegungen und verlangt, dass
man ihr Blut einpumpe, sonst werde sie sterben. Pat. bemerkt das
neben ihrem Bette stehende Paraldehyd (7,0) nicht. Abends wird es
ihr gereicht. Sie trinkt es gierig aus.
14 Schlaflose Nacht. Glaubt sich daheim. Verwirrte, verstörte
Miene. Tremores, dick belegte Zunge. P. 108. Temp. M. 37,5.
Nachmittags Temp. 38,3. P. 108. Ideenflüchtiger, deliranter Zu-
stand. Faselt von ihren Eltern, Kindern, bittet, ihr das eine Auge zu
lassen, das andere sei schon verloren. Glaubt sich im Kapuzinerkloster in C
Abends P. 120—130, Herztöne rein, kräftig. Temp. 38,6. Im Harn
Spuren von Albumin.
Delirirt von Entbindung, es riesele das Blut an ihr herab, geht
nackt im Zimmer herum, massenhaft Gehör- und Gesichtshallucinationen,
Paraldehyd-Gebrauch und Missbrauch. 191
faselt von Elektricität. Seit heute früh 4stündlich Injection von 0,04
ext. Opii aquosum und 2 mal täglich 0,001 Strychnin nitr. subcutan.
15. Von 1 — 4 Uhr geschlafen. Darauf componirter, örtlich orientirt,
Bewusstsein freier. Giebt an, massenhaft Kinder, phantastische Figuren
und männliche Gestalten gesehen zu haben, die sich wild durcheinander
bewegten, sodass dadurch ein „Gesumse" entstand. In letzter Nacht
habe sie sich auf der Eisenbahn geglaubt und deshalb beständig „ein-
steigen" gerufen.
Im Ganzen heute 5 h. Schlaf. Temp. 37—38.
• 16. Von 1 Uhr früh an delirant. Sieht beständig Kaminfeger im
Zimmer, spricht mit einer „Leopoldine", sucht ihre Eltern, hört den
Schwager und die Schwägerin sprechen. „Die Eltern führen Kampf auf
Leben und Tod." Sie selbst ist 3 mal gestorben. Dr. G. liegt ihr zu
Füssen. Temp. 38,4—38,1, P. 92.
17. Unter Fortgebrauch der Injectionen 4 h. geschlafen. Bewusst-
sein klärt sich; frischeres Aussehen. Tremores schwinden. Temp. 37,4
bis 37,5. Harn eiweissfrei. Klagen über erschwerte Orientirungsfähigkeit,
enorme Mattigkeit. Eintritt der Menses.
18. Ganze Nacht geschlafen. Temp. 36,8—37,4, R 78. Anästhesie
auf r. Fussrücken, Analgesie auf r. Planta pedis. Patellarreflex r. nicht
auslösbar.
Von heute an noch 3 mal täglich 0,03 extr. Opii subcutan.
19. Stundenweise geschlafen. Klagen über Funkensehen und Ohren-
sausen, hörte ab und zu ihren Namen rufen. Unter Tags ruhig, er-
schöpft. Temp. 37,5—37,8.
20. Wenig Schlaf, Globus. Spinalirritation, wechselnde Hitze- und
Kältegefühle. Sensible Störungen an r. UE. schwinden. Abends noch
0,05 extr. Op.
21. Ziemlich geschlafen. Delirium geschwunden. Bewusstsein frei.
Status quo ante.
Pat. bleibt ihrer hysterischen Neurose wegen bis Anfangs März auf
der Klinik. Delirium und epileptische Insulte treten nicht mehr auf. Die
Ernährung hebt sich, die neurotischen Erscheinungen schwinden bis auf
zeitweise Schlaflosigkeit und neuralgische Beschwerden im r. Fuss.
Paraldehyd wurde keines mehr gegeben und Pat. mit einem Bromrecept
entlassen.
Ein Fall von Paraplegia brachialis.
Franz M., Landmann, 38 J., stellte sich am 11. November 1892 im
klinischen Ambulatorium für Nervenkranke des allgemeinen Kranken-
hauses vor und bat um Rath wegen einer Lähmung seiner OE.,
von der er seit Anfang Juli 1892 befallen sei.
M. ist ein grosser, kräftig gebauter Mann aus angeblich ganz un-
belasteter Familie, kein Trinker, war nie syphilitisch und, mit Ausnahme
eines Typhus mit 19 Jahren und einer Pneumonie mit 35 Jahren, nie
krank gewesen.
Am 25. Juni 1892 war er unter Fieber und Stechen in der 1.
Thoraxhälfte erkrankt. Der Arzt erklärte die Erkrankung für eine
Lungenentzündung, setzte Blutegel, worauf grosse Erleichterung eintrat
Pat. konnte schon am 27. Juni das Bett verlassen und am 1. Juli wieder
an die Arbeit gehen.
Am 2. Juli fühlte er sich neuerlich unwohl, hatte heftigen Kopf-
schmerz, blieb am 3. Juli zu Bett und war, als er am 4. Juli Morgens
erwachte, an den OE. gelähmt.
Die Arme hingen schlaff herab und nur die Finger waren etwas
beweglich. Am 1. Oberarm spürte er keine Berührung, vom Ell-
bogengelenk abwärts war die Sensibilität herabgesetzt, desgleichen an
der ganzen r. OE. Nach etwa zehn Tagen kehrte die Sensibilität
wieder, auch die Beweglichkeit besserte sich etwas in den Fingern
und Handgelenken, aber nun stellten sich Dysphagie, Dyspnoe und
Schwerhörigkeit ein, zugleich mit heftigen, reissenden Schmerzen im
Nacken, oberen Rücken, Schultern, 1. Vorderarm und r. Ulnaris-
gebiet. Bei Druck oder passiver Bewegung steigerten sich diese
Schmerzen bis zur Unerträglichkeit. Dieselben dauerten etwa 14 Tage
und verloren sich dann gänzlich. Die Athemnoth (ohne Katarrh) hielt
14 Tage an, die Dysphagie (Pat. konnte nur flüssige Kost gemessen) und
Schwerhörigkeit dauerten sechs Wochen.
*) Wiener klinische Wochenschrift 1893, 10.
Fall von Paraplegia brachialis. 193
Im September kehrte etwas Beweglichkeit in den Schulter-, im
Laufe des October in den Ellbogengelenken wieder.
Schon seit den ersten Wochen hatte sich Abmagerung der Muskeln
des Schultergürtels bemerklich gemacht, die in der Folge immer weiter
vorwärts schritt.
Am 11. November 1892 constatirte man intacte Function sämmt-
licher Hirnnerven und beider UE.
An den Schultergelenken war die Abduction nur minimal möglich,
die Supination und Pronation des gestreckten Armes aufgehoben.
Im r. Ellbogengelenk waren alle Bewegungen möglich, aber sehr
behindert, im 1. wurde nur schwache Beugung erreicht.
Im r. Handgelenk erschienen ausser Palmarflexion alle Be-
wegungen sehr behindert, im linken gut ausführbar.
In den Fingergelenken der r. Hand alle Bewegungen sehr be-
schränkt, 1. kein Ausfall, bis auf mangelnde Streckung des Mittelfingers.
Passive Bewegung im r. und 1. Schultergelenk schmerzhaft.
Auf Druck schmerzhaft beide Tricipites und Cucullares, desgleichen
die Nervi radiales und mediani.
Die tiefen Keflexe in der 1. OE. etwas gesteigert, die Sensibilität
intact, keine vasomatorischen Störungen, bedeutende Atrophie beider
Mm. deltoidei, supra- und infraspinat. , namentlich 1. Atrophisch sind
überdies 1. Triceps und Biceps.
Anfang Januar 1893 lässt sich Pat. auf die Klinik aufnehmen.
Status praesens vom 12. Januar 1893.
Höherstehen des r. Schulterblattes, Vorspringen der Cucullarisränder.
Im oberen Dorsaltheil dextroconvexe Skoliose. Auffallendes Hervor-
treten von Akromion, Proc. coracoid. und Crista scapulae. Abflachung
des Spatium interscapulare. Grubige Vertiefung der Fossa supraspinata,
Abflachung der Fossa infraspinata, geringes Abstehen des inneren
Scapularrandes von der Unterlage. Der 1. Angulus scapulae steht höher
und ist etwas nach vorn rotirt. Bei passiver Erhebung des 1. Armes
rückt jener nach vorne fast bis zur hinteren Axillarlinie, und die Er-
hebung des Armes über die Horizontale stösst auf Widerstand. Die
passive Bewegung in allen Gelenken frei und schmerzlos.
Bedeutende Atrophie der Mm. der Fossa supra- und infraspinata,
der Deltoidei und Tricipites. Latissimi dorsi, Pectorales ohne auffälligen
Schwund, aber sehr schlaff, ohne Tonus.
Active Beweglichkeit der Heber des Schulterblattes intact, der
Senker desselben herabgesetzt.
Krafft-Ebintr, Arbeiten U. ±u
194 IV. Varia.
Einwärtsroller der r. OE. sufficient, der 1. in vermindertem Maasse.
Auswärtsroller der r. OE. leidlich sufficient, der 1. insufficient.
Die Pectorales in ihrer Function als Adductoren herabgesetzt, 1.
mehr als r.
Hebung der OE. sowohl r. als 1. nur bis etwa 30° möglich.
Greifen der 1. Hand nach der r. Schulter gelingt nicht, die r.
Hand erreicht die 1. Schulter.
Auf den Rücken vermag Pat. nur die r. Hand zu bringen, nicht
aber die 1.
Im Gebiet des r. Musculocutaneus ist die Leistung eine be-
friedigende, aber die grobe Muskelkraft sehr gering; die 1. Biceps-
gruppo ist ganz functionsuntüchtig.
Pronation und Supination im r. gebeugten Arme ausführbar, im
1. unmöglich.
Der r. Triceps ist sehr muskelschwach, der 1. besser.
Bei Dorsalflexion der r. Hand und Finger ist bloss der Extensor
carpi ulnaris und der 5., 4., 3. Finger insufficient.
An der 1. Hand vollzieht sich die Streckung befriedigend, mit Aus-
nahme des Mittelfingers. Auch der Interosseus 4. und der Abductor
digiti minimi ist hier insufficient.
Sonst besteht kein Ausfall der Leistung im Ulnarisgebiet, auch
nicht r., ebenso wenig im Gebiet der Nn. mediani.
Sensibilität allenthalben intact, tiefe Reflexe sehr herabgesetzt.
Keine Kälte, Cyanose oder Oedeme oder cutane trophische Störungen
im Lähmungsgebiet.
Faradisch unerregbar sind beiderseits M. supraspinatus, infra-
spinatus, hintere Portion des Deltoides und Triceps. Diese Muskeln sind
auch mit statischer Elektricität nicht erregbar.
Herabgesetzt ist die faradische Erregbarkeit im 1. Triceps (dabei
träge Zuckung), im Biceps, Serratus major, latissimus dorsi beiderseits,
ferner 1. im Extensor digiti comm. und Antithenar.
Für den galvanischen Strom unerregbar sind M. supra- und
infraspinatus.
Die übrigen Muskeln und Nerven bieten folgende Werthe:
Rechts Links
N. radialis (ümschlagstelle) KSZ 6 M.-A. 5
ASZ 9 » 10
H. ulnaris KSZ 1-5 » 2-0
ASZ 7-0 » 8-0
N. medianus KSZ 6-0 » 7-5
ASZ 6-0 » 7-5 (ASZ überwiegt)
Fall von Paraplegia brachialis. 195
Rechts
Links
M. cucullaris
KSZ
1-0 1
L-A.
2-0
ASZ
4-0
»
5-5
M. deltoides
vordere Portion
KSZ
8
»
5-0
ASZ
5-5
»
7-0
hintere Portion
KSZ
4-0
»
3.5
ASZ
5-0
>
5-0
M. biceps
KSZ
6-0
»
4-5 (träge Zuckung)
ASZ
5-5
y>
4-0
M. triceps
KSZ
7-5
•»
6-0
ASZ
5-0
»
5-5
M. supinator longus
KSZ
6-0
»
5-0
ASZ
9-0
4-5
In den atrophischen Muskeln sind häufige und intensive fibrilläre
Zuckungen zu bemerken.
Epikrise: Paraplegia brachialis in Folge doppelseitiger multipler
Neuritis im Gebiet des Plexus brachialis.
Ausgeschlossen kann werden eine Poliomyelitis anterior subacuta
vom 5. — 7. Cervicalnervensegment, da sensible Störungen, Anfangs
Anästhesie, später Schmerzen im Krankheitsbild auftreten.
Auch der relativ gutartige Verlauf, das Ausbleiben vasomotorischer
Störungen sprechen für Neuritis.
Die vorübergehende Dysphagie, Dyspnoe und Schwerhörigkeit sind
im Sinne einer neuritischen Mitaffection von Vagus-, Glossopharyngeus-
und Acusticusbahnen gelegentlich eines Nachschubes der Neuritis deutbar.
Die Polyneuritis ist möglicherweise als eine postpneumonische, in-
fectiöse, durch Toxine vermittelte aufzufassen.
Schwer geschädigt erscheinen im Sinne einer Neuritis die Nn. sub-
und suprascapularis, axillaris, radialis, musculocutaneus, leicht getroffen
Nn. thoracici anteriores, N. thoracicus longus, medianus, ulnaris.
Der Fall, im Rahmen der sogenannten Erb'schen Lähmung, ist ein
überaus seltener, da in der Literatur ausser einem von Bernhardt mit-
getheilten, durch Trauma entstandenen nur ein kürzlich von Heyse
(Berl. kl. Wochenschrift 1892 Nr. 52) bei einem Phthisiker beobachteter
ihm zur Seite steht.
13*
Ueber Drucklähmung von Armnerven
durch Krückengebrauch*.)
Während meiner elektro-therapeutischen Thätigkeit im Sommer 1871
an der Heilstation Baden hatte ich Gelegenheit, nachstehende 5 Fälle
von Krückendrucklähmung zu beobachten und zu behandeln. Nur das
besondere ätiologische Moment verleiht denselben eine klinische Bedeutung,
da sie im Symptomenbild und Verlauf ganz mit den durch irgend eine
andere traumatische Ursache herbeigeführten peripherischen Lähmungen
übereinstimmen. Wie aus den bekannten Untersuchungen von Erb
(Deutsch. Archiv V. H. 1; Centralblatt 1868 Nr. 8) und Hertz (Virchow's
Archiv 1869 H. 3) hervorgeht, sind auch die durch Quetschung herbei-
geführten Veränderungen der insulitrten Nerven die gleichen wie bei
durchschnittenen, nämlich eine von der Quetschungsstelle bis zur
äussersten Peripherie fortschreitende Degeneration, die, an der Mark-
scheide beginnend, endlich auch den Axencylinder ergreift, consecutive
trophische Störungen der vom betr. Nerven versorgten Muskeln herbei-
führt und die anatomische Ursache des bekannten Decursus der
elektrischen Erregbarkeitsveränderungen an Nerv und Muskel ist.
Bei leichter Quetschung degenerirt und regenerirt sich wahrschein-
lich nur der Theil der Nerven, der direct vom Trauma betroffen wurde,
nicht die ganze periphere Ausbreitung, woraus sich der bald leichtere
(Beob. 4 und 5), bald schwerere Charakter dieser Drucklähmungen erklären
dürfte, der sich dann bei ersterem durch fehlende oder nur geringfügige
Aenderungen der elektrischen Erregbarkeit und Ausbleiben von trophi-
schen Störungen im Muskelgebiete der Lähmung klinisch und prognostisch
auszeichnet. Besonders häufig und schwer sind die Insulte, welche der
N. radialis bei diesen Krückendrucklähmungen erleidet, wohl wegen
seiner anatomischen Lage, indem er da, wo er sich um den Humerus
herumwindet, zwischen Knochen und Querstütze der Krücke besonders
leicht eine Quetschung erfährt.
*) Deutsches Archiv für klinische Medicin 1871.
Drucklähmung von Arninerven durch Krückengebrauch. 197
Therapeutisch empfehlen sich alternirende Behandlungsweisen mit
Inductions- und galvanischen Strömen, wobei die kräftiger erregende
Polwirkung der Ka vorzugsweise als stabiler und labiler Muskel- und
Nervenstrom zu verwerthen ist. Für leichtere Fälle dürfte der inducirte
Strom allein zur Herstellung genügen.
Prophylaktisch empfehlen sich möglichst gut gepolsterte Krücken,
bei denen die Achselstütze nicht einfach mit Tuch gepolstert, sondern
mit einem mittelst Kautschuck überzogenen Rosshaarkeilkissen bedeckt
ist. Gut ist es auch, jede Krücke mit einer Handstütze zu versehen,
die den Druck auf die Achsel vermindert und eine zeitweilige Benutzung
der Krücke als Krückstock gestattet.
Beob. 1. Drucklähmung des N. radialis, medianus,
ulnaris, musculocutaneus, cutan. brachii int. major et minor.
Bontemps, 22*/a J., am 18. Dec. 1870 am Bein verwundet, begann
Anfang März 71 auf schlechtgepolsterten Krücken zu gehen. Gleich in
der ersten halben Stunde trat Taubheit des ganzen 1. Arms, Prickeln,
Ameisenkriechen, lästiges Gefühl von Schwere und Bewegungslähmung
sämmtlicher Muskeln, ausgenommen des M. deltoides ein. Pat. ver-
zichtete aufs Gehen, gebrauchte erfolglos spirituöse Einreibungen ; die
gelähmten Muskeln magerten ab.
Stat. praes. am 24. April: Bedeutende Abmagerung des gelähmten
Armes, am Oberarm um 2 cm, am Vorderarm um 3 cm. Haut leicht
cyanotisch, Temperatur vermindert; lästiges Gefühl von Formication.
Ausgenommen auf der vom N. axillaris versorgten hinteren Fläche des
Oberarms cutane Schmerz- und Tastempfindung im ganzen Arm er-
loschen, Reflexerregbarkeit aufgehoben. M. deltoides von normalem
Volumen und intacter Leistungsfähigkeit; alle übrigen Muskeln, aus-
genommen interossei und lumbricales gelähmt und ohne allen Tonus,
Hand schlaff herabhängend. Sowohl die directe als indirecte galvanische
und faradische Reizung ergiebt normale Erregbarkeit. Auf mechanische
Reize reagiren die Muskeln nicht. Elektromusculäre Sensibilität herab-
gesetzt.
Die Behandlung bestand in alternirender Reizung der Muskeln und
Nervenstämme mittelst galvanischer und farad. Inductionsströme, in täg-
lichen Sitzungen von 5' Dauer.
Nach 10 Sitzungen kehrte die willkürliche Beweglichkeit im Gebiet
des Medianus, nach der 13. im Ulnaris zurück, gleichzeitig mit der der
Beuger des Vorderarms. Aeusserst hartnäckig blieb die Anästhesie des
Vorderarms, der Hand und der Finger, sowie die Lähmung der vom N.
radialis versorgten Muskeln, welche Functionsstörungen erst am 9. Juni
198 IV. Varia.
nach 34 Sitzungen vollständig beseitigt waren, sodass Pat. genesen ent-
lassen werden konnte.
Beob. 2. Drucklähmung des N. axillaris, muscnlocu-
taneus, radialis, ulnaris, medianus.
Jacobi, 25 J., am 22 Oct. 70 am Bein verwundet. Vom 24—28.
Februar 71 erste Gehversuche an Krücken. Am 28. Februar beginnendes
taubes Gefühl und Ameisenkriechen im Bezirk des rechten N. ulnaris,
das sich centripetal fortschreitend auf die ganze Extremität verbreitete.
Zunehmende Schwerbeweglichkeit sämmtlicher Muskeln, bis zu völliger
Lähmung sich rasch steigernd. In der Folge Gefühl von Schwere, Taub-
heit, Ameisenkriechen, Kalte. Der Arm magerte ab, die Lähmung blieb
complet und unverändert bis auf die letzten 3 "Wochen, wo sich fort-
schreitend Besserung zeigte.
Stat. praes. am 24. April 71: Ober- und Vorderarm um 2 cm ab-
gemagert. Erhebung des Arms bis zur Horizontalen nicht möglich
(Parese des M. deltoides), Parese der Strecker und Beuger des Vorder-
arms, der Flexores manus et digitorum, der Pronatoren und Supinatoren;
complete Lähmung der Mm. interossei, lumbricales, der Extensores manus
et digitorum. Hand schlaff herabhängend und etwas nach der Ulnarseite
gewendet, durch vorwiegende Lähmung des M. extens. und flexor carp.
radialis. Faradische und galvanische Erregbarkeit von Muskeln und
Nerven normal, ausgenommen im N. radialis, wo sowohl für den galvan.
als faradischen Reiz die indirecte Erregbarkeit fast aufgehoben, die
directe erheblich vermindert und im N. extensor carp. radial. = 0 ist.
Die elektromusculäre Sensibilität allenthalben intact, desgleichen die
cutane, ausgenommen im ganzen Radialisgebiet, wo sie sehr ver-
mindert ist.
Die Behandlung bestand in täglicher Reizung der Nervenstämme
und Muskeln mittelst der Ka labil. Während nach 14 Sitzungen die
Lähmung aller übrigen Muskeln beseitigt war, erwies sich die im Gebiet
des N. radialis äusserst hartnäckig, ja sogar die indir. farad. Erregbar-
keit sank temporär auf Null und die Farado- und Galvanocontractilitat
nahmen noch weiter ab.
Ziemlich plötzlich kehrte um die 25. Sitzung die cutane Sensibilität
im Radialgebiet wieder. Damit coincidirten eine erhebliche Besserung
der Erregbarkeit für indir. und directe faradische Ströme und beginnende
Wiederkehr der Motilität der vom Radialis versorgten Muskeln. Die
Besserung schritt von da ab rasch fort. Als Pat. am 4 Juni fast völlig
hergestellt nach 37 Sitzungen entlassen werden musste, war jede Be-
wegung ausführbar, die Muskelkraft jedoch noch gering; die indir.
galvan. und farad. Erregbarkeit zur Norm zurückgekehrt, die Farado-
Drucklähmung von Armnerven durch Krückengebrauch. 199
contractilität normal, die galvanische Muskelerregbarkeit noch etwas
vermindert.
Beob. 3. Drucklähmung des N. musculocutaneus und von
Radialis- und Medianusästen.
Leonhard, 24. J., am 22. Oct. verwundet. Mitte Februar erster
Gebrauch von Krücken. Schon nach wenigen Tagen stellte sich Prickeln
und Pelzigsein in den 2 letzten Pingern der linken Hand ein, das sich
auf die ganze Hand verbreitete. Pat. fuhr fort an Krücken zu gehen.
Nach weiteren 2 Tagen trat Parese in den Beugern und Streckern der
Hand und den Fingern, sowie der Beuger des Vorderarms ein. Die
Hand hing schlaff und kraftlos herab und wurde unbrauchbar.
Stat. praes. am 25. April: Linker Oberarm um 3, 1. Vorderarm um
2 cm abgemagert. M. biceps und brachial, int. paretisch, Vorderarm in
Pronationsstellung (Lähmung des M. supinator brevis), Dorsal- und
Volarflexion der Hand nur unvollkommen möglich; Hand nach der
Ulnarseite abgewichen (Lähmung des M. flexor carp. radialis), Finger-
bewegung intact. Cutane Sensibilität unversehrt. Normale elektrische
Reaction auf alle Stromesarten.
Die Therapie bestand in labiler Ka-Reizung der Nn. perforans,
medianus, radialis. Schon nach wenigen Sitzungen gelang die volle
Flexionswirkung der Beuger des Vorderarms, dann kehrte die Function
des Flexor. carp. radialis, endlich die der Extensores manus und des
Supinator brevis zurück. Am 13. Mai, nach 12 Sitzungen, konnte Pat.
genesen entlassen werden.
Beob. 4. Drucklähmung von Radialiszweigen.
Schütze, 28 J. Seit März Gebrauch von gut gepolsterten Krücken
wegen Beinschuss. Seit Anfang Mai beginnende Parese des Extensor
carp. rad. et ulnar., Extensor. digit. communis. Hand hängt schlaff
herab, Finger nicht streckbar. Extensores pollicis intact. Normale in-
directe, verminderte directe faradische und galvanische Erregbarkeit.
Cutane Sensibilität intact. Keine Muskelatrophie. Behandlung mittelst
indirecter galvan. und faradischer Reizung. Am 20. musste Pat. evacuirt
werden. Auf 6 Sitzungen hatte sich die willkürliche Bewegung ge-
bessert, sodass die Dorsalflexion der Hand möglich war. Die normale
elektrische Reaction bestand fort.
Beob. 5. Drucklähmung von Radialis- und Medianus-
zweigen.
Reuter, 26 J. Krückengebrauch wegen Paraplegie nach Meningitis
spinalis. Seit einigen Wochen zunehmende Parese und taubes Gefühl
in Vorderarm, Hand und 3 ersten Fingern.
Stat. praes. am 16. Mai: Parese der Strecker der r. Hand und
200 IV. Varia.
Finger, der Beuger der 2. und 3. Phalanx des 1. — 3. Fingers. Hand
kann nur bis zur Horizontalen gestreckt und nicht zur Faust ge-
ballt werden. Händedruck kraftlos. Interossei und Lumbricales nicht
gelähmt. Cutane Sensibilität intact. Normale elektrische Reaktion, aus-
genommen im Radialgebiet, wo die indirecte Erregbarkeit auf faradische
und galvanische Ströme vermindert ist, bei verminderter Farado-
contractilität und intacter Galvanocontractilität der paretischen Muskeln.
Behandlung : indirecte und directe faradische Reizung nebst labilen
galvan. Muskelströmen. Nach wenigen Sitzungen normale Reaction und
Motilität im Medianusgebiet, die nach 11 Sitzungen auch im Bezirk des
Radialis wiedergekehrt sind.
Eine Diagnose auf Tumor
in der Grosshirnschenkel-Haubenbahn.*)
Mit Eecht hebt Prof. Heubner (Archiv f. Psychiatrie XII, p. 586)
die Wichtigkeit hervor, welche Gehirntuberkel, speciell solitäre, falls
ihre Symptome gut beobachtet wurden, für das Studium der Function
bestimmter Hirntheile haben können, da sie bei ihrem Umschriebensein
und bei der geringen Schädigung der umgebenden Hirnsubstanz den
Werth eines physiologischen Experimentes am Menschen haben, ja dieses
sogar noch übertreffen. Der folgende Fall erfüllt diese Voraussetzungen
und dürfte um so beachtenswerther sein, als er nicht ein Kind betraf,
bei dem die Ausbeutung der klinischen Phänomene immer erschwert
ist, sondern ein erwachsenes Individuum.
Am 10. December 1888 gelangte auf der Grazer Nervenklinik die
41 J. alte Taglöhnersfrau Anna W. zur Aufnahme. Sie stammt an-
geblich aus gesunder Familie , hat nie concipirt, will nie luetisch afficirt
gewesen sein, seit zwei J. in Folge chronischen Schnupfens das Geruchs-
vermögen verloren haben. Sie war nie schwer krank, verlor 1886 die
Menses ohne Beschwerden. Im Herbst 1887 schwollen unter Schmerzen
die r. Halsdrüsen stark an und blieben geschwellt. Im Sommer 1888
litt Pat. an rechtsseitigem heftigem Kopfschmerz mit Erbrechen, das aber
nach Herausbeförderung von Ascariden nicht wiederkehrte.
Am 1. November 1888 bekam Pat. plötzlich ein Gefühl von Schwere
in den Beinen, sodass sie sich heimführen lassen musste. Der habituelle
Kopfschmerz steigerte sich. Pat. hatte ein Gefühl in der Stirngegend,
als ob siedendes Wasser herumlaufe, Sausen und Läuten im r. Ohr,
empfand Schwindel, Schwäche in der r. OE., reissende Schmerzen in
dieser und im r. Bein, Schütteltremor in r. OE. und UE. bei kaltem
Luftzug und bei Bewegungen, Doppelsehen und beiderseitige Ptosis, jedoch
schwand die des 1. Auges schon am folgenden Tage. Bei der Aufnahme
erschien Pat. mittelgross, in der Ernährung reducirt. Die r. Schädel-
*) Wiener klinische Wochenschrift 1889, 47.
202 VI. Varia.
hälfte war auf Percussion sehr empfindlich. Auf dem r. Auge bestand
Lähmung sämmthcher innerer und äusserer Zweige des N. oculomotorius
bei Unversehrtheit der Leistungen des Abducens und des Trochlearis.
Pupillenweite 4,5 mm. Einschränkung des Gesichtsfeldes auf der
r. nasalen Hälfte.
Pupille des 1. Auges eng, auf Licht accommodativ reagirend. Seh-
vermögen intact. Gesichtsfeld nach keiner Richtung hin eingeschränkt.
Mit dem Augenspiegel constatirte man auf beiden Augen eine leichte
Verschleierung der Papille.
Gehör, Geschmack intact, Geruchsvermögen erloschen. Alle übrigen
Hirnnerven normal functionirend. Kopf- und Rumpfbewegungen un-
gestört. "Wirbelsäule normal.
Rechte Oberextremität: Grobe Muskelkraft etwas vermindert.
Einzelbewegungen normal.
Hyperalgesie. Auch die Nervenstämme auf Druck empfindlich.
Tiefe Reflexe enorm gesteigert bis zu Schüttelkrampf.
Nirgends Sensibilitätsausfall.
Linke Oberextremität: Normale Muskelkraft, ausgesprochene
Ataxie, kein Intentionszittern, tiefe Reflexe schwach.
Sensibilität normal.
Rechte Unterextremität: Grobe Muskelkraft etwas herabgesetzt.
Einzelbewegungen erhalten. Das Bein wird beim Gehen etwas nach-
gezogen.
Enorme Steigerung der tiefen Reflexe, sodass nicht bloss Beklopfen
der Sehnen, sondern auch solches der Knochen allgemeinen Schiittel-
krampf hervorruft, der zuweilen auch sich auf die r. OE. fortsetzt.
Durch Beklopfen des Condyl. int. femoris kann man Adductoren
und Quadriceps in Contractur versetzen; bei Beklopfen des Schienbeines
entsteht eine Contractur im M. tibialis ant.
Hyperalgesie. Sensibilität überall erhalten. Muskeltonus gesteigert,
Muskelbewusstsein intact.
Linke Unterextremität: Bei normaler Muskelkraft und Einzel-
bewegung besteht hochgradige Ataxie. Sensibilität normal, desgleichen
Muskelbewusstsein ; P. S. R. normal, Achillesreflex fehlt (r. hochgradiger
Fussklonus). Beklopfen der 1. Tibia ruft Schütteltremor im r. Bein hervor.
Bauchdeckenreflex beiderseits vorhanden, r. gesteigert. Die rechtsseitigen
Halsdrüsen bis bohnengross geschwellt, nicht hart. Lues nirgends nach-
weisbar. Harn eiweiss- und zuckerfrei. Puls constant über 100. Abend-
liche subfebrile Temperaturen. Zeichen von tuberculöser Erkrankung
nirgends auffindbar.
19. December. Beständiger Drehschwindel, auch im Bette. D'e
Tumor in der Grosshimschenkel-Haubenbahn. 203
motorische Schwäche und die Steigerung der tiefen Reflexe ist in r. OE.
und UE. nicht mehr so ausgespochen. Die Hyperalgesie erstreckt sich
auch auf die r. Gesichtshälfte.
Sonst Stat. idem.
Papillen verschleiert, ihre Grenze undeutlich, ebenso die der Ge-
fässe, die nur als schmale Streifen sichtbar sind.
Quellung und Trübung der Papillensubstanz (beginnende Stauungs-
papille).
Bei der heutigen klinischen Demonstration wird die Diagnose auf
Tumor im r. Grosshirnschenkel, mit vorwiegendem Sitz in der
Haubenregion, gestellt. Die Natur des Tumors bleibt unbestimmt.
Natr. jodat. bis zu 3,0 täglich.
28. December. Beginnende Ptosis links. Parese des M. rectus superior
und inferior oculi sin. Deutlich ausgesprochene Papillitis.
In r. OE. und UE. ist die motorische Schwäche ganz geschwunden;
die tiefen Reflexe sind neuerlich und andauernd enorm gesteigert (u. A.
Patellarklonus), die rechtsseitige Hyperalgesie besteht unverändert fort.
Auf der 1. OE. und UE., ausser bedeutender Ataxie, keine Functions-
störung wahrnehmbar.
Da der Tumor malign und jedenfalls nicht luetisch zu sein scheint,
wird Jodbehandlung sistirt.
3. Januar 1889. Verfall der Kräfte. Fieber continuirlich, mit
Morgentemperaturen bis 38,0, abendlichen bis 39,5. Psychischer Torpor;
Pat. ab und zu verwirrt und subdelirant
12. Januar. L. Schenkel wird ödematös, schmerzhaft (marantische
Yenenthrombose). Bronchialkatarrh.
In r. OE. und UE. Hyperalgesie geschwunden. Grobe Muskelkraft
unversehrt. Tiefe Reflexe nach wie vor sehr gesteigert.
In 1. OE. und UE. andauernd Ataxie bei ungeschwächter Muskel-
kraft, erhaltenem Muskelbewusstsein, intacter Sensibilität und nicht ge-
steigerten tiefen Reflexen. Bauchdeckenreflex 1. erloschen.
R. totale Oculomotoriuslähmung bei maximal erweiterter starrer
Pupille. Abducens und Trochlearis intact.
L. überhandnehmende totale Oculomotoriuslähmung. Abducens und
Trochlearis unbetheiligt. Mundzweige des 1. Facialis paretisch.
Zunehmender Verfall bis Ende Januar. Continuirliches Fieber
bis 39,5.
Ueberhandnehmende Venenthrombose der 1. UE. Somnolenz,
Euphorie.
Am 5. Februar 1889 stellt sich Tracheairasseln ein und gegen
Mitternacht erfolgt der Exitus letalis.
204 IV. Varia.
Section (Prof. Eppinger) 6. Februar 1889.
„Körper rnittelgross, zart gebaut, sehr mager, blass, die r. Hals-
seite geschwollen.
Schädeldach gross, rund, compact, hyperostotisch. Hirnhäute schlaff,
verdickt, blutreich, Pia stark durchfeuchtet, an der Hirnbasis ganz zart.
Die Gefässe sind hier auffallend eng, zartwandig, nur massig gefüllt.
Die Gehirnrinde ist etwas dünner, graubraun. Die Marksubstanz
zäh, von reichlichen dunklen Blutpunkten durchsetzt. Die Ventrikel
sind massig weit, die Plexus blass, das Ependym ist zart.
Der r. Grosshirnschenkel erscheint, nach Entfaltung der Ausdehnung
beider Grosshirnschenkel und bei Vergleichung beider untereinander, von
der Gehirnbasis aus betrachtet, vorzüglich in seiner hinteren und medialen
Partie etwas geschwollen, wobei der hintere Winkel des Trigonum inter-
crurale von r. her verkleinert und das Eoramen coecum posterius ver-
engt erscheint. Der Sulcus oculomotorius dexter ist durch die Wölbung
der medialen Fläche des r. Hirnschenkels fast verstrichen, und indem
die Wölbung in die mediale Fläche des anderen Hirnschenkels sich vor-
drängt und sie etwas einbuchtet, ist der Sulc. oculomot. sinister gänzlich
verstrichen.
Der N. oculomot. dexter ist platter, dünner und mattweiss gefärbt;
der N. oculomot. sinister hinter ihm vortretend. Das vordere Drittel
des r. Grosshirnschenkels bietet in Form und Volumen keine Abweichung.
Von dem mittleren Ventrikel aus betrachtet, fällt sofort die Ver-
breiterung und Abplattung des r. hinteren Vierhügels nebst Ablenkung
des weiten Eingangs zum Aquaeduct. Sylv. nach links auf, ausserdem
das Vorspringen des überdies grösseren und härter sich anfühlenden
vorderen r. Vierhügels. Statt der r. horizontalen Furche der Vierhügel
findet sich die abschüssige hintere Fläche des r. vorderen Vierhügels
und die longitudinale Furche ist breit und flach.
Beim Durchschneiden des r. Grosshirnschenkels, knapp
vor seiner hinteren Grenze am vorderen Rande des Pons
Varol. im Bereich des hinteren Vierhügels, erkennt man,
dass die ganze Haubenportion bis auf ein schmales, 1,2 mm
breites Feld nächst der Substantia nigra ersetzt wird durch
einen Knoten von 13 mm Breite und 11 mm Höhe. Derselbe
erstreckt sich bis dicht an die Mittellinie zwischen den beiden
Hauben.
Die r. hintere Vierhügelplatte ist gehoben, abgeplattet, verbreitert,
verdünnt und lässt sich in Form einer weisslichen Platte abheben, da
ihre dem Knoten zugekehrte Gewebsschicht erweicht ist.
Der Hirnschenkelfuss ist hier etwas breiter, aber frei.
Tumor in der Grosshirnschenkel-Haubenbahn. 205
In der Gegend des r. vorderen Vierhügels ist dagegen die Haube
bis auf ein etwas breiteres Feld an der Grenze gegen die Substantia
nigra und überdies der ganze r. Vorderhügel von demselben Knoten
eingenommen, sodass dieser, nur bedeckt von der Ependymschicbte, gegen
den Aquaeduct. Sylv. heranrückt, an Stelle des r. Vorderhügels zu Tage
tritt und so jenen Vorsprung bildet, dessen man beim Anblick des
Mittelhirns von dem mittleren Ventrikel aus ansichtig wurde.
Der Hirnschenkelfuss ist auch hier vollständig frei.
Indem der Knoten auch hier eine Höhe von 11 mm behält, mit
seinem hinteren Pole bis an die hintere Grenze des r. Grosshirnschenkels
am vorderen Rande des Pons (dessen dem Knoten zugewendete Gewebs-
portion stärker durchfeuchtet und homogen röthlich gefärbt erscheint)
reicht und mit seinem vorderen Pole den ganzen rechten Vorderhügel
in sich fasst, so ist (wie es auch die weiteren Schnitte nach vorne zu
lehren) die vorderste , 5 mm lange Partie des r. Grosshirnschenkels (bis
zum medialen Rand des Tract. optic. dexter gemessen) von dem Knoten
vollständig frei.
Der Knoten hat somit eine länglich ovale Gestalt, liegt
schräg von hinten und unten nach vorne und oben im r. Mittel-
hirne und hat, bis auf eine dünne Grenzschichte hart an der
Substantia nigra, die Haubenportion der hinteren Dreiviert-
theile des r. Grosshirnschenkels und den ganzen r. Vorder-
hügel in sich aufgenommen.
Er besteht peripher aus grauvioletter zäher, sonst aus harter,
morscher, gelbkäsiger Substanz und erweist sich bei histologischer Unter-
suchung als echter Tuberkel mit einzelnen aber sehr deutlichen Tuberkel-
bacillen. Der Befund der übrigen Organe ergiebt sich aus folgender
anatomischer Diagnose: „Tuberculosis chronica glandularum lymphatic;
Tuberculosis recens pulmonum. Pneumothorax dexter accedente pleu-
ritide; Thrombosis ven. cavae infer. et ven. iliacae communis later. sin."
(Prof. Eppinger.)
Herr Dr. Elschnig, Assistent der Augenklinik, untersuchte mikro-
skopisch die Sehnerven und hatte die Güte, mir nachstehenden Befund
mitzutheilen: „Am r. Auge wurde der Sehnervenkopf in horizontale
Meridionalschnitte zerlegt: vom angrenzenden Stück des N. opticus wurden
Querschnitte angefertigt. Beträchtliche Schwellung des Papillengewebes
in Höhe und Breite, Nervenfaserbündel auseinander gedrängt, einzelne
Nervenfasern, besonders in den oberflächlichen Schichten, verdickt und
sklerosirt. Das Stützgewebe vermehrt, kernreich, die grossen Gefässe
weit klaffend, Venen strotzend mit Blutkörperchen gefüllt; die kleinen
206 VI. Varia.
an Zahl vermehrt, ein ungemein reiches Netzwerk bildend, ebenfalls
reichüchst Blutkörperchen enthaltend.
Das die Lücken der Lamina erfüllende Gewebe ist sehr kernreich;
hinter der Lamina reichliche herd weise Ansammlung rundlicher Zellen,
die Septa verdickt, sehr gefässreich.
Oben aussen am Sehnerv, 5 mm hinter der Lamina ein keilförmiger
Bezirk, ungemein reichliches Bindegewebe mit viel zelligen Elementen
enthaltend. Die Nervenbündel sind daselbst fast vollständig atrophirt,
das Gliagewebe gewuchert. Kein Oedem des Sehnerven, auch kein
Scheidenhydrops; die Scheiden dem Sehnerven dicht anliegend, etwas
verdickt, die mittlere stellenweise aus einem zellreichen, mannigfaltig
geformten Balkenwerk, von ebenfalls verdicktem Endothel überkleidet,
bestehend. Diagnose: Stauungspapille, interstitielle Neuritis hinter der
Lamina.«
Epikrise. Bezüglich der Diagnose eines Tumor cerebri überhaupt
konnte nach den Symptomen (Kopfweh, Schwindel Stauungspapille u. s. w.)
kein Zweifel bestehen.
Für eine basale Localisation des Tumor sprach eine totale r. Oculo-
motoriuslähmung nebst vorübergehender im Gebiete des 1. (Ptosis),
umsomehr als kein Grund vorlag, diese Lähmung für eine durch Fern-
wirkung bedingte, indirecte zu halten und auch dieselbe aus einer
Kernlähmung nicht herzuleiten war.
Es lag somit nahe, für die dauernde r. Oculomotoriuslähmung eine
Zerstörung der die Haube durchziehenden Nervenfasern durch den
Tumor anzunehmen und einer (indirecten) Druckwirkung dieses rechts-
seitigen Tumor auf Fasern des 1. Oculomotorius die temporäre Ptosis
zuzuschreiben.
Zu Gunsten eines Tumor in Grosshirnschenkelbahnen sprach weiter
der Befund einer rechtsseitigen Parese der OE. und UE. mit enormer
Steigerung der tiefen Reflexe in diesen Extremitäten (Schädigung der
willkür- und reflexhemmenden Bahnen des 1. Hirnschenkelfusses) und
der einer rechtsseitigen Hemihyperalgesie (Schädigung beziehungsweise
Reizung der 1. Haubenbahn).
Da diese Symptome nur episodisch waren (ausgenommen die
Steigerung der tiefen Reflexe) und in ihrer Intensität wechselten, Hessen
sie sich nur als indirecte Symptome, etwa durch Druck eines rechts-
seitigen Tumor medialwärts nach dem 1. Hirnschenkel deuten.
Der Befund entsprach nicht dem gewöhnlichen der Grosshim-
schenkeltumoren, insofern zwar eine dauernde gleichseitige Oculomotorius-
lähmung bestand, aber die contralaterale (1. Hemiplegie) vermisst wurde.
Tumor in der Gro8sbirnschenkel-Haubenbab.ii. 207
Dieses Symptom war ersetzt durch eine linksseitige Henii-
ataxie als dauernde Erscheinung.
Mit dem Fehlen einer linksseitigen Hemiplegie war eine erhebliche
Schädigung der Bahn des r. Hirnschenkelfusses ausgeschlossen. Für die
klinische Deutung der Hemiataxie liessen sich Fälle von Buss (Deutsch.
Archiv f. kirn. Med. Bd. 41, S. 241) und von Kahler und Pick (Prager
Viertel] ahrsschrift Bd. 162) verwerthen.
Buss fand einen erbsengrossen alten encephalitischen Herd in der
Haube des hinteren Abschnittes des 1. Grosshirnschenkels (und der
vorderen Hälfte der Brücke). Der Herd hatte solchen Sitz, dass er die
Schleifenbahn intact liess.
Während des Lebens hatte dauernde Ataxie aller E., besonders
aber der r. OE. bestanden.
Kahler und Pick haben bei hämorrhagischem Herd in der Formatio
reticularis der Haubenbahn der 1. Ponshälfte rechtsseitige Ataxie be-
obachtet.
Auf Grund aller für einen Tumor im rechten Hirnschenkel mit
Schonung der Fussbahnen sprechenden Thatsachen musste die Diagnose
im obigen Sinne gestellt werden und die Nekropsie hat erwiesen, dass
jene richtig, die Haubenbahn sogar ausschliesslich afficirt war.
Dieser klinisch-nekroskopische Befund scheint mir wichtig für die
künftige Diagnose von Hirnstielherderkrankungen und lässt sich wohl dahin
verwerthen, dass mit Hemiataxie gekreuzte Oculomotoriuslähmung auf
eine Herderkrankung der Haubenbahn auf der Seite der Oculomotorius-
lähmung im Grosshirn schenkelgebiet künftig zu beziehen sein dürfte.
Der vorliegende Fall, in seiner Localisation klar und sicher gestellt,
dürfte aber auch für die Physiologie nicht ohne Werth sein, insofern er
coordinatorische Functionen der Haubenbahn erweist, wie dies schon
Kahler und Pick in ihrer obenerwähnten Arbeit vermutheten.
Diese Ataxie im vorliegenden Falle muss als eine rein motorische
aufgefasst werden, da sensorische Störungen im Gebiete der Ataxie
durchaus fehlten.
Jedenfalls erscheint sie als directes Symptom der Läsion der
r. Haubenbahn. Leider ist in anderen Fällen von Hirnschenkel-
erkrankungen, die in der Literatur verzeichnet sind, die Ausdehnung des
Herdes nicht so präcis angegeben, dass das ausschliessliche Getroffensein
bestimmter Bahnen ersichtlich wäre. Damit entfällt die Möglichkeit
einer Vergleichung mit dem vorliegenden Falle.
Bekanntlich haben Budge a. a. 0., sowie Afanasieff (Wien. med.
Wochenschrift 1870, Nr. 9 — 12) nachgewiesen, dass die motorische Bahn
für die Blasennerven im Hirnschenkel verläuft. Die Intactheit der
208 IV. Varia.
Blasenfunction in unserem Falle spricht dafür, dass ihre Bahnen im
Fusse laufen, desgleichen die der vasomotorischen Nerven. Wenigstens
bestanden keine vasomotorischen Störungen, wie sie Weber (Med.-
chirurg. Transactions 46. Bd., 1883) bei einem Fall von Extravasat in
der unteren und inneren Hälfte des 1. Hirnschenkels in der r. hemi-
plegischen Körperhälfte constatiren konnte.
Bemerkenswert ist noch in unserem Falle die Hartnäckigkeit der
Steigerung der tiefen Reflexe auf der r. Körperhälfte gegenüber dem
Ausgleich des Ausfalles motorischer Leistung daselbst, obwohl beide
Störungen doch nur indirect bedingt waren. Dieses Fortbestehen der
Functionsstörung reflexhemmender Bahnen findet sich übrigens auch im
Verlaufe bei Apoplexien und zeigt, dass die Hemmungsbahnen für die
tiefen Reflexe weniger widerstandsfähig sind als die Bahnen für den
Willensimpuls.
Der Ausfall der Function der ungekreuzten Opticusfasern des
r. Auges (nasaler Gesichtsfelddefect) erklärt sich wohl aus dem Befund
einer interstitiellen Neuritis optica, und nicht aus dem Zugrundegehen des
r. vorderen Vierhügels, dessen Bedeutung für den Sebact sehr fraglich
sein dürfte.
Zur Kenntniss der primären Rückenmarksblutung
(Hämatomyelie). *)
Professor Leyden hat in der Zeitschrift f. klin. Mediän, Bd. XIII,
Nr. 3 und 4 darauf hingewiesen, dass die Blutung in die Rückenmarks-
substanz (Apoplexia medullae spinalis) höchst selten ist, dass die medi-
cinische Literatur nur eine kleine Zahl bezüglicher Beobachtungen auf-
weist und dass eine Vervollständigung unserer Kenntnisse hinsichtlich
der Pathologie und Klinik dieser Fälle von primärer Hämatomyelie
wünschenswerth sei. Die Angabe des hervorragenden Forschers bezüg-
lich der Seltenheit der Apoplexia medullae spinalis finde ich in meinem
Beobachtungskreise bestätigt, insoferne unter 245 Fällen organischer
Rückenmarkskrankheit nur drei waren, in welchen die Diagnose auf
Blutung gestellt werden konnte oder durch den Sectionsbefund erwiesen
wurde.
Die treffliche Arbeit Lcyden's macht es unnöthig, an dieser Stelle
auf Wesen und klinische Erscheinungen der Hämatomyelie einzugehen.
Ich beschränke mich auf die Mittheilung zweier der von mir beobach-
teten Fälle, welche geeignet sein dürften, klinisch interessante Ausgangs-
möglichkeiten der Rückenmarksapoplexie in Form der Heilung mit De-
fecten und ohne solche zu illustriren. Die Mittheilung des dritten Falles
dürfte an dieser Stelle nicht opportun sein, weil die allerdings klinisch
ausschlaggebende und tödtlich endigende Apoplexia in dem Beginne
einer Myelitis auftrat, somit als Hämatomyelitis zu bezeichnen wäre.
I. Johann N., 64 J., verheirathet, Taglöhner aus Steiermark, aus
gesunder Familie, früher gesund, bemerkte vier Jahre vor der am 4. De-
cember 1887 auf die Grazer Nervenklinik erfolgten Aufnahme, mitten in
vollem Wohlsein, eines Morgens Ameisenkriechen im 1. Bein, zu dem
sich heftiger, stechender, vom Fuss ausgehender und sich bis zur Hüfte
erstreckender Schmerz gesellte. Nach einer Viertelstunde fiel Pat. um.
Der Schmerz war nun weg, aber das 1. Bein, bis auf schwache Beuge-
*) Wiener klinische Wochenschrift 1889. 49.
Krafft-Ebini,', Arbeiten II. 14
210 IV. Varia.
und Streckbarkeit im Knie, gelähmt. Auch die Sensibilität war sehr
herabgesetzt und es bestand Incontinentia urinae et alvi.
Nach 14 Tagen besserte sich die Lähmung so weit, dass Patient
wieder nothdürftig gehen konnte. Gleichzeitig bemerkte er fortschreitende
Abmagerung im 1. Bein.
Nach der Versicherung des Pat. blieb der Zustand die letzten Jahre
ziemlich stationär, jedoch functionirten die Sphincteren wieder leidlich
und besserte sich die Gehfähigkeit soweit, dass Pat. mit einem Stock
ziemlich weit gehen konnte.
Stat. praes. : 5. December 1887. Pat. gross, kräftig gebaut, gut ge-
nährt. Die Function der Gehirnnerven, der OE. und der r. UE. ist gauz
normal. Der Sphincter ani ist sufficient, der der Blase nicht vollkommen.
Seit der Erkrankung will Pat. auch an Erectionsschwäche leiden.
Der Befund an der 1. UE. ist folgender: Die Muskulatur der Hinter-
backe ist sehr abgemagert, bietet fibrilläre Zuckungen und sehr herab-
gesetzten Muskeltonus. Die Streckung, Abduction und Auswärtsrollung
im 1. Hüftgelenk ist sehr ungenügend. Im Kniegelenk sind alle Be-
wegungen gut ausführbar. Fussgelenk und Zehen sind unbeweglich.
Patellarreflex beiderseits gleich, nicht gesteigert; kein Achillesreflex;
der plantare Eeflex fehlt 1.
Das 1. Bein ist im Umfang reducirt. (Oberschenkelraitte 1. 40, r,
42.5 cm, Unterschenkelmitte 1. 30, r. 32.) Einfache tactile Eeize werden
allenthalben in der 1. UE. richtig empfunden und localisirt. Für ther-
mische Reize, sowie für Schmerz ist die Sensibilität im Bereiche des
Unterschenkels, der Beugeseite des Oberschenkels und der Glutäalgegend
herabgesetzt. Bei Prüfung mit dem Tastercirkel tritt Empfindung von
zwei Spitzen ein bei Spitzendistanz von
Unterschenkel Vorderfläche
oberes Drittel aussen rechts 40 mm, links 50 mm
innen „ 48 „ „ 55 „
mittleres Drittel aussen „ 44 „ „ 53 „
„ „ innen „ 45 „ „ 47 ,.
unteres Drittel aussen „ 30 „ „ 43 „
„ innen „ 27 „ „ 39 „
Unterschenkel Hinterfläche
Mitte rechts 30 mm, links 30 mm
Dorsum pedis rechts 41 mm, links 55 mm
Planta pedis „ 39 „ „ 56 „
Zur Kenntniss der primären Kückenmarksblutung. 211
Die faradiscbe und galvanische Erregbarkeit der Glutaei ist minimal,
und werden selbst bei stärksten Strömen nur Contractionen einzelner
Faserbündel erzielt.
Das Muskelgebiet des Obturatorius und Cruralis bietet leichte
Herabsetzung der faradischen und galvanischen Erregbarkeit; das Gebiet
des Tibialis und Peroneus ist indirect weder durch faradische noch durch
galvanische Ströme erregbar; bei directer faradischer Prüfung erzielt man
mit maximalen Strömen nur schwache und partielle Zuckung, und bei
galvanischer, nur schwache KaSz. Es besteht somit nur quantitative,
nicht qualitative Aenderung der Erregbarkeit.
Die Haut im Bereiche der 1. Hinterbacke ist kühl und livid ver-
färbt. Dasselbe ist noch im vermehrten Maasse im Bereich des Unter-
schenkels und Fusses der Fall. Hier ist die Haut überdies verdickt und
glänzend.
Pat. wurde einige Zeit galvanisirt und faradisirt ohne besonderen
Erfolg und am 16. Januar 1888 entlassen.
Anfangs Februar 1889 Hess er sich neuerlich aufnehmen. Der
Befund war wesentlich der gleiche wie das erste Mal. Die Tastercirkel-
maasse waren annähernd dieselben wie früher. Auch diesmal wurde con-
statirt, dass die Herabsetzung der Sensibiliät für thermische und Schmerz-
eindrücke viel beträchtlicher war, als die der tactilen. Die Sphincteren
erwiesen sich leidlich sufficient, jedoch muss Pat. bei Wahrnehmung eines
Bedürfnisses rasch den Abort aufsuchen, da sonst ein unfreiwilliger Ab-
gang erfolgt. Patient wurde nach 14 Tagen ohne weitere Besserung
entlassen.
Epikrise: Die Diagnose einer primären Hämatomyelie erscheint
berechtigt, insoferne spontan bei einem bisher Gesunden, unter intialem
heftigem Schmerz, äusserst rasch eine schlaffe Lähmung auftritt, die als
spinale im weiteren Verlaufe durch Functionsstörung spinaler Centren
(Schliessmuskeln von Blase, Rectum) und Muskelatrophie sich erweist.
Der Entstehungsort der Blutung mag ungefähr die Höhe des ersten Lum-
barnervensegments gewesen sein. Der initiale Schmerz erklärt sich wohl
aus dem traumatischen Reiz des Extravasats auf sensible Wurzelbahnen.
Mit der Ausbreitung der Blutung auf dem Querschnitt und der Länge
nach (Röhrenblutung?) entwickelt sich eine Monoplegia cruralis, zugleich
mit Sphincterenlähmung und Anästhesie.
Diese motorischen und sensiblen Symptome sind grösstentheils
Shokerscheinungen. Ein Theil derselben ist jedoch dauernde Ausfalls-
erscheinung. Dies gilt für die Lähmung im Bereich der Gesässmuskeln
(Lendennerv 1 — S) und der Muskeln des Fusses und der Zehen (Sacral.
14*
212 IV. Varia.
1 — 2) einschliesslich des M. tibialis (L. 3) und für die Störung der Sensi-
bilität.
Die schlaffe Lähmung, die Muskelatrophie, der elektrische Befund
sprechen für eine organische dauernde Veränderung der betreffenden
Nervenkerne im Vorderhorn der linken Kückenmarkshälfte, mit theil-
weiser Schonung der für Ileopsoas, Adductoren, Extensores et Flexores
cruris bestimmten Centren und Bahnen.
Daraus erklärt sich auch die Störung in den in gleicher Höhe
liegenden spinalen Centren (Blase, Rectum) und das Fehlen des Achilles-
reflexes, während der patellare erhalten ist. Die sensible Bahn (wahr-
scheinlich Hinterhorn, wegen der vorwaltenden Schädigung der Schmerz-
empfindlichkeit und cutaner trophischer Störungen) ist nur in geringem
Masse geschädigt.
II. Elise B., 28 J., ledig, Fabrikarbeiterin, wurde am 28. Januar
1889 in der Grazer Nervenklinik aufgenommen.
Aus gesunder Familie, früher gesund, nie hysterisch gewesen, mit
15 Jahren menstruirt, hatte sie in der Folge die Menses immer regel-
mässig und ohne Beschwerden gehabt und drei normale Geburten über-
standen, die letzte vor l1^ Jahren. Am 28. Januar Morgens hob Pat.
in der Fabrik einen schweren Maschinenbestandtheil in die Höhe. Sie
strengte sich dabei sehr an und fühlte noch während des Hebens plötzlich
einen sehr heftigen, gürtelartigen Schmerz in der Höhe des Epigastriums.
Bald darauf stellte sich intensiver, brennender Schmerz im unteren
Drittel des 1. Unterschenkels ein, der sich aufwärts bis zur Hüfte er-
streckte.
Sofort hatte sie ein Gefühl von Schwäche und Eiseskälte im 1.
Bein und fiel zu Boden. Man kam ihr zu Hilfe, rieb ihr das 1. Bein,
wobei sie bemerkte, dass sie in diesem kein Gefühl mehr hatte.
Vom Momente des Hebens der Last bis zum Hinstürzen sollen
etwa vier Minuten vergangen sein.
Pat. hatte sich die letzten Tage ganz wohl gefühlt, obwohl sie ge-
rade die Menses hatte. Am 28. war der vierte Tag der Menses. Diese
waren nur mehr schwach und am Abend des 28. beendigt. Pat. ver-
mochte tagsüber das 1. Bein nicht zu bewegen, konnte erst Abends wieder
Urin lassen und empfand Ameisenlaufen am 1. Bein.
Stat. praes. : Pat. mittelgross, mittelkräftig, massig genährt, anämisch.
Von Seiten der Gehirnnerven kein Befund. Pupillen mittelweit, gleich,
prompt reagirend. Temperatur normal, Puls 72. Die vegetativen Or-
gane ohne Störung. Die Wirbelsäule ist weder anatomisch verändert
noch druckempfindlich. Die OE. lassen keine Functionsstörung erkennen.,
Zur Kenntniss der primären Rückenmarksblutung. 213
Die 1. UE. zeigt herabgesetzte grobe Muskelkraft und verlangsamte
Bewegungen, jedoch sind alle Einzelbewegungen ausführbar. Der
Muskeltonus ist nicht herabgesetzt. Der Patellarsehnenreflex ist sehr
deutlich vorhanden. Kein Achillesreflex. Der epigastrische und der
Bauchdeckenreflex fehlen rechterseits (1. prompt auslösbar). Der
Plantarreflex fehlt. Keine vasomotorischen Störungen. Temperatur r.
und 1. gleich.
Die cutane Sensibilität ist in der ganzen 1. UE. mit Einschluss der
Glutäalgegend und mit Ausschluss der Innenseite des Oberschenkels, wo-
selbst nur Herabsetzung besteht, für alle Qualitäten der Empfindung
aufgehoben. Die Muskulatur, sowie die Nervenstämme sind bei Druck
schmerzhaft. Im ganzen Gebiet der Sensibilitätsstörung besteht Parästhe-
sie im Sinne von Kriebeln. Passive Bewegungen werden in allen Ge-
lenken, mit Ausnahme der Zehengelenke, wahrgenommen. Das Bewusst-
sein der Lage der Extremität ist nicht gestört.
An der r. UE. lassen sich keine Functionsstörungen nachweisen.
Der Plantarreflex ist hier vorhanden, jedoch schwach.
30. Januar. Stat. idem bis auf Steigerung des Patellarreflexes
beiderseits, so dass selbst Percussion der nach abwärts gedrängten Pa-
tella den Reflex auslöst. Die Grenze der Anästhesie der 1. UE. ist vorn
und hinten die Höhe des Beckenrings. Sphincteren functioniren gut.
Gestern durch zwei Stunden schmerzhaftes Druckgefühl in der
Höhe des Epigastriums.
31. Januar. Allgemeinbefinden gut. Keine Fieberbewegungen. Die
grobe Muskelkraft in 1. UE. nur noch minimal herabgesetzt. Die Sensi-
bilität an der inneren Oberschenkelfläche ist wiederhergestellt, sonst
überall noch tief gestört.
Heute zweimal sehr schmerzhafte Waden- und Zehenkrämpfe in
1. UE. (Morphiuminjection 0.01).
1. Februar. Die Sensibilität kehrt in der 1. UE. wieder, aber alle
Reize werden viel schwächer empfunden als r.
2. Februar. Heute ausstrahlende Schmerzen in der 1. UE. und
dreimal Wadenkrampf, der auch in der r. UE., und daselbst sogar
stärker als links, auftritt. Die grobe Muskelkraft in der 1. UE. ist nahezu
hergestellt. Die Anästhesie beschränkt sich nur mehr auf die Aussen-
seite der Planta pedis. Der Bauchdeckenreflex ist r. wieder vorhanden,
jedoch schwächer als 1., der epigastrische fehlt, ebenso der Achillesreflex
beiderseits und der plantare links. Der Patellarreflex ist beiderseits
gleich und noch gesteigert.
214 IV. Varia.
4. Februar. Unter Morphiuminjection (0.01 täglich) keine Schmerzen
und Krämpfe mehr. Die Sensibilität nur mehr im Gebiete des 1. Plan-
taris ext. herabgesetzt und zwar für alle Qualitäten. Wiederkehr des
plantaren Reflexes links.
10. Februar. Ungestörte Reconvalescenz. Pat. fühlt sich gesund
und dringt auf Entlassung, die mit Rücksicht auf die Gefahr einer mög-
lichen reactiven Myelitis nicht bewilligt werden kann.
14. Februar. Sensibilitätsausfall an der 1. Planta nur noch minimal.
Patellarreflex beiderseits noch etwas gesteigert, 1. mehr als r. Pat. geht
ohne Beschwerde herum.
18. Februar. Menses. Dieselben verlaufen ohne alle Beschwerde.
Keine Sensibilitätsstörung mehr. Normale Motilität, Farado- und Gal-
vanocontractilität an beiden UE. Patellarreflex nähert sich der Norm.
Keine vasomotorischen Störungen der UE.
Pat. wird am 27. Februar 1889 genesen entlassen. Als einzige
Abnormität ist bei der Entlassung das Fehlen des rechten epigastrischen
Reflexes zu verzeichnen. Die Behandlung bestand in 0.5 extr. Secal.
cornut. aquos. und 0.05 extr. Belladonn. pro die, schwacher Galvani-
sation der Wirbelsäule vom 2. Februar ab und Bettruhe bis zum
10. Februar.
Epikrise: Die vorstehende Beobachtung bildet eine Analogie zu
der vorhergehenden, insofern ebenfalls unter initialem Schmerz sofort
Lähmung und Anästhesie des linken Beines auftreten und zwar bei einer
bisher ganz gesunden Persönlichkeit. Sie liefert aber im weiteren Ver-
laufe ein anderes klinisches Bild, insofern, offenbar auf Grund ver-
schiedener Localisation , die Symptome grösstentheils Shokwirkung
sind und indirect ausgelöst, sich rasch wieder ausgleichen. Dies
gilt speciell für die Lähmung der Extremität und für die des Detrusor
vesicae.
Der initiale Gürtelschmerz deutet als excentrische Erscheinung
den Entstehungsort der Blutung in der Höhe des fünften bis siebenten
Dorsalnervenursprungs an. Mit überhandnehmender und nach unten
sich senkender Blutung kommt es zur Lähmung, Anästhesie und (durch
Reizung vasomotorischer Bahnen?) zu paralgiscbem Gefühl von Eises-
kälte.
Die sensible Störung wurde bei der klinischen Demonstration
(30. 1.) als möglicherweise directe (Röhrenblutung in an das linke
Hinterhorn angrenzenden Partien der Hinterseitenstränge oder beim
Hinterhorn selbst) angesprochen. Die letztere Möglichkeit musste ent-
fallen, da trophische Störungen der Haut im Verlauf ausblieben.
Schmerzen und Wadenkrampf, die später auftraten, wurden als Reiz-
Zur Kenntniss der primären Rückenmarksblutung. 215
Symptome angesprochen, der Krampf als wahrscheinlich reflectorisch be-
dingt, da er zugleich mit dem Schmerz einsetzte und verschwand.
Der Ausfall der allmählich wiederkehrenden cutanen Reflexe konnte
nur als Shokerscheinung gedeutet werden. Die ziemlich rasche und voll-
ständige Ausgleichung der sensiblen Ausfallserscheinungen sprach zu
Gunsten einer nicht bedeutenden und auf den linken Hinterseitenstrang
beschränkten Blutung. Damit erklärt es sich auch zum Theile, dass
Pat. der Gefahr einer reactiven Myelitis entging.
Errata.
Seite 8, Zeile 13 v. oben lies: 71 statt 91.
„ 19, „ 5 v. unten lies: „wäre es denkbar" statt „würde es sieh erklären"-
Druck von C. Grambach in Leipzig.
ARBEITEN AUS DEM GESAMMTGEBIET
DER PSYCHIATRIE UND NEUROPATHOLOGIE.
III. Heft.
ARBEITEN AUS DEM GESAMMTGEBIET
DER
PSYCHIATRIE UND NEUROPATHOLOGIE
VON
R. v. KRAFFT-EBING.
III. HEFT.
LEIPZIG
JOHANN AMBROSIUS BARTH
1898.
Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung. vorbehalten.
Inhalt.
Seite
1. Zur Aetiologie der Paralysis agitans . . . ... 3
Anhang: Die vorzeitige Paralysis agitans . 12
2. Ueber Dämmer- und Traumzustände 20
Erster Aufsatz (1875) . . . .... 23
Zweiter Aufsatz (1877) ... 47
Dritter Aufsatz (1898) . . 69
a) Einleitung . . . . . 69
bl epileptische Dämmer- und Traumzustände . ... 71
c) neurasthenische Dämmer- und Traumzustände ... . 80
d) hysterische Dämmer- und Traumzustände .... .... 85
e) alkoholische Dämmer- und Traumzustände . . ... 93
3. Ueber typische Delirien bei Epileptikern. . . . . 99
4. Ueber idiopathisches periodisch wiederkehrendes Irresein
in Form von Delirium . ... . . 119
5. Epileptische Psychosen. ., . 141
6. Zur chirurgischen Behandlung der Epilepsie . ... 177
7. Ueber Ecmnesie . . . . 193
8. Ueber retrograde allgemeine Amnesie . . . 215
9. Meineid. Hysterismus. Behauptete Amnesie und Unzurech-
nungsfähigkeit , . . ... . . . 227
10. Hysteria gravis. Castration. Dauernde Genesung . 237
I.
ZUR AETIOLOGIE DER PARALYSIS AGITANS.
K rafft- Eb ing, Arbeiten III.
Zur Aetiologie der Paralysis agitans.
Zu den rätselhaftesten Erscheinungsbildern gestörter Nerven-
function gehört jedenfalls die von Parkinson als „shaking palsy" zuerst
beschriebene und nach ihm benannte Erkrankung des centralen Nerven-
systems.
Trotz häufiger Gelegenheit zur Beobachtung des Leidens, lässt
seine Aetiologie, seine Lokalisation, die Deutung gewonnener patholo-
gisch-anatomischer Befunde und die Erklärung der Symptome noch
ausserordentlich viel zu wünschen übrig.
Man hat die Paralysis agitans bisher für ein Nervenleiden ohne
pathologisch-anatomischen Befund (Neurose) gehalten.
Die neueste microscopische Forschung (Borgherini, Koller, Ketscher,
Redlich u. A.) hat bei einer grösseren Zahl von in P. a. Verstorbenen
Befunde im Rückenmark erwiesen, denen eine klinische Bedeutung
nicht abgesprochen werden kann und die jedenfalls geeignet sind, zur
Klarstellung des Sitzes der Erkrankung und zur Erklärung ihrer
Symptome den Weg zu ebnen.
Es handelt sich um den Nachweis perivasculärer Sklerose in ver-
schiedenen Abschnitten und Systemen des Rückenmarks, ganz be-
sonders in der Cervical- und Lumbalanschwellung und zwar vorwiegend
in den HS und der PySSbahn, stellenweise auch in den K1HSS und
dem Gowers'schen Bündel. Ausserdem findet man massige Pigment-
atrophie der Ganglienzellen der VH und der Clarke'schen Säulen.
Es ist von den genannten Forschern erwiesen, dass die sklero-
tischen Veränderungen von den Gefässwändeu ausgehen und dass den
Anstoss dazu atheromatöse (senile) Erkrankung der Gefässe giebt.
Damit ergeben sich Analogien und Beziehungen zu einer zweifellos
l*
4 Zur Aetiologie der
in sklerotischen Veränderungen in den SS, speciell den PySS begrün-
deten senilen Rückenmarkserkrankuug, die Demange 1885 zuerst unter
dem jedenfalls nicht glücklich gewählten Namen einer „Contracture
tabetique progressive" beschrieben hat.
Dieses Leiden äussert sich in einem eigenthümlichen Rigor bis zur
Contractur der Muskeln, zugleich mit Schwäche derselben, ganz be-
sonders in den UE., sodass ein paraparetischer , mehr oder weniger
spastischer, in den Knieen einsinkender Gang resultirt.
Diese Symptome finden sich auch in dem Erscheinungsbild vor-
geschrittener Paralysis agitans und sind wohl auf die anatomischen
Veränderungen in den PySS beziehbar.
Die bisher bei P. agitans gewonnenen anatomischen Befunde sind
schon deshalb nicht von der Hand zu weisen, weil sie insofern sich
mit den klinischen Symptomen decken, als dieselben qua Rigor und
Muskelschwäche — der eigentümliche Tremor kann hier ja fehlen
und scheint functionelles Symptom zu sein — eine directe oder in-
directe Affection der PySS bahn andeuten. Diese Annahme findet eine
gewichtige Stütze in der von mir regelmässig bei P. agitans gefundenen
erheblichen Steigerung der tiefen Reflexe im Gebiet der von P. a.
heimgesuchten Extremitäten.
Der Werth der anatomischen Befunde im Sinne einer perivascu-
lären Sklerose wird aber andererseits dadurch geschmälert, dass, soweit
diese auf (senile) atheromatöse Erkrankung der Gefässe zurückgeiührt
wird, allerdings seltene Fälle von P. agitans in jugendlichem Alter
vorkommen, dass auch bei alten von dieser Krankheit heimgesuchten
Individuen Erscheinungen von Atherose nicht immer und jedenfalls
nicht in correlatem Verhältniss zur Krankheit nachweisbar sind, dass
die P. agitans im höheren Greisenalter, etwa vom 65. Lebensjahr ab,
immer seltener wird und dass die gefundenen Veränderungen im Sinne
einer perivasculären Sklerose im senilen Rückenmark, auch ohne be-
gleitende P. agitans, ganz gewöhnliche Befunde sind.
Aus diesen Gründen wird man die Krankheit nicht mit einer
perivasculären spinalen Sklerose identificiren dürfen, sondern den
anatomischen Veränderungen nur die Bedeutung einer erworbenen
Disposition zuerkennen können, die, auf Grund einer besonderen biolo-
gischen Phase und durch das Hinzutreten von Gelegenheitsursachen,
die Entstehung der Krankheit vermittelt.
Wie aus den folgenden Untersuchungen hervorgehen wird, spielen
als veranlassende Ursachen psychisches und mechanisches Trauma eine
hervorragende Rolle. Daran schliessen sich durch eine schwere körper-
liche Erkrankung vermittelte allgemeine Ernährungsstörungen an.
Paralysis agitans. 5
Wahrscheinlich kann der klimacterische Process die gleiche Bedeu-
tung gewinnen.
Die Entstehung der P. agitans liesse sich somit in der Weise er-
klären, dass man annimmt, bei einem durch perivasculäre sklerotische
Rückenmarksveränderungen anatomisch nicht integren, dadurch dispo-
nirten, zudem in einer besonderen biologischen Phase befindlichen In-
dividuum wird durch eine accessorische Schädlichkeit eine Störung der
Function gewisser Rückenmarksgebiete hervorgerufen, die durch Fort-
dauer der Noxe, anatomische Läsion des getroffenen Nervengebiets
u. a. in ihrem Wesen noch dunkle Factoren nicht mehr zur Aus-
gleichung gelangen kann.
Die Annahme, dass die Symptome der P. a. wesentlich functionelle
sind und dass diese Krankheit als eine Neurose zu betrachten ist,
scheint mir vorläufig noch als eine berechtigte.
Bevor das Studium der Aetiologie derselben unternommen wird,
möge die Frage nach dem Vorkommen und der Häufigkeit
dieser Krankheit eine Erörterung finden.
Charcot (lecons I p. 186) machte die Mittheilung, dass unter den
in der Salpetriere behandelten Krankheiten die P. a. an 5. Stelle be-
züglich ihrer Häufigkeit erscheine und neben der Tabes rangire.
Er berichtet Mittheilungen Brown-Sequard's, dass die Krankheit
in England und Nordamerika besonders häufig vorkomme. Aus einem
statistischen Bericht von Sander geht hervor, dass von 1855—63 durch-
schnittlich jährlich 14 Männer und 8 Weiber in England der P. a.
erlagen. Berger zählte unter 6000 Nervenkranken 37 mit P. agitans.
Besser illustrirt die Häufigkeit dieser Krankheit eine Berechnung
von Eulenburg (Realencyclop. 2. Aufl. XV. p. 176), der von 8900 in
der Nervenpoliklinik behandelten Kranken 32 (0,36%), von 1524 in
der Privatpraxis behandelten 14 (0,9 % )j m Summa unter 10424 Nerven-
kranken 46 Fälle von P. a. (0,44%) fand. Er hält diese Krankheit
für 3— 4 mal seltener als Tabes, für 5 mal seltener als Chorea.
Ich selbst habe in Wien in den letzten 6 Jahren im Nerven-
ambulatorium unter 27000 Fällen 53, in der Privatpraxis unter 7000
Fällen 24 mit Par. ag. gefunden, also unter 34000 77 Fälle (0,227).
Diese Ziffern sind erheblich niedriger als die von Eulenburg und lassen
vermuthen, dass Morbiditätsunterschiede in den verschiedenen Ländern
bestehen.
6 Zur Aetiologie der
Die folgenden Untersuchungen über die Aetiologie der P. agitans
stützen sich auf eine Centurie von Fällen, die ich im Laufe der letzten
9 Jahre zu beobachten Gelegenheit hatte und bei denen das Haupt-
augenmerk auf die Ursachen der Erkrankung gerichtet war. Es Hess
sich hoifen, dass eine so grosse Zahl von Fällen zur Klärung ätiolo-
gischer Fragen Erhebliches werde beitragen können. Diese Erwartung
hat sich aber nicht in vollem Umfang bestätigt. In einer Eeihe von
Fällen blieben die jedenfalls endogenen Ursachen der Krankheit ver-
schleiert. Im Grossen und Ganzen bestätigen meine Erfahrungen die
von Anderen bereits gewonnenen. Am nächsten kommen meine Re-
sultate denen von Gowers.
Von meinen 100 Fällen von P. agitans betrafen 60 Männer,
40 Weiber.
Den gebildeten Ständen gehörten an unter den Männern 29, dem
Handwerkerstand 31. Die entsprechenden Zahlen für die weiblichen
Fälle waren 9 und 31. Die Gesammtzahl der Patienten aus höherem
Stand war somit 38, aus niederem 62.
Höchst auffällig war die Morbidität je nach dem Religionsbe-
kenntniss. Von den 100 Fällen waren 97 österr.-ungarische Landesange-
hörige. Der christlichen Confession gehörten an 65, der mosaischen
32. Zur Zeit der Aufnahme meiner Fälle betrug die Anzahl der
Israeliten in der österr.-ungar. Monarchie 4°/0 der Bevölkerung. Die
Morbidität der letzteren überragte somit die der christlichen Be-
wohner um etwa das 8 fache, ein weiterer Beweis zu dem von Minor
erbrachten bezüglich der viel grösseren Morbidität der Israeliten im
Gebiet der Nervenkrankheiten.
Bezüglich des Alters zur Zeit der Erkrankung ergeben sich fol-
gende Zahlenverhältnisse :
Alter bei der Erkrankung.
Männer Weiber
27-30
Jahre
1
1
31-35
n
—
1
36-40
»
2
2
41-45
n
6
6
46-50
»
8
6
51-55
V
13
9
56-60
?!
14
8
61-65
?;
9
5
66-70
n
6
1
71-75
n
1
1
60 40.
Paralysis agitans. 7
Die vorstehende Tabelle bestätigt die grosse Seltenheit der Krank-
heit in jüngeren Jahren sowie im Greisenalter, endlich die grosse
relative Morbidität vom 41. bis zum 65. Lebensjahr. Der grösste
Procentsatz fällt in das 5. Decennium bei beiden Geschlechtern. Es
mag dies damit zusammenhängen, dass diese Lebenszeit die biologische
Phase des Change of life, der sich geltend machenden Involutionsvor-
gänge im Organismus ist. Bei den weiblichen Fällen setzt die Krank-
heit früher ein und sinkt die Morbidität früher ab als bei den männ-
lichen. Es lässt sich dies wohl dahin deuten, dass die P. a. eine
mächtige Disposition in den In volutions Vorgängen des Organismus
findet und dass diese früher und eingreifender beim Weibe als beim
Manne sich zu vollziehen pflegen. Ganz besonders ergeben sich solche
Gesichtspunkte, wenn man die in meiner Statistik verwertheten, nach
dem 60. Lebensjahr aufgetretenen quasi tardiven Fälle auf ihre bio-
logischen Besonderheiten untersucht. Da zeigt sich bei beiden Ge-
schlechtern auch tardives Eintreten der Involution, was sich bei den
weiblichen Fällen deutlich in einer Hinausschiebung der Menopause
ausspricht.
Auch Eulenburg findet die Zeit der grössten Morbidität vom
45. — 65., Ordenstein vom 40. — 50., Gowers vom 50. — 60. Jahr, unter
ausdrücklicher Betonung der Thatsache, dass die Krankheit wesentlich
eine solche der regressiven Lebensperiode, nicht aber des hohen Greisen-
alters ist.
Veranlagende Ursachen.
Hereditäre oder familiale Belastung. Von meinen
40 weiblichen Fällen war bei 35, von den 60 Männern bei 56 die
Ascendenz ermittelbar.
Unter den 35 Weibern fanden sich nur bei 5 Nerven- oder Hirn-
krankheiten in der Ascendenz oder Blutsverwandtschaft, unter den
60 Männern nur bei 4 Fällen und darunter nur bei einem gleich-
förmige familiale hereditäre Beziehungen (P. agitans bei der Mutters-
schwester).
Eulenburg fand unter seinen 46 Fällen mindestens 3 von fami-
lialer Belastung. Berger hat den Nachweis erbracht, dass es Fälle
von familialem Vorkommen der Krankheit gibt. Er, gleichwie Gowers
nahmen hereditäre Beziehungen bei 15 "/„ ihrer Fälle an. Noch
grösseren Einfluss räumen der erblichen Belastung Leroux (contribut.
ä letude des causes de la p. a. These de Paris 1886) und L'hirondel
(antecedents et causes de la maladie de Parkinson, These de Paris
1883) ein.
8 Zur Aetiologie der
Angeborene nicht hereditäre Belastung. Eine solche
in Gestalt neuropathischer Constitution fand sich bei meinen Fällen
nur bei 2 Männern, dagegen bei 8 Frauen. Diese Ziffern differiren
erheblich von Eulen bürg, der circa 200/ü neuropathische Belastung
berechnet und von Berger, der diesen Factor auf 11,5% beziffert.
Selbst diese Procentsätze sind nicht erheblich und dürften dem
Procentsatz der Nervosität in Culturländern, insbesondere Grossstädten
entsprechen. Jedenfalls ist die Annahme gerechtfertigt, dass erbliche
Belastung und neuropathische Constitution bei der in Bede stehenden
Krankheit eine geringfügige Bolle spielen, diese vielmehr in der
Häufung erworbener Schädigungen des Nervensystems und dem Hin-
zutreten von zufälligen Noxen in einer bestimmten biologischen Phase
ihre Begründung findet.
Erworbene Schädigungen des Nervensystems. Lues
war in meinen Fällen nur bei 2 Männern anamnestisch nachweisbar,
in keinem weiblichen Falle.
Potus nimius war bei 5 Männern zu verzeichnen. An chro-
nischem Muskelrheumatismus durch refrigeratorische Schädlich-
keiten hatten 4 Männer gelitten.
Surmenage, theils geistig, theils körperlich hatten verfrühtes
Altern bei 5 Männern und 4 Frauen hervorgebracht. Jahrelange
Kränkungen und Emotionen waren bei 2 Männern und 5 Weibern
vorausgegangen. Ausgesprochene Atherose zur Zeit der Erkrankung
fand sich bei 7 Männern und 2 Weibern, bei den letzteren zugleich
mit Senium praecox.
Im directen Anschluss an das Klimacterium erkrankten
7 Frauen.
Veranlassende Ursachen.
Männer
Weiber
Psychisches Trauma 13
9
Mechanisches äusseres Trauma 4
1
Durchnässung 6
1
Apoplec tisch er Insult 2
0
Acute Krankheiten 6
4
Change of life (Klimacterium) 10
7
unbekannt 19
18.
Eine hervorragende Bolle spielt in der obigen Tabelle das
psychische Trauma. In den einzelnen Fällen handelte es sich
um heftige psychische Erschütterungen durch plötzliche Todesgefahr,
Paralysis agitans. 9
unvorhergesehenen Tod nahestehender Personen. Schreck durch Feuers-
hrunst, Diebstahl, jähen Verlust des Vermögens und dgl. In der
grossen Mehrzahl der Fälle begann die P. a. binnen Tagen bis Wochen
nach dem Shok. Die Bedeutung des psychischen Trauma's für die
Entstehung der Krankheit ist längst erkannt. Schon van Swieten
erwähnte eines Mannes, der, durch einen Donnerschlag erweckt, P. a.
bekam. Oppolzer beobachtete einen gleichen Fall bei einem Manne aus
Schreck über eine neben diesem platzende Bombe. Drei analoge
Fälle, die sich auf die Schrecken des Bombardements von Strassburg
zurückführen Hessen, berichtete Kohts. Hillairet konnte bei einem
Mann die Entstehung des Leidens auf den Schreck zurückführen, den
dieser als Augenzeuge der Ermordung seines Sohnes erfuhr.
Weitere derartige Fälle haben Hardy, Rabot, Charcot beigebracht.
Der letztere Forscher stellte psychisches Trauma ätiologisch in erste
Linie und machte darauf aufmerksam, dass die Krankheit fast der
psychischen Commotion auf dem Fusse folgen kann.
Physisches Trauma. Dasselbe reiht sich in seiner Bedeutung
direct an das psychische.
Tu meiner Statistik spielt dasselbe gegenüber anderen eine wohl
zufällig geringere Rolle, insofern es nur in 5 Fällen auslösend wirkt.
In 4 derselben handelte es sich um Contusionen oder Distorsionen
von Gelenken. In allen begann die Krankheit von der Stelle des
Trauma's aus, bezw. in der betr. Extremität. Besonders bemerkenswerth
war ein Fall, wo der Ausbruch, entgegen der gewöhnlichen primären
Localisation in den Oberextremitäten, in der traumatisch afficirten
Unterextremität erfolgte.
Sehr bezeichnend war der Fall eines Malers, der, beruflich über-
angestrengt und seit einiger Zeit marastisch geworden, an der Hand,
mit welcher er die Palette zu halten pflegte, die Krankheit zuerst
bemerkte, nachdem ihm schon längere Zeit überaus rasche Ermüdung
an eben dieser Hand aufgefallen war.
Eine werthvolle Studie über die Bedeutung des physischen Trauma's
für die Entstehung der Krankheit hat Dr. Walz „Die traumatische
Paral. agitans" in der Vierteljahrschr. f. ger. Med. 3. Folge XII. 1896
veröffentlicht.
Sie umfasst fast alle Fälle der Literatur, darunter 5 irrthümlich
für P. a. gehaltene, mit Genesung endigende und wohl dem Gebiet
der Hysterie zuzuweisende, dann 10 mit nicht sicherer Diagnose oder
unsicherem Trauma, 14 sichere aber unvollkommen mitgetheilte, endlich
27 genau referirte, die eine wissenschaftliche Verwerthung gestatten.
Bei diesen 27 Fällen war die Art des Trauma's allgemeine Er-
10 Zur Aetiologie der
schütterung 6 mal, Verwundung (Stich, Schnitt) 7, Verbrennung 1,
Erfrierung 1, Distorsion, Luxation oder Fractur 4, Contusion und dgl.
8 mal.
In 8 Fällen entwickelte sich die Krankheit sofort, in 7 nach
Tagen, in 7 nach 1—4 Monaten, in 4 nach 1—4 Jahren. Der ätio-
logische Zusammenhang in diesen letzteren tardiven Fällen war deutlich
durch „Brückensymptome" d. h. Schmerzen, Schwäche, Steifigkeit im
verletzten Glied, ferner durch den Umstand, dass die Krankheit ihren
Anfang in diesem nahm.
Diese Thatsache der localen Entstehung an der Stelle des ur-
sprünglichen Trauma's ergab sich in allen Fällen von localisirter Ver-
letzung, die zu P. a. führte. In 5 Fällen handelte es sich um Ver-
letzung der Unterextremitäten und entsprechendem Beginne daselbst,
während da wo allgemeines Trauma (Erschütterung) wirksam wurde,
die Krankheit in klassischer Weise immer in einer OE. begonnen hatte.
Prädispositionen fand Verf. nur ausnahmsweise (lmal Heredität,
zuweilen Rheuma, Potus, Kummer). Bekanntlich hat sich schon Charcot
mit dem Studium der traumatischen P. agitans beschäftigt. Er ver-
muthete als Vermittler zwischen Trauma und Krankheit Neuritis
ascendens, welche Annahme Vandier u. A. nur bei besonderer (heredi-
tärer) Veranlagung gelten lassen. Walz betont mit Recht, dass eine
solche nicht unerlässlich sei, aber immerhin eine Disposition zur Er-
krankung darstellen können. Jedenfalls könne eine traumatische P. a.
nur auf Grund eines veränderten Nervensystems gedacht werden.
Diese Veränderung kann angeboren (Heredität), sonstwie erworben
(Rheuma, Potus u. s. w.) oder erst durch das Trauma hervorgerufen sein.
Besonderen Werth legt Walz mit Recht auf gewisse Altersdispositionen.
Das Trauma ist erfahrungsgemäss meist geringgradig. Gowers
hält den mit dem Trauma verbundenen psychischen Shok (Schreck)
für das möglicherweise entscheidende Moment, eine Annahme, die aber
sich nicht gut mit der mit der Stelle des Trauma's zusammenfallenden
und vielfach ganz atypischen ursprünglichen Localisation der Krank-
heit zusammenreimen lässt. Die Arbeit von Walz enthält, abgesehen
vom thatsächlichen Material, erschöpfende Literaturangaben.
An das physische Trauma lassen sich wohl die (7) Fälle meiner
Statistik in Gestalt von heftiger Durchnässung, die ja auch eine Art
mechanisches Trauma darstellt, anreihen, endlich die 2 JJälle von
Erschütterung des Nervensystems in Gestalt eines apoplectischen Insults.
Acute Krankheiten, die schwer die Gesammternährung des
Körpers schädigten und mehr weniger den Beginn der regressiven
Paralyais agitans. 11
Lebensperiode inaugurirten, erscheinen ätiologisch in meiner Statistik
mit 10 °/0.
3 mal handelte es sich um Rheumatismus articul. acut., je 1 mal
um Erysipel, Enteritis, Botulismus, je 2 mal um Pneumonie und
Influenza. Die Betreffenden erholten sich nicht recht von ihrer über-
standenen Krankheit, alterten rasch, wurden marastisch und verfielen
binnen 3 Wochen bis 4 Monaten der P. a.
Klimacterium. Bei 7 Frauen unter 40 entwickelte sich die
Krankeit ohne weitere Gelegenheitsursachen im unmittelbaren An-
schluss an das Klimacterium, das schon im 38. — 44. Jahre sich ein-
gestellt hatte. Nur in einem Falle bestand eine Prädisposition (Vater
irrsinnig gewesen, Pat. Constitutionen neurasthenisch).
Auch bei 10 Männern meiner Statistik trat die Krankheit ohne
alle Gelegenheitsursachen unter Vorausgehen und in Begleitung von
Involutionsvorgängen am Körper ein, die im Sinne eines „Ohange
of life" sich deuten Hessen und offenbar der Ausdruck von das Senium
anbahnenden Veränderungen waren.
Jedenfalls ist man berechtigt, auch für den Mann eine klimac-
terische biologische Periode anzunehmen, die den Uebergang von der
vollen Rüstigkeit zum beginnenden Senium darstellt und sich psychisch
in Nachlass der Spann- und Thatkraft, der gemüthlichen Erregbarkeit,
Neigung zu Ruhe und Beschaulichkeit, sexuell im Absinken der
Libido sexualis documentirt, womit vielfach sich ein gewisses Embon-
point einstellt.
Diese Involutionszeit des männlichen Organismus ist zeitlich nicht
so begrenzt, wie beim Weibe und geht nicht mit so prägnanten körper-
lichen Erscheinungen einher, wie bei diesem. Immerhin bieten Neigung
zu Fluxionen zum Gehirn, Schwindel, anfängliche nervöse Störungen
Analogien mit Dem was beim Weibe beobachtet wird.
Diese klimacterische Zeit beginnt bei den meisten Männern um
das 55. Lebensjahr, bei besonders gut constituirten und geschonten
erst Anfang der 60 er Jahre, bei schlecht constituirten, durch geistige
oder körperliche Ueberanstrengung strapazirten, durch Ausschweifungen
(Alkohol) oder Krankheiten (besonders Lues) havarirten schon viel
früher, etwa um das 50. Lebensjahr oder noch vorher.
In diesen letzteren Fällen ist diese Involutionszeit eine nur kurze
Prodromalperiode eines Senium (praecox) mit den entsprechenden
physischen (rasch überhand nehmende Atherose u. A.) und psychischen
Erscheinungen.
Die sich unter solchen Bedingungen beim Manne entwickelnde
Paralysis agitans scheint mit den Involutionsvorgängen im centralen
12 Zur Aetiologie der
Nervensystem in ätiologischen Zusammenhang gebracht werden zu
müssen. Es handelt sich hier offenbar um analoge Bedingungen wie
da, wo die Krankheit beim Weib sich aus dem Klimacterium heraus
entwickelt und um eine Bestätigung der Ansicht von Gowers u. A.,
dass in der Phase der Involution oder Eegression der Mensch am
meisten in Gefahr steht, an P. agitans zu erkranken, während das
eigentliche Greisenalter fast völlige Immunität gewährt.
Meine 10 männlichen Fälle, die ich mit Involutionsvorgängen in
ursächlichen Zusammenhang zu bringen mich berechtigt glaube, waren
sämmtlich hereditär und sonstwie unbelastet gewesen, aber bei einigen
hatten frühere Krankheiten, besonders chronischer Rheumatismus, bei
fast allen geistige oder körperliche Ueberarbeitung die Constitution
untergraben und frühes Altern bewirkt. Drei darunter waren jüdische
Hausierer gewesen. In einem Fall war Lues im Spiel, hatte mit
47 Jahren zum Ausbruch von Tabes geführt, zu welcher dann mit
48 Jahren sich P. agitans hinzugesellte.
Auch in den übrigen Fällen hatte diese Krankheit auffallend
früh eingesetzt (1 mit 46, 1 mit 48, 1 mit 51, 2 mit 52, 1 mit 53,
3 mit 58 Jahren). Dies spricht zu Gunsten der Richtigkeit obiger
Annahme.
Anhang: Die vorzeitige Paralysis agitans.
Gegenüber den vorstehenden Ermittlungen über die ätiologischen
Bedingungen der P. agitans erscheint die Thatsache des Vorkommens
dieser Krankheit lange vor dem Alter der Involution, jedenfalls vor
dem 40. Lebensjahr, sehr bemerkenswert!! und zum Studium der Ur-
sachen herausfordernd. Hier kann nicht von prädisponirenden Be-
dingungen im Sinne perivasculärer Sklerose oder des Klimacteriums
die Rede sein.
Versucht man, die in der Literatur und in eigener Erfahrung
sich ergebenden Fälle zusammenzustellen, so ergibt sich die grosse
Seltenheit wirklicher Paral. agitans, sobald man die Diagnose scharf
ins Auge fasst.
Einer der bemerkenswerthesten Fälle von angeblicher infantiler
Paralysis agitans ist der von Huchard (Union medicale XIX p. 76) 1875
veröffentlichte.
Beob. Junges Mädchen von 18 Jahren. Seit dem 3. Lebensjahr auf
den 1. Arm beschränktes, in Form schneller, regelmässiger Zuckungen von
geringer Excursionsweite, wodurch die Hand beständig von rechts nach links
und umgekehrt geführt wird, erfolgendes Zittern, das in der Ruhe beob-
achtet wird, emotionell sich steigert und im Schlafe cessirt.
Paralysis agitans. 13
Die in Rückenlage ruhigen TJE. zeigen, wenn erhoben (1. > r.), kaum
bemerkliche Oscillationen. Das Zittern der 1. TJE. war früher stärker —
Pat. ging etwas schwierig und leicht hüpfend. Auch an r. OE. minimales
Zittern, dito an der vorgestreckten Zunge. Kein Nystagmus ; Sprache nicht
gestört. Schreiben erschwert (unregelmässige Buchstaben , Zitterschrift).
Beim Gehen leicht vorgebeugte Haltung. Zeitweise maskenartig starre Züge.
Nirgends Rigor, keine charakteristische Handstellung. Zeitweise neuralgi-
forme Schmerzen, besonders in 1. OE. Crampi in einzelnen Gliedern.
Sensibilität intact. Pat. sehr emotiv, von geringer Intelligenz und wenig
Gedächtniss. Keine hereditäre Belastung. Pat. war angeblich nie krank
gewesen. Verf. lehnt natürlich multiple Sklerose und Hysterie ab und hält
den Fall für einen echten von Paral. agitans.
Dass dieser Fall kein solcher ist, bedarf heutzutage keines Be-
weises mehr. Man ist versucht, dieses stationäre Zittern als posthemi-
plegische Neurose im Anschluss an eine infantile Heerderkrankung
(Polioencephalitis), analog einer Hemiathetose zu deuten.
Geht man der Casuistik der infantilen Fälle in der Literatur
weiter nach, so findet sich, soweit sie mir zugänglich war, nirgends
ein Fall, welcher die gestellte Diagnose rechtfertigte. Offenbar haben
früher choreatische Bilder, namentlich posthemiplegische, Fälle von
multipler Sklerose u.s.w. eine Paralysis agitans vorgetäuscht. Mit Be-
stimmtheit kann man, trotz Charcot, der 1875 noch die Heilbarkeit
der P. a, behauptete (vgl. Denombre, „Maladie de Parkinson" Paris 1880
p. 58) Fälle von angeblich geheilter P. a., ja selbst durch viele Jahre
stationärer, von der Discussion ausschliessen.
In dem mir leider im Original nicht zugänglich gewesenen British
med. Journal 1873 1. u. 8. März hat Jones einen Fall angeblicher
P. a. bei einem 17 jährigen Mädchen veröffentlicht. Die Beschreibung
desselben spricht durchaus für Chorea. Auch die Behauptung des
Verf., dass die Therapie bei jungen Leuten nicht hoffnungslos sei, muss
zur Vorsicht in der Beurtheilung mahnen. Der von Duchenne in der
These de Paris Fernet's 1872 berichtete Fall, ein Mädchen von
16 Jahren betreffend, scheint mir ebenfalls nicht als P. a. zu deuten,
ebensowenig- der im Journal de med. et de Chirurg, pratique 1874 Sept.
mitgetheilte Fall von Erkrankung eines Mädchens durch Schreck.
Bemerkenswerth ist auch ein Fall von Meschede (Virchow's
Archiv 50 p. 297). Ein Junge erhielt mit 12 Jahren einen Hufschlag
ins Gesicht. Leider sind nur Fragmente einer Krankheitsgeschichte
mitgetheilt. (Neben P. a. artigen Erscheinungen solche von Aphasie,
Zwangsbewegungen im Sinue von tiiebartigem Vorwärtslaufen.) Bei
der Section des mit 25 Jahren Gestorbenen fand sich Sklerose und
graue Degeneration im Centralnervensysteni !
14 Zur Aetiologie der
Unzweifelhaft werden auch manche Fälle angeblicher P. a. durch
Hysterie vorgetäuscht.
Neubert, Jahrb. f. Kinderheilkunde, VIII p. 378, XI p. 435, be-
richtet die Geschichte eines 11jährigen Knaben, der von einem Mit-
schüler in den rechten Vorderarm gebissen, an rhythmischem Schüttel-
tremor erkrankte und davon nach 14 Monaten genas.
In der These von Laroux über P. a. findet sich p. 19 ein Fall
von Doos. Er betrifft ein 19 Jahre altes Mädchen, das sich einen
Dorn unter einen Zehennagel einstiess, localen Zitterkrampf dann bald
rechts bald links bot und nach 10 Tagen gesund wurde.
Auch bei den postpubischen, noch jugendliche Individuen betreffen-
den Fällen ist die gestellte Diagnose nicht immer unanfechtbar, so in
einem von Leyden (Virchow's Archiv XXIX 1. 2) mitgetheilten Falle
eines 24jährigen Soldaten, bei dem ein Sarcom im linken Thalamus opt.
die Ursache eines rechtsseitigen Zitterkrampfs gewesen zu sein scheint;
ferner bei Fioupe (Journal de med. et de Chirurg, pratique 1874 p. 389),
wo ein junges Mädchen aus Schreck über eine platzende Granate
erkrankt sein soll. Fälle von Buzzard, einen 21jährigen Mann, von
Berger, ein 17jähriges Mädchen betreffend, waren mir nicht zugänglich.
Einen Fall von Oppenheim (Chariteannalen XIV p. 145) berichtet
(Mann, Sturz auf den Kopf, allgemeines Zittern, conc. Einengung des
Gesichtsfelds) wurde anfangs für P. a. gehalten, aber vom Verf.
später als „Pseudoparalysis" (wohl hysterische traumatische Neurose)
selbst erklärt.
Analog dürfte wohl auch ein Fall von Ewald (Monatsschrift für
Unfallheilkunde 1894 p. 216) zu deuten sein (Telephonistin. Nach
heftigem elektrischem Schlag bewusstlos, dann rechts Hemiplegie und
Entwicklung von Zittern, wie bei P. agitans); ferner ein Fall von
Heimann (Die Paral. agit. Fall 20): Mann 54 Jahre. Hat vor
20 Jahren ein Trauma capitis erlitten, bot seither Erscheinungen sog.
traumatischer Neurose und ein P. agitans ähnliches Zittern, das aher
durch psychischen Einfluss sehr modificirt und sogar zum Sistiren
gebracht werden konnte.
Ein älterer Fall von Volz (Heidelberger Annalen XII 2) betrifft
ein 30 jähriges Fräulein mit Schüttelkrampf des Kopfes, der Genesung
fand und nur als hysterisch gedeutet werden kann.
Es wäre jedenfalls eine dankenswerthe Aufgabe, wenn Jemand
sich der Mühe unterziehen wollte, alle Fälle von infantiler und über-
haupt vorzeitiger P. agitans auf ihre Berechtigung zu prüfen. Wahr-
scheinlich würde sich dann ergeben, dass in den 2 ersten Lebens-
decennien die Krankheit gar nicht existirt,
Paralysis agitans. 15
Von welcher Lebenszeit ab man auf ihr Vorkommen gefasst sein
muss, dürfte einstweilen offene Frage bleiben. In unanfechtbaren
Fällen (z. B. von L'hirondel, Siotis, Bechet u. A.) spielen mechanische
Traumen offenbar eine hervorragende Rolle. Die betreffenden Patienten
erkrankten mit 37, 38, 37 Jahren. In einem Falle Westphal's (Charite-
annalen IV p. 105) weiterbeobachtet von Heimann (Paralysis agitans,
Berlin 1888. Beob. 12) erkrankte ein Mann mit 33 Jahren angeblich
nach einer heftigen Verkühlung, in einem anderen Fall, den Heimann
berichtet (Beob. 15), war die muthmassliche auslösende Ursache der
Krankheit bei dem 33 Jahre alten Mann das angestrengte Halten
einer Elektrode in der linken Hand bei Selbstfaradisation wegen
Facialislähmung. Diese beiden sind die einzigen Fälle vor dem 40. Jahr
innerhalb einer Casuistik von 19 Fällen. Ordenstein fand 1868 unter
30 Fällen von P. agitans 6, die vom 30. — 40. Jahr entstanden waren.
In der Arbeit von Walz über traumatische P. agitans finden sich
unter 27 Beobachtungen nur 3 als vor dem 40. Jahr entstandene.
Gowers fand von seinen Fällen nur den neunten Theil im Alter
von 30—40 Jahren erkrankt. Die folgenden vorzeitigen 7 Fälle aus
meinem Beobachtungskreise sind die einzigen unter 131 sicheren
Fällen von P. agitans. Sie repräsentiren die gewöhnliche Aetiologie
der spätzeitigen Fälle. Eine besondere Veranlagung muss Angesichts
solcher Beobachtungen zugestanden werden. Ihr Wesen ist aber ganz
dunkel. Dass die Krankheit vor dem 40. Jahr auftreten kann, muss
ohne Weiteres zugegeben werden, aber es bedarf jedenfalls sorgfältiger
Diagnose im Einzelfall, um ihn als vollwerthig anzuerkennen.
Beob. 1. P., 32 J., verh., Geschäftsmann, israelit. Confession, aus
gesunder Familie, von Krankheiten verschont, bis auf Typhus mit
10 Jahren, nie schweren Erkältungen oder Strapazen ausgesetzt, er-
krankte im Mai 1892 (mit 30 Jahren) mitten aus voller Gesundheit
an Paralysis agitans.
Als einzige Ursache sind schwere Gemüthsbewegungen eruirbar.
Pat. hatte in Folge verschiedener Umstände bis 1891 seiner Militär-
pflicht nicht genügt.
Im Herbst 1891 sollte er assentirt werden. Diese Aussicht emotio-
nirte ihn ausserordentlich. In grösster Angst und Erregung brachte
er mehrere Monate zu. Dazu kam ein ungerechtfertigter Verdacht
eines versuchten Betruges und die Gefahr einer drohenden Verhaftung.
Er wurde schuldlos erkannt, auch nicht assentirt, aber der Schreck
lag ihm, wie er sagt, noch Monate lang in den Gliedern.
Im Mai 1892 begann Zittern und Schwäche in der r. Hand. Dieses
16 Zur Aetiologie der
Zittern war grosswellig, in der Art des Pillendrehens, emotionell sehr
gesteigert, bei psychischer Ruhe kaum wahrnehmbar, im Schlafe
cessirend. Er .konnte nicht mehr schreiben, auch wurde die r. Hand
schwach.
Im August 1892 stellten sich Zittern und Schwäche auch im r.
Fuss ein. Im März 1894 gesellte sich Tremor capitis hinzu, auch fand
Pat, dass sein Sprachmechanismus schwerer ansprach.
Stat. praes. 24. 9. 1894.
Mittelgrosser, graciler Mann, Vater von 2 gesunden Kindern.
Schädel normal, keine Degenerationszeichen. Augenbewegungen frei,
Visus normal, Augenspiegelung ohne Befund, Pupillen normal, kein
Nystagmus, Psyche unbetheiligt. Miene leicht starr. Bei mimischen
Bewegungen wird die r. Gesichtshälfte weniger und später innervirt
als die linke.
Auch in der Ruhe besteht leichtes Zittern des Kopfes in der
verticalen Ebene.
Die r. Oberextremität ist im Ellbogengelenk gebeugt, die r.
Hand in klassischer Stellung, die Bewegungen der r. Fingergelenke
sind etwas gehemmt, schwerfällig. Tremor besteht nur in Ruhe, in-
tendirte Bewegungen machen ihn momentan verschwinden. Die tiefen
Reflexe sind in der r. OE. stark gesteigert, die grobe Muskelkraft ist
etwas herabgesetzt. Sensibilität normal. An der 1. OE., ausser Steige-
rung der tiefen Reflexe und beginnender klassischer Handstellung, nichts
Abnormes. An der r. UE. Amyosthenie, leichter Tremor in Ruhe-
stellung, beim Gehen leichtes Anstreifen des r. Fusses, Fussklonus,
sehr gesteigerter Patellarreflex, kein Rigor, normale Sensibilität.
An der 1. UE. ist, ausser gesteigertem Patellarreflex, nichts Patho-
logisches nachzuweisen. Der Oberkörper ist leicht vorwärts geneigt.
Andeutung von Retropulsion. Leichte Bradyphasie. Keine Hitzege-
fühle, kein vermehrtes Schwitzen. Psyche unbetheiligt, vegetative
Functionen normal.
Ein neuerlicher Stat. praes. vom 18. 6. 1896 ergab folgenden
Befund:
Klassische Haltung des Gesammtkörpers (Ueberhängen nach vorn,
Kinn der Brust genähert, OE. an den Thorax gepresst, im Ellbogen-
gelenk gebeugt, klassische Handstellung, Kniee eingesunken, kurze,
trippelnde Schritte, Füsse am Boden scharrend, Steifigkeit und geringe
Beweglichkeit in den Gelenken].
Seit Ende 1894 Zittern auch in 1. OE., bald darauf in 1. UE.
Seither auch bilateraler Rigor, rasche Ermüdung, allgemeine Amyo-
sthenie, abnorme Hitzegefühle, profuses Schwitzen.
Paralysis agitans. 17
Im Juni 1896 Miene vollkommen starr, schwer anspruchsfällig. All-
gemeiner Tremor, gelegentlich auch in der Unterlippe ; Rigor, tiefe Re-
flexe allenthalben sehr gesteigert, beiderseits Fussklonus. Klagen über
erschwertes Ansprechen der Zunge, aber objectiv nur zeitweise und
geringfügige Bradyphasie. Gefahr, beständig den Schwerpunkt nach
vorne zu verlieren, keine Propulsion, wohl aber deutliche Retropulsion.
Grosse Schwierigkeit der Drehung um die Längsaxe in liegender
Position. Psyche intact.
Beob. 2. Dr. Z., Arzt, 46 J. alt, consultirte mich im August 1887
wegen eines Nervenleidens, das von einem hervorragenden Arzt für
einen Tumor cerebri gehalten worden sei.
Pat. ist unbelastet, hat keine schweren Krankheiten überstanden,
aber viel mit Sorgen zu kämpfen gehabt und sich in seiner beschei-
denen Praxis viel geplagt.
Vor 7 Jahren (im 39. Lebensjahr) stellte sich ohne eruirbare Ur-
sache ein Schwächegefühl in der r. Hand ein, wozu sich nach einigen
Monaten Rigor der r. OE. gesellte. Vor 4 Jahren trat ein gross-
welliger, vorwiegend in der Ruhe wahrzunehmender, langsam schlägiger
Tremor in dieser Extremität hinzu, während Schwäche und Rigor sich
steigerten.
Seit 3 Monaten, im Anschluss an Gemüthsbewegungen, hatten sich
Rigor und Schwäche nebst Zittern auch in der r. UE. und seit
2 Monaten auch in der 1. OE. hinzugesellt.
Der Stat. praes. ergab das klassische Bild einer P. agitans-
Schwäche, erschwerte Anspruchsfähigkeit, Tremor der ergriffenen Ex-
tremitäten, beginnender Tremor capitis, erschwertes Umdrehen, ab-
norme Hitzegefühle, gesteigerte tiefe Reflexe.
Beob. 3. R., Marie, 40 J., Arbeiterfrau, aufg. 15. 6. 1892, stammt
aus gesunder Familie, behauptet früher gesund gewesen zu sein. Sie
hat hydrocephalen Schädel, hat 6 gesunde Kinder geboren, Anfang 1889
einen uncomplicirten Abortus durchgemacht. Grosser Blutverlust.
Einige Wochen darnach begann Schwäche, dann Zittern in der 1. OE.,
bald darauf auch der 1. UE. Seit Anfang 1890 verspürt sie auch
Schwäche und Zittern in r. OE.
Bei Aufnahme des Stat, praes. rüstige Frau, keine Spuren von
Atherose. Linksseitige klassische Schüttellähmung, Tremor bei Inten-
tion vorübergehend ganz schwindend. Erhebliche Herabsetzung der
groben Muskelkraft in den befallenen Extremitäten. Keine Rigidität.
Anstreifen der 1. UE. beim Gehen. Tiefe Reflexe an OE. und UE.
sehr prompt, Behandlung erfolglos.
Krafft-Ebing, Arbeiten III. *
18 Zur Aetiologie der
Im Sommer 1892 stellt sich Rigor ein, beginnende typische Hand-
stellung und Vorbeugung des Rumpfes. R. UE. noch intact.
Beob. 4. Dr. V., 43 J., Advokat, unbelastet, nie schwer krank
gewesen, Vater von 5 gesunden Kindern, ist seit seinem 40. Jahre
nervenleidend. Die bezüglichen Diagnosen lauten theils auf Neura-
sthenie, theils auf Sklerose des Halsmarks.
Den Anlass zur Erkrankung gab die Wasserkatastrophe von
Szegedin, bei welcher Pat. schweren Gemüthsbewegungen und Ver-
kühlung ausgesetzt gewesen war. Das Leiden begann mit Schwäche
und Zittern der r. Hand und zeitweisem Versagen der Stimme, anfäng-
lich nur anlässlich Emotion. Als ich Pat. nach über 3jähriger Dauer
seines Leidens consultativ sah, constatirte ich an der r. Hand klassische
Stellung derselben, groben, langsamen Schütteltremor, besonders in
Ruhestellung, Abnahme der groben Muskelkraft, charakteristische
Schreibstörung, fehlenden Rigor. An den anderen Extremitäten keine
Functionsstörungen. Hirnnerven intact. Tiefe Reflexe sehr lebhaft.
Beob. 5. S., Marie, 39 J., ledig, unbelastet, hat keine schweren
Krankheiten durchgemacht. Als Ursache ihres Leidens weiss sie nur
Ueberanstrengung als Verkäuferin in einem feuchtkalten Local anzu-
geben.
In ihrem 36. Jahre begann Schüttellähmung in der 1. Hand; mit
38 Jahren wurde die 1. UE. ergriffen, vor 3/i Jahren stellte sich Rigor
ein. Der Stat. praes. ergab charakteristischen Befund in 1. OE. und
UE., Rigor nur zeitweise. Das Zittern schwindet gänzlich bei Inten-
tion, die r. Körperhälfte und das Gesicht sind bisher intact. Die tiefen
Reflexe sind erhöht. Keine Zeichen von Gefässerkrankung. Pat. ihrem
Alter entsprechend gut conservirt.
Beob. 6. S. R., Private, 30 J., ledig, stammt von schwächlichen
Eltern (Mutter lungenkrank, Vater viel an Cephalaea leidend). Eine
Schwester leidet an Cephalaea, eine zweite ist hysterisch, 5 weitere
Geschwister sind neuropathisch. Pat. war bis zum 20. Jahre nicht
nervös, ganz gesund. Von da ab viel Familiensorgen und Kummer
und wohl damit in Zusammenhang, nervöse Erregtheit und Cephalaea.
1891 Influenza. Seither sehr matt und nervös. 1892 beginnt Zittern
und Schwäche, zuerst in 1. Hand, dann 1. Fuss.
Dazu nach einem halben Jahre Rigor und Schwäche der 1. OE.
Anfang 1895 beginnt Schwäche, Zittern, Rigor in r. Hand; im Sommer
1895 dasselbe im r. Bein. Seither „Ziehen" nach vorwärts, in Schuss
geratheii und Gefahr des Stürzens nach vorne, Hitzegefühl in Händen
und Rücken.
Paralysis agitana. 19
Stat. 19. 11. 1895. Kleine, aber gut genährte Person, ohne vege-
tative Störungen. Gefässe zart. Beginnende typische Stellung der
Hände und Arme. Verlangsamtes schwerfälliges Gehen, bei steifem
und etwas am Boden scharrendem 1. Bein. Basche Körperbewegungen
vermag Pat. nicht auszuführen. Typischer Schütteltremor der Finger
und der Handgelenksmuskeln, 1. ausgeprägter als r., bei Intention ab-
nehmend, bei Emotion sich steigernd. Einzelbewegungen möglich, aber
langsam, wenig kräftig, bes. links. Bigor in allen Gelenken, r. gering,
1. sehr deutlich. Die tiefen Beflexe in den OE. sehr gesteigert.
In den UE. leichte Schwäche, gesteigerte tiefe Beflexe, beginnender
Schütteltremor des 1. Fusses. Sensibilität intact. Keine Stigmata
hysteriae.
B e o b. 7. Frau M., Kaufmannsfrau, 36 J., aus angeblich gesunder
Familie, von schwereren Krankheiten verschont gewesen, gebar vor
3 Jahren Zwillinge, erholte sich nicht recht von dem übrigens unconi-
plicirten Puerperium und erkrankte, ohne dass eine Ursache in Gestalt
von Trauma, Schreck, Erkältung u.s.w. nachgewiesen werden konnte,
etwa 6 Wochen nach der Geburt an P. agitans. Das Leiden begann
in der 1. OE. mit Tremor, Schwäche, wozu sich bald Bigor hinzu-
gesellte. Nach Jahresfrist wurde die 1. UE. ergriffen, vor 8 Monaten
die r. OE. Pat. bietet das klassische Bild der Krankheit, typische
Körperhaltung und Handstellung, anstreifenden, trippelnden Gang,
Propulsion. gesteigerten Patellarreflex, quälende Hitzegefühle.
2*
IL
ÜEBER DAEMMER- UND TRAÜMZUSTAENDE.
Erster Aufsatz ')
(1875).
Zu den bestgekannten Neurosen zählt ohne Zweifel die Epilepsie.
Die neuere Wissenschaft hat als Substitutionen und Aequivalente des
klassischen convulsiven Anfalls eine Reihe von theüs motorischen
theils vasomotorischen und psychischen Symptomencomplexen ermittelt,
die Monate, selbst viele Jahre hindurch, die Stelle des in tonisch-
clonischen allgemeinen Krämpfen mit Bewusstlosigkeit sich äussernden
gewöhnlichen epileptischen Insults vertreten, die Krankheit larviren
können.
Den Bemühungen französischer Collegen, namentlich Falret und
Morel verdanken wir eine ziemlich genaue Kenntniss der „psychischen"
Epilepsie, soweit sie sich in den Formen des petit und des grand
mal bewegt. Dass damit die Reihe der psychischen Syniptomen-
complexe im Gebiet der epileptischen Neurose nicht abgeschlossen ist,
lehren die Erfahrungen, welche Griesinger im I. Band des Archivs
f. Psychiatrie 1868 niedergelegt hat. Er spricht von epüeptoiden Zu-
ständen, insofern in seinen Beobachtungen ausgesprochene epileptische
Anfälle zwar fehlen, an deren Stelle aber kürzere oder längere
Schwindel-, Traumzustände oder plötzliche Augstanfälle sich vorfinden.
„Die von solchen Zuständen Befallenen haben als Kinder oft Krämpfe
mit Verlust des Bewusstseins gehabt oder einmal eine Kopfverletzung
erlitten."
Intervalläre Zustände, die psychischerseits in Abspannung, Ve/-
stimmung, Befangenheit, Aengstlichkeit, oft bei ganz unbedeutenden
Handlungen, bestehen, motorisch sich in leichten Zuckungen der
1) Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie XXXIII. Heft 2.
24 lieber Dämmer- und Traumzustände.
Hände, um den Mund, in den Bulbis, Nackenstarre etc. äussern, ander-
weitige nervöse, wahrscheinlich vasomotorische Erscheinungen wie
Kälte der Füsse, plötzliche Eöthe des Gesichts, schnell ausbrechende
starke Schweisse deuten nach Gr. mit Bestimmtheit auf eine zu Grunde
liegende centrale, wahrscheinlich epileptische Neurose.
Beachtenswerthe weitere Bestrebungen das Gebiet der psychischen
Epilepsie zu klären und zu erweitern sind in neuester Zeit von der
societe medico-psychologique (des transformations epileptiques Annal.
med. psych. 1873) und von Samt im Archiv f. Psychiatrie ausgegangen.
Sie legen die Vermuthung nahe, dass so manches psychische Krank-
heitsbild klinisch unverständlich ist, weil seine neurotische, wahr-
scheinlich epileptische Basis noch nicht klar zu Tage liegt. Ich er-
laube mir unter diesen Gesichtspunkten die Aufmerksamkeit auf 3 in
jüngster Zeit von mir beobachtete Epileptiker zu lenken, deren
psychische transitorische Störungen keineswegs dem Bild des petit
oder grand mal, der „niania epileptica" entsprechen, sondern theils als
Dämmerzustände mit Zwangsvorstellungen und impulsiven Handlungen,
theils als Traumzustände bezeichnet werden müssen und zur Er-
weiterung unserer Kenntnisse von den mannichfachen psychischen
Substitutionen, Aequivalenten und Complicationen der Epilepsie bei-
tragen dürften.
Beob. 1. 3) Holl, 22 J., Lithograph, stammt von einer mit Migräne
behafteten Mutter. Eine Schwester ist epileptisch, ein Bruder durch
progeneen Schädel auffällig.
Pat. war als Kind schwächlich, litt an Convulsionen, entwickelte
sich langsam, lernte schwer. Mit 13 J. Trauma capitis mit Bewusst-
losigkeit. Seit den Knabenjahren Hang zur Romantik und Phan-
tasterei. Er las mit Vorliebe Romane, Rittergeschichten, konnte oft
kaum mehr Lektüre und Wirklichkeit auseinanderhalten. Er erlebte
oft bei der Arbeit plötzlich romantische Scenen wieder, die er gelesen
oder auf dem Theater gesehen hatte, wurde dadurch ganz zerstreut,
zu seinem Beruf kaum mehr brauchbar. Mit dem Eintritt in die
Pubertätsjahre ergab sich Pat. der Onanie, der er bis auf die jüngste
Zeit fröhnte. Von Kindheit auf nervös sehr erregbar, erschrak er 1869
heftig über einen Hund, der ihn ins Bein biss. Er fühlte sich noch
längere Zeit nach diesem Vorfall nervös sehr aufgeregt. Auch den
Wein ertrug er seitdem nicht mehr. Liess er sich zum Genuss von
nur 2 Seidel Wein verführen, so bekam er heftige Angst, tonische
Krämpfe in den Extremitäten, Brausen im Kopf und Athemnoth. Seit
1) Ergänzt aus des Verf. Lehrbuch der Psychiatrie und handschriftlichen Notizen.
Erster Aufsatz (1875). 25
3 Jahren zeigten sich in unregelmässigen Zwischenräumen von mehreren
Monaten Anfälle von Umstürzen, mit minutenlanger Bewusstlosigkeit,
aus der er mit einem heftigen Weinkrampf dann wieder zu sich kam.
Ein auraartiges Kältegefühl, das blitzschnell von den Füssen zum
Kopf aufstieg, leitete sie jeweils ein. Seit 3 Jahren zeigten sich in
unregelmässigen mehrmonatlichen Intervallen Zustände, die Pat. als
„besinnungslose" beschreibt. Er könne während derselben nicht denken,
sei ganz confus und bewahre für das während ihrer Dauer Vorge-
kommene eine nur ganz summarische Erinnerung. Als Vorläufer solcher
Zustände: Visionen feindlicher drohender Gestalten, übler Geruch, wie
nach Schwefel, und dumpfes Getöse in den Ohren.
In den letzten Jahren war Pat. ausserdem zeitweise von einer
eigentümlichen Bewußtseinsstörung befallen, in welcher er theils im
Sinn seiner romanhaften „hereingeschneiten'' Gedanken handelte, theils
ganz impulsive, durch nichts motivirte Handlungen verrichtete, deren
er erst mitten in der Ausführung zu seinem Aerger und Kummer
bewusst wurde. So begegnete es ihm, dass er, mitten in der Nacht
vom Drang erfasst, spazieren zu gehen, planlos umherlief. Einmal
kam ihm, während er eine Commission besorgte, der ganz unmotivirte
Gedanke, nach Leoben zu fahren. Er führte ihn sofort aus, erwachte
am folgenden Morgen zu seinem Erstaunen in L., begritf seinen
dummen, ihm unerklärlichen Streich nicht und kehrte beschämt mit
erborgtem Gelde heim. Aehnliche Irrfahrten machte er nach Marburg,
Fürstenfeld etc.
Einen tiefen Eindruck machte auf Pat. der deutsch-französische
Krieg. Er schwelgte in der Zeitungslektüre der Siegestkaten des
deutschen Heeres, berauschte sich dabei oft mit der Idee selbst ein
Held zu sein, Soldat und dann Kaiser zu werden. Oft trug er sich
auch mit dem Gedanken, Fürst zu werden, ein Königreich zu gründen,
Schlachten zu schlagen, eine schöne Braut zu erobern.
In den letzten Jahren begegnete es ihm wiederholt, etwa 1 — 2 mal
jährlich und während der Dauer von 5 — 6 Wochen, dass er ganz in
diesen phantastischen, von ihm selbst als „hereingeschneite'' bezeichneten
Gedanken aufging, in einem eigenthümlichen, dämmerhaften Bewusst-
seinszustand all das für wahr hielt, was er bisher nur als Spiel der
Phantasie betrachtet hatte. Hellte sich dann auch wohl das Be-
wusstsein auf Stunden auf, so genügte das einfache Nachdenken über
seine romantischen Ideen, um sofort wieder die Phantasiewelt zur
scheinbaren Wirklichkeit zu gestalten. Er hielt sich dann für einen
König, für einen Feldherrn und leitete Schlachten. Ganz plötzlich
kam ihm dann wieder die Einsicht in das Unsinnige seiner Projekte,
26 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
und dass er nur geträumt habe. Nach solchen Anfällen fühlte er sich
längere Zeit matt, geistig erschöpft. Die Erinnerung für diese Traum-
welt war nur eine ganz summarische.
Im Laufe des Herbstes 1874 bemerkte Pat. Sehstörungen auf
beiden Augen, die sich unter Stirnkopfschmerz und Brennen in den
Augenhöhlen steigerten, ihn arbeitsunfähig machten und Anfang
Januar 75 ins Spital führten. Der Aufenthalt dort war ihm unsym-
pathisch, der Anblick Kranker machte ihn oft am ganzen Leib zittern,
auch er sei von allerlei Schreckbildern Nachts verfolgt gewesen.
Am 18. 3. 75 Abends fing der bisher psychisch ganz freie Pat. plötzlich
an zu schreien: „Ich bin der König Stuart. Gebt mir ein Schwert
und die Leiche meiner Mutter." Er delirirte, tobte, bekam eine
Morphiuminjection von 0,04, wurde ruhig und kam aus einem Dämmer-
zustand am 19. Morgens wieder zu sich. Er erinnert sich nur, dass
er, als er am 18. Abends sich zu Bette legte, plötzlich von Gestalten
umwogt war, schreckliches Getöse hörte und schwindlig wurde. In
den folgenden Tagen war Pat. ganz lucid, aber leicht benommen und
klagte über Kopfweh. Am 29. März wird Pat. plötzlich ängstlich,
blass, schwindlich, stürzt krampfhaft nach Luft schnappend, bewusstlos
zusammen, bleibt so, ohne dass Convulsionen auftreten, 10 Minuten.
Von da ab bis zum Mai treten fast täglich mehrere Anfälle von
Delirium auf, das ganz stereotyp ist. Gewöhnlich beginnen diese
Anfälle mit Schlachtengetümmel. Pat. ruft nach seinem Schwert,
stürzt sich als Feldherr an der Spitze seiner Schaaren auf den Feind,
haut und sticht wüthend um sich, feuert die Seinigen zum Kampf an.
Er führt sie zum Sieg, darauf Te deum und Siegesmarsch, den Pat.
theils trommelt, theils singt. Dann folgt ein Festbankett mit Toasten,
Proklamirung als Herzog, Vertheilung der Kriegsdecorationen, An-
sprache an das Heer, Gedenkfeier der Gefallenen, tröstender Zuspruch
an die Hinterbliebenen, worauf Seine Hoheit mit der fürstlichen Braut
sich ins Hochzeitsgemach zurückzieht und einschläft. Zuweilen folgt
noch ein Nachspiel, indem er die Reize und Tugenden seiner Erkorenen
mit dithyrambischer Begeisterung und schwülstigem Pathos preist.
Die sonst mittelweiten Pupillen sind im Anfall ad maximum er-
weitert, Kopf und Extremitäten kühl, Puls sonst 60, auf 100 gesteigert,
sehr klein und celer. Schmerz- und Tasteindrücke werden appercipirt,
krampfhafte Erscheinungen nicht beobachtet. Amylnitrit ergibt prompte
Reaction, hat aber auf den Verlauf des Anfalls keinen Einfluss. Da-
gegen wirken Morphiuminjectionen , wenn im Beginn gemacht,
zu 0,01—0,02 coupirend. Die Anfälle, welche bis zu einigen Stunden
dauern, kommen plötzlich, unregelmässig. Veranlassung sind Lärm,
Erster Aufsatz (1875). 27
Schüsse u. dg]., namentlich aber Selbsthingabe des Pat. an seine
romantischen Ideen, die dann sofort sich zur Intensität von Hallu-
cinationen steigern und ihn mit einem Schlag in die Traumwelt ver-
setzen. Pat. vermeidet es deshalb thunlichst, von seinen „Ideen" zu
sprechen, da er sonst gleich wieder in seinen Zustand hineingerathe.
Für das im Anfall Delirirte und Geschehene besteht zuweilen gar
keine, meist eine nur ganz summarische Erinnerung. Pat. ist nach
demselben leicht stuporös, das Bewusstsein etwas getrübt, er ist sehr
reizbar, klagt über Schwindel, Kopfweh, eingenommenen Kopf. Folgt
der nächste Anfall schon nach Stunden, so hellt sich das Bewusstsein
in der Zwischenzeit nicht völlig auf.
In der intervallären Zeit ist Pat. sonst lucid, aber träumerisch
seinen romantischen Gedanken nachhängend, reizbar, von nächtlichen
ängstlichen Träumen geplagt. Er klagt öfter über Kopfweh, und dass
er sich von der Phantasiewelt nicht emancipiren könne.
Vom 24. März an wurden täglich 6 g Bromkali gereicht und all-
mählig auf 14,0 gestiegen. Ein deutlicher Erfolg war nicht zu
constatiren. Ende Mai wurden die deliranten Anfälle seltener. Am
6. Juni, nach einem solchen Anfall und nachdem Pat. schon ganz lucid
erschien, wurde er plötzlich sehr schmerzlich verstimmt, drängte
stürmisch fort, drohte alles zusammenzuschlagen. Das Bewusstsein
war tief gestört, die Miene ganz entstellt. Rasch nach einander
erfolgten zwei Selbstmordversuche. Am 11. Juni war dieser acute
Depressionszustand ganz plötzlich vorüber. Pat. Avusste von allem
Vorgefallenen nicht das Mindeste. Bis zum 12. Juli blieb Pat. frei
von seinen Anfällen und, bis auf Kopfweh und Hingabe an seine
Träumereien, ziemlich wohl und lucid.
Am genannten Tage traten neuralgische Sensationen in der linken
Temporalgegend, zu denen sich schreckhafte Hallucinationen (Sehen
von Todten, Ueberfall durch Räuber, Zerdrücktwerden von Maschinen)
gesellten, auf. Sie hatten die Bedeutung der Aura eines Anfalls, in
welchem Pat. den Arzt für einen Erzherzog, sich selbst für einen
Fürsten hielt und sein Heer wieder commandirte.
Wiederholt wurde dieses Delirium von krampfartig stossenden
Bewegungen mit den Armen und seitlichen Zuckungen des Kopfes
unterbrochen. Nach einer halben Stunde war dieser abortive Anfall
vorüber. Pat, war sich hinterher desselben nicht bewusst.
Damit war der Anfallscyclus für diesmal abgeschlossen. Pat. war
in der Folge ganz lucid, erklärte zu seiner Freude, dass er nun ganz
frei von dem lästigen Kopfweh und den dummen romantischen Ideen
sei. Bis Mitte November 1875 wurde nichts Auffälliges an H. mehr
28 Ueber Dämiuer- und Traumzustände.
bemerkt. Am 15. November stellte sich Kopfweh und Störung des
Schlafs ein. Am 17. Abends dachte er ans Theater. Mit einem Mal
sah er die Bühne vor sich, die Scene kam auf ihn zu, er fühlte sich
plötzlich als König- auf einem Pferd mitten im Walde. Da feuerte
man einen Schuss auf ihn ab, er stürzte getroffen vom Pferd und der
Vorhang fiel. Sofort sah er sich wieder in die reale AVeit zurück-
versetzt.
In der Nacht vom 17.18. stand er auf, kroch längs der Wand des
Zimmers fort, sah dabei ganz verstört aus, stürzte plötzlich um, blieb
% Stunde bewusstlos ohne krampfhafte Erscheinungen und schlief
dann ein. Amnesie für das Vorgefallene.
Am 18. November Nachmittags Traumzustand von 3 Stunden mit
Delir von Theater, König etc. inhaltlich ganz dem vom 17. entsprechend.
Pat. hat für diesen Anfall nur summarische Erinnerung, er weiss, dass
derselbe sich mit Sausen in den Ohren und Kopfweh einleitete, dass
er sich dann in Spanien, Paris etc. glaubte.
Am 23. November Nachmittags blickt Pat. plötzlich starr vor
sich hin. Das Gesicht hat eine maskenartige Starre, die Wangen sind
rosig injicirt. Die Hyperämie verbreitet sich über Nacken und
Schultern bis zur Höhe des 8. Brustwirbels. Mechanische Insulte auf
der Haut im Bereich dieser Hautparthien rufen, soweit der Insult
reicht, eine lebhafte Röthe hervor, die erst nach längerer Zeit wieder
schwindet. An den Extremitäten lässt sich diese Hyperämie nicht
hervorrufen. Puls 90, äusserst voll, weich. Pat. ist bewusstlos und
fängt mit grossem Pathos an zu peroriren: „Katharina von Schottland
haben Sie Ihre Reisigen schon beisammen ? Wir lassen sie ziehen
Sammeln Sie Ihre Häuflein! Katharina, meine Gemahlin! Ziehen wir
vereint an unserem Vermählungstage, wenn auch wir am Tage grössten
Glückes dasselbe zu gemessen verzichten müssen! Wer wagt das
Königsblut zu vergiessen? Sammelt euch! Es ist traurig, gestört zu
werden am schönsten Tage. Die Klingen sollen klirren, die Kanonen
donnern, die Trompeten sollen fanfaren, es sollen umfallen die Stadt-
mauern ! Volk ! weiche nicht, es ist dein König hier, Karl von Bourbon
steht dir zur Seite. Lassen Sie die Eingänge besetzen, sofort! Dort
auf die Hügel pflanzen Sie die Kanonen! Volk! Alles soll Te deum
singen und sobald ihr des Feindes ansichtig werdet, blickt gegen
Himmel! Liebes Volk! Stehe treu zu deinem König: Katharina, um-
gürte dein Schwert, vertheidige auch du das Recht deines Landes,
Glück und Segen über unser Volk! .... Lassen Sie vorrücken, die
Kanonen donnern . . es steht schlimm, er hat seinen Banditenkönig
von Castiglione, Don Carlos soll sich ergeben, lebend oder todt, bringt
Erster Aufsatz (1875). 29
ihn um! Vorwärts, vorwärts, (Pat. haut mit einem Stuhl auf die
Umgebung ein), Katharina von Schottland lebt für euch . . . Habt ihr
ihn noch nicht eingeholt den Meuchelmörder ? Mein Volk soll dir nicht
zum Opfer fallen ! Wie sie kämpfen ! Gottes Segen über euch ! Reichlich
soll euch euer Blut vergolten werden. Noch bin ich nicht verwundet.
Katharina, dein Herz verdient Lorbeerkränze!"' An dieses Delir reihte
sich ein stuporöser Zustand. Die Nacht vom 23. 24. schlief Pat. gut.
Am 24. Morgens noch dämmerhafte Existenz. Amnesie für den Anfall.
Puls 72. Arterie wieder contrahirt.
Bis zum 18. 1. 1876 ist Pat. bis auf zeitweiliges Kopfweh und
Nasenbluten wohl.
Am 18. Nachmittags starres Nachobenschauen. Zu Bett gebracht
Dämmerzustand von 1 — 5 Uhr. Kein Delir ausser die abgerissene
Aeusserung: „Meine Leiche kommt nach Mailand."
Am 19. Abends stürzt Pat. plötzlich bewusstlos um, liegt dann
8/4 Stunden regungslos da, mit starr nach oben gerichteten Augen und
erschlafften Gliedern. Puls kein, Arterie contrahirt. Plötzlich bricht
Delirium aus, das sich um Tod der Feinde, Sieg, Vermählung dreht
und etwa 1 Stunde dauert. Dabei ergiesst sich wieder eine Röthe
über Gesicht, Ohren, Nacken, Brust, Rücken bis zur Höhe des 8. Brust-
wirbels. Der Puls wird voll, 88. Die Stirn ist mit Schweiss bedeckt.
An das Delirium reiht sich ein Dämmerzustand mit Angst und Visionen
schrecklicher Gestalten. Darauf mehrstündiger Schlaf. Pat. erinnert
sich nur, dass er bei Beginn des Anfalls drohende Gestalten sah, die
seine Leiche verlangten. Er wehrte sich, sagte, er sei ja nicht todt.
Darauf fingen sie an zusammenzulaufen, es schössen glühende Kugeln
aus der Mauer. Nun kam man ihm zu Hilfe. Es entspann sich ein
Kampf. Was weiter mit ihm vorgegangen, weiss er nicht. Vom
20. an bis zum 18. März frei von Anfällen, bis auf zeitweises Kopf-
weh wohl.
Pat. ist mittelgross, kräftig gebaut, ziemlich gut genährt. Der
Schädel geräumig. Die Augenhöhlenbogen bilden mächtige Wülste.
Nase nach rechts abweichend. Gaumenmittelnaht limbös und kiel-
förmig vorstehend. Das linke Auge weicht nach links von der Seh-
linie ab. An den unteren Lidern finden sich häufig fibrilläre Zuckungen.
Kranzförmig rund um die Papille an homologen Stellen und in gleicher
Ausdehnung findet sich auf beiden Augen ein atrophirender Process
in der Chorioidea. Der übrige Augenhintergrund, besonders die Macula
lutea ist intact. Häufig wird Nystagmus bemerkt, Da die Anfälle
nicht wiederkehrten, wurde Pat. im Juli 1876 entlassen. In der Folge
ist er reizbar, nervös, ab und zu dämmerhaft. mit Anfällen von
30 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Temporalschmerz ; gelegentlich durch 2 Tage „Zungenlähmung", d. h.
Sprachlosigkeit. Anfang Sept. 1876 befielen ihn wieder die roman-
tischen expansiven Ideen. Es kam ihm vor, er müsse ein Schriftsteller
oder Erfinder werden. Bald war es ihm, er sei schon ein solcher,
müsse seine Arbeiten in Wien einreichen. Auf der Strasse sah er die
Leute in Festkleidern. Vorkommende Festlichkeiten glaubte er auf
sich beziehen zu müssen. Er dämmerte wieder herum, hörte oft
„Evviva" hinter sich rufen, gelegentlich auch „weg mit ihm". Oefters
kamen Angstgefühle mit der quälenden Idee, umgebracht zu werden.
Anfang October schickte ihn der Vater in Geschäftsangelegenheiten
mit 40 fl. Reisegeld nach Untersteier. Unterwegs gerieth er iu über-
schwängliche Politikideen. Es kam ihm vor, er sei berufen, am serbisch-
türkischen Krieg theilzunehmen, die Conferenz in Berlin zu besuchen.
Er fühlte sich nun in der Rolle eines Gesandten, der die Länder
inspicire, dämmerte planlos herum, verirrte sich in Wäldern, gerieth
nach Ungarn. Dort (Ende November) kam ein episodisches, schreck-
haftes Delir, das er in einem Gasthaus durchmachte. Unter heftigem
Kopfschmerz wurde er sehr ängstlich, sah sich von Leichen umgeben,
hörte Rufe und Sturmläuten. Nach drei Tagen dämmerte er weiter,
wurde in einem „Ohnmachtsanfall" an der Bahn betroffen, bekam von
mitleidigen Fremden eine Karte nach Graz gelöst, fuhr dorthin, er-
kannte aber bei der Ankunft die Heimath nicht, fuhr planlos fort
nach Obersteier. Dort recrudescirte das schreckhafte Delir. Es war
ihm 2 Tage ganz finster vor den Augen, er hörte schrecklichen
Kanonendonner, sah wilde Thiere, verstand die Sprache der Leute
nicht, glaubte sich in Australien oder sonstwo. Dann kamen Ideen,
der Kanonendonner sei ihm zu Ehren, er sei eine hochgestellte Per-
sönlichkeit und bereise das Land. Er fuhr wieder mit der Bahn gegen
Graz. Als er dort ankam, donnerten die Kanonen, alle Glocken
läuteten. Er hörte Stimmen, er solle nur aushalten, es werde zum
Guten führen. Einige Stunden später, in Marburg, am 28. 12. kam
er aus dem seit Anfang October bestandenen Anfall zu sich, mit
summarischer Erinnerung an seinen Dämmerzustand, mit wirrem Kopf,
leerer Börse und tiefem Schmerz über das ihm Begegnete.
Am 30. 12. 1876 wieder in der Klinik aufgenommen, bot er, ausser
schlechtem Schlaf, moroser, reizbarer Stimmung, zeitweisen Geruchs-
empfindungen nach gebrannten Kräutern, nichts Besonderes, so dass
seinem Verlangen nach Entlassung bald wieder Folge gegeben wurde.
Am 6. 6. 1879 neue Aufnahme. Bis Dec. 1878 war nichts Be-
sonderes ihm passirt. Im Januar 1879 war er in einem Dämmerzustand
nach Ungarn gerathen, hatte dort episodisch ein schreckhaftes halluc.
Erster Aufsatz (1875). 31
Delir durchgemacht, war aber schon nach einigen Tagen wieder heim-
gekehrt. Einige Wochen später, auf einer intendirten Geschäftsreise,
neue Irrfahrt, wobei Pat. fast im Schnee stecken geblieben und er-
froren wäre, jedoch mit Verlust seines Gepäcks glücklich wieder
heimkam.
Am 2. 3. 1879 verschwand Pat. von Hause und kehrte erst am 3. 6.
aus Wien zurück. Pat. weiss kein Motiv für seine Reise nach Wien
und hat nur summarische Erinnerung für seinen Aufenthalt dort.
Er hat dort herumgedämmert und geschwindelt, bald nach der An-
kunft und einmal Ende April ein mehrtägiges, schreckhaftes, hallu-
cinatorisches, episodisches Delir durchgemacht. Ausserdem weiss er,
dass er sich für einen grossen Herrn hielt, gelegentlich mit dem Ge-
danken trug, nach Petersburg zu gehen, um dort Ordnung zu machen,
sich für einen bedeutenden Schriftsteller hielt und Romane schrieb.
In seinem schreckhaften Delir sah er blutende Leichen, den Plafond
zusammenstürzen. Er hörte furchtbares Getöse, Geprassel von Flinten-
schüssen; Kanonenkugeln prallten an den Mauern auf. Dann hörte
er das Anschlagen der Wogen, glaubte sich auf einem Schiff, man
schoss auf ihn, Flammen leckten um ihn u. s. w.
Am 6. 6. 1879 sollte Pat. wegen einer Betrugsaffaire verhaftet
werden. Er gerieth in heftigen Atfect, ergriif ein Messer, das auf
dem Tisch lag, wollte sich den Hals abschneiden, den Sicherheits-
beamten erstechen. Man entrang ihm das Messer, er gerieth in Wuth,
dann in Delir, rief seine Husaren herbei, lieferte eine Schlacht gegen
seine Feinde und wurde noch in vollem Schlachtendelir im Spital auf-
genommen. Am 7. 6. war er ausser Delir, aber noch dämmerhaft,
klagte über heftigen Kopfschmerz, hatte summarische Erinnerung,
behauptete, es sei eine ganze Schwadron auf ihn eingestürmt. Wie
er hierher gekommen, wisse er nicht. Er steht noch unter dem
Eindruck, eine bedeutende Persönlichkeit, eine Art Feldherr zu sein,
vergleicht sich mit dem König Philipp von Macedonien, der auch klein
angefangen habe.
Am 11. 6. löst sich der Dämmerzustand. Pat. hat in der Folge
schwere Träume von Feuer, Zerdrücktwerden zwischen Maschinen u. s. w.,
ist nach wie vor nervös, reizbar, aber andauernd lucid, und wird nach
mehrmonatlicher Beobachtung wieder einmal entlassen.
Am 18. 4. 1881 neue Aufnahme auf der Klinik. Pat, war in
Brück ausweislos, in dämmerhafter Verfassung aufgegriffen, und im
Gemeindearrest ,.tobend" geworden. Er ging erschöpft, dämmerhaft
zu, blieb so bis Anfang Mai und gab im Stat. retropectivus an, er
sei am 12. 4. 1881 von Graz fort, habe zur Vermählung des Krön-
32 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
prinzen nach Wien gewollt, sei nach Kreuz- und Querzügen nach
Brück gerathen, wo er einen „Ohnmachtsanfall" erlitten habe. Amnesie
für den Dämmerzustand. Entlassen am 31. 5. 1881.
In der Folge reiste Pat. für das Geschäft seines Vaters. Er kam
wiederholt wieder in seinen expansiven Ideenkreis hinein. Einfache
Zeitungslektüre genügte dazu. Als er eines Tages las, der Kronprinz von
Portugal werbe um die Hand der Prinzessin V., erblickte er in ihm einen
Rivaleu, meinte ihn durch Heldenthaten aus dem Feld schlagen zu
müssen. Sofort fühlte er sich als Heerführer, glaubte sich in China,
befehligte im Feldzug von Tonking. Diese Phantasie dauerte bis zur
Ankunft des Königs von Spanien in Wien, der eine neue Situation
herbeiführte. Pat. wurde Retter des Königs aus einer Lebensgefahr,
von diesem in Gegenwart einer grossen Volksmenge decorirt. In
solchem romantischem Gedankenkreise bewegte er sich wochenlang,
zeitweise ganz dämmerhaft, aber doch leidlich im Stande, in der realen
Welt sich zurechtzufinden und seine Geschäfte zu besorgen.
Episodisch, wahrscheinlich im Zusammenhang mit im Sommer 1883
wieder häufiger auftretenden „Ohnmachtszuständen" und Schwindel-
anfällen mit Angst, kamen auch Gedanken an Gift, Lebensbedrohung,
im Zusammenhang mit Geschmacks- und Geruchshallucinationen. Er
dachte sich, man wolle ihn wegen seiner Krankheit aus der Welt
schaffen, jedoch corrigirte er immer wieder diese Verfolgungsideen.
Masturbation hatte er angeblich seit geraumer Zeit nach Lektine
eines populären Buches aufgegeben und in natürlicher Weise seine
sexuellen Bedürfnisse befriedigt.
Unmotivirte Reisen im Dämmerzustand waren im Lauf von 1882
und 1883 öfter vorgekommen, besonders solche nach Ungarn. Einige
Male, das letzte Mal im Sommer 1883 war er unter ascendirendem
Hitzegefühl von den Beinen herauf bewusstlos zusammengestürzt. Er-
schrecken vor Hunden genügte, um solche Anfälle zu provociren. Nachts
war er häufig ängstlich und sah sich im Halbtraume unter Leichen.
Am 25. 10. 1883, nach einem Aerger, bekam Pat. einen Anfall
von 1. temporaler Neuralgie, der einen deliranten Zustand auslöste.
Auf die Klinik gebracht, predigte er wie ein Priester, sprach von der
Erlösung der Welt durch ihn, von Macedoniens schönen Gefilden. Er
■gerieth immer mehr in Ekstase, hielt sich für Philipp von Macedonien
„ich ziehe mein blutendes Schwert als PL v. M. Gott gebe meinem
Volke den Frieden ! Mein Leichnam ruhe im Dom !" Pat. führt noch
eine Weile Schlachten auf, wird ruhig, schläft ein, erwacht am 26. 10.
früh lucid, amnestisch für alles Vorgefallene und klagt noch neu-
ralgische Beschwerden.
Erster Aufsatz (1875). 33
In der Folge ist Pat. geordnet, schläft schlecht, hat Halbträume
von Verirrung im Walde, Duellen, Friedhofsituationen. "Wenn er dann
zu sich kommt, sieht er öfter eine Gestalt dahinhuschen. Bei Tag
versichert Pat., dass er Widerstandskraft genug habe, um seine aus-
schweifende Phantasie einzudämmen. Er vertreibt sich die Zeit mit
Niederschreiben seiner Autobiographie.
Am 26. 11. soll Pat. in einer gerichtlichen Angelegenheit vom
Untersuchungsrichter einvernommen werden. Kaum, dass er diesem
vorgeführt ist, wird er blass, aufgeregt, verwirrt, aggressiv, bekommt
einen epileptischen Anfall (tonisch-klonischer Krampf von sehr kurzer
Dauer) an den sich ein deliranter Zustand sofort anreiht, in welchem
er sich als Napoleon I. gerirt.
„Helena ist die Losung, der Held von St. Helena lebt" etc.
In diesem deliranten Traumzustand, der mehrere Stunden dauert,
reagirt Pat. auf keine Reize der Aussenwelt. Endlich wird er ruhig,
schläft ein und erwacht am anderen Morgen lucid, amnestisch für Alles,
auch für die Gegenwart des Untersuchungsrichters.
Pat. bietet in der Folge nichts Bemerkenswertlies und wird am
25. 2. 1884 neuerdings entlassen.
Am 10. 6. 1884 neue Aufnahme. H. war wegen Betrug verhaftet
worden, hatte einen Selbstmordversuch durch Erhängen gemacht und
ging einige Stunden nach diesem in einem stuporartigen Zustand auf
der Klinik zu.
Nach einigen Stunden kam er zu sich, wusste nichts von allem
Vorgefallenen. Er erzählte, dass ihm in den letzten Monaten wieder
allerlei Unliebsames durch seine romantischen Ideen passirt sei, so
habe er z. B. als imaginärer Fürst seine Börse im Stadtpark ver-
schenkt, um vermeintlich ihm gehörende Güter zu besichtigen, ganz
unsinnige Fiakerfahrten in der Umgebung von Graz gemacht. Dabei
hatte er auch anfallsartige Zustände mit Amnesie, förmliche Ge-
dächtnisslücken, in deren Raum ganz unbewusste Handlungen fielen.
Unter seinen traumhaften Ideen habe sich neulich oft die einge-
stellt, schon vor 1000 Jahren gelebt zu haben.
In der Beobachtung bleibt er lucid, aber moros, reizbar, anspruchs-
voll, von grossem Selbstgefühl.
Am 12. 1. 1885 wird H. wieder aus der Irrenanstalt entlassen
und im Siechenhause aufgenommen. Eine Betrugsaffaire (s. u.) brachte
ihn vor das Strafgericht, wo ich im Januar 1886 ihn zu beobachten und
zu begutachten hatte.
Krafft-Ebing, Arbeiten III.
34 lieber Dämmer- und Traumzustände.
Der Inhalt des Gutachtens ist folgender :
Ergebnisse der Acten.
Karl EL, 32 J. alt, ledig, ist seit dem Jahre 1874 gerichtsbekannt.
Er hatte damals Landboten geprellt, indem er ihnen Schachteln mit werth-
losem Inhalt zur Bestellung übergab und sich dafür Vorschüsse geben Hess.
Er wurde damals (30. 12. 1874) wegen dieser betrügerischen Handlungen
mit 2 Monaten Kerker bestraft.
Analoge Gaunereien mit werthlosen Paketen, auf die er sich Geld aus-
zahlen liess, fielen 1874 H. zur Last, der sie auch eingestand.
Anfang 1875 wurde H. zum erstenmal im allgemeinen Krankenhause
in Graz aufgenommen. Die Beobachtung ergab die bestimmten Symptome
einer schon 3 Jahre früher aufgetretenen epileptischen Geistesstörung neben
Erscheinungen einer bis auf die Kinderjahre zurückreichenden wohl erblichen
Belastung.
Das epilejitische Irresein äusserte sich in unregelmässig wiederkehrenden,
kaum von der luciden Zeit abgränzbaren Traum- und Dämmerzuständen, in
welchen der Kranke im Sinne romanhafter Ideen traumhaft handelt, der
"Wirklichkeit grossentheils entrückt ist, gleichwohl aber noch im Stande ist,
sehr combinirte Handlungen, z. B. Reisen auszuführen.
Nur selten zeigen sich epileptische Anfälle, noch seltener impulsive
Acte, z. B. zu Selbstmord, postepileptische Delirien u. dgl.
Am 25. 4. 1876 wurde H. zum erstenmal gerichtsärztlich explorirt, nach-
dem die Direction der Landesirrenanstalt seine Vernehmungsfähigkeit er-
klärt hatte.
Die gerichtsärztliche Exploration ergab eiDÜeptisches Irresein. Das
Gutachten (vom 17. 5. 1876) konnte die Krankheit schon zur Zeit der incrim.
Handlungen erweisen und ein Lucid. intervallum nicht nachweisen. Damit
ging H. straflos aus.
Im Juli 1876 aus der Irrenanstalt gebessert entlassen, wurde H.
1879 neuerdings criminell durch betrügerische Handlungen. Er hatte näm-
lich werthlose Colli versendet und in der Zeit vom 23. 1. bis Ende Februar
1879 einem gew. H. die über diese Colli entstandenen 23 Recepisse im an-
geblichen Nachnahmewerth von 990 fl. um 378 fl. verkauft. Als H. wegen
dieses Betrugs verhaftet werden sollte, war er nicht aufzufinden. Er war
ohne rechtes Motiv , vermuthlich in einem neuen epileptischen Dämmer-
zustand nach "Wien gefahren und erst am 3. 6. 1879 wieder nach Graz
zurückgekehrt. Als er am 6. 6. verhaftet werden sollte, gerieth er in einen
psychischen Ausnahmszustand, versuchte sich den Hals abzuschneiden und
den verhaftenden Wachmann zu erstechen. Da dieser Affectzustand un-
mittelbar in einen epileptisch deliranten überging, wurde H. auf das Beob-
achtungszimmer gesendet und da seine geistige Störung fortdauerte, am 16. 6.
nach der Irrenanstalt transferirt.
Am 6. 9. 1879 gaben die Gerichtsärzte ihr Gutachten dahin ab, dass
H. an epileptischem Irrsinn leide, keine sicheren Lucida intervalla biete und
einer dauernden Internirung in einer Irrenanstalt bedürfe.
Am 10. 9. 1879 wurde das Verfahren gegen H. eingestellt und am
26. 9. 1879 über denselben die Curatel verhängt.
Erster Aufsatz (1875). 35
Am 17. 1. 1880 wurde H. in gebessertem Zustand aus der Irrenanstalt
entnommen, am 28. 4. 1881 neuerdings derselben zugeführt, da er in epi-
leptischem Dämmerzustand von der Sicherheitsbehörde aufgefunden worden war.
Am 31. 5. 1881 wurde H. aus der Irrenanstalt genesen entlassen.
Er betrog nun einen gewissen Seh. mit gefälschten Pfandbriefen. Als
diese Affaire aufkam und man auf H. fahndete (Juli 1881) bekam er epi-
leptische Anfälle, erschien, als er am 20. 8. 1881 vernommen werden sollte,
geistig gestört, so dass von der Vernehmung Abstand genommen werden
musste.
1883 sendet H. einer Frau E. in Graz eine angebliche Nachnahme-
sendung Pretiosen zu. Bei der Oeffnung des Kistchens finden sich statt
Pretiosen Ziegelsteine vor. H. hatte die Sendung unter dem fingirten
Namen „Josef Stemmer" gemacht.
Am 25. 10. 1883 wurde H. neuerdings der Beobachtungsabtheilung
übergeben. Er bot epileptische Dämmer- und Traumzustände, war auch in
der Zwischenzeit von gelegentlichen Grössen- und Verfolgungsideen , Ge-
schmacks-, Geruchshallucinationen und Gesichtsillusionen heimgesucht.
Gelegentlich eines Besuchs des Untersuchungsrichters wird er blass,
aufgeregt, will auf den Richter losgehen, sodass dieser sich zurückziehen
muss. Gleich darauf bekommt H. einen epileptischen Anfall mit postepil.
Delir, in welchem er, ganz wie in früheren Zuständen, in tiefem Traum-
zustand ist, sich für eine berühmte Persönlichkeit (diesmal Napoleon I.) hält,
Schlachten schlägt, auf St. Helena trauert, u. s. w., bis er nach mehreren
Stunden, mit mangelnder Erinnerung für alles Vorgefallene, selbst für den
Besuch des Untersuchungsrichters, wieder zu sich kommt.
Da H. auch intervallär entschieden geistig gestört ist, u. A. Ideen hat,
seine Mutter sei eiue Andere, er habe schon vor 1000 Jahren als ausge-
zeichnete Persönlichkeit existirt, wird er am 6. 12. 1883 der Irrenanstalt
übergeben und dort von den Gerichtsärzten explorirt.
Das Gutachten dieser vom 23. 12. 1883 geht dahin, dass es nicht
möglich sei, Lucida intervalla und Dämmerzustände bei dem epileptischen
H. scharf von einander zu unterscheiden. H. ist zudem ethisch und in-
tellectuell geschwächt (psych. Degeneration). Es ist ein höchst gemein-
gefährlicher Kranker, unheilbar und dauernder Internirung in der Irren-
anstalt bedürftig.
Laut Note der Direction der Irrenanstalt ist H. am 25. 2. 1884 ge-
heilt entlassen worden.
Bald darauf beschwindelte H. einen Kaufmann G. in Graz, indem er Be-
stellung von Waaren fingirte und die Waare ins Haus beorderte, um sie
dort sich anzueignen. H., neuerdings für dieses Delict in Untersuchung ge-
zogen, wird wegen Irrsinns freigesprochen, zumal da er bei der Verhandlung
den Eindruck eines offenbar Geistesgestörten machte.
In der Haft hatte H. einen Selbstmordversuch durch Erhängen ausge-
führt. Deshalb wurde er am 9. 5. 1884 wieder der Beobachtungsabtheilung
und da seine geistige Störung evident und andauernd war, am 10. 6. 1884
der Irrenanstalt zugeführt. Aus dieser wurde er, da man an ihm nichts
psychisch Abnormes wahrnehmen konnte, was seine Detention in einer An-
statt motiviren konnte, am 12. 1. 1885 geheilt entlassen.
3*
36 lieber Dämmer- und Traumzustände.
Seit seiner neuerlichen „Heilung" in der Landesirrenanstalt ist H.
schon wieder 2 mal gerichtlich beanstandet worden.
Er hatte am 19. 8. 1885 einen gew. TL in raffinirter Weise um
9 fl. 60 kr. beschwindelt, indem H. für eine angebliche Commissionswaare,
die er zu 12 fl. gekauft, sich 21 fl. 60 kr. von dem Landboten U. hatte
auszahlen lassen. Bezüglich dieser Betrugsaffaire wurde H., dessen epilep-
tische Geistesstörung und deshalb fortbestehende Curatel gerichtsbekannt
waren, am 15. 9. 1885 wegen Irrsinn freigesprochen.
Seither hat H., zum Theil unterstützt von seinem Bruder Franz, eine
ganze Reihe von betrügerischen Handlungen begangen. So gab er, theils
fingirte , theils an wirklich existirende Adressaten gerichtete Nachnahme-
frachten auf, die statt der deklarirten Sattler-, Nadler- und sonstigen Waare,
Holzstücke enthielten. Mit den Nachnahmescheinen wusste er sich zunächst
Credit bei Kaufleuten zu verschaffen, entlockte ihnen Waaren und ver-
schleuderte sie auf dem Land.
Als H. am 1. 12. 1885 auf der Bahn wegen der Behebung der Nach-
nahme von Frachten Nachfrage hielt, wurde er verhaftet.
Im Verhör vom 3. 12. legt er ein umfassendes Geständniss bezüglich
seiner Gaunereien ab. Als intellectuellen Urheber dieser jedenfalls raffinirten
Gaunereien bezeichnet er einen gewissen G.
Am 17. 1. 1886 wurde H. eingehend von den Gerichtsärzten auf
seinen Geisteszustand explorirt.
Ergebnisse der gerichtsärztlichen Exploration am 17. 1. 1886.
Explorat befindet sich gerade in einem relativ luciden, d. h. nicht traum-
haften deliranten Zustand. Er giebt bereitwillig Auskunft über seine früheren
Lebensumstände.
In Fortsetzung der mit dem 12. 1. 1885 abschliessenden Krankkeits-
geschichte der Landesirrenanstalt, verdient Erwähnung, dass H. sich nach
der Entlassung anfangs wohl gefühlt, Ende April 1885 aber wieder in einen
seiner Traumzustände gerathen sein will.
Er sei planlos fort nach Ungarn, sei in Könnend vorübergehend zur
Besinnung gekommen, habe gemerkt, dass es ihm wieder rappele, sich aber
nicht heimgetraut aus Angst, dass man ihn wieder in die Irrenanstalt stecke.
Da sei er weiter und nach manchen Irrfahrten nach Pest gerathen. Dort
sei er wieder lucid geworden, habe seine Lage klar erkannt, eingesehen,
dass er ganz zwecklos dahin gekommen, ohne Geld und Documente sich in
der fremden Stadt auch nicht aufhalten könne. Da sei er zu Fuss fort
nach Wien, habe unterwegs in Gran einen heftigen epileptischen Anfall be-
kommen, sodass man ihn ins Spital brachte. Da er sich aber bald wieder
wohl fühlte, habe man ihn auf sein Bitten nach 2 Tagen wieder entlassen.
Um Pfingsten sei er nach Wien gekommen, von da zu Fuss nach Graz ge-
gangen, wo es ihm eine Zeitlang wieder ganz wohl gewesen sei. Vor Aller-
heiligen 1885 sei er auf einer Reise nach Fürstenfeld (offenbar in einem
neuen Dämmerzustand) nach Fehring gerathen und habe dort beim Essen
im Gasthaus einen heftigen epileptischen Anfall erlitten. Auf dieser Tour
habe er sein Geld verloren, sei in Folge dessen deprimirt geworden,
wieder in seine Phantasien hineingerathen, sei planlos nach Wien und wieder
Erster Aufsatz (1875). 37
zurückgefahren. Er sei wieder ganz zerstreut und traumhaft geworden, habe
sinnlose Fiakerfahrten in der Umgebung von Graz gemacht in der Idee, er
sei ein hoher Herr und besichtige seine Landgüter ; er habe die ihm doch
sonst wohlbekannten Ortschaften dabei für ganz fremde angesehen, örtlich
sich gar nicht zu orientiren vermocht. Auch die Menschen kamen ihm wie
wildfremd, einer anderen Zeit und Nation angehörig vor. Oft habe ihn der
Gedanke ganz beherrscht, er habe schon vor 1000 Jahren in grosser Herr-
lichkeit als mächtiger Herrscher existirt. Zwischendurch in diesen Dämmer-
zuständen und regelmässig von linksseitigem Kopfweh begleitet, habe er
sonderbare Phantasien gehabt, sich als Feldherr gefühlt, seinen Leichenzug
gesehen u. dgl. (Alles Bruchstücke früherer Traurnzustandsdelirien.)
In diesen dämmerhaften Zuständen habe er die Continuität seines Be-
wusstseins nicht besessen, nicht gewusst, wo er am Vortag gewesen, was er
da und dort gemacht.
Auch in seinen luciden Zeiten seien ihm ganz plötzlich seine herein-
geschneiten Gedanken gekommen, sei er plötzlich von ganz romantischen
Ideen und Situationen , wenn auch nur momentan beherrscht gewesen.
Zu Zeiten habe er sich dann wieder ganz stumpf und blöd gefühlt und
kaum einen Brief concipiren können.
An seine Gaunereien vermöge er sich nur summarisch zu erinnern.
Er giebt zu, dass er wusste er thue Unrecht, aber in der Regel sei ihm
sein Gebahren nur als Lappalie erschienen und der Gedanke, er werde ja
doch nächstens ein grosser Herr, Millionär, könne dann Alles zurückzahlen
und überdies grosse Stiftungen für die Armen machen, habe etwaige Be-
denken beschwichtigt. Uebrigens habe ihm auch nichts an den Folgen
seiner Handlungen gelegen, da er oft schon nahe daran war sich zu er-
schiessen. An der Ausführung des Selbstmords habe ihn gehindert der Ge-
danke sich nicht gut zu treffen und die Anschauung, dass er schon vor
1000 Jahren gelebt habe.
Eine Reue für sein unredliches Gebahren, eine Einsicht für die schimpf-
liche Situation, in die er sich gebracht, ein wirkliches Ehrgefühl sucht man
bei Explorat vergebens. Jedenfalls ist er ein intellectuell und ethisch de-
fecter, mehr in der Phantasie als in der Wirklichkeit lebender, geistig zer-
fahrener Mensch. Dieser Eindruck wird aus seiner ganzen Haltung, seiner
verwitterten Miene und seinem wirren Auge sofort gewonnen.
Die körperlichen Abnormitäten sind unverändert die gleichen wie sie
in der Krankengeschichte und den verschiedenen gerichtsärztlichen Gutachten
erhoben sind.
Gutachten.
Karl H. ist seit dem Anfang der 70 er Jahre mit epileptischer Geistes-
störung behaftet. Er bietet alle erdenklichen und in der Erfahrung vor-
kommenden Erscheinungsformen epileptischer Insulte und äquivalenter
psychischer Ausnahmezustände, speciell solche von Somnambulismus,
d. h. Traumwandeln und Traumhandeln auf epileptischer Grundlage.
Diese als „Sinnesverwirrung" anzusprechenden Zustände setzen so un-
vermerkt ein und gehen so unversehens in den Zustand relativer Lucidität
über, dass es unmöglich ist, dieselben zeitlich scharf zu umgrenzen, ausser
38 TJeber Dämmer- und Traumzustände.
der Explorat wäre tagtäglich Objeot einer sachverständigen Beobachtung und
Beurtheilung.
Aber auch da, wo er vorübergehend frei von Sinnesverwirrung er-
scheint, zeigen sich Spuren von Delirien, Zwangsideen, Illusionen, überhaupt
elementare Störungen im Bereich der geistigen Functionen und gestatten
es nicht, diese Intervalle als vollkommen lucide anzuerkennen.
TJeberdies hat die seit mindestens 14 Jahren bestehende Krankheit die
intellectuellen und ethischen Leistungen' des Exploraten in dauernder und
wohl unheilbarer Weise geschädigt.
Auf Grund dieser theils temporären, theils dauernden Störungen und
Defecte im geistigen Leben muss Explorat als ein der freien Willensbestim-
mung und der klaren Einsicht in die Bedeutung und Folgen seiner Hand-
lungen verlustiges Individuum erklärt werden.
Bei der hohen G-emeingefährlichkeit dieses verbrecherischen Irren er-
scheint es geboten, dass die bürgerliche Gesellschaft dauernd vor ihm ge-
schützt werde durch Anhaltung in einer Humanitätsanstalt, als welche, bei
dem Mangel einer Detentionsanstalt für geistessieche Verbrecher, nur eine
Irrenanstalt in Betracht kommen kann. Eine Entlassung aus derselben in
dem unwahrscheinlichen Fall einer Heilung des Exploraten dürfte nur unter
Zustimmung der Sicherheitsbehörde denkbar sein.
Am 11. 4. 1887 sah ich meinen Pat. zum letztenmal. Er hatte
kurz vorher eine Contusion am 1. Os parietale durch einen Mitpatienten
erlitten, bot im Anschluss daran Aphasie, r. Parese in Facialis (2. und
3. Ast), Ober- und Unterextremität mit Beugecontractur im r. Ellbogen-
gelenk und eingekrallten Fingern. Keine Sensibilitätsstörung, enorme
Steigerung der tiefen Reflexe in r. OE., r. Fussklonus, beiderseits hoch-
gesteigerter Patellarreflex. Es kann kein Zweifel darüber obwalten,
dass alle diese Störungen einer hysterischen Neurose zugesprochen
werden müssen, die sich ja seit Jahren schon durch gelegentlichen
Weinkrampf und einmal durch Mutismus verrathen hatte. Auch die
Ekstasen und postparoxysmellen deliranten Zustände erinnerten an auf
dem Boden der Hysterie Vorkommendes. Gleichwohl muss ich die
eigenthümlichen Alkoholreactions- und die Dämmerzustände, die „be-
sinnungslosen" und die mit Umstürzen verbundenen Anfälle als zur
Epilepsie gehörig ansprechen.
Das Vorkommen beider Neurosen neben einander ist jedenfalls
ein in der Erfahrung begründetes.
Beob. 2. Tgl., 25 J., Bäcker aus Südsteier, stammt von einem
Vater, der sehr dem Potus ergeben war. Von Convulsionen, Kopfver-
letzungen in der Kindheit, von geschlechtlichen Ausschweifungen in
der Jugend des Pat. ist nichts bekannt. Von Kindheit auf soll er ein
jähzorniges aufbrausendes Temperament geboten haben. Erhebliche
Krankheiten kamen nicht vor, ein bei Pat. vorfindlicher, namentlich
Erster Aufsatz (1875). 39
im Affect sehr lebhafter Nystagmus auf beiden Augen scheint ange-
boren zu sein. Seine Begabung war eine gute. Die Ursache seiner
Krankheit findet Pat. in habituellen Excessen in potu, denen er seit
seinem 14. Lebensjahr ergeben war.
Die ersten Erscheinungen seines Leidens datiren aus dieser Zeit.
Es begegnete Pat. ab und zu, dass er, ohne zu wissen warum und in
ganz dämmerhaftem Zustand verkehrte Handlungen ausführte. So
erinnert er sich einmal durch einen Fluss geschwommen und erst nach
der Ausführung dieser ihm ganz unerklärlichen Handlung sich der-
selben bewusst geworden zu sein. Im 16. Jahre geschah es ihm, dass
ganz sonderbare Ideen, z. B. Fürst von Serbien zu sein, ihn oft ur-
sprünglich überkamen und dann wochenlang beherrschten, sodass er
Mühe hatte, sich von ihnen nicht überwältigen zu lassen.
1866, während seiner Lehrzeit in Graz, wurde Pat. irrsinnig und
brachte 3 Monate im Irrenhause zu. Die damalige Diagnose lautete
auf „allgemeine Verwirrtheit" Aerztliche Aufzeichnungen fehlen. Pat.
giebt an, er wisse nur, dass er damals im Wahn lebte, Fürst von
Serbien zu sein und dass diese Idee ihn in der Folge noch oft heim-
suchte.
1867 lief er einmal ohne Motiv aus dem Dienst, warf seine Habe
weg, vertrank all sein Geld, lief 3 Tage planlos im Dämmerzustand
herum, bis er inne wurde, was er für eine Dummheit gemacht habe
und sich dessen schämte.
1868 wurde Pat. zum zweiten Mal mit der Diagnose „allgemeine
Verwirrtheit" im Irrenhause aufgenommen. Man erfuhr nur, dass er
auch diesmal sich für den Fürst von Serbien gehalten habe.
1869, nach der Entlassung, litt Pat. zeitweise an Angstzufällen uud
schreckhaften Träumen. Zuweilen erwachte er aus solchen mit Bangig-
keit und einem Beugekrampf der Zehen des 1. Fusses. Allmälig,
besonders nach Alkoholexcesseu, stellten sich wieder Dämmerzustände
mit planlosem Umherirren ein.
1871 trat der erste Anfall von klassischer Epilepsie (allgemeine
Convulsionen mit erloschenem Bewusstsein) ein unter vorausgehendem
Gefühl von Bangigkeit und krampfhaftem Zusammenziehen der Hände.
Pat. war gerade am Backofen beschäftigt, rief noch um Hülfe und
wurde dann bewusstlos. Er enthielt sich in der Folge vom Trinken
und blieb frei von solchen Anfällen bis zum 24. November 1874, wo
wiederholt epileptische Krämpfe auftraten und seinen Herrn nöthigten
ihm zu künden. Pat. wandte sich subsistenzlos zu seinem Bruder nach
Pettau, trank wieder stark und gerieth in einen psychischen Dämmer-
zustand. Seine Erinnerung beginnt da wieder, wo er sich im Arrest
40 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
befand. Man sagte ihm, er habe eine Majestätsbeleidigung begangen.
Er sass nun 2 Monate im Gefängniss und wurde wegen „Wahnsinns"
zum dritten Mal der Irrenanstalt am 19. März 1875 übergeben. Nach
den Angaben des Gefangenwärters hielt er sich für den Fürst von
Serbien, verlangte nach Belgrad, 30 000 Mann erwarteten ihn dort u.s.w.
Bei der Ankunft in der Anstalt war Pat. lucid, hatte, wie auch die
früheren Male eine nur ganz summarische Erinnerung für die über-
standene Krankheitsperiode. Seinen Wahn Fürst von Serbien zu sein,
corrigirte und belachte er. Die folgende Beobachtung bot psychische
Integrität, den oben erwähnten Nystagmus, Parese des linken Mund-
winkels. Im Laufe des Monat Juni erwachte Pat. einmal mit bangem
Gefühl und Krampf der Zehen des linken Fusses. Von weiteren epi-
leptischen Erscheinungen wurde nichts bemerkt.
Am 19. Sept. 1875 entwich I. Nachts aus der Irrenanstalt unter
Entwendung der Baarschaft eines Wärters. Nach 8 Tagen, während
welcher er herumvagabundirt und das gestohlene Geld vergeudet hatte,
stellte er sich selbst den Gerichten, legte ein reumüthiges Bekenntniss
seines Vergehens ab und gab so detaillirt über die Umstände seiner
Entweich ung und seinen Verbleib in der Folge Rechenschaft, dass
wenigstens ein neuer Traum- und Dämmerzustand zur Zeit der That
und bis zur Arretirung ausgeschlossen und I. mit aller Beruhigung in
den Händen des Untersuchungsrichters belassen werden konnte.
Beob. 3. A., 19 J., Schusterlehrling, aufgenommen am 1. Juli
1875, stammt aus einer sehr belasteten Familie. Muttersvater und
Muttersmutter starben apoplectisch , Muttersschwester, von Hause
aus schwachsinnig, wurde später irrsinnig, eine weitere Schwester der
Mutter ist epileptisch, ein Schwesterkind der Mutter ist irrsinnig.
Die Mutter ist nervös, mit häufigem Kopfschmerz behaftet, von eigen-
thümlich unstetem Blick.
Pat. hat eine Schwester an Convulsionen verloren. 2 Brüder sind
gesund.
Die Kindheit verlief ohne bemerkenswerthe Erscheinungen. Ein
Sturz auf der Eisbahn im 10. Jahre mit folgender Bewusstlosigkeit
scheint ohne weitere Folgen geblieben zu sein. Pat. lernte sehr leicht,
zeigte schon als kleiner Junge ein anspruchsvolles selbstgefälliges
Wesen, mied die Gesellschaft gewöhnlicher Knaben, bot von früher
Jugend an einen stark ausgesprochenen Hang zur Romantik, der sich
in der Leetüre von Räubergeschichten, Heldenroinanen und grosser
Vorliebe fürs Theater deutlich kundgab. Das Bäckergewerbe, das er
später mit dem des Schusters vertauschte, befriedigte ihn nicht, er
strebte nach Höherem.
Erster Aufsatz (1875). 41
Im Alter von 14 Jahren traf ihn sein Vater am Backofen, wie er
mit aller Kraft denselben nach oben zu stützen bemüht war. Pat. war
dabei vor Angst ganz starr, konnte nur mittheilen, es sei ihm fürchter-
lich ängstlich zu Muth, es komme ihm vor, als ob Alles auf ihn ein-
stürze. Nach einigen Minuten löste sich diese ängstliche Starre, Pat.
brachte müde und abgeschlagen einige Tage im Bett zu, klagte über
Kopfweh und hatte eine nur summarische Erinnerung für den über-
standenen Anfall.
Pat. war in der Folge arbeitsam, frei von nervösen Beschwerden,
bis auf leichte zeitweise auftretende Schwindelanfälle.
Vor 3 Jahren beklagte sich Pat. über zeitweise Anfälle von
stunden- bis tagelanger Störung im Denken. Der Umgebung war er
in diesen Zeiten nur durch sein träumerisches Wesen und Vorsichhin-
starren auffällig, da er durch diese Gedankenstörung in der Arbeit
nicht gehindert war.
Von der Zeit der Pubertät an ergab sich Pat. der Masturbation,
der er eingestandenermassen bis auf die neueste Zeit fröhnte.
Mitte April 1875 machte sich Pat. dadurch bemerkbar, dass er
die Arbeit vernachlässigte, herumdämmerte, ganz in Gedanken ver-
sunken schien, seine Absicht, ein Dichter zu werden, zu erkennen gab
und einen Brief au den heimathlichen Dichter Eosegger schrieb, worin
er bat, ihn als Collegen zu betrachten und ihm seine Freundschaft
anbot.
Anfang Mai wurden kurz hintereinander 3 epilepsieartige Anfälle
beobachtet, deren erster durch einen Aerger provocirt war, und in
Umfallen mit folgender längerer Bewusstlosigkeit bestand. Bei den
folgenden Anfällen sollen partielle krampfhafte Zuckungen sich gezeigt
haben.
Auf den letzten dieser Anfälle folgte am nächsten Tage ein Zu-
stand von Delirium, in welchem Pat. aufgeregt hin- und herlief, Alles
zu zertrümmern anfing, sich für den Papst, den deutschen Kaiser,
einen König, seinen Bruder für einen Feldherrn hielt, Schlachten
schlug, Heere anführte. Auf dieses Schlachtendelirium folgte eine
Situation, in welcher sich Pat. als Träger einer Rolle im Lumpaci-
vagabundus fühlte und Scenen aus diesem Stück aufführte. Das De-
lirium, welches 3 Tage und 3 Nächte andauerte, schloss mit einer
Liebesscene, deren Personen Pat. und ein Mädchen seiner Bekannt-
schaft waren.
Seit diesem Anfall, für welchen Pat. nur eine ganz traumhafte
Erinnerung bewahrte, war er nicht mehr wie früher. Er schlief wenig,
war sehr reizbar, klagte über Kopfweh, Schwere im Kopf, brachte in
42 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
seinem Beruf nichts mehr zu Stand, trieb sich planlos in den Wäldern
umher oder sass träumerisch zu Hause da, romantischen Ideen, Dichter
zu werden, Grosses, dessen er sich aber nicht klar war, zu beginnen,
nachhängend. In diesem eigenthümlichen Dämmerzustand erfolgte seine
Aufnahme. Er zog sich in die Zimmerecken zurück, starrte tagelang
träumerisch vor sich hin, beantwortete Fragen nicht oder abweichend,
nahm eine stolze oder trotzige Haltung dem Fragenden gegenüber an,
Hess nur einmal durchblicken, er wolle Offizier werden, eine Schärpe
anlegen, um den Leuten, die ihn so geringschätzig anblickten, zu im-
poniren. Aus seiner träumerischen weltverachtenden Ruhe aufge-
stört oder zur Arbeit aufgefordert, wurde er sehr gereizt und unge-
halten.
Körperliche Functionsstörungen, epileptoide Erscheinungen, so sehr
darauf geachtet wurde, waren nicht zu bemerken. Seit Mitte Juli
1875 freier in Haltung, Miene und Benehmen. Er zeigte nun Lust
zu Beschäftigung, gab befriedigende Auskunft über seine Vergangen-
heit, wobei sich herausstellte, dass seine Erinnerung bis Ende Juni
nur eine ganz summarische war. Pat, blieb in der Folge ganz ge-
ordnet, bot aber ein träumerisch schlaffes, unstetes Wesen, unsicheren
Blick und einen gewissen Zwang iii der Mimik, der auch seinen An-
gehörigen gelegentlich eines Besuches auffiel. Ausser einem relativ
grossen Schädel und einem wohl angeborenen kleinen pigmentirten
Exsudatstreifen in der Chorioidea des linken Auges fanden sich keine
Anomalien bei der körperlichen Untersuchung vor.
Resumiren wir die vorstehenden Beobachtungen, so finden wir:
1. im Fall H. Erbliche Anlage. Schwächliche Constitution. Con-
vulsionen in der Kindheit. Nervöses Temperament. Retardirte
Entwickelung. Hang zum Romantischen, .Phantastischen, patho-
logische Reaction auf Alkohol. Mit 19 Jahren Einsetzen der
Krankheit mit Anfällen von bewusstlosem Umstürzen mit folgendem
Weinkrampf und vorausgehender vasomotorischer Aura. Dazu
treten Anfälle von Denkstörung mit prodromalen schreckhaften
Hallucinationen und nur summarischer Erinnerung. Später Dämmer-
zustände mit phantastischen expansiven Zwangsvorstellungen und
impulsiven Acten, für deren Dauer nur eine ganz summarische Er-
innerung besteht, Mit 22 Jahren mehrmonatlicher Anfallscyclus
von ganz stereotypem, bewusstlosem, expansivem Delirium. Die
einzelnen Anfälle von stunden- bis tagelanger Dauer, hier und da
eingeleitet von Neuralgien und schreckhaften Hallucinationen, ge-
folgt regelmässig von Stupor, Kopfweh, Reizbarkeit. Einmal com-
Erster Aufsatz (1875). 43
pliciren das Delirium Zuckungen der oberen Extremitäten und
des Kopfes.
Intercurrent tritt ein Anfall von bewusstlosem Zusammen-
stürzen auf, unter vorausgehendem Schwindel und Aengstlichkeit,
ferner ein Anfall von petit mal (acuter psychischer Depressions-
zustand mit Suicidium versuchen , Umneblung des Bewusstseins)
mit fehlender Erinnerung. Intervallär Kopfweh, Reizbarkeit, ängst-
liche Träume, ausserdem Atrophia chorioideae und Strabismus.
2. im Fall Igl. Vater Potator. Angeborenes jähzorniges Tempera-
ment, Nystagmus, Parese des linken Mundwinkels. Excesse in
baccho. Mit 14 Jahren Dämmerzustände mit impulsiven Hand-
lungen. Mit 16 Jahren expansive Zwangsvorstellungen. Später
mehrmonatliches expansives Delirium. Mit 17 Jahren wieder
Dämmerzustände mit impulsiven Acten. Mit 18 Jahren neuer
Anfall von expansivem Delirium. Darauf Angstzufälle und schreck-
hafte Träume mit partiellen tonischen Krämpfen; später wieder
Dämmerzustände. Mit 21 Jahren epileptischer Anfall. Mit
24 Jahren wiederholte epileptische Anfälle. Darauf Dämmerzu-
stand, endlich 3. Anfall von ganz stereotypem expansivem Delirium
mit nur summarischer Erinnerung. Intervallär partielle tonische
Krämpfe.
3. im Fall A. Starke erbliche Belastung. Gute Begabung, früh
grosses Selbstgefühl und Hang zur Romantik. Mit 14 Jahren
Angstanfall mit tetanischer Starre und nur summarischer Erinne-
rung. Später Schwindelanfälle. Mit 16 Jahren Anfälle psychischer
Umdämmerung und Denkstörung. Mit 19 Jahren Dämmerzustand
mit expansiven überwältigenden Ideen. Darauf 3 epileptische
Anfälle. Später expansives Delirium mit summarischer Erinnerung.
Endlich mehrmonatlicher Dämmerzustand mit expansiven Ideen
und lückenhafter Erinnerung. Intervallär Reizbarkeit. Kopfweh.
TJeber die Schädelmasse der 3 Patienten, von denen Igl. u. A.
etwas in der allgemeinen körperlichen Entwickelung zurückgeblieben
erscheint, A. zudem einen relativ grossen, an hydrocephalische Formen
erinnernden Kopf, Igl. einen rechterseits in der Entwickelung ver-
kümmerten Gesichtsschädel besitzt, giebt nachstehende Tabelle Aus-
kunft.
44
lieber Dämmer- und Traumzustände.
2
-ö ^
_tS
Ü
1
faß
2
'o
a
2
1
0
'3
03 .3 ö
3
CD
CO
O
Ph
Spitze des
Warzen-
CO £«
CD O
1h
« a
o
Namen
CD
,h;
cd
g *J
CO —
CO -i-f
0?
fortsatzes
cö &n
S *
^
a
i"^
a s
CD
V
z. höchsten
55 N
&a
©
a
+J
CS
fe.SVi
■«_
pq
Punkt der
cfi £
4) CO
o
w
+3
CO
o
cj
.=1
o
ja
CD
n
O
Linie v.
emin. occ
modif.
CO
SU)
13
TU
:o
S
Ö
CO
s
Pfeilnaht
s
:c3
CD
CO
C3
1. Holl.
22
55
31
36
25
34
18
15
12
16,5
11
4
2. Igl.
25
53
31
37,5
26
36
17
15,25
11,5
rechts 16,5
links 17
9,75
4,75
3. A.
19
55
31
37
23
36
18
15,25
12,75
15,5
11
4,75
Die mitgetheilten Fälle bedürfen keines weiteren Commentars.
Trotz individueller Besonderheiten sind sie wahre Parallelfälle, die an
der empirisch wahren Natur des Krankheitshildes nicht zweifeln lassen.
Die bisherige Literatur bietet wenig Ausbeute über diese epilep-
tischen Dämmer- und Traumzustände.
Von Flechner (Oesterr. Zeitschr. f. pract. Heilkunde XVII. 24)
ist eine interessante hierhergehörige Beobachtung mitgetheilt.
Ein Schustergeselle, 28 Jahre alt, versucht einen Kameraden zum
Raubmord zu verleiten. Als Knabe Trauma capitis. Darauf epilep-
tische Anfälle und solche von „Mania epileptica". Diese verschwinden.
An die Stelle treten traumartige Dämmerzustände mit Kopfschmerz,
verkehrten Reden und Amnesie. In einem solchen Anfall Verleitung
zum Raubmord.
In einer zweiten vom gleichen Autor (Psychiatr. Centralblatt 1874,
No. 10, 11) mitgetheilten Beobachtung ist eine Handarbeiterin, 38 Jahre,
verschiedener Diebstähle und Schwindeleien angeklagt. Als Kind Con-
vulsionen. Vom 17. Jahre an epileptische Anfälle, dann Dämmerzu-
stände mit ganz verkehrten Handlungen, später „Mania epileptica"
im Anschluss an convulsive Anfälle. Statt solcher in der Folge zeit-
weise Anfälle von Schwindel, momentaner Bewusstlosigkeit, Angst und
Herzklopfen. 1870 Dämmerzustand von längerer Dauer mit roman-
haften Ideen, die zu Schwindeleien führen. 1871 analoger Zustand
mit ganz summarischer Erinnerung. Später acute Depressionszustände
Erster Aufsatz (1875). 45
mit Taed. vitae und Dämmerzustände mit expansiven Ideen hoher Ab-
stammung u.s.w.
Einen werthvollen Beitrag hat Hecker (Tierteljahrschr. f. gerichtl.
u. öffentl. Med. N. F. XX. K. 1, 1874) geliefert. Ein Soldat, 24 Jahre,
wird im letzten Feldzug als Deserteur aufgegriffen. Keine Erblich-
keit. Als Kind von 10 Wochen Convulsionen. Normale Entwickelung,
gute Erziehung, geistige Beschränktheit. Mit 12 J. Anfälle psychischer
Umdämmerung und Bewusstseinsstörung mit impulsiven Handlungen,
z. B. Weglaufen von der Arbeit, Herumirren, Desertionen. Später
Schwindelanfälle, Angstanfälle, z. B. wenn er das Gewehr losschiessen
oder zur Schwimmschule sollte. Vom August 1870 bis Januar 1871
Dämmerzustände, in welchen er desertirt, herumschwindelt, sich für
einen Lieutenant u. s. w. ausgiebt, hinterher nur eine ganz summarische
Erinnerung besitzt. Intervallär Kopfweh, zeitweises Zittern, Frieren,
ab und zu Waden- und Schreiberkrampf, Zufälle ganz momentaner,
wohl als Vertigo zu deutender Bewusstlosigkeit.
Hieran reiht sich endlich ein Fall von Leidesdorf (Med. Jahr-
bücher 1875 H. 2). Ein Mensch wird in Wien auf der Strasse ge-
funden, der anfangs gar nicht, später ganz incohärent antwortet, allmälig
zum Bewusstsein zurückkehrt. Mit 18 Jahren Stirnverletzung durch
einen Mastbaumsplitter. Seitdem Anfälle, in welchen er unbewusst
von Hause oder Amt sich entfernt, tagelang dämmerhaft umherirrt,
Gestalten aus der Mythologie sieht, mit denen er spricht, fühlt, wie
Cyclopen seinen Kopf als Ambos benutzen. Nur traumhafte Erinnerung
für diese Anfälle. Nach denselben geistig und körperlich matt, ge-
dächtnissschwach und nur allmälige Rückkehr zur Lucidität.
Ueberblicken wir das ganze uns bisher wissenschaftlich gebotene
Material, so dürfte es nicht schwer sein, das Bild der Krankheit zu
zeichnen. Das Schema stimmt vielfach mit dem der epileptoiden von
Griesinger aufgestellten Zustände überein.
In einigen Fällen verräth sich eine neuropathische Constitution
schon durch Convulsionen in der Kindheit. Gewöhnlich zeigen sich
die ersten Spuren der Neurose in der Pubertätszeit. Genuine epileptisch
convulsive Anfälle finden sich gar nicht oder nur ganz vereinzelt.
Statt ihrer vertigoartige oder Angstzufälle. Intervallär mehr oder
weniger deutliche Zeichen einer dauernden Störung im centralen
Nervensystem, die sich theils durch Kopfweh, Reizbarkeit, ängstliche
Träume, theils durch motorische Symptome (Neigung zu partiellen
tonischen Krämpfen, Zittern, in einem Falle auch Nystagmus) zu er-
kennen giebt.
Als Aequivalente der psychischen Symptomencomplexe des petit
46 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
mal und grand mal erscheinen in unseren Fällen eigentümliche Zu-
stände Stunden bis Wochen währender tiefer Störung des Bewusst-
seins, die sich theils als protrahirte Analoga jener Bewusstseinspausen
(absences) und interparoxysmellen Dämmerzustände, deren epileptische
Natur schon längst erkannt ist, ansprechen lassen, theils den Charakter
des Delirium an sich tragen. Interessant bleibt die Thatsache, dass,
entgegen dem in der ungeheueren Mehrzahl bei Epilepsie beobachteten
depressiven Delirium der Inhalt desselben ein expansiver ist.
Jene Dämmerzustände sind ausgezeichnet durch ganz planlose
unmotivirte, bewusstlose Handlungen und in einigen Fällen durch
regelmässig wiederkehrende, expansive, zu Zeiten überwältigende krank-
hafte Vorstellungen. In den Zuständen von Delirium nähern sich die
Kranken ekstatischen und somnambulen Krankheitsbildern. Ihr Be-
wusstsein ist tief gestört, gestattet jedoch ein scheinbar bewusstes
Handeln und Sprechen.
An der epileptischen Natur dieser Zustände ist im Zusammenhalt
mit der Anamnese, den intervallären Erscheinungen nicht zu zweifeln.
Am Deutlichsten giebt sich jene im Fall Holl. zu erkennen, wo schreck-
hafte Hallucinationen die Bedeutung einer Aura für den Anfall ge-
winnen, dieser auch einmal mit convulsiven Erscheinungen complicirt
ist und Stupor, Beizbarkeit, Kopfweh jeweils ihm folgen.
Die stereotype Wiederkehr derselben deliranten Vorstellungen
das brüske Eintreten und Aufhören der Symptome, die höchst
summarische Erinnerung haben diese Dämmer- und Traumzustände
ebenfalls mit den bekannten Zuständen des petit und des grand mal
gemein.
Es erübrigt mir schliesslich auf die forensische Bedeutung dieser
noch wenig gekannten Dämmer- und Traumzustände zu verweisen.
Mehrere der angeführten Kranken sind mit den Gerichten in Conflict
gekommen wegen impulsiver strafbarer Handlungen, die in die Zeit
ihrer Dämmer- und Traumzustände fielen. Ohne die Kenntniss der
Anamnese und der neurotischen Basis dieser Krankheitszustände dürfte
es schwer sein, dem Eichter Klarheit in der Situation zu geben. Un-
willkürlich drängt sich die Frage auf, ob jener denkwürdige Holz-
apfel'sche Mordprocess, über den das Archiv der Psychiatrie (V. H. 1)
jüngst berichtete und über den die Stimmen der Sachverständigen so
getheilt waren, nicht der Gruppe jener epileptoiden Dämmer- und
Traumzustände angehört und vor dem Forum der Wissenschaft
wenigstens eine Revision fordert.
Zweiter Aufsatz1)
(1877).
Beob. 4. Der Fall Holtzapfel nach den Gutachten der Sachver-
ständigen und den Verhandlungen der Berliner med. psycholo-
gischen Gesellschaft.
(Vgl. Archiv f. Psychiatrie V. S. 235. 307. 311.; VI. 862; Casper, Lehrbuch der
gerichtl. Med. bes. v. Liman, 6. Aufl., 1876. S. 609.)
Im einstöckigen Nebengebäude eines Hauses in Charlottenburg,
in welchem Wittwe L. ein Conditoreigeschäft betrieb, war die Schlaf-
stelle des männlichen Personals der Conditorei. In dem Schlafzimmer
standen 4 Betten längs der Wände und unter dem einzigen Fenster
ein runder Tisch. Aus dem Schlafzimmer gelangte man in ein Vor-
zimmer. Neben der Zwischenthür befand sich in letzterem ein
weiterer Tisch. Aus dem Vorzimmer führte eine Treppe direct in
den Hofraum.
In den 4 Betten des Schlafzimmers schliefen in der Nacht
vom 8/9. April 1873 der 27jährige Conditorgehilfe Fleischer, der
21 Jahre alte Gehilfe Schulz, der 25 jähr. Hausdiener Sutor und der 18 jähr.
Conditor Holtzapfel.
Es mochte gegen 3 Uhr Morgens sein, als Seh. über einer
Detonation erwachte. Er sah Holtzapfel, mit Hose und Weste be-
kleidet, ein brennendes Licht in der einen, einen Bevolver in der
anderen Hand haltend, an der Thüre stehen. Auf seinen Ruf: „Franz,
Franz, Sie erschiessen uns Alle" feuert H. zwei Schüsse auf Seh. ab,
die diesen verwunden und wendet sich dann gegen FL, der vom ersten
Schuss getroffen, im Bett sich aufgerichtet hatte und nun durch einen
•zweiten hingestreckt wird. Darauf jagt H. dem gegenüberliegenden S.
eine Kugel in den Kopf und geht ins Vorzimmer. Dort wird er von
1) Friedreich's Blätter für gerichtl. Median 1877. 2.
48 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
dem entsetzten Seh. betroffen, wie er den Revolver von Neuem ladet.
Seh. bittet H., er möge ihm Wasser holen, damit er seine Wunden
auswaschen könne. H. weigert dies mit den Worten: wenn er hin-
untergehe, wäre es sein Unglück, denn unten ständen 2 Männer.
Seh. meint vorwurfsvoll: „Siehe nur, Franz, hättest du etwas höher
gezielt, so hättest du mich in die Schläfe getroffen." „Wo sind die
Schläfe", fragt Holtzapfel und hält an die bezeichnete Stelle seinem
Freund die Pistole, ohne jedoch loszudrücken. Während Seh. sich
mit den Verwundeten zu thun macht, nähert sich ihm H. und schiesst
nochmals nach ihm. Der Schuss streift das Nasenbein. Nun entsteht
ein verzweifeltes Eingen zwischen Seh. und H., wobei der Revolver
nochmals losgeht, Seh. am Schenkel verwundet und das Licht erlischt.
Der verwundete S. hat sich mittlerweile aufgerafft und dem Mörder
die Waffe entrissen. Als Seh. den S. ersucht, das Licht wieder anzu-
zünden, so thut dies H. selbst, während Seh. den Leuchter hält.
H. bittet um Rückgabe des Revolvers, er wolle sich selbst erschiessen.
Er äussert zu Seh., er habe nur gespasst, Seh. möge sich nur zu Bett
legen, er werde Alles bezahlen, man möge ihn nicht unglücklich
machen. Seh. und S. fliehen, um die Hausbewohner zu wecken.
H. erscheint bald darauf ohne Hut mit brennender Cigarre auf
dem Hof, geht dort einige Male horchend auf und ab und kehrt wieder
nach dem Bodenraum zurück. Er macht Licht, geht im Zimmer hin
und her, kehrt rauchend, im Sonntagsanzug, einen Cylinderhut auf
dem Kopf, aber in Morgenschuhen, auf den Hof zurück, geht wieder
horchend einige Male auf und ab und verschwindet dann nach dem
Garten hin. Er nahm seinen Weg über einige Grundstücke nach der
Strasse, erschien Morgens zwischen 5 und 6 Uhr in einem Frühstücks-
keller am Molkenmarkt in Berlin, forcierte Waschwasser und Kaffee,
erzählte, die ganze Nacht nicht geschlafen zu haben, es seien Diebe
in Charlottenburg eingebrochen und 2 seiner Freunde dabei erschossen
worden. Der Wirthin graute es vor dem Gast, sie weigerte das Ver-
langte, worauf er mit den Worten fortging: „Sie denken wohl, ich
bin auch einer davon."
H. kehrte nun bei einem Barbier ein, Hess sich den Vollbart ab-
nehmen und die Haare stutzen, fragte nach dem nächsten Bahnhof,
erzählte, er sei mit 2 seiner Freunde von 4 Spitzbuben überfallen
worden. Die Collegen seien wahrscheinlich erschossen, ihm sei es
gelungen zu entwischen.
Er begab sich nach dem bezeichneten Bahnhof, reiste in der
Richtung nach Frankfurt a. 0. ab, verdingte sich am 10. in Lebus,
wo nichts Auffälliges- an ihm bemerkt wurde. Bei der Verhaftung
Zweiter Aufsatz (1877). 49
am 11. wunderte er sich über seine schnelle Auffindung, läugnete
jegliches Wissen seiner That, es wäre ihm allerdings, als ihm der
Revolver entrissen wurde, gesagt worden, dass er geschossen habe.
In diesem Moment sei er aus einem Zustand von Schlaftrunkenheit zu
sich gekommen und von da an nur auf seine Flucht bedacht gewesen.
Er schlafe seit seiner Kindheit unruhig, habe kürzlich geträumt, er
gehe mit seinen Freunden spazieren und es kämen wilde Thiere auf
sie zu, da habe Fl. ihm zugerufen: „Schiessen Sie doch"! Nun habe
er nach dem über seinem Bett hängenden Revolver gegriffen. Dieser
sei aufs Bett gefallen und darüber sei er erwacht. Diesen Traum
hatte er thatsächlich vor Kurzem erzählt. Der Revolver, den er
angeblich gemeinsam mit Fl. aus Furcht vor Einbrechern gekauft
hatte, hing gewöhnlich über seinem Bette. Er war zuletzt von Fl.
geladen worden.
Die Anklage des Staatsanwalts ging auf Raubmord und unter-
stellte H. die Absicht seine Schlafkameraden zu ermorden, um dann
seine Herrin berauben zu können. Es wurde constatirt, dass die von
dem Zimmer der Herrin zu dem der Bediensteten führende Klingel-
sclmur ausgehackt und damit gebrauchsunfähig war. Der üble
Leumund des H., mehrere in letzter Zeit vorgekommene Hausdieb-
stähle, deren H. dringend verdächtig war und wegen derer eine
gerichtliche Untersuchung ihm drohte, schienen Stützen der Anklage.
Die vermissten Gegenstände wurden wirklich im Besitz des H.
gefunden. Er läugnete deren Diebstahl, wollte sie theils gefunden,
theils gekauft haben.
Die von der Vertheidigung während der Voruntersuchung bean-
tragte ärztliche Untersuchung des Geisteszustandes wurde nicht be-
willigt (!). Erst zu der öffentlichen Verhandlung am 16. October
wurden Sachverständige (fünf) geladen. Da diese erklärten, im Termine
nicht ihr Gutachten abgeben zu können und eine Exploration ver-
langten, so wurde über Antrag der Vertheidigung der Termin ver-
tagt und die Verhandlung gegen H. am 12. Januar 1874 wieder auf-
genommen.
Aus den Verhörsprotokollen und Ermittelungen der Sachver-
ständigen ergibt sich über H.'s Vorleben, Persönlichkeit und That-
umstände folgendes:
H. gehört einer Familie an, in welcher mehrfach Hirnkrankheiten
vorgekommen sind. Die Tante seines Vaters war nicht richtig im
Kopf, Vaters Bruder und Mutter Schwester litten an Epilepsie. Ein
Sohn des erstereu hatte seine 5 Sinne nicht beisammen, eine Tochter
dieses Mannes ist epileptisch.
Krafft-Ebing. Arbeiten III. *
50 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Ueber die ersten Lebensjahre H.'s enthalten die Berichte nichts.
Vom 7. — 14. Jahre an litt er etwa 4 — 5 mal jährlich an Anfällen, in
welchen er aus dem Schlaf aufsprang, im Hemd in der Stube herum-
lief, ab und zu auch wohl die Hände zusammenballte oder ängstlich
schrie: „sie wollen mir kriegen", auf Anrufen dann wieder zu sich
kam und hinterher von dem Vorgefallenen nicht das Mindeste wusste.
Auch seine 10jährige Schwester leidet an ähnlichen Anfällen. Ohn-
mächten, Schwindelanfälle, Krämpfe und dgl. waren dagegen nie an
ihm beobachtet worden. Auch die Anfälle von Aufschrecken im Schlaf
kamen nach dem 14. Jahr nicht mehr zur Beobachtung. Nur sein
Brodherr berichtet aus späterer Zeit (v. Archiv f. Psych. V. p. 311),
dass H. bei Gelegenheit wie ein Wüthender sich auf ihn gestürzt habe,
wie wenn er ihn zu Boden schlagen wollte und ein andermal (ebenda
pag. 312), dass er den H., der ihm immer unerklärlich gewesen sei,
in einem andern Zustand von Wuth gesehen habe, in welchem dieser
auf der Gartenbank gesessen und in einer AVeise „gezappelt"
habe, dass es ihm ganz räthselhaft vorgekommen sei.
Bis zum 14. Jahre finden H.'s Lehrer ihn zwar wenig begabt,
körperlich schwach, schlaff, von schweigsamem, zurückhaltendem Be-
nehmen, aber als einen guten folgsamen Menschen. Von da ab
(Pubertät, Aufhören der Anfälle) muss eine Aenderung des Charakters
sich bei H. vollzogen haben, wenigstens wird er in der Folge als ein
widerspenstiger, heimtückischer, boshafter, mitunter excentrischer
Mensch geschildert, der kleine Diebstähle beging und der Urheber-
schaft eines nach einem erhaltenen Verweis ausgebrochenen Brandes
dringend verdächtig war.
Von körperlichen Krankheiten scheint H. bis auf die jüngste Zeit
verschont gewesen zu sein, nur ab und zu litt er an Kopfweh. Auch
sein Schlaf war trotz seiner gegentheiligen Versicherung ein ruhiger,
wie dies Zeuge Schulz, der über ein Jahr mit ihm zusammenschlief,
bezeugte. Niemals wurden an ihm weder vor der That noch nach
derselben in der Haft epileptische oder epileptoide Erscheinungen
beobachtet. Ueber H.'s geistige Begabung lauten die Ansichten der
Beobachter divergent. Von einigen wird er als vollsinnig bezeichnet,
andere halten ihn für geistig beschränkt, was allerdings mit Bezug
auf die Angaben seiner Lehrer, sein unsinniges Läugnen der Dieb-
stähle, deren er doch überführt ist, sein theilweise läppisches Be-
nehmen in den Verhören und Aussprüche in seinen Briefen an die
Geschwister „vergesst nie, was Ihr eurem dankbaren Vater schuldig
seid" — „die christliche Kirche stammt von der katholischen Keligion"
glaubhaft erscheint.
Zweiter Aufsatz (1877). 5J
In körperlicher Beziehung erscheint H. in seinem Wachsthum und
in der Entwickelung zurückgeblieben, von knabenhaften Zügen, kleinem
Schädel.
Was H.'s Verhalten in den der That vorausgehenden Stunden
betrifft, so erschien er seiner Braut etwas angetrunken. Er fühlte
etwas Kopfweh und Ermüdung. Einen Alkoholexcess hatte er that-
sächlich nicht begangen. Er bot bei der Heimkehr nichts Auffälliges,
legte sich mit den Anderen etwa um 10 Uhr zu Bett. Auch während
der Katastrophe erschien er dem einzigen überlebenden Zeugen der-
selben (Schulz) nicht anders als sonst, nur etwas ängstlich. Die
Insinuation, dass er zur Zeit der That irrsinnig gewesen sei, weist H.
zurück. Er entschuldigt sie mit Schlaftrunkenheit. Wichtig ist noch
das Verhalten seiner Erinnerung für die Zeit der That.
Er erinnert sich, dass er nach dem Zubettgehen sofort einschlief
und datirt seine Besinnung erst von dem Zeitpunkt an, wo ihm der
Eevolver aus der Hand gewunden wurde. Den Revolver habe er nicht
knallen hören. Er weiss, dass Seh. zu ihm sagte: „Sie erschiessen
uns Alle", er erinnert sich, dass er seine Opfer bluten sah. Weitere
Erinnerungsdetails ergeben sich, ob vorhanden oder nicht, aus dem
Kreuzverhör nicht. Ueber die Details seiner Flucht gibt H. keine
befriedigende Auskunft — er weiss es nicht — indessen scheint er
dafür doch eine Erinnerung, wenigstens eine summarische zu besitzen.
Die Gutachten von 3 Sachverständigen gehen dahin, dass sie an
H. nichts Krankhaftes wahrgenommen haben, auch erscheint ihnen
sein Gtisteszustand zur Zeit der That nicht pathologisch; ein vierter
hält seine That für das Product eines Krankheitszustandes auf epi-
leptischer Grundlage, der fünfte erkennt in H. zwar den Verbrecher,
findet aber in seiner erblich-nervösen constitutionellen Belastung und
seinem infantilen Nervenleiden Momente, die eine verminderte "Wider-
standsfähigkeit gegen sträfliche Versuchungen (verminderte Zurech-
nungsfähigkeit annehmen lassen.
Die von der Vertheidigung beantragte Einholung eines Obergut-
achtens wurde vom Gerichtshof abgelehnt, „weil nach den gesetzlichen
Vorschriften keine Nöthigung hierzu vorliege, im vorliegenden Falle
(die Referenten der med. Oberbehörden hatten hier als Sachverständige
fungirt) auch kein Nutzen zu erwarten sei".
Die Geschworenen bejahten die Schuldfrage, der Gerichtshof fällte
ein Todesurtheil. H. wurde zur Zuchthausstrafe begnadigt,
4*
52 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Existirte auch mit diesem Verdict Holtzapfel für das Strafgericht
nicht mehr, so blieb er doch ein Problem für die Wissenschaft. Blieben
doch so manche Zweifel ungelöst, waren doch in diesem Criminalfall
bezüglich der Motive und des Mechanismus der Handlung so manche
Widersprüche, während die medicinische Wissenschaft, obwohl sie in
mehrfacher Hinsicht pathologische Erscheinungen an H. fand, doch
nicht im Stande war, dieselben zu einer diagnostischen Formel zu-
sammen zu fassen.
Die Berliner med. psychologische Gesellschaft unterzog sich in
ihren Sitzungen vom 4. Mai und 1. Juni 1874 der dankenswerthen
Aufgabe, den Fall Holtzapfel zum Gegenstand einer Discussion vor
dem Forum der Wissenschaft zu machen.
Die Ansichten der Mitglieder waren ebenso getheilt wie die der
Experten. Während Liman, Skrzeczka, Westphal, Falk Holtzapfel
für einen Verbrecher erklärten, erkannten Wolff, Ideler, Mendel, Sander
in ihm einen Kranken.
Die Discussion drehte sich in ihren Hauptpunkten:
1. um die Gesammtpersönlichkeit des Holtzapfel.
Wolff und Sander betonten die erbliche Disposition, den Schwach-
sinn, gewisse Anomalien der Körperentwickelung und die auffällige
Charakteränderung zur Pubertätszeit, wozu nach W.'s Ansicht noch
der instinktive Charakter seiner früheren Verbrechen, für die ein
rechtes Motiv fehle, seine Zornmüthigkeit kommen. Nach ihm und
Ideler ist H. ein epileptisch Irrer, nach Sander ein auf hereditärer
Basis disponirtes Individuum, ein moralischer Idiot, während Westphal
Liman, Skrzeczka H. nicht schwachsinnig finden können und für eine
Verbrechernatur, wobei allerdings organische Momente nicht ganz
auszuschliessen sind, halten müssen. Die ersteren Anschauungen sind
auf synthetischem, die letzteren auf vorwiegend analytischem Wege
gewonnen.
2. Die Feststellung der Natur der Anfälle in der Kindheit.
Liman kann dieselben nicht als epileptische ansehen, denn eine
Sistirung solcher durch Aufrütteln sei nicht beobachtet. Wenn sie
epileptische wären, so wäre auch auffällig, dass sie keine schädliche
Wirkung auf die psychischen Functionen hatten. Sie lassen sich noch
am ehesten als Zufälle von Schlaftrunkenheit deuten, wozu überhaupt
das sog. Aufschrecken der Kinder zu rechneu sein dürfte. Keineswegs
lassen sie sich auf ein tieferes Leiden des Nervensystems beziehen,
sind zudem seit Jahren nicht mehr vorgekommen, somit für die Beur-
Zweiter Aufsatz (1877). 53
theilung des Zustandes zur Zeit der That belanglos. Aelmlicli Skrzeczka.
Wolff sieht sich genöthigt, diese Anfälle von Aufschrecken bei ihrer
langen Dauer und der fehlenden Erinnerung dafür für epileptoide zu
erklären, desgleichen Ideler, der darauf hinweist, dass sie mit Bewusst-
losigkeit einhergingen und bei einem Individuum vorkamen, in dessen
Blutsverwandtschaft Epilepsie zu Hause ist. Auch die Möglichkeit,
aus epileptischen Zuständen Leute zu erwecken, sei nicht ganz aus-
zuschliessen. Mendel verweist auf die Erfahrung von Romberg, der
solche Anfälle von Aufschrecken der Kinder als Vorläufer der Epilepsie
beobachtete, Wolff auf Henoch und Hess, wonach diese Anfälle auf
epileptoider Basis beruhen dürften. Der Hauptbeweis für seine Ansicht
liege in der Congruenz der Erscheinungen.
3. Der Zustand H.'s zur Zeit seiner That,
Liman beweist, dass kein Zustand der Schlaftrunkenheit vor-
handen war, das Verhalten nach der That wäre dann ein ganz anderes
gewesen.
Auch um einen Zustand sog. psychischer Epilepsie könne es sich
nicht handeln, denn weder prodromale noch postparoxysmale Erschei-
nungen fänden sich, die dafür sprächen, es fehle aber auch der für
solche Zustände charakteristische aifectvolle Aufregungszustand, der
durch schreckhafte Wahnvorstellungen oder durch einen Wuthausbruch
gekennzeichnet ist. H.'s Aeusserung „drunten stehen 2 Männer" im-
ponirt ihm nicht als eine pathologische Erscheinung.
Einen anderweitigen Zustand von Bewusstlosigkeit anzunehmen,
gehe auch nicht an, denn das Kriterium derselben sei die fehlende
Erinnerung. H. behaupte sie zwar, besitze sie aber doch, wie seine
Handlungen und widerspruchsvollen Aeusserungen erweisen. Gravirend
in dieser Hinsicht sind seine Erzählungen des Vorfalls (2 Freunde er-
schossen, 4 Spitzbuben) im Frühstückskeller und beim Barbier u. s. w.,
und wenn er sich später dessen nicht mehr erinnern will, so sagt er
die Unwahrheit. Ideler steht nicht an, aus H's ganzer Handlungs-
weise in jener Nacht auf einen Anfall von Sinnesverwirrung zu
schliessen, auf einen transformirten , epileptischen Insult bei einem
Individuum, das an Epilepsie litt und schwachsinnig wurde. H. hat
offenbar hallucinirt, hat planlos, rücksichtslos, automatisch gehandelt,
ebenso unsinnig und verworren benimmt er sich auf der Flucht,
Mit der Annahme von Epilepsie erkläre sich die von der Pubertät
an erfolgte Charakteränderung, sein Wuth- Anfall gegen den Brotherrn,
sein prodromaler ängstlicher Traum vor der Katastrophe.
Auch Wolff sieht in dem vorausgehenden ängstlichen Traum H.'s,
54 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
seinem ängstlichen Wesen zur Zeit der That, der Amnesie für die-
selbe, Anhaltspunkte für eine transitorische (epilept.) Störung.
Sander hält dafür, dass der organisch belastete H. in einem Zu-
stand von Sinnesverwirrung gehandelt habe, ohne sichere Beweise für
die epileptische Natur jener finden zu können.
So blieb also auch vor dem Forum der Wissenschaft der Fall
Holtzapfel ein unaufgeklärter, streitiger. H. wurde am 14. Juli 1874
in die Strafanstalt Halle eingeliefert, in welcher er sich seither be-
findet. Wir verdanken dem Leiter dieser Anstalt, Herrn Geh.-Eath
Dr. Delbrück, einen interessanten Bericht (v. Archiv für Psychiatrie
VI. H. 3) über den seitherigen körperlichen und geistigen Gesundheits-
zustand H.'s.
In diesem Bericht wird H. als ein im Allgemeinen gesunder aber
schwächlicher Mensch von blasser Gesichtsfarbe bezeichnet. Er be-
hauptet, häufig an Kopfschmerzen und Schmerzen in den Unterschenkeln
zu leiden. Sonst ist er ohne körperliche Gebrechen.
Im Januar 1875 stand er einmal Nachts auf, kleidete sich an.
Man nahm ihm die Kleider weg. Als man sie ihm des andern Morgens
wieder brachte, that er ganz fremd, wusste von dem Nachts Vorge-
fallenen nichts. Sein Benehmen erschien nicht als ein verstelltes. Er
klagte u. a. über Kopfschmerzen.
In der Folge ähnliche nächtliche Anfälle von „Nachtwandeln".
Am 31. Mai Buhranfall, der ihn während 8 Wochen unter sorgfältige
Aufsicht ins Lazareth brachte. Während dieser Zeit 8 nächtliche
Anfälle. H. schreckte mitten in der Nacht aus dem Schlafe auf, ver-
liess das Bett, ging mit bleichem Gesicht, starr geöffneten Augen und
schnellem, oft keuchendem Athem im Kreise herum. Kam er an die
Wand, so betastete er sie und kehrte dann wieder um. Er reagirte
in diesem Zustand nur auf Besprengen des Gesichts mit kaltem Wasser,
erwachte dann aus seinem „schlaftrunkenen" Zustand, stürzte zu Boden,
sah sich befremdet um, wusste nichts vom Vorgefallenen, blieb schwer
athmend und keuchend auf dem Boden liegen, bis man ihn aufforderte,
sich zu Bett zu legen. Er triefte dann von Schweiss, war durstig, schlief
ruhig ein. Aufschreien, Sprechen kam in diesen Anfällen, die, wenn
sie schwerer waren, eine halbe Stunde, sonst 10—15 Minuten dauerten,
nicht vor. Nach denselben litt er jeweils an Kopfweh, war erschöpft,
sah blass, elend aus, hatte frequenten Puls. In einem solchen Anfall
zerstörte er den Ofen, auch in anderen Anfällen wurden complicirte
Zweiter Aufsatz (1877). 55
•
zerstörende Handlungen mit dem Charakter der Bewusstlosigkeit be-
obachtet. Intervallär Perioden von Kopfschmerz, schlechtem Schlaf.
Schlaflosigkeit, bleichem Aussehen. H. leidet an häufigen Pollutionen
nimmt in der Ernährung ab. Nie epileptoide Zufälle. Auffälliger In-
differentismus und Spuren von Gedächtnissschwäche. Moralische Füh-
rung tadellos.
Der erfahrene Berichterstatter steht nicht an, zu erklären, dass
hier ein empirisch wahres Krankheitsbild vorliege — er nennt es
Nachtwandeln auf epileptischer Basis — und dass die Mordthaten H.'s
ganz gut in einem solchen Anfall begangen sein können.
Ich stehe nicht an, H. für einen Epileptiker zu erklären, auch
ohne dass je in seinem Leben convulsive oder vertiginöse Symptome
dieser Krankheit beobachtet wären. Das Vorkommen solcher „psy-
chischer" Epilepsien ist wohl nie bezweifelt, aber erst durch Griesinger,
Samt u. A. in neuester Zeit dem Yerständniss und der klinischen
Diagnose zugänglicher gemacht worden. Die Diagnose des epileptischen
(iiundzustands lässt sich in derartigen forensisch wie klinisch gleich
interessanten Fällen nur aus der Zusammenfassung aller pathologischen
Thatsachen, der Lebensgeschichte und gewisser, der acuten psychisch
epileptischen Störung eigenthümlicher Erscheinungen, somit auf synthe-
tischem Wege gewinnen. Dann wird sie aber eine so sichere, als sie
überhaupt auf diesem von der pathologischen Anatomie noch gar nicht
beleuchteten Gebiet möglich ist. Resümirt man die über H. vorliegen-
den anamnestischen Daten, so findet sich zunächst eine exquisite
Familiendisposition zu Hirnkrankheiten, speciell zu Epilepsie. Sie ist
an und für sich bedeutungslos für H, wenn es nicht gelingt, an ihm
Erscheinungen eines pathologischen Zustandes des Centralnervensystems
aufzufinden. Solche finden sich aber gerade zahlreich bei ihm und
schon in sehr frühem Lebensalter, zunächst als Anfälle von schreck-
haftem Delir („sie wollen mich kriegen"), ähnlich dem bekannten
nächtlichen Aufschrecken der Kinder. Es mag dahin gestellt bleiben,
ob dieses durchaus auf epileptischer Basis sich findet, unzweifelhaft
gewinnt es aber eine eminente klinische Bedeutung, wenn es beim
. Abkömmling einer epileptischen Familie sich findet, auch bei seiner
Schwester vorkommt, die einzelnen Anfälle stereotyp wiederkehren,
vollständige Amnesie hinterlassen, und mit dem Aufhören derselben
eine tiefgreifende Aenderung des Charakters in pejus — Zornmüthig-
keit, Zurückbleiben der körperlichen Entwickelung, geringe geistige
56 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Fortenlwickelung, instinctive Handlungen, Anfälle von Wuth, ein-
mal mit „Zappeln" constatirt werden, Erscheinungen, die in ihrer
Gesammtheit den Menschen dem damaligen Brodherrn unerklärlich
erscheinen lassen.
Das sind Alles Symptome, wie sie bei jugendlichen Epileptikern
häufig genug vorkommen, und gewiss würde jeder erfahrene Beobachter
bei ihrem Vorhandensein zunächst an latente Epilepsie denken. Die
Beobachtung hat an H. weder convulsive noch epileptoide Zufälle
nachzuweisen vermocht. Wir müssen mit dieser Thatsache rechnen,
ohne aber die Möglichkeit auszuschliessen, dass dennoch vertiginöse
oder epileptoide Erscheinungen vorhanden waren, ohne zu vergessen,
dass bei Epileptikern Jahrzehnte lang (Morel, Griesinger) das klassische
Bild der E. fehlen kann. Eine beachtenswerthe Erscheinung bleibt
immerhin Holtzapfel's Anfall von „Zappeln" auf der Gartenbank.
Ganz unvermittelt an diese früheren pathologischen Vorkommnisse
in H.'s Leben reiht sich die Katastrophe in der Nacht vom 8./9. April 1873
— ein einfacher Eaubmord, wie das Verdikt der Jury lautete, aber
unter welchen Umständen! Der erste Eindruck, den mir die Durch-
lesung des treiflichen Falk'schen Gutachtens machte, war der des
Unerhörten, eine zweite Lesung verschaffte mir die Ueberzeugung des
Pathologischen des Falls. Die Voraussetzung, H. habe einen Kaub
an seiner Herrin begehen wollen, zu diesem Zweck die Klingelsclmur
abgehackt und seine Schlafkameraden zu erschiessen versucht, klang
doch gar unwahrscheinlich. Die Gefahr, nicht sofort die drei tödtlich
zu verwunden, in der Nachbarschaft gehört zu werden, war doch zu
gross, der Umstand, dass H. dem Seh. selbst Licht anzündete, statt
sein Heil nach misslungener Unthat in der Flucht zu suchen, dass er
dem Seh. den Revolver an die Schläfe hielt, ohne zu schiessen, deutete
eher auf Handlungen des Traum- als des wachen Lebens. Aber
welches Traumzustauds ? Schlaftrunkenheit konnte selbstverständlich
ausgeschlossen werden, Epilepsie lag nahe, aber das gewöhnliche Bild
einer „Mania" epileptica oder eines epileptischen Delirs war offenbar
nicht vorhanden. Der Fall blieb mir ein räthselhafter, bis Samts
Arbeit (Archiv für Psychiatrie, V. H. 2; VI. H. 1) und eigene Er-
fahrungen (Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXIII. H. 2) ihn aufklärten.
H. befand sich zur Zeit seiner That in einem psychopathologischen
Zustand auf epileptischer Basis, in einem Traum- oder Dämmerzustand,
wie er eben nur bei gewissen Epileptikern vorkommt, mag er nun
transformirter epileptischer Insult, epileptische Bewusstlosigkeit, Sinnes-
verwirrung oder sonstwie genannt werden. Als prodromale Er-
scheinungen desselben möchte ich H.'s ängstliches Träumen, Kopf-
Zweiter Aufsatz (1877). 57
schmerz, Müdigkeit und wie angetrunkenes Wesen ohne vorausgehenden
Alkoholexcess auffassen.
Auch sein ganzes Verhalten während der Katastrophe deutet auf
ein Traumbewusstsein, mit bald grösserer, bald geringerer Verdunkelung
desselben. Eine partielle Aufhellung des Bewusstseins repräsentirt der
Moment, wo er Seh. den Revolver an die Schläfe hielt, ohne zu
schiessen, wo er sagt, er habe nur gespasst und werde Alles bezahlen,
eine Wiederverdunkelung der Augenblick, wo er nach Seh., ihn offen-
bar neuerdings feindlich verkennend, wieder schiesst, während er doch
kurz vorher dessen Leben geschont hat. Solche Schwankungen des
Bewusstseins finden sich aber in epileptischen Traumzuständen.
Auf ein Gesammttraumleben deutet das Planlose, IJnmotivirte,
unsinnige der gesammten Handlungsweise, das Verhalten auf dem Hof,
die Rückkehr ins Zimmer, das Wiedererscheinen auf dem Hof in
defecter Toilette etc.
Die Aeusserung „drunten stehen 2 Männer" kann ich nur für
eine delirante halten, sie entspricht der Erzählung beim Barbier, dass
Diebe eingebrochen seien und der Wahrnehmung Sch.'s, dass H.
während der Tragödie ängstlich war; ferner seinem Herumspähen auf
dem Hof, bevor er sich zur Flucht wandte.
Dem wechselnden Zustand des Traumbewusstseins entspricht die
Erinnerung, die, wie bei allen epileptischen Traumzuständen, eine
mindestens summarische ist, nur Bruchstücke aus dem Traumleben in
sich begreift (Diebe eingebrochen, zwei Freunde erschossen) auch für
die Erlebnisse der Flucht eine höchst summarische ist und auch bei
der Ergreifung als eine coufuse, dämmerhafte erscheint. Sein ganzes
Benehmen in Berlin, der Umstand, dass er unaufgefordert dem Barbier
seine hallucinatorische Räubergeschichte erzählt und sich damit
mindestens verdächtig macht, beweisen, dass er damals noch nicht
wieder lucid war.
Ueber H.'s Anfälle in der Strafanstalt kann kein Zweifel sein,
dass sie epileptoide sind. Ich theile in dieser Beziehung ganz die
Ueberzeugung des erfahrenen Berichterstatters derselben und verweise
auf analoge Vorkommnisse bei den von mir beobachteten Kranken.
Weitere Reflexionen gestattet vorläufig der denkwürdige Fall H.
nicht, aber er fordert dringend zu einem genauen Studium der noch
gar nicht erforschten oder unter anderem Namen cursirenden, als
epileptische verkannten eigentümlichen Traum- und Dämmerzustände
auf, wie sie eben nur bei Epileptischen, freilich mit oft fehlenden oder
mindestens seltenen Krampfanfällen vorkommen, auf. Die klinisch-
forensische Wichtigkeit ergibt sich aus dem Ausgang vorstehenden
58 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Processes, der ein anderer gewesen wäre, wenn unsere Kenntniss der
im Verlauf der epileptischen Neurose möglichen psychopathischen Zu-
stände sich nicht auf die Schablonen der „mania epileptica", des „grand"
und des „petit mal" beschränkte.
Beob. 5. Epileptisches Irresein. Dämmerzustand, in welchem
Patient ohne Motiv und bewnsste Absicht eine Eeise unternimmt.
Am 23. Februar 1876 Abends 10 Uhr wurde der 22 Jahre alte
Martin Seh. aus Wien von der Sicherheitsbehörde dem allgemeinen
Krankenhaus in Graz übergeben. Er hatte sich auf der Strasse
herumgetrieben, einem Wachmann, der ihm begegnete, den Wunsch
ausgesprochen, dieser möge ihn umbringen. Bei der Ankunft im
Spital war er anscheinend lucid, ohne Fieber, der Kopf congestionirt,
der Puls sehr voll und weich, der Gesichtsausdruck eigentümlich
befangen und verstört. Patient schlief einige Stunden und gab am
andern Morgen mimisch frei und vollkommen lucid folgende Anamnese.
Die Mutter lebt im Armenhause. Sie ist ohne psychische Ab-
normitäten. Der Vater war ein Säufer, litt einmal an einem psychischen
Aufregungszustand, in welchem er meinte, es werfe Jemand nach ihm
mit Messern. Ein Vetter des Vaters ist geisteskrank, ein Bruder des
Vaters apoplectisch. Der Sohn einer Schwester des Vaters ist im
Irrenhaus gestorben. Von 19 Kindern ist Pat. das letztgeborne
12 Geschwister sind im Kindesalter an unbekannten Krankheiten ge-
storben, 7 leben. Ein Bruder litt mit 12 Jahren an Convulsionen,
eine Schwester an Krampfanfällen mit Bewusstlosigkeit. Als kleines
Kind litt er an Convulsionen. die später sich nicht wiederholten.
Entwickelung war normal. Begabung eine gute. Seit seiner
Kindheit habe er alle paar Wochen Anfälle von halbseitigem Kopfweh.
Schon als kleiner Junge habe er oft bei geringfügiger Veranlassung
an Angst gelitten. Diese unmotivirten Aengstlichkeiten befielen ihn
noch bis in die jüngste Zeit — er komme dann ins Nachdenken hin-
ein und sei erst nach einigen Stunden wieder frei davon. Ebenso
kämen oft über ihn schmerzliche Stimmungen, in welchen ihn der
Gedanke plage, dass er nie glücklich werden könne. Von jeher sei
er intolerant gegen Alkoholica; wenn er nur 0,6 Liter Bier trinke, so
fange gleich der Kopfschmerz an, sodass er sich vom Trinken ent-
halte. Kopfverletzungen, schwerer Krankheiten weiss er sich nicht
zu erinnern, ebensowenig weiss er von Schwindelan fällen, nächtlichem
Bettnässen. Patient wandte sich nach absolvirter Schule dem Schuster-
handwerk im 11. Jahr zu. hatte aber keine Freude daran, ging nach
Zweiter Aufsatz (1877). 59
München, diente dort einige Monate als Krankenwärter (1870), wandte
sich dann nach Wien, diente dort in verschiedenen Häusern. 1873 er-
wies er dem Sohn seines Hausherrn, der ein Paederast war, Liebes-
dienste, wurde von diesem reich beschenkt, später aber desavouirt.
1874 Ende Juli diente er in einem Cafe. Er fühlte sich eines
Tages sehr unwohl, litt an heftigem Kopfweh. Er sah eine unheim-
liche Gestalt mit einem langen Messer auf ihn zukommen, gerieth in
heftige Angst, fing an zu zerstören, fiel plötzlich bewusstlos um, blieb
so eine halbe Stunde, kam auf das Beobachtungszimmer, wo er vom
30. Juli bis 7. Aug. verpflegt wurde, noch einige Zeit delirirte. Er
wurde von da am 7. Aug. nach der Irrenanstalt gebracht, kam in dieser
nach einigen Tagen wieder zum Bewusstsein, hatte aber vollständige
Amnesie für Alles, was seit dem Zeitpunkt, wo er das Phantasma er-
blickte, vorgefallen war.
Pat. blieb bis zum 2. März 1875 in der Irrenanstalt. Er will
mit Arbeit beschäftigt und von neuen Krankheitsanfällen verschont
gewesen sein.
Anfangs April 1875 kam es zu einem ängstlichen Aufregungs-
zustand. Er meinte, er werde eingesperrt, bekannte in seiner Angst
einem Arzt, der ihn zu untersuchen hatte, dass er sich zu paede-
rastischen Zwecken habe missbrauchen lassen.
Ende April lief er in die "Wohnung des Baron Sa. Er meinte 8.
habe ihm Geld versprochen — er habe es sich eben so eingebildet —
schon früher seien ihm so ungereimte Gedanken gekommen. Wegen
dieser Affaire sei er von Neuem in die Irrenanstalt gekommen und
dort vom 28. April bis 10. Sept. verpflegt worden. Er sei während
dieser ganzen Zeit gesund gewesen, habe immer arbeiten können
und sei dann von dem obenerwähnten Hausherrnsohn gegen Revers
aus der Anstalt entnommen worden. Dieser schaffte ihn nach München.
Von seinen dortigen Verwandten schlecht aufgenommen, ging er wieder
nach Wien.
Gelegentlich eines Streites mit dem Hausherrnsohn sei er aus ihm
unbewussten Ursachen am 12. December 1875 neuerdings auf das
Beobachtungszimmer gekommen, habe dort dem Chefarzt Grobheiten
gesagt, sei in die Irrenanstalt versetzt worden, habe dort aber keine
Krankheitserscheinungen mehr geboten und sei deshalb am 6. Februar
gesund entlassen worden. Die in diesen Anstalten eingezogenen Er-
kundigungen ergeben, dass Seh. seit 1874 mehrere, wenn auch nicht
ernste Selbstmordversuche machte, diverse epileptische, bald convulsive.
bald Tobanfälle hatte und unendlich reizbar war. Die Ursache seinei
Aufnahme im December 1875 war ein Versuch gewesen, sich mit Laugen-
ßO Ueber Dämmer- und Traumzustände.
essenz zu vergiften. Er trieb sich nun vacirend herum, fand endlich
am 23. Februar einen Dienst in einem Caffehaus, wo er Morgens ein-
trat. Schon beim Eintritt habe er sich unwohl gefühlt, stechenden
Schmerz in den Schläfen gehabt, der sich fortwährend gesteigert und
mit einer eigenthümlichen inneren Angst complicirt habe. Das Mittag-
essen habe ihm nicht geschmeckt, er sei — er wisse selbst nicht
warum, von Hause fort, auf den Südbahnhof gelaufen, habe dort gefragt,
wann ein Zug nach Graz abgehe, und da gerade einer bereit stand,
habe er mit dem Eest seines Geldes ein Billet gelöst und sei einge-
sessen. Unterwegs habe er heftigen Kopfschmerz gehabt, ein ihm
gegenübersitzender Herr habe ihn gefragt, warum er so trübsinnig
dasitze. Während der Fahrt sei ihm plötzlich ein Licht gekommen,
was er gethan, diese Anschauung sei ihm unterwegs immer deutlicher
geworden. Bei der Ankunft in Graz sei er erst zur vollen Einsicht
gekommen, was er für eine Dummheit gemacht. Ohne Geld und
Bekannte dastehend sei er sehr deprimirt gewesen, habe sich an einen
-Wachmann gewendet. Er glaubt sich zu erinnern, dass er diesem
gesagt, er fühle sich so unglücklich, dass dieser ihn umbringen solle,
weiss er sich nicht zu erinnern. Ueberhaupt hat Patient von den
Erlebnissen seit Eintritt in das Caffehaus Morgens bis zu diesem Zeit-
punkt nach der Ankunft in Graz nur eine summarische Erinnerung.
Aller weiteren Vorkommnisse erinnert er sich klar, wie er sich auch
seiner Lage vollkommen bewusst ist. Er besinnt sich vergebens auf
ein Motiv, nach Graz zu reisen. Er weiss nur, dass ein früherer
Irrenwärter in Wien, der aus Graz gebürtig ist, ihm viel von dieser
Stadt erzählt hat. Von seinem Kopfweh sei er erst am 24. Morgens
frei geworden.
Pat. bietet in der folgenden Beobachtungszeit wenig Auffälliges,
ausser eine grosse Gemüthsreizbarkeit und Neigung zu Kopfconges-
tionen. Seine vasomotorischen Nerven sind jedenfalls sehr erregbar
er erröthet bei geringfügiger Veranlassung. Intelligenz lässt nichts
zu wünschen übrig, Bewusstsein nach keiner Bichtung getrübt. Der
Ausdruck der Augen hat etwas Unstetes, Neuropathisches an sich.
Die Kopfbildung regelmässig.
Längsdurchmesser des Schädels 17,5 Ctm., parietaler 15,0, bitem-
poraler 10,0, Mastoidalbreite 13,5. Entfernung zwischen den Joch-
bögen 14,5 ; Entfernung von der Vereinigung der Lambdanaht bis zum
Kinn 23,6. Gesichtshälften vollkommen symmetrisch. Der linke Eck-
zahn ist abnorm breit und steht V" höher als die andern Zähne. Das
rechte Ohr ist um 0,5 Ctm. länger als das linke. Von perversem Ge-
schlechtstrieb keine Spuren. Pat, ist den Weibern hold und hat sich
Zweiter Aufsatz (1877). 61
nur um Geld zu Paederastie hergegeben. Die vegetativen Organe
fnnctioniren normal, die Ernährung ist eine gute. Nach lOtägiger
Beobachtung, die ausser grosser nervöser Erregbarkeit und Gemüths-
reizbarkeit nichts Weiteres bot, wurde Pat. entlassen.
Epicrise. Auch hier handelt es sich um einen Menschen, in
dessen Familie Hirnkrankheiten häufig vorkommen, und bei dem, wohl
als Ausdruck einer hereditären Belastung, theils functionelle (Migräne-
anfälle seit der Kindheit ; Intoleranz gegen Alkohol), theils anatomische
(Zahn, Ohr) Degenerationszeichen sich vorfinden.
In der Kindheit bestehen Convulsionen. Erst im 20. Lebensjahre
erscheinen wieder krampfartige Zustände. Sie sind selten, aber von
sachverständigen Beobachtern constatirt und als epileptische erkannt.
Als Aequivalente solcher ab und zu syncopeartige und transitorische
Tobanfälle. Besonders deutlich ein solcher 1874, eingeleitet durch eine
Aura (schreckhafte Vision), mit Amnesie für die ganze Dauer des
epileptischen Delirs.
Als intervallaere, das Bild der epileptischen Neurose ergänzende
Erscheinungen: hochgradige Gemüthsreizbarkeit, Zustände schmerz-
licher Verstimmung (morositas epilepticorum ) bis zu ganz impulsiv
unternommenen Selbstmordversuchen.
Ausser diesen gewöhnlichen Zügen des epileptischen Kranheitsbilds
finden sich nun 2 weitere, vielleicht als psychische Aequivalente des
epileptischen Anfalls zu deutende temporäre Symptomencomplexe. Zu-
nächst Angstanfälle, die schon von Griesinger (Archiv für Psychiatrie I)
in diesem Sinne gedeutet werden, dann Dämmerzustände mit ängst-
licher Färbung, Traumvorstellungen (1875 Alfaire Sa.), ganz impulsiven,
unmotivirten, unsinnigen Handlungen (Reise nach Graz) und nur ganz
summarischer Erinnerung für die Erlebnisse dieses Dämmerzustands.
Der letzte derartige Anfall entbehrt zudem nicht einer Art Aura —
Unwohlsein, stechender Schmerz in den Schläfen, Appetitlosigkeit und
begleitender vasomotorischer (Fluxion zum Gehirn, voller weicher Puls)
und sensibler Symptome (Kopfschmerz).
Beob. 6. Epileptisches Irresein. Mehrwöchentlicher stuporartiger
Dämmerzustand mit Delirien. Discipliuare Vergehen im Krauk-
heitsanfall.
Herr Z., Offizier, 24 Jahre, ist wegen Veräusserung eines ihm von
der Kriegsverwaltung zum Gebrauch überlassenen ärarischen Pferdes
sowie wegen zahlreicher seit Anfang des Jahres 1875 contrahirter
Wechselschulden und Nachlässigkeiten im Dienste in eine Disciplinar-
62 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Untersuchung verwickelt und mit Cassirung bedroht. Da sein Ver-
halten zur Zeit der angeschuldigten Handlungen den Verdacht einer
Geistesstörung aus den unten erwähnten Gründen rege machte, wurde
derselbe ärztlicher Beobachtung und Untersuchung unterstellt.
Anamnese und Species facti: Explorat stammt von ge-
sunden Eltern. Im 3. Lebensjahre acute Hirnerkrankung, die ihn
ca. 14 Tage des Gehörs und Gesichts beraubte. Später gesund bis
1869, wo er mit dem Pferd stürzte und mit dem Kopf gegen eine
Barriere geschleudert wurde. Eine äusserliche Verletzung fand sich
nicht an der Stelle des Insults (Vereinigungswinkel der Lambdanähte)
vor, jedoch war Z. 12 Stunden bewusstlos, stand noch 14 Tage wegen
Schwindel, Kopfweh an der Stelle des Trauma und Schlaflosigkeit in
ärztlicher Behandlung und musste, da diese Beschwerden fortdauerten,
vom Dienste beurlaubt werden.
Der Kopfschmerz bestand hartnäckig fort, exacerbirte jeweils bei
kalter oder heisser Temperatur, sowie bei Gemüthsbewegungen und
dem Genuss geistiger Getränke. Die Stelle des Trauma war dann
so schmerzhaft, dass Pat. nicht den leisesten Druck daselbst zu ertragen
vermochte. Dazu gesellten sich nächtliche Anfälle von Somnambulis-
mus, Irrereden, krampfhaftem Zusammenschnüren der Kehle mit Er-
stickungsnoth. Bei entsprechender Pflege im elterlichen Hause mil-
derten sich diese Zufälle. 1870 konnte Pat. wieder zur Truppe gehen.
Er war im Allgemeinen berufsfähig, litt aber noch zeitweise an hef-
tigem Kopfschmerz, wurde auffallend reizbar bis zur Stutzigkeit und
zog sich dadurch mannigfache dienstliche Unannehmlichkeiten zu. Auch
kam es zu häufigen Congestionen zum Gehirn und vertrug Z. keine gei-
stigen Getränke mehr.
1872 stürzte Z. neuerlich vom Pferd. Als unmittelbare Folge
Schwindel, Kopftaumel und 14tägiges Kranksein. In der Folge zeit-
weise Kopfschmerz, Schwindel, grosse Gemüthsreizbarkeit.
Im Sommer 1873 trat bei grosser Hitze nach dem Exerciren
während des Mittagsmahls unter Kopfschmerz, Schwindel und Uebel-
keit ein mehrstündiges schreckhaftes Delirium ein, aus welchem Z. mit
nur höchst summarischer Erinnerung zu sich kam. In der folgenden
Zeit viel Kopfweh, nächtliche Beklemmungen, Wandelbarkeit der
Stimmung, insofern Heiterkeit und Reizbarkeit mit Trübsinn und
Apathie wechselten. Der krankhafte Jähzorn steigerte sich bedenk-
lich. Pat, konnte seinen Diener aus geringfügiger Ursache prügeln
und gleich darauf darüber weinen, dass er sich so weit vergessen hatte.
Schon vor Jahresfrist kam Z. seiner Umgebung durch unmotivirten
Stimmungswechsel sonderbar vor. Er ging aus heiterer Gesellschaft
Zweiter Aufsatz (1877). 63
plötzlich fort, eigenthümlicli gedrückt, ohne sich zu verabschieden.
Er besuchte Bekannte zu Zeiten täglich, dann kam er wieder Monate
lang nicht. Zuweilen verlor er den Faden des Gesprächs und konnte
sich gar nicht mehr entsinnen, was er sagen wollte. Um jene Zeit
kam auch einmal Bettnässen im „Traum" vor.
Nach einem Manöver im Sommer 1874 exacerbirte der Kopfschmerz
so heftig, dass ärztliche Hilfe gesucht werden musste. In den letzten
Monaten dieses Jahres traten wieder Angstanfälle mit schnürendem
Gefühl im Hals und Druck in den Präcordien auf. Z. war unaufge-
legt zum Beruf, trieb sich an öffentlichen Orten herum, contrahirte
massenhaft Schulden, wurde nachlässig, vergesslich, klagte selbst über
Gedächtnissabnahme. Wegen unbeachtet gelassener Befehle, Unver-
lässlichkeit in seinen Rapporten, Nachlässigkeit und Renitenz im Dienst
zog er sich dienstliche Rügen zu. Zu jener Zeit traten auch wieder
Erscheinungen von Schlafwandeln auf. Pat. war oft Morgens erstaunt
über das veränderte, ihm unerklärliche Arrangement seines Zimmers.
Im Januar 1875 stellte sich eine länger dauernde Bewusstseins-
störung ein, die sich mit Hallucinationen, Delirien und ganz impulsiven,
traumhaften Handlungen complicirte und nur eine ganz dämmerhafte
Erinnerung für die in diesem Zeitabschnitt fallenden Ereignisse
hinterliess.
Genau lässt sich der Beginn dieser Krankheitsperiode nicht fixiren.
Schon einige Zeit vorher war Pat. seinen Eltern durch den religiös-
schwärmerischen Inhalt seiner Briefe, durch eine mit Hast und gegen
den Willen seiner Eltern betriebene Heirath, seinen Hang zum Gross-
thun, die vergessene und deshalb unterlassene Gratulation zu einem
Familienfest auffällig geworden.
Vom 17. Januar ab war Pat. auffallend vergesslich geworden und
hatte sich durch unterlassene Ausführung von Befehlen Unannehmlich-
keiten zugezogen.
Am 26. meldete er sich krank wegen einer Muskelzerrung. Der
Arzt fand ihn geistig abnorm und fürchtete den Ausbruch eines „De-
lirium tremens".
Vom Januar und Februar liegen 3 Kutscherrechnungen vor über
Fahrten, die Pat. gemacht hat. Die eine lautet von 9 Uhr Abends
bis 4 Uhr früh, die andere von 11 Uhr Abends bis 3 Uhr Morgens,
die 3. von 11 Uhr Abends bis früh 4 Uhr. Pat. erinnert sich nur
ganz traumhaft an eine dieser ganz unmotivirt unternommenen nächt-
lichen Spazierfahrten — er weiss weder, wo er herumkutschirt ist,
noch ob er den Kutscher bezahlt hat.
Am 28. Januar verpfändete Pat, seine Pferde, darunter ein ära-
ß4 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
risches. Er war damals arg von Gläubigern bedrängt wegen contra-
hirter Schulden, unter denen sich einige befanden, von denen er gar
nicht wusste, wie er dazu gekommen war.
Auch der Umstände der Pferdeverpfändung erinnert sich Pat. nur
ganz traumhaft. Der Schuldschein sei ihm von einem wucherischen
Wirth, der ihm gegen hohe Procente Geld geliehen hatte, dictirt
worden. Er weiss nicht, was im Schuldbrief gestanden, er habe die
fatale Geschichte von der Pferdeverpfändung erst Ende Februar von
seinem Vater erfahren. Er weiss nicht, wieviel Geld er vom Wirth
erhalten, ob der Wirth zu ihm gekommen, oder er zum Wirth gegangen
sei. Ueberhaupt hat er von der ganzen Zeit von, Mitte Januar bis
zum 25. Februar nur eine ganz confuse Erinnerung. Er sei allmälig
ganz betäubt worden, wenn er auch noch im Stande war, mit der
Aussenwelt zu verkehren. Der Zustand habe mit confusem Lärm im
Zimmer und Flimmern vor den Augen begonnen. Er habe sich etwa
eine Woche lang im Zimmer eingeschlossen (Anfang Februar), ohne
dass er wusste warum. Er weiss aus jener Zeit nur, dass er eine
Menge Briefe schrieb, über deren Verbleib, Adresse, Versendung und
Inhalt er keine Rechenschaft zu geben weiss. Er habe mit wahrer
Wuth oft bis tief in die Nacht hinein geschrieben. Es kam ihm vor,
dass er eine hohe Persönlichkeit erwarte, der er seine Aufwartung
machen müsse.
Dass er mit dem Säbel dreinschlagen wollte, allerlei Verkehrt-
heiten machte, weiss er nur aus den Erzählungen Anderer.
Etwa am 8. Februar ist Z. einmaL Nachts in ein Gasthaus ge-
rathen und erwachte zu seinem nicht geringen Erstaunen am anderen
Morgen in einem fremden Zimmer. Warum und wie er dorthin ge-
rathen, bleibt ihm ein Räthsel.
In den letzten Tagen vor seiner Aufnahme ins Hospital ist er
auch wiederholt im Theater gewesen. Er weiss weder was für ein
Stück er dort gesehen, noch wie er dahin gekommen.
Bei der ärztlichen Exploration am 22. Februar befindet sich Z.
in einem stuporartigen Dämmerzustand. Er ist kaum fähig zu Mitthei-
lungen über sein Befinden. Mühsam erfährt man, dass er heftigen
Kopfschmerz habe, ängstlich, appetitlos sei. Die Stelle des Vereini-
gungswinkels der Lambdanaht ist enorm schmerzhaft, selbst auf den
leisesten Druck. Der Druckschmerz irradirt nach allen Seiten. Eine
Narbe oder Knochenveränderung ist an dieser Stelle nicht constatirbar.
Der Gesichtsausdruck ist ängstlich, staunend, maskenartig starr.
Pupillen mittelweit, träge reagirend. Carotiden- und Radialpuls klein,
Arterie contrahirt, 84. Hände kühl, etwas livid. Herztöne matt.
Zweiter Aufsatz (1877). 65
Zunge dick belegt. Körpergewicht 61 Kilo, während Pat. früher 71
gewogen haben soll.
Der Schlaf schlecht, durch ängstliches Aufschrecken gestört. Unter
Tags Schlafsucht, träumerisches Versunkensein, grosse Reizbarkeit und
continuirlicher Kopfschmerz.
Am 25. Abends Anfall von klonischen allgemeinen Kräm-
pfen mit Bewusstlosigkeit. Die Nacht über ab und zu Streck-
krämpfe des Rumpfes, Zucken der Extremitäten und Frostschauer.
Am 26. Morgens ist der Stupor gewichen, Pat, ziemlich frei in
Sensorium und Mimik, der Kopfschmerz gemässigt. Die Erinnerung
für die Erlebnisse des Dämmerzustandes von Mitte Januar bis zum
25. Februar ist eine vage, höchst summarische.
Da die epileptische Natur des Leidens klar zu Tage lag, bekam
Pat. 6,0 Bromkali täglich und kalte Abreibungen.
Bis zum 31. März ist Pat. ziemlich frei im Sensorium, aber schwer
nervenleidend.
Sein Schlaf ist unruhig, von lebhaften schreckhaften Traumbildern
durchwebt. Der Kopf schwer, eingenommen, schwindlich. Fast con-
tinuirlich leidet Pat. an einem dumpfen Kopfschmerz auf der Scheitel-
höhe und in der rechten Schläfengegend. Er ist unfähig zu geistiger
Beschäftigung, sehr gemüthsreizbar und vergesslich. Häufig Bangig-
keit und Druckgefühle in den Präcordien. Bei jeder Gemüthsbewegung
stellen sich prickelnde wuselnde Gefühle am ganzen Körper ein. In
den Händen häufig Ameisenlaufen. Gefühl von Todtsein. Die Reflex-
erregbarkeit ist gesteigert, Pat. fährt bei Geräuschen zusammen, ab
und zu Tremor der Hände, zuckende Stiche in den Extremitäten.
Häufig Fluxionen zum Gehirn mit Flimmern vor den Augen, er-
schwertem Denken bei Kältegefühl, Frostschauer und Cyanose an den
Extremitäten. Grosse Mattigkeit und Muskelschwäche bei objectiv
intacter Muskelkraft, Zeitweise Gefühl von Schwere der Zunge und
erschwertem Sprechen. Das Körpergewicht sinkt auf 59 Kilo. Der
Puls andauernd klein, celer, contrahirt, 90 — 96.
Am 31. März stellte sich ein rauschartiger Betäubungszustand
ein. Pat. empfindet Schwindel, das Gesichtsfeld ist verschleiert, Ge-
ruchs- und Geschmacksempfindung bedeutend herabgesetzt. Klagen
über reifartiges Gefühl um den Kopf.
Am 6. April wird Pat. mimisch freier, sicherer in den Bewegungen,
der Puls voll, die Arterie weicher; die Beschwerden sind, bis auf das
reifartige Druckgefühl um den Kopf, geschwunden. Pat. besitzt nur
eine ganz summarische Erinnerung für die Erlebnisse der letzten
Woche.
Krafft-Ebing, Arbeiten III. ä
66 Ueber Dämmer- und Tranmzustände.
Er fühlte sich ziemlich wohl bis Anfang Mai, wo Pat. in einen
mehrstündigen Dämmerzustand verfiel, in welchem er im Halbschlummer
dalag und vor sich hinmurmelte. Für diesen Zustand vollständige
Amnesie. Seitdem Hände wieder kalt, leicht cyanotisch. Gefühle,
wie wenn der ganze Kopf in einem Eisbeutel stecke. Morgens fühlt
sich Pat. jeweils matt, betäubt, schwer im Kopf. Wiederholt werden
nächtliche Anfälle von Aufschrecken mit Erstickungsnoth constatirt.
Der Schlaf ist schlecht, von ängstlichen Träumen gestört. Pat. klagt
häufiger über Kopfweh, ist wieder sehr reizbar, gedächtnissschwach.
Ende Juni verlieren sich wieder diese Erscheinungen. Der Juli
verläuft gut. Pat. erholt sich geistig und körperlich bis zum 29. Juli,
an welchem Tage nach Genuss von Bier und einer Gemüthsbewegung
ein genuiner epileptischer Anfall mit postepileptischem, ängst-
lichem mehrstündigem Delirium und nachfolgendem ltägigem Stupor
auftritt.
Pat. wird auf's Land zur ferneren Pflege geschickt und die Be-
obachtung geschlossen.
Gutachten.
1. Herr Z. leidet seit dem Jahre 1869 an einer schweren Hirn-
krankheit.
2. Dieselbe ist die directe Folge einer gelegentlich eines Sturzes vom
Pferd erlittenen Läsion des Gehirns.
3. Die Krankheit des Patienten lässt sich als epileptische bezeichnen.
4. Die mannichfachen nervösen und psychischen Störungen, welche
seit 1869 an Herrn Z. constatirt wurden, gehören sämmtlich dem
Krankheitsbild der Epilepsie an und erweisen sich durch Entwicke-
lung und Verlauf als empirisch wahre.
5. Die unmittelbare Folge des Gehirninsults waren die Erscheinungen
einer Gehirnerschütterung (Bewusstlosigkeit, Schwindel), die locale
ein auf die Stelle des Trauma beschränkter Kopfschmerz, der sich
bis zur Stunde als fortbestehend erweisen lässt.
Die ersten Zeichen der epileptischen Neurose bestanden in
Anfällen von Somnambulismus, Irrereden und Schlundkrämpfen,
an deren Stelle später solche von Delirium (1873), Angst, momen-
taner Bewusstlosigkeit, Stupor mit Delirien und impulsiven Hand-
lungen traten, bis endlich das paroxysmelle Bild der Krankheit
durch am 25. Februar 1875 aufgetretene convulsive Paroxysmen
sich vervollständigte.
Auf wahrscheinlich schon früher dagewesene ähnliche Anfälle
deutet das einmal 1874 vorgekommene Bettnässen.
Zweiter Aufsatz (1877). 67
Als intervalläre Symptome der Krankheit ergeben sich Reiz-
barkeit bis zu Ausbrüchen von Jähzorn (Prügelung des Dieners),
grundloser Stimmungswechsel, Congestionen zum Gehirn, Intoleranz
für spirituöse Getränke und Kopfweh. In neuerer Zeit haben sich
auch Gedächtnissschwäche und Charakterveränderung eingestellt.
6. Von Mitte Januar bis 25. Februar 1875 befand sich Herr Z. in
einem Zustand von Stupor mit zeitweisem Delirium.
Die epileptische Natur dieses Zustandes von Sinnes Verwirrung
ergiebt sich klar aus der theilweise fehlenden oder nur ganz
summarischen Erinnerung des Kranken für diese Krankheits-
periode, den impulsiven Handlungen (nächtliche Spazierfahrten,
Hebern achten im Gasthaus u. s.w.), sowie aus den Anfall aura-
artig einleitenden Sinnestäuschungen (confuser Lärm, Flimmern
vor den Augen), der stuporartigen Bewusstseinsstörung, die indessen
noch einen traumartigen Verkehr mit der Aussenwelt zuliess,
endlich aus dem Abschluss des paroxysmellen Krankheitsbildes
durch einen epileptischen Insult.
7. Die Verpfändung der Pferde, welche am 28. Januar stattfand,
fällt in die Zeit dieses stuporartigen Traumzustandes. Die feh-
lende Erinnerung für die Details dieses Geldgeschäftes beweist an
und für sich schon, dass es in einem psychisch-krankhaften Zu-
stand unternommen wurde. Die vor- und nachher beobachteten
Erscheinungen einer Sinnesverwirrung, wie sie bei Epileptikern
ganz gewöhnlich ist, lassen keinen Zweifel zu, dass Herr Z. damals
psychisch krank war.
8. Obwohl der Kranke in der Zeit von Mitte Januar bis Ende
Februar im Stande war, mit der Aussenwelt zu verkehren, war
er dennoch des Selbstbewusstseins verlustig und ausser Stande,
die Bedeutung seiner traumartig vollzogenen Handlungen zu er-
kennen.
Er kann deshalb weder moralisch noch rechtlich für dieselben
verantwortlich gemacht, noch kann etwa in diesem Zustand von
ihm eingegangenen Verbindlichkeiten irgend eine rechtliche Gel-
tung zuerkannt werden.
9. Die Krankheit des Herrn Z. muss als eine schwere, indessen nicht
unheilbare erklärt werden.
10. Es ist unerlässlich, dass derselbe für längere Zeit von seinen dienst-
lichen Verpflichtungen entbunden wird und sich einer voraussicht-
lich mehrmonatlichen ärztlichen Behandlung unterwirft,
5*
68 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Auf Grund dieses Gutachtens wurde von disciplinären Schritten
gegen Z. abgestanden und ein mehrmonatlicher Urlaub bewilligt.
Im November präsentirte sich Z. der explorirenden Commission
völlig wiederhergestellt. Er ist körperlich vollkommen wohl, geistig
wieder die alte Persönlichkeit, vollkommen leistungsfähig. Seit Ende
Juli waren keine Symptome des schweren Nervenleidens mehr zu con-
statiren. Z. wurde reactivirt und blieb gesund.
Dritter Aufsatz
(1898).
Die klinische Betrachtung und Beurtheilung der Dämmer- und
Traumzustände hat von der Thatsache auszugehen, dass sie Beactions-
erscheinungen des Bewusstseinsorgans auf unbekannte Veränderungen
desselben darstellen, die bei verschiedenen functionellen und organischen
Erkrankungen des Centralnervensystems episodisch vorkommen können.
Dämmer- und Traumzustand stellen offenbar nur Gradstufen ge-
störten Bewusstseins dar, scheinen qualitativ nicht wesentlich unter-
schieden und können jederzeit in einander übergehen.
Sie lassen sich phänomenologisch den noch physiologischen Zu-
ständen des Halbschlafes und des Traumes zur Seite stellen.
Ob es je dazu kommen mag ihre anatomischen Grundlagen zu er-
gründen, muss dahingestellt bleiben.
Für die klinische Forschung erscheint es immerhin erreichbar,
festzustellen, unter welchen Bedingungen es zur Entstehung von
Dämmer- und Traumzuständen kommen kann, woraus sich dann
diagnostische Kückschlüsse ergeben.
Als Griesinger1) in seinem Archiv I p. 320 in einem Aufsatz
über „einige epileptoide Zustände" zuerst jener Erwähnung that,
kannte man solche Traumzustände nur in einem noch zweifelhaften
I) Griesinger erwähnt das Vorkommen „hallucinatorischer Traumzustände" und
spricht die Ansicht aus, dass „das Gebiet dieser ganz unvollständigen und daher
gar nicht selten verkannten epileptoiden Zustände noch weiter ausgedehnt werden
muss und dass es bisher zum Theil wenig gekannte Krankbeitszustände in sich auf-
zunehmen hat" Leider blieb durch des Meisters jähen Tod die versprochene Schilde-
rung dieser hallucinatorischen epileptoiden Traumzustände der Wissenschaft vorent-
halten.
70 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
klinischen Zusammenhang mit Epilepsie. Daher ihre Bezeichnung als
epileptoider.
Die Bezeichnung dieser Zustände als epilepsieähnlicher charak-
terisirt die Unzulänglichkeit unserer klinischen Kenntnisse hinsichtlich
ihres Wesens und ihrer Bedeutung.
Die fortgeschrittene Erfahrung beweist, dass solche Zustände
auch im Rahmen der Neurasthenie, der Hysterie, des Alkoholismus,
der progressiven Paralyse und der Lues cerebralis vorkommen.
Daraus erwächst die Nöthigung, die klinische Kundgebung dieser
Bewusstseinsstörungen auf der Grundlage dieser verschiedenen Grund-
krankheiten zu ermitteln und eventuell klinische differenzirende
Merkmale ausfindig zu machen.
Gelingt dies, so giebt es keine „epileptoiden" Dämmer- und Traum-
zustände mehr, sondern epileptische, hysterische, neurasthenische u. s. w.
und ist die Möglichkeit gegeben, aus einem episodischen Symptomen-
complex auf die Grundkrankheit einen Rückschluss zu machen.
Das Gelingen eines solchen Versuchs wäre nur unter der Voraus-
setzung möglich, dass, unbeschadet einer einheitlichen Veränderung
m Bewusstseinsorgan als Grundlage dieser Zustände, dieser patho-
logische Reactionsmodus des Gehirns, durch im Spiel befindliche
Neurose oder Gehirnkrankheit, besondere klinische Nuancen aufgeprägt
bekäme.
Die im 1. Heft p. 50—64 dieser Abhandlungen gemachten Ver-
suche, neurasthenische und epileptische Dämmer- und Traumzustände
klinisch von einander zu differenziren, lassen einen solchen Versuch
zwar schwierig, aber nicht aussichtslos erscheinen.
Gelänge es nicht differenzirende Merkmale in den Anfallsbildern
aufzuweisen, so Hessen sich nur das Gesammtkrankheitsbild, zunächst
abgesehen von dem episodischen psychischen Insult, und ev. die Art
und die Umstände, unter welchen diese episodischen Bilder einsetzen,
zur Diagnose verwerthen.
Für die Diagnose der Grund- (neurose) krankheit erschwerend ist
aber hinsichtlich der Epilepsie die thatsächliche Seltenheit gut
charakterisirter epileptischer Anfälle in der Vorgeschichte solcher
Fälle von Dämmer- und Traumzustand, die meist nur anamnestisch
und aus Laienschilderung zu entnehmende Ermittlung solcher Insulte,
wobei es kaum möglich sein wird, solche von Hysteria gravis und von
genuiner Epilepsie auseinanderzuhalten.
Positive Stigmata einer bestimmten Neurose sind hier ebenfalls
nur mit Vorsicht zu verwerthen, da sie das gleichzeitige Bestehen
Dritter Aufsatz (1898). 71
einer anderen Neurose und deren ausschlaggebende Bedeutung für das
concrete Zustandsbild nicht ausschliessen.
Bezüglich Hysterie ist es überdies möglich, dass solche Därnmer-
und Traumzustände monosymptomatisch und dauernd als psychische
Aequivalente von Hysteria gravis-Anfällen vorkommen können.
Bei Zuständen im Anschluss an einen alkoholischen Excess bleibt
vielfach die Frage offen, ob jene die ausschliessliche Folge einer
alkoholischen Intoxication sind oder mittelbar durch Alkoholepilepsie
hervorgerufen.
Hinsichtlich der Umstände, unter welchen diese Dämmer- und
Traumzustände einsetzen, scheint nicht unwichtig, dass die neura-
sthenischen immer durch palpable occasionelle Momente von cerebral
erschöpfender Wirkung (Inanition, Surmenage, Agrypnie u. s. w.) zu
Stande kommen, die hysterischen durch psychische Noxen (Affekt), die
epileptischen spontan durch innere Vorgänge oder durch Alkohol u. a.
mehr organisch wirkende Noxen.
Vorweg scheint es mir auch annehmbar, dass Stupor, wo immer er
vorkommt, epilepsieverdächtig ist. nicht minder das Ausklingen von
Delirien eines traumhaften Zustands durch einen Dämmerzustand.
Für das Studium und die eventuelle Verwerthung der paroxys-
mellen und speciell der psychischen Symptome erscheint die Gewinnung
prägnanter Fälle von Dämmer- und Traumzustand auf sichergestellter
neurotischer bezw. cerebraler Grundlage wünschenswerth.
Epileptische Dümmer- und Traumzustände.
Beob. 7. Am 11. 12. 1897 wurde ein etwa 18 jähriger Bursche auf
einem öffentlichen Platz in Wien polizeilich beanstandet, da er durch
sein Benehmen, Rufen, Gestikuliren Anstoss erregte. Er sprach unauf-
hörlich und ganz unverständlich, anscheinend in verschiedenen Sprachen,
war zu keiner Antwort zu bringen und wollte beständig auf und davon.
Noch vor Eintreffen des Polizeiarztes wurde er von einem Krampf-
anfall befallen, der dem Wachmann als epileptischer imponirte.
Abends 8 Uhr in der Irrenabtheilung im Spital aufgenommen,
war er ruhig, Hess sich entkleiden, ging dann mit einer umgeschlagenen
Bettdecke gravitätisch im Zimmer auf und ab und erklärte auf Fragen,
er sei Kaiser Ludwig IL, Kaiser von Deutschland, König von Preussen.
Er sei hier im Burghof von London, sei geboren in Berlin, spreche
aber nicht deutsch, sondern ungarisch, polnisch und böhmisch. Er
nahm Nahrung, legte sich zu Bett, schlief ein und erwachte am 12. 12.
früh 6 Uhr.
72 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Er hielt nun sofort eine Rede in einer Phantasiesprache, in welcher
sich ungarische und polnische Elemente fanden. Es schien eine Anrede
an das Volk zu sein. In derselben kamen oft die Worte: „Burghof,
shoking, Carl Ludwig II." vor.
In überstürztem Redefluss setzte er durch Stunden seine Ansprache
fort, dabei lebhaft gestikulirend.
In ein Gitterbett gebracht, rief er nach dem russischen Kaiser
und nach einem Säbel, um sich zu befreien. Eine das Zimmer passirende
Wärterin apostrophirte er als „Königin Victoria". Eine Probe seines
überstürzten verworrenen Gedankenganges ist folgende: „wie immer,
Schwurnes und Brog, das ist stummheil, eins, zwei, das ist wisturic,
mastur, ondaweg, schere, schwag, ster, pfui, Schweinstall, shoking,
stowasing, kwengtohaul." Von 10 — 12 Uhr Vormittags Schlaf. Er-
wacht, ist er ruhiger, zugänglicher.
Pat. klein, gracil, blass, schlecht genährt. Cranium H. U. 515 mm,
mit blasig aufgetriebenen Seitenwandbeinen, entschieden rachitisch.
Zähne defect. Temperatur normal, Puls 80, vegetativ kein Befund. Er ist
nach wie vor deutscher Kaiser Carl Ludwig mit Zunamen „Tudor"
Hier ist eine Militärkanzlei. Er möchte Leberknödelcaifee haben.
Heute ist Mittwoch 3. Juli 1826.
Er ist 15 Jahre alt, geboren 1812. Seine Schwester heisst Bertha,
wohnt in Berlin und ist auch Königin von Deutschland. Pat. erinnert
sich vom 1. 7. 97 ab 3 Wochen beim Kaiser von Oesterreich in Wien
gewohnt zu haben. Von den jüngsten politischen Vorgängen in
Oesterreich weiss er nichts. In die Schule ist er in Berlin gegangen.
Es war nur eine Volksschule.
Er macht diese Angaben nur auf eindringliches Befragen, ganz
aifectlos, bemerkt nicht die Widersprüche in seinen Angaben, auch
wenn man ihn darauf aufmerksam macht. Er wundert sich auch nicht,
dass man ihn als König alles Mögliche ausfragt. Aufgefordert, seinen
Namen zu schreiben, schreibt er H. . . . Max geb. in Berlinn, Spittel-
auerlände 6. XII.
Berlin hat 26 Bezirke: 1. Stadt, 2. Aisergrund, 3. Landstrasse,
4. untere Donau, 5. Bodengasse, 6. Margarethen u. s. w.
Neuerlich nach seinem Namen gefragt, erklärt er sich als Carl
Ludwig, der Max H. sei sein Cousin.
Den Rest des Tages verdämmert Pat. Die Nacht vom 12/13.
bringt er in tiefem Schlafe zu.
Am 13. weiss er sich in Wien, heisst anfangs „Srichta Vechte",
dann „Socranechticht auzamyela", geräth wieder ins Reden, das augen-
scheinlich Englisch imitiren soll, hält Ansprachen wie am Vortag, ist
Dritter Aufsatz (1898). 73
neuerlich deutscher Kaiser, im Burghof in London u. s. w. Nach-
mittags betet er andächtig und wiederholt in endloser Wiederkehr
„Herr büsse für uns unsre Sünden und erhebe unsren Stand wieder".
Da Pat. Abends unruhig wird und nicht einschläft, erhält er
Chloral, schläft die Nacht über gut und erwacht am 14. früh als Kaiser
von Grossbrittanien, geb. in Krakau, 26 Jahre alt. Die Umgebung
verkennt er als Fürsten u. s. w. Später ist er wieder deutscher
Kaiser, im Burghof in Dresden.
Er ist heute ruhig, dämmerhaft. Seit man seinen Kopf gemessen
hat, verlangt er öfters nach der ihm gestohlenen Krone. Er spricht
heute fliessend deutsch.
Um 7 Uhr Abends wird Pat. lucid und er heisst Ladislaus Sorit,
ist Friseur, kam vor 3 Wochen, um Stelle zu finden, nach Wien.
Seine Erinnerung bricht am 11. 12. auf einem Spaziergang in der
Stadt ab. Seither Amnesie bis zum 14. Abends.
Seit 3 Jahren hatte er zeitweise „Ohnmachtsanfälle", verlor des-
halb seine Stelle. Seit 1 Jahr schlechter Schlaf.
15. 12. Nach guter Chloralnacht orientirt im Grossen und Ganzen,
aber dämmerhaft. Er beginnt bald wieder zu fabuliren von seiner
Cousine Bertha, der Königin von England, von einem Aufenthalt in
London vor Jahren, wo er mit Cavalieren jagte u. s. w.. Er hält
Personen der Umgebung für Verwandte, Könige u. s. w. Gelegentlich
fragt er den Wärter, ob er nicht die Mutter Gottes in ihrem
rothen Gewände habe weggehen sehen.
Er ist Kaiser von Deutschland, von England und König von
Polen. Kaiser Franz Josef ist sein Onkel.
Heute Abend 3 epileptische Anfälle mit postepilept. Verworrenheit,
in welcher er ausschliesslich polnisch spricht.
Nach guter Chloralnacht ist er am 16. früh lucid, mit summarischer
Erinnerung für die Erlebnisse des Vortags, bis Nachmittags 4 Uhr.
Von da ab Amnesie.
Er erinnert sich, dass er am 11. spazieren ging, plötzlich Kopf-
weh, Schwindel, Erbrechen bekam, von einem Polizisten fortgeführt
wurde, dann ins Spital kam, eine schwarze Median (Chloral) erhielt.
Nun bricht seine Erinnerung ab. Pat. noch recht dämmerhaft und
sich selbst überlassen noch ab und zu in hallucinatorische Verwirrtheit
gerathend.
Bis zum 19. Abends dann lucid, geordnet bis auf gelegentliche
Personenverwechslung.
Am 19. Abends klassischer epileptischer Anfall, mit kurzer post-
epilept. Verwirrtheit.
74 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Am 21. Abends epil. Insult. Nach guter Chloralnacht Wieder-
einsetzen des früheren delirant verwirrten Zustandes.
So bis zum 27. 12. Nun dauernd lucid. mit Amnesie für die
neuerliche Episode. Genesen entlassen am 1. 1. 1898.
Beob. 8. L., Buchbindergeh ülfe, 20 J., erschien am 8. 6. 1897
Morgens beim Staatsanwalt in Wien mit der Erklärung, er habe vor
dem Thor des Landesgerichts einen Mord begangen. Er habe einen
Mann umgebracht, weil dieser ihn verfolgt habe. Er lasse sich nicht
einsperren, sondern nur aufhängen. Man möge ihn sofort justificiren.
Ob denn der Galgen schon aufgerichtet sei?
Bei der Aufnahme in der psychiatrischen Klinik um 3 Uhr Nach-
mittags erscheint L. ruhig, ohne Zeichen von Angst oder Verwirrt-
heit, erkennt sofort, dass er hier in einem Spital sei, weiss aber keinen
Grund dafür. Er macht einen dämmerhaften Eindruck, sein Gedanken-
ablauf ist sichtlich erschwert. Er antwortet aber ganz geordnet auf
Fragen und berichtet in zusammenhängender Darstellung Folgendes:
„Es war heute Nachts gegen 4 Uhr Morgens, als mich ein böser
Traum weckte. Ich träumte, von einem Individuum mit gezücktem Messer
verfolgt zu werden und ihm nicht entkommen zu können. Darüber er-
wacht, konnte ich mich jedoch nicht beruhigen, auch nicht mehr ein-
schlafen, stand um 6 ]/2 Uhr auf und begab mich nach eingenommenem
Frühstück an mein Geschäft, zu welchem der Weg über die Aiserstrasse
führt. Als ich auf die Strasse kam, sah ich, wie mein Traum ange-
zeigt hatte, ein Individuum mit gezücktem Messer auf mich zutreten.
Ich trachtete demselben aus dem Wege zu gehen, was mir aber nicht
gelang. Endlich übermannte mich der Zorn. Ich sprang auf ihn zu,
schlug ihn mit beiden Fäusten derart auf die Schläfe, dass er an-
scheinend todt zu Boden sank. Hierauf begab ich mich, verfolgt von
dem Schimpfen der Leute, auf das nahe Landesgericht, wo ich mich
selbst stellte. Von dem Weiteren weiss ich nichts."
Thatsächlich hat Pat. einen Erinnerungsdefect, der vom Eintritt
ins Landesgericht bis zur Aufnahme in der Klinik reicht und etwa
7 Stunden umfasst.
Pat. glaubt es sei Montag der 7. Nachmittags. Er berichtet noch,;
dass er am Vorabend 2 Glas Bier getrunken habe, was ihm immer
schlecht bekommen sei. Er klagt über Druck im Hinterkopf, an dem
er schon öfters gelitten habe. Percussion daselbst ist leicht schmerz-
haft. Stigmata hysteriae aut Neurastheniae sind nicht aufzufinden.
Er ist kräftig gebaut, schlecht genährt. Der Schädel ist rachitisch,
Dritter Aufsatz (1898). 75
leicht blasig aufgetrieben, Umfang 54.5. Mitten auf dem linkeu Os
parietale findet sich eine 3 cm lange, 0.5 cm breite sagittal gestellte
Narbe mit Knochenrinne, herrührend von einem Trauma im 4. Lebens-
jahre (Rissquetschwunde mit starkem Blutverlust, angeblich durch
2 Tage bewusstlos gewesen). Narbe nicht empfindlich. Das rechte
Ohr kleiner als das linke. Pupillen mittelweit, prompt reagirend.
Keine Gesichtsfeldseinschränkung. Kein Tremor. Negativer Befund
von Seiten des Nervensystems. Vegetativ normal. Kein Fieber. Pat.
verhält sich ruhig, affectlos, schläft gut, spricht spontan nichts, er-
scheint dämmerhaft, in sicli concentrirt, schreckt, wenn angesprochen,
leicht zusammen, antwortet prompt, hält an seinem Wahn fest, lässt
sich nicht belehren, begreift nicht, warum er im Spital sei, da er ja
als Mörder ins Landesgericht gehöre. Er erwartet affectlos seine
Hillrichtung, schreibt geordnete Abschiedsbriefe an Eltern und Ge-
schwister, worin er mittheilt, dass er am Fuss des Galgens stehe.
„Blut will wieder Blut."
11. 6. Bisher unverändert. Heute nach guter Nacht verschlafenes
Wesen, mangelnde Aufmerksamkeit, Klagen über diffusen Kopfschmerz,
Flimmern vor den Augen. Kopf sehr druckempfindlich, rasche geistige
Ermüdung beim Gespräch. Pal. theilt heute dem Arzt vertraulich
mit, er werde morgen behaupten, er habe sich Alles nur eingebildet,
damit man ihn aus dem Spital entlasse. Er sehe keine andere Mög-
lichkeit, ins Landesgericht zu kommen.
Am 12. behauptet Pat. richtig, er habe Niemand ermordet. Auf
die Frage „wann"? fällt er aber sofort aus der Rolle und giebt als
Tag und Stunde des Mordes „Montag um 7 ] 2 früh" an.
Im Lauf des Tages zeigen sich aber offenbar Ansätze zu wirk-
licher Correctur des Wahns, Zweifel an der Richtigkeit der Angaben
und Bestrebungen, einen Ausweg zu finden. So behauptet Pat. Nach-
mittags, das Ganze sei nur eine Sinnestäuschung gewesen, ein Anderer
habe den Mord begangen, er habe nur zugeschaut und sei irrthümlich
als der Schuldige arretirt worden.
Die Entgegnung, dass wenn all dies nur Einbildung gewesen,
sein Geisteszustand hier noch längere Zeit untersucht werden müsse,
erregt Pat. heftig. Er bekommt heftiges Kopfweh, wirft sich aufs
Bett, springt nach einigen Minuten wieder auf. bekennt sich als
Mörder und droht, wenn man ihn nicht entlasse, werde er sich selbst
justificiren. Nach einer halben Stunde wird Pat. ruhig, meldet sich
zu einer Besprechung, erklärt, er habe unter heftigem Kopfschmerz
die ganze vermeintliche Mordscene inzwischen nochmals durchgemacht.
76 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Plötzlich sei er sich darüber klar geworden, dass das Ganze nur ein
in die Wirklichkeit übertragener Traum gewesen sei.
Der amnestische Zeitraum vom 8. Morgens 8 bis Nachmittags 3 Uhr
ist nun ausgefüllt.
Pat. erinnert sich, wie man ihn dem Arzt im Landesgericht vor-
führte, wie ihn Polizeileute bewachten und er endlich ins Spital
gebracht wurde.
Er ist nun ganz lucid, mimisch frei, nicht mehr gehemmt, glücklich
darüber, dass er nur in einem bösen Traum befangen war.
Pat. von gesunden Eltern, selbst ganz gesund bis vor 2 Jahren,
ein braver, fleissiger, solider Mensch. Ein Bruder war geistesgestört.
Pat. berichtet, dass er nach Sturz von einer Treppe Herbst 1895
eine schwere Commotio cerebri hatte. Zwei Tage später stürzte er unter
Flimmern vor den Augen zusammen und blieb 5 ' bewusstlos. Seither
Alkoholintoleranz, oft Flimmern vor den Augen mit diffusem Kopf-
schmerz, in der Dauer von 5' bis zu 6 h. Am 19. 4. 1897 hatte Pat.
ohne greifbaren Anlass neuerlich 2 Anfälle von bewusstlosem Umstürzen
mit prodromalem Augenflimmern gehabt.
Pat. wurde bis zum 18. 6. 1897 auf der Klinik behalten und
beobachtet. Keine neurasthenischen Symptome, keine Masturbation.
Ausser fast täglichen Anfällen von Cephalaea, gegen die Antipyrin
wirksam war, bot Pat. bis zur Entlassung keine Krankheitssym-
ptome mehr.
Beob. 9.1) Am 23. 8. 1878 wurde Josef Maier, Knecht, 40 Jahr
alt, in völlig geistesverwirrtem Zustand auf der Strasse von der
Sicherheitsbehörde aufgegriffen. Er faselte, er sei eiu Wildschütz, habe
Güter in Mexico. Bei der Aufnahme ist er im Bewusstsein tief gestört
weiss nicht Namen noch Wohnort anzugeben. Er sei Wildschütz,
Soldat bei der Marine, hält den Arzt für einen Oberlieutenant. Im
Reinigungsbad füllt er den Mund mit Wasser und sagt ganz ruhig:
„ich ertrinke". Nach seinem Namen befragt, sagt er: „K. K. Kriegs-
marine" Pat. schlief Nachts nicht, behauptete am anderen Morgen,
man habe ihn beständig geschimpft, bedroht, es habe Einer ihm den
Kopf mit dem Säbel spalten wollen. Er habe Feuer gesehen, seine
6 Schiffe seien ihm verbrannt und ein Dorf in Flammen aufgegangen.
Pat. bleibt tief verworren, seiner Lage unbewusst und delirant (Schiffe
verbrannt, Lebensgefahr etc.) bis zum 27. Da schweigt das Delirium,
Pat. ist bis zum 28. noch dämmerhaft und am 28. plötzlich lucid. Er
weiss von allen Vorkommnissen seit dem 23. nur, dass er damals mit
1) Aus m. Lehrb. d. Psychiatrie. 1. Aufl. Bd. III. Beob. 80.
Dritter Aufsatz (1898). 77
dem Brodwagen seines Herrn auf Kundschaft fuhr, dass er noch
mehrere Kunden besuchte, Aerger bei einigen hatte, den ganzen Tag
sich schon unwohl, benommen im Kopf fühlte. Ueber den Verbleib
des (inzwischen aufgefundenen) Wagens wusste er absolut nichts anzu-
geben. Auch dem Herrn war er beim Fortfahren so curios vorge-
kommen.
Pat. hatte einen Säufer zum Vater, litt als kleines Kind an
Convulsionen, später an ohnmachtartigen Anfällen (Schwindel, Angst,
Umfallen), nach denen er sich ganz dumpf im Kopf fühlte. Bis auf
die letzte Zeit habe er solche Anfälle gehabt. Klassische epileptische
Insulte sind nicht festzustellen. Pat. soll äusserst jähzornig sein,
intellectuelle Defecte bestehen nicht. Seine Stimmung ist häufig eine
gedrückte, morose. Er äusserte wiederholt den Wunsch, von der
Welt wegzukommen, da sein Kopf doch nie mehr gut werde. Pat, ist
rhombocephal. Die Pupillen ungleich. Zunge ohne Narben. Die Be-
obachtung ergiebt bis zum 8. 10., an welchem Tage er entlassen wird,
ausser wechselnder Stimmung, häufigem Kopfweh und Schwindel nichts
Bemerkenswerthes.
Beob. 10. Sp., 34 J., gew. Jurist, später Schreiber, wurde am
23. 11. 1870 in der steierm. Landesirrenanstalt aufgenommen, weil er
im Gasthof die Zeche schuldig blieb und als man ihn darum mahnte,
behauptete, der Kronprinz zu sein. Aus der lückenhaften damaligen
Krankengeschichte, aus der wichtige Theile in Verlust gerathen sind,
lässt sich nur entnehmen, dass Sp. in einem dämmerhaften Zustand mit
Intermissionen sich durch Jahre befand, eine träumerische Existenz
bot, sich von der Aussen weit abschloss, hie und da Andeutungen
von Grössenwahn bot. Als ich Pat. am 12. 6. 1873 kennen lernte,
befand er sich in einem Lucid. intervallum und gab befriedigende
Anamnese.
Mutter war neuropathisch, Bruder Epileptiker. Schon in frühester
Jugend entwickelte sich bei Pat, eine phantastisch romanhafte Geistes-
richtung. Er war ein träumerischer Junge, las viel, interessirte sich
nur für Religion und Weltgeschichte, hatte eine rege Phantasie, die
oft mit ihm durchging und so lebhaft Lektüreeindrücke reproducirte,
dass er Mühe hatte, zwischen Einbildung und Wirklichkeit zu unter-
scheiden. Vom 14. bis 24. Jahr grosse masturbatorische Excesse. Vom
21. Jahr ab Erscheinungen von Neurastheuie. 1863 Nachts aus einem
Traum erwacht, hörte er eine Stimme „du bist eine Urkraft, bist Gott".
Kr replicirte „wie kann das sein, das kann ich nicht zugeben". Darauf
antwortete es „wie kannst du daran zweifeln"
78 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Die Sonne ging gerade auf, da kam es ihm vor, dass gerade eine
Schlacht in Polen geschlagen werde und er beten müsse, damit diese
Schlacht gewonnen werde. Er kniete neben seinem Bette nieder und
betete. Dann öffnete er seinen Kasten, fand darin ein Bild, unter dem
geschrieben war „gegrüsset seist du Maria" und „Franz Josef". Es
trieb ihn, dieses Bild an sich zu drücken. Es war lakirt und klebte
an seiner Haut an. Das war ein Wunder. Von diesem Bild ging
ein Wohlgeruch aus. Da erkannte er, dass er eine schöpferische
Kraft sei.
Einige Wochen später, als er mit seinen Angehörigen zu Mittag
ass, kam ihm plötzlich die Idee, es sei der jüngste Tag gekommen.
Es fielen Sterne vom Himmel, Figuren erschienen, kleine Kinder „wie
Würmer" krochen auf dem Boden herum. Nun verdunkelte sich sein
Gesichtsfeld und sein Bewusstsein schwand. Er erfuhr hinterher, dass
er gezuckt und gezappelt habe, Schaum vor dem Mund hatte und man
ihm aus Sorge, er könnte die Zunge zerbeissen, einen Löffel zwischen
die Zähne brachte.
Ein solcher Anfall wiederholte sich 1865 und 1868. Seit dem
ersten Insult will er anfangs seltener, später immer häufiger und
länger in eigentümliche Zustände von Umdämmerung gerathen sein,
in welchen er sich gehoben, die Aussenwelt so kleinlich fühlte, sich
wie ein Dichter vorkam und vermeinte, viel besser und genialer zu
sein, als seine Lieblingsdichter Schiller und Goethe. Allmälig ent-
wickelte sich in diesen Dämmerzuständen die Idee, sein Vater sei der
Kaiser und er folgerichtig der Kronprinz.
Auf der Höhe solcher Delirien wandelte sich ihm die Aussenwelt
entsprechend um. Er bemerkte, dass man ihn respectvoll grüsste,
hielt die Anderen für seine Höflinge u. s. w. Dazwischen kamen
wieder Zeiten des Zweifels, relativer Klarheit und Einsicht. Er kam
sich verrückt vor und grübelte nach, wer er denn eigentlich sei. Die
expansiven Delirien wurden immer mächtiger. Gleichwohl wahrte er
den Schein geistiger Gesundheit und vermochte durch Jahre noch sich
als Diurnist bei einem Advokaten zu behaupten.
Da er aber in seinem Wahn Kronprinz zu sein der Meinung war,
er dürfe nur im ersten Gasthof speisen, kam er mit seinen bescheidenen
Geldmitteln in Widerspruch.
Eine Zeitlang trat in seinen psychischen Ausnahmszuständen,
statt des obigen, der Wahn auf, Enkel Pio nono's zu sein.
Eines Tags seien diese Wahnideen, ebenso plötzlich wie sie ange-
flogen waren, wieder von ihm gewichen. Der letzte Dämmerzustand
habe fast ein Jahr bestanden. Jetzt klingen seine früheren Delirien
Dritter Aufsatz (1898). 79
nur noch im Traume an. Er erkenne jetzt aber klar, dass es Täu-
schungen waren, er habe „doppelte Ohren und Augen" gehabt. Er habe
früher in einer „ideal verrückten" Welt gelebt. Die ideale sei schöner
gewesen als die wirkliche, er ziehe aber doch die Eealität vor, denn
sie sei gleichbedeutend mit geistiger Gesundheit.
Er müsse aber immer noch auf seiner Hut sein, denn von Zeit
zu Zeit komme noch eine momentane Verfinsterung, sodass er in Gefahr
stehe, in seinen Wahn zurückzusinken. Er fühle sich jetzt ganz wohl
und komme sich wie neugeboren vor. Ausser constitutioneller Anämie
fanden sich an Pat. keine körperlichen Störungen vor. Ich beschäftigte
den mittellosen und schonungsbedürftigen Reconvalescenten in der
Kanzlei, hatte so Gelegenheit ihn täglich zu sehen. Er war ein
tüchtiger Scribent, bot niemals mehr Entgleisungen in das Gebiet der
Delirien, blieb aber ein stiller, in sich verschlossener, träumerischer
eigenartiger Mensch.
Am 21. 3. 1894 erschien in meiner Sprechstunde ein Herr, Kaufmann.
31 J. alt, verheirathet, dessen Krankheitsgeschichte in vieler Beziehung an
den vorausgehenden Fall erinnert. Herr X klagte , dass er seit etwa
10 Jahren zeitweise von dem „dummen" Wahn geplagt sei, er wäre Kaiser
von Afrika. Er sei dabei in einer eigentümlichen Geistesverfassung,
dämmere herum, sei zu keiner Arbeit brauchbar, appercipire die Aussenwelt
nur in ganz vagen Umrissen, sei ganz von der Kaiseridee und Ideen sein
Reich zu regieren beherrscht, äusserlich dabei aber wenig auffällig, sodass
er bisher unbeanstandet durchs Leben gekommen sei. Plötzlich komme er
dann wieder zu sich, zur Wirklichkeit und habe dann nur höchst vage Er-
innerung für das in diesen Dämmerzuständen Erlebte. Solche Anfälle
kommen fast jede Woche, gehen regelmässig mit Kopfschmerz einher, sind
sich typisch gleich und dauern selten länger als einige Tage.
Seit einigen Jahren habe er fast beständig intervallär Angstgefühle,
die sich zuweilen zu einer förmlichen Angstkrise steigern. Dann ziehe es
ihn geradezu ins Wasser. Dreimal sei er schon in solchem Zustand in die
Donau gesprungen, aber im kalten Wasser sei er jeweils gleich wieder zu
sich gekommen und sei ans Land geschwommen.
In der Familie des Pat. ist mehrfach Irrsinn und Selbstmord vorge-
kommen. Er ist submicrocephal (53.5 cm) und versichert, bis zum 12. Jahre
viel an Convulsionen gelitten zu haben. Nachforschungen nach Epilepsie
hatten ein negatives Resultat, jedoch standen mir nur die Angaben des
Pat. und eine einmalige Consultation zur Verfügung. Dagegen war er in
hohem Grade mit Neurasthenie behaftet. Ich gewann den Eindruck, einen
Epileptiker vor mir zu haben und verordnete Brom.
80 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Dämmer- und Traumzustände auf neurastkenischer Grundlage.
Hinsichtlich der Häufigkeit des Vorkommens stehen die neura-
sthenischen Dämmerzustände zunächst bei den epileptischen. Bei der
grossen Zahl von bezüglichen Beobachtungen, ') die ich im 1. Hefte dieser
Arbeiten veröffentlicht habe, kann ich mich hier auf einige wenige
weitere Fälle, die klinisch interessant sind, beschränken. Trotz der
ansehnlichen bereits vorliegenden Casuistik scheint es kaum möglich,
schon jetzt aus dem Dämmer- oder Traumzustand als solchem die zu
Grunde liegende Neurose zu erschliessen, bezw. zu einer differentiellen
Diagnostik jenes Zustandes klinisch vorzudringen. Das Schwergewicht
muss diagnostisch vorläufig auf Entstehung, Verlauf des Anfalls und
die Begleiterscheinungen der betr. Neurose gelegt werden.
Dies gilt nicht bloss hinsichtlich der Unterscheidung neurasthe-
nischer und epileptischer Zustände, die ich in Heft I p. 50 — 64 ver-
sucht habe, sondern auch hinsichtlich anderweitiger Kategorien von
solchen Zuständen. Nur bei solchen hysterischer Provenienz kann
die Diagnose mit einem Griff eventuell gemacht werden, indem der
Dämmer- oder Traumzustand Aequivalent eines Hysteria gravis-
Anfalls sein kann und durch Beizung einer hysterogenen resp. spas-
mogenen Zone plötzlich coupirt werden mag. Wie unsicher die
differentielle Diagnose der Dämmerzustände noch ist, lehrt ein im An-
schluss folgender Fall von Raymond, den ich bestimmt als solchen
von neurasthenischem Gepräge ansprechen muss, während der er-
fahrene Autor ihn als „transitorische Hysterie" und „dedoublement de
la personnalite" auffasst.
Beob. 11. L., 28 J., Eisengiesser , wurde am 7. 1. 1882 der
psych. Klinik in Graz übergeben, weil er in ganz dämmerhafter Ver-
fassung, mit augenscheinlichen Absichten sich umzubringen, am Fluss
herumgeirrt sei.
Pat. ist bei der Aufnahme in einem Dämmerzustand. Er delirirt
von einer Menge Ertrunkener, die er gesehen. Einen derselben habe
er mit Stroh gerieben. Er sei wieder zu sich gekommen und habe
ihn angepackt. Pat. verdeckt sich die Augen. Er dürfe nicht nach
der Mauer schauen, weil da ein geschwärzter Mann stehe, der wie ein
Eisenarbeiter aussehe und ihn seit gestern verfolge. Darüber in
grosser Angst sei er planlos umhergeirrt, der Mann ihm immer nach.
Da sei er in seiner Angst und Verzweiflung ans Wasser, um sich zu
ertränken. Dort habe man ihn ergriffen und hieher gebracht.
1) Arbeiten Heft I. Beob. 1—4, 9-15, 17—25.
Dritter Aufsatz (1898). gl
Pat. bleibt in diesem Zustand bis zum 9. 1., schläft etwas, wird
mimisch freier, constatirt, dass der entsetzliche Manu nicht mehr da
sei, sucht sich zu orientiren, glaubt aber nicht, dass das ein Spital sei.
Zu Hause sei er freilich nicht. Er klagt Angst, Druck auf der Brust,
Gefühl als ob der Kopf in einer Presse sei, wüsten Lärm.
Am 11., nach gut durchschlafener Nacht, ist Pat. ganz lucid und
giebt ausführliche Anamnese.
Keine Heredität, keine Convulsionen in der Kindheit. War nie
Potator. Vita sexualis geordnet. Pat, weit in der "Welt herum-
gekommen, geschickter Arbeiter. 1880 Cholerine und später Inter-
mittens. Seither intolerant gegen Alkohol, bei der anstrengenden
Arbeit im Gusshaus, die er früher leicht ertragen, oft Kopfschmerz,
Schwindel. Seither auch ab und zu grundlose Aengstlichkeit. aber
ohne Bewusstseinstrübung.
Seit Dec. 1881 regelmässig schwere Träume, meist von Feuers-
brunst, oft so lebhaft, dass er aufgeschreckt ans Fenster eilte und
nocli Feuerschein zu sehen vermeinte.
Seit Weihnacht Ueberanstrengung durch schwere Arbeit, dazu viel
Aerger. Er fühlte sich immer schwächer, zitterte leicht, schwitzte selbst
bei kühler Temperatur, war Morgens beim Aufstehen ganz matt und müde,
hatte heftigen Kopfdruck. Am 31. 12. 1881 grosse Gemüthsbewegung.
Von da ab elende Nächte, mit Träumen von Flug durch die Luft,
Sturz in Abgründe. Unter Tags kaum mehr arbeitsfähig, quälender
Kopfdruck permanent, Aengstlichkeit, Gedankenhemmung, unfähig zu
geordnetem Gespräch.
Am 6. früh hielt er es in der Stube nicht mehr aus. Er sei fort-
gelaufen in die Stadt, planlos. Er erinnert sich dunkel an endloses
Herumwandern in den Strassen, an eine Nachmittagsvorstellung im
Theater, aus der er aber wegen Schwindel und Kopfschmerz fort
musste, an einen Aufenthalt in einem Wirthshaus, an einen Militär-
leichenzug, an die plötzlich aufgetauchte und ganz unmotivirte Idee,
nach Wien zu fahren und an sein Erscheinen im Bahnhof. Wo er
nächtigte, weiss er nicht sicher.
Am 8. früh beginnt ein Erinnerungsdefect, der die ganze hallu-
cinatorische Periode umfasst, bis zum 9. andauert und nicht mehr aus-
gefüllt werden kann.
Pat. bietet in der Folge noch neurasthenische Beschwerden, er-
holt sich unter guter Ernährung und Nachhülfe für seinen schlechten
Schlaf rasch und wird am 28. 1. 1882 psychisch ganz normal und
quoad Neurastheniam sehr gebessert, aus dem Spital entlassen. Irgend
welche Hinweise auf eine epileptische Neurose hatte Pat. nie geboten.
Krafft-Ebing. Arbeiten III. 6
82 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Neurasthenischer Dämmerzustand, dann Simulation.
Beob. 12. Am 29. 10. 1896 gelangte der gew. Beamte S., 25 J.,
led., zur Aufnahme auf der psychiatr. Klinik. Seine Mutter und eine
jüngere Schwester sollen sehr nervös und aufgeregt sein. Pat. war
von Kindesbeinen auf sonderbar. So geschah es, dass er als Schulknabe
andere Kinder zu Wagenpartien einlud, ohne Motiv und ohne Geld.
Bei Ausflügen absentirte er sich ohne Grund und ohne es mitzu-
theilen. Die Notizbücher seiner Geschwister beschmierte er oft ohne
Zweck.
Er war nicht unbegabt, soll beim Militärdienst eine acute Er-
krankung gehabt haben, dabei epileptische Anfälle, und wegen eines
zurückgebliebenen Herzklappenfehlers superarbitrum worden sein.
Er wurde dann im öffentlichen Dienst angestellt, quittirte vor
1 Jahr, weil ihm von seiner Geliebten ein besserer Posten in Aussicht
gestellt wurde.
Von jeher nervös und reizbar, war Pat. im Lauf des Jahres 1896
es noch mehr und deutlich neurasthenisch geworden.
Ende Mai hatte er ein Ciavier auf Ratenzahlung gekauft und es
in demselben Stadtbezirk an einen anderen Ciavierhändler weiterver-
kauft. Es war dies umso auffälliger, weil die Träger beider Clavier-
händler dieselben waren und seine fraudulöse Handlung sofort heraus-
kommen musste.
Er wurde dafür mit 1 Monat Arrest bestraft und hatte seine
Strafe am 29. 10. 1896 antreten sollen.
Seit Anfang October war er zunehmend reizbar und erregt ge-
worden, hatte wiederholt Auftritte mit seiner Mutter gehabt, die ihn
vergesslich, episodisch sogar verworren fand, klagend über einen Mann,
der ihn verfolge.
Am 21. 10., nach einem heftigen Auftritt mit der Mutter, war S.
fortgegangen und nicht mehr heimgekommen.
Am 28. 10. sah ihn die Mutter wieder auf dem Polizeicommissariat,
wohin ihn zwei Freunde geführt hatten, weil er seit einigen Tagen über
Schlaflosigkeit und Druck im Hinterkopf klage, mehrere Morphium-
pulver auf einmal habe nehmen wollen, missmuthig, verschlossen sei
und sich von einem Manne bedroht und verfolgt wähne.
Mit der Mutter confrontirt, erkennt er sie nicht, ist aufgeregt,
verwirrt, bittet den Polizeicommissär um Schutz vor einem Mann, der
ihm überall mit einem Messer auflauere. Er scheint unter der Ein-
wirkung von Alkohol, fährt wiederholt erschreckt zusammen, ist ganz
desorientirt, klagt über Kopfdruck und wird am 29. früh 12'/n auf die
Dritter Aufsatz (1898). 83
Klinik gebracht. Er ist ruhig, wundert sich aber nicht über seinen
neuen Aufenthalt und schläft bald ein.
Er ist am 29. früh nach gut durchschlafener Nacht örtlich
orientirt, zeitlich um einen Tag zurück, wundert sich darüber im
Krankenhause zu sein; er erinnert sich an keine Erlebnisse seit dem
26. 10. Nachmittags bis zum Erwachen am 29. im Spital, behauptet,
unter heftigem Kopfschmerz in einen Ausnahmszustand gerathen zu
sein. Er sei seit dem 21. 10. verfolgt von einem Mann in dunkler
Kleidung, der ihm mit tiefer Stimme gedroht habe.
Dieser selbe Mann habe ihn schon 1893 durch 8 Tage verfolgt,
später noch einmal, jetzt zum 3. Mal.
Er giebt zu, seit längerer Zeit 3—4 Krügel Bier und 3—4 Tassen
Thee mit Rum täglich getrunken zu haben.
Pat. ist leicht dämmerhaft, Miene verschleiert. Klagen über
heftigen stechenden Kopfschmerz.
Gross, mager, gracil, Schädel asymmetrisch, Cf. 55. Ohren leicht
degenerativ. Kopf auf Percussion schmerzhaft, Wirbelsäule leicht
druckempfindlich. Ausser feinwelligem Zungentremor keiu Zittern.
Keine Zeichen von Alkoholismus. Pupillen mittelweit, gleich, von
sehr prompter Eeaction. Tiefe Reflexe an OE. und UE. sehr lebhaft.
Mitralinsufficienz. Residuen einer Pericarditis. Harn eiweiss- und
zuckerfrei.
Pat. isst und schläft die folgenden Tage gut. Er ist geordnet,
aber leicht gehemmt, schwer besinnlich, in seiner Zeitrechnung constant
um 1 Tag zurück. Er klagt andauernd Kopfdruck, schätzt am 2. 11.
seine Anwesenheit in der Klinik auf 14 Tage, localisirt schlecht in
der Vergangenheit, bleibt amnestisch für die Zeit vom 26.-29. 10.
Sonderbares Schwanken der Erinnerung für weitab hinter der Krank-
heitsperiode liegende Ereignisse. So weiss er z. B. am 2. 11. nichts
von Crimen und Strafe, während er am 31. 10. sich dessen erinnerte.
Am 4. 11. weiss er nur von den Erlebnissen des 3. und 2. 11.,
nicht aber von den weiter zurückliegenden Tagen und seiner Ver-
urtheilung.
Pat. klagt noch andauernd Kopfschmerz und Abgeschlagenheit.
Das Benehmen des Pat. wird der Simulation verdächtig. Dass er
vom 26. — 29. 10. in einem neurasthenischen Dämmerzustand gewesen
ist und noch jetzt Spuren von Neurasthenie bietet, kann keinem
Zweifel begegnen, aber das beständige Schwanken seiner Erinnerungs-
defecte in ihrer zeitlichen Begrenzung, seine angebliche Amnesie für
sein Delikt im Juli und die Verurtheilung im August waren bei dem
doch vor dem 21. und seit dem 29. October nicht psychisch krank Ge-
6*
g4 Ueber Däinmer- und Trauuizustände.
wesenen nicht erklärbar. Es war auch auffallend, dass Pat, bei der
Visite jeweils still, gedrückt war, über Kopfweh klagte und sich auf
den Schwerkranken herausspielte, während er in Abwesenheit der
Aerzte das grosse Wort führte, bramarbasirte, die Anderen terrorisirte
und ein eifriger Kartenspieler war.
Am 25. 11. theilte ein Mitpatient vertraulich mit, dass S. ihm
gesagt habe, er halte die Aerzte zum besten, simulire nur sein Leiden,
um dadurch der über ihn verhängten Strafe zu entgehen. Als man
ihn einige Tage später mitten in einer lustigen Gesellschaft ausge-
lassen trifft und ihm den Contrast seines Benehmens während der Visite
vorhält, wird er verlegen und redet sich damit aus, er fühle sich seit
heute genesen und deswegen so aufgeräumt. Er weiss nach wie vor
nichts von Delict und Strafe, ist zeitlich nicht ganz orientirt und
behauptet seit 8 Wochen (recte 5) hier zu sein.
S. wird als Simulant entlassen. Er begeht in der Folge mit einem
anderen Gauner eine Reihe raffinirter Hochstaplereien, wird deshalb
im Juli 1897 verhaftet und der verdienten Strafe zugeführt,
Beob. 13. Z., 30 J., kleiner Beamter in Nancy, stammt von einem
Vater, der in seiner Jugend Nachtwandler war und einer geistesbeschränkten
Mutter. Ein Bruder des Pat. war in seiner Jugend ebenfalls Nachtwandler
und wurde später Säufer.
Pat. war von jeher emotiv. Mit 16 Jahren machte er über ungerechter
Beschuldigung, einen Diebstahl begangen zu haben, einen pathologischen
Affectzustand durch. Seit dem 17. Jahre schreckhafte Träume. Aufregende
bewegte Existenz in der Folge. Mit 22 Jahren längere Zeit Malariaanfälle
mit Delirium. Mit 24 Jahren Heirath. Baldiger Verlust der Frau. Mit
26 Jahren zweite, glückliche Ehe. Bescheidene aber sichere Stellung. In
den letzten Jahren geistige Ueberanstrengung. Seit Januar 1895 Berufs-
neurasthenie des fleissigen soliden Mannes. Im gleichen Monat heftiger Shok,
indem sein Bruder ihn irrthümlich in einem Briefe einer unehrenhaften
Handlung beschuldigt und ihm mit einer gerichtlichen Anzeige gedroht
hatte. Diese Anschuldigung war ihm seither beständig durch den Kopf
gegangen. Gedanken an Polizei, Flucht hatten ihn im Traum und Wachen
gequält. Dabei neurasthenische Gedächtnissschwäche und Kopfweh.
Am 3. 2. 1895 sass Pat. im Cafe. Er hatte (gegen seine Gewohn-
heit) mehrere „Bock" und überdies ein Glas Wermuth getrunken. Es
herrschte grosse Kälte. Er wollte heim zum Mittagessen. Da bekam er
heftigen, schmerzhaft schnürenden Kopfdruck, und nun setzte ein Dämmer-
zustand ein, aus welchem er 8 Tage später, am 12. Februar Abends 11 Uhr
in der Nähe von Brüssel, zunächst mit Amnesie für Alles inzwischen Vor-
gefallene sich wiederfand. Er sucht sich zu orientiren, was ihm endlich
gelingt. Er reist nach Paris, ist dort noch dämmerhaft, hat Kopfdruck
u. a. neurasthenische Beschwerden. Dort trifft er seinen Bruder, der ihm
mittheilt, dass er ihn ungerecht im Januar einer unehrenhaften Handlung
Dritter Aufsatz (1898). 85
beschuldigt habe. Von diesem Moment fühlt sich Pat. wieder klar und
frei im Kopf. In den letzten Tagen vor diesem Zusichkommen hatte er im
Traum Nachts Reden geführt, „gut, abgemacht", die man ihn im Selbstge-
spräch, unmittelbar ehe er in jenen Dämmerzustand verfallen war, hatte aus-
sprechen hören. In seinen Bemühungen, den amnestischen Abschnitt des
Anfalls aufzuhellen, fand Z. einen Zettel unter seinen Effecten, auf welchem
ihm ein Unbekannter die Adresse einer Maison charitable in Brüssel auf-
geschrieben hatte. Mit Hülfe dieses Zettels, bezw. der dadurch geweckten
Associationen, gelang es Z., eine summarische Erinnerung für die Erlebnisse
dieses Dämmerzustandes zu gewinnen. Er erinnerte sich nun nach dem
Verlassen des Cafes am 3. 2. Mittags eine Frau in Trauer auf der Strasse
getroffen und sich ihr angeschlossen zu haben. Er ging mit ihr in einen
Gasthof, nächtigte mit ihr, schämte sich am anderen Morgen dieses Aben-
teuers und dass er die Bureaustunde versäumt habe, wurde ängstlich, ging
auf die Bahn, löste ein Billet nach Luxemburg, von Furcht getrieben, fuhr
planlos weiter nach Arlon, Brüssel, lebte dort in seinem Dämmerzustand
unbeanstandet, weil richtig handelnd, hörte von Werbung von Soldaten für
Holländisch-Indien, gedachte sich anwerben zu lassen, erinnerte sich seiner
Frau, schrieb einen Brief an sie, zerriss ihn wieder, irrte in der Umgebung
von Brüssel herum, fing an seinen Ausnahmszustand zu fühlen, suchte sich
zu orientiren, was ihm endlich gelang.
Offenbar war der bereits schwer cerebrasthenische Z. am 3. 2. durch
ungewohntes Trinken, Kälte in einen Dämmerzustand gerathen, in welchem
die Herrschaft über bisher corrigirte Gedanken an Flucht verloren ging und
diese sein traumhaftes Handeln bedingten. (Raymond, clinique des malad,
du Systeme nerveux. 1. Serie 1896.)
Dämmer- und Traumzustäude bei Hysterischen.
Beob. 14. Anna H., 14 J., wurde am 15. 8. 1896 in einem psy-
chischen Ausnahmszustand auf der Strasse vorgefunden und auf die
psychiatrische Klinik gebracht. Man findet sie ruhig, mit geschlossenen
Augen im Bett. Angesprochen, wird sie unruhig, wirft die Kopfpolster
herum und sagt gereizt „geh weg, du bist nicht meine Mutter, du
hast mich Verstössen, ich gehe in die Donau" Auf alle Fragen erhält
man stereotyp diese Antwort, Endlich bekommt Pat, einen einige Mi-
nuten dauernden hysterischen Krampfanfall (epileptoide Phase). Sie ist
in einer traumhaften Verfassung, reagirt nicht auf Nadelstiche, apper-
cipirt nicht die Umgebung, grimassirt episodisch, reckt die Zunge her-
aus, knirscht mit den Zähnen, spricht gelegentlich vor sich bin „ich
gehe nicht ins Arbeitshaus, ich gehe in die Donau, da komme ich zu
meinem Vater". Pat. ist fieberlos, ohne Befund in den vegetativen
Organen, reagirt nicht auf Druck in der Ovarialgegend. bietet beider-
seits Fussklonus, ist schlaflos, in gereizter depressiver Verfassung, ganz
unzugänglich. Am 20. früh, nach gut durchschlafener Nacht, ist sie
86 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
lucid, orientirt sich sofort, hat Amnesie für die Zeit vom 15. Abends
bis zum 20. früh, glaubt sich am 16. Pat. stammt von einem Vater,
der an „Gehirnerweichung" gestorben sein soll, war gesund bis zum
14. früh, seit einem halben Jahre menstruirt, vertrug sich schlecht mit
der Frau ihres Vormunds, bei dem sie wohnte, hatte von ihr wegen
eines Vergehens am 14. früh eine Zurechtweisung und einen leichten
Schlag auf den Kopf bekommen, war, darüber sehr erregt, zu einer
bekannten Familie S. gegangen und hatte um Aufnahme gebeten, weil
man sie daheim schlage. Sie klagte über Hunger, Schläge, Entbehrung
des Schlafes, weil sie kleine Kinder warten musste, bekam aus Mitleid
Obdach.
Am 14. Abends, als sie schon zu Bett lag, hatte sie zu phantasiren
angefangen, das Bett durcheinander geworfen, die Umgebung verkannt,
sich vor der Pflegemutter gefürchtet und die Absicht geäussert, in die
Donau zu gehen. Nach einiger Zeit war sie ruhig geworden, einge-
schlafen. Am 15. früh hatte die H. über Kopfweh geklagt, sich tief
unglücklich gefühlt und war unter einem Vorwand fortgegangen, wobei
ihr die S. noch einen Sonnenschirm liehen.
Sie lief über eine Stunde weit nach der Donau, unterliess den
Selbstmord, weil sie angeblich der fremde Schirm genirte, dämmerte
in den Strassen herum, gedachte den Tod auf den Schienen einer
Eisenbahn zu suchen, schlief endlich auf der Strasse ein, wo sie von
der Polizei aufgefunden wurde.
Pat. gracil, schlecht genährt, rachitisches Cranium von 52 cm Um-
fang. Nervenstatus normal. Keine Stigmata hysteriae. Menses ver-
laufen vom 23. 8. ab ohne Störung. Am 28. 8. genesen entlassen.
Neue Aufnahme am 11. 12. 1896 Abends. Wurde wegen auffälligen
Benehmens auf der Strasse aufgegriffen. Bei der Ankunft schwere
Bewusstseinsstörung, fehlende Apperception der Aussenwelt, ganz um-
grenzter Ideenkreis, der sich um geplanten Ankauf von Gift dreht. „Ich
weiss Alles, ich kaufe mir's, ich krieg's, ich gehe allein nach Hause."
Pat. ist ganz absorbirt durch innere schmerzliche Vorgänge, absolut
unzugänglich, fast beständig die obigen Sätze vor sich hinmurmelnd.
Fast schlaflos, unerregbar durch äussere Eeize.
Am 15. Abends kommt Pat. plötzlich wie aus einem Traum zu
sich. Auch diesmal hatte ein Affect die Psychose ausgelöst, Am 4.
war Pat. mit der früheren Pflegemutter auf der Strasse zusammen-
getroffen. Diese hatte ihr mit allerlei Schlimmem gedroht.
Im Anschluss Angst, Aufregung. Am 6. in menstruatione Cephalaea,
Erbrechen, Drehschwindel. Von da an schlaflos, arbeitsunfähig. Taed.
vitae.
Dritter Aufsatz (1898). 87
Am 11. Entlassung aus ihrem Dienst, mit Auftrag sich ins Spital
aufnehmen zu lassen. Sie erschien im Ambulatorium, war gedrückt,
klagte Kopfweh, erhielt ein Recept. Unterstandslos, beschloss sie zu
sterben. Sie ging in verschiedene Apotheken und begehrte Cyankali.
Während dieser Suche nach Gift Einsetzen tiefer Bewusstseinsstörung
mit fehlender Erinnerung für alles seither Vorgekommene.
Pat. in der Folge psychisch normal.
Am 1. 12. wird sie still, scheu, klagt diffusen Kopfschmerz. Abends
Anfall von Bysteria gravis.
Arn 2. nach gut durchschlafener Nacht neuerlich in tiefem Traum-
zustand. Endloses Selbstgespräch: „was, warum? sage es nur? wer
will mir aufessen?" Bei Druck auf das 1. Ovarium cessirt das Delir
und stellt sich Katochus in allen Extremitäten ein. der einige Minuten
dauert.
Pat. ist nun partiell seelentaub und seelenblind, appercipirt eine
Milchflasche nur, wenn man ihr mit dieser Flasche das Trinken vor-
macht, trinkt diese dann gierig aus. Lebhafte Beschäftigung mit Pat.
bringt sie immer mehr aus ihrem Traumzustand heraus. Sie erkennt
dann momentan einige Personen. Sich selbst überlassen, versinkt sie
wieder in ihren deliranten Traumzustand. Durch Ovariendruck kann
man das Delir sofort beseitigen und das Bewusstsein etwas aufhellen.
Versuch einer Hypnose misslingt.
Am 5. 12. wird Pat. Abends plötzlich lucid. Sie glaubt es sei der
30. 11. Amnesie für die ganze Episode. Ausser 1. Ovarie keine Stig-
mata byst.
Ursache des letzten Anfalls war die Mittheiluiig eines Besuches,
dass die früheren Pflegeeltern Böses gegen Pat. planten.
Anlässlich der Menses am 12. 12. "Wiederholung dieses Anfalls bis
zum 17. 12.
Seither Ovarie geschwunden. Keine Schwankung des psychischen
Befindens mehr. Am 30. 12. genesen entlassen und gesund geblieben.
Beob. 15. Am 12. 2. 1897 Mittags hatte sich die 18jährige
Spitalwärterin H. auf eine Stunde Urlaub erbeten, war aber nicht
zurückgekehrt, Abends 9 Uhr erschien sie auf dem Polizeicommissariat
mit der Selbstanzeige, sie habe ihren Vater K., Maler, mit Chloroform
vergiftet, da er ihre Verehelichung mit Maler N. nicht habe zugeben
wollen. Sie hatte eine mit Aeth. sulf. halbgefüllte Flasche in der
Hand. Die Recherchen straften die H. Lügen, sie schien nicht geistig
gesund und kam auf die Klinik. Sie verbrachte die. Nacht auf den
13. schlaflos. Ich fand am 13. früh in ihr eine alte Bekannte vor. die
88 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
1894 durch Monate wegen schwerer Hysterie mit allen möglichen An-
fällen bei uns in Behandlung gestanden hatte, endlich genesen und
durch Jahre arbeitsfähig gewesen war.
Pat. war am 13. mimisch tief entstellt, starrte vor sich hin,
reagirte nicht auf die Aussenwelt, erschien traumhaft verloren, anal-
getisch am ganzen Körper und bot keinen Skleralreflex. Allmählich
gelingt es, mit ihr in Eapport zu treten. Sie kennt die Klinik und
die Aerzte nicht, glaubt sich auf dem Friedhof an einem offenen
Grabe. Sie ist ganz auf delirante Vorstellungen concentrirt und zeigt
bedeutende Associationshemmung. Eine Kohlenkiste im Hörsaal der
Klinik hält sie für den Sarg des ermordeten Vaters. Sie erwartet
ganz affectlos ihre Hinrichtung. Es tlmt ihr nicht leid, den Mord be-
gangen zu haben.
Am 13. lässt dieser Zustand traumhafter Hemmung etwas nach.
Pat. findet sich im Spital wieder, aber im — Grabe. Sie hält fest am
Wahn, vor 8 Tagen den Vater mit Chloroform umgebracht zu haben.
Sie klagt Kopfweh ( Clavus) und ist noch ganz dämmerhaft. Am 14. 2.
wird sie rasch lucid. Sie glaubt sich am 11. Für die Zeit vom 10. bis
14. früh fehlt die Erinnerung. Der psychische Ausnahmszustand war
durch Aufregungen wegen einer Liebesaffaire vermittelt. Es Hess sich
constatiren, dass in ihrem Delir Wahres und Falsches durcheinander
geworfen waren. Ihr Vater war nicht vor 8 Tagen, sondern vor
einigen Wochen gestorben und zwar eines natürlichen Todes. Un-
wirklicher Geliebter scheint allerdings ein Maler zu sein. In ihrem
Delir hatte sie aber am 12. 2. zu einer Bekannten geäussert, Dr. X.
sei ihr Geliebter gewesen und habe sie verlassen. Sie müsse sich an
diesem Herrn rächen, man werde sie im Landesgericht wieder treffen.
So lief ein früherer Arzt aus ihrem ersten Aufenthalt in der Klinik,
der sich um sie angenommen hatte, Gefahr, ins Gerede der Leute zu
kommen oder Opfer eines Attentats zu werden! Der Name, den
sie anlässlich ihrer Selbstanzeige als den ihres Vaters angab, war der
des Arztes der Krankenabtheilung, in welcher sie bedienstet ge-
wesen war.
Sie selbst hatte geplant, sich mit Chloroform zu tödten und zwar
weil sie ein böses Gewissen hatte, nämlich wegen Ausbleibens der
Menses sich gravid glaubte, was aber nicht der Fall war.
Pat. hatte übrigens auch im luciden Zustand schon seit längerer
Zeit durch pathologische Lügen und Schwindeleien sich auffällig ge-
macht. So hatte sie u. A. Bekannten gegenüber geäussert, dass sie
ganz allein Operationen im Spital mache.
Pat. verblieb noch einige Wochen im Spital, in physiol. Depression
Dritter Aufsatz (1898). 89
über vermeintliche Gravidität, die durch Wiederkehr der Menses
schwand. Psychopathische Zustände wurden nicht mehr beobachtet,
Beob. 16. E., 22 J., Techniker, ging am 23. 9. 1895 von Hause
fort unter Zurücklassung eines Briefes, in welchem er die Absicht
äusserte, sich zu tödten. Auf diesem Todes weg erlitt er in der Um-
gebung von Wien am gleichen Tage einen Hysteria gravis- Anfall mit
folgendem tobsuchtartigem Delir.
Nachdem sich dieser Anfall am 24. wiederholt hatte, brachte man
Pat. auf die psychiatrische Klinik.
Wir fanden ihn am 25. früh verstört, im Bewusstsein tief getrübt,
gehemmt, desorientirt, delirant. Auf alle Fragen bekam man nur die
stereotype Antwort „Marie ist gestorben". Gelegentlich wendete er sich
zu einem Bettnachbar und sagte „der nennt mich Grossherzog von
Toscana, ich bin es aber nicht'-. Endlich nennt er seinen Namen,
seinen Beruf „Stenographie", sein Alter „vingt deux". Im Uebrigen
verharrt er apathisch, schweigsam, schlaflos in seinem Bette. Tempe-
ratur normal, vegetative Organe ohne Befund.
Keine Stigmata irgend welcher Neurose.
Am 27. 9. kommt Pat. plötzlich aus diesem Traumzustand heraus,
mit Amnesie, die vom 23. bis dato reicht und auch das Schreiben des
Briefes umfasst. Dem Ausbruch der Psychose ging einige Tage lang
Kopfdruck voraus. Er klagt noch jetzt über Gefühl eines eisernen
Reifs um den Kopf.
Der r. N. occipitalis und die untere Dorsal Wirbelsäule sind druck-
empfindlich. Sonst leichte Hypästhesie und bedeutende Hypalgesie
am ganzen Körper. Concentr. Gesichtsfeldeinschränkung.
Pat. entstammt einer schwer belasteten Familie. Er war von
jeher nervös, emotiv, schreckhaft. Seit Mitte August, wo seine Ge-
liebte an puerperalem Wahnsinn erkrankt war, schwere Emotionen,
die wohl die Ursache seiner eigenen psychischen Erkrankung waren.
Er hatte die Geliebte schon einige Tage post partum coitirt, diesem
Umstand die Erkrankung derselben beigemessen, geglaubt sie werde
sterben, sich also für ihren Mörder gehalten. Seither mehrere Hy-
steria gravis- Anfälle, die auch in der bis zum 6. 12. sich erstreckenden
Beobachtungszeit massenhaft wiederkehrten.
Beob. 17. W.. 16 J., Tabakverkäuferin, aus gesunder Familie,
bisher gesund, war verfeindet seit längerer Zeit mit einer im gleichen
Hause wohnenden Frauensperson, die aus Rache sie bei der Polizei
wegen unsittlichen Lebenswandels angezeigt haben soll. Thatsächlich
90 Ueber Dämmer- und Traurazustände.
wurde die W. ganz plötzlich und zu ihrer grossen Bestürzung am
11. 10. von der Polizei abgeholt, ärztlich untersucht, mit Gonorrhöe
behaftet befunden und einer entsprechenden Abtheilung im Spital zu-
geführt. Dort am 12. aufgenommen, war Pat. sofort auffällig durch
Aufregung, Unruhe, Desorientirtheit, gefährliche Drohungen, einen
hysterieartigen klonischen Krampfanfall in den Extremitäten und
wurde deshalb noch am gleichen Tage der psychiatrischen Klinik
übergeben.
Sie erscheint daselbst im Bewusstsein schwer gestört, dämmer-
traumhaft, verkriecht sich angstvoll bei Annäherung der Aerzte, redet
sie mit „Du" an und bittet ihr nichts zu thun. Sich selbst überlassen,
fabulirt sie vor sich hin von ihrem vielen Gelde, erwartet ihre Mutter,
um mit ihr nach Philippope], Athen. Pistyan zu reisen. Ihr ganzes
Denken ist auf diesen engen Vorstellungskreis concentrirt, Ihren
Namen giebt sie mit „Marie, Edle von . . . ." an. Sie ist ruhig, affect-
los, stiert vor sich hin, schläft wenig, nimmt die ihr vorgesetzte Nah-
rung, klagt heftigen Kopfdruck („Stein im Kopf), bietet Hippus, sehr
gesteigerten Patellarreflex. Die Dorsalwirbelsäule ist höchst druck-
empfindlich. Stigmata hysteriae sind nicht aufzufinden. Ganz traum-
hafter Bewusstseinszustand. Sie glaubt sich bei ihrer Tante, verkennt
eine Mitpatientin als diese, einen der Aerzte als Mann jener Frau,
glaubt sich seit 4 Monaten hier, datirt den 30. 1. 1892, nimmt keine
Kritik an, ist förmlich gebannt in ihren traumhaften Ideenkreis, wieder-
holt endlos „fort muss ich, will meine Kleider, um 60 000 Gulden kaufe
ich mir ein Haus, die Mutter geht mit, ich reise nach Philippopel, Athen,
um 6 Uhr kommt die Mutter, um 9 Uhr geht der Zug". Verstörte,
verworrene, affectlose Miene. Kein wirkliches Bestreben fortzukommen.
Episodisch Idee, sie sei eingesperrt, unschuldig zu 48 Stunden Ge-
fängniss verurtheilt. Beständig Klagen über den Kopf. Es sind Steine
drin, Wasser, man hat es hier hineingeschüttet. Man drückt ihr den
Kopf mit einer Maschine. In dieser traumhaften Verfassung verbleibt
Pat. bis zum 23. 10. Der Wahn schwindet. Sie weiss sich in einem
Krankenhause. Pat. bleibt aber dämmerhaft, sie hört vom 1. 11. ab
öfter ihren Namen rufen, sich beschimpfen, drängt fort, um die Person,
welche sie der Polizei denuncirt hat, tödten zu können. Sie wird
hier zu Grunde gerichtet, der Kopf ihr mit Maschinen zusammenge-
presst. Ihre Mutter ist todt (obwohl sie täglich zum Besuch kommt).
Dieser Dämmerzustand reicht bis zum 8. 12. Pat, ist nun einige
Tage lucid, corrigirt, hat nur ganz summarische Erinnerung. Nun
entwickelt sich eine selbständige Melancholie mit Selbstanklagen
theatralischen Gepräges. Sie hat leichtsinnig gelebt, ist die schlech-
Dritter Aufsatz (1898). gj
teste Person auf dieser Welt, macht in ganz theatralischer Weise
einen leichten Suicidversuch, damit das „schlechte Blut" herauskommt.
Nach wie vor keine Stigmata hysteriae. Versetzung in eine Irren-
anstalt. Dort Genesung nach einigen Monaten. Im Sommer 1896
sehr activ in einem Weinrestaurant in ..Venedig in Wien'-.
Beob. 18. P., 26 J., gew. Krankenwärterin, ist hereditär schwer
belastet, von jeher jähzornig, höchst emotiv, in ihrer Stimmung sehr
labil, bald depressiv bis zu Taed. vitae, dann wieder ausgelassen.
Menses mit 17 Jahren, jeweils mit Schmerzen, ohne gynäkologischen
Befund. Ausser an Convulsionen als Kind und Typhus mit 21 Jahren
nie schwer krank gewesen. Gegründeter Verdacht auf bestehende
conträre Sexualempfindung. Seit der Pubertät häufig Weinkrämpfe.
Wiederholt in den letzten Jahren pathologische Zornaffecte bis zu
Toben und Suicidversuchen, mit Amnesie.
Erste Aufnahme in der Klinik im Ansehluss an pathol. Affect, in
dem sie sich Schnittwunden an den Armen zugefügt, einen Sprung
durchs Fenster unternommen und dadurch complicirte Fractur beider
Unterschenkel zugezogen hatte. Sie bot Clavus. Globus. 1. Hemihyper-
ästhesie und Ovarie, Stimmungswechsel, sah gelegentlich das Bett voll
Schlangen.
Im Verlauf entwickelt sich Ataxie, die ziemlich hartnäckig ist.
Am 6. Juni 1895 mit geringfügigen restirenden Gehstörungen entlassen.
Am 13. 6. 1895 wird Pat. Nachts 11 Uhr in schwerer Bewusst-
seinsstörung mit einem Fläschchen in der Hand auf der Strasse, be-
troffen. Sie jammert über von ihr begangene Mordthaten, bezichtigt
sich mehrerer Morde, die in den letzten Jahren in Wien vorgekommen
sind. Sie habe auch ein grosses Tram way Unglück auf dem Gewissen,
werde zur Strafe ihrer Sünden jetzt lebendig eingemauert. Man möge
sie nicht lange leiden lassen. Die linke Hand ist roth gefärbt (Fuchsin?),
riecht nach Phosphor. Die rothe Farbe ist Blut von ihren Mord-
thaten.
Keine Zeichen einer Vergiftung (Magenausspülung). An der Klinik
theatralisch affectvolles Gebahren. Angst, Verzweiflung. Händeringen,
Zittern am ganzen Körper, in Erwartung ihrer Verurtheilung.
Pat. schlaflos, aus ihrem deliranten Ideenkreise nicht ablenkbar,
ganz unbeinflusst durch die Vorgänge in ihrer Umgebung, die von
früher her bekannten Bäumlichkeiten und Personen nicht erkennend.
In derart dämmerhaft-traumhafter Verfassung, ganz unzugänglich,
fast gar nicht schlafend, verharrt Pat. bis zum 22. 6. An diesem Tage
kommt sie plötzlich wie aus einem Traum zu sich, hat nur eine vage
92 Ueber Dämmer- und Traumzustände.
Erinnerung von ausgestandener grosser Angst, ist aber im Uebrigen
amnestisch. Ihre Erinnerung bricht am 13. 6. plötzlich ab. Sie weiss
nur - noch, dass sie an der Fronleichnamsfeier theilgenommen hat, ge-
drückt, besorgt wegen ihrer Zukunft war. Irgend eines ursächlichen
Moments für den Anfall transitorischer Geistesstörung ist sie sich
nicht bewusst. Pat. ist nun lucid, aber gedrückt, nervös. Am 26., 28.
und 30. 6. tritt nochmals der frühere Ausnahmszustand auf, dauert
aber nur einige Stunden und hinterlässt jeweils Amnesie. Von nun
an gewinnt Pat. allmählich ihr relatives psychisches Gleichgewicht
wieder und wird Ende Juli 1895 genesen entlassen.
Eine weitere und beachtenswerthe Möglichkeit für die Entstehung
von Dämmer- und Traumzuständen bei Hysterischen ist die Leichtig-
keit, mit welcher zahlreiche solche Kranke in Autohypnose gelangen.
Dies geschieht spontan durch individuell wirksame Sinnesreize oder
Vorstellungen, namentlich wenn die Patienten emotionirt sind, oder,
mit der Sicherheit eines Experiments, sobald eine posthypnotische
Suggestion zur Ausführung gelaugt. In diesem Ausnahmszustand, der
wieder verschiedene Modifikationen bieten kann, ist ein sehr compli-
cirtes Handeln auf eigenartiger, jedenfalls traumhafter Stufe möglich,
indem im Rahmen des suggestiv erschlossenen Vorstellungskreises die
Associationen ungestört stattfinden. In meiner „experimentellen Studie
auf dem Gebiet des Hypnotismus" 3. Aufl. sind diese Zustände ein-
gehend studirt worden.
Ich verweise auf S. 7, 13 dieser Schrift (Diebstähle in Auto-
hypnose), planloses Herumlaufen (S. 7, 14, 46), Selbstmordversuch (S. 39),
Eintreten solcher Zustände mit der Leistung einer posthypnotischen
Suggestion (S. 42 — 46).
Analoge Erfahrungen haben mitgetheilt: Pitres, le^ons cliniques
sur l'hysterie II p. 268 ; Proust, Bulletin med. 1890 p. 107 ; Voisin, se-
maine medicale 1889. 10. August; Tissier, les alienes voyageurs 1877.
Diagnostisch wichtig ist der Umstand, dass man auf hypnotischem
Wege bei den betreffenden Individuen denselben Ausnahmszustand und
damit das Gedächtniss für das in Autohypnose Erlebte hervorrufen
kann. Ein solches Experiment beweist sicher die autohypnotische
und damit hysterische Bedeutung eines Dämmer- und Traumzustandes.
Dritter Aufsatz (1898). 93
Alkoholische Traumzustände.
Die nähere Kenntnis» derselben verdankt man Crothers (the trance
State in inebriety Hartford 1882), welcher nachwies, dass auch bei
Trunksüchtigen Dämmer- und Traumzustände nach Art der epilep-
tischen Aequivalente, bezw. des Somnambulismus vorkommen, Zustände,
in welchen die Betreffenden anscheinend ganz bei sich sind, complicirte
Handlungen vollziehen, aber, aus diesem Zustand zu sich gekommen,
von allem Vorgefallenen nicht das Mindeste wissen.
In diesen Zuständen von einer Art Traumwachen werden die ge-
wohnten Geschäfte besorgt oder auch dem gewöhnlichen Leben ganz
fremde, selbst verbrecherische Handlungen begangen.
So theilt Crothers den Fall eines Eisenbahnconducteurs mit, der
in solchem Zustand correct amtirte, aber von dem während desselben
Ausgeführten sich keine Rechenschaft zu geben wusste.
Ein Anderer, ein Arzt, ging in seinen Anfällen, ganz gegen seine
Gewohnheit und Denkweise, regelmässig in religiöse Meetings, hielt
dort Reden, in welchen er sich als Sünder gerirte und Busse predigte.
Ein Weiterer, Jurist, machte regelmässig im Anfall sein Testa-
ment. Ein Lohnkutscher nahm fremde Pferde von der Strasse weg
und führte sie in seinen Stall. In meinem Lehrbuch der gerichtl.
Psychopathol. 3. Aufl. S. 199 findet sich ein der russischen Literatur
entnommener interessanter Fall von Mord der Ehefrau in solchem
alkoholischem Samnambulismus. Neuerliche Trunkexcesse scheinen
der Wiederkehr solcher Trancezustände förderlich.
Die Frage, ob diese genuine alkoholische Zustände sind und nicht
vielleicht hysterische oder epileptische Aequivalente (vermittelt durch
Alkoholepilepsie) ist noch unentschieden.
Die beiden folgenden Fälle, aus meiner Erfahrung entnommen, sind
geeignet, diese Dämmerzustände bei Potatoren zu illustriren.
B e 0 b. 19. L., 39 J., Branntwein verschleisser, kam am 28. 8. 1894
aufs Polizeicommissariat und stellte sich als König Ottokar von Böhmen
vor. Er war verwirrt, erregt, wurde noch an demselben Tage Abends
der psych. Klinik übergeben. Er betrat sie lucid, berichtete, er sei
am 28. Morgens seinem Beruf nachgegangen, habe um 9 Uhr 2 Gläschen
Branntwein getrunken und wisse über alles seither bis zur Verbringung
ins Spital Vorgefallene nicht das Mindeste. Er scheint den Tag über
herumgedämmert zu sein.
Pat. bot bei der Aufnahme keine Zeichen von Trunkenheit. Er
giebt zu und seine Frau bestätigt es, dass er Gewohnheitstrinker sei.
94 Ueber Däramer- und Traumzustände.
Bezüglich seiner curiosen Wahnidee weiss er nur mitzutheilen. dass
er vor 15 Jahren durch 2 Monate Statist an einem Theater war,
als solcher 14 Mal bei der Aufführung des bekannten Stückes von
Grillparzer „König Ottokar's Glück und Ende" mitwirkte, welches
Stück damals grossen Eindruck auf ihn gemacht habe.
Als Kind „Gehirnentzündung". Lernte erst mit 4 Jahren gehen.
Keine Spuren von Rachitismus. Schädel normal. Geringe Zeichen
von Alkoholismus. Nachforschungen bezüglich Epilepsie hatten ein
gänzlich negatives Resultat. Entlassung.
2. Aufnahme 26. 6. 1896. Pat. erschien heute beim Polizeicom-
missariat in Begleitung seines 5jährigen Sohnes, stellte diesen als
Kronprinz Ottokar, sich selbst als Kaiser von Mexico vor. Er sei
gestern aus Mexico zurückgekehrt, habe unterwegs eine Schlacht mit-
gemacht und sei jetzt im Begriff, seinen Bruder, den Kaiser, in Schön-
brnnn, zu besuchen.
Auf der Klinik Abends am 26. aufgenommen, bot er Foetor alko-
holicus, klagte Mattigkeit, verlangte zu Bett (sich offenbar in einem
Hotel glaubend ) und bat, ihn als „Max, Kaiser von Mexico" ins Fremden-
buch einzutragen. Er erbrach sich dann noch, klagte Kopfweh, schlief
ein, erwachte am 27. Morgens, war lucid und sehr erstaunt, sich im
Spital zu befinden.
Er erinnert sich, am 26. im Gasthause Nachmittags Wein und
Bier getrunken zu haben, dann viel Kümmel in einem Branntwein-
laden am . . Platz. Dann sei er nach Hause gegangen. Für alle
weiteren Ereignisse besitzt er auch nicht eine Spur von Erinnerung.
Auch diesmal gelingt kein Nachweis von Epilepsie, ebensowenig
von einer anderen Neurose. Deutlicher Alkohol, chron. Seit l1 ., Jahren
alkoholintolerant. Am 30. 6. 1896 genesen entlassen.
Beob. 20. W., 32 J., ledig, Polier, stammt von einem trunksüch-
tigen Vater. Von 16 Geschwistern des Pat, starben 9 in den ersten
Lebensmonaten an Convulsionen, 1 an Selbstmord in Psychose, 2 an
organischen Krankheiten. Von den 4 Lebenden sind 3 Trunkenbolde,
einer an periodischem Irrsinn leidend !
W. hatte bis zu seinem 4. Jahre Convulsionen gehabt, Er war
in der Folge nie schwer krank gewesen. Vom 16. Jahre ab wurde
er ein Trunkenbold ; in den letzten Jahren war er nie ganz nüchtern
gewesen. Zahllose Abstrafungen wegen lebensgefährlicher Delicte und
Eigenthumsvergehen.
Im Rausch pflegte W. ganz verkehrte Sachen zu machen. So
stiess er sich Nadeln und Messer in die Hand, verbrannte sich die-
Dritter Aufsatz (1898). 95
selbe mit Zündhölzern, verschlang Glasscherben, verschleppte Gegen-
stände, z. B. Pflastersteine, entkleidete sich u. s. w.
In solchem Zustand hatte er sich 1892 aus „Uebermuth" die 11 m
hohe Böschung an der Reichsbrücke in "Wien herabgestürzt und schwere
Contusionen davongetragen.
Am 12. 11. 1895 Abends entfernte sich W. angetrunken aus einem
Gasthause, nahm ein auf dem Tische liegendes Küchenmesser mit, ging
in die Wohnung seiner Geliebten, einer Prostituirten, stiess ihr ohne
Motiv, ohne ein Wort zu sprechen, das Messer in den Leib, entfernte
sich gelassen, und lief dann noch herumdämmernd umher, bis er
nach 2 h. arretirt wurde. Im Polizeiarrest soll er kurz getobt haben.
Auf der Klinik kam er ruhig, im Bewusstsein schwer gestört an. Zu
Bett gebracht, schlief er gleich ein und erwachte am 13. früh mit
Amnesie für alles seit dem Nachmittag des 12. Vorgefallene. Er-
staunt, aber nicht erschreckt hörte der ethisch ganz verkommene
Mensch, was passirt war. Er konnte sich sein Vergehen nicht ent-
räthseln, da er im besten Einvernehmen mit seiner Concubine gelebt
habe. Vielleicht habe er sich einen Jux machen wollen!
Gewöhnliches Bild eines Alkoholismus chronicus. Keine Nachweise
von Epilepsie.
III.
LIEBER TYPISCHE DELIRIEN BEI EPILEPTIKERN.
Krafft-EMng, Arbeiten III.
Ueber typische Delirien bei Epileptikern.
(„Gottnomenclatur und Majestätsdelir" — Samt.)
Es wäre für die Diagnostik in der Psychiatrie eine grosse Er-
leichterung, wenn die Beobachtung bei gewissen mit Wahnbildung ein-
hergehenden Krankheitszuständen typische Delirien auffinden könnte.
Sie würde damit praktisch auf eine Stufe gestellt mit der Syphili-
dologie und der Dermatologie, die aus in der Erfahrung sich als typisch
erweisenden Hautveränderungen einen bestimmten Rückschluss auf die
ursächliche Krankheit zu machen im Stande ist.
Ein solcher Gedanke schwebte schon Griesinger vor, als er (Arch.
f. Psych. I p. 148) von Primordialdelirien sprach und diese „primären
und congruenten Delirien'' mit den Farbendelirien bei Epileptikern
verglich, deren etwaige visuelle Aura nur in wenigen Farbentönen
(fast ausschliesslich roth) erscheine.
Gleichwie die visuelle Aura der Epileptiker die rothe Farbe be-
vorzugt (ich habe übrigens 1 Mal auch Abwechseln mit der complemen-
tären grünen gesehen), so scheint es auch typische Delirien bei diesen
Kranken zu geben. Schon Skae (Journ. of mental science 1874)
machte darauf aufmerksam, dass die Epileptiker häufig religiöse Hallu-
cinationen haben und verwies in dieser Hinsicht auf Anna Leeds,
welche durch ihre epilept. Hallucinationen die Sekte der Shakers, auf
Swedenborg, dessen Delirien Sekten in Schweden und England, auf
Mohamed, dessen Hallucinationen den Islam hervorgerufen haben sollen.
Auch Legrand du Saulle (etude medico-legale sur les epileptiques
1877) weist auf die Häufigkeit von Delirien und Visionen religiösen
Inhalts bei Epileptikern hin.
Er kennt aber weder die Eigenart noch die diagnostische Be-
100 Ueber typische Delirien.
deutimg derselben, registrirt sie einfach aus der Erfahrung und sucht,
in Verkennung der primordialen Bedeutung dieser religiösen Ekstasen
und Delirien, ihre Begründung rein psychologisch in pathologischer
Beligiosität 3) (Bigotterie). Zu dieser gelangen die Kranken, indem sie
sich im Bewusstsein ihrer traurigen Lage der Religion in die Arme
werfen.
Toselli ..über die Religiosität der E.", Archivio italiano per le ma-
latie nervöse 1879 März, findet bei zahlreichen E. bald dauernd, bald
periodisch religiöse Delirien und Religiosität, diese oft in grellem Gegen-
satz zu der Reizbarkeit und moralischen Perversion dieser Kranken.
Seine Erklärung der Bigotterie derselben deckt sich mit der Legrand
du Saulle's.
Eine eingehende Würdigung findet in seinem Aufsatz das Delir.
religiosum. Es dreht sich vorzugsweise um Hallucinationen und Illu-
sionen. Die Erinnerung fehlt, wenn es mit einem epileptischen Anfall
abschliesst, sonst ist sie vorhanden.
Die Kranken bekommen u. a. Befehle von Gott, ihre Angehörigen
auch ins Paradies zu befördern, d. h. umzubringen, sie sind Propheten,
Gottes Sohn, predigen, gerathen in Ekstase, können aber gleich darauf
auf die unheilige Umgebung loswettern und nebenbei niasturbiren.
Zuweilen sind sie auch zerknirschte Sünder, Asketiker, aber nur ganz
episodisch und gleich darauf wieder auf der Höhe der Exaltation und
in Gottes Gnade. Sie haben oft Gefühle des Schwebens, Fliegens, auf
Grund von Muskelanästhesie und damit verbinden sich Delirien von
Himmelfahrten.
Auch dem zu klinischer Beobachtung talentirten, leider früh ver-
storbenen Samt (Archiv f. Psych. VI) ist die Häufigkeit religiöser
Delirien bei Epileptikern nicht entgangen. Er verweist auf Fall 16
und 17 seiner Abhandlung, hält jene für specifisch und für pathogno-
mische Zeichen des epileptischen Irreseins unter Umständen.
Als solche bezeichnet er : Stupor, rücksichtslose extremste Gewalt-
thätigkeit, Gemisch der eigenthümlichen religiösen Delirien („Gott-
nomenclatur") mit Grössendelirien , speciell der Verflechtung der
„Majestät'- in den Delirien und mit schwerem ängstlichem Delir.
Dabei traumähnliche Absurdität und Incohärenz, eigenthümliche Ver-
lj Diese Bigotterie als bemerkenswerthen Zug im epil. Charakter hat schon
Morel (traite des maladies mentales p. 701) hervorgehoben. Howdeii (Journal of
mental science 1873 Januar) und Echeverria (Americ. Journ. of insanity 1873 Juli)
haben sie bestätigt. Samt (Archiv f. Psych. V u. VI p. 147) spricht vou den „armen
Epileptikern, welche das Gebetbuch in der Tasche, den lieben Gott auf der Zunge
und den Ausbund von Canaillerie im Leibe tragen''
bei Epileptikern. 101
änderung des Bewusstseins, von theilweiser Lucidität bis zur Delirium
tremens-artigen illusorisch hallucinatorischen Verworrenheit, verschieden-
artiger Erinnerungsdefect.
Die folgenden Krankheitsfälle dürften geeignet sein, der Frage
nach der Eigentümlichkeit epileptischer Delirien näher zu treten.
Beob. 1. F. B., 30 J., Magazinsarbeiter, kathol., ledig, wurde am
12. 2. 1889 in der psychiatrischen Klinik aufgenommen. Er stammt
von wnem dem Trunk ergeben gewesenen Vater. Ein Cousin endete
durch Selbstmord. Pat. soll als Kind nie schwer krank gewesen sein.
Er litt nie an Convulsionen. Bigotterie war vor seiner Krankheit nie
an ihm bemerkt worden. Anhaltspunkte für sexuelle Hyperästhesie
und Masturbation Hessen sich nie gewinnen. Mit 15 Jahren erschrak
er heftig über Ratten. Nach 3 Stunden bekam er den ersten (klassisch)
epileptischen Anfall. Er blieb epileptisch (häufige Vertigoanfälle mit
automatischen Schluckbewegungen, seltene grosse Anfälle). Von etwa
dem 20. Jahre ab kam es etwa 1 Mal im Jahre zu postepileptischem
Delirium, nie nach kleinen Anfällen, sondern nur nach grossen und
zwar serienartig gehäuften. Er war deshalb schon mehrmals in Irren-
anstalten gewesen.
Seit einigen Jahren hatte sich grosse gemüthliche Reizbarkeit
und Schwachsinn entwickelt. Ein besonderer Zug zum religiösen Ke-
biet war intervallär nie bei ihm vorhanden gewesen. Ab und zu sah
er im Traum ein rothes, wie Gold strahlendes Madonnenbild.
Pat. bot in der mehrjährigen Beobachtung etwa 2 Mal jährlich
psychisch epileptische Ausnahmszustände, in Inhalt und Verlauf bis
auf die kleinsten Details ganz typisch. Sie stellten sich binnen
24 Stunden nach einem besonders schweren klinischen Insult oder
häufiger nach einer Serie solcher Insulte ein, entwickelten sich ganz
allmählich bis zur Höhe, um dann rasch abzuklingen. Das Bewusst-
sein war jeweils getrübt, aber nie aufgehoben. Die Erinnerung für
die Anfallserlebnisse eine getreue. Die Dauer des Anfalls betrug nie
unter 18 und nie über 24 Tage. Während dieser Zeit kamen niemals
epileptische Insulte vor.
Der postepileptische Anfall psychischer Störung begann jeweils
damit, dass der sonst gleichmässig heitere, arbeitsame Kranke sich zu
Bett legte, gedrückt, mimisch verstört erschien, über Kopfweh und 1.
Interkostalneuralgie klagte, schlaflos wurde, den Appetit verlor, con-
stipirt war, schwer leidend aussah, fahles Gesicht und verfallene
Züge bot.
Am 2. Tage wurde er dann ängstlich, beklommen, klagte Klopfen
102 Ueber typische Delirien
und Bangigkeit iu den Präcordien, Vibriren und Schmerzen im ganzen
Körper, bot entschiedenen Krampfpuls, Angstsch weiss und äusserte
vage Befürchtungen, dass etwas Schreckliches bevorstehe. Während
des 3. Tages pflegte der Kranke zu bemerken, dass das Zimmer kleiner
werde und der Himmel näher komme. Er schaut erwartungsvoll nach
diesem, sieht die Umgebung voll Unruhe und Verstörung. Er erkennt,
dass der Weltuntergang bevorsteht, das jüngste Gericht sich naht.
Er versichert, dass er wahr prophezeie, ermahnt die Umgebung Busse
zu thun und sich mit dem Himmel zu versöhnen. Er leidet schon
auf dieser Welt die Martern der Vorhölle. Gott sendet ihm die
Schmerzen, um ihn zu läutern. Nun beginnen seine Augen aufzu-
leuchten, seine Miene verklärt sich. Er weiss es, dass Gott ihn durch
Schmerzen prüft, dass er diese Prüfung bestehen und zur ewigen
Glückseligkeit eingehen wird.
Er vergleicht sich mit Heiligen und Märtyrern, ist selig in seinem
Leiden, bedauert die Anderen, die unbussfertig, den Weltuntergang
nicht überstehen werden. Nun kommen beseligende Hallucinationen —
er sieht die Engel am Himmelsgewölbe, hört sie singen. Gott Vater
und Sohn erscheinen ihm am Himmel, sie neigen ihr Angesicht gütig
zu ihm. Episodisch ist er noch von Furcht und Bangigkeit erfüllt,
aber die Glückseligkeitsgefühle überwiegen. Endlich kommt die Apo-
theose. Er schwebt als gottbegnadeter, der Sinnlichkeit und irdischem
Leid entrückter Sünder gegen Himmel. Der Himmel steigt vor ihm
auf wie ein Gebirge, dieses theilt sich und Gottes Antlitz leuchtet ihm
entgegen.
Mit verklärter Miene preist er die Freuden des ewigen Lebens.
In diesem Zustand den Hörern der Klinik vorgestellt, vergleicht er
sich mit Jesus vor seinen Richtern. Sich selbst überlassen, liegt er
mit verzückter Miene da. Die Lösung des Anfalls erfolgt ziemlich
rasch. Mit Ausnahme der Himmelsepisode, für die nur summarische
Erinnerung besteht, ist diese für alle Details des Anfalls erhalten.
Er corrigirt den „Unsinn" vollkommen. Häufig kommt es nur zu ab-
ortiven Anfällen, in welchen er gedrückt, still ist, viel im Gebetbuch
liest, über Intercostalschmerz, Herzbeklemmung, Beängstigung klagt,
die ganze Umgebung fremdartig und in die Ferne gerückt appercipirt.
Auch in diesen Zuständen ist die Miene verfallen, das Gesicht bleich,
der Puls klein, tard. Gelegentlich kommt es in den Anfällen zu Ge-
ruchshallucinationen.
Beob. 2. F. L., 23 J., ledig, kath., Bauernsohn, von bigotten Eltern,
seit der Pubertät der Masturbation ergeben, seit 3 Jahren schwer neura-
bei Epileptikern. 103
sthenisch, viel an Pollutionen leidend, bekam im Juli 1878 eine Con-
tusion am Kopf durch Anschlagen einer Eisenstange. Er war in der
Folge hypochondrisch, erschrak heftig- im October 1878 über einen Mann,
der vor ihm apoplectisch todt zu Boden stürzte, war seither schwer
hypochondrisch, Hess sich Ende Januar 1879 mit den Sterbesacra-
menten versehen und machte vom 27. 1. bis 7. 2. einen Exaltations-
zustand durch, in welchem er Visionen himmlischer und teuflischer
Gestalten hatte, Zwiegespräche mit Gott hatte und predigte. Lucid
geworden, erinnerte er sich aller Erlebnisse aus der Krankheitszeit
und hatte volle Krankheitseinsicht.
Am 14. 2. 1879 stellte sich ein neuer religiös expansiver Erregungs-
zustand ein, der ihn am 15. 2. meiner Klinik zuführte. Aufgenommen,
liegt Pat. mit gefalteten Händen, verklärter Miene und zugekniffenen
Augen da. Bei Annäherung des Arztes schlägt er das Kreuz „gelobt
sei Jesus Christus, im süssen Namen Jesu".
Er erklärt, sich im Himmel zu befinden und zu heissen „wie es
Gott gefällt". Als er noch auf der Erde wandelte, hiess er F. L. Die
Aerzte hält er für göttliche Personen, die barmherzige Schwester fin-
den hl. Geist, wegen der Flügel, die sie an der Haube hat. Den
Wärter mit dem Schlüsselbund hält er für den hl. Petrus. Auf Erden
sei es ihm schlecht gegangen ; er sei aber auch ein arger Sünder ge-
wesen, namentlich gegen das 6. und 7. Gebot habe er sich vergangen.
Die Aufnahme der Anamnese hält er für eine Beichte, das ärztliche
Protokoll für das Sündenbuch.
Er wolle gern für die eigenen und die Sünden der Welt leiden.
Noch sei er nicht im Stande der Gnade, aber er hoffe dahin zu ge-
langen. Die Mutter Gottes habe ihn in einen Mantel gehüllt und
Christus ein schönes Lied gesungen, das sei ein gutes Vorzeichen.
Irdischer Speise bedürfe er nicht mehr. Er lebe von jedem Worte,
das aus Gottes Munde fliesst.
Pat. ist hager, von normalem Schädel, bis auf fliehende Stirn und
•starken Prognathismus. Umfang 55 cm. Sehr weite, sehr träge re-
agirende Pupillen.
Grosse Abmagerung, sehr gesunkener Turgor. Livide, kühle Ex-
tremitäten. Krampfpuls. Nahrungsaufnahme nur auf energischen, an-
geblich göttlichen Befehl.
Am 23. 2. jäher Umschlag in ein depressives Delirium. Ganz ver-
hört, ist Fürst der Hölle, der grösste Sünder, hat seinen Vater ins
Unglück gebracht, indem er ihn verdammte. Massenhafte Selbstmord-
versuche. Seine Umgebung sind Heilige. Bevor er Fragen beant-
wortet, bittet er den hl. Geist um Erleuchtung und Erkenntniss. zu
104 Ueber typische Delirien
antworten. Darauf schlägt er ein Kreuz und antwortet im „süssen
Namen Jesu". L]
Am 1. 3. Remission. Recrudescenz des Delirs am 2.
Am 7. 3. wird Pat, plötzlich lucid. Er glaubte sich im Himmel,
dann vor einem Gottesgericht. Volle Krankheitseinsicht. An seiner
Krankheit seien seine Eltern wegen ihrer Bigotterie viel schuld. Er-
innerung für alle Details. Pat. berichtet von massenhaften Visionen.
(Gott Vater, Mutter Gottes, die ihm ein anderes Herz einsetzte, Jesus,
der ihm offenbarte, er werde ein Heiliger werden.) Die Aerzte hielt
er für die heilige Dreifaltigkeit. Massenhaft Geruchshallucinationen.
Er habe sich nicht das Leben nehmen, sondern nur zur Busse für
seine früheren Sünden und um Gott wohlgefällig zu sein, sich martern
wollen. Von epileptischen Antecedentien ist nur ein Schwindelanfall
kurz vor der Erkrankung auffindbar.
Pat. macht vom 18. 3. bis 7. 4. einen neuen Anfall durch. Er
erwacht Morgens am 18. verstört, zerknirscht, klagt sich fleischlicher
Sünden an, verlangt „Du" genannt zu werden, schwere Arbeit, Busse
zu thun. Er kniet herum, leckt die Stiefel ab, steckt sich zur Busse
einen Knochen in den Hals, wird dann salbungsvoll, verzückt, kneift
die Augen zu, gelaugt vor ein Gottesgericht, bittet um Gnade, erbietet
sich die Himmelsthür auszukehren. Anfall sonst wie früher, aber
milder. Auch diesmal abnorm weite Pupillen, Krampfpuls, Cyanose,
kalte Extremitäten, Harnabsonderung maximal 700 cm pro die. Plötz-
liche Lösung des Anfalls.
Genesen entlassen 17. 4. 1879. Daheim wohl, fleissig, nie Er-
scheinungen von Epilepsie.
Am 7. 4. 1880 während eines Nachmittagsschlafes klassischer epil.
Insult. In der Nacht zum 12. 4. nach Genuss von etwas Wein
5 weitere.
Am 13. 4. neues Delirium, ganz wie das erste in der Klinik be-
obachtete. Dasselbe dauert nur bis zum 17., daran reiht sich ein
Dämmerzustand, der bis zum 2. 5. dauert. Pat. berichtet, wieder lucid
geworden, Analoges wie das erste Mal, überdies von massenhaften, oft
geradezu betäubenden Geruchshallucinationen (vorwiegend angenehme
Blumendüfte — episodisch aber auch ekelhafte — , Bossschweiss u.
dgl.j. Bemerkenswerth ist, dass auch diesmal das Delirium anfangs sich
um sexuelle Dinge drehte (Mutter habe Unkeuschheit mit ihm treiben
wollen), ferner dass Pat. wiederholt bei Masturbation betroffen wurde.
Beob. 31). Justmann, Köhler, 32 .T., ledig, ist ein in einsamer
1) Maschka's Handb. d. ger. Med. IV p. 583 (eigene Beobachtung).
bei Epileptikern. 205
Gegend aufgewachsener, von Hause aus beschränkter, abergläubischer
Mensch. Früh dem Alkoholgenuss, namentlich dem Branntwein er-
geben, hatte er seit Jahren Excesse nicht mehr gut ertragen, vielfach
an Kopfweh gelitten und, besonders bei heissem Wetter und ange-
strengter Arbeit, Congestionen zum Kopf bekommen. Er sei dann ganz
roth im Kopf geworden, das Geblüt sei ihm aufgestiegen und es sei ihm
ganz bang zu Muth geworden, oft sei es ihm dann auch ganz schwarz
vor den Augen gewesen, doch habe er nie das Bewusstsein verloren.
In seinen Berauschungszuständen will er wiederholt aus dem Ge-
räusche des vorbeifliessenden Baches Stimmen herausgehört haben. In
der Nacht vom 15. August 1873, nach vorausgegangenen bedeutenden
Alkoholexcessen, schwerer Arbeit am Meiler, bei grosser Sommerhitze,
konnte .1. nicht schlafen, er fühlte sich schwer im Kopf, schwindlig-
lind war von einer unerklärlichen Bangigkeit geplagt. Er fand, dass
der Kühlerhaufen so sonderbar krache. Gegen Morgen schlief J. auf
kurze Zeit ein. Als er erwachte, fand er den Köhlerhaufen zusammen-
gefallen und ganz verstört. Dieses kam ihm sonderbar vor, er meinte,
es möchte ihm angethan sein. Als er mit der Wiederaufrichtung des
Haufens beschäftigt war, wobei ihm der Knabe des Nachbars Hülfe
leistete, hörte er aus dem nahen Wald den Ruf: ..Geh heim, stehle
ein andermal nicht''. Er hielt die Stimme für die eines benachbarten
Bauern und erwiderte: „Du bist auch unredlich" Bald darauf kam
es ihm vor, dass sein Köhlerhaufen auf einem ganz anderen Platz sei,
auch sein Geräthe habe er am uniechten Platz gesehen. Eine Stimme
rief wieder: ,,Geh hinauf leite dein Wasser ab'-. Dieses that er und
trank noch am Brunnen. Dann ging er in die Hütte. Es war ihm
so bänglich zu Muth.
Er fing an zum Heiland und seinen fünf Wunden zu beten. Als
er sein Gebet beendet hatte, hörte er eine Stimme: „schau um'', und
als er diesem Gebot Folge leistete, sprach die Stimme: „Lenz, jetzt
hat deine Stunde geschlagen", da habe er auf die Uhr an der Wand
geschaut und gesehen, wie die Zeiger pfeilschnell herumgingen, dann
hiess es: „Lenz, jetzt bist gestorben und im Himmel" Da sei er
hinaus vor die Hütte, es sei ihm so bang geworden, er meinte wirk-
lich, er sei gestorben. Ein Erdhügel sei vor ihm in die Höhe ge-
stiegen und wieder zugefallen. Da sei des Nachbars Bub des Weges
gekommen. Er habe gesagt : „Grüss Gott, bist auch gestorben ?" Da rief
es wieder: „Nimm ihn, bring ihn um" Er wisse nicht was es gewesen.
Da habe er ihn genommen und umgebracht, indem er ihm den Kopf vom
Rumpf mit dem Taschenmesser trennte und dann noch Brust- und
Unterleibshöhle öffnete. Er begreife nicht, wie er das habe vollbringen
106 Ueber typische Delirien
können. Gleich darauf sei der Nachbar gekommen und habe gerufen :
„Jesus, jetzt bringt er mir den Buben am", da habe es wieder ge-
sprochen: „Bringe so viele um als du kannst".
Da sei er dem Mann nach mit dem Messer in der Hand, und
habe ihn in den Hals gestochen. Als der Mann in seinem Blute lag,
hörte er den Befehl, ihm den Kopf mit einem Feldstein zu zermalmen,
Avas er ausführte. Er wisse nicht, woher der Befehl gekommen, es
sei doch weit und breit Niemand gewesen. Er habe nun noch immer
geglaubt, er sei gestorben, habe sich hingelegt und ausgeruht. Es sei
ihm da vorgekommen, als sitze er auf Petri Sessel. Bald darauf seien
die Leute mit Gensdarmen gekommen und hätten ihn gebunden. An-
fangs habe er noch geglaubt, er sei im Himmel und müsse jetzt Busse
thun. Bald sei ihm aber die Einsicht gekommen. Er könne sich die
Sache nicht erklären. In den folgenden Tagen im Arrest war Patient
wieder ganz bei sich, er bereute tief seine grauenvolle That, man möge
ihn nur strafen, er könne nichts dafür. Aus Verzweiflung versuchte
er anfangs sich ein Leid anzuthun.
Die vorläufig nach dem Befund der Akten gestellte Diagnose auf
ti'unkfällige Sinnestäuschung fand bei fortgesetzter persönlicher Beob-
achtung im Irrenhause, die keine Symptome von Alkoholismus, dagegen
schon nach wenigen Monaten solche von Epilepsie erwies, ihre Berich-
tigung. Deuteten Intoleranz für Alkohol und pathologische Alkohol-
zustände vorläufig auf ein latentes Nervenleiden hin, so erwiesen An-
fälle von nächtlichem Aufschrecken, solche von allgemeinem Schüttel-
krampf mit tonischen Erstarrungszuständen. Schwindelanfälle, Zustände
von Stupor, schreckhaftem Delir, endlich klassische epileptische Insulte,
intervallär grosse Gemüthsreizbarkeit. zunehmende intellectuelle und
ethische Verkümmerung des zudem sehr der Masturbation ergebenen
Kranken die wahre Natur des Leidens und des früheren psychischen
Ausnahmezustands. Hier und da wurden bei dem nun verblödeten
Kranken auch noch religiöse Delirien beobachtet, in welchem er Gott
von Angesicht zu Angesicht sah, sich im Himmel wähnte, die Um-
gebung für göttliche Personen verkannte, in ekstasenartigen Zuständen
schwelgte, überwältigt von einem Gefühl unnennbarer Glückseligkeit,
dass Gott mit ihm zufrieden sei, ihm seine Sünden verziehen habe.
Beob. 4. F.. Hedwig, 24 J., angeblich unbelastet, hat als kleines
Kind an Oonvulsionen gelitten. Sie ist imbecill ; seit der Pubertät (im
15. Jahre) Auftreten von Morbus sacer. Klassische Anfälle, anfangs
selten, neuerlich sehr häufig und schwer. Gelegentlich auch epilep-
tische Anfälle in Gestalt von einfach bewusstlosem Zusammensinken.
bei Epileptikern. 107
Seit 1. 11. 1892 in erstmaligem postepileptischem Delir. Pat.
wurde zuerst auffällig durch ihre verwirrten Reden. Sie bat. man
möge mit ihr zur Kirche gehen, sie werde dort zum Himmel auf-
fliegen, sie sei Kaiserin, sie habe das Herz der Kaiserin. Jetzt seien
Alle glücklich, erlöst. Sie sang, betete viel, sprang zum Fenster' hinaus
und wurde am 5. 11. der Klinik übergeben. Schädel ohne Abnormi-
täten, Pallor, alle tiefen Reflexe sehr gesteigert. Innere Organe ge-
sund. Pat. in sich versunken, giebt aber auf Fragen Antwort. Sie
ist hier im Himmel. Wer sie ist, Aveiss sie nicht. Der Arzt wird für
Christus gehalten. Episodisch ekstaseartiges Bild. Sie spricht dann
leise, mit einförmig psalmodirendem Ton. Worte und Sätze unzählige
Male wiederholend. In diesem Zustand reagirt Pat. nicht auf äussere
Eeize. Der Inhalt ihrer Rede ist ein religiöser, aber ganz verworren.
Eine Probe ihres Deliriums ist folgende:
..Die Kaiserin ist gestorben; ich habe die Mutter Gottes gebeten,
dass sie die liebe Kaiserin erlöse; sie hat mich schön angeschaut, ich
habe so gebeten für sie. bin rund umgegangen, habe von unten hin-
aufgeschaut und da die Zunge nicht gespürt und bin zum Tod ge-
worden und richtig ist mir besser geworden und bin schon langsam
hinaufgegangen und habe Jesus so gebeten, weil er mich so schön
lieb angeschaut, er hat gesagt „ja", da bin ich wieder hinauf und habe
gesagt: Mutter Gottes, hast du wirklich die Kaiserin erlöst? und
richtig, ich habe sie erlöst und bin hinunter gekommen zum Teufel —
lauter Schmutz muss ich schlucken und wenn ich ihn schlucke so
komme ich wieder; alle sind zu mir gekommen, hinauf in die Hölle
und haben alle gesagt: Hedwig, du musst sterben und ich bin wieder
hinuntergekommen und habe die Mutter Gottes so gebeten und richtig,
sie hat mich wieder erlöst und ich werde jetzt ein Schutzengel und
ich komme wieder zu meinem Traum uud werde Alle erlösen. Mutter
Buttes, hilf mir — ich spüre, dass ich hinunterkomme, ich habe den
Traum erlöst und Jesus ist gekommen und hat alle Menschen besucht.
Ich sehe in den Himmel, jetzt komme ich hinauf, ich werde ganz
schwindlig, ich werde Staub werden, ich habe den Gedanken gehabt,
dass Jesus mich abholt.'"
Am 7. 11. schweigt das Delir. Bis 9. 11. Abends ist Pat. noch
dämmerhaft, aber bereits örtlich orientirt. Dann wird sie plötzlich
lacid. Die Miene ist frei, der Pallor geschwunden. Für die Anfallszeit
besteht nur höchst summarische Erinnerung. In den folgenden Wochen
klassische epileptische Insulte, ohne Aura, ohne postepileptisches Delir.
Entlassung.
108 Ueber typische Delirien
Beol). 5. St., Dienstmann, 25 J., ledig-, erkrankte plötzlich am
11. 6. 1894 Abends, war aufgeregt, verwirrt, die Nacht zum 12. schlaf-
los, redete sinnlos von religiösen Dingen und sagte u. A., auf eiii
Heiligenbild deutend: „Vater, du hast mich vom Tode erlöst". Pat.
geht am 12. früh verstört, verworren auf der Klinik zu, apostrophirt
die Umgebung als „Brüder, Väter", umarmt den Arzt als seinen Bruder
und fügt hinzu „ich will einen Kaiser haben" Gefragt nach Krank-
heit, erklärt er, er habe die hinfallende Krankheit. Wenn Gott ihn
strafen wolle, nehme er ihm die Brust. Es ist jetzt Sommer, der
Monat heisst December. Pat. weiss sich im Krankenhause, der liebe
Gott habe ihn hereingemacht. Plötzlich schreit Pat. auf „ich bin
der Kaiser Josef" Den Arzt bittet er, ihm eine gute Stelle im Himmel
zu verschaffen. Pat. redet beständig vom Himmelsvater, erklärt sich
in auffällig gereiztem Tone für den frommen Josef. Er hat einen guten
Engel. Dieser spricht zu ihm im Namen des Himmelvaters. Sein
Vater ist gestorben solange er auf der Welt war. Er selbst hat nicht
geheirathet, weil ihm das Herz so stark geblutet hat. Im Laufe des
Tages wird der Arzt beständig als der Kaiser verkannt. Schwere
Verworrenheit. In der Nacht zum 13. epileptischer Insult. Pat. ist
nun ganz lucid, hat Amnesie für den Zustand des Delirs, theilt mit,
dass er seit December 1893, nach Schreck über einen Brand, der im
Hause ausbrach, an Epilepsie leide. Die Angehörigen bestätigen diese
Angabe. — Klassische epileptische Anfälle, etwa alle 8 Tage wieder-
kehrend, jeweils mit postepileptischer Verwirrtheit durch etwa eine
halbe Stunde. Intervallär emotiv, reizbar, aufgeregt.
Beob. 6. M., Gustav, 17 J.. Lehrling, von mit Migräne behafteter
Mutter, erlitt mit 6 Jahren einen Sturz auf den Kopf, wovon eine
lineare Hautnarbe auf dem r. Stirnhöcker datirt, hatte von jeher viel
an Cephalaea zu leiden, galt als unfolgsam, jähzornig, verlogen, gerieth
1892 unter eine Tramway, bekam beide Füsse abgefahren, musste
amputirt werden, war seither oft tief verstimmt, bis zu Taed. vitae,
hatte sich in den letzten Tagen sehr gekränkt und aufgeregt, weil
ihm der Vormund kein Geld geben wollte und schrieb diesem einen
Drohbrief.
Am 21. 9. 1893 Abends verursachte dem Pat. ein Sturz auf der
Strasse starke Schmerzen im Amputationsstumpf. Er schlief aber gut
in der Nacht zum 22. An diesem Tage litt er an Cephalaea, die aber
Nachmittags schwand. Am 22. Abends, als er gerade im vollen Wohl-
sein ausgehen wollte, stürzte er bewusstlos zusammen. Dauer der
„Ohnmacht" etwa 10 Minuten. Angeblich keine Krämpfe. Als Pat.
bei Epileptikern. 109
wieder erwachte, redete er irre : „ich bin aus der Hölle entwichen, ich
fahre nach Amerika, ßussland, du bist der Geist, komme mit! Ich
bin schon Menschenfresser; auf der 1. Seite habe ich die Seele, die
thnt mir weh." Auf die Klinik gebracht, ist Pat. ganz unzugänglich
und delirirt vor sich hin: „ich bin Menschenfresser, ich habe den
Kaiser gemalt, bin 800 Jahre alt, muss mit dem Kaiser sprechen, habe
ihm etwas zu sagen, was mir der Teufel gegeben hat". So bis zum
24., wo das Delir schweigt. Am 25. noch dämmerhaft. dann ganz lucid.
Amnesie von dem Umstürzen am 21. Abends bis zum 25.. von da ab
summarische Erinnerung.
Pat. in der Folge geistig normal. Häutig Cephalaea. schlechter
Schlaf, mit schweren Träumen von Bergen, die sich auf ihn wälzen.
Intoleranz für Alkohol. Reizbar, emotiv. Keine irgendwie geartete
epileptische Erscheinungen.
Am 15. 11. 1893 genesen entlassen.
Beob. 7. K. B., 58 .T., pens. Militär, wurde am 31. 7. 1886 schwer
delirant in meiner Klinik aufgenommen. Die Anamnese ist lückenhaft
Pat. soll als Kind schon eigenthümliche Anfälle von Bewusstseins-
triibung mit Mattigkeit und Uebelkeit gehabt haben. Die ihm seit
1875 angetraute Ehefrau berichtet, dass er enorm reizbar und auf-
brausend war und schon 6 Wochen nach der Heirath genuine epilep-
tische Anfälle, meist Nachts und oft gehäuft bot.
Vor solchen sei er regelmässig congestiv, gereizt, brutal, verstört
gewesen, nach solchen häufig delirant. Sein Delir bewegte sich dann
in Gottnomenclatur. Er war aggressiv gegen seine Frau, ging mit
dem Säbel auf sie los. würgte sie mit der Motivirung ..Christus ist
gekreuzigt worden, warum soll ich meine Frau nicht kreuzigen?"
Episodisch Vergiftungsideen. Suicidgedanken. wobei Pat. oft weinend
stundenlang vor sich hinstarrte. Die deliriösen Anfälle dauerten einige
Tage und gingen durch einen mehrtägigen Dämmerzustand, in welchem
Pat. viel zu Geistlichen lief, in den luciden intervallären über. In
letzter Zeit hatte man zunehmende Vergesslichkeit an ihm bemerkt.
Pat. geht in schwer gestörtem Bewusstsein. mit ganz entstellten
Zügen, congestiv. fieberlos zu. Sehr frequenter Puls. Das Delirium
ist ein schreckhaftes. Er glaubt sich bei der Belagerung der Festung
Mantua, glühende Kugeln schiessen durch die Luft, die Festung geht
in Flammen auf. Dann erscheinen Telephone an der Wand. Pat.
vergleicht sich mit weinerlicher Stimme mit Christus, die Nachwelt
wird bereuen, dass sie auch ihn (Pat.) gekreuzigt hat. Er ist eiu
Märtyrer. Schwere Verworrenheit, enorme Gereiztheit, Schlaflosigkeit.
HO Ueber typische Delirien
Vom 7. 6. ab kommen Majestätsdelirien. Er hat Gespräche mit dem
Kaiser, beklagt sich, dass man ihn gekreuzigt habe. Er zählt seine
Verdienste um den Staat auf, hat das Telephon erfunden, spricht von
Himmelfahrt, Erlösung, brüllt dazwischen „unterste Hölle, obere Hölle",
ist ganz entsetzt über schreckhafte Visionen, bejammert einen Freund
Seh., der aufgehängt wurde. Chloralhydrat bewirkt ausgiebigen Schlaf
und Beruhigung. Pat. geht durch einen mehrtägigen Dämmerzustand
hindurch, ist am 26. 6. wieder ganz lucid. Summarische Erinnerung.
Weder vor noch während des Krankheitszustandes waren epileptische
Anfälle zu bemerken gewesen.
Neuerliche Aufnahme am 22. 10. 1887. Ganz zerfahrenes Delir
von Teufel, Gott, enorme Verworrenheit und Gereiztheit, die bei Nen-
nung seines Namens sich masslos steigert. Der K. gehört an den
Galgen, der Name K. hängt am Galgen. Er ist nicht der K, sondern
der Pater Seh. Der Klostername wird es beweisen. Er will nicht
essen, sein Name hat schon gegessen. Pat. hat wieder mit Telephonen
zu thun. „Es ist nicht mit Gold zu bezahlen, ich will es vergolden
lassen. Drei schöne goldene Berge hat er gehabt, gleich muss sie fort-
fahren" Gelegentlich Bitten um Verzeihung, Gott wird verzeihen.
Massenhaft theils schreckhafte, theils göttliche Personen betreffende
Gesichtshallucinationen. Auf ausgiebigen Schlaf durch Chloralhydrat
wird das Delir am 24. abortiv. Darnach noch mehrtägiger Dämmer-
zustand. Diesmal Amnesie.
Pat. bald nach der neuerlichen Entlassung, angeblich in epilep-
tischem Insult, gestorben.
B e o b. 8. Herr M., Friseur, 51 J., wurde am 10. 7. 1878 auf die
Klinik gebracht. Schwere ßewusstseinsstörung, tief verstörte Miene.
Sehr gespannte Arterie. Puls 90. Vegetativ ohne Befund, fieberlos.
Ganz zerfahrenes hypochondrisches Delirium — Pat. klagt über
eckigen Schädel, verlängerte Füsse, vertauschte Kieferhälften, es steckt
ein Kohr im Schlund, der Nabel ist herausgetreten, es zieht ihm da
in den Körper hinein, dreht ihm die Kiefer um, das ganze Fleisch
hängt an ihm herunter, sein Rücken schaut dem einer Eidechse gleich,
sein Körper ist voller Wunden u. s. w. Irgendwelche Störungen der
Sensibilität sind nicht nachzuweisen. Grosse Angst, Gereiztheit.
Schwere Verworrenheit — „durch den Schrecken sind ganze Regi-
menter zu Grunde gegangen. In der Leintuchnaht ist ein Compass.
Der Dominikanerthurm ist gestern aufgenommen worden". Episodisch
Gottnomenclatur „Gott ist Allen gerecht, Gott beschützt auch ihn".
Keine Majestätsdelirien. Vorübergehend Visionen von Feuer, schreck-
bei Epileptikern. \\\
liehe Thiere, die nach ihm schnappen, ihn auf der Haut brennen.
Dauer des Delirs 3 — 4 Tage. Durchgang durch einen leichten Dämmer-
zustand. Intervallär moros, gereizt, seit einigen Jahren psychische
Schwäche, jetzt ziemlicher Grad von Demenz.
Für die Dauer der deliranten Periode hat Pat. Amnesie. Solche
Anfälle mehrmals im Jahr, seit etwa 10 Jahren, jeweils postepileptisch.
Epilepsie geht bis auf die 20 er Jahre zurück. Die Anfälle in Inhalt
und Dauer fast völlig congruent. Alle möglichen Antiepileptica er-
wiesen sich wirkungslos.
Die vorstehenden Krankengeschichten sind ausgewählte Fälle aus
einer Serie von 38 Beobachtungen meiner Erfahrung. Sie sind der
These von Samt hinsichtlich der diagnostischen Bedeutung von reli-
giösen Delirien in Verflechtung mit Majestätsdelirien und schwerem
ängstlichem Delir entschieden eine Stütze, insofern sie fast ausnahms-
los als postepileptische Erscheinungen zu Tage treten. Die Form der
Epilepsie in den 38 Fällen war 34 Mal die der klassischen, nur 4 Mal
die der vertiginösen.
Die Dauer des epileptischen Deliriums betrug nie unter 3 und
selten über 14 Tage. Dann [handelte es sich jeweils um neuauf-
getretene, mit den vorhergehenden zusammenfliessende Anfälle.
Zu einem näheren Eingehen auf die jedenfalls zu den bestgekannten
Formen des epileptischen Irreseins zählenden postepileptischen Zustände
ist hier nicht der Ort. Ich beschränke mich darauf, diejenige klinische
Gruppe, bei welcher „Gottnomenclatur" und „Majestätsdelirien" im
Vordergrund stehen hinsichtlich der Art und der diagnostischen Be-
deutung dieser Delirien einer genaueren Untersuchung zu unterwerfen.
Das Verhalten der Delirien war in den weiteren 30 dieser Studie zu
(■»runde liegenden Fällen folgendes :
9. Mann. Fast ausschliesslich expansives Majestätsdelir, lässt den Kaiser
hochleben; episodisch schreckhaft, verstört: ,, unser Himmelvater will
sterben".
10. Mädchen. Sterbescenen. Gott, Mutter Gottes, Heilige erscheinen in
der Todesstunde, trösten Pat.
11. Mann. Im Anfall Geistlicher, riecht Weihrauch, sieht Alles roth, hört
Kirchenlieder, Glockenläuten , ist in Kirche, sieht Christus, predigt.
Episodisch schreckhaftes Delir, sieht Verstorbene, wird von Gensdannen
verfolgt, hört Schiessen, verworrenes Geschrei. Himmelfahrt.
12. Mann. Schreckhaftes Delir (Hölle, Teufel, wird umgebracht), episodisch
hält sich Pat. für Gott und glaubt sich im Himmel.
112 lieber typische Delirien
13. Mann. Gottnomenclatur und Himnielsdelir. Singt Allelujah. Dabei
sehr gereizt. Muss den verlorenen Sohn spielen.
14. Mann. Wechselnde Höllen- und Teufelsdelirien und Gottnomenclatur
(ist ein Heiliger, zum Himmel aufgefahren mit seinen Getreuen). Ob-
scöne, göttliche Personen betreffende Delirien, mit Coitusbewegungen.
15. Mann. Spricht mit Gott, ist Kaiser. König, dabei höchst gereizt und
gewaltthätig.
16. Mann. Bald im Himmel, bald in Hölle, rauft mit dem Teufel, besucht
ihn, hat viel mit dem Herrn der Heerschaaren zu thun. Episodisch
Stupor.
17. Mann. „Wo ist Gott? Gott will es. Wer hat 5 Finger? Gott. Es
giebt mehrere Gott". Umgebung wird für göttliche Personen gehalten.
Sieht den hl. Geist, liest Messe. Episodisch im , .Richthaus", wird ge-
richtet.
18. Mann. Ist Kaiser, der Arzt ist auch Kaiser; er bittet ihn um eine
gute Stelle im Himmel.
19. Mann. Schreckhaftes Delir (Tod, Teufel, Hölle), episodisch religiöse
Exaltation, singt Hymnen, macht sich einen Altar.
20. Mann. Singt, wallfahrtet, glaubt sich im Himmel als Herrgott und
Regent der ganzen Welt.
21. Weib. Gottnomenclatur. Sieht Maria, Engel, arme Seelen, wallfahrtet.
Ist Mutter Gottes. Arzt ist Gott. Erotisch, zudringlich.
22. Mann. Bekämpft und besiegt die Teufel. Wird Herrgott. Masslos gereizt.
23. Mann. Besiegt mit dem hl. Petrus die Hölle, kommt dafür in den
Himmel, sieht dort Christus und die beiden Schacher.
24. Mann. Himnielsdelir, bekam dort den Morgenstern geschenkt. Episo-
disch wurden Soldaten gehängt, verbrannt, geschnitten. Endlich wurde
er vom Obersten zum Himmel hinausgeworfen auf die Erde, wo er
30 Jahre arbeiten muss und dann Stellvertreter Gottes wird.
25. Frau. Erscheinungen göttlicher Personen. Ekstasezustände.
26. Mann. Singen, Wallfahrten, dabei höchst gereizt, bis zu homiciden
Impulsen auf Grund von Angst, Feuervisionen.
27. Mann. Wahn dass die unheilige Umgebung Glauben und Religion ge-
fährde. Der Glaube ist in Gefahr, verlangt dafür gekreuzigt zu werden,
verkennt Umgebung als Teufel, kämpft für den Glauben, siegt, jubilirt,
empfängt Gottes Dank, ist der wahre Gottesstreiter, proclamirt sich als
Christus.
28. Mann. Ausschliesslich expansives Himnielsdelir.
29. Mann. Macht die Schöpfungsgeschichte und den Weltuntergang durch.
Sieht die Sündfluth, das Fallen der Welten. Christus rettet ihn.
30. Mann. Wallfahrten. Singen von religiösen Liedern und der Volks-
hymne. Apotheose. Himmelfahrt.
31. Mann. Anfangs Angst, Gereiztheit, im Kampf mit dem Teufel sieg-
reich, dann Abgesandter Gottes, der erste nach dem Kaiser. Episodisch
Stupor.
32. Weib. Anfangs Sterbescene, wird ins tiefe Meer versenkt, glaubt sich
bald im Wasser bald im Feuer, bald im Himmel bald in der Hölle,
sieht verstorbene Eltern. Es kommt ihr vor, als ob man sie not-
züchtigen wolle.
bei Epileptikern. U3
33. Mann. Himmelsdelir. Hält den Arzt für Gott. Singt, psalmodirt.
34. Mann. Bloss expansives Himmelsdelir bis zur Ecstase.
35. "Weib. Desgleichen, episodisch schreckhaftes Delir (Hölle).
36. Mann. Himmelsdelir. Ecstase.
37. Mann. Bunter Wechsel von Blut-, Feuer-, Höllen-, Himmel-, Gott-,
Majestätsdelir.
38. Mann. "Weltuntergang. Christus beschützt ihn. Hält den Arzt für
Christus , liest Messe. Hier ist das Kaiserhaus. Arzt ist Kaiser.
Episodisch Stupor.
Wie aus der vorstehenden Skizzirung der Delirien hervorgeht,
spielen solche mit religiösem Inhalt die Hauptrolle. Ausschliesslich
religiöses Delir findet sich in 28 Fällen, ausschliesslich Majestätsdelir
in einem Falle, Combination beider in 9 Fällen.
In dem Gesammtbild des jeweiligen Delirs lassen sich zwei Vor-
stellungsgebiete unterscheiden, ein depressives und ein expansives.
Da wo bloss eines derselben auftritt, macht es den Eindruck, als ob
der Anfall ein abortiver wäre, das complementäre Delir nicht zum Aus-
druck gelangt sei. In solchen Fällen mag Angst, enorme Gereiztheit,
die mit dem vorhandenen expansiven Delir in Widerspruch steht,
ein Hinweis auf den latent gebliebenen depressiven Vorstellungs-
kreis sein.
Da wo dieser überhaupt klinisch zu Tage tritt, ist er ein einfach
depressiver persecutorischer oder er ist religiös gefärbt (Anfechtungen
der Hölle, verzweifelter Kampf mit höllischen Mächten, Tod, Sterbe-
scenen, Sündhaftigkeit, Marterung, Kreuzigung, Gottesgericht u. s. w.).
Als eine bemerkenswerthe klinische Variante depressiven Delirs
erscheint in seltenen Fällen (Fall 8) ein hypochondrisches, das durch
enorme Verworrenheit und Ungeheuerlichkeit ein eigen thümliches Relief
gewinnt.
Das klinische Interesse an diesen Delirien dreht sich um die Frage,
inwieweit denselben eine specifische Bedeutung zuerkannt werden
darf? Jeder Erfahrene wird der Ansicht beipflichten müssen, dass
weder Gottnomenclatur noch Majestätsdelirien , noch beide zusammen
an und für sich für Epilepsie beweisend sind, denn sie können auch
bei nicht epileptischen Psychosen sich vorfinden. Wie so oft auf psy-
chiatrischem Gebiete, kommt Alles auf die Entstehungsweise, den Zu-
sammenhang solcher Delirien und ihre begleitenden Umstände an.
Die hier in Untersuchung stehenden Delirien sind solche primor-
dialen Gepräges. Die depressiven unterscheiden sich von analogen,
wie sie bei Melancholie vorkommen können, zunächst durch den Um-
stand, dass ein herabgesetztes Selbstgefühl hier nicht oder nur unvoll-
Kr»fft-Ebing, Arbeiten III. 8
114 Ueber typische Delirien
kommen zum Ausdruck gelangt, vielmehr das complementäre expansive
Primordialdelir sich bemerklich macht und den Sünder früh unter dem
Zeichen der göttlichen Gnade, des Märtyrerthums erscheinen lässt,
der Chancen für einen günstigen Ausgang des Gottesgerichts besitzt
und Vorahnungen seines Triumphs über Tod, Hölle, Antichrist u. s. w.
bis zu künftiger Apotheose in seinem Bewusstsein vorfindet. Dazu die
Absurdität der depressiven Delirien.
Bezüglich der expansiven Delirien sind hervorzuheben : die eigen-
thümliche Verquickung religiöser mit Majestätsdelirien und auch mit
depressiven („der Himmelvater will sterben"), die massenhaften be-
gleitenden höchst plastischen Gesichtshallucinationen , die mit musku-
lären Anästhesien im Zusammenhang stehenden Himmelfahrten , das
Delir im Himmel zu sein, die totale Verkennung der Umgebung im
Sinne göttlicher oder fürstlicher Personen, das oft ganz unvermittelte
Hereinbrechen schreckhafter, namentlich dämonomanischer Delirien,
die auffällige Gereiztheit, bis zur Aggression gegen die Umgebung,
seitens des doch der Wonnen himmlischer Freuden theilhaftigen
Kranken. Dazu gesellen sich eventuell episodisch Stupor, Gesichts-
hallucinationen in rother Farbe (Feuer, glühende Kugeln, Blut
Christi u. s. w.)-
Bemerkenswerth sind ferner Krampfpuls, Pallor auf der Höhe des
Anfalls, Abklingen desselben durch einen Dämmerzustand.
Mit der Häufung solcher klinischer Thatsachen kann der Schluss
auf eine epileptische Deutung des Anfalls berechtigt werden, auch
wenn die Anamnese verschleiert ist und Beweise für das Vorkommen
irgendwie gearteter Zeichen der epileptischen Neurose nicht vorliegen.
Eine interessante Frage ist auch die, warum religiöses und Majestäts-
delir gerade bei Epileptikern so häufig zur Beobachtung gelangen. Be-
züglich des ersteren liegt die Annahme nahe, dass es auf dem Boden
einer sexuellen Erregung steht. Längst anerkannt ist ja die That-
sache, dass sexuelle und religiöse Exaltation einander verwandt sind
und dass religiöse Delirien vielfach klinische Aequivalente erotischer
sind (s. m. Lehrb. d. Psychiatrie 6. Aufl. S. 79 u. Psychop. sexual.
9. Aufl. S. 8 u. ff.).
Nicht minder bedeutungsvoll ist die von mir in meiner Psychop.
sexualis S. 327 hervorgehobene Thatsache, dass überaus häufig bei
Epileptikern, im Zusammenhang mit epileptischen Insulten und zur Zeit
äquivalenter oder postepileptischer psychischer Ausnahmszustände, Er-
scheinungen sexueller Erregung sich vorfinden, so dass nicht zu be-
zweifeln ist, dass die mit dem epileptischen Insult einhergehenden Hirn-
bei Epileptikern. 115
Veränderungen auch eine krankhafte Erregung des Geschlechtslebens
hervorrufen können.
Diese klinische Grundlage für religiöses Delirium ist zur Er-
klärung jedenfalls festzuhalten, während die rein psychologisirende
von Legrand du Saulle und Toselli, nach welcher solche Kranke sich
im Bewusstsein ihrer traurigen Lage (in Folge ihrer Krankheit) der
Religion in die Arme werfen, kein Vertrauen verdient.
Unter den 38 Kranken, an welche diese Studie anknüpft, fand
ich thatsächlich nur 5, bei welchen Bigotterie zu constatiren war, eine
geringe Zahl, wenn man bedenkt, dass jene grösstenteils ländlichen
Kreisen von Steiermark angehörten.
Untersucht man dagegen die Vita sexualis der 38 Kranken, so
gelang bei 17 derselben der Nachweis, dass sie sehr sinnlich waren
und theils Excessen im Coitus, theils Masturbation ergeben waren.
Auch im Anfall ergaben sich vielfach Hinweise auf eine vor-
handene sexuale Erregung. Ich rechne dahin Geruchshallucinationen,
obscöne Delirien (Beob. 2. 14. 21. 32) und häufige Fälle, wo man
solche Kranke in ihren bis zu gelegentlicher Ekstase sich erstreckenden
expansiven Affecten über Masturbation betritt.
Was die Majestätsdelirien betrifft, so wäre es denkbar, dass die-
selben einfach als Aequivalente religiös expansiver zu betrachten sind,
wenigstens erscheinen jene neben den anderen und oft geradezu stell-
vertretend im Krankheitsbild. Es begreift sich ja ohne Weiteres,
dass der sieghafte Gottesstreiter sich der höchsten irdischen Macht
gleichgestellt fühlt und episodisch sich mit ihr identificirt, gerade wie
er schliesslich zur Apotheose gelangt.
8*
IV.
UEBER IDIOPATHISCHES PERIODISCH WIEDERKEHRENDES
IRRESEIN IN FORM VON DELIRIUM.
Ueber idiopathisches periodisch wiederkehrendes
Irresein in Form von Delirium.
Unter den vielen psychopatliischen Bildern, die ihrer klinischen
Präcisirung und ätiologischen Begründung harren, bietet der in Rede
stehende Krankheitszustand ein nicht geringes Interesse, weil seine
Beziehungen zur Epilepsie in Frage stehen und der Nachweis der
epileptischen Bedeutung des Krankheitsbildes ein weiterer und nicht
gering zu schätzender Schritt auf dem Wege der ätiologischen Klar-
stellung der Psychosen sein würde.
Man ist berechtigt, solche Erscheinungen psychischer Erkrankung
dem periodischen Irresein zuzurechnen, da sie die allgemeinen Züge
des periodischen — brüske Entstehung und Lösung der Aniälle, typisch
congruenten Inhalt und Verlauf derselben, wenn mit einander ver-
glichen, aufweisen, unbeschadet etwaiger Unterschiede des Grades und
der Dauer. Dazu kommt die Wiederkehr solcher Anfälle in annähernd
gleichen Zeiträumen und ohne palpable (äussere) Veranlassungen, so-
dass man annehmen muss, dass die Summation oder Wiederkehr von
centralen Reizvorgängen auf Grund einer dauernden Veränderung im
Gehirn die Wiederholung der Anfälle vermittelt. Unzweifelhaft handelt
es sich hier um Bilder idiopathischer Psychose.
Streng periodisch ist die Wiederkehr der Anfälle jedoch nicht
immer; auffällig und an ähnlichen Verlauf bei Epilepsie erinnernd,
ist das nicht selten serienartige Auftreten jener.
Von dem Bilde gewöhnlichen periodischen Irreseins entfernen sich
diese Zustände weiter durch kurze Dauer derselben, durch tiefere
Störungen des Bewusstseins, durch eigenartige psychomotorische Phäno-
mene, endlich dadurch, dass sie sich als Delirium abspielen. Aus diesem
120 lieber idiopathisches periodisch wiederkehrendes Irresein
Grund kann man diese Krankheitszustände auch nicht mit der Form
des periodischen Wahnsinns identificiren.
Die Eigenartigkeit dieser Zustände muss ohne Weiteres zugegeben
werden.
Constante Symptome sind, ausser dem brüsken Ausbruch und der
plötzlichen Lösung des Zustandes qua Delirium, die tiefere, auf einer
Dämmer- oder Traumstufe sich haltende Bewusstseinsstörung, der ver-
worrene Charakter des Deliriums, das, in bunter Vermischung der ein-
zelnen Wahngruppen, ein hypochondrisches, persecutorisches oder Grössen-
delir sein kann; ferner die auf einen directen Eeizvorgang in psycho-
motorischen Centren des Vorderhirns hinweisenden motorischen Stö-
rungen, die als sog. katatonische oder automatisch impulsive, zwangs-
mässige iu Mimik, Sprache, Haltung und Bewegungen sich kundgeben
und stereotyp in jedem Falle wiederkehren.
Dadurch bekommen diese Zustände viele gemeinsame Züge mit
den psychischen Aequivalenten der Epilepsie, namentlich mit den pro-
trahirten.
In der Literatur ist wenig von diesem Krankheitsbild die Kede.
Morel (etudes cliniques 1853 II p. 115) scheint es zuerst beschrieben
zu haben.
Er beschreibt einen Fall bei einem Hypochonder als periodisches
manieartiges Irresein mit convulsivischem Lachen, grosser Bewegungs-
unruhe, akrobatenartigen Bewegungen. In einer späteren Arbeit
(d'une forme de delire, suivi d'une surexcitation nerveuse, se rattachant
ä une variete non encore decrito d'epilepsie larvee Paris 1860) theilt
Morel 5 Fälle von periodisch wiederkehrender Aufregung mit Delir
mit, die hierher gehören dürften. An den ersten derselben (periodisch
wiederkehrende, typisch gleiche Anfälle von Zornwuth, mit blinder
Kücksichtslosigkeit gegen die Umgebung, ganz ohne Motiv, mit schreck-
haften Sinnestäuschungen, Delirien, ein Anfall dem anderen gleich, mit
Lösung durch einen Stuporzustand und nur summarischer Erinnerung
für das Vorgefallene) knüpft M. die Bemerkung, dass man hier an
Epilepsie denken müsse, obwohl die Vorgeschichte des Falles keine
epileptischen Antecedentien biete. Thatsächlich wurden später in diesem
Falle massenhaft epileptische Insulte constatirt.
Als Ergebniss seiner Studie nimmt M. an, dass statt epileptischer
Insulte psychische Zustände auftreten können, deren charakteristische
Merkmale folgende sind: periodischer Wechsel zwischen Exaltation
und Depression, intercurrente Paroxysmen von wüthender Tobsucht mit
schreckhaften Hallucinationen, mit extremer Keizbarkeit, Amnesie für
die in die Zeit der Anfälle fallenden Vorgänge, typischer Inhaltsgleich-
in Form von Delirium. 121
heit des Deliriums gleichwie der extravaganten und gefährlichen Hand-
lungen.
In seinem traite des maladies ment. 1860 p. 480 steht Morel nicht
an, auf Grund zahlreicher Fälle, in welchen endlich doch der Nach-
weis der Epilepsie gelang, wesentlich aber auf Grund des eigenartigen
klinischen Details und Verlaufs, diese eigene Art von Folie periodique
als dem epileptischen Irresein zugehörig anzusprechen.
Kirn, in seiner Monographie der periodischen Psychosen 1878
S. 76, schildert solche Zustände als „centrale Typosen", ist aber nicht
geneigt, sie zu den Manifestationen der Epilepsie zu rechnen. In
meinem Lehrbuch der Psychiatrie habe ich seit 1879 dieselben unter
den periodischen Psychosen besprochen und ihnen im Rahmen dieser
eine besondere Stelle zugewiesen, die Frage ihrer epileptischen Bedeu-
tung offen lassend.
Einen werthvollen Beitrag zu diesem dunklen klinischen Gebiete
gab Pick (Archiv f. Psychiatrie XI. 1) durch Veröffentlichung eines
typischen Falles (mit sichergestellter Epilepsie) mit sorgfältiger Epi-
krise, unter Anreihung eines zweiten, der aber keine epileptischen
Antecedentien bot und überdies mit einer Paranoia complicirt war.
Ich habe in der letzten Auflage meines Lehrbuchs die Besprech-
ung dieser eigentümlichen Irrsinnsanfälle, da sie selten sind und ich
den Raum für Wichtigeres brauchte, unterlassen. Wenn ich an dieser
Stelle auf dieselben zurückkomme, geschieht es, weil neue Erfahrungen
sie in ein helleres Licht setzen und ihre Zugehörigkeit zum epilep-
tischen Irresein nun nicht mehr zweifelhaft erscheint.
Versucht man das Krankheitsbild wie es in fremder und eigener
Erfahrung sich darstellte, zu fixiren, so ist zunächst die Plötzlichkeit
des Ausbruchs des Anfalls, mitten aus relativer Gesundheit und ohne
palpable Ursachen, zu betonen.
Tn der Minderzahl der Fälle zeigen sich, wohl als Aura aufzu-
fassende Vorboten (meist psychische in Gestalt heiterer, seltener de-
pressiver Stimmungsanomalie, häufig Angst, Gereiztheit).
Zu den ersten und constanten Symptomen des sich entwickelnden
Paroxysmus gehören Schlaflosigkeit, mimische Entstellung, enorme
Reizbarkeit, bis zu aggressivem brutalem Benehmen gegen die Um-
gebung. In einzelnen Fällen zeigen sich fluxionäre Erscheinungen
zum Gehirn. Früh sinkt die Bewusstseinsenergie auf eine Dämmer-
bis Traumstufe herab. Es entwickelt sich Gedanken- und Bewegungs-
drang, sodass man dem Beginn einer schweren Manie sich gegenüber
zu befinden meinen möchte, aber diese Erscheinungen werden verdrängt
durch ein hallucinatorisches Delir, das von nun an den gesammten
122 Ueber idiopathisches periodisch wiederkehrendes Irresein
psychomotorischen Apparat in Anspruch nimmt. Ein oft geradezu
kaleidoscopischer Wechsel von deliranten hallucinatorischen Situationen
spielt sich in dem dämmerhaften Bewusstsein ab und bedingt bunt
wechselnde Stimmungen von Angst bis zum Zorn, von Gehobenheit bis
zur an Ekstase hinanreichender Exaltation.
Auffällig ist die grosse Gereiztheit, welche das Ganze durchweht
und selbst in expansiven Stimmungslagen sich bemerklich macht, indem
offenbar an der Schwelle des expansiven Ideenkreises befindliche de-
pressive Vorstellungen in diesen hineinwirken. Umgekehrt kann man
mitten in Angst und depressiver Stimmungslage ein Lächeln auf der
Miene des Kranken auftauchen sehen.
Das Delir erscheint als depressives, persecutorisches, gelegentlich
auch als hypochondrisches, als expansives, mit massenhaften Beziehungen
zu Gottnomenclatur, Majestätsdelir. Als flüchtige Wahnpersönlich-
keiten erscheinen die Kranken als Sünder, vom Teufel und schreck-
lichen Spukgestalten Verfolgte, von Tod, Feuer, Blut und allen mög-
lichen Gefahren (Gottesgericht, Fegfeuer u.s.w.) Heimgesuchte, dann
wieder als siegreiche Ueberwinder der Hölle, als Feldherrn, Propheten,
Christus, Kaiser u. s. w. Entsprechend illusorisch umgestaltet erscheint
die Aussenwelt und die Umgebung. Eigenthümlich erscheinen dabei
der absurde Inhalt einzelner Wahnideen („Niemand", „Papagei"), die
Verquickung von grauenvollen Martern mit Majestätsdelir, überhaupt
von depressiven und expansiven Wahnideen.
Charakteristisch ist ferner schwere Verworrenheit durch tief ge-
störte Vorgänge der Association und bunt durcheinander geflochtene
hallucinatorisch-delirante Situationen, bei erheblich getrübter und illu-
sorisch gestörter Apperception der Aussenwelt. Ansätze zu manischem
Bewegungsdrang in Gestalt von Singen, Schreien, Wühlen, Schmieren,
Zerstören erheben sich immer wieder, aber vielfach untermischt mit
ganz impulsiven Akten (Würgen der Umgebung, blinde Aggression auf
Personen und Objecte) und ganz sonderbaren Zwangsbewegungen und
Zwangsstellungen (Gangtreten, Kotiren um die Längsaxe, Purzelbäume,
Schwimmbewegungen, Stehen auf einem Bein, den gekreuzigten Christus
imitirende Posen u.s.w.).
Auf der Höhe des Zustands kann es zu psychomotorischen Reiz-
erscheinungen kommen, ähnlich einem beginnenden Delir. acutum
(Zähneknirschen, Grimassireu, Lippenspitzen, Zungenschnalzen u.s.w.),
dann wieder, in jähem Umschlag, zu ekstaseartigen Erscheinungen,
Stupor.
Oder auch, es kommt zu Remissionen des Delirs und der motorischen
in Form von Delirium. 123
Erregung, bis zu Ansätzen von momentaner Lucidität, die aber meist
Erschöpfungszustände darstellen.
Im Grossen und Ganzen erscheint der Gesammtanfall als ein
solcher von intensiver Erregung psychomotorischer, psychischer und
sensorieller Hirnrindengebiete, der jäh einsetzt, mit nur geringen
Schwankungen abläuft und qua Delir ebenfalls jäh sein Ende erreicht,
wobei aber Erscheinungen des zu Grunde liegenden Dämmerzustandes
um Tage das Delir und die psychomotorische Erregung überdauern
können.
Der Schwere des Anfalls dürfte Umfang und Grad der Erinnerung
für die Erlebnisse in der Zeit desselben entsprechen. In schweren
Fällen besteht Amnesie.
Die Dauer der Anfälle ist eine verschiedene. Gewöhnlich läuft
der Paroxysmus binnen 10 Tagen ab. Längere Dauer scheint im
Sinne der Recrudescenz bezw. Recidive, wobei die Anfälle in einander
fliessen, deutbar. Die Wiederkehr derselben erfolgt in Zeiträumen von
Wochen bis Monaten. Die Anfälle können in kürzerer Frist und mehr-
fach hintereinander sich wiederholen (serienartige Häufung), zuweilen
bleiben sie abortiv. Die Prognose dürfte nicht so ungünstig sein, da
jene jahrelang, ev. selbst dauernd ausbleiben können.
Therapeutisch erschien in dieser Hinsicht fortgesetzte und ener-
gische Behandlung mit Bromsalzen nicht ohne Werth. Zuweilen ge-
lang es mir im beginnenden Anfall denselben mit Morphiuniinjectionen
zu coupiren. Auf der Höhe desselben erscheinen die gewöhnlichen Be-
ruhigungsmittel (Brom, Chloralhydrat u.s.w.) wirkungslos.
Bezüglich des klinischen Details dieser interessanten Erscheinungen
von mehr oder weniger ausgesprochenem periodischem Irresein in Form
von Delir geben die folgenden 9 Beobachtungen Aufschluss.
Beob. I1). Koban, 29 J., Handwerker, wurde am 12. 1. 1872 in
halb erfrorenem Zustand und geisteskrank aufgefunden und ins Irren-
haus gebracht, Die Anamnese ist auf Pat, beschränkt, der nur anzu-
geben weiss, dass er seit Jahren etwa alle 3 Wochen einen Anfall
von Irresein bekomme, der 8—10 Tage dauere und nur summarische
Erinnerung hinterlasse. Pat. ist geistig geschwächt, gemüthsreizbar.
Epileptische Autecedentien sind nicht zu ermitteln. Alkoholexcesse
werden zugegeben. Die Beobachtung ergiebt Onanie. Pat, hat einen
kleinen brachycephalen Schädel, der rechte Mundwinkel ist parelisch,
steht etwas tiefer als der linke.
1) Beob. 1—4 aus des Verf. Lehrbuch iler Psychiatrie 1. Auflage.
124 Ueber idiopathisches periodisch wiederkehrendes Irresein
Pat. bietet in der Folge in Zwischenräumen von 3—5 Wochen
Anfälle von tobsuchtartiger deliranter Verworrenheit, die 8 — 15 Tage
dauern und typisch gleich sind. Sie treten ganz plötzlich auf. Tiefe
mimische Entstellung, zunehmende Eeizbarkeit, Schlaflosigkeit, Fluxion
zum Kopf, Steigerung der Pulsfrequenz bis zu 130 Schlägen, zu-
nehmendes Lachen, Fortdrängen, bezeichnen ihren Eintritt,
Das Bewusstsein wird tief gestört, Pat. sieht wie angetrunken aus,
verkennt die Umgebung, hält sie bald für fürstliche Personen, bald
für Verfolger. Bunter Stimmungswechsel, enormer Gedankendrang,
grosse Verworrenheit, Lachen, Singen, Tanzen, Zerstören, Kothschmieren,
Grimassiren, heftige Fluxion, Salivation sind nie fehlende Symptome.
Auf der Höhe des Paroxysmus treten eigenthümliche Zwangsbewegungen
auf, die stunden-, selbst tagelang in Form von taktmässigem Hin- und
Herrotiren um die Längsaxe, Hin- und Herschleudern des Kopfes an-
dauern. Zeitweise Erschöpfungspausen oder auch Remissionen, bei
fortbestehender Bewusstseinsstörung.
Die Anfälle lösen sich, indem sie durch einen mehrtägigen Dämmer-
zustand hindurchgehen, in welchem Pat. grossen Sammeldrang zeigt,
in den Spucktrögen wühlt, deren Inhalt in den Mund zu stecken be-
müht ist und sehr reizbar ist.
Für die Krankheitserlebnisse hat Pat. nur eine höchst summarische
Erinnerung. Morphiuminjectionen , Bäder und Digitalis mildern die
Intensität der Anfälle, ohne sie abzukürzen. AVird Morphium bei den
ersten Anzeichen des nahenden Anfalls angewendet, so gelingt es nicht
selten, denselben zu coupiren.
Intervallär bietet der geistig bedeutend geschwächte Kranke ein
haltloses läppisches Wesen und grosse Reizbarkeit. Die Anfälle sind
in den letzten 2 Jahren seltener geworden, ohne ihren Charakter zu
ändern. Nie konnten während 7 jähriger Beobachtung epileptische
Sj'mptome irgend welcher Art constatirt werden.
Beob. 2. Lovisa, 38 J., verheirathet, Maurer aus Italien, wurde
am 6. 10. 1875 aufgenommen. Die Anamnese ist auf Pat. beschränkt,
der erbliche Anlage und epileptische Antecedentien bestimmt in Ab-
rede stellt, Er giebt an, von jeher sehr regen Geschlechtstrieb gehabt,
denselben seit dem 10. Jahre durch Onanie befriedigt, später viel an
Pollutionen gelitten zu haben. Auch nach seiner Verehelichung habe
ihm die Frau nicht genügt und habe er sich theils bei anderen
Weibern, theils durch Onanie befriedigen müssen. Vom 15. Jahre an
habe er auch stark zu trinken angefangen, Schnaps und Rum, zu-
weilen für einen Gulden täglich vertrunken. Pat. bietet auch den
in Form yon Delirium. 125
echten Habitus des Potators. Er will früher, bis auf Variola im
16. Jahre, gesund gewesen sein. Die linke Hand verlor er durch Un-
vorsichtigkeit beim Holzschneiden.
Ende September 1875 wurde Pat. ungewöhnlich heiter, gesprächig
und geschäftig. Am 4. Tage fand man ihn Morgens jubilirend und
auf einer Wiese herumtanzend. Er that dies, weil ihm die hl. Drei-
faltigkeit erschienen war und er Christus durch Tanzen für sich ge-
winnen wollte. Bei der Aufnahme grosse Bewusstseinsstörung, delirant,
verworren — der Kaiser habe ihn hierher geschickt, er sei im Namen
Christi gekommen. Er singt, schreit, tanzt, die Stimmung wechselt
ehenso wie die Apperception im Handumdrehen. Er verkennt bald
die Umgebung feindlich, schreit, heult, tobt, wird aggressiv, bald ist
er sehr devot, begeistert, glücklich und hält den Arzt und Wärter
für Engel, Heilige.
Pat. ist schlaflos, congestiv, mimisch tief verstört. Herztöne
schwach, dumpf, der Puls, meist 40, übersteigt nie 50 Schläge und ist
tard. Schmaler, fliehender Stirnschädel, der rechte Mundfacialis pare-
tisch, leichtes Zittern der Hände und der Zunge. Der Verlauf bewegt
sich in Remissionen, in welchen er singt, in Lustaffecten bis zur Ek-
stase schwelgt, vorübergehend auch zornige Affecte bietet, und in
Exacerbationen mit verworrener Gedankenflucht, Schmieren, Zerreissen,
Zerstören. Pat. geht durch einen Zustand psychischer Umdämmerung
mit maniakalischen Elementen und auffälliger Reizbarkeit in den Stat.
quo ante zurück.
Solche Anfälle wiederholen sich typisch congruent in Zwischen-
räumen von 5 Tagen bis einigen Wochen und dauern 3 — 4 Wochen.
Sie beginnen mit Schlaflosigkeit, grösserer Reizbarkeit, Unstetig-
keit, gedrückter Stimmung, die damit motivirt wird, dass die für Heilige
gehaltenen Personen der Umgebung die Befehle Christi nicht achten.
Er bittet um Verzeihung für die Umgebung. Nach 2tägiger Dauer
dieses gedrückten Zustands wird Pat. begeistert bis zur Ekstase. Sein
Bewusstsein sinkt auf traumhafte Stufe, sein Gedankenablauf wird be-
schleunigt bis zur Verworrenheit. Er glaubt sich im Paradies, sieht
den lieben Gott, unterhält sich mit den Engeln, weint, lacht, tanzt,
singt, küsst den Boden, zerreisst Kleider, gestikulirt als Reaction auf
diese Visionen und Delirien. Endlich geht er durch den erwähnten
Dämmerzustand in den ruhigen zurück.
Pat. corrigirt intervallär nicht seine deliranten Erlebnisse, für die
er eine ziemlich getreue Erinnerung besitzt. Er schildert seine Para-
diesesvisionen, das Glück, Christus zu sehen. Wenn er seine Kleider
zerreisse, so geschehe es, um sich wie Christus anzuziehen; wenn er
126 Ueber idiopathisches periodisch wi äderkehrendes Irresein
zornig sei, so verfolgten ihn die armen Seelen, die er über sich sehe
und deren Stimmen er höre. Auch im intervallären Zustand vermag
Pat, jederzeit das Paradies als einen Blumengarten vor sich zu sehen.
Er geräth dabei in Entzücken, küsst das vermeintliche Paradies
(den Boden) und wundert sich, dass es die Anderen nicht auch
sehen. Auch andere Vorstellungen kann er plastisch vor sich sehen,
jedoch bedarf es dazu längeren Schliessens der Augen und einiger
Anstrengung.
Morphiuminjectionen wirkten auffallend günstig und vermochten
seit Anfang 1879 die Anfälle, wenn rechtzeitig vorgenommen, zu cou-
piren.
Unter dieser Behandlung blieb sogar Pat. vom 18. 3. an bis zum
Tage seiner Heimverbringung (6. 10. 1879) von ferneren Anfällen frei.
In der 4jährigen Anstaltsbeobachtung wurden nie epilepsieartige
Symptome beobachtet.
Beob. 3. Petrosch, 26 J., ledig, Apotheker, stammt von einem
schwindsüchtigen Vater, dessen Bruder und Schwester irrsinnig waren.
Pat, war als Kind schwächlich, so dass man an seinem Aufkommen
zweifelte, litt bis zum 11. Jahre an allgemeinem Jucken und Haut-
brennen, war gut begabt, aber von düsterem melancholischem Tempera-
ment, In der Schule soll er nach dem Zeugniss eines
Kameraden wiederholt epilepsieartige Anfälle gehabt
haben. In den Schuljahren geistige Ueberanstrengung und Kummer
über unglückliche Familienverhältnisse. Schon damals will Pat. oft
Gefühl und Furcht irrsinnig zu werden gehabt haben. Mit 17 Jahren
schwere „Meningitis" Einige Monate nach dieser acuten cerebralen
Erkrankung 1. Anfall von Irresein, dem bis Frühjahr 1875 14 gleich-
artige von 14—20 Tagen Dauer folgten.
Am 31. 5. 1875 liess sich Pat. zu einem Kurversuch in der Irren-
anstalt aufnehmen.
Pat, ist schlank, von rachitischem Thorax und Schädel. Der
Descensus testiculi fehlt rechterseits. Massiger Grad von Staphylom
auf beiden Augen. Epileptische Antecedentien irgend welcher Art
stellt Pat. in Abrede, Onanie kann ausgeschlossen werden.
Aus der Anamnese geht hervor, dass die früheren Anfälle nicht
streng periodisch und meist im Anschluss an Gemüthsbewegungen auf-
traten. Als Prodromi sollen Schlaflosigkeit, träumerische Versunken-
heit, Obstipation, Fluxion zum Gehirn, verglastes Auge, stierer Blick
während mehrerer Tage bemerkbar gewesen sein. Rasch erreichte dann
Pat, die Höhe des Anfalls, in welchem Fluxion, Verstopfung, Schlaf-
in Form von Delirium. 127
losigkeit, Sprachlosigkeit, Gangtreten, impulsive Acte, wie z. B. Würgen
der Umgebung, Zerstören von Fensterscheiben besonders auffällig
waren. Pat. will in diesen Anfällen das Bewusstsein nie ganz ver-
loren haben. Er habe jedesmal schreckliche Bilder von Krieg, Schlachten
gehabt, sich für einen Feldherrn gehalten und gemeint, er müsse Krieg
führen, um seinem Vaterland zur früheren Machtstellung zu verhelfen.
Die Anfälle lösten sich plötzlich.
Intervallär fiel ein Zug von Bigotterie, Vorliebe für Bibelstudium,
scheues, in sich gekehrtes Wesen bei dem Kranken auf. Er meinte,
er lebe für's Jenseits, klagte auch, dass sein Gedächtniss und Auf-
fassungsvermögen nothgelitten habe. Häufig auch Kopfweh.
Bis zum 2. 12. 1875 bot Pat, nichts weiter Auffälliges und be-
sorgte zur Zufriedenheit die Hausapotheke. Von da bis zum 12. 12. 1875,
ferner von 26. 9. bis 3. 10. 1876, vom 31. 10. bis 6. 11., vom 7. bis
13. 12. 1876, vom 8. 1. bis 18. 2. 1877, vom 24. 1. bis 28. 1. 1878
wurden Anfälle beobachtet, die typisch congruent waren.
Sie begannen mit Schlaflosigkeit, sentimentaler Stimmung, in
welcher Pat. seinen Leidensgefährten Geld, Cigarren, Bücher schenkte.
Dann kam Gedankendrang, der sich immer mehr steigerte, Thätig-
keitsdrang, in welchem sich Pat. gehoben, wie von einer höheren Macht
zu Arbeitsleistungen angespornt fühlte. Er machte dann weit über
sein Vermögen gehende Bestellungen von Büchern, Zeitschriften, kramte
in Büchern, Effecten, bis Alles in grösster Unordnung war.
Der eigentliche Paroxysmus trat dann binnen 2 Tagen und ziem-
lich plötzlich ein. Pat. wurde mimisch tief verstört, gerieth in einen
tiefen Dämmerzustand. Der Blick war stier, die Bulbi anästhetisch,
die Pupillen mydriatisch, die Augen weit aufgerissen, der Puls klein,
frequent, die Arterie eng contrahirt, die Extremitäten kalt, cyanotisch.
Pat, verharrte stundenlang starr auf einem Fleck, dann kamen
wieder motorische Erregungszustände, in welchen er sang, pfiff, gri-
massirte, laut auflachte, herumtanzte, zwangsmässig auf dem Corridor
auf- und ablief, die Kranken stiess, schlug, auf allen Vieren herumkroch,
unter dem Billard Schwimmbeweguugen machte. Andauernde Stumm-
heit und Schlaflosigkeit, oft ganz verklärtes Gesicht.
Die Lösung der Anfälle war eine plötzliche unter Aufhellung des
Bewusstseins, Weich- und Vollwerden des Pulses und wiederkehrender
normaler Circulation in den Extremitäten.
Pat, erinnerte sich ziemlich treu der Krankheitserlebnisse. Sie
waren immer dieselben. Zuerst kamen Liebesgedanken, dann fühlte
er sich als Arzt, der Visiten mache, dann als Kathgeber Sr. Majestät
oder eines hohen Kirchenfürsten, endlich als Feldherrn und Kaiser,
128 lieber idiopathisches periodisch wiederkehrendes Irresein
der Schlachten schlage. Die Umgebung wurde für hohe kirchliche
und politische Würdenträger gehalten. Eine Motivirung der impul-
siven Acte vermochte Pat. nicht zu geben. Ein wirrer Gedankendraug
machte den Inhalt seines Bewusstseins aus. Hallucinationen habe er
dabei nicht gehabt.
Nach den Anfällen fühlte sich Pat. jedesmal noch einige Tage
matt, erschöpft, empfindlich gegen Lärm, menschenscheu, etwas ge-
drückt, wehmüthig.
Vom 2. 3. 1877 bis 22. 1. 1878 nahm Pat. täglich 6,0 Bromkali.
Die Anfälle blieben während dieser Zeit aus, aber eine grosse Im-
pressionabilität, zeitweise Morosität und Gereiztheit machten sich da-
für bemerklich. Als Pat. das Mittel aussetzte, stellte sich sofort wieder
ein Anfall ein. Wiederholt wurde von Morphiuminjectionen eine in-
tensitätsmildernde und abkürzende Wirkung beobachtet.
Am 26. 2. 1878 wurde Pat. nach seiner heimathlichen Irrenanstalt
versetzt. Dort kehrten (ohne Bromkali) die Anfälle in Intervallen von
1 Monat 7 Mal wieder. Pat. entschloss sich von Neuem zu Bromkali.
Abermaliges Ausbleiben der Anfälle.
Beob. 4. Bratschko, 51 J., ledig, Zimmermann, wurde am 23. 4.
1878 in's Spital gebracht, da er durch ganz verworrene Eeden und
Handlungen im Gasthaus auffällig geworden war.
Pat, ist gross, der Schädel normal, ohne Spuren einer Verletzung,
die Miene verworren, ganz entstellt. Ausser Lungenemphysem, einer
Schankernarbe am Penis und Hypospadie findet sich am Körper nichts
Bemerkenswerthes. Pat. befindet sich in einem eigentümlichen
Dämmerzustand und ist sehr verworren. Er behauptet, seit 5 Tagen
schon hier zu sein im Krankenhaus, wo die Menschen geschlachtet
werden. Man möge ihn doch lieber assentiren, als aufhängen oder
köpfen. Er habe 3 Söhne, der dritte sei er selbst. Sein Vater habe
ihn verhext, in ein Pferd verwandelt und verkauft. Pat. dämmert
umher, zeigt Sammeldrang, verkennt oft die Umgebung feindlich, faselt
von Getödtetwerden, schimpft, haut um sich.
Anfang Mai tritt eine plötzliche Lösung dieses eigentümlichen
Dämmerzustands ein, für den Pat. nur eine summarische Erinnerung
hat. Er giebt an, sein Vater sei epileptisch, höchst jähzornig gewesen
und habe ihn oft geprügelt. Er selbst sei durch einen Fall vom Ge-
rüst und den Schrecken dabei im 27. Jahre epileptisch geworden, habe
in der Folge öfters convulsive Anfälle gehabt, sei auch mit 21 Jahren
einmal kurze Zeit ganz verwirrt gewesen, habe getobt, sodass man ihn
binden musste.
in Form Ton Delirium. 129
Eingezogene Erkundigungen ergaben, dass Pat. seit Jahren herum-
vagabundirte und wegen Bettels mehrfach abgestraft worden war.
Die epileptischen Antecedentien sind auf die Angaben des Pat. be-
schränkt. Die 1V2 jährige Beobachtung konnte nie etwas der Epilepsie
Verdächtiges ermitteln. Jedoch bietet Pat. intervallär das exquisite Bild
des epileptischen Charakters. Er ist ein moroser, reizbarer, jähzorniger,
muckerischer, augenverdrehender Mensch, der vielfach die Thatsachen
entstellt wiedergiebt, mit der Umgebung beständig in Unfrieden und
Streit lebt, mit Allem unzufrieden ist, Alles besser versteht, gleichwohl
aber die christliche Demuth zur Schau trägt, Gott immer im Munde
führt und sich nie von seinem Gebetbuch trennt.
Am 31. 10. 1878, nach schlafloser Nacht und vorgängiger grosser
Reizbarkeit, erschien Pat. mimisch tief entstellt und im Bewusstsein
schwer gestört. Er erklärte sich für den Niemand, für einen Papagei,
der durch seine vielen Studien zum Narren geworden sei. Nun sei
Alles aus, er sei der Teufel. Lebhafter, tief verworrener Gedanken-
drang. Pat. schlägt taktmässig auf die Bank, strangulirt seineu Penis,
grimassirt, steht auf einem Bein, nimmt ganz verzwickte Stellungen
ein, rutscht auf dem Boden mit gespreizten Beinen herum, behält ge-
gebene Stellungen bei, liegt auch gelegentlich wie der gekreuzigte
Christus auf dem Boden da, mit zugekniffenen Augen und aufgesperrtem
Mund. Andauernd tiefer Traumzustand mit feindlichem Verkennen
der Umgebung, offenbar auch schreckhaften Hallucinationen. Als Re-
action auf solche: zeitweises Schreien, Stöhnen, Poltern an der Thür.
Pat. ist schlaflos, nimmt wenig Nahrung; der Puls sehr frequent,
die Bulbi anästhetisch, der rechte Mundwinkel paretisch. Durch einen
mehrtägigen Dämmerzustand, ganz wie das erste Mal, findet der An-
fall am 15. 11. seine Lösung. Pat. hat nur höchst summarische Er-
innerung, motivirt sein verkehrtes Treiben mit befehlenden Stimmen
und heftiger Angst. Er habe gehört, er solle gemartert werden.
Nach wie vor der reizbare, unzufriedene, querulirende, arbeits-
scheue, bigotte, mit der gottlosen Umgebung unzufriedene, hochmüthige
Sünder, der am liebsten mit dem Gebetbuch sich herumtreibt.
Am 9. 5. 1879 nach mehrtägiger gesteigerter Morosität und Reiz-
barkeit, sowie Schlaflosigkeit, wird Pat. wieder tief verworren, mit
ängstlich verstörter Miene betroffen. Er hat in letzter Nacht ins Bett
urinirt (!), sich in die Ohren gestochen, bietet wieder die bekannten
Zwangsstellungen, und Zwangsbewegungen, bittet die Umgebung um
Entschuldigung, dass er sie umgebracht habe, titulirt den Arzt Majestät,
wähnt sich in einer kaiserlich politischen Anstalt, brüllt nach dem
Kaiser: „warum lässt du mich so martern, Herr Kaiser", deutet aufs
Krafft-Eb in g, Arbeiten III. 9
130 Ueber idiopathisches periodisch wiederkehrendes Irresein
Bein, das solle man ihm abschneiden, oh er denn der B. sei, spricht
wieder vom Abschlachten u.s.w., ganz wie im früheren Anfall. Traum-
hafte Verworrenheit. Pat. schmiert sein Essen herum, wäscht den Penis
in der Suppe, beisst oft ganz impulsiv in seine Kleider, macht Purzel-
bäume, steht auf dem Kopf, liegt dann wieder regungslos in der
Position des gekreuzigten Christus da, macht rudernde Bewegungen,
wie wenn er auf dem Wasser wäre.
Am 23. 5. stellt sich eine mehrstündige Eemission mit leidlicher
Klärung des Bewusstseins ein, in welcher er mittheüt, dass er vor
Angst, ermordet zu werden, und über einen Feuerschein, den er gesehen,
so unruhig war.
Nach einem mehrtägigen Dämmerzustand, in welchem der Arzt
wieder als Majestät verkannt wird, ist der Anfall am 2. 6. vorüber.
Am 6. 10. neuer Anfall, der bis zum 21. 10. dauert und im Wesent-
lichen ganz gleich den früheren sich darstellt. Pat. ist wieder tief
verworren, mimisch verstört. Er will sich die Zähne ausreissen, krallt
sich ängstlich am Fenstergitter an, verlangt, man solle ihm die Zunge
lösen, das Glied abschneiden, weil er der Schinder war. Er verlangt,
verbannt oder verbunden zu werden im Gebirg, spricht viel vom
Schlachten, von Feuer, man könne ihm den Kopf wegschneiden und
in 3 Tagen sei er wieder drauf. Auf der Höhe des Anfalls wieder
die Zwangsbewegungen (Fensterrutschen, Kopfstehen, Purzelbäume,
Ruderbewegungen u.s.w.), feindliche Verkennung der Umgebung, bis
zur Gewaltthätigkeit, beschleunigter, verworrener Gedankenablauf, der
sich um Tod, Blut, Feuer, Gottnomenclatur und Majestät dreht.
Pat. spricht viel von der Mutter Gottes, er sei ein Prophet ge-
wesen, nun ein Kaiser; der Kaiser hat heute Nacht die Kaiserin er-
schossen, der Arzt wird wieder als Majestät begrüsst.
Am 11. mehrstündige Remission, in welcher momentan die Um-
gebung erkannt wird. Dann wieder tiefe Verworrenheit, in welcher
Pat. von Blut, Feuer, Teufel, von Hand- und Fussabschneiden faselt.
Vom 14. an geht der Kranke in den, den Anfall beschliessenden
Dämmerzustand über, in welchem noch ab und zu von Majestät, Blut,
Feuer die Rede ist. So behauptet er u. A., es sei nicht seine Schuld,
dass er Zeuge gewesen sei, wie der Vater die Mutter gemordet habe
und die grosse Blutlache auf dem Boden entstanden sei.
Bemerkenswertk ist noch, dass auf der Höhe der Anfälle jedesmal
die Arterien krampfhaft contrahirt, die Extremitäten kühl und leicht
cyanotisch waren und mit der Lösung des Anfalls auch der Gefäss-
krampf sich löste, der Puls voller, weicher, die Extremitäten wieder
warm wurden.
in Form von Delirium. J3J
Beob. 5. B. G., 26 J., verh., kathol, Schneidergehilfe, ist sub-
microcephal (Schädelumfang 52), imbecill, kam auf die Klinik wegen
eines Aufsehen erregenden Vorfalls. In unsinniger Folgegebung eines
Traums (ein weisser Mann, Abgesandter Gottes, erschien ihm und
theilte ihm mit, es sei Gottes Wille, dass er zum Kaiser reise, den
Monarchen ums Geld bitte, damit er lesen und schreiben lerne und
damit sein Glück mache) war Pat. aus Ungarn nach Wien gereist und
hatte, als man ihn in der Hofburg nicht vorliess, ein Monument er-
klettert und daselbst geschrieen. Pat. corrigirte bald, blieb ruhig,
geordnet. Er berichtete, dass ihm öfter vom Himmel und Flug dahin
träumte.
Keine epileptischen Antecedentien.
Am 24. 11. wird Pat. plötzlich unruhig, beginnt zu schreien, gesti-
culiren und Schiessbewegungen zu machen. Er wird rasch höchst ver-
worren. Sein Delir bewegt sich nur in Gottnomenclatur und Maje-
stätsdelirien. Er schiesst auf Gott. Gott hat es erlaubt, weil ihn
Teufel umgeben. Er hat auf Befehl des Kaisers Sonne, Mond und
Sterne anschiessen müssen. Pat. ist schlaflos, mimisch ganz verstört,
rennt in der Zelle herum, macht beständig Schiessbewegungen und
schreit dazu: „Bum, Bum."
Episodisch hält er seinen Schatten an der Wand für den Teufel
und kämpft mit ihm. Im Uebrigen Gottnomenclatur. Majestätsdelir.
Vorübergehend Nahrungsweigerung, weil Gift in den Speisen sei. Am
26. Abends sieht sich Pat. von einer Menge rother Köpfe umgeben.
In der Ecke sieht er Jesus Christus, dessen Blut an den Wänden
herabtrieft.
Am 28. 11. ist Pat. plötzlich lucid. Amnesie für den ganzen
Krankheitsanfall. Nach wie vor kein Nachweis von epileptischer Neu-
rose möglich. Mit Rücksicht auf die eigentümlichen Delirien, die
enorme Verworrenheit im Anfall und die rothen Phantasmen wird
gleichwohl die Diagnose auf Delir. epilepticum gestellt.
Am 18. 12. neuer Anfall. Vorwiegend religiöses Delir, glaubt
sich im Himmel; gelegentlich Majestätsdelir. Schwere Verworrenheit.
Episodisch Stupor. Der Gesammtanfall dauert 9 Tage. Plötzliche
Lösung. Amnesie.
Bis zum 22. 5. 1896, wo Pat. nach seiner Heimath reist, noch 2
solcher Anfälle, nie aber gewöhnliche epileptische Insulte.
Beob. 6. Rajakov, Bauer, aus belasteter Familie, wurde am
3. 1. 1873 in tobsuchtartiger Aufregung nach der Irrenanstalt ge-
bracht. Nach wenigen Tagen kam er zu sich, mit völliger Amnesie
9*
132 TJeber idiopathisches periodisch wiederkehrendes Irresein
für den Anfall. Die Anamnese ist auf Pat. beschränkt, der bei seiner
Imbecillität nichts von Belang anzugeben weiss.
Pat. ist eine degenerative Erscheinung. Schädel leicht micro-
cephal, Ohren missgestaltet, plumpe geistlose Gesichtszüge. Pat. bietet
in der Folge alle 4—5 Wochen bis 10 Tage dauernde tobsuchtartige
Erregungszustände, die plötzlich einsetzen und sich lösen. Sie sind
typisch übereinstimmend und beginnen jedesmal damit, dass Pat.
brutal, zornig wird, die Umgebung feindlich verkennt. In die Isolir-
zelle gebracht, fängt er an sich mit Roth am ganzen Körper zu be-
schmieren, Alles zu zerreissen, im Stroh zu wühlen. Toben, Schreien,
Lachen, Heulen, enorme Verworrenheit und Bewusstseinsstörung fanden
sich regelmässig auf der rasch erreichten Höhe des Paroxysmus, in
welchem Pat. unnahbar war, offenbar massenhaft Hallucinationen hatte.
In der Zwischenzeit bestand grosse Reizbarkeit, geistige Schwäche.
Ab und zu nächtliche Visionen von Thieren.
Obwohl die Anfälle den Zuständen des grand mal der Epilepsie
sehr nahe standen, waren nie auf solche hinweisende Erscheinungen
zu entdecken.
Von Mitte 1896 an hörten die Anfälle auf, auch die intervallären
Symptome besserten sich auffallend.
Am 22. 10. 1877 wurde Pat. genesen entlassen.
Hinterher erfuhr man, dass bei dem seit 10 Jahren verheiratheten
Pat. schon im ersten Jahr der Ehe seine Frau etwa jeden Monat ein-
mal im Schlaf eine kurz dauernde tonische Streckung des Körpers
mit eingeschlagenen Daumen bemerkt hatte. Am folgenden Tag war
er dann jedesmal etwas verwirrt und klagte über heftigen Kopfschmerz.
Diese epileptischen Anfälle waren mehrere Jahre nicht mehr be-
obachtet worden, bis eines Tages der tobsuchtartige Anfall sich ein-
stellte; Pat. ist seit der Entlassung von solchen frei geblieben.
Beob. 7. Kl., Bäcker, 18 J., stammt von trunksüchtigem Vater,
hatte nie schwere Krankheiten, keine Convulsionen, war kein Trinker
und bis zum 14. Jahr ganz unauffällig gewesen. Vor 4 Jahren
(Pubertät) bot er ohne allen Anlass einen erstmaligen psychischen
Erkrankungszustand, in welchem er schwer verwirrt war, episodisch
nicht essen wollte, weil es Gott verboten habe. Nach 10 Tagen kam
Pat. mit summarischer Erinnerung für diesen Anfall zu sich. Seither
hatte Pat. in Pausen von 10—12 Monaten noch 4 solcher Anfälle
gehabt.
Am 7. 7. 1882 war er neuerlich erkrankt. Er kam verwirrt,,
schreiend von der Arbeit heim, zerschlug Fenster, rannte, vom Vater
in Form Ton Delirium. ^33
zurechtgewiesen, planlos fort. Am 10. kam aus einer benachbarten
Gemeinde das Ersuchen, den Pat. heimzuholen, da er geisteskrank sei.
Man fand ihn verwirrt, aufgeregt, vorübergehend tobend, brachte ihn
am 11. 7. auf die Klinik in Graz. Pat. geht verwirrt, delirant zu.
Er poltert an die Thüre, klettert beständig auf das Fenstergesims,
gesticulirt, erklärt sich mit Pathos für Christus, den Arzt bald für
einen Bischof, bald für den Kaiser.
Sehr wechselnde Stimmung. Andauernd schwere Bewusstseins-
störung. Auffällige Gereiztheit. Nachts schlaflos. Pat. ist nach wie
vor Christus, der Arzt der Kaiser.
Am 14. setzen psychomotorische Eeizerscheinungen ein —
Lippenspitzen, Zungenschnalzen, Zähneknirschen. Kein Fieber, keine
Fluxion.
Am 15. plötzliche Lösung des Zustandes. Pat. hat summarische
Erinnerung, berichtet, dass er schon 4 solche, im Inhalt der Delirien
und Hallucinationen gleiche, aber kürzer dauernde Anfälle gehabt
habe. Sie seien jeweils durch heftige Oongestionen zum Kopf ein-
geleitet gewesen. In diesen Anfällen sah er den Himmel, bekränzt
mit Rosen, Engel machten schöne Musik. Alles war weiss und überall
roch es nach Rosen und himmlischem Duft. Die Mutter Gottes er-
schien ihm und verkündete, dass er als zweiter Christus auf die Welt
gekommen sei.
Ausser schmalem niederem Stirnschädel bot Pat. keine Abnormitäten.
Er wurde am 20. 8. 1882 genesen entlassen.
Am 2. 7. 1887 musste Pat. neuerlich aufgenommen werden. Der
Anfall glich dem vorausgehenden, jedoch waren episodisch höchst schreck-
hafte Delirien vorhanden, in welchen er tobte, vor Wuth schäumte,
um sich schlug, sich erwürgen wollte, hallucinatorische Gestalten auf
dem Fussboden zerstampfte und dazu rief „ich zertrete dich. Fallot,
ich lass nicht eher ab bis die schwarze Schlange zum Vorschein kommt".
Verzweifelte Kämpfe gegen diabolische Spukgestalten. Schwere Be-
wusstseinsstörung. Nach 8 Tagen plötzliche Lösung des Anfalls.
Höchst summarische Erinnerung. Absolut keine Hinweise auf Epi-
lepsie, weder anamnestisch, noch in der folgenden mehrwöchentlichen
Beobachtung.
Beob. 8. H., 32 J., Geistlicher, wurde am 9. 10. 1883 wegen
Geistesstörung aufgenommen. Er ist erblich belastet, hat ein sinn-
liches Temperament, verfiel früh der Masturbation, litt viel unter
Gewissenskämpfen wegen dieses Lasters, versuchte vergebens durch
die göttliche Gnade davon los zu kommen, litt seit Jahren an Neur-
134 Ueber idiopathisches periodisch wiederkehrendes Irresein
asthenia sexualis, galt als ein excentrischer Mensch, zelotischer Eiferer
von ganz mystisch religiöser Richtung und hatte schon vor 1 Jahr
einen Anfall von mehrwöchentlicher Geistesstörung durchgemacht.
Der diesmalige Anfall hatte plötzlich mit Kopfweh, Schlaflosigkeit
und grosser Gereiztheit begonnen. Am Morgen des 10. 10. fiel Pat.
auf durch Unruhe, Aufgeregtheit, entstellte Miene, Drang zu beten.
Er murmelte beständig vor sich hin, lachte gelegentlich, war fluxionär,
ohne Fieber, ohne Zeichen von Angst. Nach schlafloser Nacht, trotz
prolongirtem Bad und Chloralhydrat , am 11. 10. schwer gestörtes
Bewusstsein. Massenhaft Visionen und Stimmen religiösen Inhalts.
Pat. glaubt sich in der Ewigkeit, der frühere H. sei verbrannt worden.
Am 16. 10., nach gut durchschlafener Nacht, plötzliche Klärung
des Bewusstseins. Sehr summarische Erinnerung von Strafgericht
Gottes, Kämpfen mit dem Bösen, Geruchshallucinationen, Gefühlenr
magnetischer Durchströmung. Pat. klagt noch durch einige Tage über
lästigen Gedankendrang (Erethismus cerebralis), Hyperacusis, Hyper-
ästhesia nervornm vasorum, sodass er seinen Pulsschlag im ganzen
Körper empfinde. Genesen entlassen am 24. 10. Am 16. 11. 1893
neuer Anfall — wesentlich gleich dem früheren — Singen und Beci-
tiren von Psalmen, Umherdämmern, oft ganz verzückte Miene, dann
wieder schreckhaft, gereizt. Vom 20. — 22. tiefer Stupor. Vom 22.
ab wieder motorischer Drang, Singen, religiöse Delirien, grosse mimische
Entstellung, Grimassiren, Zungenausrecken, verzwickte Stellungen auf
Grund von Hallucinationen.
Am 29. Anfall vorüber. Sehr summarische Erinnerung. Für
Epilepsie nach wie vor keine Anhaltspunkte. Genesen entlassen. An-
fälle sollen in der Folge in der Heimath wiedergekehrt sein.
Beob. 9. W K., 36 J., ledig, kathol, Fassbinder, liess sich am
6. 6. 1876 im Spitale zu Brück a/M. wegen Schwindelanfällen auf-
nehmen. Das Journal berichtet, dass Pat. an „Gehirnl^perämie"
leidend, scheu, schweigsam, appetitlos meist zu Bett lag, Schwindel
beim Bücken klagte. Die 1. Pupille war erweitert. Am 27. verlangte
er seine Entlassung, weil man ihn beleidige, verspotte. In der Nacht
zum 30. sprang er aus dem Bett, kniete nieder, betete laut, küsste
den Boden, verlangte nach einem Geistlichen und betete, ins Bett zu-
rückgebracht, die ganze Nacht hindurch. Am 30. wurde er hoch-
gradig ängstlich, aufgeregt und wollte in einen Ziehbrunnen springen.
Bei der Aufnahme am 30. in der Grazer psychischen Klinik ist
er dämmerhaft, besitzt für seinen Aufenthalt im Brucker Spital nur
fragmentäre Erinnerung, appercipirt schwer und unrichtig, glaubt sich
in Form von Delirium. 135
in einem Wirthshaus , bricht oft in Weinen aus und greift nach der
Herzgegend, wo es ihm weh thue. Er klagt, dass er in der letzten
Nacht sich ganz steif gefühlt habe und dass Borsten am Körper
überall herausgewachsen seien. Er ist ruhig, steht dämmerhaft herum.
Grosse Anämie, Schädel submicrocephal, 1. Gesichtshälfte und 1. Hand
kleiner als r. L. Pupille erweitert. Gute Reaction. Augenspiegel-
befund negativ. Andauernd tiefer Dämmerzustaud. Stuhlt ins Bett,
in der Meinung, er sei auf dem Abort. Nächtliches angstvolles
Schreien, weil das Haus umgedreht werde. Aengstlich, gereizt, schwer
verworren. Betet einen Mitpatienten als Christus an. Er wolle lieber
ein Thier werden, als unseren Herrgott umbringen. Gelegentlich
Selbstanklagen, gerirt sich als bussfertiger Sünder.
Am 15. 7. plötzliche Lösung des Anfalls. Summarische Erinueruug.
Mutter ist psychopathisch. Pat. war kein Trinker, früher gesund.
1895 schwere Commotio cerebri durch Steinwurf au den Kopf. Seit-
her „Schwiudelanfälle". Nach Genuss eines halben Liters Bier einmal
allgemeines Zittern und Verwirrung im Kopf.
Pat. intervallär reizbar, oft Kopfweh, still, scheu, oft betend be-
troffen.
Am 3. 8. neuerlicher Dämmerzustand. Kühle Extremitäten, eis-
kalte Hände. Pat. betet die Umgebung mit Jammermiene an. Kopro-
phagie. So durch 3 AVochen. Dann Lösung des Anfalls nach mehr-
tägigem Stupor.
Entlassung. Am 19. 8. 1877 neuerlich aufgenommen. Wurde
daheim am 18. plötzlich aufgeregt, brüllte, schlug um sich. Bei der
Aufnahme im Bewusstsein schwer gestört, enorm verworren, gereizt.
Hält sich für einen Soldaten. Grosser Gedankendraug, Bewegungs-
unruhe. Schlaflos. Lösung des Anfalls plötzlich, nach mehrtägigem
Stupor.
10. 9. Neuer Paroxysmus. Aufgeregt, höchst verworren. Er-
klärt sich für heilig. Pfeifen, Singen, Beteu, Brüllen.
Episodisch automatisch impulsive Acte, Grimassiren, stunden-
langes Trommeln mit den Fersen auf den Boden, Bajazzosprünge,
Schwimmbewegungen. Lösung durch Stupor Anfang October.
Intervallär moros, reizbar, viel Kopfweh, ab und zu stundenweise
stuporös.
In der Folge Anfälle alle 4—6 Wochen, von 8—22 tägiger Dauer,
typisch gleich, ausgezeichnet durch grosse Verworrenheit. Bewusst-
seinsstörung, Gereiztheit, buntwechselnde expansive und depressive
Affecte, Gottes- und Sünderdelirien, Ansätze zu Bewegungsdrang, der
aber durch automatisch impulsive Acte verdrängt wird und sich epi-
♦
136 lieber idiopathisches periodisch wiederkehrendes Irresein
sodisch zu motorischen Reizerscheinungen erhebt. Jeweils plötzliches
Einsetzen der Anfälle und Ausklingen derselben durch Stupor.
Am 13. 8. 1877 wurde ein klassischer Epilepsieanfall beobachtet.
Bromkali war erfolglos. Der Kranke musste einer heimathlichen
Irrenanstalt zugeführt werden.
Das klinisch Entscheidende an diesen Fällen ist die Frage nach
ihrer Zugehörigkeit zu dem epileptischen Irresein. Ich glaube, in
Uebereinstimmuug mit Pick und Morel, diese Frage bejahen zu dürfen.
Meine Gründe dafür sind folgende:
Diese psychopathischen Zustände von kurzer Dauer, von plötzlichem
Einsetzen und jäher Lösung, mit erheblicher Trübung des Bewusst-
seins und entsprechenden Defecten der Erinnerung, sind, wie analoge
Bilder des transitorischen Irreseins überhaupt, von symptomatischer
Bedeutung, blosse temporäre Manifestationen und Reactionserschei-
nungen eines dauernd krankhaft veränderten Centralnervensystems.
Die Erfahrung nöthigt dazu, Angesichts solcher Fälle, in erster Linie
an die epileptische Neurose zu denken, bei der ganz Analoges in Ge-
stalt somatischer Anfälle vorkommt. Thatsächlich entsprechen die be-
schriebenen Paroxysmen nicht bloss im Verlauf und in ihrem eventuell
serienartig sich wiederholenden Auftreten bekannten Thatsachen der
Aeusserungsweise epileptischer Anfälle überhaupt, sondern sie zeigen
auch in ihrem Symptomendetail auffällige Uebereinstimmung mit be-
kannten Erscheinungsformen des epileptischen Irreseins, im Sinne des
postepileptischen und der psychischen Aequivalente.
Neben schwerer Störung des Bewusstseins in Gestalt von Dämmer-,
Traum- und selbst Stuporzuständen, vermissen wir nicht die enorme Ge-
reiztheit, das aggressive, selbst impulsive Handeln solcher Kranker, die
Erscheinungen schwerer Verworrenheit, die überaus lebhaften Hallu-
cinationen, die eigenthümliche Combination von schreckhaft depressiven
und expansiven Delirien, unter welchen religiöse und Majestätsdelirien
ganz besonders hervortreten und in ganz eigenartiger, oft geradezu
absurder Verquickung mit einander erscheinen. In manchen Fällen
gesellen sich dazu Pallor und Erscheinungen von Gefässkrampf. Auf-
fallend ist hinsichtlich der Hallucinationen die Häufigkeit, mit welcher
sie sich um Blut, Feuer, überhaupt um Gegenstände in rother Farbe
drehen.
Dazu kommt als Hinweis auf eine dauernde Hirnveränderung
dass diese Kranken allmälig schwachsinnig werden und dass ihre
luciden intervallären Zeiten nicht rein sind, im Gegentheil geradezu
in Form von Delirium. 137
Züge aufweisen, wie wir sie am Epileptiker zu finden gewohnt sind
(grosse Reizbarkeit, Bigotterie, Morosität, zeitweise Verstimmungen,
epileptischer Charakter überhaupt).
Schon Morel, dem zur klinischen feinen Beobachtung ungewöhn-
lich veranlagten Forscher, waren derlei Thatsachen nicht entgangen
und hatten ihn dazu bestimmt, diese Zustände für zum epileptischen
Irresein gehörig zu bezeichnen, wobei er mit Genugthuung versichern
konnte, dass bei langer und unermüdlicher Beobachtung auch wirk-
lich der Nachweis der epileptischen Neurose, die bisher verschleiert
war, gelang.
Unter den von mir mitgetheilten 9 Krankheitsfällen Hess sich
nur in 4 derselben anamnestisch oder in der Beobachtung dieser Nach-
weis erbringen, aber die Identität des Krankheitsbildes in den übrigen
Fällen ohne Nachweis der Epilepsie, war so vollkommen, dass an ihrer
Zusammengehörigkeit nicht gezweifelt werden kann. Es kann kein
Zweifel bestehen, dass solche Anfälle gerade bei Epileptikern vor-
kommen, die seltene und milde Anfälle ihrer Neurose haben. Die
nächstliegende und berechtigte Annahme ist die, dass in den Fällen,
wo der Nachweis der Neurose nicht gelang, irgendwie geartete und
nach Umständen recht unautällige Insulte (Absencen, Vertigo u. dgl.)
ühersehen wurden.
Die Beobachtung eines Kranken, selbst in einer Krankenanstalt,
kann doch keine unausgesetzte sein und die Möglichkeit nocturner
Anfälle nie in Abrede gestellt werden. Die Behauptung, dass ein Epi-
leptiker durch viele Jahre von Anfällen seiner Krankheit verschont
war, ist deshalb cum grano salis aufzunehmen. Es ist nicht denkbar,
dass die epileptische Neurose sich während der ganzen Lebenszeit
eines Individuums nur in psychischen Insulten (sog. psychische Epi-
lepsie) äussere, aber larvirt kann die Epilepsie im obigen Sinne lange
bleiben. Da ist es denn von grossem klinischen Werth, aus den
psychischen Anfalls- und intervallären Symptomen die Diagnose machen
zu können.
Bis zu einem gewissen Grad wird diese auch aus dem Erfolg
einer antiepileptischen Therapie (Brom) eine Stütze finden. Jedenfalls
nähert sich in den besprochenen Fällen die Wahrscheinlichkeitsdiagnose
der Gewissheit.
HEBER EPILEPTISCHE PSYCHOSEN.
Ueber epileptische Psychosen.
Abgesehen von den wohlbekannten Bildern transitorischer psy-
chischer Störung, die als prä-, postepileptische, zuweilen auch als frei-
stehende Anfälle beobachtet werden, abgesehen ferner von den Erschei-
nungen epileptischen Charakters, die als Stigmata der Epilepsie klinische
Verwerthung finden und der im Gefolge der Epilepsie häufig auftretenden
Demenz, der Sommer, Bourneville und d'Olier eigentümliche klinische
Züge vindiciren, kommen, jedoch verhältnissmässig selten, bei Epi-
leptikern auch genuine und selbständige Psychosen vor, die bisher
nur geringe klinisch» Würdigung gefunden haben. Zur Klarstellung
des Verhältnisses dieser Psychosen zur Epilepsie soll die folgende Studie
einen Beitrag liefern.
Eine vorläufige Uebersicht der vorhandenen Literatur und Casuistik
lässt das sich ergebende Material unter 3 Rubriken einorden:
1. epileptische Neurose nebst ihren (eventuell auch psychischen)
Manifestationen und Psychose finden sich ohne irgendwelche kli-
nische Beziehung bei demselben Individuum, zeitlich von einander
geschieden, (blosse Coincidenz).
2. psychische irgendwie geartete Manifestationen der Epilepsie und
Psychose bestehen gleichzeitig nebeneinander, üben in Gestaltung
der Symptome und Verlauf eventuell Einfluss aufeinander, ohne
aber ihre klinische Selbständigkeit und Eigenart zu verlieren
oder gar auf ein gemeinsames ätiologisches Moment beziehbar zu
sein (blosse Combination).
3. die vorhandene Psychose erscheint bei dem Epileptiker so ab-
weichend von ihren sonstigen bekannten Erscheinungs- und Ver-
laufsweisen, vielfach geradezu so mit Eigenthümlichkeiten des
epileptischen Irreseins ausgestattet, dass sie als eine specifische
epileptische Psychose klinisch angesprochen werden muss.
142 Ueber epileptische
ad 1.
Diese Gruppe bietet kein weiteres unsere Frage nach der Existenz
epileptischer Psychosen tangirendes Interesse. In einer Anzahl der hier-
hergehörigen Fälle scheint bemerkenswerth, dass die Psychose sich im
Anschluss an epileptische Insulte, namentlich serienartige Häufung
solcher entwickelt hatte. Gnauck (Entwickelung der Geisteskrankheiten
aus Epilepsie, Archiv f. Psychiatrie XII) erwähnt aus der älteren
Literatur Fälle von simpler Hypochondrie, Manie, „Monomanie"
(Esquirol), von Manie, „delire continuel", religiöser Melancholie (Morel),
Melancholie mit Selbstmord (Griesinger) von allgemeiner Paralyse
(Westphal), Zwangsvorstellungen (Russell). Nicht selten kommt in
dieser Weise simple Paranoia neben Epilepsie vor. Gnauck berichtet
(op. cit.) in Fall 1. 3 hierhergehörige Beobachtungen.
Analoge Fälle haben Raab (Wien. med. Wochenschr. 1882. 36. 37),
Vejas (Archiv f. Psych. XVII p. 118), Buchholz (über chron. Paranoia
bei epileptischen Individuen 1895) beschrieben. Ich selbst habe mehr-
fach simple Paranoia neben Epilepsie beobachtet. Auch typische Folie
circulaire habe ich gesehen, gleich wie Samt (Archiv f. Psych. VI
p. 189) und Falret (Arch. gen. de med. 1861 p. 471). Die Fälle der
letztgenannten Autoren betrafen gewöhnliche circuläre Psychose, jedoch
waren die Uebergänge der einzelnen Phasen der cyclischen Krankheit
durch epileptische Insulte markirt.
ad 2.
Auch Fälle von Combination d. h. Coexistenz von epileptischem
Irresein mit anderweitiger Psychose sind mehrfach in der Literatur
verzeichnet. Magnan (de la coexistance de plusieurs delires, Archiv,
de Neurol. 1. Jahrgang Nr. 1) liefert deren mehrere, so Fall 8 (epilep-
tisches Irresein mit postepileptischem Delirium, daneben Paranoia mit
Verfolgungs- und Grössenwahn. Das epileptische Irresein schwindet
auf Brombehandlung). Fall 9 und 10 sind dem vorigen ähnlich. In
Fall 11 schildert Magnan epileptisches Irresein in Combination mit
solchem in Zwangsvorstellungen. Sein Fall 12 ist eine Combination
von epileptischem Irresein, zu dem später Melancholie und Alkohol-
delir sich hinzugesellen. Nicht selten ist combinirtes Delirium epilept.
und tremens (eigene Beobachtung und Magnan, op. cit. Fall 1. 2. 3).
Dann fehlt die Erinnerung für die epileptisch deliranten Erlebnisse,
kann aber für die des Del. tremens bestehen.
Nicht so selten ist die Combination von circulärer Psychose und
epileptischem Irresein. Der folgende Fall ist ein typischer.
Psychosen. 143
B e o b. 1. Circuläres nicht epileptisches Irresein, das sich in langen
Zustandsbildern von Melancholie und Manie abspielt. Vorausgehend
und intercurrent Anfälle von epileptischem Irresein in Form von Deli-
rium, Stupor.1)
Thür, 21 J., ledig, Kutscherstochter, stammt von einem trunk-
süchtigen Vater, dessen Schwester melancholisch war. Pat. hatte in
der Zahnperiode Convulsionen, war als Kind neuropathisch, kränkelnd.
Die Menses traten mit 14 Jahren ein. Im Anschluss daran Bleich-
sucht, die bis zum 21. Jahr dauerte. Mit 16 Jahren bekam Pat. nach
einer Züchtigung durch den Vater ein acutes hallucinatorisches Delir.
Sie wurde ängstlich, im Bewusstsein tief gestört, sprang in den Fluss,
sah eine Menge Leute auf sie eindringen, auch Pferde sprengten in
Masse gegen sie an. Rasche Lösung des Zustands mit summarischer
Erinnerung,
Ein 2. Anfall trat mit 17 Jahren ein, der Beschreibung nach eben-
falls schreckhaftes hallucinatorisches Delir (Tod und Teufel waren immer
um sie, der Vater drohte sie mit der Hacke zu erschlagen, sie versuchte
sicli in ihrer Todesangst zu ersäufen, erdrosseln). Ein 3. analoger An-
fall 1 Monat nach Ende des 2. von 14 Tage Dauer. Ein 4. 1876.
In diesem Jahre hatte Pat. auch 3 oder 4 Mal allgemeine klonische
Krämpfe mit Verlust des Bewusstseins gehabt.
Im Februar 1877 wurde Pat, nach vorausgehenden Convulsionen
melancholisch. Nach 5 monatlicher Dauer der auf den Rahmen einer
Mel. sine delirio beschränkten psychischen Störung trat ein Umschlag
in Manie ein. Diesem sollen mehrere epileptische Anfälle voraus-
gegangen sein, an die sich ein acuter deliranter tobender Zustand
(grand mal?) anschloss.
Bei der Aufnahme am 30. 11. 1877 war Pat, in maniakalischer
Exaltation. Sie bot heitere Stimmung, neckisches, ausgelassenes, ero-
tisches Wesen, abspringendes beschleunigtes Vorstellen. Sie erzählte,
dass sie seit 2 Monaten so glücklich sei und immer lustig, weil sie
so gesund sei. Pat. war ungemein erotisch, erzählte von ihren Lieb-
schaften, verliebte sich gleich in die anwesenden Aerzte, die so schöne
Herren seien. Sie wollte in einem Athem Nonne werden, heirathen,
zeigte überhaupt grosse Begehrlichkeit mit wechselndem Object, schlief
wenig, störte durch nächtliches Singen und Predigen. Zur Zeit der
Menses steigerte sich das sonst im Rahmen einer man. Exaltation sich
bewegende Krankheitsbild vorübergehend bis zur Höhe einer Tobsucht,
Unter Bromkali gingen die Menses jedoch später ohne Exacerbation
1) Aus dem Lehrbuch der Psychiatrie d. Verf. 1. Aufl. Bd. III. Beob. 89.
144 Ueber epileptische
vorüber. Eine tiefere Störung des Bewusstseins ist während dieser
ganzen maniakalischen Periode nicht zu bemerken. Mit Ausnahme
eines isolirten epileptischen Anfalls am 8. 11. 1877 finden sich keine
Beziehungen zu dieser Neurose vor.
Ende März 1878 klingt die Manie ab. Pat. fängt an über Schwere
des Kopfes, grosse geistige Behinderung, Unfähigkeit zu denken, zu
arbeiten, zu klagen. Diese Symptome werden für Erschöpfungssym-
ptome gehalten. Noch besteht kein Verdacht auf circuläres Irresein,
obwohl die lange Dauer des angeblichen melancholischen Prodromal-
stadiums und das Beharren der Manie auf der Stufe einer maniaka-
lischen Exaltation einigermassen verdächtig erscheinen. Anfang April
zeigt sich deutliche melancholische Depression, die sich immer mehr
steigert. Pat. erklärt sich für eine grosse Sünderin, bittet um Ver-
zeihung, hat Präcordialangst, möchte gern sterben, ist schlaflos, mimisch
sehr verstört. Gastrische Störungen, sehr kleiner Puls, kühle Hände.
Vorübergehend Vergiftungswahn. In dem tief melancholischen Zustand
zeigen sich stundenweise manische Elemente (heitere Laune, Lachen,
Gedankendrang, Unstetigkeit).
Ende April steigert sich die Melancholie bis zu einer leicht stupo-
rösen — starre ängstliche Miene, deutliche Störung des Bewusstseins,
grosse Angst. Die Thermometermessungen appercipirt Pat. als Ver-
suche sie todtzustechen, es sind Thiere im Bett, sie hat kein Geld,
um hier zu essen. Einmal plötzliches Aufspringen, sie sei ein Hund
und müsse Jemand beissen.
Vom 30. 4. an ändert sich die Scene, insofern das bisherige melan-
cholische Zustandsbild eines circulären Irreseins einem bunten, wahr-
haft kaleidoskopischen Wechsel von stuporösen, deliranten, depressiven
und expansiven Zustandsbildern weicht, die nur eines miteinander ge-
mein haben — grosse Verworrenheit und Bewusstseinsstörung und
dadurch an bekannte epileptische Zustandsbilder erinnern.
Am 30. 4. wird Pat. in tiefem Stupor, mit starrer Gesichtsmaske,
mit weit aufgerissenen Augen betroffen.
Am 1. 5. tanzt und singt Pat., um gleich darauf wieder sich für
eine grosse Sünderin zu halten und den Wunsch zu sterben, zu äussern.
In der Folge eigenthümlicher Dämmer-Traumzustand, in welchem in
kaleidoskopischem Wechsel stundenlanges Lachen, Grinsen, stuporöses
reactionsloses Daliegen, tiefe Depression (einmal mit der Motivirung,
weil der Vater auf der Bahre liege) auftreten, jedoch schreckhafte
melancholische Elemente und Stupor vorwiegen. Dabei Temperaturen
bis 38°, rapider Rückgang der Ernährung.
Am 18. 5. schreckhaftes verworrenes Delir, ganz wie das grand
Psychosen. 145
mal Epileptischer. Brüllen und Toben als Reaction auf schreckhafte
Phantasmen. Koprophagie.
Am 20. 5. wieder tiefer Stupor. Zwischendurch Auflachen. In
der Folge beständiger, oft binnen Stunden sich vollziehender Wechsel
der erwähnten Zustandsbilder bis Anfang December, wo Pat. ruhig,
geordnet wird. Dieses Stadium der Lucidität dauert bis 18. 12., wo
die maniakalische Phase des circulären Irreseins wieder einsetzt. Pat.
ist bis auf die kleinsten Züge wieder dieselbe Persönlichkeit wie das
erste Mal. Das maniakalische Stadium dauert mit tiefen Remissionen
bis Ende Juli 1879. Im August lucidum intervallum, das bis 20. 10.
1879 dauert und nur zur Zeit der Menses von ganz ephemeren theils
leicht manischen, theils melancholischen Zustandsbildern getrübt wird.
Im Anschluss an die Menses setzt am 21. 10. die maniakalische Phase
des circulären Irreseins wieder ein.
Ein ganz eigenartiges Bild, im Gegensatz zum vorausgehenden
Fall von manisch-melancholischem cyklischem Irresein, stellt der fol-
gende dar, insofern an Stelle der melancholischen stuporöse Zustands-
bilder treten. Diese Form des circulären Irreseins ist eine seltene.
Dittmar erwähnte sie längst, In meinem Lehrbuch der Psychiatrie,
VI. Auflage, S. 428 ist sie beschrieben. Sie erscheint mir epilepsie-
verdächtig, wie überhaupt das stuporöse Zustandsbild. Bezügliche
Beobachtungen von manisch-stuporüsem Irresein in meinem Lehrbuch,
wie z. B. Beobachtung 110 der 1. Auflage und Beobachtung 35 der G.
bieten weitere Verdachtsmomente, so die erstere, wo episodisch Majestäts-
und religiöses Delir auftritt, die letztere, indem das Citiren von Bibel-
stellen, Gottnomenclatur neben der enormen Verworrenheit auffallen.
Auffällig sind aber auch jene eigenthümlichen, in der stuporösen Phase
episodisch vorkommenden psycho-motorischen Erregungszustände, die
in ganz gleicher Weise in den epileptisch-deliranten kurz dauernden
Anfällen und in den protrahirten psychischen Aeguivalenten der Epi-
leptiker sich vorfinden.
Beob. 2. Cyklisches manisch-stuporöses Irresein.
Joch. G, 25 J., ledig, Bauerntochter, gelangte am 15. 10. 1874 in
meiner Klinik in Graz zur Aufnahme. Muttersmutter, Mutter, deren
Seliwester und eine Schwester der Pat. waren irrsinnig, 5 Geschwister-
kinder theils epileptisch, theils irrsinnig gewesen.
Pat. war geistig schwach veranlagt, hatte nie Convulsionen gehabt,
ihre Menses mit 14 Jahren bekommen und bald nach der Pubertät
Kral'ft-Ebing, Arbeiten III.
146 Ueber epileptische
klassische Anfälle von Epilepsie geboten, die aber nur selten wieder-
kehrten. Im Mai 1870 erkrankte sie, aus unbekannter Ursache, an
Tobsucht nach melancholischem Vorstadium und genas nach 7 Monaten.
Dieser Anfall wiederholte sich 1872 und war nach 2 Monaten vorüber.
Am 9. 10. 1874 setzte, angeblich nach unmässigem Genuss von
Wein, prämenstruell, ohne melancholisches Vorstadium, ein manischer
Anfall ein, in welchem Pat. zur Aufnahme gelangte. Dieser bot von
einer gewöhnlichen Manie nicht abweichende Züge. Somatisch war,
ausser submicrocephalem Schädel, nichts Abnormes aufzufinden.
Am 16. 10. schlug das manische Bild plötzlich in ein stuporöses
um. Pat. verharrte in tiefem Stupor mit kataleptiformem Beibehalten
von ihr gegebener Posen, mit nur ganz spurweisem temporärem Freier-
werden in Bewusstsein und Motilität. Sie bekam C3ranose und Oedem
der UE., Herzschwäche, musste gefüttert werden.
Am 27. 10. schwerer epileptischer Insult, mit postepileptischer
Verwirrtheit, Schelten, Aggression von ]/2 Stunde Dauer, ohne Beein-
flussung des stuporösen Zustandsbildes. Vom 5. — 15. 11., unter fort-
dauerndem Stupor und katatonischem Beibehalten gegebener Stellungen
spontane automatische, impulsive, vielfach auch imitatorische Beweguugs-
acte. So nickt Pat. tagelang pagodenartig mit dem Kopf, macht
allerlei Zwangsbewegungen, lacht vor sich hin und bietet zeitweise
Nystagmus.
Vom 15. 11. bis 8. 12. tobsüchtiges Zustandsbild (enormer Be-
wegungsdrang , sexuelle Erregung, Schmieren, Zerreissen, Zerstören
u. s.w.), nur ausgezeichnet durch triebartiges, oft geradezu impulsives
Gepräge und grosse Bewusstseinsstörung.
Am 8. 12. ist die Erregung wie abgeschnitten. Pat. schwer er-
schöpft. Sie erholt sich langsam und wird am 24. 7. 1875 genesen
entlassen.
Neue Aufnahme am 22. 4. 1877 menstrual, iu schwerem, ängst-
lichem Stupor. Schlaflosigkeit, AVid erstand bei Nahrungsaufnahme.
Nachlass des Stupor am 25. 4.
Pat. referirt von schreckhaften Stimmen „nimm sie weg" und
Schattenbildern (Gespenster u. dgl.j. Abklingender Stupor bis 2. 5.,
dann leichte manische Exaltation, die binnen 14 Tagen abklingt. Ge-
nesen entlassen am 22. 6. 1877.
Neue Aufnahme am 31. 1. 1879 in manischer Erregung, nach mehr-
tägigem Stupor mit kataleptiformem Verhalten. Bei der Aufnahme
tobsüchtiges Bild, aber grosse Bewusstseinsstörung und wahrhaft im-
pulsives motorisches Gebahren (Purzelbäume, Zungeausrecken u. s. w.)
neben Ideenflucht, Erotismus, Salivation.
Psychosen. 147
Am 1. 2. Umschlag in ängstlichen Stupor. Beantwortete eine
Frage, wo sie sei, mit „in der Ewigkeit". Diese stuporöse Phase
dauert bis zum 1. 5. Mitte Februar leichte Eemission, in welcher
man erfährt, dass Teufel sie beunruhigen, von Hölle, Verbrennen, Er-
schossenwerden reden. Die Umgebung wird für Hebräer gehalten,
feindlich verkannt. Ende Februar bedeutende Zunahme des Stupor,
allgemeine Anästhesie, Mutismus, muss gefüttert werden, kataleptiforme
Stellungen, Nystagmus, Pallor.
Vom 27. 4. ab episodisch Vorboten des kommenden complemen-
tären Zustandsbildes (Auflachen, automatisches Gangtreten, raptus-
weises Tanzen).
Am 1. 5. Tobsucht — schwere Bewusstseinsstörung, ganz impul-
sives Gebahren — Herumschiessen, Purzelbäume, Tischtrommeln, Zunge-
ausrecken — ■ neben Verbigeriren, Grimassiren u. s.w.
Vom 16. 5. ab bunter Wechsel von stunden- bis tagelangen stupo-
rösen und tobsüchtigen Zustandsbildern, mit enormer Verworrenheit.
Von Ende August bis zum 4. 11. tiefe Remission, aber doch leicht
stuporöses Zustandsbild, mit nur stundenweisen manischen Remini-
scenzen (Singen, Lachen u.s.w.).
Vom 4. 11. wieder tiefer Stupor, mit Krampfpuls, Pallor des Gesichts,
cyanotischen ödematösen UE., leichter 1. Ptosis, Mutismus. Episodisch Pat.
etwas freier, dann auch einige sprachliche Aeusserungen. Im December
2 Mal ängstlich delirante Episoden von wenigen Stunden Dauer, ohne
Beziehung zu epileptischen Symptomen, die seit 27. 10. 1874 nicht
mehr zur Beobachtung gelangten. Pat. delirirt von Abgeschlachtet-
werden, Hölle, Lebendigbegrabenwerden u. dgl.
In fortdauerndem Stupor Anfang 1880 Versetzung in eine Siechen-
anstalt.
Aus Mittheilungen dieser ergiebt sich, dass das Krankheitsbild
bis zu dem am 22. 2. 1882 an „Herzlähmung" erfolgten Tode der Pat.
sich wesentlich gleich blieb, aber im letzten Lebensjahr sich Dementia
entwickelte. Wiederholt beobachtete man noch „syncopeartiges Zu-
sammenstürzen mit tiefblassem Gesicht, dabei Bewusstsein auf circa
eine halbe Stunde erloschen."
ad 3.
Die folgenden Blätter sind der Untersuchung gewidmet, ob es
nicht Psychosen, d. h. selbstständige psychische Erkrankungen von
einiger Dauer und abschliessendem Verlauf giebt, die, vermöge ge-
wisser Eigentümlichkeiten ihrer Symptomatik und ihres Verlaufs, Züge
des epileptischen Irreseins aufweisen und dadurch von gleichartigen,
10*
148 Ueber epileptische
sicher nicht auf epileptischer Grundlage stehenden Bildern des Irreseins
gründlich differiren.
So naheliegend die Vermuthung ist, dass diese Differenz in Be-
ziehungen zu einer epileptischen Neurose ihre Erklärung finde, wäre
es beim gegenwärtigen Stande unseres klinischen Wissens, speciell
unserer Kenntnisse von dem diagnostischen Werth gewisser Syndrome
und gewisser Wahnideen gewagt, einen solchen Schluss unter allen
Umständen zu ziehen. Um zu einer allmäligen Klärung dieser Frage
zu gelangen, welche allerdings einen werth vollen diagnostischen Fort-
schritt bedeuten würde, indem sie die ätiologische Klarstellung gar
mancher klinisch dunkler Krankheitsbilder erschlösse, gebietet es die
Vorsicht, nur solche Fälle heranzuziehen, bei welchen über das Vor-
handensein von Epilepsie kein Zweifel obwaltet. Dadurch gewinnt
die klinische Untersuchung jedenfalls eine sichere Grundlage, aber die
Ausbeute an bezüglichen Fällen wird empfindlich geschmälert, sodass
der Versuch, aus der dürftigen vorliegenden Casuistik Schlüsse zu
ziehen, ernstlichen Schwierigkeiten begegnet.
Unter Verweisung auf meine Studie (S. 119) über „idiopathisches
periodisches Irresein in Form von Delirium", das ich nunmehr als
eine epileptische Psychose zu bezeichnen mich berechtigt glaube, theile
ich zunächst Fälle von Psychoneurose bei Epileptikern mit, die ver-
möge ihrer Symptome und ihres Verlaufes eigenartig sind und sicher
Beziehungen zur gleichzeitig bestehenden Epilepsie haben.
Beoh. 3. Mania mitis peracuta, mit epileptischen Delirien bei
einem Epileptiker. Dieselbe (psychische) Aura vor den manischen
wie vor den epileptischen Anfällen.
G., 58 J., pens. Beamter, wurde am 2. 12. 1892 auf meiner Klinik
aufgenommen, da er auf offener Strasse durch Knieen, Beten und Ge-
stikuliren sich auffällig gemacht hatte. Mutter hatte an schwerer
Migräne gelitten. Sonst nichts erblich Belastendes aufzufinden.
Pat. bietet rachitisch hydrocephalisches Cranium, hat bis zu seinem
8. Lebensjahre an Convulsionen gelitten. Mit 10 Jahren schwere
Kopfverletzung, mit restirender, am Knochen fixirter Narbe auf dem
1. Scheitelbein. Mit 13 Jahren erster Anfall von klassischer Epilepsie.
Mit 17 Jahren erster Anfall von Mania mitis acutissima (heiterer Er-
regungszustand, Bewegungsdrang, Dauer einige Stunden, getreue Er-
innerung). Von der Pubertät ab bis 1891 Anfälle von Augenmigräne,
etwa 1 Mal monatlich.
Pat. war von weiteren Krankheitserscheinungen verschont ge-
blieben, hatte, seit seinem 34. Jahre in kinderloser Ehe lebend, eine
Psychosen. 149
gleichmässige ruhige, sorgenfreie Existenz gehabt und nur massig ge-
trunken. Ohne allen Anlass trat 1882 eines Nachts ein Zustand von
religiös expansivem Delirium ganz plötzlich auf. Pat. war in diesem
etwa 17a Tage währenden Zustand sehr erregt, verworren, schlaflos, er-
klärte sich für Adam, seine Frau für Eva, sprach beständig vom
Himmel, in welchen ihn der hl. Petrus nicht einlassen wolle.
Plötzliche Lösung des Zustands. Amnesie.
Solche Anfälle wiederholten sich alle paar Jahre in typisch con-
gruenter Weise bis 1891.
Von nun an litt Pat. an klassisch epileptischen Anfällen, die etwa
alle 14 Tage und oft serienartig gehäuft wiederkehrten. Voraus ging
solchen regelmässig ein Gefühl unendlichen psychischen Wohlbehagens
und psychischen Gehobenseins (psychische Aura). Diese Anfälle kehrten
in der bis 1896 reichenden Beobachtungszeit typisch wieder.
Als Pat. am 2. 12. 1892 aufgenommen wurde, bot er das typische
Bild einer hochgradigen manischen Exaltation, die sich im Verlauf
vorübergehend bis zur Höhe der Tobsucht steigerte.
Pat. geht in übermüthig heiterer Stimmung zu. Er motivirt sie
damit, dass er ein reicher Mann und der ewigen Seligkeit sicher sei.
Er wird sein Vermögen den Armen schenken, um Gott wohlgefällig
zu sein. Sein Gesicht strahlt vor Freude, er sucht Jeden zu umarmen
und zu küssen, rühmt seine Gesundheit. Kraft, sein Glück, seinen
Reichthum. Man solle seine Muskeln bewundern, er habe Riesenkräfte,
sei enorm potent, Vorübergehend arg obscön. Pat. geht, läuft, tanzt,
springt unaufhörlich. Sein Redefluss ist unerschöpflich, Association
und Diction äusserst erleichtert. Er ergeht sich in Knittelver.-en, in
denen vielfach von Kraft und Glück, vom Kaiser Josef, von Christus,
vom Teufel die Rede ist, Episodisch, namentlich auf der Höhe des
Anfalls, zeigten sich Gottnomenclatur. Majestätsdelir und Ansätze zu
schreckhaftem Delir. Auch während dieser Episoden ist das Bewusstsein
nicht getrübt und bleibt Pat, zeitlich und örtlich vollkommen orientirt.
Er erklärt z. B., er sei jetzt im Himmelreich, der eine Arzt ist Kaiser
Josef, der andere Gott Vater, aber, wenn darüber interpellirt, erklärt
er dies nur zum Spass gesagt zu haben und wohl zu wissen, dass er
in der Klinik sei, weil ihm wieder einmal ein Radel im Gehirn los-
gegangen sei.
So bramarbasirt er, ohne die Selbstcontrole zu verlieren, er sei
jetzt im Paradies, sei Adam, seine Frau die Eva. der jüngste Tag
sei nahe, er habe aber nichts zu fürchten, er werde bald vor dem
lieben Gott stehen, seine Himmelfahrt sei nahe. Der Arzt ist Christus.
Christus war auch ein Doctor. hat Blinde sehend und Lahme gehend
250 Ueber epileptische
gemacht. Er selbst war schon einmal im Paradies, hat dort Aepfel
gegessen. Die waren aber sauer und er bekam davon stumpfe Zähne.
Jetzt kommt das jüngste Gericht, er sieht schon die Engel am Himmel
und hört sie singen. Gleich wird er in den Himmel auffahren. Vorher
muss er noch geschwind die Todten erwecken.
Daneben und dazwischen Majestätsdelir — hat mit dem Kaiser
Josef zu thun, den er so sehr liebe, muss beständig an den Kaiser
Ferdinand denken, erzählt Anecdoten von diesem Monarchen.
Ganz flüchtig tauchen depressive Vorstellungen und Sinnestäu-
schungen auf — er sieht Bären, die nach ihm schnappen, spürt, dass
der Teufel sich nähert, fürchtet aber nicht den Kampf mit diesem,
Kaiser Josef wird kommen und ihm helfen.
Solche Anfälle von Manie, mit eingestreuten Erscheinungen
eines epileptischen Delirs werden bis Anfang 1896 unzählige beob-
achtet, Sie traten in den letzten Jahren immer häufiger, bis zu 6 in
einem Jahre auf, waren bis in die Details einander gleich, nur durch
Intensitäts- und Dauerunterschiede different, Nie zeigte sich ein zeit-
licher und überhaupt klinischer Zusammenhang mit den etwa alle
14 Tage wiederkehrenden epileptischen Insulten, ebensowenig mit
etwaigen Migräneanfällen, die seit 1891 durch die epileptischen geradezu
vertreten wurden.
Aber die Aura jener manischen Anfälle war die gleiche wie die
der epileptischen.
Pat. berichtete übereinstimmend nach solchen manischen Insulten,
dass plötzlich ein Gefühl von Glückseligkeit, Freude, grosser Kraft
und Gesundheit über ihn komme. Da dränge es ihn dann unwider-
stehlich, sich zu entäussern, aus sich herauszutreten. Alles komme
ihm dann schöner vor, er empfinde die ihn umgebende Natur viel
herrlicher. Er bekomme dann auch wollüstige Empfindungen und Ge-
danken, fühle sich geschlechtlich leistungsfähig wie ein Zwanzigjähriger.
Die Dauer dieser Aura betrage bis zu Stunden. Es sei gerade so wie
vor seinen epileptischen Anfällen. Zuweilen habe er diese Aura ge-
radeso wie vor Anfällen, ohne dass es zu solchen komme. Dieses
ganz unerklärliche Wohlbefinden und Glückseligkeitsgefühl dauern
aber in solchem Falle höchstens Minuten.
Das Eintreten der manischen Anfälle ist ein plötzliches, wie bei
periodischen. Die Acme wird binnen Stunden erreicht. Die längste
Dauer jener beträgt 3 Tage. Regelmässig geschieht es, dass 1 — 3 Tage
nach Lösung des Anfalls ein zweiter und zwar gegen Abend erfolgt,
der milder und rascher (abortiv) binnen 16 Stunden verläuft, im
Uebrigen aber eine getreue Copie des ersten ist.
Psychosen. 151
Die Lösung des Anfalls vollzieht sich in der "Weise, dass Pat.,
der bisher schlaflos war, Abends sich noch in voller Manie zur Buhe
begiebt, nach gut durchschlafener Nacht normal erwacht oder indem
während des letzten Tages der manische Erregungszustand rasch
abklingt.
Danach ist Pat. erschöpft, klagt über grosse Mattigkeit, Abge-
schlagenheit und über Kopfweh, sitzt stundenlang ruhig da, verstimmt
über die beständige Wiederkehr seines Leidens und hat grosses Schlaf-
bedürfniss.
Jeweils im Status retrospectivus ergiebt sich, dass Pat. treue Er-
innerung für alle Details seiner Krankheitserlebnisse hat, Er ver-
sichert, zeitlich und örtlich immer orientirt gewesen zu sein und das
Krankheitsbewusstsein nie verloren zu haben. Pat. erklärt, er könne
hinterher nicht begreifen, wie er solchen Unsinn sprechen und solche
dumme Ideen haben konnte.
Er berichtet von elementaren und complicirten Gesichts- und
Gehörshallucinationen, die er jeweils im Anfall habe. So habe er
Lichtblitze, sehe wie die Gesichtszüge der Anwesenden sich beständig
verändern, sehe den Teufel, schwarz, mit Hörnern, Engel, seine Frau,
schreckhafte Bären. Er höre Gemurmel, liebliche Töne, die immer
heller werden, Melodien, seinen Namen, verworrene Zurufe.
Intervallär bietet Pat., ausser seinen gelegentlichen epileptischen
Anfällen, nichts auf epileptische Neurose Hinweisendes. Bigotterie ist
ihm fremd.
Bemerkenswerth ist noch, dass Pat., als er 1892 kam, eine beider-
seitige leichte Ptosis bot, die aber durch Willenseinfluss behebbar war.
Auch war im Anfall die 1. Pupille weiter als die r., die Keaction aber
normal. Intervallär traten Pupillendiflerenz und Ptosis ziemlich zurück.
Von 1894 ab fand sich nur noch paroxysmale leichte 1. Ptosis.
Körperlich erwähnenswerth wäre noch massige Atheromatose und
eine Stenose der Aortaklappen.
Da Pat. seit Anfang 1896 nicht mehr zur Aufnahme gelangt war,
zog ich beim Abschluss vorstehender Krankheitsgeschichte (April 1898)
Erkundigungen über ihn ein. Seine Frau hatte ihn dazu gebracht
täglich 3.0 Bromsalz einzunehmen und sich, abgesehen von einem
Glase Bier, geistiger Getränke ganz zu enthalten. Pat. hatte 1896
und 1897 nur mehr einen epileptischen Anfall monatlich, seit Januar
1898 gar keinen mehr. Von psychischen Insulten war er ganz ver-
schont geblieben.
Epikrise. Die Epilepsie des Pat. ist zweifellos. Ihre Aetiologie
(erbliche Belastung von Seiten der mit Migräne behafteten Mutter,
152 Ueber epileptische
Cranium hydrocephalicum , Kopfverletzung) ist nicht sicherzustellen.
Da die Narbe am Kopf nie Symptome machte, keine Aura von ihr
aus sich entwickelte, kann von einer traumatischen Epilepsie Sens.
strictiori nicht die Rede sein, jedoch kann das Trauma capitis als die
Entwickelung einer „epileptischen Veränderung" begünstigendes Mo-
ment nicht bedeutungslos erklärt werden.
Mit 13 Jahren erster und isolirter epileptischer Insult, mit
17 Jahren ein analoger Anfall von Mania acutissima, durch Ver-
bleiben auf der Stufe einer manischen Exaltation auffällig.
Vom 17. Jahre bis zum 48. Schweigen der Epilepsie, eventuell
äquivalente Augenmigräne. Vom 48. — 57. Jahre seltene specifische
epileptische Anfälle von Delirium mit Amnesie.
Vom 57. Jahre ab, unter Schwinden der Augenmigräne, Wieder-
kehr klassischer epileptischer Insulte. Vom 58. Jahre ab peracute
manische Erregungszustände, mit hinzutretenden typischen epileptischen
Delirien.
Auch ganz abgesehen von dieser letzteren Thatsache, bieten diese
manischen Anfälle ein hohes klinisches Interesse.
Sie kehren periodisch oder beständig recidivirend wieder, sind
typisch congruent und erinnern damit an Typen periodischer Manie,
aber in solch peracuter Verlaufsweise spielt sich diese psychische
Krankheitsform nicht ab.
Es fehlen- diesen manischen Zuständen aber auch alle klinischen
Detailerscheinungen der (degenerativen) periodischen Manie.
Von einer Zorntobsucht (Mania furiosa), die beständig recidivirt,
kann auch nicht die Kede sein, ebensowenig lässt sich diese Mania
mitis acutissima in den Bahmen der Mania transitoria einreihen.
Es handelt sich um ein ganz eigenartiges manisches Irresein, das
seine Signatur durch peracuten Verlauf und Verbleiben auf der Stufe
einer blossen manischen Exaltation bekommt.
Transitorische Psychose hat eine symptomatische Bedeutung. Per-
acuter Verlauf weist, als symptomatisch reactive Erscheinung einer
dauernden Veränderung im Oentralorgan. auf eine solche hin, ausge-
nommen es handelt sich um transitorisches Irresein ab intoxicatione.
TJeberaus häufig ist die dauernde Veränderung eine Neurose und zwar
meist Epilepsie. Die herrschende Annahme auf Grund thatsächlicher
Erfahrung geht dahin, dass die durch Epilepsie hervorgerufenen psycho-
pathischen Bilder sich auf der Stufe eines Dämmer- oder Traum-
bewusstseins abspielen und getrübte Erinnerung bis zu vollständiger
Amnesie hinterlassen.
Keine Begel ohne Ausnahme! Selbst für den gewöhnlichen epi-
Psychosen. 153
leptischen Anfall ist Aufhebung des Bewusstseins nicht unerlässlich.
Auch psychische Aequivalente desselben, seine postepileptische und
freistehende psychische Anfälle können ohne Bewusstseinstrübung und
ohne Erinnerungsdefekt ablaufen. Wildermuth ('med. Corr.-Blatt d.
Würtemb. ärztl. Landesvereins LX 11) hat solche psychisch-epileptische
Anfälle ohne Bewusstseinsstürung zum Gegenstand einer eingehenden
Studie gemacht,
Dass im vorstehenden Falle die Psychose in voller Bewusstseins-
helle und ohne restirenden Gedächtnissdefekt sich darbot, kann die
Berechtigung, sie mit der epileptischen Neurose in Beziehung zu
bringen, nicht aufheben. Es fragt sich, Avas das für Beziehungen
sind? Die psychische Aura der manischen Insulte ist identisch mit
der der epileptischen. Die Deutung kann nur in dem Sinne geschehen,
dass man diese manischen Anfälle für allerdings sehr seltene psychische
Aequivalente eines epileptischen Insults erklärt.
Jeder weitere Deutungsversuch ist bedenklich. Ueber epileptische
Veränderung, über Das, was im epileptischen und im manischen An-
fall im Gehirn vor sich geht, weiss man eigentlich nichts.
Mit der klinischen Auffassung des vorstehenden Falles als eines
solchen von symptomatischer Manie im Rahmen der epileptischen Neu-
rose würde sich die Eigenart dieser Manie hinsichtlich Symptomatik
und Verlauf erklären lassen. Den eingestreuten epileptischen Delirien
kann nur ein nebensächlicher diagnostischer Werth zuerkannt werden.
Der vorausgehende Fall hat manches gemein mit einem früher
von mir beobachteten.
Beob. 4. D., 42 J.. Kellner, von neuropathischem Vater und sehr
jähzorniger Mutter, erhielt von dieser, als er 12 Jahre alt war, mit
einem Scheit Holz einen Schlag auf den Hinterkopf, der eine Narbe
aulweist. Im Anschluss daran häufige Enuresis durch 4 Jahre. Pat, war
kein Trinker. Mit 40 Jahren erster epileptischer Insult ohne palpable
Ursache. Anfälle in Pausen von mehreren Monaten wiederkehrend.
Keine Aura vor denselben. Alle 1—2 Monate paroxystische Zustände
grosser Heiterkeit und Selbstzufriedenheit, ohne Bewusstseinstrübung.
Dauer circa 10 Minuten. Er schämte sich hinterher solcher Zustände
von Ausgelassenheit,
Anfang März 1883 letzter epileptischer Insult.
Am 22. 3. 1883 unvermittelte und plötzliche Entwickelung eines
manischen Exaltationszustandes. Nach schlafloser Nacht geht Pat.
am 23. früh auf meiner Klinik zu in manischer Erregung. Er singt,
spricht unaufhörlich, ist höchst ausgelassen. Eine Probe seines Ge-
154 Ueber epileptische
dankenganges ist folgende : „mein Koffer ist auf der Bahn, mein Frack
in P., ich im Spital — juhe! wie kommen wir wieder zusammen!
Furcht kenne ich nicht , der Teufel kann mich .... lecken ; Morgen
gehen wir es an, echt österreichisch!" Pat. bietet das Bild eines ge-
wöhnlichen manischen Exaltationszustandes. Nachmittags wurde er
plötzlich ruhig, ganz geordnet, bot keine Erinnerungslücke und wusste
keine Erklärung für diesen plötzlich über ihn gekommenen Ausnahms-
zustand. Nach wenigen Tagen entlassen.
Epikrise. Auch in diesem Fall von sicherer Epilepsie erscheint
das peracute Auftreten und Verlaufen einer Mania mitis höchst auf-
fällig und die Annahme eines psychisch epileptischen Aequivalents im
Sinne der obigen Auseinandersetzungen berechtigt.
Es fragt sich, ob die früheren Anfälle ä la ininute Anraerschei-
nungen oder abortive Insulte gewesen sind.
Auch in dem folgenden Fall findet sich bei sicherer Epilepsie ein
manisches Bild mit eigenthümlichen Details.
Beob. 5. M. , 39 J. Taglöhnerin, aufgenommen März 1873,
stammt von epileptischer Mutter, wurde mit 20 Jahren nach Schreck
epileptisch. Die Neurose manifestirte sich seither in Form von alle paar
Tage wiederkehrenden klassischen Insulten.
Seit 3 Jahren hatten sich Schwachsinn, grosse Beizbarkeit und
zeitweilig, ausschliesslich postepileptisch, wenn auch um Tage vom
letzten Insult getrennt, Zustände von manischer Erregung eingestellt.
Pat. wurde dann unstet, erotisch zudringlich, bot Bewegungsdrang und
Redesucht, wobei sie ausschliesslich sich ihrer Muttersprache (Slovenisch)
bediente, wurde unzufrieden, begehrlich, reizbar, bis zu Gewalttätig-
keiten, war andauernd schlaflos, nicht verwirrt, nicht hallucinirend. Der
Zustand steigerte sich nie bis zur Höhe förmlicher Tobsucht. Nach
längstens 8 Tagen kehrte Pat., die im Anfall durch Pallor und ver-
störte Miene besonders auffallend gewesen war, durch ein Stadium
mehrtägiger Umdämmerung, Morosität, Mattigkeit, Schläfrigkeit zur
relativen Norm zurück. Solche Anfälle kehrten, typisch congruent, etwa
alle 6 Wochen wieder.
Nie fand sich Erinnerungsdefekt vor. Intervallär Schwachsinn,
Reizbarkeit, zeitweise Kopfweh, Intercostalneuralgie. Unter Brom-
behandlung wurden die convulsiven Anfälle selten und die manischen
blieben ganz aus. Eines Tags weigerte Pat. das weitere Einnehmen.
Einige Tage später Stat, epilepticus. Tod. Section: Oedema Piae et cerebri.
Echinococcencysten : 1. haselnussgross im unteren Theil der 1. 3. Stirn-
windung. 2. dito im unteren Abschnitt des ventric. IV, leicht abheb-
Psychosen. 155
bar vom Ependym, über die Striae acust. hinaufreichend und seitlich
zwischen die kammartig- hervorgetriebenen eminent, teretes eingekeilt;
3. erbsengross in der a. o. Spitze des 1. corpus striat.
Epikrise: Auch dieser Fall, obwohl dem Bild einer periodischen
Manie sich nähernd, ist auffällig durch seine kurze Dauer, seine Lösung
durch einen Dämmerzustand. Seine Zugehörigkeit zur Epilepsie durch
postepileptisches Auftreten ist nicht zu bezweifeln.
Der folgende Fall betrifft einen kürzlich beobachteten Epileptiker,
der ganz unmotivirt und transitarisch das Bild einer Melancholia
acutissima und hinterher für die ganze Krankheitszeit Amnesie bot.
Beob. 6. D., 23 J., Schlossergehilfe, von gesunden Eltern, hat
mit 2 Jahren eine Zeit lang an heftigen Convulsionen gelitten. Seit
8 Jahren, ohne Anlass (Pubertät) epileptische Anfälle, die anfangs nur
allmonatlich, seit 1 Jahre jede Woche wiederkehrten. Massige Lebens-
weise, Jähzorn, bisher nie geistige Störung. Am 20. 1. 1898 Abends
wurde Pat. dadurch auffällig, dass er ängstlich, verstört wurde. Zu
Bett gebracht, blieb er nicht darin, verbrachte die Nacht zum 21.
schlaflos, betend. Er faltete die Hände, jammerte und rief beständig,
„mein Gott, o mein Gott!" Auf wiederholte Fragen, was er habe, erklärte
er „ich will brav sein, so dumm war ich."
Auf der Klinik aufgenommen , normaler somatischer Befund.
Schädel ohne Besonderheiten.
Pat. ängstlich gehemmt, in erwartungsvoller Spannung, Eingriffen
von Aussen wird passiver Widerstand entgegengesetzt. Nahrung refü-
sirt. Vom Moment seiner Aufnahme an kniet Pat. im Bette, mit ge-
falteten Händen beständig vor sich hinmurmelnd „Gott o mein Gott!"
Auf eindringliches Befragen entäussert Pat. spärliche Selbstanklagen,
er sei ein grosser Sünder, habe einst Unkeuschheit getrieben und sei
nun zur Strafe hier im Fegfeuer. Weitere Auskunft ist nicht zu er-
langen. Er verharrt in Seufzen und Gebet und beachtet kaum die
Vorgänge um ihn. Die Nacht zum 22. bringt Pat. regungs- und
schlaflos im Bette zu. Er hält die Augen zugekniffen, erklärt, er
dürfe sie nicht öffnen, zeigt aber auf Verlangen die Zunge. Am 22.
Nachmittags 5 Uhr kommt Pat. plötzlich aus diesem Zustand heraus,
ist lucid, geordnet, hat Amnesie für die ganze Krankheitszeit. Er
kann sich nicht erklären, wie er dazu gekommen. Im Anschluss an
einen epileptischen Insult war der Anfall nicht aufgetreten. Pat.
wurde nach wenigen Tagen entlassen und bot nichts Pathologisches
mehr.
156 Ueber epileptische
Zu den bestgekannten Categorien des epileptischen Irreseins ge-
' hören psychopathische Zustände , die in der Eegel als freistehende
Anfälle und nach Art einer selbständigen Psychose (hallucinatorischer
Wahnsinn) einsetzen und verlaufen. Da Aeusserungen der epilep-
tischen Neurose in Gestalt von klassischen Insulten hier selten vor-
kommen, ganz entschieden durch Jahre vollkommen fehlen können,
erscheint die Beziehbarkeit solcher Psychosen auf eine epileptische
Grundlage schwierig und unsicher. Samt, in seiner verdienstvollen
Arbeit über epileptische Irreseinsformell, (Archiv f. Psychiatrie V. VI)
hat die These aufgestellt, dass man aus Eigenthümlichkeiten der
Symptomatik und des Verlaufes die epileptische specifische Bedeutung
gewisser Irreseinsfälle erschliessen könne, die einer oberflächlichen
klinischen Betrachtung gegenüber in die psychologischen Formen der
Melancholie Manie u. s. w. eingereiht worden seien. Damit verlegte er
das diagnostische Schwergewicht nicht sowohl in den Nachweis von
Manifestationen der epileptischen Neurose, als vielmehr in die klinischen
Eigenthümlichkeiten des psychopathischen Znstands.
Damit entging er der Gefahr, in die Andere kritiklos sich be-
geben haben, indem sie Psychosen bei Epileptikern, die blosse
Erscheinungen zufälligen Zusammentreffens waren, für epileptische
Psychosen erklärten. Er sicherte sich aber bei der Unerprobtheit
seiner diagnostischen Kriterien nicht gegenüber der Möglichkeit in
Symptomen und Verlauf ähnliche, mit Epilepsie gar nicht in Be-
ziehung stehende Krankheitsbilder für specifisch epileptische zu halten.
Dieser Gefahr kann begegnet werden, wenn man nur solche Fälle
zur Discussion stellt, in welchen die Existenz der Epilepsie zweifellos
nachgewiesen ist.
Finden sich unter dieser Voraussetzung die von Samt geltend ge-
machten Kriterien immer und immer wieder, so wird man die Be-
rechtigung seiner Anschauungen anerkennen und auch Fällen ohne
Nachweis der epileptischen Neurose, Angesichts der thatsächlichen
Seltenheit ihrer Manifestationen und ihrer leichten Uebersehbarkeit,
die Bedeutung specifisich epileptischer Psychosen vindiciren müssen.
Die Nachfolger Samt's haben viel eher seinen Standpunkt bemängelt,
als klinische Beweise für das Pro oder Contra seiner Anschauungen
beigebracht. So begreift es sich, dass auf diesem Gebiete noch gar
vieles sub judice steht, der Fortschritt zur ätiologischen Diagnostik
behindert ist, und viele Fälle in der Praxis mit der Diagnose ..Wahn-
sinn", „Melancholie mit Stupor", „Tobsucht" abgefertigt werden, die
einem besseren Verständuiss im Sinne ätiologischer Gesichtspunkte
zugänglich wären.
Psychosen. 157
Den Spuren Samt's folgend, der als „protrahirte psychische Aequi-
valente" und als „chronisch protrahirtes Irresein" ähnliche Fälle ge-
schildert hat, theile ich nachstehende Beobachtungen mit, denen ein
eigenartiges und vielfach mit Samt's Kriterien übereinstimmendes Ge-
präge jedenfalls nicht abgesprochen werden kann. Meine Casuistik
schrumpft sehr dadurch zusammen, dass nur in der Minderzahl meines
Erfahrungsmaterials Epilepsie beim Träger der Psychose nachweisbar
war. Gleichwohl erscheint es rathsam, nur solche Fälle von epilep-
tischem „Wahnsinn" für dessen Studium heranzuziehen.
Beob. 7. Postepileptisches, mehrere Monate sich protrahirendes
Aequivalent (Verfolgungs- und religiöses Delirium im Sinne des
grand mal)1).
G., 30 J., Bäcker, stammt von angeblich gesunden Eltern. Eine
Cousine leidet an schwerer Hysterie, eine Schwester an Chorea. In
der Zahnperiode litt Pat. an Convulsionen ; er erlernte das Sprechen
erst mit 5 Jahren, machte mit 7 Jahren einen schweren Typhus durch,
bekam in der Pubertätszeit epileptische Anfälle, in welchen er sich
wiederholt auf die Zunge gebissen haben will. Diese Insulte verloren
sich bald, dafür kamen gelegentliche, bis 1 Stunde dauernde Zustände
von Umdämmerung des Bewusstseins. Vor 3 Jahren hatte er einen
8 Tage dauernden, schreckhaft deliranten psychischen Ausnahmszustand,
wahrscheinlich grand mal.
Seit Herbst 1880 hatte Pat. viel Gemütsbewegungen und Krän-
kungen. Im Deeember 1880 schrak er, als ihn der Schwager einmal
aus dem Schlafe weckte, heftig zusammen, erlitt einen epileptiformen
Anfall, fühlte sich seitdem im Kopfe nicht recht beisammen, war
schreckhaft, empfand gelegentlich üble Gerüche, hörte Musik, Stimmen,
dass er erschossen werden solle, sah Räuber.
Der Umgebung erschien er einsilbig, gedrückt, unheimlich, man
fürchtete sich schliesslich vor ihm.
Am 9. und 10. Januar 1881 war Pat. auf einer Keise mit seinen
Verwandten in der Nähe von Graz. Am 10. bekam er einen epilep-
tischen Insult und in sofortigem Anschluss brach ein postepileptisches
schreckhaftes Delir aus. Er appercipirte die Umgebung als Räuber,
floh entsetzt nach Graz, erschien dort am 11. Morgens im Cafe, be-
stellte Frühstück, nahm es aber nicht, legte sich auf eine Bank, fiel
mehrmals herunter, bekam klonische Krämpfe, klagte Uebelkeit. fing
an zu toben, wurde geknebelt und ins Spital gebracht. Dort kommt
er ängstlich, verstört, aufgeregt an. tobt und schreit, delirirt von
1) Ans des Verf. Lehrbuch der Psychiatrie. 2. Aufl. (Beob. 51.
158 Ueber epileptische
Strolchen, die ihn überfallen, gefesselt, ihm Hände und Füsse abge-
schlagen und Alles weggenommen hätten. Er glaubt sich hier in
einer Räuberhöhle, in einer Löwengrube, schläft die Nacht auf den
12. nicht, sieht Schlangen, Löwen, Räuber, Huren, verkennt die Um-
gebung feindlich, wird aggressiv.
Am 12. Morgens wird er ruhiger, erzählt, er sei auf einer Reise
von Räubern überfallen worden, nach Graz geflohen, dort neuerdings
Räubern in die Hände gefallen. In letzter Nacht sei er in einer
Mörder- und Löwengrube gewesen. Er habe schreckliches Böller-
schiessen, Brausen, Musik gehört, überall Mörder und wilde Thiere
gesehen, Hände und Füsse abgeschlagen, sich ganz verlassen gefühlt
und vor Angst gezittert.
Nachmittags ist er vorübergehend nahezu lucid, giebt seine epi-
leptischen Antecedentien an. Bald wird er wieder im Bewusstsein
sein gestört, delirant, verworren, erklärt die Umgebung für Juden,
Könige aus dem Morgenland, Hirten mit dem Morgenstern, sich selbst
für den armen Lazarus, für einen Lehrer, reproducirt seine Delirien
von Ueberfall durch Räuber und Verfolgung durch wilde Thiere, glaubt
sich in einem Stall. Abends ist er Lehrer in der Elementarschule zu
Jerusalem mit 400 fl. Gehalt, Der Director dieser Schule heisst Lon-
ginus (!). Es wird deutsch und hebräisch vorgetragen. Daneben
finden sich Reminiscenzen des Persecutionsdelirs, aber auf biblisches
Gebiet übertragen. — Als er von Jerusalem nach Jericho ging, haben
ihn Räuber geplündert. Priester und Leviten gingen vorüber und
liessen ihn liegen, der Samariter schenkte ihm eine Hose und so konnte
er weiter nach Graz. Abends hält er noch den Schulkindern einen
Vortrag.
Am 14. Morgens glaubt er sich in Nazareth, im Jahre 1871, er
sei übers schwarze Meer dahin gefahren; dann meint er wieder in
Bethlehem im Stall zu sein. Im Laufe des 14. ist er relativ lucid,
wieder der Bäcker G. und im Stande, einige Mittheilungen über sein
früheres Leben zu machen. Er hat nur höchst summarische Erinne-
rungen aus der letzten Zeit, erinnert sich nicht seiner biblischen De-
lirien, wohl aber seiner persecutorischen, corrigirt sie theilweise, bleibt
aber mimisch verstört, dämmerhaft, ängstlich, gereizt.
Die Nacht auf den 15. schlief er wenig, war Nachts im Tempel,
sah lauter Pharisäer und Schriftgelehrte. Tagüber moros, gereizt, ist
er Nachts auf den 16. aufgeregt, schreit: „dieser Stall muss zerstört
werden". Er behauptet, durch seine Lehren im Tempel den Zorn der
Pharisäer hervorgerufen zu haben, in den Kerker geworfen zu sein.
Die Aerzte hält er für Pilatus, Schriftgelehrte und Pharisäer, die
Psychosen. 159
Wärter für Henkersknechte. Er ist in Bethlehem geboren 1851 ; sein
Vater war Zimmermann, hiess Josef, seine Mutter Maria; er heisst
Franz Grabner. Er ist von Palästina übers Wasser nach Jerusalem
gefahren, seit 3 Tagen dort. Kaiphas hat ihn in den Kerker werfen
lassen. Der Wärter ist ein Soldat des Hauptmanns von Kapernaum.
Schwere Bewusstseinsstörung, grosse Gereiztheit, mimisch tief verstört,
droht jeden Augenblick, auf die Umgebung loszufahren. Auf Momente
ist er etwas freier, weiss sich im Krankenhaus.
Am 17. proklamirt er sich als Christus, aber gereizt und mit der
Erklärung, dass er von den Juden und Pharisäern hier ans Kreuz
geschlagen wird. Er glaubt sich hier im Saal (Hörsaal) vor Pilatus,
ein bei der klinischen Demonstration des Kranken anwesender Regi-
mentsarzt in Uniform imponirt ihm als Herodes, er packt einen Stuhl,
will auf den Herrn eindringen. Die folgenden Tage ist Pat. schweigsam,
von inneren Vorgängen absorbirt, tief gestört im Bewusstsein, gereizt,
unheimlich. Er schläft fast gar nicht, weigert oft Essen, weil Gift
darin sei, erklärt sich für den ägyptischen Josef, mich für Pilatus,
die Assistenten für den Mundschenk und den Bäcker.
Am 20. 1. Abends ist Pat. vorübergehend relativ lucid, bald aber
wieder verworren, gereizt, unzugänglich. Vom 21. — 24. mehrere epi-
leptische Anfälle mit episodischem Stupor und panphobischem Delirium.
Von da an klärt sich allmälig das Bewusstsein. Pat. ist wieder der
Grabner. Er hat summarische Erinnerung für die Erlebnisse der
letzten Tage, klagt, dass es ihm immer sei, als ob Käuber und Mörder
um ihn wären und man ihn kreuzigen wolle. Nachts halte man ihm
immer falsche Anklagen vor. Er corrigirt seine biblischen Delirien,
erzählt, dass er die Umgebung für biblische Personen hielt, weil er
sie in prunkhaften Gewändern gesehen und Weihrauchdüfte gerochen
habe. Pat. ist in der Folge sehr matt, erschöpft, schlafbedürftig, leicht
dämmerhaft.
Am 7. und 11. 2. epileptoider Anfall (allgemeiner Schüttelkrampf
bei erloschenem Bewusstsein). Seitdem noch dämmerhafter , ver-
schlafener als vorher, wieder mehr moros und reizbar.
In der Nacht auf den 5. 3. entstellt Feuerlärm im Spital. Pat,
hört ihn, wird sofort wieder delirant. tobt die Nacht hindurch vor
Angst, behauptet am anderen Morgen, er sei im Feuer gewesen, habe
sich verbrannt. Nun kommt wieder das schreckhafte Verfolgungsdelir
(Juden, Räuber).
Am 13. 3. 1881 wird er der Irrenanstalt übergeben, in welcher
er in der beschriebenen Weise bis Mitte Mai delirant bleibt. Die Er-
inneruno- für die Erlebnisse des Delirs ist eine höchst summarische.
160 Ueber epileptische
Am 30. 5. epileptischer Anfall mit folgendem Wuthanfall. Am
9. 6. zweistündiges schreckhaftes Delir. Am 11. 6. epileptischer Insult
mit mehrstündigem postepileptischem schreckhaftem Delir. Mehrmalige
Wiederholung von Juni bis September. Von da an ist Pat. ganz lucid
und frei von epileptischen Insulten. Am 9. 1. 1882 wird er „genesen"
entlassen.
Bis Ende September 1882 ist er ruhig, geordnet. Da ersticht ei-
sernen Bruder (Durchtrennung des Rückenmarks) in einem zornigen
Affect. Mitte September geräth er in Erbschaftsstreitigkeiten mit
seinem Vater, würgt ihn, bis dieser bewusstlos wird und durch die
Nachbarn befreit wird. Diese letzte Gewaltthat fiel in das Exacerbations-
stadium eines neuen deliranten Paroxysmus, in welchem Pat. am
20. 9. 1882 neuerdings Aufnahme auf der Klinik findet, Ausser einem
leicht microcephalen Schädel (Circf. 54, Längsm. 17, Querdurchm. 14)
bietet Pat. nichts Bemerkenswerthes. Die erprobtesten Antiepileptica
(Bromkali bis 8,0 täglich, Atropin, erwiesen sich, wie auch früher,
ganz erfolglos.
Beob. 8. Protrahirtes, resp. recidivirendes postepileptisches
Delirium mit intercurrentem Stupor1).
R, 34 J.. Beamtenfrau, wurde am 17. 4. 1875 in der Irrenanstalt
aufgenommen. Grossvater und Vater sind apoplectisch gestorben. Pat.
wurde im 16. Jahre nach heftigem Schrecken epileptisch. Die Anfälle
traten etwa alle 14 Tage und, nachdem die Menses im 15. Jahre sich
eingestellt hatten, besonders stark und gehäuft zur Zeit dieser auf.
Man verheirathete sie im 30. Jahre in der Hoffnung, dass die Krank-
heit dadurch sich verliere, aber die Anfälle wurden eher häufiger.
Sie kamen ohne Aura und hinterliessen jeweils einen mehrstündigen
Dämmerzustand.
3 Wochen nach der 1. Entbindung kam es zu einem Anfall von
Irresein von 12tägiger Dauer. Pat. sah den Mann erschossen, die
Eltern todt, meinte, ihr Kind sei todt, habe keine Augen. Sie schlief
nicht, ass nicht, war tief verworren und ängstlich aufgeregt. Sie hatte
völlige Amnesie für diesen Anfall.
3 Wochen nach der 2. Entbindung (1873) erfolgte ein 2., dem 1.
wesentlich gleicher Anfall, der 4 Wochen dauerte.
Seitdem stellten sich die epileptischen Anfälle viel häufiger, etwa
alle 2 Tage ein. Pat, wurde geistig verändert, moros, zornmüthig,
gedächtniss- und geistesschwach.
1) Aus des Verf. Lehrbuch der Psychiatrie. 1. Aufl. (Beob. 87.)
Psychosen. 161
5 Wochen nach der 3. Entbindung (Februar 1875) erkrankte Pat,
zum 3. Mal psychisch nach gehäuften epileptischen Anfällen. Sie er-
schien ängstlich, deprimirt, im Bewusstsein erheblich gestört, klagte
selbst über tiefe geistige Verwirrung, wähnte sich verachtet und ver-
folgt von Jedermann, hörte sich von den Dienstboten verspotten, Hure
schelten, litt an Schwindel, Funkenblitzen vor den Augen. Kältegefühl,
Schlaflosigkeit, trieb sich verworren, dämmerhaft und von Angst ge-
trieben, planlos im Hause herum, versuchte wiederholt sich das Leben
zu nehmen. Der Zustand bewegte sich in Remissionen und Exacerba-
tionen, welche letztere jedesmal an neue epileptische Anfälle sich an-
schlössen. Das ganze Krankheitsbild machte der Beschreibung nach
den Eindruck eines protrahirten und wiederholt recidivirenden Dämmer-
zustandes mit Angst (petit mal). Ende März schössen im Gebiet des
2. und 3. Astes des Trigeminus Blasen auf, die rasch platzten und eine
excoriirte nässende Fläche hinterliessen. Diese wohl als neurotrophische
Erscheinung aufzufassende Hautafr'ection heilte unter dem Gebrauch
von Sol. Fowleri binnen 10 Tagen.
Bei der Aufnahme (Mitte April) erschien Pat. mimisch tief ent-
stellt, schmerzlich verstört. Sie hörte beschimpfende Stimmen, ferner,
dass sie nicht mehr gesund werde, war sehr ängstlich, schlaflos,
dämmerhaft im Bewusstsein. Lebhaftes Zucken und Beben der Ge-
sichtsmuskeln bei mimischen und artikulatorischen Impulsen. Pupillen
Aveit, träge reagirend. Zunge zitternd, mit zahlreichen alten Biss-
narben. Keine Erkrankung der vegetativen Organe.
Am 25. 4. schwand plötzlich dieser psychopathische Zustand, für
den Pat. nur eine summarische Erinnerung bewahrte. Unter Brom-
kalibehandlung (6,0) wurden die Anfälle selten, besserten sich Stim-
mung und Gesammtbeflnden.
Am 12. 5. Abends, nach vorausgehender Gereiztheit, trat ein epi-
leptiformer Anfall ein, bestehend in einer kurzen Streckung des Körpers
bei momentan erloschenem Bewusstsein. Im unmittelbaren Anschluss
an diesen Anfall brach Irresein aus. Pat. wurde hochgradig ängstlich,
verworren, im Bewusstsein tief gestört. Sie appercipirte feindlich,
schrie nach einem Messer, um sich umzubringen, behauptete, sie habe
einen Pferdefuss, einen Ochsenkopf. Sie schreckte oft auf. rief: „Mutter,
Mutter, jetzt wollen sie mich erschiessen," weigerte die Nahrung,
schlief nicht. Das Delirium war ein vorwiegend schreckhaftes. Stunden-
weise bewegte es sich wohl auch in einfachen Reproductionen von
Erlebtem, episodisch stellten sich Yerbigeriren. Eeimerei und Silben-
stecherei ein. Pat. war andauernd schlaflos, ohne Fieber, die Pupillen
weit, träge reagirend.
Krafft-Ebing, Arbeiten III.
162 Ueber epileptische
Am 17. 5., nach einem leichten epileptischen Anfall, trat Stupor
ein, der bis zum 19. andauerte. Dann setzte wieder ein höchst ver-
worrenes ängstliches Delir ein, mit ganz abgerissenen Worten und selbst
ganz unartikulirten Lauten.
Am 29. 5. fing Pat. an stundenlang zu schlafen. Sie war beim
Erwachen dann jeweils einige Zeit ohne Delir, leidlich lucid, bejammerte
ihre Lage, ihre schreckliche Krankheit und äusserte den Wunsch,
sterben zu können. Das Delir verlor am 29. und 30. seinen schreck-
haften Charakter. Es bekam ein pathetisch declamatorisches Gepräge,
oft noch mit ganz unverständlichen Worten und stellenweise verbige-
rirendem Charakter. Daran schloss sich vom 31. 5. bis 3. 6. ein ver-
worrener geistiger Dämmerzustand ohne Delirium, aus welchem Pat.
am 4. 6. plötzlich mimisch und psj'chisch frei zu sich kam. Sie hatte
nur höchst vage Erinnerungen aus der Zeit der Krankheit, die sich
um Angst und schreckhafte Hallucinationen drehten. Unter Bromkali
(8,0) verloren sich die epileptischen Anfälle, besserten sich Morosität,
Eeizbarkeit und geistige Insufficienz, sodass Pat. am 12. 9. 1875, bis
auf einen leichten Grad geistiger Schwäche, psychisch ganz befriedigend,
nach Hause entlassen werden konnte.
Beob. 9. Am 12. 8. 1885 wurde R., 28 J., ledig, Tagelöhner, auf
meiner Klinik aufgenommen. Anamnese fehlt. Pat. geht im Bewusst-
sein schwer gestört, mit ängstlich schmerzlichem Gesichtsausdruck zu,
ganz desorientirt und von inneren Vorgängen ganz absorbirt. Vom
15. ab wird er mimisch freier, fängt an zu sprechen, glaubt sich in
einem Kerker, weiss nicht, wie er dahin gekommen. Er habe bös
geträumt, schreckliche Situationen durchgemacht, Blut, Feuer gesehen,
mit Teufeln, schrecklichen Thieren gekämpft. Seine Erinnerung ist aber
eine höchst summarische und um einige Tage über den 12. 8. zurück
getrübte. Pat. erscheint bis zum 20. erschöpft, dämmerhaft, verfällt
dann in Stupor mit kataleptiformem Beibehalten gegebener Stellungen.
Der Stupor dauert bis zum 30. 8., wird von schreckhaftem Delir,
untermischt mit Gottnomenklatur und Majestätsdelir, abgelöst. Am
4. 9. setzt wieder Stupor ein, der bis auf tageweise Episoden von
plötzlicher Gereiztheit, ängstlicher Bewegungsunruhe und Aggressiv-
werden gegen die Umgebung anhält.
Anfang October wird Pat. lucid, hat nur höchst summarische Er-
innerung für den ganzen Krankheitsverlauf, berichtet von epileptischen
Anfällen, denen er seit seinem 20. Jahr unterworfen sei und die, wohl
auf Grund von zu reichlichem Alkoholgenuss , in der letzten Zeit vor
der Aufnahme sich häufiger eingestellt hatten.
Psychosen. 163
Beob. 10. W., Marie, 25 J., Dienstmagd, gelangte am 21. 8. 1875
auf meiner Klinik in Graz zur Aufnahme, da sie am 20. 8. unmotivirt
ihren Dienst verlassen hatte, in den Strassen herumgedämmert war
und in einem ganz fremden Hause ihre Kleider, die sie dort deponirt
habe, zurückgefordert hatte. Den Bewohnern war sie ganz unbekannt.
Pat, wurde drohend und arretirt. Auf der Klinik war sie anfangs
noch dämmerhaft, wurde dann lucid und hatte Amnesie für alles Vor-
gefallene.
Sie berichtet, dass ihr Vater ein Säufer, die Mutter epileptisch
sei. Eine Schwester ist irrsinnig.
Seit den ersten Menses, mit 17 Jahren, litt Pat. regelmässig prä-
menstrual an epileptischen Anfällen, mit postepileptischer Verwirrtheit.
Sie hat hydrocephales rachitisches Cranium, degenerative Ohren,
eine gut compensirte Mitralinsufficienz, ist psychisch auffällig nur durch
grosse Beizbarkeit.
Von Mitte September ab bietet Pat,, unter Erscheinungen zu-
nehmender Beizbarkeit, Streitsucht und Fluxion zum Kopf, einen Zu-
stand von pathologischem Zornatt'ect bis zu Tobsucht, der bis zu
8 Tagen andauert, plötzlich sich löst und völlige Amnesie für den
ganzen Zeitraum hinterlässt.
Es wird constatirt, dass dieser Zustand jeweils pränienstrual ein-
tritt und dass seine Lösung mit dem Erscheinen der Menses zusammen-
fällt. Bechtzeitiges Eingreifen mit Morphiuminjectionen vermag ihn
milder zu gestalten, ohne ihn aber abortiv verlaufen zu machen.
An einen solchen Insult, der am 4. 2. 1876 wieder einmal ein-
setzte, reiht sich am 9. ein hallucinatorisch deliranter Zustand. Pat.
schwer im Bewusstsein gestört, appercipirt feindlich, bewegt sich in zor-
nigen Affectdelirien, mit enormer Verworrenheit und Wuthausbrüchen.
Sie faselt von Verfolgung, Todesgefahr, hört anklagende Stimmen, sie
sei eine Mörderin, schäumt darüber vor Wuth auf, ist temporär un-
nahbar. Dann kommen ruhigere Situationen, in welchen viel von
Versündigung, Erlösung, Hölle, Himmel, Gott, Mutter Gottes die Bede
ist. In einem solchen deliranten Dämmerzustand bringt Pat. Monate
zu. Die Menses markiren jeweils Exacerbationen. Anfang Juli schiebt
sich ein 8 tägiges Stuporstadium dazwischen. Dann wieder Status quo
ante. Enorme Verworrenheit, „mein Todtenschein war schon lange zu
sehen auf dem blauen Eindfleisch" Anfang August schwindet plötz-
lich Delir und Aufregung. Pat, ist nun tief dämmerhaft und ver-
worren, bezeichnet sich als den „Kaisermann". Ende August kommt
sie zu sich, ist tief erschöpft, schwach, zitterig, sehr empfindlich gegen
Licht und Geräusch und ruhebedürftig. Ihre Erinnerung reicht nur
11*
154 Ueber epileptische
auf etwa 3 Wochen zurück und ist summarisch. Was es mit dem
Kaisermann und dem blauen Eiudfleisch für ein Bewandtniss hatte,
weiss sie nicht, nur der erstere Ausdruck ist ihr erinnerlich. Sie war
ganz verwirrt im Kopf, glaubte sich von Feinden umgeben, die ihr
einen Stein auf die Brust gelegt hatten. Bald wurde ihr der Fuss,
bald die Hand todt, sie fand oft keinen Athem, glaubte ersticken zu
müssen. "Sie sah oft Alles blau, dann wieder golden, so dass sie davon
geblendet war. Die Flammen hatten farbige Ringe. Fat. wird nun
mit Bromsalzen behandelt. Die Menses verlaufen seither mit Gereizt-
heit, Fluxionen, Schwindel, Kopfweh, aber es kommt nicht mehr zur
Zorntobsucht oder Delirien. Pat. erholt sich ganz befriedigend und
wird am 12. 2. 1877 genesen entlassen.
Beob. 11. F. Seh. Bauer, 48 J., ledig, wurde am 16. 8. 1883 in
der Grazer psychiatrischen Klinik aufgenommen.
Vater war Potator, ein Bruder litt an Convulsionen. Pat. war
ziemlich dem Potus ergeben, war aber früher gesund gewesen und
hatte bis zum 11. 8. 1883 nie etwas Auffälliges geboten.
An diesem Tage wurde er ängstlich verwirrt, verkannte die Um-
gebung feindlich, fing an zu beten, lief in die Kirche, schrie dort vor
Angst, ging auf die Leute los, wurde mühsam heimgebracht, wehrte
sich, mit der Motivirung, man solle [ihn in der Kirche sterben lassen.
Daheim wähnte er sich bald in der Hölle, bald im Himmel, legte sich
in der Position eines Gekreuzigten auf den Boden. Am 12. und 13.
wurden an ihm 2 Anfälle von Epilepsie beobachtet. Darauf steigerte
sich seine Angst und Unruhe; er bot dämonomanisches Delir, mit
heftigen Reactionen, versuchte seinen kleinen Hund zu zerreissen, in
der Meinung, es sei der Teufel. Am 15. hellte sich vorübergehend
sein Bewusstsein etwas auf, er sprach die Befürchtung aus, dass man
ihn ins Irrenhaus bringen werde.
Seiner Umgebung fiel seine grosse Gesichtsblässe auf. Bei der
Aufnahme am 16. 8. war Pat. im Bewusstsein tief gestört, delirant,
fieberlos, auffallend blass im Gesicht, bei stark contrahirten Arterien.
Er ist in der Folge schlaflos, ganz von Sinnestäuschungen oecupirt.
Die Miene verstört, wechselnd entsetzt und glückselig. Er äussert
Selbstanklagedelir , hat unwürdig communicirt, seine Missethaten
schreien zum Himmel, 23 Sünden hat ihm der Priester nicht vergeben,
er kommt in die Hölle, schon die Arbeiter auf dem Feld haben es gesagt,
Ihm wurde gesagt, dass der linke Schacher verdammt sei, wie Alle, die nicht
Busse tliun. Er will nicht trinken noch essen, bevor nicht alle Sünden
ihm verziehen sind. Episodenweise sieht er weissen Schein, goldigen
Psychosen. 165
Glanz. Er sieht den Engel, der der Jungfrau Maria die Botschaft
brachte, wird wie Jesus leiden, dafür aber mit all seinen Angehörigen,
indem er sie erlöst, in den Himmel gelangen. Vorübergehend glaubt
er sich im Paradiese, ist glücklich, nicht sterben zu müssen. Am 17.
ist er einige Stunden in Remission. Er berichtet dass er den Boden
ganz roth sah, in der Höhe lichte Wolken. Das erinnert ihn an die
Hölle und an Christi Himmelfahrt. Dann hatte er grosse Angst vor
den Anfechtungen des Teufels, sah schwarze Schatten und hörte
wüsten Lärm. Dann kam die Erleichterung. Er sah noch flüchtig
den Teufel, schwarz und gelb, dann weisse Tauben. Es war ihm
glückselig zu Muth, er hörte schöne Musik und verspürte himmlischen
Wohlgeruch. Am 18. Exacerbation, schwere Trübung des Bewußtseins,
Himmelsdelir , der Arzt wird als Jesus verkannt. Im Hintergrund
Angst und Gereiztheit, böse Geister wollen ihn kreuzigen. Liegt
stundenlang in der Position des Gekreuzigten da.
Am 20. tagüber Stupor. Am 21. freier, aber delirant. Glaubt
sich in Vorhölle, am 22. in Kirche. Die barmherzige Schwester ist
Mutter Gottes, ein Wärter ein Diener, welcher Jesum getauft hat. der
Arzt ist Christus. Am 23. schwelgt er in den Wonnen des Paradieses.
Am 21. wieder Stupor. Von nun an allmälige Klärung durch einen
Dämmerzustand hindurch, in welchem ab und zu noch A'ersündigungs-
delir und Himmelsdelir auftauchen. Das letztere wiegt vor. Er be-
hauptet, er sei schon gestorben daheim und dennoch am Leben. Zu-
nehmend geordnet. Gute Nächte. Am 5. 9. Bisswunde an der Zunge,
offenbar von einem nocturnen epileptischen Anfall. Bis Mitte September
völlige Klärung des Bewnsstseins. Summarische Erinnerung. Anam-
nestisch wird ein epileptoider Anfall, den des Kranken Bruder 1881
beobachtete, erhohen. Genesen entlassen am 30. 9. 1883.
Die Eigenartigkeit dieser Bilder vou „Wahnsinn" muss ohne
Weiteres zugegeben werden. Seltener erscheinen sie als postepilep-
tische und lassen sich dann als protrahirte resp. mehrfach recidivirende
Aequivalente (Samt) bezeichnen, insofern Recrudescenzen des Anfalls fast
regelmässig mit neuen epileptischen Insulten zusammenfallen. Häufiger
sind sie von Manifestationen der epileptischen Neurose losgelöste
Krankheitszustände. Als Prodromi erscheinen dann viefach Beklommen-
heit mit auffälliger Gereiztheit, Druck des Gewissens, Ahnungen be-
vorstehenden Todes, des jüngsten Gerichts, Drang zu beten. Dann
entwickelt sich der Anfall unter Bewusstseinstrübung und hallucina-
torischem Delir rasch zu seiner Höhe. Die Bewusstseinsstörung
166 Ueber epileptische
bietet wandelbare Intensitätsstufen von Dämmer-, Traum- bis zu Stupor-
zuständen.
Bemerkenswerthe Züge sind auffällige Gereiztheit und Ver-
worrenheit.
Die Delirien zeigen bunten Wechsel und Gemisch von depressivem
und expansivem Inhalt.
In dieser Hinsicht besteht auffällige Uebereinstimmung mit den
oben geschilderten Zuständen von periodischem Irresein in Form von
Delirien. Man findet Sünden- und Selbstanklagedelir, wobei aber früh
schon die Aussicht auf Erhebung und Erlösung durchschimmert, per-
secutorisches , dämonomonisches neben expansivem, das sich um Er-
hebung auf hohe irdische und himmlische Posten dreht.
Diese Delirien scheinen wesentlich entstanden und unterhalten
durch Hallucinationen und Illusionen.
Die Kranken haben zu kämpfen mit Hölle, Tod und Teufel, sehen
sich vor Gericht, bedroht von tausend Gefahren, hören wüsten Lärm,
Pelotonfeuer, sind durch von allen Seiten auf sie eindringende Verfolger,
Teufel, Thiere bedroht. Sie sehen ihre Angehörigen als Leichen, um
sich herum Blut, Krieg, Särge, sie werden selbst getödtet, gekreuzigt,
liegen dann in einer Gruft, wie todt im Bett oder in der Position des
gekreuzigten Christus da, bis expansive Delirien sie aus Gruft, Martern
der Vorhölle u. s. w. erlösen und ihnen Himmelfahrt, Apotheose, Paradies
vortäuschen. Sie hören dann himmlische Musik, empfinden himmlischen
"Wohlgeruch, schwelgen in den Wonnen des ewigen Lebens, umgeben
von heiligen Personen, eventuell auch irdischen Majestäten, bis plötz-
lich wieder die Scene sich ändert, sie in die Verdammniss herab-
geschleudert werden, von Neuem Martern und Kreuzigung erfahren,
den Kampf mit Teufeln, schrecklichen Thieren bestehen müssen.
Tiefe Remissionen sind Eegel im Verlauf. Sehr häufig treten
episodisch Stnporzustände ein.
Körperlich ist Pallor, Krampfpuls, hartnäckige Schlaflosigkeit,
kataleptiformes Beibehalten von Stellungen zu verzeichnen. Der
Krankheitszustand klingt regelmässig durch einen Dämmer- oder
Stuporzustand aus. Die Erinnerung für die ganze Krankheitszeit ist
eine summarische, theilweise sogar ganz fehlende. Die Gesammtdauer
dieser Psychose beträgt einige Wochen bis Monate. Antiepileptica
versagten mir fast regelmässig.
An die vorausgehenden Fälle von epileptischem „Wahnsinn" mit
dem sicheren Nachweis der epileptischen Neurose gestatte ich mir
Psychosen. 167
2 Beobachtungen anzureihen, deren klinische Uebereinstiminung mit
jenen sich nicht bestreiten lässt, wobei aber trotz vieljähriger und
darauf gerichteter Beobachtung in Anstalten gleichwohl niemals der
Nachweis von Epilepsie gelungen ist. Ich habe sie deshalb nicht in
Betracht gezogen, kann aber die Vermuthung ihrer epileptischen Be-
deutung nicht unterdrücken, umso weniger, als diese Neurose ja viele
Jahre latent werden kann und die Möglichheit des Uebersehens noc-
turner und milder Entäusserungen der Epilepsie nicht zu bestreiten ist.
B e o b. 12. H., 38 J., ledig, Advocaturconcipient aus Ungarn, stammt
von einem sehr nervösen Vater, der an Apoplexie starb. Eine Schwester
des Vaters litt an Hysteria gravis, eine andere war schwer neuro-
pathisch. Ein Bruder des Pat. ist apoplectisch gestorben. Pat. soll
von jeher nervös gewesen sein, kein Trinker. Seit einem Jahre hatte
er an Neurasthenie und Nosophobie gelitten. Während eines Aufent-
in Rohitsch-Sauerbrunn wegen nervöser Dyspepsie im August 1879,
war Pat, ohne palpable Ursache am 23. 8. plötzlich psychisch erkrankt.
Er bot zunehmende Gereiztheit, tobte, bewegte sich in Majestäts- und
Gottesdelirien, gelangte am 26. 8. in der Grazer Irrenanstalt, fieberlos,
in schwerer Bewusstseinsstörung, delirirend . schreiend, brüllend,
spuckend, grimassirend zur Aufnahme.
Pat. klein, Schädel normal, r. Pupille weiter als linke, beide
reagirend. Vegetativ ohne Befand. Traumhafte Verworrenheit, grosse
Gereiztheit, Pfeifen, Tanzen, Wetzen am Boden, Brüllen religiöser Ge-
sänge, gereiztes Sichproclamiren als Gott.
Am 23. 9. einige Stunden ruhig, fast lucid, nur leicht dämmerhaft.
Völlige Amnesie für die bisherige Krankheit. Dann wieder im Stat.
quo ante. Andauernd schwere Bewusstseinsstörung. Episodisch ängst-
lich, gereizt, stumm, moros, dann wieder erregt und unnahbar. Er-
klärt sich zeitweise für Gott, ist dabei aber masslos gereizt gegen die
Umgebung, die bald als politische Grössen, bald als Esel. Schweine
apostrophirt und mit Umbringen bedroht wird. Mitte October wird
Pat, plötzlich ruhig, aber er ist dämmerhaft und erklärt sich gelegent-
lich für Gott oder Bismarck. Ende October setzt wieder der delirante
Erregungszustand ein, mit tiefer Bewusstseinsstörung, enormer Ver-
worrenheit und Gereiztheit, „Ich bin Gott, Adonis. Sie sind Franz
Josef". Pat. fühlt sich inwendig ochsen-, pfauen-, kameelartig, im
Körper kalkig, in der Brust ein Uhrwerk. Immer zornig, gereizt,
verkennt er die Umgebung meist feindlich, oft auch als Kaiser. Bis-
marck. Er singt, brüllt, tanzt, grimassirt. verbigerirt stunden- und
tagelang, schläft selten und nur für einige Stunden, proclamirt sich in
168 lieber epileptische
wuthzomiger Erregung bald als Franz Josef, bald als Gott. „Haben
Sie schon einen Gott gesehen? Schauen Sie mich an, ich bin Gott,
packen Sie sich hinaus und zahlen Sie eine Million! Ich wünsche als
Gott assentirt zu werden." Ende 1879 wird Pat. ruhiger, bleibt aber
traumhaft delirant, geht mit den Jüngern Christi und Monarchen
spaziren, glaubt sich 1878, ist hier in einer Gruft. Dabei höchst ge-
reizt, ist obscön (hat 12 Schwänze). Mitte Januar 1880 wieder sehr
erregt und höchst verworren. Pat. commandirt gelegentlich Bataillone,
geht nackt als Christus. „Sie sind ein Löwe für mich, ein Bismarck.
Schreiben Sie einen Brief an Gott, Sie haben keinen Schwanz, sagen
Sie ihm, dass ich Gott bin." Der Arzt wird bald als Goethe, Bismarck,
bald als Esel, Schwein apostrophirt.
28. 2. 1880. Pat. ist 120 Jahre alt, es ist ein Blutbad hier. Alle
sind Götter. Pat. erklärt sich als „Gefreiter von Gott in New York".
Vom 9. 5. ab schweigt das Delir und die Erregung. Dämmer-
zustand, spur weise Aufhellung des Bewusstseins — ist hier im Narren-
hause, aber es sind lauter Bismarcke und Könige hier. Er ist getauft
vom Kronprinz Rudolf im Ofener Tunnel, lässt das ganze Kaiserhaus
grüssen. Im Juli zunehmende Klärung, aber andauernd Dämmerbewusst-
sein und an dessen Schwelle beständig Gott- und Majestätsdelir (ist
dann wieder Gott, Franz Josef).
Zu einer völligen Klärung gelangt Pat., trotz aller Nachhülfe,
nicht. Anfang 1881 Wiedereinsetzen des Erregungszustandes und
Weiterverlauf ganz wie früher. Am 29. 4. 1881 wird Pat. in die
heimathliche Irrenanstalt überführt. Der Güte des Herrn Director
Niedermann in Pest verdanke ich die Mittheilung, dass Pat. in der
nun folgenden zweijährigen Aufenthaltszeit wesentlich in gleicher Ver-
fassung wie während meiner Beobachtung blieb, nie mehr, auch nur
für kurze Dauer lucid wurde und bis zu seinem Abgang in eine
Siechenanstalt im November 1884 niemals weder Krampfanfälle noch
sonst irgendwelche Zeichen epileptischer Neurose geboten hatte.
B e o b. 13. M., Margarethe, 34 J., seit 10 Jahren an einen Hand-
werker verheirathet, von dem Trunk ergebenem Vater und neuro-
pathischer Mutter, ausser Variola nie krank gewesen, seit 10 Jahren
in Alkohol ausschweifend, wiederholt schon mit trunkfälliger Sinnes-
täuschung behaftet gewesen, wurde wegen seit 14 Tagen plötzlich auf-
getretener Geistesstörung am 8. 4. 1878 der Grazer psychiatrischen
Klinik zugeführt.
Die Krankheit hatte mit wachsender Angst, Verwirrtheit, grosser
Gereiztheit, Delirien von Vergiftung, Himmelfahrt, Teufelsvisionen ein-
Psychosen. \ßQ
gesetzt, Bei der Aufnahme war Pat. fieberlos, vegetativ ohne Befund,
congestiv, mittelgross, schmächtig, rhomboklinocephaler Schädel. Pat.
ist ängstlich verstört, schlaflos, äussert Angst vor der Hölle, Selbst-
auklagen, sieht Teufel, Schlangen, ist masslos gereizt, hat gelegentlich
Raptusanfälle, in welchen sie die feindlich verkannte Umgebung er-
würgen will, sich die Kleider vom Leibe reisst. Andauernd schwere
Bewusstseinsstörung, stundenweise Stupor, dann wieder höchst erregt,
schreiend, heulend, betend, singend. Angst vor der Hölle, der Arzt
ist ein Todtengräber, eine tiefe Stimme schreit zum Fenster herein
„es giebt keinen Gott". Pat, will nicht essen, weil die Mutter Gottes
sie sonst nicht ablöse.
Vom 17. Juni bis 2. Juli ist Pat, ruhig, aber dämmerhaft. Amnesie
für die bisherigen Krankheitserlebnisse. Am 2. 7. setzt wieder der
frühere Zustand ein. Pat, ist wieder ängstlich, verworren, enorm ge-
reizt, gewaltthätig gegen die feindlich appercipirte Umgebung, die in
hässlichen Fratzen, oft auch ohne Kopf ihr erscheint, sie in den
Brunnen werfen will.
In der Folge ganz abrupte, bunt wechselnde Grössen- und per-
secutorische Delirien. Enorme Verworrenheit — Pat. ist episodisch
Mutter Gottes, schlägt Fenster ein. um per Leiter in den Himmel zu
gelangen. „Christus soll mir Brod bringen, warum soll ich gestochen
werden auf der Hochzeit?1' Sie schmiert ihren Stuhl herum, behauptend,
es sei Gold. Astlöcher im Fussboden sind Christus, Maria. Allerlei
impulsive destructive Acte, oft ganz plötzlich grosse Gewalttätigkeit,
Andauernd schwere Gereiztheit und Verworrenheit. Dieser Anfall
dauert bis Anfang Februar 1879, schneidet plötzlich ab und hinter-
lässt einen Dämmerzustand.
Der weitere Verlauf lässt sich dahin zusammenfassen, das plötz-
lich einsetzende und jäh abklingende Anfälle von psychischer Erregung
und Delir mit ruhigen Intervallen continuirlich wechseln. Die An-
fallszeiten dauern minimal 13 Tage, maximal 6 Wochen. Irgend eine
Beziehung zu den Menses besteht nicht. Die ruhigen Intervalle um-
fassen 2—5 Tage. Sie stellen Dämmerzustände dar. in welchen Pat.
örtlich und zeitlich desorientirt bleibt. Erinnerung für die Erlebnisse
der Anfälle besteht nie. Ein eigenartiges Relief bekommen diese
durch traumhafte Bewusstseinsstörung. enorme Verworrenheit und Ge-
reiztheit. Nicht selten weiden in deren Ablauf tageweise Stuporzu-
stände constatirt, Der Inhalt der Delirien ist im Grossen und Ganzen
immer der gleiche. Sie sind primordiale oder knüpfen au Hallucina-
tionen an. Vorherrschend sind schreckhafte persecutorische Delirien
(Schlangen, wilde Thiere, Tod. Teufel. Hölle. Verbrennungsgefahr. Er-
170 Ueber epileptische
schossenwerden) mit verzweifelter Gegenwehr, Flucht oder momentaner
Erstarrung vor Schreck.
Episodisch erscheinen religiöse Delirien. Dann hält sie den Arzt
für den heil. Johannes, für den „seelischen Vater", für Christus und
will mit ihm auf die Hochzeit gehen als die „klügste Margareth".
Zu Zeiten verkennt sie die Wärterin als Mutter Gottes, mit der sie
gleich in den Himmel fahren wird. Andere Male behauptet sie ängst-
lich und höchst gereizt, sie habe Gott im Bauch, man solle ihn heraus-
schneiden, ihr Zeigefinger sei Christus. Ob man denn nicht bewirken
könne, dass die Mutter Gottes geboren werde (!). Brombehandlung, selbst
in Tagesdosen bis zu 8,0 war ganz wirkungslos.
Erkundigungen, welche ich über die 1898 noch in der Irrenanstalt
befindliche Kranke einzog, ergab Folgendes : Die Anfälle sind im Laufe
der Jahre seltener geworden, ohne aber ihr klinisches Gepräge (plötz-
liches Einsetzen und rasches Abklingen, schwere Bewusstseinsstörung,
grösste Verworrenheit, enorme Gereiztheit bis zu Wuthzornausbrüchen,
oft ganz impulsives Aggressivwerden mit extremer Gewaltthätigkeit,
Schreien, Brüllen, vorwiegend schreckhafte Delirien, untermischt mit
religiös expansiven, episodischem Stupor, Amnesie für das Ganze) ver-
loren zu haben. Intervallär dämmert Pat. herum ; Sie glaubt sich
auf dem hl. Berg Lagoria und äussert auch intervallär häufig den
Wahn, Mutter Gottes zu sein.
Seit einigen Jahren hat die Intelligenz sehr gelitten. Niemals
wurden Symptome im Sinne einer epileptischen Neurose constatirt.
Die vorausgehende Arbeit stellt das Vorkommen epileptischer
Psychosen sensu strictiori ausser Frage. Sie liefert aber wesentlich
nur einen casuistischen Beitrag und lässt es ganz unentschieden, auf
welche Weise psychische Bilder auf dem Boden einer epileptischen
Neurose ein eigenartiges klinisches Gepräge bekommen. Dies gilt auch
für die beiden folgenden Beobachtungen, deren erste eine religiöse
Paranoia, deren zweite ein aus depressiven und expansiven Zustands-
bildern von typisch epileptischem Delir sich zusammensetzendes cy-
klisches Irresein darstellt. Sie sind ganz vereinzelte Erfahrungen auf
dem Gebiete des epileptischen Irreseins. Nur auf dem Wege der
Sammlung einwandfreier klinischer Beobachtungen wird es gelingen,
an Stelle der psychologischen Diagnosen zu ätiologischen vorzudringen.
Das wäre aber ein bedeutender Gewinn für die Klinik der Psychosen.
Psychosen. 171
Beob. 14. Paranoia epileptiea.
E. D.. 38 J., Bauernfrau aus Untersteiermark, stammt von jäh-
zornigem, dem Trunk ergebenem Vater und psychotischer Mutter.
Pat. leidet seit dem 20. Jahre an Epilepsie. Seit, 1873 waren die
Anfälle häufiger geworden und öfters von mehrstündigen postepilep-
tischen Delirien gefolgt gewesen. Pat, wurde Mitte Mai 1875 von
einem protrahirten postepileptischen Delir befallen, aus dem sie nach
3 Tagen mit Amnesie zu sich kam. Sie war ganz verworren, höchst
gereizt gewesen, hatte beständig gebetet und mit Kerze und Weih-
wedel herumgekniet.
Bei der Aufnahme in der Irrenanstalt am 23. 5. 1875 war sie
ausser Paroxysmus, aber psychisch nicht normal. Sie berichtete von
Visionen der Mutter Gottes, von Heiligen, Engeln, die ihr seit Jahren
erschienen seien, erklärte sich in der Gnade Gottes zu befinden wegen
ihres frommen Lebenswandels. Gleichwohl sei sie von den Leuten
beschimpft und angefeindet worden, was ihr viel Kummer verursacht
habe. Pat. ist originär geistig beschränkt, der Stirnschädel schmal,
niedrig. Sonst kein Befund.
Am 25. 5. epileptischer Insult. Am 2. ti. freistehender Exaltations-
zustand, in welchem sie religiöse Lieder brüllt, predigt, wallfahrtet.
Solche Anfälle wiederholten sich oft und dauern Stunden bis einen
Tag. Kein Erinnerungsdefect. Ungebessert entlassen am 14. 5. 1870.
Neue Aufnahme am 0. 1. 1877 in postepileptischer Verwirrtheit,
Am 7. wieder ausser Anfall. Pat. ist aber nun die unbefleckte Jung-
frau Maria. Sie verlangt als Deputat derselben reichlich Schnupf-
tabak und 3 Seidel Wein täglich. Sie stolzirt als Mutter Gottes
herum, lässt sich nichts drein reden, weil sie als göttliche Person
machen könne was sie wolle. Zu Arbeit ist sie nicht zu bewegen.
Grosse Keizbarkeit. Masslos zornig und selbst aggressiv, wenn sie
nicht genug Wein und Tabak bekommt, ganz besonders aber wenn
man sie nicht als „Maria" anredet.
Episodisch, meist menstrual, kehren die früheren religiösen Exalta-
tionszustände wieder. Pat. wallfahrtet dann, sinst Hallelujah und
psalmodirt. Dabei höchst reizbar, die Umgebung selbst feindlich ver-
kennend und aggressiv. Hie und da zeigt sich neben der religiösen
Exaltation auch Erotismus.
Pat. ist andauernd in dem fixen Wahn befangen. Mutter Gottes
zu sein. Gelegentlich ist sie die hl. Kosalia. Der Wahn beherrscht
ihr ganzes Denken und Fühlen, ist vollkommen an Stelle der frühereu
Persönlichkeit getreten, sodass man das Vorhandensein einer Paranoia
172 Ueber epileptische
zugeben und annehmen muss, dass der Wahn einer ausgezeichneten
religiösen Persönlichkeit sich direct aus epileptischem Delirium ent-
sprechenden Inhalt herausgearbeitet habe.
Pat. kommt „gleich nach der göttlichen Gnade, hat das Ehren-
wort im Himmel vor Gottes Thron" Sie war schon oft in der Hölle,
hat dort 15 Männer der Finsterniss überwunden. In gelegentlichem
Aerger war die sonst herablassende und trai table Pat. masslos zornig
und drohte dann, Alle erstechen und erschiessen zu lassen.
Pat. blieb ganz unverändert bis zu ihrem am 1. 4. 1883 an Variola
erfolgten Tode.
Beofo. 15. Epileptisches circuläres Irresein.1)
Spess, 30 J., verheirathet, Grundbesitzer, aufgenommen 29. 12. 1873,
stammt von einem trunksüchtigen Vater. Seine Schwester ist epilep-
tisch. Als Kind litt Pat. an Convulsionen. Mit 8 Jahren, nach einem
Schreck, zeigten sich epileptische Anfälle, die in der Folge in
Zwischenräumen von Monaten bis Wochen wiederkehrten. In den
letzten Jahren hatte sich Pat. dem Trünke ergeben, die Anfälle hatten
sich gehäuft. Es stellten sich delirante Zustände ein, die die Auf-
nahme in der Irrenanstalt nöthig machten.
Pat. ist geistig defect, geschwächt. Er findet selbst, dass er kopf-
krank sei, er fühle sich immer wie betrunken im Kopf. Erkrankungen
vegetativer Organe sind nicht nachzuweisen, Herztöne rein, Puls 72,
tard. Gesicht und Extremitäten leicht cyanotisch. Der Schädel von
normalen Dimensionen, jedoch am Hinterhaupt stark abgeflacht. Die
Oberlippenmuskeln und die Zunge zitternd.
Die Beobachtung ergiebt, dass Pat. neben seinen epileptischen
Anfällen, die in Pausen von einigen Wochen und häufig gehäuft wieder-
kehren, einen cyklischen Wechsel von Exaltations- und Depressions-
zuständen darbietet, die durch traumartige Störung des Bewusstseins,
zeitweisen Stupor, delirantes Gepräge, mit zudem typisch congruenten
Delirien religiösen Inhalts (Gottnomenclatur) nebst entsprechenden
massenhaften Hallucinationen, sich deutlich als epileptisches Irresein
erweisen. Die Depressionsphasen haben durchschnittlich längere Dauer
(1—23 Tage) als die Zeiten der Exaltation l1/»— 10 Tage).' Zuweilen
kommt es auch eine Zeit lang zu einem täglichen Wechsel dieser Zu-
stände, ja hie und da wechseln die Zustandsbilder sogar 1—2 Mal
binnen 24 Stunden, wobei aber immer die depressive Phase überwiegt.
Zu eigentlich luciden Intervallen kommt es nie, da Pat. in den alle
1) Aus des Verf. Lehrbuch der Psychiatrie. 1. Aufl.
Psychosen. ^73
paar Monate sich findenden Zeiträumen, in welchen er frei von De-
lirium und weder exaltirt noch deprimirt ist, durch sein dämmerhaftes
Bewusstsein, seine grosse Gemüthsreizbarkeit und Bigotterie patholo-
gisch erscheint. Zuweilen finden sich nach länger dauernden, mit
Schlaflosigkeit einhergehenden Exaltationszuständen auch 1—2 Tage
lang solche eines stuporösen Erschöpfungszustandes. Die depressive
Phase des circulären epileptischen Irreseins beginnt regelmässig mit
Kopfschmerz, Schwere im Kopf, grösserer Reizbarkeit und Morosität.
Zunahme der habituellen Cyanose, Pat. wird mimisch tief verstört,
gedrückt, sieht starr vor sich hin, spricht leise mit bebenden Lippen,
erklärt sich für einen grossen Sünder, nimmt nur Minima von Nahrung
zu sich.
Das Bewusstsein ist traumhaft gestört. Pat. kniet herum, betet
seinen Rosenkranz, verlangt regelmässig ein Stemmeisen, um den Fuss
abzustemmen, eine Hacke, um sich die Finger wegzuhacken und da-
durch Gott zu versöhnen. Einige Narben an der linken Hand rühren
von einem derartigen Verstümmelungversuch her. Oft will er auch
gern ein Auge hergeben, wenn es Gott wohlgefällig ist. Stört man
Pat. in seiner Zerknirschung, so reagirt er feindlich, schlägt und beisst
nach der Umgebung. Constant ist er in dieser depressiven Phase viel
cyanotischer als sonst.
Die Arterie ist drahtartig zusammengezogen und bleibt so auch
beim Amylnitritversuch, der Puls ist tard, die Extremitäten und das
Gesicht sind kalt, cyanotisch, die Pupillen erweitert, träge reagirend.
In diesem Stadium finden sich massenhaft Hallucinationen — Pat. sieht
Krebse, Schlangen, Kühe, 2 grosse weisse Männer. Gott Vater mit
drohender Miene, den Teufel, der sich in verschiedene Thiere vor
seinen Augen verwandelt. Gegen Ende der depressiven Phasen tauchen
stundenweise Exaltationserscheinungen (Jauchzen, Singen, Pfeifen,
heitere Visionen) auf. Der Umschlag ins Exaltationsstadium ist ein
plötzlicher, unter bedeutendem Nachlass der Cyanose. Voller- und
Weicherwerden des Pulses, der zugleich frequenter wird. Nicht selten
finden sich auch fluxionäre Erscheinungen zum Gehirn. Die Miene be-
lebt sich, Pat. wird redselig, äussert seine Freude, dass ihm so leicht
im Kopfe sei. Er fängt an zu singen, zu tanzen und zu jubiliren. Er
sieht Gott, schöne Sterne, eiue grosse Stadt; der Himmel öffnet sich,
er sieht sich ins Paradies versetzt. Gott steigt vor seinem entzückten
Auge in Gestalt eines schönen grossen Fisches gen Himmel. Del-
hi. Geist erscheint ihm iu Gestalt eines Knaben, der ein weisses
Täfelchen in Händen hält. Er hält dann die Umgebung für Engel,
Gott Vater. Christus; Alles ist so wunderschön und glänzend. Der
174 Ueber epileptische Psychosen.
liebe Gott erscheint ihm farbig schillernd, wie ein glänzender Fisch,
vor seinen Augen tanzen goldene Fische. Er ist anhaltend schlaflos,
jubilirt, singt, preist Gottes Gnade und Güte. Die Augen glänzen,
die Miene drückt Begeisterung aus, der Zustand steigert sich momentan
bis zur Verzückung. Der Puls bleibt tard, aber er ist voller, die
Arterie weicher als im depressiven Stadium. Bromkali und Morphium-
injectionen erweisen sich erfolglos gegen das circuläre Irresein. Das
erstere vermindert wohl die Häufigkeit der epileptischen Anfälle, aber
diese sind auf den Gang und die Intensität des cyklischen Irreseins
ohne Einfluss. Die einzige bemerkbare Wirkung der epileptischen In-
sulte ist die, dass wenn sie gehäuft auftreten, die Cyanose während
einiger Tage gesteigert ist. Die epileptischen Anfälle sind meist
klassische, zuweilen aber beschränken sie sich auf ein allgemeines
Zucken und Beissen des Körpers, ohne dass Pat. ganz das Bewusstsein
verliert und umstürzt
VI.
ZUR CHIRURGISCHEN BEHANDLUNG DER EPILEPSIE.
Zur chirurgischen Behandlung der Epilepsie.
Vor nicht langer Zeit herrschte in Laien- aber auch ärztlichen
Kreisen die Meinung, dass die Hirnchirurgie berufen sei, Triumphe bei
der Behandlung Epileptischer zu feiern und das Geschick gar vieler
dieser Unglücklichen zum Guten zu wenden. Selbst Fälle von Epilepsie,
bei denen gar kein Trauma capitis ätiologisch in Betracht kam,
drängten sich zu einer operativen Behandlung, und man hatte als
Neuropathologe oft grosse Mühe, solche an ihrem Geschick verzweifelnde
Kranke von einer gar nicht indicirten , nutzlosen, nach Umständen
sogar für sie gefährlichen Operation abzuhalten. Neben einzelnen
wirklichen Triumphen operativer Chirurgie verzeichnet die Erfahrung
und Statistik unzählige Fälle, in welchen die Lage des Kranken durch
operativen Eingriff erheblich verschlimmert wurde. In der grossen
Mehrzahl dieser Fälle hätte ein solcher Misserfolg vorausgesehen
werden und der Eingriff unterbleiben können, wenn man sich die
Mühe genommen hätte, den concreten Fall anamnestisch ätiologisch
klarzustellen. Hat man doch sogar in unzähligen Fällen operirt, wo
die Aetiologie derselbeu in ganz anderen Bedingungen lag, als in
einem Trauma capitis, wo dieses ganz bedeutungslos gewesen war
oder nur eine allgemeine Wirkung auf das centrale Nervensystem im
Sinne einer erworbenen Prädisposition zur Krankheit hervorgebracht
hatte.
Am fatalsten für die Kritik sind diejenigen operativen Fälle, in
welchen man sich in der Diagnose überdies noch geirrt hatte, insofern
gar keine Epilepsie sondern Hysteria gravis vorhanden war.
Die Begeisterung für eine operative Behandlung der Epilepsie hat,
angesichts vorwiegend unbefriedigender Resultate, rasch nachgelassen,
Ki-afft-Ebing, Arbeiten III. 1-
178 Zur chirurgischen Behandlung
und es giebt nur noch vereinzelte Aerzte, die, wie sie z. B. noch An-
hänger der von der Wissenschaft längst aufgegebenen blutigen Nerven-
dehnung sind, auch der Trepanation bei Epilepsie ohne Weiteres das
Wort reden.
Der Werth statistischer positiver Eesultate auf diesem Gebiete
wird dadurch bedeutend geschmälert, dass die Krankheitsgeschichten
operirter Epileptiker meist einige Wochen nach der Operation abge-
schlossen werden, grossentheils wohl deshalb, weil der Operirte aus
dem Gesichtskreis des Operateurs entschwindet. Wenn ein Epileptiker
einige Wochen oder Monate lang nach einer so eingreifenden Operation
keine Anfälle mehr hat, so beweist dies aber keineswegs eine Heilung.
Jeder Erfahrene weiss, dass längere Latenz der Krankheitsanfälle
spontan oder durch eine neue Heilmethode oft genug beobachtet wird.
Wie wenig es gerechtfertigt ist, auf solchem Gebiet sanguinischen
Hoffnungen sich zu ergeben, lehren u. A. die Erfahrungen eines so be-
deutenden Chirurgen Avie Allen Starr („Hirn Chirurgie", deutsche Aus-
gabe 1895), der bei 427 Fällen „consecutiver" Epilepsie nur 26 Mal
Indicationen zur Trepanation fand.
Von 13 eigenen Fällen, über die Starr ausführlich berichtet, genas
keiner durch den operativen Eingriff. Von 29 weiteren , aus der
Literatur von ihm zusammengestellten sollen 8 genesen sein, aber die
Beobachtungsdauer betrug meist nur Monate, nur in einem Falle bis
zu einem Jahr. Die Gründe (wesentlich nicht vollständige Entfernbar-
keit von krankhaften Veränderungen, besonders von Narbengewebe),
welche, selbst bei indicirter Operation, den Erfolg schmälern, hat Starr
(op. cit.) in lichtvoller Weise auseinandergesetzt.
Immerhin wird man dem kühnen Chirurgen Recht geben, wenn er
meint, dass man sich durch Misserfolge nicht entmuthigen lassen und
bei vorhandener Indication die nur mit etwa 5°/0 Mortalität zu be-
ziffernde Operation unternehmen soll.
Die grössten Vortheile bietet wohl die operative Chirurgie in pro-
phylactischer Hinsicht, insofern sie bei frischen Schädelverletzungen
operativ eingreift und Reize entfernt, die später zum Entstehen von
Epilepsie Veranlassung geben könnten.
Die wichtigste Frage für ein operatives Einschreiten, da wo einem
Trauma capitis Epilepsie gefolgt ist, ist die nach den Indicationen.
Dass die aufgetretene Epilepsie mit einem vorausgegangenen
Trauma capitis überhaupt zusammenhängt, ist nicht immer so leicht
sicherzustellen.
Aus der Thatsache, dass von 8985 im deutsch-französischen Kriege
am Kopf verwundeten deutschen Kriegern nur 46 epileptisch geworden
der Epilepsie. 279
sind, lässt sich folgern, dass vielfach noch anderweitige Umstände im
Spiel sein mögen, die die Krankheit herbeiführen helfen und dass über-
haupt der Einfluss des Trauma gegenüber anderweitigen Schädlich-
keiten ein geringer ist.
In vielen Fällen, wo ein Trauma capitis wirksam gewesen sein
mag, geschieht dies sicher auf Grund von erblicher Belastung, Schädi-
gung des Schädelwachsthums oder Alkoholausschweifung. Ganz be-
sonders kommt die letztere in Betracht, wie dies 2 von Jolly (Charite-
annalen 20. Jahrgang) klinisch ätiologisch eingehend beleuchtete Fälle
in schönster Weise illustriren.
Meist wird das Trauma capitis nicht durch die Verletzung (die
gar nicht vorhanden zu sein braucht), sondern durch die mit dem
Trauma gesetzte Commotio cerebri epileptogen werden. So begreift
es sich auch, dass eine allerdings vorhandene Knochennarbe für die
Pathogenese des Falles bedeutungslos sein kann.
Ich schliesse hier vorweg die immerhin seltenen Fälle von trauma-
tischer Reflexepilepsie im Sinne Köppen's aus, bei welchen die von der
Narbe ausgehende Aura, die durch Reizung der Narbe eventuelle ex-
perimentelle Hervorrufung eines Anfalls u.s.w. bald über die Bedeu-
tung des Falles aufklären.
Es bedürfte übrigens einer eingehenden Studie dieser Fälle von
traumatischer Reflexepilepsie im Lichte neuerer Kenntnisse über
Hysteria gravis. Wenigstens handelte es sich in einzelnen Fällen
meiner Erfahrung hier um traumatisch geschaffene hysterogene Zonen
und nicht um (Reflex-)Epilepsie. Eine genaue Anamnese und minu-
tiöse Erforschung der Pathogenese sind jedenfalls in allen Fällen von
traumatischer Epilepsie Vorbedingungen für die Gewinnung von Indi-
cationen.
Wie von Chirurgen und Neuropathologen wohl allgemein anerkannt
wird, sind die Fälle von sog. Jacksonepilepsie diejenigen, bei welchen
am ehesten an einen operativen Eingriff gedacht werden darf. Hier ist
wenigstens das Gebiet gestörter Function sicher feststellbar und ebenso
der Angriffsort für eine eventuelle Operation. Schwierigkeiten für die
Indicationsstellung ergeben sich hier nur insofern, als der Sitz der
Läsion auch subcortical sein kann und dass , in allerdings seltenen
Fällen, kein organisches Substrat besteht, sondern eine functionelle
Störung, indem Hysterie Jacksonepilepsie vortäuschen kann (gesammte
Literatur bei Gilles, traite de l'hysterie II p. 162). Mit dieser That-
sache ist immerhin zu rechnen. Auf hysterische Stigmata ist kein
Verlass. Ich habe einen monosymptomatischen Fall von hysterischem
motorischem Jackson beobachtet. Ausgesprochene Ausfallserscheinungen
12*
180 Zur chirurgischen Behandlung
im betr. Rindengebiet, haben diagnostisch jedenfalls viel grösseren
Werth zu Gunsten einer organischen Begründung des Falles, als Reiz-
erscheinungen.
Im Anschluss veröffentliche ich Fälle aus meiner Klinik, bei
welchen nach meiner Ueberzeugung die Vornahme einer Operation
ganz ungerechtfertigt war.
Diese Fälle sollen nicht anklagen, sondern einfach warnen, die
Diagnose und Operation nicht zu leicht zu nehmen.
Beob. 1. Franz B., geb. 1871, Kellner, aufgenommen auf der
psychiatrischen Klinik im Wiener allgemeinen Krankenhause am 21. 12.
1892 wegen eines in einem offenbar epileptischen psychischen Aus-
nahmszustand versuchten Selbstmordversuches, stammt von einem
neuropathischen , jähzornigen Vater. Sein Bruder starb in früher
Jugend an „Gehirnentzündung".
Fat., der als Kind nie an Convulsionen gelitten haben soll, hatte
Rachitis gehabt und soll von jeher nervös und aufgeregt gewesen
sein. Seit seinem 8. Jahre hatte er an häufigen Vertigo- und Syn-
copeanfällen von entschieden epileptischem Gepräge gelitten. Li
beiderlei Anfällen fand sich Pallor. Aura fehlte. Die ersteren dauerten
Secunden, die letzteren bis zu 5 Minuten. Motorische Reizerschei-
nungen wurden dabei niemals beobachtet.
Im März 1883 stürzte Pat. beim Turnen (wahrscheinlich in einem
Schwindelanfall) von einer Leiter, erlitt eine leichte Rissquetschwunde
am 1. Scheitelbein und war 5 Minuten bewusstlos.
Drei Stunden später, auf einem Spaziergang, erlitt er den ersten
klassischen epileptischen Insult. Von nun an kehrten solche sehr
häufig, sowohl im Schlaf als im Wachen wieder, nicht selten gefolgt
von leichten Verwirrtheitszuständen. Eine Aura bestand nicht für
diese Anfälle. Dieselben traten nach Jahresfrist zurück. An ihre
Stelle traten nun wieder die früheren Vertigo- und Syncopeinsulte.
Auch litt nun Pat. an freistehenden Dämmerzuständen, in welchen er
zur Hand befindliche Gegenstände sich aneignete, an anderem Orte
wieder fortwarf, ohne das Geringste von diesen Vorgängen zu wissen.
Er verlor deshalb seine Stellung als Setzerlehrling, wurde darüber ver-
stimmt, äusserte Taedium vitae, befand sich deshalb 1886 im Frühjahr
in der Beobachtungsstation des Wiener allgem. Krankenhauses und
wurde wegen Fortdauer epileptischer Ausnahmszustände nach der
heimathlichen Irrenanstalt geschickt, in welcher er etwa ein halbes
Jahr verweilte. Gebessert entlassen, wurde er Kellner, bekam seine
Anfälle, angeblich wegen des aufreibenden Berufes, in 3— 4 monatlichen
der Epilepsie. 181
Intervallen wieder. Nach einer Rauferei, wobei Pat. ein Glas an das 1. Os
parietale geworfen worden war, jedoch ohne Verletzung, sehr bedeutend
vermehrte Anfälle. Als ihm ein Arzt erklärte, er sei unheilbar, machte
Pat. einen Suicidversuch mittelst Adernaufschneiden. Er wurde ins
Krankenhaus aufgenommen, hatte daselbst 2—3 Mal täglich Anfälle
genuiner Epilepsie. Gebessert entlassen am 19. 12. 1890. Pat. hatte
nun durch längere Zeit wieder nur Vertigo- und keine klassische An-
fälle. Ende August 1891 machte er die Bekanntschaft eines wan-
dernden Hypnotiseurs, der ihn als Medium zurichten wollte. Es kam
nun zu einem mittelst Braid'scher Methode unternommenen Hypnose-
versuch, der angeblich tiefes Engourdissement erzielte. Noch an dem-
selben Abend entstand der erste Hysteriagravisanfall (epileptoide
Phase, grands mouvements) von mehrstündiger Dauer. Dieser wieder-
holte sich nun täglich, während die vertiginösen und klassischen epi-
leptischen Anfälle schwanden. Aus Nothlage und Kummer über seine
Krankheit machte Pat. im October 1891 einen Suicidversuch durch
Erhängen, kam deshalb in ein .Spital, wo man die Hysteria gravis-
Anfälle, obwohl Pat. die schönsten coordinirten Krämpfe hatte (Are de
cercle, „Verkrümmungen wie ein Fragezeichen") für Epilepsie hielt
und zwar für Jackson, im Zusammenhang mit jener leichten Verletz-
ung vom März 1883.
Am 27. 11. 1891 wurde am 1. Scheitelbein trepanirt, aber die da-
selbst erwartete Veränderung an der Vitrea und Dura nicht vorge-
funden. Nach diesem operativen Eingriff waren die Hysteria gravis-
Anfälle eine Zeitlang geschwunden. Etwa 6 Wochen nach der Opera-
tion kam es eines Abends zu rotirenden Krampfbewegungen im rechten
Schultergelenk und darauf zu einer gekreuzten hysterischen Streck-
contractur. Daran reihten sich durch 3 Tage und 3 Nächte in halb-
stündigen Intervallen wiederkehrende, jeweils 5 — 6 Minuten andauernde
Klonismen, bei intactem Bewusstsein.
Man hielt diese neuerlich für Jackson, nahm an, dass die Wund-
ränder einen Druck auf das Gehirn ausübten, öffnete und nähte die
Wunde nochmals, worauf thatsächlich jene Anfälle nicht wiederkehrten.
Am 5. 3. 1892 wurde Pat, frei von solchen aus dem Spital entlassen
und befand sich wohl bis zum 10. 9. 1892. an welchem Tage er an
der trepanirten, durch keine Platte geschützten Stelle, an einen Gas-
kandelaber anstiess. Durch dieses Trauma scheint die in der Folge
andauernd hyperästhetische Stelle spasmogen geworden zu sein.
Es kam zunächst zu einer Beugecontractur in der r. OE.. die an-
geblich durch Faradisation des r. Schultergelenks beseitigt wurde.
Ende Oktober 1892 stürzte Pat. von einer Leiter und fiel mit
182 Zur chirurgischen Behandlung
dem Hinterhaupt auf eine Sessellehne. Sofort stellte sich ein Anfall
ein, in welchem die in Streckcontractur befindliche r. OE. nach rück-
wärts gezogen wurde, während Klonismen im 1. Fuss bestanden.
Solche Anfälle wiederholten sich in stundenlanger Dauer häufig;
ab und zu entwickelten sie sich weiter zu Hysteria gravis (epileptoide
Phase, allgemeine Starre) und gingen dann mit Bewusstseinsverlust
einher.
Wegen eines neuerlichen Suicidversuchs war Pat. am 21. 12. 1892
(s. o.) auf die psychiatrische Klinik aufgenommen worden.
Stat. praesens: Pat. mittelgross, gracil, von gutem Ernährungs-
zustand. Schädel leicht rachitisch, an den Tubera abnorm prominent,
Cf. 54.5. Auf der Höhe des 1. Scheitelbeines ein ovaler, sagittal ge-
stellter, muldenförmig vertiefter, von einem Kuochenwall umgebener,
6 cm langer, 3 cm breiter Knochendefect , von normaler Kopfhaut
gedeckt, Schon leises Berühren dieser Stelle ruft lebhaften Schmerz
hervor. Hirnpulsation ist daselbst deutlich zu fühlen. Bei Husten-
stössen wird diese Parthie vorgewölbt.
Anästhesie der Conjunctiva und Cornea r. und 1. Anästhesie auf
1. Kopf- und Gesichtshälfte incl. 1. Mundhöhle. Clavus. Amyosthenie,
Hypästhesie und Hypalgesie in r. OE., Verlust der cutanen und tiefen
Sensibilität im 1. und 2. Finger, Anästhesie des 1. Fusses bis über die
Malleoien herauf, hier ringförmig abschneidend. Amyosthenie, Hyp-
ästhesie und Hypalgesie in der übrigen 1. UE. , bedeutende Herab-
setzung der tiefen Sensibilität daselbst, Schmerzhafte Druckpunkte an
Wirbelsäule und unter der 1. Mamma. Patellarreflex gesteigert, 1. mehr
als r. Anfälle von Contractur in der dann nach rückwärts gezogenen
r. OE., zugleich mit Klonismus der 1. UE. Episodisch arten solche
Anfälle zu grands mouvemtsnts (Are de cercle, halbseitige Verdrehungen
und Wälzen um die Längsaxe) mit Trübung des Bewusstseins aus. Im
Anfall hört die jeweils intervallär sehr deutlich an der Trepanations-
stelle zu fühlende Hirnpulsation auf. Die höchst hyperästhetische Opera-
tionsstelle scheint spasmogen. Besserung bei entsprechender Behandlung.
Nach der Entlassung (9. 3. 1893) in Nothlage wieder tägliche
und schwere Hysteria gravis-Insulte.
Am 24. 4. 1893 neuerliche Operation auf dem 1. Scheitelbein behufs
Einheilung einer Celluloidplatte. Einige Stunden später unter heftigen
excentrischen Schmerzen in r. OE. .Jacksonartige Klonismen, serien-
artig, jeweils 4—5 Minuten lang, einmal auch mit Uebergreifen auf
das r. Facialisgebiet, bei erhaltenem Be^vusstsein. Nach mehrstündiger
Dauer cessiren diese Jacksonanfälle und hinterlassen eine schlaffe
Lähmung in der r. OE.
der Epilepsie. 183
Die Operation bestand in Eröffnung der Operationsstelle, Excision
der Narbe, Anfrischung der alten Trepanationsstelle, Spaltung der Dura,
Function des Gehirns (kein Abfluss von Flüssigkeit), Deckung der
Lücke durch einen seitlich davon gewonnenen Hautknochenlappen.
Seither häufige Jacksonanfälle, an denen auch die r. UE. theilnimmt.
Am 25. 6. stösst sich Pat. an die operirte und offenbar nach wie
vor spasmogene Stelle. Sofort Stat. hystericus und Delirien, Suicid-
versuche bis zum 3. 7., wo Pat. mit Amnesie für alles Vorgegangene
zu sich kommt. Er wird am 4. 7. auf die psychiatrische Klinik
verbracht.
Stat. vom 5. 7. 1893 : Hochgradige Schmerzhaftigkeit der Operations-
stelle. In r. OE. und UE. Amyostkenie. Sensibilität intact. Im
Juli und August mehrere Anfälle von r. Jackson (OE. und UE.) und
solche von Hysteria gravis.
Am 27. 8. 1893 in die Versorgungsanstalt entlassen. Bis zum
August 1896 anfangs noch häufiger, dann .seltener Jacksonanfälle, nie
klassische epileptische. Zuweilen Hysteria gravis- Anfälle mit Delir, in
welchem gelegentlich Suicidversuche stattfinden. August 1896 ent-
schliesst sich ein Chirurg zu neuerlicher Trepanation auf dem 1. Scheitel-
bein, trägt angeblich eine „schwammige" Hasse auf der Hirnrinde ab
und deckt den Schädeldefect mit einer Celluloidplatte, worauf die
Jacksoninsulte definitiv schwinden. Die H3rsteria gravis-Anfälle dauern
fort. Nach einem neuerlichen Erhängungsversuch kommt Pat. wieder
einmal auf die psychiatrische Klinik.
Stat. 6. 11. 1896: Operationsstelle sehr empfindlich bei Berührung.
In r. OE. und UE. Amyosthenie. Hypästliesie und Hypalgesie am
r. 4. und 5. Finger. Sonst Sensibilität überall normal. Seltene
Hysteria gravis-Anfälle, neuerlich öfter Dämmerzustände mit taed.
vitae, gelegentlich Sehen von schwarzen Menschen en masse, die Pat.
verfolgen. Kein Potus im Spiele. Pat. wurde in die heimathliche
Irrenanstalt transferirt, in welcher er bis zum 6. 7. 1897 verblieb.
Seither keine irgendwie geartete Insulte mehr. Die Kopfnarbe ist
nicht mehr schmerzhaft. Negativer Befund von Seiten des Nerven-
systems.
Epikrise: Idiopathische Epilepsie in Gestalt von petit mal, auf
Grund von hereditärer Belastung und Bachitismus cranii vom 8. Jahre
all. Fortentwickelung der epileptischen Neurose zu grand mal und
psychischen Aequivalenten, nach Trauma capitis ohne Schädelverletzung.
Durch Hypnotisirungsversuche eines Laien entsteht Hysteria
gravis. Zurücktreten der epileptischen Neurose. Verwechselung der
hysterischen Neurose mit Epilepsie, anamnestisch und klinisch ganz un-
184 Zur chirurgischen Behandlung
gerechtfertigte Annahme einer Rindenepilepsie. Auf diese irrthümliche
Annahme gegründete ganz erfolglose Trepanation. Neuerliche Ver-
wechselung der hysterischen Krampferscheinungen mit Eindenepilepsie.
Neuerliche erfolglose Schädeleröifnung. Die Operationsnarbe wird Sitz
einer hysterischen spasmogenen Zone. Abermalige Operation wegen
vermeintlicher Jacksonepilepsie.
Auf Grund dieser irrigen Voraussetzung Spaltung der Dura und
Punction des Gehirns. In Folge dieses Eingriffes Avirkliche Ent-
wickelung von Jacksonepilepsie. Durch neue Operation endlich
Schwinden von Jackson. Der in Euhe gelassene Kranke verliert all-
mählich auch seine Hysteria gravis. Wahrscheinlich als psychische
Aequivalente aufzufassende Dämmerzustände bestehen fort und sind
wohl als Residuen der ursprünglichen epileptischen Neurose aufzufassen.
Die vorstehende Krankheitsgeschichte stellt eine wahre medi-
cinische Odyssee dar und rechtfertigt das Verlangen nach besserer
Diagnose und richtiger Indicationsstellung, bevor man sich zu chirur-
gischen Eingriffen bei Krampfkrankheiten entschliesst. Schon die genaue
anainnestische Forschung hätte in diesem Falle die Unhaltbarkeit der
Annahme einer traumatischen Epilepsie erweisen müssen.
Beob. 2. Im Herbst 1892 Hess sich der 25 Jahre alte Verkäufer
E. in meiner Klinik aufnehmen.
Er ist hereditär belastet (Eltern und Bruder nervös, jähzornig,
Mutter mit Migräne behaftet), war ein eigenartiger, schüchterner,
linkischer, träumerischer Junge, kam in der Lehre nicht fort, versuchte
es, 16 Jahre alt, bei der Marine, wurde 1888 wegen Intermittens,
Lues, doppeltem Leistenbruch superarbitrum, ergab sich nun dem Potus
und schoss sich am 16. 8. 1891, verzweifelt über seine Lage, mit einem
Revolver in die r. Schläfe. Er wurde bewusstlos aufgefunden, erbrach
mehrmals, bot keine Lähmung. Das Projectil wurde nicht auf-
gefunden. Der Schusskanal reichte horizontal mehrere Centimeter
weit in die Schädelhöhle hinein.
Am 21. 10. 1891 riss sich Pat. im Spital in einem Zornaffect den
Verband ab, fuhr mit einer Kornzange in den AVundkanal und zog sich
Gehirnsubstanz heraus. Er scheint sich dabei den r. tractus opticus
und r. pedunculus cerebri verletzt zu haben. Die unmittelbare Folge
dieses Eingriffs war ein Gefühl von Eiseskälte in der 1. Körperhälfte,
eine 1. Hemiplegie inclus. Mundfacialis, 1. Hemikypästhesie, 1. Hemi-
anopsie. Die Wunde heilte bald. Gegen seine Lähmung suchte Pat.
vergebens Hülfe in verschiedenen Spitälern.
Stat. praes. vom 2. 12. 1892. Pat. gross, kräftig, gut genährt,
der Epilepsie. 185
ohne Zeichen von Lues, ohne Störung in den Functionen der vegetativen
Organe. In der r. Schläfe findet sich ein etwa kreuzergrosser, kreis-
runder Defect im Knochen, verschlossen durch eine festsitzende, kaum
verschiebliche, muldenförmig eingezogene, bei Druck schmerzhafte
Narbe, durch welche man undeutlich Hirnpulsation fühlt. Pupillen
mittelweit, gleich, hemiopische Pupillenreaction. Im Perimeterbefund
1. scharf abgegrenzte Hemianopsie. Augenhintergrund normal. Alle
übrigen Hirnnerven (auch Oculomotorius) intact, bis auf Parese des
1. Facialis im Wangen- und Mundtheil.
In der I. OE. alle Bewegungen in physiologischem Umfang mög-
lich, aber ganz kraftlos. Sehr rasches Ermüden. Es besteht Ataxie,
im 1. Biceps eine Spur von Rigor. Die 1. OE. ist im Volumen um
2 cm reducirt. Die tiefen Reflexe sind hochgesteigert.
An der 1. UE. sind die Einzelbewegungen erhalten, aber kraftlos.
Beim Gehen, das entschieden hemiplegisch ist und Spuren von Rigor
verräth, scharrt die 1. Fussspitze am Boden. Trophisehe und vaso-
motorische Störungen bestehen nicht. Enorme Steigerung der tiefen
Reflexe, bis zu Patellar- und Fussklonus.
Pat. klagt über ein Gefühl von Kälte in 1. OE. und UE., deren
Temperatur auch thatsächlich herabgesetzt ist. Pat. schwitzt profus
auf der 1. Seite (r. fast gar nicht). Auf der ganzen 1. Körperhälfte
besteht keine Störung der Sensibilität, Blase und Mastdarm sind
intact. Der Bauchreflex fehlt links. Auf der r. Körperhälfte keine
motorische oder sensible Anomalie.
Pat. verlässt nach wenig Tagen die Klinik, in der er am 8. 10.
1893 neuerlich zur Aufnahme gelangt. Seit Anfang Februar 1893 hatte
R. an neurasthenischen Beschwerden ( Kopfdruck. Gefühl eines eisernen
Reifs um den Kopf, Verstimmung, Schlaflosigkeit u. s. w. | und eigen-
tliümlichen, motorischem Jackson ähnlichen Anfällen zu leiden begonnen.
Als Aura solcher verspürte er Ameisenkriechen in den Fingerspitzen
der 1. Hand, das sich über den Arm aufwärts erstreckte. Dann kam
es zu Pfeifen, Rauschen in beiden Ohren, Schwindel, Umneblung, worauf
klonische Krämpfe 1. einsetzten. Die Zuckungen begannen im 1. < Be-
sicht, setzten sich fort auf 1. OE., UE., dauerten bis zu 10 Minuten
ohne Verlust des Bewusstseins, ausser iii den seltenen Fällen, wo sie,
in der 1. UE. angelangt, auch auf der r. Seite auftraten. Einmal kam
es in einem solchen generalisirten Anfall zu Zungenbiss. Solcher An-
fälle kehrten bis zu 4 täglich wieder. Einigemal hatte Pat. auch frei-
stehende Dämmerzustände gehabt, aus welchen er an ganz fremdem
Orte, ohne zu wissen warum und wie er dahin gekommen, erwachte.
Am 7. 8. 1893 hatte sich Pat., in der Hotthung auf Hülfe durch
186 Zur chirurgischen Behandlung
eine Operation, in einem chirurgischen Spital aufnehmen lassen. Man
entschloss sich zu einer solchen. Am 24. 8. wurde die frühere Wund-
stelle trepanirt, die massig- gespannte Dura eröffnet, wobei sich viel
Cerebrospinalflüssigkeit entleerte. Das Gehirn zeigte an dieser Stelle
deutliche Pulsation und da man die Hirnoberfläche intact fand, wurde
von einem weiteren Eingriff abgestanden. Glatter Wundverlauf.
König'sche Plastik mittelst Transplantation einer dünnen Knochen-
lamelle von der Lamina ext.
Bis zum 30. 8. Fortdauer der „epileptischen" Insulte. Nun kommen
aber delirante (fieberlose) Zustände, in welchen er klagt, man schlage
ihn auf den Kopf, schreit, lärmt, sich den Verband herunterreisst.
Deshalb Aufnahme auf der psychiatrischen Klinik, wo er vom 14. 10.
ab ruhig und lucid wird. Im Stat. praes. vom 14. 10. ist der frühere
Befund der ETerderkranknng insofern geändert, als 1. Hand und Finger
gelähmt sind, eine leichte Contractu* in diesen besteht, in 1. UE.
Lähmung in Zehen und Fussgelenk sich vorfindet, mit Plantarcontractur
des Fusses und Streckcontractur der übrigen Extremität.
Dieser dem Bild einer Herderkrankung nicht ganz entsprechende
motorische Befund findet eine eigenartige Beleuchtung durch folgende
Sensibilitätsstörungen : L. Hemihypästhenie für tactile und thermische
Beize, Hyperästhesie für Schmerzreize, bedeutende Herabsetzung des
Gefühls für passive Bewegung und der Lagevorstellung in 1. OE.
und UE.
In r. OE. und UE. nichts Abnormes, ausser Steigerung des
Patellarreflexes und leichtem Fussclonus. Die früheren Jacksonanfälle
kehren alle 2-3 Tage wieder.
Zustand ungebessert beim Austritt des Pat. im März 1894.
Am 18. 5. 1895 lässt sich Pat, neuerlich auf der Klinik aufnehmen.
Er berichtet, dass seine Anfälle sich nach der Entlassung verloren
hatten, dass er 8 Monate lang ganz frei von solchen war, erst neuer-
lich wieder von solchen heimgesucht wurde. Sie sind seltener aber
heftiger geworden, insofern sie nun meist auf die rechte Seite über-
greifen und mit Bewusstseinsverlust einhergehen. Ihr Charakter hat
sich nicht geändert.
Während die 1. homonyme Hemianopsie unverändert fortbesteht,
ist jetzt keine hemiopische Pupillenreaction mehr zu constatiren.
Augenspiegelbefund nach wie vor negativ.
Pat. ist psychisch geändert, insofern er auffallend reizbar ge-
worden und häufig verstimmt ist. Die Intelligenz hat nicht gelitten.
An der 1. OE. sind sämmtliche Muskeln des Schultergürtels und
des Ellbogengelenkes paretisch und im Volumen reducirt. Im Hand-
der Epilepsie. 187
gelenk besteht Parese der Strecker, Lähmung der Beuger, an den
Fingermuskeln Parese und Kigor. Ataxie, gesteigert durch Augen-
schluss, Intentionstremor der 1. Hand. Hochgradige Steigerung der
tiefen Reflexe, Handclonus.
An der 1. UE. findet sich spastische Parese in dem Hüft- und
Kniegelenk, Lähmung im Fussgelenk. Von den Zehen besitzt nur der
Hallux eine (beschränkte) Beweglichkeit, Gang spastisch paretisch atac-
tisch. Patellar- und Fussclonus.
Im 1. Facialismundgebiet Parese. R. und L. Anosmie, Ageusie
der 1. Zungenspitze. Die tactile Sensibilität im Gesicht ist r. und 1.
normal, die Schmerzempfindlichkeit r. im 1., 1. in allen Aesten gesteigert,
die thermische im gleichen Gebiet sehr herabgesetzt.
Auf 1. OE. und 1. Thorax besteht tactile Anästhesie, thermische
Hyp- und algetische Hyperästhesie. Die tiefe Sensibilität ist in allen
Gelenken sehr gestört, Für die 1. Hand fehlt das Bewusstsein der
Lage und Stellung.
An 1. UE. besteht tactile Hypästhesie, Hyperalgesie. die aber nach
Anfällen vorübergehend einer Hvpalgesie weicht, Thermanästhesie
(thermische Reize werden nur als Schmerz empfunden). Die tiefe Sensi-
bilität ist nur im Hüftgelenk erhalten.
Weitere hysterische Stigmata sind nicht vorhanden. Auf der
r. Körperhälfte sind Motilität und Sensibilität intact. Pat. wurde einer
Siechenanstalt zugewiesen.
Beob. 3. L. R, Commis. 21 J., aufg. 10. 2. 1894 angeblich un-
belastet, früher gesund, schoss sich in Verzweiflung, als er Eltern
und Geschwister vor 4 Jahren dem Tod des Verbrennens ausgesetzt
sah (Mutter verbraunte thatächlich) eine Revolverkugel in die r.
Schädelhälfte. Sofort, ohne Bewusstseinsverlust, Hemiplegie sin. inclus.
Facialis, exclus. Zunge. Nach 24 Stunden Anfälle von Klonismus der
1. Gesichtshälfte, 15 Minuten dauernd, anfangs bis zu 4 mal täglich.
allmälig seltener werdend. Nach 2 Monaten Trepanation an der Stelle
der Verletzung. Entfernung von 2 Knochensplittern. Schwinden der
Facialiskrämpfe. Ein Jahr nach der Schussverletzung fällt Pat. eine
1 Kilo schwere Schachtel auf den Kopf. Einige Minuten darnach
Wiederkehr der 1. Gesichtskrämpfe, die sich auf 1. Arm und 1. Bein
fortsetzen und das Bild eines Jacksonanfalles repräsentiren. Häufige
Wiederkehr dieser Anfälle. Nie Bewusstseinsverlust, nie Uebergreifen
auf die r. Körperhälfte.
Pat. capricirte sich darauf, durch operative Eingriffe Heilung zu
finden. Er Hess sich 7 mal in Pest, 2 mal in Wien, trepaniren, theils
188 Zur chirurgischen Behandlung
Knochenstücke reseciren. Man fand nie eine Verletzung der Hirn-
oberfläche vor und beschränkte sich darauf, diesen negativen Befund
zu constatiren. Die letzte Operation hatte am 13. 9. 1893 statt-
gefunden. Seither waren die Jacksonanfälle seltener aber schwerer
geworden, bezw. auch auf die r. Seite übergegangen und mit Bewusst-
seinsverlust verbunden. Während ihnen früher nie eine Aura voraus-
gegangen war, leitete sie nunmehr Herzklopfen, Klopfen im Kopf,
Beängstigung, Schwindelgefühl ein.
Pat. war wegen eines pathologischen Affects auf die psychiatrische
Klinik transferirt worden. Während seines mehrtägigen Aufenthaltes
daselbst wurde nachstehender Befund gewonnen :
Pat. mittelgross, ohne Degenerationszeichen, ohne Befund seitens
der vegetativen Organe. Auf dem rechten Stirnbein eine 5 cm lange,
2 cm breite Narbe, darunter bewegliche Knochenstücke, von einer
nicht gelungenen König'schen Transplantation herrührend. Auf dem
r. Scheitelbein eine ovale 6 cm lange, 4 cm breite Narbe, darunter
ein durch Celluloidplatte gutgedeckter Knochendefect, Bei der Ex-
spiration wölbt sich diese Stelle vor.
Bis auf leichte Parese des 1. Mundfacialis alle Hirnnerven normal.
E. Körperhälfte ohne pathologischen Befund.
L. OE. Alle Bewegungen activ möglich, aber grobe Muskelkraft,
besonders in Hand- und Fingermuskeln minimal (Dynamom. B. 27
L. 5). Bei passiver Bewegung leichter Rigor in den Ellbogen-, Hand-
und Fingermuskeln. Tiefe Befiexe sehr gesteigert. Sensibilität intact.
L. UE. Parese in Hüft- und Kniegelenkmuskeln. Lähmung in
Fuss- und Zehengelenken. Starker Rigor im Fuss- und Kniegelenk.
Hemiplegisch spastischer Gang. Tiefe Befiexe sehr gesteigert (Fuss-
klonusj. Sensibilität intact.
Beob. 4. St., Bahnarbeiter, aufg. 26. 1. 1896, stammt von sehr
jähzornigen Eltern. Mutters Schwester endete durch Selbstmord. Pat.
litt als Kind schwer an Convulsionen, lernte spät gehen und sprechen,
hatte irrelevante Kinderkrankheiten, diente anstandslos 1890 in der
Armee, war kein Trinker, erkrankte (1892) mit 25 Jahren, ohne auf-
findbare Ursache, an genuiner Epilepsie, wurde reizbar, vergesslich,
hatte sehr heftige Anfälle, verlor deshalb seinen Dienst, wandte sich
an verschiedene Aerzte, wurde erfolglos behandelt, zuletzt am 10.11.1894
am r. Scheitelbein trepanirt, obwohl weder eine Verletzung am Kopf
nach Auraerscheinungen, die er nie gehabt hatte, einen solchen operativen
Eingriff indicirt erscheinen Hessen. Der Befund am Cranium war ein
negativer. Die Anfälle der Krankheit wurden dadurch in keiner Weise
der Epilepsie. 189
beeinflusst. Wegen einer falschen Selbstbeschuldigung, im epileptischen
Dämmerzustand gemacht, war Pat. auf die psychiatrische Klinik ge-
kommen. Pat. mittelgross, Cranium rachit., von 54 cm Horizontal-
umfang.
Am r. Scheitelbein ein kreisrunder, 4 cm im Durchmesser be-
tragender Knochendefect. Pulsation des Gehirns daselbst deutlich
sieht- und tastbar. Keine Zeichen einer Herderkrankung.
Beob. 5. H., 17 J., Lehrling, aufg., 10. 5. 1894. von rückenmarks-
krankem Vater, aus im Uebrigen gesunder Familie, nie schwerkrank
gewesen, mit submicrocephalem Schädel (Horizontalumfang 52.5 cm),
bekam, 14 Jahre alt, einige Stunden nach einem heftigen Schreck,
einen klassischen Anfall von Epilepsie, der sich seither fast jede Nacht
wiederholte. Obwohl Pat. nie ein Trauma capitis erlitten hatte, auch
keine vom Schädel ausgehende Aura bot, wurde er am 27. 4. 1892 am
r. Seitenwandbein trepanirt. Negativer Befund an der Operations-
stelle. Seither Anfälle der Epilepsie schwerer und häufiger (bis zu
mehreren in einer Nacht). Zunehmende Reizbarkeit, Rückgang der
ethischen und intellectuellen Leistungen. Wiederholte Diebstähle, zu-
letzt Verurtheilung zu 8 Monaten Kerker. Diebstähle wahrscheinlich
in psychischen Dämmerzuständen begangen. Pat wurde schon bald
nach Antritt der Strafhaft wegen epileptischer Degeneration entlassen.
Während des kurzen Aufenthalts auf der Klinik Anfälle klassischer
Epilepsie.
VII.
ÜEBER ECMNESIE.
Ucfoer Ecmnesie.
In einer 1887 zu Bordeaux erschienenen Brochüre1) beschrieb
Dr. H. Blanc-Fontenille einen eigentümlichen transitorischen psy-
chischen Ausnahmezustand, den er bei einer Hysterischen auf Pitres
Klinik zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte, als „Delire avec
ecmnesie".
Es handelte sich um seelische Zustände, in welchen die Fat. in
frühere Lebensahschnitte zurückversetzt schien, frühere Episoden noch-
mals mit augenscheinlicher Treue durchlebte.
Während nun für diese hell beleuchtete Episode Gedächtnis*- und
Associationskraft nichts zu 'wünschen übrig Hessen, auch alle Erinne-
rungen und alle Fertigkeiten bis zu dem betr. Moment, welchen Fat.
gerade durchlebte, lückenlos zu Gebote standen, war sie ex memoria,
d. h. im Zustand der Amnesie für alle Erlebnisse, Kenntnisse, Fertig-
keiten, die nach jener Episode, die gerade neuerlich durchlebt wurde,
erfahren, bezw. erworben worden waren.
Dieser Lebensabschnitt bis zur Gegenwart war temporär ganz
verdunkelt — ecmnestisch.
Solche Anfälle kamen ursprünglich im Auschluss an Attaquen von
Hysteria gravis, in Gestalt von Schlaf- oder convulsiven Anfällen.
Später constatirte man ihre Hervorrufbarkeit durch Hypnose oder
vermittelst Reizung bestimmter Stellen (Zones ,,ideoecmnesiques") der
Körperoberfläche.
Der Fall des Verf. ist kurz folgender:
1) Dr. H. Blaiic-Fontenille, etude snr une forme partieuliere de delire hys'erique
(Delire avec Ecmnesie). Bordeaux. Beüier et Cie. 1887. pp. 50.
Kraft' t-Ebing, Arbei'en III 13
194 Ueber Ecmnesie.
Beob. 1. A. M., 32 J., unehelich, Eltern unbekannt, erlitt als Kind
von 7 Monaten tiefe Brandwunden an Hals und Gesicht, hatte unerhebliche
Kinderkrankheiten, genoss gute Erziehung, trat mit 12 Jahren in einen
Dienst ein, wurde kränklich, nervös, brachte mehrere Jahre in Spitälern zu,
erholte sich, menstruirte zuerst mit 16 Jahren, wurde im neuerlichen Dienst
Maitresse ihres Dienstherrn, heirathete 1879 einen Diener desselben. Im
Februar 1881, mit 25 Jahren, nach heftiger Geniüthsbewegung in Folge
von Streit mit dem Geliebten, Ausbruch von Hysteria gravis convulsiva.
Wegen abdominaler Schmerzen und Fortdauer der Anfälle Aufenthalt in
der Klinik von Pitres vom Dec. 1881 bis Mai 1882. Die convulsiven An-
fälle wurden selten, dagegen kamen häufig Schlafanfälle. Pat. lebte von
nun an auf dem Lande und kam nur mehr gelegentlich Exacerbationen
ihrer Krankheit auf die Klinik.
Oft wurde nun bemerkt, dass in dem Delir, das den Hysteria gravis-
Anfall beschloss und das den ätiologisch wichtigen Streit mit dem Geliebten
vom Februar 1881 zum Inhalt hatte, Pat. für alle Erlebnisse seit diesem
Zeitpunkt absolut keine Erinnerung hatte, von Krankheit, AerzteD, Spital
u.s.w. nichts wusste und ganz im Februar 1881 lebte.
Sobald man den deliranten Zustand durch Compression des 1. Ovariums
beseitigte, war die Kranke wieder richtig orientirt und die Continuität ihrer
Erinnerung hergestellt. Auch nach Schlafanfällen wurden ganz analoge
Zustände von delire ecmnesique, aber mit wandelbarem Inhalt und ver-
schiedene Lebensepisoden repräsentirend, beobachtet. Eines Tages brachte
sie ihr Mann, während sie sich als Kind von 6 Jahren wähnte und benahm.
Compression des 1. Ovariums beseitigte jeweils den Zustand. Sich selbst
überlassen, konnte die Lösung bis zu Tagen ausstehen.
1886 versuchte man solches Delire ecmnesique künstlich hervorzurufen.
Pat. hatte mit 7 Jahren wegen Croup eine Tracheotomie ausgestanden.
Man veranlasste sie, ihre Erinnerungen von dieser Episode zu erzählen.
Während sie dies that, versetzte man sie in Hypnose. Mit dem Eintritt
dieser benahm sich Pat. wie ein Kind von 7 Jahren, markirte das Bild
einer schwer Croupkranken, athmete erleichtert nach der Operation, redete
wie ein tracheotomirtes Individuum und machte Allen den Eindruck, dass
sie jene Lebensepisode nochmals durchmache. Aller Erlebnisse, die in ihre
spätere Existenz fielen, war sie sich in diesem Zustand nicht bewusst, aber
auch eine 1. Hemianästhesie, die sie sonst hatte, war temporär geschwunden.
In der gleichen Weise, nämlich durch Hinlenkung der Aufmerksamkeit
der Pat. auf eine bestimmte Lebensepisode im Moment der Einschläferung,
konnte man entsprechende frühere Situationen bei ihr hervorrufen, die allen
Beobachtern den Eindruck der Versenkung der Persönlichkeit in solche
und des Aufgehens in der Reproduction solcher Situationen machten. In
diesem Zustand fehlte jeweils jegliches Bewusstsein, bezw. Erinnerung von
zeitlich späteren Erlebnissen. Bezügliche Erwähnungen waren Pat. ganz
unverständlich. Verf. wird nicht müde, die Treue der Reproduction der
verschiedenen Lebensabschnitte, die die grösste schauspielerische Leistung
übertreffende Natürlichkeit der Darstellung zu betonen, die innere Ueber-
einstimmung und den Mangel jeglichen Widerspruchs in den Situationen,
gegenüber den verfänglichsten Kreuz- und Querfragen "Seitens der Aerzte
in der Feststellung der Ecmnesie. Dies erstreckte sich soweit, dass Pat.
Ueber Ecmnesie. 195
hemianästhetisch nur in Episoden ihres Lebens war, wo dieses Symptom
schon bestanden hatte, sonst nicht. Aber auch gewisse spasmo- und hypno-
gene, sonst nie versagende Zonen versagten vollständig, wenn sie in ver-
meintlichen Lebensabschnitten gereizt wurden , in welchen sie bezw. die
Krankheit noch nicht entwickelt waren.
Ebenso, wie quasi durch Autosuggestion in beginnender Hypnose, ver-
mochte man Pat. auch durch Suggestion in Hypnose in Delire ecmnesique zu
versetzen, das nach Beendigung der Hypnose als eine Art posthypnotischer
Zustand dann sofort eintrat.
Mit Hypnose hatte dieses Delire aber nur insofern Beziehungen, als jene
ein Mittel zum Zweck der künstlichen Hervorrufung desselben sein konnte.
Das suggerirte Delir in bei Pat. hervorgerufener Hypnose war offenbar nur
objectivation de type, das Delire ecmnesique dagegen wirkliche Reproduc-
tion früherer Lebensepisoden.
So erklärt sich auch, dass dieses der Suggestion unzugänglich war, auch
der posthypnotischen, ferner dass es in neuerlicher Hypnose nicht erinnerbar
war. War diese Ecmnesie via Hypnose provocirt worden, so konnte man
durch Druck auf hypnogene Zone oder Anblasen der Augen den hypno-
tischen Zustand jederzeit beheben, während der ecmnesisch delirante fort-
bestand.
Später überzeugte man sich, dass bei Pat. auch durch Druck auf be-
stimmte Punkte ihrer Körperoberfläche („zones ideogenes — Pitres) ecmne-
sische Zustände hervorgerufen werden konnten. Diese Entdeckung wurde
zufällig gemacht, als Pat. über Schmerzen an solchen (ideoecmnesischen)
Stellen klagte. Es fanden sich deren drei.
Die 1. entsprach der r. und 1. Submaxillardrüsengegend. Reizung
der Stelle rief jedesmal die Reproduction einer Episode hervor, in welcher
Pat., in Wuth über eine Nachbarin, die ihr ein Huhn getödtet hatte, diese
geprügelt hatte. Die 2. Stelle war beiderseits das innere Ende der Clavi-
cula. Druck daselbst rief jeweils eine Situation hervor, in welcher Pat. über
die Aussicht, aus dem Hause des M. fort zu müssen, untröstlich war. Eine
3. Zone war der Mous Veneris. Compression daselbst rief jeweils Scenen
sexuellen Verkehrs mit dem früheren Geliebten M. hervor.
Während man den durch Reizung der 1. Zone bewirkten Zustand
durch Compression des 1. Ovariums, Reizung einer hypnogenen Zone mit
daraus entstehender Hypnose, Anblasen der betr. ideogenen Zone, Reizung
einer anderen ideogenen Zone, mit dem Effect der WeckuDg der bezüglichen
■ Situation, beliebig aufheben konnte , konnte der Erfolg der Reizung der
2. und 3. ideogenen Zone nur durch Compression des 1. Ovariums oder
durch Anblasen der Augen beseitigt werden.
Die Erklärung dafür fand sich darin, dass die Reizung der 2. und
3. Zone Episoden einer Lebenszeit weckte, in welcher jene hypuo- und
ideogenen Zonen noch nicht vorhanden gewesen waren.
So war Pat. auch in durch 2. und 3. provocirten Situationen nicht mit
1. Hemianästlu'sie behaftet, weil sie zeitlich vor der Eutwickelung der Hemi-
anästhesie lagen, während in der durch Zone 1 provocirten Situation, die
zeitlich mit der schon be-tehenden Hemianästheaie zusammenfiel, diese vor-
handen war.
13*
196 Ueber Ecmnesie.
Verf. findet darin einen wichtigen Beweis für die Echtheit des Delire
ecmnesique und für die tiefe Beeinflussung der ganzen Persönlichkeit in
solchem Zustand.
Ich reihe an diese Beobachtung Blanc-Fontenille's einen typischen
Fall von Ecmnesie, den ich in meiner Klinik zu studiren Gelegenheit
hatte.
Beob. 2. L. P., 17 J., Dienstmädchen, aufgenommen 29. 9. 1893,
stammt aus einer Jongleurfamilie. Der Vater war Potator, eine
Schwester desselben war neuropathisch; der Pat. Mutter soll an
Meningitis gestorben sein. 3 Geschwister der Pat. haben als Kinder
an Convulsionen gelitten, 2 derselben sind schwachsinnig.
Pat. theilte als Kind das unruhige unstete Leben ihrer Eltern,
kam nach dem in ihrem 12. Jahre erfolgten Verlust der Eltern nach
Wien zur Grossmutter, bei der sie seit 5 Jahren gelebt hatte. Die
P. war rachitisch gewesen, hatte erst mit 3 Jahren gehen gelernt,
mit 11 Jahren Variola überstanden, mit 12 Jahren eine ausgedehnte
und schwere Verbrennung mit Petroleum an der r. OE. und UE. er-
litten, von der Narbenkeloide datiren.
Pat, hatte früher keine nervöse Symptome geboten. Einige
Tage nach diesem Unfall trat der erste Hysteria gravis-Insult (Le-
thargus, mit einzelnen Convulsionen) ein. Solcher Insulte folgten
noch mehrere, namentlich nach dem 8 Tage später erfolgten Tode
der Mutter, verloren sich aber dann gänzlich. Seit 3 Monaten war
Pat, durch Erkrankung der geliebten Grossmutter lebhaften Gemüths-
bewegungen ausgesetzt gewesen.
Am 13. 9. 1893 äusserte sich die hysterische Neurose neuerlich bei
ihr mit einem Lethargusanfall, der von einem klonischen Kiefermuskel-
krampf eingeleitet gewesen war.
Am 14. Abends neuer Lethargusanfall von 30 Minuten, an den
sich eine 15 stündige delirante Phase anschloss.
Das Delirium habe sich um Eeisen in Russland während der
Kindheit, ferner um Visionen von fremden Menschen, Löwen, phan-
tastischen wilden Thieren gedreht, jedoch habe auch Rapport mit der
Aussenwelt bestanden. Amnesie für diese Anfälle, die sich nunmehr
fast alltäglich in Gestalt von Lethargus oder von Delir oder beider
combinirt wiederholten.
Stat, praes. vom 30. 9. 1893. Pat. uutermittelgross, gracil, blass,
noch nicht menstruirt, vegetativ ohne Befund. Beiderseits concen-
trische Sehfeldeinschränkung. Schmerzhafte Druckpunkte da und dort
an Schädel, Wirbelsäule, 1. ober der Mamma, Keine Ovarie. Sensi-
Ueber Ecmnesie. 197
bilität allenthalben normal. Keine Störungen seitens der Psyche, in-
telligente Person, aber geringe Schulkenntnisse.
Nachdem am 5. 10. Abends ein Anfall in Gestalt von tonischen
und deliranten Erscheinungen beobachtet worden war, entschloss man
sich zu hypnotisch suggestiver Behandlung.
Am 6. 10. gelang tiefes Engourdissement nach Bernheim's Me-
thode. Pat. bekam die Suggestion 1 Stunde zu schlafen. Sie erwacht
genau nach 1 Stunde, ist aber nicht im normalen Zustand (= I }, auch
nicht mehr im hypnotischen (= II), sondern in einem eigentümlichen
(posthypnotischen?) psychischen Ausnahmszustand (= III ), in welchem
sie in ihr 10. Lebensjahr zurückversetzt ist, im Uebrigen aber lucid
erscheint und ganz frei in ihren Associationen.
Sie glaubt sich in Kussland, in einer Villa, fragt nach ihrer
Mutter, weiss nichts von der Provenienz eines Ringes, den sie am
Finger hat (mit 13 Jahren von der Grossmutter geschenkt), betrachtet
erstaunt ihre Brandnarben, als man sie auf dieselben aufmerksam
macht. Sie weiss offenbar gar nichts von allen Erlebnissen seit dem
10. Jahre, erkennt nicht die Umgebung, nimmt von ihr keine Notiz,
auch nicht von der mit ihrer wahnhaiten Situation contrasthendeu
wirklichen. Dagegen sind ihre Erinnerungen, Apperceptionen und
Associationen innerhalb jener ganz ungehemmt.
Eine Schriftprobe fällt schlecht aus und contrastirt, mit ihren
schiefen und ungeschickten Zügen, auffallend mit den graphischen
Leistungen der Gegenwart und des normalen Bewusstseins. Dieser
Ausnahmszustand dauerte 1 Stunde, ging dann in 1 '/• stündigen Schlaf
über, aus welchem Pat. mit Kopfweh und Schwindel in I erwachte.
Sie hatte in I Amnesie für II und III.
Am 8. 10. wird II mit dem gleichen Erfolg wiederholt, d. li. Pat.
kommt in III, ist wieder durch 1 Stunde ein lOjühriges Kind und
geht dann durch 1 Stunde Schlaf in I über.
Abends 8 Uhr Lethargusanfall, der nach 10 Minuten in II i über-
führt,
Am 10. 10. II -(- III — 6. und 8. 10.
Am 11. 10. Hervorrufung von II, mit der Suggestion, 1 Stunde zu
schlafen und nach dem Erwachen ihre Erlebnisse der letzten 3 Jahre
aufzuschreiben. Nach 1 Stunde erwacht, ist Pat. in III. wieder 10 Jahre
alt, bittet den Baron Joan (Arzt) um Papier. Sie habe einen Befehl
gehört, aufzuschreiben, wo sie die 3 letzten Jahre gewesen sei. Pat
schreibt: „ich habe nämlich eine Stimme vernommen, weit weg und
unbekannt, aber sie klang so lieb, dass ich beantworte, was sie mich
fragte. Wir sind jetzt nämlich in Kussland. Ich bin jetzt 10 Jahre alt.
198 Ueber Ecmnesie.
Vor 3 Jahren war ich zuerst mit Papa in Krakau. Wir waren 4 Wochen
auf Gastrolle, dann sind wir zur Mama nach Wien zurück" u.s.w.
Nach einer Stunde geräth Pat. in I, weiss von allem Vorgefallenen
nichts und meint, beständig geschlafen zu haben.
Am 12. 10. Abends Lethargusanfall, der nach 10 Minuten in III
überführt. Pat. ist 10 Jahre alt, hält die Gasflamme für den Mond,
glaubt sich in Wilna u.s.w. Nach l'/9 Stunden wieder in I.
Am 14. 10. tritt ein freistehender hysterisch deliranter Anfall auf,
in welchem Pat. nur auf innere Vorgänge reagirt, z. B. gestikulirt,
mit den Fingern schnalzt, die Aussenwelt überhaupt nicht wahrnimmt,
auch nicht auf Nadelstiche Eeaction zeigt. Dieser delirante Anfall
hat die gleiche III provocirende Wirkung wie Lethargusanfälle, insofern
Pat. nach 10 Minuten wieder 10 Jahre alt ist, sich in Wilna glaubt u.s.w.
Man macht den Versuch, durch Stirnstreichen Pat. in II überzu-
führen. Dies gelingt, Pat, ist sofort wieder 17 Jahre alt, kennt den
Arzt, erinnert sich früherer II Erlebnisse.
Durch Befehl zu erwachen wird sie in I übergeführt.
In der Folge provociren mehrfach Lethargus- oder auch delirante
Anfälle III, mit jeweiliger Bückversetzung ins 10. Jahr. Von nun an
wird III gewöhnlich durch provocirten II in I übergeführt (s. o.).
Von Ende October an verwerthet Pat. in deliranten Phasen des
Hysterieanfalls die Eindrücke, welche sie von einer Nachbarin, welche
an Chorea leidet und von einer anderen, welche eine hysterische
Flexionscontractur im r. Knie bietet, aufgenommen hat, Diese Bilder
werden ganz treu copirt, Diese Imitationen bestehen nur im Anfall.
Einige Male vervollständigt sich der hysterische Insult durch epi-
leptoide Phase, grands mouvements, sonst aber bleibt er abortiv, auf
Lethargus oder Delirphase oder beide beschränkt.
Unter entsprechender Behandlung allmäliges Schwinden der hy-
sterischen Insulte und der III Zustände. Im December 1893 wird
Pat. ohne Krankheitssymptome auf ihren Wunsch entlassen.
Von grösstem Interesse erscheinen in vorstehender Krankheits-
geschichte die als III bezeichneten psychischen Ausnahmszustände der
Pat. Sie erwiesen sich typisch gleich. Pat. erschien immer, dem
wahnhaften Alter entsprechend, kindisch, spielte z. B. mit einem zu-
fällig anwesenden Kinde ganz kindlich, mit lebhaftem Geberdenspiel
und ganz in der betr. Situation aufgehend. Sie spielte mit einer Kerze,
indem sie mit den Fingern durch die Flamme fuhr. Sie erschien
muthwillig, bald ausgelassen heiter, bald weinerlich. Sie zupfte neckisch
Personen, sang Kinderlieder, von denen sie in I nur eine dunkle Er-
innerung hatte. Sie frag nach Gegenständen (Violine, Beitpferd), nach
Ueber Ecmnesie. 199
Personen (Jean. Dienstmädchen), mit denen sie als lOjähriges Kind
offenbar zu thun hatte.
Die Erinnerung und Association war, in der ihr erschlossenen
Lebensphase und weiter rückwärts, prompt und, wie es scheint, ge-
steigert. Für alles Reale bestand in diesem Zustand aufgehobene
Apperception, oder es wurde illusorisch in die wahnhafte Situation ein-
bezogen. So hielt sie den Arzt für einen Baron Iwan, eine Wärterin
für ein Frl. Clara, eine Freundin ihrer Mutter u. s.w.
Veranlasste man Tat. in diesem Zustand zu schreiben, z. B. an
die Grossmutter in Wien, so schrieb sie jeweils in kindlicher Weise
und der Situation entsprechend, z. B. am 15. 10. 1893: „Liebe Gross-
mama! Wir sind jetzt in Wilna. Es geht uns sehr gut. Ich bekomme
jetzt immer sehr gute Bonbons von meinem Papa. Liebe Grossmama!
ich sehne mich schon sehr nach dir. Ich schliesse mein Schreiben mit
vielen Grüssen an dich und Grosspapa."
Die Schriftzüge sind jedoch nicht erheblich verschieden von denen
des 1 7jährigen Mädchens.
Eine eigentümliche Störung des Bewusstseins im Sinne eines
Dämmer- oder Traumzustands ist während II! nicht zu verkeimen ge-
wesen.
Dieser Zustand entwickelte sich oft ganz unmerklich im Anschluss
an Anfälle oder aus II, sodass zunächst nur ein schläfriger Ausdruck
des Gesichts darauf hinwies.
Sich selbst in III überlassen, schlief Pat, jeweils nach etwa einer
Stunde ein und erwachte dann in I mit completer Amnesie.
Vollständig aus dem Bewusstsein ausgeschaltet waren alle Vor-
gänge des Lebens seit dem 10. Jahre, so z. B. die schwere Verbren-
nung, der Tod der Eltern im 12. Lebensjahre.
Umgekehrt kannte sie in III österreichisches Geld nicht oder
hielt es für russisches.
Sie antwortete auf russische Ansprache in deutscher Sprache,
während sie in 1 dieselben russischen Worte, weil vergessen, nicht
verstand.
Frappant war jeweils die Aenderung des Bewusstseinsiuhalts durch
Ueberführung aus III in II mittelst Stirnstieichen.
Dadurch sofort in II gebracht, war sie aus 1886 nach 1893 ver-
setzt, wusste Alles aus ihrer Vergangenheit, von ihrer Verbrennung,
vom Tod der Eltern u. s. w.
1 »ieser II I Zustand entbehrte aber auch nicht auffälliger körperlicher
Zeichen. Zunächst klagte sie während dessen Dauer mehr oder weniger
immer über Kopfweh. Schwindel, Schläfrigkeit und schwankte etwas
200 Ueber Ecmnesie.
beim Gehen. In III war das Sehfeld immer bedeutender concentrisch
eingeengt als in I. Kegelmässig bestand allgemeine Anästhesie und
Analgesie, vorübergehend Diathese de contra cture.
Ausgelöst wurden solche III Zustände durch irgendwie geartete
Hysteria gravis -An fälle oder durch Hervorrufung hypnotischer Zu-
stände (II), falls letztere sich selbst überlassen blieben. Wurde ein
beliebig entstandener II Zustand in I übergeführt, so blieb III aus.
Jedenfalls kam es nie zu einer spontanen Entstehung von III aus I.
Die Lösung des III Zustandes erfolgte spontan via Schlaf, oder, in-
dem Pat. mittelst II in I übergeführt wurde, welcher Eingriff offenbar
Pat. grossen Vortheil brachte.
Dass II und III ganz verschiedenartige Bewusstseinszustände dar-
stellten, ergab sich u. A. daraus, dass Pat. in III wohl von anderen
III Anfällen, aber nichts von II wusste.
In II erinnerte sie sich früherer II Situationen.
In I wusste Pat. weder von II noch III, noch auch von Anfällen.
Am 4. 2. 1894 wurde Pat. neuerdings in der Klinik aufgenommen.
Bis zum 21. 1. war es ihr gut gegangen. Eine unglückliche Liebe,
und die schlechte Wendung der Krankheit der geliebten Grossmutter,
hatten vom 21. 1. ab wieder Anfälle von Hysteria gravis (epileptoide
Phase, mit folgender periode de delire) provocirt, Die Anfälle dauerten
auch im Spital fort, aber zu III Zuständen kam es nicht. Da starb
ihre Grossmutter. Deren Tod konnte Pat. nicht lange verheimlicht
werden. Ich versetzte Pat. am 19. 2. in Hypnose, theilte ihr in solcher
den Tod der Grossmutter mit, verbot ihr, sich darüber zu grämen und
gebot ihr, bis auf weiteres beständig zu schlafen. Diese Suggestion
erfüllte sich. In dem dadurch hergestellten Schlaf bestand kein Kapport
mit mir, sodass ich ihn für Schlaf in I halten musste.
Am 25. 2. erwachte Pat. Sicherheitshalber liess ich sie noch
einige Tage weiter schlafen. Sie erwachte dann heiter, fühlte sich
gesund.
Am 27. 3. 1894 entlassen, kam sie anlässlich durch schwere Ge-
müthsbewegungen provocirter neuerlicher Hysteria gravis-Insulte am
6. 6. 1894 wieder. Unter gleicher Behandlung erlangte Pat. bald ihr
psychisches Gleichgewicht wieder. Am 29. 7. 1894 genesen entlassen.
Neuerliche Aufnahme, über Wunsch der Pat,, wegen seit 1895
wieder aufgetretener Hysteria gravis-Insulte am 16. 12. 1897.
Ihre Umgebung versichert, dass Ecmnesieanfälle nicht mehr vor-
gekommen seien. Pat. bietet Anfangs fast täglich einen Anfall von
epileptoider Phase, mit Andeutung von grands mouvements. Allmälig
werden die Anfälle selten. Pat. motivirt das Fortbestehen ihrer Krank-
Ueber Ecmnesie. 201
heit damit, dass sie dadurch erwerbsunfähig sei und betrübt, ihren
jüngeren Geschwistern ihre Lebenslage nicht erleichtern zu können.
Dieses drückende Bewusstsein lasse sie nicht zu Gemüthsruhe gelangen.
Ausser sehr bedeutender 1. und geringerer r. conc. Sehfeldein-
schränkung, bei erhaltenem Farbensinn, Hessen sich diesmal keine
Stigmata hysteriae nachweisen. Gesprächsweise bemerkte Pat, die
glücklichste Zeit ihres Lebens sei die Episode in Wilna in ihrem
11. Lebensjahr gewesen, und die Erinnerungen an diese Zeit seien
ihr die liebsten und deutlichsten.
Während des diesmaligen Spitalaufenthalts bis zu Anfang März
1898 kam es niemals spontan zu Ecmnesieerscheinungen.
Zweimal wurden sie experimentell hervorgerufen, indem man sie
in 11 als posthypnotische Leistung snggerirte. Alles wiederholte sich
so, wie bei den früheren spontanen und provocirten Ecmnesien. Jlit
Leichtigkeit gelang jeweils die Ueberführung der Kranken aus diesem
HI Zustand in I durch entsprechende Suggestion, in neuerlich be-
wirktem II (Hypnose).
Die anlässlich der letzten Anwesenheit der Pat. in der Klinik
neuerlich durchgeführte Anamnese stellte den psychischen Shok, durch
den sie erkrankt war. in ein helles Licht, insofern auch eine weniger
zart besaitete Persönlichkeit als Pat. dadurch mächtig erschüttert
werden musste. Die Verbrennung war nämlich dadurch erfolgt, dass
von der Decke der Bühne des Sommertheaters, an welchem Pat. gerade
in Action war, eine grosse Petroleumlampe sich losgelöst hatte und
auf sie gefallen war. In sinnlosem Schreck war Pat. brennend ins
Freie geeilt, wo man sie fand und die Flamme erstickte. Auffallender-
weise hatte Pat. aber davon keine Idiosynkrasie gegen Feuer und
keine Furcht vor Feuersgefahr zurückbehalten. Es lag nahe, den
Versuch zu machen, jene furchtbare Scene eemnestisch nochmals durch-
machen zu lassen und, gemäss der Methode von Breuer und Freud
vorgehend, die Hoffnung zu hegen, Pat. von ihrem Leiden befreien zu
können. Ueberdies schien Binet's (s. u.) Vermuthung plausibel, es
möchten durch Bückversetzung eines Individuums in die Zeit der Ent-
stehung seiner Krankheit. Heilsuggestionen leichter Erfolg haben. In
tiefer Hypnose wurde der Pat. der suggestive Auftrag ertheilt. sie
habe, wenn erwacht, jene Brandscene nochmals zu erleben. Sie schien
diese Suggestion anzunehmen, bot aber, erwacht, ihren normalen
psychischen Zustand (= I) und nicht einmal eine dunkle Erinnerungs-
spur eines ihr ert heilten unerfüllten Auftrags, jedenfalls ein Beweis
weiter dafür, dass man in II nicht das willenlose Werkzeug in der
Hand des Hypnotisireiiden ist.
202 Ueber Ecmnesie.
Der folgende Fall, ebenfalls in meiner Klinik beobachtet, scheint
dafür zu sprechen, dass eine solche Ecmnesie eine frühere Lebens-
episode auch in phantastisch umgestalteter Form darstellen kann
(delire ecmnesique).
Beob. 3. U., 19 J., Commis, wurde am 23. 6. 1895 auf die psy-
chiatrische Klinik gebracht. Aus einem Dienst am 22. 6. entlassen,
war er in der Nacht zum 23., in den Strassen von Wien herum-
dämmernd, von der Polizei aufgegriffen worden. Er war verstört,
traurig und klagte sich an, er sei am Tode seiner vor 5 Tagen ver-
storbenen Schwester schuld. Pat. griff sich oft nach dem Kopf,
äusserte Klagen über dumpfen Kopfschmerz und kam in der Klinik
ängstlich und desorientirt an. Er blieb gehemmt, bot erschwerte
geistige Leistung, behauptete, seit einigen Wochen mit Mutter und
Schwester in Wien zu wohnen. Er habe die 3 jährige Schwester vom
Tische fallen lassen und dadurch sei sie gestorben. Von den wirklichen
Erlebnissen aus der letzten Zeit wusste er bis zum 24. 6. nichts, dann
dämmerten bezügliche Erinnerungen auf und am 29. 6. löste sich
plötzlich dieser delirante Dämmerzustand. Man erfuhr nun, dass U.
vor 2 Monaten aus Süddeutschland nach Wien gekommen war, eine
Stellung als Buchhalter in einem Hotel gefunden, in dieser viel Aerger
durch brüske Behandlung seiner Dienstherrin und Ueberanstrengung
erfahren hatte.
Am 22. 6. war er von seiner Dienstgeberin brutal behandelt
und Knall und Fall entlassen worden, worüber er sich sehr kränkte.
Für den folgenden psychischen Ausnahmszustand hat Pat. Amnesie.
Die Affaire mit seiner Schwester ereignete sich vor 9 Jahren in
Süddeutschland. Das 3jährige Kind, das Pat. zu beaufsichtigen hatte,
war damals vom Tische herabgefallen und möglicherweise in Folge
dieses Sturzes gestorben. Pat. angeblich erblich nicht belastet, hat
rachitischen, blasigen Schädel von 54 Cf, als Kind an Convulsionen
gelitten, seit dem 8. Jahr viel an Cephalaea. Er ist klein, schwächlich,
ohne Degenerationszeichen, ohne Stigmata der Neurasthenie oder der
Hysterie. Vor 4 Jahren, nach Uebermüdung und 8 tägiger Schlaf-
entziehung anlässlich Prüfungsstudium, hat Pat. einen mehrtägigen
psychischen Erschöpfungszustand, mit Amnesie gehabt.
Am 3. 7. 1895 genesen entlassen, erschien U. am 7. 7. auf der
Polizei mit der Selbstanzeige, er habe soeben seine Dienstgeberin mit
dem Revolver angeschossen. Sofortige Recherchen ergaben die Un-
wahrheit jener, im Sinne einer traumhaft deliriös unrichtigen Repro-
duction eines am 22. 6. thatsächlich vorgekommenen Streites mit der
lieber Ecmnesie. 203
Principalin. Pat. auf die Klinik neuerlich gebracht, erkennt nicht den
früheren Aufenthalt, lebt ganz im Wahn, seine frühere Dienstgeberin
verletzt zu haben, giebt aber traumhaft unklare, beständig variirende
Darstellung des angeblichen Sachverhalts, ist verstört, ruhebedürftig,
klagt heftigen Kopfdruck, schläft viel, ist affectlos, unbesorgt um seine
Zukunft. Er glaubt sich am 23. 6., behauptet steif und fest, gestern
die Scene mit der Principalin gehabt zu haben, hat von Allem seither
Vorgefallenen nicht die mindeste Erinnerung, auch nicht von seinem
ersten Aufenthalte hier, während er sich hinter dem 23. 6. rückwärts
liegender Ereignisse erinnert.
Am 11. 7. schwindet plötzlich dieser psychische Ausnahmezustand,
von dessen Erlebnissen nur eine dunkle Erinnerungsspur zurückbleibt.
Pat. theilt mit, dass durch Kränkung über erfolgloses Suchen einer
Stellung nach der Entlassung aus dem Spital, die neue Erkrankung
wohl verursacht worden sei, und dass die unfreundliche Behandlung
anlässlich eines Besuches des früheren Dienstortes am (i. 7., den In-
halt des Deliriums wohl bestimmt habe.
Einer neuerlichen Entlassung des Pat. steht der 1 instand im
Wege, dass er vom 18. 7. ab Anfälle von Hysteria gravis bietet. al>
deren spasmogene Zonen sich Dornfortsätze der mittleren Brustwirbel-
gegend und eine, der Ovarie beim Weib entsprechende, Stelle am 1. Ab-
domen ergaben. Pat. klagt intervallär über Clavus, Globus, bietet ge-
legentlich Weinkrampf, wird immer emotiver. Obwohl täglich bis
2 Anfälle von Hysteria gravis (epileptoide Phase, grands mouvements,
zuweilen auch abortive delirante Phase, mit expansivem Inhalt) be-
obachtet werden, kommt es doch nicht zu Wiederholungen des psychischen
Ausnahmszustandes (mit Selbstanklagedelir und Amnesie für einen
bestimmten Lebensabschnitt). Erst am 12. 1. 1896 tritt dies ein und
zwar 1 ' „ Stunden vor einem neuen Insult.
Am 12. 1. Abends gegen 6 Uhr ruft der im Bett liegende Pat.
den zufällig das Krankenzimmer passirenden Assistenten an und
deponirt vor ihm. oft'enbar als einer vermeintlichen Amtsperson, genau
so wie am 7. 7. auf der Polizei. Er glaubt sich am 23. Juni.
schildert detaillirt die Umstände seiner wahnhaften That. erkennt,
dass er in einem Krankenhause ist, weiss aber nicht wo. und bei wem.
und erwartet seine Abführung ins Gefängniss. Während er sich aller
Details seiner Vita ante acta rückwärts vom 23. Juni gut erinnert —
das Erlebniss mit der Schwester wird zeitlich richtig localisirt, -
fehlt jegliche Erinnerung für die Erlebnisse seit dem 23. Juni. Er
kennt weder Aerzte noch Mitpatienten und Wärter hier, erkennt
nicht Bücher noch Briefe, die er seither erhalten, als ihm gehörig an,
204 Ueber Ecmnesie.
auch nicht ein Antwortschreiben, das er am 11. 1. dem Arzt zur
Expedition übergeben hatte und behauptet, das sei gar nicht seine
Schrift. Er ist, im Gegensatz zu seinem sonstigen liebenswürdigen
Benehmen, barsch, gereizt, klagt Kopfweh und nimmt wenig Notiz von
der Aussen weit. Um 7J/2 Abends Anfall von Hysteria gravis, der an
der Situation nichts ändert. Am 13. früh 81/« kommt Pat. mit Amnesie
für diesen Ausnahmszustand zu sich.
Am 14. 1. fällt Pat. wieder auf durch verstörte Miene. Er ist
anscheinend lucid, aber man überzeugt sich, dass er wieder seinen
Anfall hat, d. h. er ist am 23. Juni, seit 5 Wochen in Wien, noch
nie früher hier gewesen, kennt nicht die Umgebung. Nachmittags
plötzlich wieder lucid, mit Amnesie für diese ganze Episode.
Von da an bis zum 22. 2. 1896, wo Pat, nach einer heimathlichen
Anstalt verschickt wird, nun mehr gewöhnliche Anfälle von Hysteria
gravis.
Die vorausgehenden Thatsachen der Ecmnesie rufen die Er-
innerung an von mir angestellte wissenschaftliche Experimente der
suggestiven Eückversetzung in frühere Lebenszeiten hervor, die ich
1893 in einer kleinen Broschüre („Hypnotische Experimente") veröffent-
licht habe.
Es handelte sich um eine 33 Jahre alte, gesunde, anamnestisch
und im Stat. praes. ohne hysterische Stigmata dastehende, seit 1883
sehr häufig von einem Laien ohne Schaden für ihre Gesundheit hyp-
notisirte Dame, die jeweils durch Stirnstreichen aus dem physiologischen
Zustand (= I) in Hypnose in Gestalt von tiefem Somnambulismus (II)
versetzt werden konnte. Suggerirte man ihr in II, man werde sie,
in I zurückversetzt, in etwas verwandeln, was sie sein müsse, so ge-
lang es allmälig, nachdem sie in I zurückversetzt war, durch einfache
Wachsuggestion den posthypnotischen Auftrag zu erzwingen, mit dessen
Erfüllung sofort ein eigenartiger neuer Bewusstseinszustand (= III)
eintrat, der bis zur Erfüllung des suggestiven Auftrags anhielt.
Auffallend in diesem III Zustand war die Helligkeit des Bewusst-
seins und die schrankenlose Disposition über den geistigen Besitz.
Die bezüglichen Suggestionen bestanden in der imperativen Bück-
versetzung in frühere Lebenszeiten.
Der III Zustand fand seine Beendigung durch provocirte Fas-
cination, die dann in II überging, oder durch herbeigeführte II mittelst
Hypnose, aus welcher die Versuchsperson dann in I übergeführt wurde.
Sie wusste weder in I noch in II etwas von den Vorgängen in III.
Ueber Ecmnesie. 205
Die suggestiven Eeproductionen früherer Zeiten in III betrafen
das 5., 6., 7., 15., 19. Lebensjahr.
Die Beurtheilung dieser Versuche war eine verschiedene. Herr
Benedikt in Wien erklärte sie für „dummen Schwindel", einfach auf
Grund der Mittheilungen eines Laien (Journalisten), der in jener Sitzung
anwesend zu sein für gut gefunden hatte. Die in der Sitzung vom
13. 6., und die in einer späteren vom 30. 6., die 4 Stunden dauerte, an-
wesend gewesenen Fachmänner waren zwar überzeugt von der Echt-
heit der hypnotischen Experimente, aber getheilter Meinung hinsicht-
lich der entscheidenden Frage, ob es sich bei den durch hypnotische
Suggestion geschaffenen Zuständen um werthlose blosse Typen kind-
licher und jugendlicher Persönlichkeit, oder um wirkliche "Wieder-
hervorrufung (individueller) früherer Ichpersönlichkeiten handelte. Die
Mehrzahl, darunter auch auswärtige competente Gelehrte, wie z. B.
Jolly-Berlin, entschied sich für die erstere Alternative. Ich musste auf
Grund der in meiner Broschüre niedergelegten psychologischen That-
sachen und Beweise mich zur letzteren bekennen und auf ganz analoge
Beobachtungen und Experimente von Hebohl (AUg. Zeitschr. f. Psy-
chiatrie 49, p. 86), Moll (Der Hypnotismus, 2. Aufl.. p. 103), Bernheini
(Die Suggestion, übers, v. Freud, 1. Hälfte, p. 61). Forel (Der Hypno-
tismus 1889, p. 27), die ebenfalls nicht anders gedeutet worden waren,
verweisen. Nicht minder berechtigten mich zu dieser Annahme frühere
in meiner „Experim. Studie auf d. Gebiet des Hypnotismus", 3. Aufl..
p. 26, 30, 66 niedergelegte Erfahrungen. Mit meinen Anschauungen
stark in der Minorität mich zu befinden, konnte mich nicht besorgt
machen, denn, wenn sie richtig waren, mussten sie früher oder später
Bestätigung finden. Mathematische Beweise lassen sich auf psycho-
logischem Gebiet freilich nicht erbringen. Für einen nüchternen Be-
obachter muss die Analogie, ja stellenweise Identität der 1893 von
mir angestellten Experimente mit den Naturexperimenten, die ich bei
den obigen Fällen in meiner Klinik zu beobachten hatte, sowie mit
den in Bordeaux 1886 schon gemachten Erfahrungen; im Sinne
eines ..delire ecmnesique" sich ohne weiteres ergeben. Mag diese
Rückversetzung in frühere Lebensepisoden eine spontane oder provocirte,
eine freistehende oder durch einen Hysteria gravis-Insult geschaffene
Situation sein, so repräsentirt sie jeweils einen psychischen Ausnahms-
zustand, in welchem die Persönlichkeit auf die Stufe des Unter-
bewusstseins gestellt erscheint, in einer Art Somnambulismus sich be-
findet, der aber volle Freiheit der Ideenassociation im Rahmen des
erschlossenen Lebensabschnitts gestattet.
Wunderbar für Den, welcher ohne Voreingenommenheit solche
206 Ueber Bcmnesie.
Zustände von Reactivirtsein längst vergangener Lebensabschnitte be-
obachtet, ist die Gedächtnissleistung solcher Individuen.
Man möchte an einen Zustand von Hypermnesie glauben, zumal
da im physiologischen I Zustand derlei Details absolut unerinner-
bar sind.
Entscheidend für die Erklärung des scheinbaren Wunders ist die
Thatsache, dass das in frühere Lebenszeiten spontan oder künstlich
zurückversetzte Individuum in einem Ausnahmszustand III sich be-
findet, in welchem eine Modification seines Bewusstseins eingetreten
ist, ein Unterbewusstsein, in welchem Gedächtnissbilder, die dem Ober-
bewusstsein nie mehr erreichbar sind, eventuell leicht zugänglich und
reproducirbar werden. Wunderbar bleibt immerhin, dass eventuell
eine Auto- oder eine Fremdsuggestion, oder auch nur eine Associations-
spur, die, bei spontan oder künstlich geschaffenem III Zustand, ins
Unterbewusstsein hinabreicht, ganze Reihen von Erinnerungen zu
wecken vermag.
Während dies von den zünftigen Psychologen und Medicinern
noch vielfach bezweifelt wird, haben der Scharfblick und die Intuition
des Dichters diese Möglichkeit längst vorausgesehen.
Es seien hier bloss zwei bezügliche x^ussprüche citirt:
H. C. Andersen, gesammelte Werke, Leipzig 1847, I. Theil, p.
63 und 64:
„Ich glaube, dass die Seele nichts vergisst; Alles kann wieder er-
weckt werden, so lebendig als in der Minute, da es geschah."
Lessing, Nathan der Weise, IL Akt, 7. Auftritt:
„Wie solche tiefgeprägte Bilder doch zu Zeiten in uns schlafen
können, bis ein Wort, ein Laut sie weckt."
Vielleicht geht es hier wie in der Psychiatrie, wo Typen von
Irresein, wie z. B. die Folie du doute (von Jean Paul), der Querulanten-
irrsinn u. A. längst Vorwurf dichterischer Darstellung und Bearbeitung
waren, bevor die Wissenschaft sich ihrem Studium widmete.
Dass im Traum und in Fieberdelirien Thatsachen und Situationen
des früheren Lebens reproducirt resp. durchgemacht wurden, von denen
man im normalen Dasein nichts mehr gewusst hatte, sind geläufige
Thatsachen der Erfahrung. Es giebt eben Kreise des Ober- und Unter-
bewusstseins, die sich nie schneiden. Damit begreift sich die Amnesie
für diese Ausnahmszustände (= III) in I.
Die nie fehlende Amnesie ist aber ein bedeutungsvoller Hinweis
darauf, dass der Betreffende im Unterbewusstsein vergangene Lebens-
abschnitte erweckt bekommt. Dass der III. Zustand aber nicht eine
Ueber Ecmnesie. 207
bloss psychische, sondern auch physische Veränderung darstellt, scheint
mir aus Beobachtungen (s. o.) von Fällen hervorzugehen, wo Hemi-
anästhesie, hysterogene Punkte u. s. w. fehlen oder vorhanden sind,
je nachdem Lebensalter reproducirt werden, in welchen die ursäch-
liche Neurose noch nicht vorhanden war oder es schon war.
Diese Ecmnesie scheint eine seltene Form der bei Hysterie vor-
kommenden periodisch amnestischen Zustände zu sein. AVahrscheinlich
kommt sie nur bei dieser Neuropsychose vor. Ihre Dauer dürfte sich
auf Stunden bis Tage erstrecken.
Spontan erscheint sie im Zusammenhang mit Hysteria gravis-
Insulten, sowie äquivalenten hypnoiden, autohypnotischen oder auch
provocirten hypnotischen u. dgl. Zuständeu, die in unbekannter Weise
diesen ecmnestischen Zustand hinterlassen.
Experimentell lässt sie sich durch Erweckung von Associationen
von Erinnerungsbildern bezw. durch suggestiven Einfluss in beginnender
Hypnose (Zustand erhöhter Suggestibilität und des erschlossenen Unter-
bewusstseins), durch in Hypnose gegebene posthypnotische Suggestion
oder auch durch Reizung bestimmter Stellen der Körperoberfläche
hervorrufen.
Die Erklärung für die spontan auftretende Ecmnesie lässt sich
wohl dahin geben, dass in den Schlaf- oder sonstigen Hysteria gravis-
Anfällen mit Delir, ähnlich wie zuweilen im Traum, das Individuum
eine frühere Lebensphase durchträumt Es bedarf nur des Ueber-
greifens von Associationen in den sich anschliessenden weiteren (III)
Ausnahmszustand, in welchem die Association erleichtert sein mag,
jedenfalls erhöhte Autosuggestibilität besteht, um via Autosuggestion
eine frühere Lebensphase zu reactiviren. In I gelingen weder spontane
noch suggestive Erschliessungen latent gewordener Bewusstseins-
in halte. Dass, wie im Fall 2. solche historische Episoden identisch
wiederkehren, mag darin begründet sein, dass sie besonders bedeutungs-
vollen Inhalt hatten.
Dass bei Reizung sog. ideogener Zonen bestimmte Erinnerungs-
bilder typisch wiederkehren, erklärt sich wohl daraus, dass diese
Körpergegenden bei der ursprünglichen Situation eine Rolle spielten,
so in Fall 1 z. B. der Mons veneris. Der Erfolg der Reizung der Hals-
gegend im gleichen Fall Hesse sich dahin deuten, dass Pat.. als sie
in Wuth über eine Nachbarin ursprünglich gerieth. das Gefühl einer
Constriction (Globus) daselbst gehabt hatte. Jedenfalls lehren diese
Erfahrungen die Bedeutung von örtlichen Sensationen für die associative
Knüpfung von bestimmten Vorstellungen.
Die Thatsache der Ecmnesie lässt sich wohl damit erklären, dass
208 Ueber Ecnmesie.
in dem psychischen Ausnahmszustand, in welchem sie beobachtet wird,
die associative Thätigkeit aus der in die Helligkeit des Traumbewusst-
seins eingestellten Lebensepisode schrankenlos retrograd möglich ist,
während Associationen in die jenseits liegende Lebenszeit nicht zu
Stande kommen können, diese deshalb verdunkelt, ecmnestisch bleibt.
Eine blosse Objectivation des types scheint bei den spontan und
unbewusst zu Stande gekommenen ecmnestischen Zuständen aus-
geschlossen. Es ist doch nicht denkbar, dass in diesem höchst ein-
geengten und verdunkelten Ichbewusstsein die Creirung einer Rolle
versucht wird. Auch bei experimentell erzeugtem Zustand scheint mir
die Identität der Erscheinungen, die Classicität der Leistung, das be-
gleitende Moment von körperlichen Störungen (Anästhesien u. s. w.) da-
gegen zu sprechen.
Zur Beseitigung solcher Zustände scheinen Erfahrungen in Fall 1
und 2 Fingerzeige zu geben, insofern in 1. Reizung auch bei sonstigen
hysterischen Insulten individuell wirksamer zones frenatrices, in 2.
die Ueberführung aus dem ecmnestischen Zustand in den intervallären
via Hypnose sich bewährt haben.
Nachträge zur Eemnesie.
Die Lehre von der Ecnmesie, welche in Ländern deutscher Zunge,
vielfach noch in wissenschaftlichen Kreisen auf Zweifel stösst und ge-
legentlich als „dummer Schwindel" abgefertigt wird, hat in Frankreich
schon längst die ihr gebührende Beachtung gefunden, so u. A. Seitens
Binet's („Alterations de la personnalite" Paris 1892), der auf S. 242
seines Werkes nicht ansteht, diese auf Pitres Klinik zuerst studirten
und als Eemnesie bezeichneten Thatsachen für wissenschaftlich und
vielleicht auch praktisch bedeutsam zu erklären. Er erhofft von diesen
„Suggestions retrospectives" Hülfe für die Diagnose, indem es dadurch
gelingen mag, Ursprung und Entstehungsweise von hysterischen Sym-
ptomen zu ermitteln, ferner spricht er die Möglichkeit aus, dass mit
der Rückversetzung eines Individuums in die Zeit der Entstehung
seiner Krankheit Heilsuggestionen leichter Erfolg haben mögen. Jeden-
falls liefern ihm die Thatsachen der Eemnesie den Beweis, dass eine
Fülle von Erinnerungsbildern in uns latent fortbestehen, die im be-
wussten Dasein und willkürlich nicht erweckbar sind.
„Das Gesetz der Ideenassociation kann für die Erklärung der
Eemnesie ebensowenig herangezogen werden, als es der Entwickelungs-
process unseres geistigen Lebens zu erklären vermag. In letzterer
Hinsicht bedarf es vielmehr tieferer Einflüsse aus dem unbewussten
Ueber Ecmnesie. 209
Geistesleben, welchem wir die Synthese zeitlich und inhaltlich ver-
schiedener psychischer Elemente verdanken.'' Soweit Binet,
Sein Hinweis auf die Bedeutung des unbewussten Geisteslehens
für die psychische Existenz überhaupt, findet eine Bestätigung gerade
durch die Thatsachen der Ecmnesie, insofern im bewussten (normalen)
Zustand keine bezügliche Ideenassociation hervorgerufen werden kann.
Es ist dies nur möglich in einem psychischeu Ausnahmszustand, wie
ihn ein hysterischer Insult oder eine Hypnose u. dgl. schaffen kann.
Dann erst gelangt die bezügliche Ideenassociation zur Geltung.
Mit dieser Erfahrung contrastirt scheinbar eine Beobachtung von
Janet. Sie betraf ein 23 Jahre altes Fräulein, das man nur mit seinem
Kosenamen „Margot" anzusprechen brauchte, um sie sofort in das
8. Lebensjahr, bis zu welchem man sie so genannt hatte, zurückzu-
versetzen. Offenbar bewirkte dieses Wort bei dem überaus sugge-
stiblen Fräulein sofort einen Zustand der Autohypnose, mit dessen
Eintritt die Association wirksam wurde.
Ein interessanter Versuch zur Erklärung des ecmnestischen Zu-
standes findet sich in dem kürzlich erschienenen Buche Sollier's (Ge-
nese et nature de 1'hysterie, Paris 1897). Sollier erklärt die ausge-
bildete Hysterie damit, dass er eine Anästhesie (je nachdem Haut,
Sinnesorgane, Organempfindung) annimmt. Die meisten Hysterischen
befänden sich dauernd in einem psychischen Ausnahmszustand, abhängig
von einer Anästhesie des Gehirns (speciell des Vorderhirns, der psy-
chischen Centren), den er als vigil-ambulisme bezeichnet. Vermöge
dieses schlafwachen Zustands fehle auch der Schlaf bei Hysterischen
und sei es so schwer sie zum Schlafen zu bringen.
Die Ecmnesie sei nichts Anderes als die Erweckung der Sensi-
bilität des Vorderhirns, was durch Suggestion oder auch durch einen
hysterischen Insult geschehen könne. Der Kranke gerathe dadurch in
eine Modification seines schlafwachen Zustaudes, also einen eigens
niodificirten psychischen Ausnahmszustand, der, je nachdem, als Ver-
wirrung oder als Regression der Persönlichkeit in eine frühere Lebens-
zeit klinisch sich darstelle. Sollier behauptet (p. 332), dass bei
suggestiver Hervorrufung der Ecmnesie die Regression nicht in eine
beliebige frühere Lebensperiode möglich sei, sondern nur in die Zeit,
in welcher die Betreffende schon hysterisch krank war, oder in eine
Zeit kurz vorher, was aber mit vielen der früheren Erfahrungen nicht
übereinstimmt. Er findet, dass überhaupt eine hysterisch Kranke,
wenn sie aus ihrem Vigilambulisme durch irgend einen erweckenden
Vorgang zum vollen Bewusstsein komme, sich regelmässig in dem Alter
vorfinde, in welchem ihre Krankheit zum Ausbruch kam. Demnach
Krafft-Ebiug, Arbeiten III. 14
210 Ueber Ecmnesie.
wäre Ecmnesie etwas ganz Gewöhnliches, was auch Verf. an der Hand
zahlreicher eigener Beobachtungen zu erweisen sucht.
Die ganze Theorie Sollier's, und damit auch seine Erklärung der
Ecmnesie, bedarf jedenfalls sorgfältiger Nachprüfung.
Eine weitere interessante Frage geht dahin, ob während des
ecmnestischen Zustandes wirklich die betreffende Lebensepisode noch-
mals durchlebt wird, oder ob, wie Binet annimmt, es sich nur um das
allgemeine Erinnerungsbild, „das abgeschwächte Echo jeues Zeit-
raumes" handelt.
Auch diese Frage lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten.
Würde es sich doch nur um Intensitätsunterschiede handeln! Für
viele Fälle mag Binet Recht haben. A priori ist aber nicht abzu-
sehen, warum nicht Lebensepisoden so deutlich in dem unbewussten
Gedächtniss eingegraben sein können, dass sie sich ecmnestisch einfach
reproduciren. Dies muss jedenfalls für Fälle angenommen werden, wo
Miene, Stimme, Handschrift, Gebahren u.s.w. dem Lebensabschnitt
entsprechend sich modificirt zeigen.
Solche Vermuthungen sind berechtigt gegenüber folgender Beob-
achtung, die ich Bourru und Burot entlehne.
Beob. 4. Jeaime E., 24 J., sehr anämisch, nervös, hat Weinkrämpfe,
häufige „Ohnmacht"anfälle und ist leicht hypnotisirbar.
Man suggerirt ihr in der Hypnose, aus ihrem Schlaf 6 Jahre alt zu
erwachen. Sie erwacht im elterlichen Hause. Es ist Abend, man schält
Kastanien. Sie möchte schlafen gehen, ruft ihren Bruder Andre, dass er
ihre Arbeit fortsetze, aber dieser ist dazu nicht gewillt und amüsirt sich
damit, aus Kastanien Häuschen zu bauen. Die B. beklagt sich über den
Faulenzer, der sie nöthige, den Stoff aufzuarbeiten. Sie kann nicht das
ABC, spricht nur das Patois von Limousin, kennt kein Wort Französisch.
Ihr Schwesterchen Luise will nicht schlafen. „Ich muss immer meine
9 monatliche Schwester wiegen". Die B. hat Haltung und Gesten eines
Kindes. Man legt ihr die Hand auf die Stirne und suggerirt ihr, sie werde
in 2 Minuten 10 Jahre alt sein. Nun ändern sich entsprechend Haltung
und Miene. Sie ist auf einem Schloss, nächst welchem sie damals wohnte.
Sie sieht Bilder und bewundert sie, fragt nach ihren Schwestern, die sie
begleitet haben. Sie spricht wie ein Kind, das reden lernt, erzählt, dass
sie erst seit 2 Jahren zur Schule gehe, aber sehr unterbrochen, weil die
Mutter oft krank sei und sie dann die Grossmutter hüten müsse. Sie
schreibt seit 6 Monaten, leistet eine Schriftprobe, die sie vor einigen Tagen
in der Schule machte. Thatsächlich hat sie dieselbe mit 10 Jahren zu
machen gehabt. Man versetzt sie ins Alter von 15 Jahren. Sie ist im
Dienst bei einer Dame B. Sie plaudert „morgen giebt es eine Hochzeit,
da gehen wir hin. B. C, der Schmied, heirathet. Leon wird mich führen,
das wird lustig. Ich soll aber nicht auf den Ball, Frl. B. leidet es nicht.
Ich gehe aber doch auf ein Viertelstündchen ; sie wird es nicht erfahren."
Ueber Ecmuesie. 211
Die R. liest und schreibt ordentlich, u. A. den „Petit Savoyard". Sie
schreibt ganz anders als mit 10 Jahren. Erstaunt betrachtet sie später
den „Petit Savoyard". Sie erkennt an, dass sie das geschrieben, aber sie
wundert sich, da sie dies Gedicht nicht mehr auswendig weiss. Die Schrift-
probe mit „zehn Jahren" erkennt sie nicht als ihre Schrift an.
Die Ecmnesie, als ein eigenartiger Zustand von periodischer
Amnesie bei Hysterischen, dürfte in den meisten Fällen nur eine ganz
transitorische Störung sein. Zuweilen kommt es aber auch zu pro-
trahirten Anfällen. Dann entstehen Uebergänge zur „double vie",
insofern die Bewusstseinskreise zweier Bewusstseinszustände niemals
sich schneiden und jeder derselben sein eigenes Gedächtniss und eigenen
Inhalt hat. Einen solchen Uebergangsfall stellt nach meiner Ansicht
der berühmte des Louis V. dar, den Bourru und Burot zum Gegen-
stand eingehender Studien und Experimente gemacht haben. Man
kann ihn als Fall von double conscience mit Ecmnesie bezeichnen.
14*
VIII.
ÜEBER RETROGRADE ALLGEMEINE AMNESIE.
lieber retrograde allgemeine Amnesie.
Zu den werthvollsten Bereicherungen psychiatrischen Wissens
zählen wohl die Forschungen, welche hinsichtlich der Störungen des
Gedächtnisses, ganz besonders im Rahmen der hysterischen Neurose,
von Azam, Bibot, neuerdings von Janet u. A. angestellt worden sind.
Ein helles und aufklärendes Licht fällt damit auf gewisse That-
sachen des hysterischen „Charakters", indem anscheinend freches
Leugnen von Begebnissen oder entstellte Darstellung solcher, ver-
meintliche Erlebnisse bis zur „pathologischen Lüge" und der Con-
fabulation, damit Unverlässlichkeit bis zum falschen Zeugniss vor Ge-
richt, Verkehrtheiten der Handlungsweise, in Störungen der Gedächtniss-
thätigkeit ihre Begründung finden.
Unter den von Janet u. A. aufgestellten Categorien gestörter
Gedächtnissleistung ist eine der interessantesten die allgemeine
Amnesie. Sie kann einen zeitlich scharf umschriebenen Lebensabschnitt
umfassen (localis irte Amnesie) und äussert sich dann nur in der
Unfähigkeit, die Erlebnisse aus jenem Zeitabschnitt zu reproduciren,
oder sie ist eine totale retrograde destructive, insofern sie alle
Lebenserfahrungen der Persönlichkeit in sich begreift und das Indi-
viduum geradezu auf die Stufe des neugeborenen Kindes zurückversetzt.
Dort handelte es sich im Sinne Bibot's nur um einen temporären
Ausfall des psychologischen (G. der Erlebnisse), hier zugleich um
einen Mangel des organischen (G. der Fertigkeiten) Gedächtnisses,
mit allen seinen Erinnerungsspuren und Gedächtnissbildern früheren
Könnens und Leistens. Innerhalb des Zeitabschnittes der localisirten
Amnesie fehlt blos die Fähigkeit. Erlebnisse dieses Zeitraums zu
reproduciren, bei der totalen retrograden Amnesie dagegen die ganze
frühere Leistung, und damit das Bewusstsein einer Persönlichkeit
überhaupt.
216 Ueber retrograde
Die zeitlich begrenzte Amnesie erscheint viel häufiger in der Er-
fahrung, als die totale.
Am frühesten hat man jene nach Commotio cerebri (vgl.
Kouillard, essai sur les amnesies, Paris 1885) aufgefunden. Jul.
v. Wagner hat sie nach Erhängungsversuchen constatirt (Jahrb. für
Psycliiatrie VIII. u. a. 0.) und auf die Störungen der Circulation und
der Ernährung des Gehirns durch das Erhängen zurückgeführt, während
Möbius (Neurolog. Beiträge Heft 1), in einer Polemik gegen Wagner,
nachzuweisen versuchte, dass die Ursache dieser Amnesie die dem Er-
hängen vorausgehende Gemüthserschütterung und eine dadurch ver-
mittelte traumatische Hysterie sei, eine Annahme, die aber nur für
einen Theil der von Wagner hervorgezogenen Casuistik sich fest-
halten lässt.
Noch recht wenig geklärt ist die zuweilen nach Intoxicationen
besonders alkoholischen (Strümpell) gefundene localisirte retrograde
Amnesie.
Auch nach Apoplexia cerebri will man diese Form der
Amnesie beobachtet haben. Die bezüglichen Krankengeschichten (vgl.
z. B. Winslow, obscure diseases of the Brain p. 268 u. ff.) sind so
aphoristisch und unklar, dass sie nicht beweisend sind und zuweilen
geradezu die Vermuthung erwecken, es könnte sich um Hysteria gravis
in Gestalt eines apoplectischen Insults (vgl. diese ,.Arbeiten" Heft II
p. 30—44) gehandelt haben.
Sichergestellt durch eingehende Beobachtungen von Strümpell
(Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde VIII) und von Alzheimer (Zeit-
schrift f. Psychiatrie LIII) ist das Vorkommen temporär rückschreitender
Amnesie bei Epileptischen, besonders nach gehäuften Anfällen der
Krankheit,
Bemerkenswerth ist, dass in diesen Fällen die von Tagen bis zu
172 Jahren dauernde Amnesie in einigen Fällen plötzlich schwand,
und nur in StrümpeU's Falle persistirte.
Auch bei Hysterie hat man diese Form der Amnesie beobachtet.
Typische Fälle sind z. B. folgende:
J a n e t : Dame. Nach hysterischem Insult Amnesie für einen drei-
jährigen Aufenthalt in England, zugleich mit Verlust der Kenntniss
der englischen Sprache.
Charcot (revue de med. 1892, XII) Dame. Nach Hysteria gravis-
Anfall von 3 tägiger Dauer, Verlust der Erinnerung für alle Erlebnisse
der Zeit von 6 Wochen vor dem Insult,
Toulouse, Archiv, de Neurolog. XXVIII, 1894. Nach heftigem
psychischen Shok (Feuersbrunst) Amnesie fast für die ganze frühere
allgemeine Amnesie. 217
Existenz, bei intactem organischem Gedächtniss (ungestörte Sp räche
Schrift, Bewegungsleistungen).
Viel seltener erscheinen in der Literatur Fälle von totaler
destructiver Amnesie. Auffallender Weise erscheinen sie nur bei
Hysteria gravis, im Anschluss an heftigen psychischen Shok oder an
Anfälle dieser Krankheit, sodass die Vermuthung berechtigt erscheint,
diese Form der Amnesie sei eine der Hysterie eigenartige. Die von
mir in der Literatur aufgefundenen Fälle sind folgende:
1. Weir Mitchell „Mary Reynolds, a case of double consciousness"
Philadelphia 1889.
Mädchen von 18 Jahren. Seit einigen Wochen Zustände von Hysteria
gravis. Nach einem Lethargusanfall von 20 Stunden kommt Pat. zu
sich, in einem Zustand wie ein „neugeborenes Kind", aber mit den
Fähigkeiten eines Erwachsenen. Es besteht blos Echosprache. All-
mälig Wiedererlangung des früheren geistigen Besitzes.
2. Mac Nish, philosophy of sleep 1838 p. 215.
Dame in Amerika. Nach Schlafanfall allgemeine destructive Amnesie.
Pat. wusste gar nichts von den Kenntnissen, Fertigkeiten, überhaupt
Erlebnissen ihrer bisherigen Existenz, sodass man sie von Neuem er-
ziehen musste. Eines Tages neuer Schlafaufall, nach welchem sie wieder
in ihrem früheren vollen geistigen Besitz war. Sie wusste nichts von
dieser Ej>isode allgemeiner Amnesie.
3. Ribot, Krankheiten des Gedächtnisses p. 51.
Lehrerin, 26 J., bietet nach einem Hysteria gravis-Insult allgemeine
Amnesie (Verlust aller Kenntnisse). Wiedererlangung des geistigen
Besitzes nach einigen Wochen.
4. Sharpey bei Ribot p. 52.
Zarte Dame. Nach 2 monatlichem (hysterischem) Schlafzustand Amnesie
für fast Alles früher Erlebte und Erlernte. Allmäliges "Wiedererwerben
desselben binnen 3 Monaten.
5. Ribot ebenda p. 55.
Eine junge Frau fällt ins Wasser. Herausgezogen, ist sie durch
6 Stunden bewusstlos, dann wieder bei sich. Zehn Tage später ver-
fällt sie in einen 4 Stunden dauernden „Stupor". Darnach Verlust
von Gehör, Sprache, Geschmack, Geruch, Bewegungsvorstellungen. Sie
sieht und fühlt nur. Pat. erwirbt mühsam neuerlich geistigen Besitz.
Eines Tags, infolge einer Gemüthsbewegung. Bewusstlosigkeit von
einigen Stunden. Zu sich gekommen, ist sie im geistigen frühereu
Besitz aber noch einige Zeit hindurch taub. Sie weiss nichts von den
12 Monaten ihrer Krankheit, die ihr wie ein langer Schlaf vorkommt.
6. Camus et, revue philosophique 1882.
17 jähriger Junge. Nach heftigem Hysteria gravis-Insult Verlust des
Gedächtnisses für die ganze bisherige Existenz und für alle Kenntnisse.
218 Ueber retrograde
Nach 1 Jahr dem früheren identischer Insult. Nun wieder die frühere
Persönlichkeit, aber Amnesie für die Vorkommnisse des einjährigen
Zustandes.
7. Azam, hypnotisme et double conscience p. 221.
Albert X., 12 1/a J. Seit dem 5. Jahre Tussis hysterica. Nach
heftigem hysterischen Insult mit 10 lj„ Jahren Verlust der Vita ante
acta und allen Wissens. Er kann nicht mehr lesen, schreiben, rechnen,
spricht unvollkommen, erkennt nur mehr Eltern und Pflegerin. Nach
20 Tagen wieder Stat. quo ante. Neuerliche solche Zustände nach
hysterischen Insulten, mit mehr oder weniger vollkommener retroactiver
Amnesie, bis zur Dauer von einigen Wochen.
8. Mortimer Granville, Brain, 1889, October.
Hysterische Frau von 26 Jahren, die nach „heftigem Fieber mit
Bewusstseinsverlust" durch einige Wochen Amnesie für alles Erlebte
und Erlernte hatte.
Die Fälle von totaler retrograder Amnesie bei Hysteria gravis
haben mit den bei Epilepsie beobachteten das Gemeinsame, dass sie
nach Anfällen der Krankheit zurückbleiben. Die Amnesie schwindet
allmälig oder es geschieht dies plötzlich nach einem neuerlichen
Hysteria gravis-Insult. Immer kommt es zu einer vollständigen
Restitution des früheren geistigen Besitzes. Die Dauer der Amnesie
beträgt Wochen bis Jahresfrist. In klassischen Fällen besteht geistig
tabula rasa bis zum Verlust eines Persönlichkeitsbewusstseins. Es ist
dann geradeso, wie wenn das ganze psychische Organ in einem Zustand
des Schlafs verfallen wäre. Dies gilt aber nur für den vor dem Ein-
tritt der Amnesie erworbenen Besitz. Die Erwerbung neuen Besitzes
und seine associative Verwerthung und Bereicherung ist eine ziemlich
gute. Jedenfalls bestehen bei dieser Form der Amnesie keine Com-
plicationen mit anterograder (wie dies zuweilen bei der localisirten
Amnesie vorkommt) oder gar mit der Dauerform der Amnesie. Da offen-
bar der frühere geistige Besitz blos gesperrt, nicht aber verloren ist, ge-
lingt auf dem Wege der Association von neuerworbenen Vorstellungen
aus, die Reactivirung auffallend schnell. Häufig ist überdies die
destructive Amnesie keine universelle, so z. B. in Beob. 5, wo nur die
Erinnerungsbilder einer Zahl von Rindenterritorien defect waren, bei
erhaltenem Wahrnehmungsvermögen des Gesichts- und Gefühlssinns.
Ich reihe an diese Erfahrungen folgende eigene Beobachtung, in
welcher bei einer Hysterischen, nach Attaquen von Zorntobsucht,
durch Tage lang Amnesie für die ganze frühere Leistung, bis zur Auf-
hebung des Persönlichkeitsbewusstseins vorhanden war, jedoch war
das organische Gedächtniss insofern nicht mitbetroffen, als die Be-
wegungsanschauungen erhalten waren.
allgemeine Amnesie. 219
B e o b. E. M., 19 J., ledig , in der Klinik aufgenommen am
23. 9. 1892, stammt von einem Vater, der Potator war. Eine Schwester
derselben ist Idiotin, ein Bruder als kleines Kind au Convulsionen
gestorben.
Pat. soll früher gesund gewesen seiu, in der Schule gut gelernt
haben. Sie galt aber als verlogen, moralisch defect und dem Trünke
geneigt. Sie war faul und las mit Vorliebe Romane. Die ersten
Menses waren mit 13 Jahren erschienen.
Im Januar 1892 war Pat. bei einer Familie untergebracht worden,
um dort das Nähen zu erlernen. In diesem neuen Milieu fühlte sich Pat.
sehr wohl. Sie fabulirte einen ganzen Roman zusammen, der an
primordiale Verfolgungs- und Grössendelirien erinnerte und wohl als
„pathologische Lüge" einer Hysterischen bezeichnet werden kann.
Sie behauptete, ihre Mutter sei eine schlechte Person, die schon
im Zuchthause gesessen sei und immer ein Giftfläschchen mit sich
führe, um die Leute zu vergiften. Diese Lügen kamen der Mutter
zu Ohren, die ihre Tochter im April deshalb zur Rede stellte und
leicht züchtigte. Pat. erzählte in der Folge, die Mutter habe ihr den
Arm dreimal gebrochen, sie müsse sich deshalb im Spital behandeln
lassen. Sie ging plötzlich von Hause fort, kam jeweils mit der Angabe
zurück, sie sei beim Prof. W. gewesen, der constatirt habe, dass sie
durch ihre Mutter vergiftet sei. Ihre Lunge sei durch Gift verbrannt,
ihr Gehirn schwimme im Wasser in Folge der Schläge, die sie von
der Mutter erhalten habe. Der Professor ziehe ihr Gift und Wasser
unter den Fingernägeln heraus und schreibe ihr vor, sie dürfe nur
Braten essen und Rothwein trinken.
Schliesslich erklärte sie sich für das Kind eines Grafen Antonio,
der Capuziner sei und seinem Vater auf dessen Todtenbett geschworen
habe, er werde solange im Kloster bleiben und der Pat, keine Unter-
stützung gewähren, bis sie 20 Jahre alt sei. Dann (1893) werde er
das Kloster verlassen, seine. Tochter zu sich nehmen und Alle, die ihr
gut waren, reichlich beschenken. Ihre Mutter, die nur ihre Ziehmutter
sei, wolle sie vergiften, um zu verhindern, dass sie im Jahre 1893
das väterliche Erbe antrete. Prof. W. wisse von Allem, spreche mit
ihr darüber und bedauere sie lebhaft. Die Quartierfrau der E. erhielt
Briefe, unterzeichnet von einem Grafen Antonio, in welchem alle An-
gaben derselben bestätigt waren. Pat. wusste ihren Roman so plausibel
zu machen, dass ein Theil ihrer Umgebung von der Wahrheit ihrer
An°-aben überzeugt war und ihre Quartiergeberin, in der Erwartung
der von Antonio zu gewärtigenden Summen, ernstlich daran dachte,
ihr Nähereigeschäft aufzugeben.
i-
220 lieber retrograde
Eines Tages stellte sich aus Concepten, die man bei Pat. fand,
heraus, dass sie selbst, mit gut verstellter Hand, jene Briefe geschrieben
hatte. Nachforschungen ergaben ferner, dass Pat, den Prof. W. gar
nicht kenne.
Am 22. 9. über ihre Lügen zur Rede gestellt, gerieth Pat. in
einen Zustand von Zorntobsucht, in welchem sie, schreiend, um sich
schlagend, beissend, sich die Kleider vom Leibe reissend, mühsam von
4 Männern gebändigt, zur Aufnahme auf der psychiatrischen Klinik
gelangte.
Am Abend des 23. 9. wurde Pat. ruhig, schlief ein und erwachte
am Morgen des 24. ganz verwirrt, unorientirt, mit Amnesie für die
Erlebnisse des Anfalls. Für das ganze frühere Leben bestand fast
völliger Defect der Erinnerung (so erkannte sie z. B. die sie besuchende
Quartierfrau nicht). Sie war zugleich am ganzen Körper an-
ästhetisch und analgetisch. Am 26. 9. waren die sensiblen Störungen ge-
schwunden, die Erinnerung für alles Erlebte und Erlernte wieder da, bis
auf die Erlebnisse im Anfall, die amnestisch blieben.
Pat. klein, gut genährt, Schädel im Stirntheil schmal, Cf. 51 cm,
Zähne gerieft, Ohrmuscheln leicht verbildet. Cutane und tiefe Sen-
sibilität ohne Defect. Intervallär Angstgefühle, sehr labiler Yasomotorius
(oft heiss und roth im Gesicht), schmerzhafte Druckpunkte an Kopf
und Gesicht, 1. Cervicooccipitalneuralgie, grosse Emotivität und Reiz-
barkeit,
Am ß. 10. Abends, nach Gemütsbewegung, neuer Anfall von Zorn-
tobsucht, der einige Stunden dauert und mit Schlaf endigt, Am 7. 10.
Morgens constatirt man nicht nur vollständige Anästhesie für alle
Qualitäten incl. tiefe Sensibilität, sondern auch complete Amnesie, und
zwar nicht blos für die Zeit des Anfalls, sondern auch für die ganze
frühere Existenz. Aller Erinnerungsbilder ist Pat. verlustig. Sie er-
scheint seelenblind und seelentaub, appercipirt nicht Tasteindrücke, weiss
nicht die einfachsten Hantirungen. Sie erkennt nicht Zündhölzchen
und andere Dinge des Alltagslebens, die man ihr zeigt, kennt nicht
die Bedeutung von Worten wie : „Eltern", „Wien", „Pferd'' u. s. w.
Selbst der eigene Name ist ihr fremd. Während Destruction des Ge-
dächtnisses für die ganze Vita ante acta besteht, findet sich treue Er-
innerung für Alles nach dem Anfall Erlebte. So erkennt sie Personen,
Uhr, Schlüssel und andere Gegenstände, die sie seither gesehen, sofort
wieder, ohne jedoch deren Bedeutung zu erkennen. Associationen
knüpfen sich zunächst nicht an solche Gegenstände, ebensowenig, wenn
man Pat. die betr. Objecte benennt. Das Persönlichkeitsbewusstsein
scheint sich auf das dunkle Bewusstsein einer Existenz überhaupt zu be-
allgemeine Amnesie. 221
schränken. Wenn man Pat. anruft, so reagirt sie nicht, obwohl
sie hört.
Im Laufe des Tages tauchen einzelne Erinnerungsbilder auf.
Pat. vermag nun auch zu lesen, jedoch versteht sie den Sinn des Ge-
lesenen nicht. Die Analgesie schwindet.
Am 8. 10. ist die Sensibilität wieder hergestellt. Nun gelangt Pat. ziem-
lich rasch wieder iu den vollen früheren geistigen Besitz. Bald gelingt
es mehr auf optischem, bald auf acustischem Wege die Erinnerungs-
bilder wachzurufen. Meist tritt mit einem neuerweckten Erinnerungs-
bild eine ganze Reihe associirter Vorstellungen auf. Abstracto Be-
griffe werden am schwersten und spätesten zurückgewonnen.
Am 12. 10. ist Pat. im Status quo ante. Aber auch 1. Ambl3Topie,
mit starker concentrischer Einschränkung des Sehfelds und Perception
der Contrastfarben statt der wirklichen, sowie 1. Anacusie bei Knochen-
leitung, die während der Dauer des Anfalls sich beobachten Hessen,
sind geschwunden.
Am 7. 11. nach Emotion, genuiner Anfall von Hysteria gravis
(epileptoide Phase, mouvements passionnels, periode du delire) durch
eine Stunde.
Im unmittelbaren Anschluss an diesen Insult zeigt sich wieder
retrograde Aufhebung des Gedächtnisses, zugleich mit universeller
Anästhesie und Analgesie.
Pat. setzt sich nach abgelaufenem Anfall ruhig auf, blickt ver-
wundert um sich, ist ganz rathlos, dann ängstlich, fragt : „was ist ge-
schehen? wo bin ich?" Dann (mit steigender Unruhe): „ich bitte
Euch, sagt mir was; mein Gott, ich kenne mich nicht aus;1 Auf
Fragen, was sie sei, wie sie heisse, wo sie sich befinde, antwortet
sie, sie wisse es nicht.
Ein ihr gereichtes Glas Wasser betrachtet sie verwundert von allen
Seiten, fragt, was das sei, hält es gegen das Licht, riecht daran, kostet
es und trinkt es dann rasch und befriedigt aus. Ein Stück Brot wird
genau besehen, dann misstrauisch weggeworfen, sie wisse nicht was
es sei Aehnlich macht es Pat. mit anderen Gegenständen. Sie be-
tastet z B die Wand, kratzt prüfend daran, zieht den Zimmervorhang
zu sich, riecht und schleckt an demselben. Eine in geschlossener
Hand ihr ans Ohr gehaltene Taschenuhr ruft ihr höchstes Erstaunen
hervor Sie horcht da und dorthin, meint, es klopfe Jemand und
doch sei Niemand da. Sie kommt aus ihrem ängstlichen Staunen
nicht heraus, bittet flehend, ihr doch zu sagen, wo sie sei. Bei fort-
dauernder Anästhesie zieht mau ihr an den Haaren den Kopf gegen
222 lieber retrograde
die Brust herunter, ohne dass sie dies bemerkt. Schliesslich wundert
sie sich, dass der Kopf heruntergefallen sei und sieht erstaunt nach
der Decke empor.
Am 9. 11. wieder Stat. quo ante, mit Amnesie für die ganze
Anfallszeit.
Am 11. Anfall gleich wie am 7., aber schwächer. Darnach wieder
retrograde Destructio memoriae und allgemeine Anästhesie, aber schon
nach 1 Stunde ist kein amnestischer Defect mehr nachzuweisen und
die Sensibilität wieder hergestellt.
In der Folge noch leichte Anfälle von Hysteria gravis, aber ohne
die destructive Wirkung auf das Gedächtniss. Am 19. 12. 1892
entlassen.
2. Aufnahme vom 23. 7. bis 4. 9. 1893 wegen seit Neujahr 1893
wieder bestehender Hysteria gravis-Anfälle und gelegentlicher hy-
sterischer Dämmerzustände mit Delir, aber ohne retroamnestische
Wirkung.
3. Aufenthalt im Spital vom 11. 10. 1893 ab wegen Anfällen von
somnambulen Traumzuständen, aber ohne retroamnestische Wirkung.
Bemerkenswerth ist, dass bei all den seit dem 11. 11. 1892 be-
obachteten Hysteria gravis- Anfällen kein Sensibilitätsdefect nach diesen
constatirt werden konnte.
Die interessanteste Frage ist die nach der Natur und Ursache
dieser Amnesie. Worauf in früheren Fällen meist nicht geachtet
wurde, das tritt in meiner Beobachtung auffallend zu Tage, nämlich die
allgemeine Amnesie ist von allgemeiner Anästhesie begleitet und be-
steht und schwindet mit dieser. Nur Anfälle von Hysteria gravis,
welche eine solche Anästhesie hinterlassen, führen zugleich zur Amnesie.
Schon Janet (Geisteszustand der Hysterischen p. 95), weist auf gleich-
zeitigen Verlust der Sensibilität in solchem amnestischem Zustand hin
und spricht die Meinung aus, dass die Sensibilität offenbar Einfluss
auf das Gedächtniss hat.
Ganz besonders interessant im Sinne dieser Annahme ist folgender
Fall von Bourru und Durot („die Veränderungen des Ich's" 1888
p. 123 u. ff.) : Ein gew. V, bot 5 verschiedene Ichzustände, jeder durch
bestimmte Amnesien und Erinnerungen ausgezeichnet. In jedem dieser
5 Zustände bot er ein besonderes Verhalten der Sensibilität.
Die hysterische destructive Amnesie mag auf Ausfällen der
Sensibilität (centrale oder Apperceptionsanästhesie) beruhen (Janet,
Hajos, Ranschburg), vermöge welcher das an sie geknüpfte Persön-
lichkeitsbewusstsein und andere Associationen sich nicht entwickeln
können.
allgemeine Amnesie. 223
Jedenfalls erscheint es nöthig, in künftigen derartigen Fällen das
Verhalten der Sensibilität während der Dauer der Amnesie genau
festzustellen.
Die Fälle von totaler Amnesie haben viel mit einem psychopathischen
Bild gemeinsam, das als primäre acute Dementia post trauma capitis
oder als Commotionspsychose nach mechanischem Stock bekannt ist
(vgl. m. Lehrbuch d. Psychiatrie, 6. Aufl., p. 337). Hier scheint eine
wirkliche, wenn auch nur functionelle Demenz, als Ausdruck einer
protrahirten Commotio cerebri zu bestehen, nicht eine durch Anästhesie
eventuell gesetzte Hemmung der Gedächtnissfunction (Ausschaltung
der Erinnerungsbilder), wenigstens habe ich in 5 derartigen Fällen
keine Sensibilitätsdefecte bemerkt.
Wäre es jetzt schon sicher, dass die totale destructive Amnesie
der Hysterie eigenthümlich ist, so wäre die dift'erentielle Diagnose
nur da zu machen, wo in einem Anfall von Hysteria gravis, oder in
einem Aequivalent derselben, ein Trauma capitis .stattgefunden hätte.
Unter allen Umständen erscheint es immerhin nicht denkbar,
dass eine organische cerebrale Störung eine so allgemeine Amnesie
vermittle, wie sie die Hysterie herbeiführen kann. Es ist dies ebenso-
wenig annehmbar, als dass ein Mutismus, der doch ein unbestrittenes
Syndrom von hysterischer Bedeutung ist und in einer vollkommenen
Ausschaltung des gesammten Sprachgebiets besteht, durch eine organische
Erkrankung (Apoplexie, Erweichung) zu Stande käme. Eine solche
vermag nur Bilder der Aphasie hervorzurufen.
Vergleicht man die heilbare traumatische Demenz mit dem Zustand,
wie ihn eine allgemeine (hysterische) Amnesie bewirkt, so zeigen sich
dort nie jene allgemeinen und tiefgehenden Ausfälle im geistigen
Besitz wie bei dieser.
Bei jener Commotionspsychose besteht doch vielmehr ein psychischer
Torpor, als ein umfassender geistiger Defect, eine Stupidität, als Aus-
druck der Summation von gehemmter Function in den verschiedenen
Hirnrindenterritorien, wobei zudem eine Verschiedenheit der Intensität
und der Dauer der Störung da und dort sich herausstellt. Jedenfalls
ist das psychische Gebiet hier nie zur tabula rasa geworden.
Nie erfolgt hier eine plötzliche und allseitige Wiederkehr des
früheren geistigen Besitzes, wie nicht selten bei hysterischer Amnesie,
besonders nach neuerlichen Anfällen, sondern ein allmäliges und
zeitlich verschiedenes Wiedereinsetzen der Function in disparaten Hirn-
rindengebieten.
Interessant in differentiell diagnostischer Hinsicht, beim Mangel einer
den heutigen Anforderungen entsprechenden Krankengeschichte aber
224 lieber retrograde allgemeine Amnesie.
nicht entscheidbar, ist folgender Fall bei Winslow (a, a. 0. p. 317).
Ein Geistlicher war nach Trauma capitis mehrere Tage lang bewusst-
los. Zu sich gekommen, glich er einem intelligenten Kinde, das Alles
wieder lernen musste. Nachdem er nach einigen Monaten sein Ge-
dächtniss wieder erlangt hatte, gewann er binnen einigen Wochen
seinen gesammten geistigen Besitz zurück.
Prognostisch wichtig wäre immerhin die differentielle Diagnose
von allgemeiner Amnesie (hysterischer) und Commotionspsychose, denn
bei ersterer hat man bisher immer Schwinden des Gebrechens be-
obachtet, bei letzterer als Ausgang nicht selten Schwachsinn.
IX.
MEINEID. HYSTERISMUS. BEHAUPTETE AMNESIE UND
UNZURECHNUNGSFAEHIGKEIT.1)
1) Jahrbücher für Psychiatrie. XIII. Bd. Heft 2 u. 3.
Krafft-Eoing, Arbeiten HI. ls
Meineid. Hysterismus. Behauptete Amnesie und
Unzurechnungsfähigkeit.
Ergebnisse ans den Untersuchungsacten.
Anfang Juli 1892 schloss die 30 Jahre alte, ledige, bei ihrer
Freundin, einer Hausbesitzerin in Graz, lebende J. in Vertretung dieser,
einen mündlichen Mietvertrag mit einem gewissen K. und dessen
Ehefrau.
Eine Hauptbedingung war, dass die gemiethete Wohnung als „rein
von Wanzen und trocken" garantirt werde, welche Garantie die Ver-
mietherin leistete.
Bei einer Besichtigung der gemietheten Wohnung am 15. Juli
1892 fanden sie die Miether voller Wanzen, erklärten die Vertrags-
bedingungen nicht erfüllt und verlangten Bückerstattung ihres Haft-
geldes. Dies wurde verweigert.
Es kam zum Process. Am 3. September 1892 leistete die J. einen
Eid: „es ist nicht wahr, dass K. die Bedingung stellte, die Wohnung
müsse frei von Ungeziefer sein". Darauf beschuldigten die K.'s die Z.
des Meineides. In der durchgeführten Untersuchung und Verhandlung
(27. Januar 1893) gegen die J. weiss diese die kleinsten Details be-
züglich der Vorgänge am 15. Juli 1892, erinnert sich betimmt daran,
dass bei der Miethangelegenheit von Ungeziefer nicht die Bede war.
Die K.'s und zwei Ohrenzeugen des Miethvertrages erklären unter
Eid das Gegentheil. Die J. wird zu 2 Monaten Kerker verurtheilt.
Nachdem eine auf processuale Gründe gestützte Nichtigkeitsbeschwerde
vom obersten Gerichtshof verworfen worden war, machte der Ver-
teidiger verschiedene Thatsachen aus der Lebensgeschichte seiner
15*
228 Meineid. Hysterisinus.
Clientin geltend, die nach seiner Ansicht zu Zweifeln an ihrer geistigen
Gesundheit berechtigten, producirte ärztliche Zeugnisse (s. u.) nach
denen ihre Erinnerungsfähigkeit fraglich sei und beantragte Unter-
suchung des Geisteszustandes und Wiederaufnahme des Verfahrens.
Das gerichtsärztliche Gutachten vom Juni 1893 constatirt zwar
Hysterismus, findet aber keine Anhaltspunkte für Störungen der Er-
innerung, plötzliche Gedächtnissdefecte u.s. w. Das Gesuch des Ver-
teidigers wird nun abschlägig beschieden. Diese Misserfolge führen
zu bedeutender Verschlimmerung der hysterischen Neurose, sodass
Spitalbehandlung nothwendig wird.
In einem neuerlichen Gutachten vom 1. November verbleiben die
Gerichtsärzte bei ihrer früheren Beurtheilung. Wegen Wichtigkeit
und Schwierigkeit des Falles beschliesst der Gerichtshof die Einholung
eines Facultätsoiitachtens.
Faciiltätsgutackten.
Um zur Klarheit über die geistige Verfassung der wegen Mein-
eides verurtheilten J. zu gelangen, erscheint es nothwendig, ihr früheres
körperliches und seelisches Verhalten an der Hand der in den Acten
enthaltenen Thatsachen festzustellen.
Mit Rücksicht auf die der Facultät zur Entscheidung vorgelegte
Frage nach dem Geisteszustände der J. zur Zeit der Eidesleistung,
dürfte es zweckdienlich sein, die Lebensperiode bis zur Verhängung
der Untersuchung und von da ab bis zur Entlassung aus dem Spital
zu unterscheiden.
I. Der Zeitabschnitt bis zur Verhängung der Unter-
suchung.
Dr. M. schildert in einer wissenschaftlichen Arbeit „über Arsen-
lähmungen" seine frühere Clientin als von gesunden Eltern abstammend,
jedoch soll des Vaters Mutter im Alter verblödet und die mütterliche
Grossmutter Schnapstrinkerin gewesen sein. Mit 8 Jahren machte die
J. einen Kopftyphus durch. Zeugin Z., welche die J. seit ihrem
7. Jahre kennt und mit ihr in gemeinsamem Haushalt seit 1888 lebt,
berichtet, dass ihre Freundin mit etwa 17 Jahren gemüthsleidend war,
aus Kummer, dass ihre Hoffnung auf eine grosse Erbschaft plötzlich
zunichte wurde.
1888 sei die J. aus Schreck bei einem Gewitter mehrere Tage
bewusstlos gewesen.
Behauptete Amnesie und Unzurechnungsfähigkeit. 229
Audi M. erwähnt, dass die J. nach dem 18. Jahre verschiedene
nervöse Symptome bot, 1889 nach heftigem Schreck sehr aufgeregt
war, sodass eine Psychose befürchtet wurde. Dies trat nicht ein,
aber die J. blieb sehr nervös, litt oft an Kopfweh, Appetitlosigkeit und
Uebelkeiten.
Vom August 1890 ab kränkelte sie an chronischer Arsenvergif-
tung, bekam von Mitte September 1890 ab eine sehr schwere toxische
multiple Arsenneuritis, auf deren Höhe auch die Psyche mit ergriffen
war. Patientin bot erschwertes Denkvermögen, geschwächte Erinne-
rungsfähigkeit, erkannte die Umgebung erst nach längerem Nach-
denken, bot sogar im October ein kurzes Inanitionsdelir. Mitte No-
vember verlor sich der augenscheinlich auf Erschöpfung (Inanition)
des Nervensystems beruhende psychische Schwächezustand. Sie genas
völlig, auch von ihrer multiplen Nervenentzündung, gegen AYeihnaeht
1890.
Dr. M. sah seine Patientin vier Wochen später, war erstaunt über
ihr prächtiges Aussehen. „So frisch, voll, blühend" hatte er sie nie
zuvor gesehen.
Mit dieser Darstellung contrastirt die Aussage der Zeugin L.,
wonach die J. seit der Arsenvergiftung sehr schlechtes Gedächtniss
hatte, zeitweise Bekannte nicht erkannte, an Schwindelanfällen litt,
auch misstrauisch, gelegentlich ganz grundlos eigensinnig war. Gleich-
wohl vertraute ihr die L. die Administration ihres Hauses an und ge-
stattete ihr den Abschluss von Miethverträgen !
Dr. M. attestirt am 23. März 1893. dass er die .T. im Frühjahr
und Sommer 1892 bis in den Herbst hinein nicht mehr so körperlich
und geistig frisch fand, wie vor 1890.
Er fand damals wiederholt ihr Auffassungsvermögen vermindert,
sie folgte dem Gespräch nicht mit gewohntem Interesse und der Ge-
dankenablauf erschien träger; das Gedächtniss war nicht intact, sie
erinnerte sich zuweilen auffallend langsam und zeigte dabei auffällige
nervöse Beizbarkeit. Er erklärt sich diese Anomalie, abgesehen von
erblicher Belastung und überstanden«- Nervenkrankheit, aus bestehendem,
zuweilen fieberhaftem Lungenspitzenkatarrh und Blutarmuth.
Als die J. im Juli 1892 mit den K.'s verhandelte und am 3. Sep-
tember 1892 einen Eid leistete, ebenso als sie am 2. November ge-
richtlich vernommen und am 27. Februar 1893 mit ihr die Hauptver-
handlung durchgeführt wurde, erschien sie niemand psychisch auffällig
und theilte auch nichts von Krankheit und speciell Gedächtniss-
schwäche mit.
Sie erinnerte sich aller Details ihrer Bencontres mit den K.'schen,
230 Meineid. Hysterismus.
ausgenommen die einzige, Gegenstand der Recrimiuationen bildende
Bedingung des Mietvertrages und wies darauf hin, dass die Angaben
der Contrazeugen schon deshalb nicht wahr sein könnten, weil es bei
ihr nicht üblich sei, bedingte Miethverträge abzuschliessen.
Am 27. Februar 1894 erklärt sie, dass, wenn K. eine Bedingung
gestellt hätte, sie ihn hinausgeworfen haben würde. Zeuge L. be-
stätigt auch, dass, als er als Miether einmal eine Bedingung stellen
wollte, sie ihn schroff abwies.
Die J. vertheidigt sich geschickt, logisch und consequent vor Ge-
richt, sucht die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu verdächtigen und er-
hebt schliesslich Einsprache gegen das Verfahren.
Versucht man die bisherige geistige und körperliche Persönlich-
keit zu beurtheilen, so kann darüber kein Zweifel bestehen, dass die
nach dem Befund der Gerichtsärzte gracile, schwächliche, neuropathische
J. ein belastetes Individuum ist. Eine Reihe von abnormen Reac-
tionserscheinungen ihres Nervensystems in früherer Zeit sind Beweise
dafür, dass diese Belastung eine sehr erhebliche ist und vorübergehend
schon das Bild wirklicher Nervenkrankheit (Hysterie) erreichte. Die
schwere Arsenvergiftung, an welcher die J. vom August bis Ende
1890 litt, war geeignet, die neuropathische Constitution noch mehr zu
erschüttern und Pat. noch empfindliche]' gegen Schädlichkeiten zu
machen. Da aber Dr. M. im Januar 1891 blühende Gesundheit con-
statirte und erfahrungsgemäss eine vorübergehende Schädlichkeit, wie
sie die Arsenvergiftung darstellte, keine dauernden Folgen im Sinne
einer Zerrüttung der geistigen Functionen hinterlässt, kann diese epi-
sodische Krankheit nur in obigem Sinne, als Verstärkung der neuro-
pathischen Belastung, in Betracht kommen.
Dass die J. zur Zeit als sie den Miethvertrag schloss und den
Eid leistete, weder mit einer Geisteskrankheit noch mit einer Sinnes-
verwirrung, wie sie im § 2 des Oesterr. Strafgesetzbuches erwähnt
ist, behaftet war, lässt sich bestimmt annehmen. Damit ist aber die
gestellte Frage noch lange nicht erledigt, denn bei gewissen Nerven-
krankheiten, wie z. B. Neurasthenie und Hysterie, sind auch elemen-
tare Störungen des Seelenlebens, z. B. Erinnerungsschwäche und Er-
innerungstäuschungen möglich, die im concreten Falle, d. h. mit Bezug
auf das Delict, schwer ins Gewicht fallen müssten und überdies, als
wiederholt bei der J. beobachtet, von Dr. M. attestirt wurden. Ueber-
dies werden analoge Beobachtungen von der Zeugin L. mitgetheilt.
Bei aller dadurch gebotenen Vorsicht, erscheint die Gedächtniss-
schwäche der J. anlässlich ihrer eidlichen Aussage, in eigenthümlichem
Licht.
Behauptete Amnesie und Unzurechnungsfähigkeit. 231
Während man bei Nervenkranken, namentlich Neurasthenischen,
jederzeit auf Erinnerungsdefecte für Erlebnisse, namentlich unbedeu-
tende, gefasst sein muss und bei Hysterischen überdies Erinnerungs-
täuschungen, d. h. falsche und vielfach von der Phantasie entstellte
Eeproductionen von Erlebnissen zur Beobachtung gelangen, erscheint es
unfassbar, wie aus einer zusammenhängenden und durch Associationen
geknüpften Reihe von vollkommen treu reproducirten Erlebnissen
gerade ein einziges Glied der ganzen Reihe nicht erinnert werden soll.
Eine solche partielle Amnesie wäre noch erklärbar, wenn ein ganz
zufälliges, gar nicht zur Sache gehöriges und damit bedeutungsloses,
gleichzeitig erlebtes Ereigniss nicht erinnerbar wäre, aber die incrimi-
nirte angebliche Erinnerungslücke enthält geradezu den wichtigsten,
den Vermiether belastenden Theil des ganzen Miethvertrages , nicht
einen nebensächlichen Umstand, und die von K. gestellte und von ihm
und anderen Zeugen beschworene Bedingung war nach den eigenen
Angaben der J. eine so ungewöhnliche und unannehmbare, dass, wenn
dieselbe wirklich gestellt worden wäre, die J. den Contrahenten un-
bedingt „hinausgeworfen" hätte.
Nach allgemeinen empirischen Reproductionsgesetzen werden aber
gerade Begebenheiten am leichtesten erinnert, die ungewöhnlich sind
und eine Gemüthsbewegung, während sie erlebt wurden, hervorriefen.
Dies hätte nach den Angaben der J. nothwendig der Fall sein müssen,
und gleichwohl vermag sie sich dieser Episode nicht zu erinnern.
Eine weitere Erfahrung lautet dahiu, dass selbst in Verlust ge-
rathene Erinnerungen wieder erweckt zu werden pflegen, wenn ihre
Erinnerung aufgefrischt wird, namentlich indem Nebenumstände er-
wähnt und dadurch die ursprünglichen Associationen wieder angeregt
werden. Dazu war während der Recriminationen der K. und in dtn-
der Eidesleistung vorausgehenden Verhandlung vom 3. September 1892
reichlich Gelegenheit geboten. Gleichwohl besteht diese isolirte Er-
innerungslücke der J. fort.
Die J. behauptet zudem nicht einfach, dass sie sich an die Be-
dingung der K. nicht erinnern könne, sondern sie schwört positiv, dass
eine solche Bedingung gar nicht gestellt worden sei. Es ist ein grosser
Unterschied, ob jemand erklärt, er könne sich an eine Begebenheit
nicht erinnern oder ob er positiv angiebt. dieselbe habe nie stattge-
funden. Damit liegt implicite die Erklärung: Mein Gedächtniss ist
gut, ich kann mich auf dasselbe selbst angesichts eines zu leistenden
Eides verlassen. Thatsächlich entdecken Angeklagte, Freundschaft
derselben und Vertheidiger erst nachdem der Process verloren ist, das
schlechte Gedächtniss der J., von welchem weder wälu-end der Ver-
232 Meineid. Hysterisnras.
handlungen vor Gericht noch hinsichtlich der Informationen, welche
die J. ihrem Vertheidiger giebt, sich Spuren erkennen lassen.
Die J. stellt stellt sich mit ihrer obigen assertorischen Behauptung
in Widerspruch zur Erfahrung an wirklich gedächtnissschwachen Per-
sonen (Neurasthenische, Hysterische, Geistesschwache, Greise u. s. w.),
welche, im Bewusstsein der Unverlässlichkeit ihres Gedächtnisses, ein-
fach erklären, sich an das und jenes nicht erinnern zu können, etwaige
Erinnerungsspuren aufzufassen bemüht sind, keineswegs aber erklären,
die Begebenheit erlebt zu haben. So spricht und urtheilt nur der,
welcher ein gutes Gedächtniss und Gewissen hat.
Die partielle Erinnerungslosigkeit der J. am 15. Juli 1892 und
am 3. September 1892 entbehrt damit jeder medicinisch-psychologischen
Unterlage und ist wissenschaftlich nicht annehmbar.
Allerdings lässt sich nach den Depositionen des Arztes M. nicht
bezweifeln, dass die J. schon im Sommer 1892 nervenkrank war,
geistig leicht erschöpfbar, im Gedächtniss nicht intact, aber eine c o n -
tinuirliche geistige Schwäche ist damit nicht constatirt und die
elementaren psychischen Störungen überschreiten nicht den Bahmen
der durch körperliches Leiden (Anämie, Lungenspitzenkatarrh) ver-
mittelten reizbaren Schwäche (Neurasthenie) bei einer belasteten Per-
sönlichkeit. Die Entwickelung der hysterischen Nervenkrankheit und
ihre Steigerung zur psychischen Erkrankung datirt aber aus späterer
Zeit.
Unter allen Umständen wird durch die von M. beigebrachten
Umstände die medicinisch-psychologische Beweisführung gegen die von
der J. behauptete partielle Amnesie nicht erschüttert.
IL Der Geisteszustand der J. von der Verurtheilung bis
zur Entlassung aus dem Spital.
Wie nicht anders zu erwarten war, entwickelte sich unter den
Aufregungen und Sorgen, Avelche der Strafprocess und die Verurthei-
lung mit sich brachten, bei der belasteten, durch frühere und neuer-
liche Krankheit noch mehr disponirten , schon lange nervenkranken
Persönlichkeit die Krankheit weiter.
Dr. M. attestirt, dass er die J. vom 10. December 1892 ab drei
Monate behandelt hat. Sie litt an Bronchialkatarrh, hochgradiger
Nervosität und Schlaflosigkeit. Zuweilen hatte sie auch heftige Kopf-
schmerzen und auffallende Gedächtnissschwäche.
Bei einer späteren Vernehmung ergänzt M. seine Aussagen dahin,
dass die J. in hohem Grade hysterisch war, d. h. sie hatte Nerven-
schmerzen, ihre Gemüthsstimmung wechselte sehr oft ganz unmotivirt.
Behauptete Amnesie und Unzurechnungsfähigkeit. 233
Die Z. berichtete dem Arzt von gelegentlichen Krampfanfällen und
deponirte, als Zeugin einvernommen, dass ihre Freundin schon zur Zeit
des Processes auf Vorladungen vergass, sodass sie daran gemahnt
werden musste. Aus dem Befund der Gerichtsärzte vom 20. Juni 1893
ergiebt sich deutlich das Bild einer hysterischen Neurose, mit allen
Uebertreibungen, welche dieser Krankheit eigentümlich sind.
Als Pat. bemerkt, dass sie auf die Gerichtsärzte einen ungünstigen
Eindruck macht und manche ihrer Aeusserungen, z. B. sie habe die
Erinnerung an die Miethaifaire und an die Gerichtsverhandlungen ver-
loren, ungläubig aufgenommen werden, geräth sie in wachsende Er-
regung, sodass die erfahrenen Aerzte von einer weiteren Exploration
abstehen und sie entlassen.
Im Hotel bricht ein hysterischer Krampfanfall aus, der von Prof.
v. W. bestätigt wird und temporäre Amnesie für die dem Anfall vor-
ausgehenden Begebenheiten hinterläßt, wie dies oft bei hysterischen
Krampfanfällen zu beobachten ist.
Pat. kommt nun auf die Xervenklinik des Grazer allgemeinen
Krankenhauses und verfällt in Geistesschwäche, die, nebst Gedächtniss-
losigkeit, noch am 6. September 1893 von Prof. v. W. constatirt wird.
Im Einklang mit den Darlegungen dieses Fachmannes lässt sich
dieser abnorme Geisteszustand, wie er bis Anfang September 1893 von
den Aerzten der Nervenklinik beobachtet und geschildert wurde, als
hysterische Geistesstörung bezeichnen. Teuer den seitherigen Verlauf
der Krankheit fehlt es an Mittheilungen, sodass der gegenwärtige Zn-
stand und die Frage der Heilbarkeit einer Beurtheilung sich entziehen.
HYSTERIA GRAVIS.
Hysteria gravis.
Oonhorectomia sinistra 1SS9 mit uutem Erfolg. Recidive.
Gastration 1892. Dauernde Genesung.
Eiu Beitrag zur Castrationsfrage bei Hysteria gravis und zur differentielleu
Diagnose organischer und functioneller Erkrankung vermittelst Hypnose.
Am 7. 7. 1888 erschien in meiner Sprechstunde eines Nervenleidens
wegen Frl. M. Z., 19 Jahre, Ungarin, in Begleitung ihrer Angehörigen.
Der Vater ist gesund, einer seiner Brüder leidet an Tabes, ein
anderer ist psychisch krank.
Die Mutter ist nervös. Sonst Hess sich in der Familie nichts Be-
lastendes ermitteln.
Pat, normal geboren, hat, ausser Scarlatina mit 9 Jahren, keine
schweren Krankheiten durchgemacht, grosse intellectuelle Begabung
gezeigt, ohne Besehwerden mit 14 Jahren ihre Menses bekommen.
Vom 15. Jahre ab war sie chlorotisch. litt viel an Cardialgie, Er-
brechen, kam körperlich dadurch herunter.
Mit 17 Jahren, nach einer Gemüthshewegnng, traten Lethargus-
anfälle auf, die bei der geringsten Emotion, namentlich aber menstrual
sich wiederholten und. trotz Wasserkuren, immer häufiger und protra-
hirter wiederkehrten. Intervallär grosse Eeizbarkeit, Emotivität. Eine
von einem hervorragenden Gynäcologen in Chloroformnarcose unter-
nommene innere Untersuchung constatirte negativen Befund.
Als eines Tages der 17', jährigen Tochter der Vater von der Be-
handlung in einer Heilanstalt sprach, reagirte diese darauf mit Hysteria
gravis (epileptoide Phase, grands mouvements). Die Anfülle dauerten.
mit kurzen Intervallen, durch 4 Wochen fort (stat. hystericus), während
238 Hysteria gravis.
welcher Zeit es nur durch Morphiuminjection möglich war, temporär
Kühe zu verschaffen und Nahrung zuzuführen.
Schon nach dem 1. Anfall hatte sich eine Streckcontractur in
der linken Ober- und Unterextremität entwickelt. Die Anfälle
kehrten, trotz fortgesetztem Morphingebrauch, anfangs stündlich, dann
mehrmals im Tage wieder.
Der Hausarzt versuchte nun Hypnose, erzielte durch blosses An-
blicken und Suggestion tiefes Engourdissement, vermochte die Contractur
der 1. OE. sofort zu beheben, die Anfälle auf einen binnen 2 Tagen zu
beschränken, war aber machtlos gegenüber der Dauercontractur in der
1. UE., die nach seiner Meinung mit einer 1. Ovarie in Beziehung stand.
Diese, sowie Contractur und Anfälle veranlassten die Familie,
meinen Rath einzuholen.
Stat. praes. vom 8. 7. 1888.
Mittelgrosse, zarte, leicht anämische, in der Ernährung herab-
gekommene Persönlichkeit, Vegetative Organe ohne Befund, Urin frei
von Albumen und Zucker.
Sensibilität und Sinnesorgane auf r. Körperhälfte, bis auf geringe
conc. Sehfeldeinschränkung normal.
Die Sensibilität 1. in allen Qualitäten von den Zehen bis zum
oberen Drittel des 1. Unterschenkels aufgehoben, von da bis über dem
Kniegelenk, ringförmig abschneidend, erhalten, weiter aufwärts auf
der ganzen 1. Körperhälfte herabgesetzt.
L. Amblyopie, Dyschromatopsie , bedeutende conc. Sehfeldein-
schränkung, Hypakusie, auch Geruch und Geschmack sehr herabgesetzt,
L. aufgehobener Scleral-, Gaumen-, Rachen-, Nasenreflex. Spinal-
irritation, 1. Ovarie, epigastrische Myodynie, klassische hysterische
Streckcontractur der 1. UE. Grosse Emotivität, Verstimmung, sehr
gestörter Schlaf.
Pat. tritt am 10. 7. in meine Behandlung ein (Nervenklinik).
Am 13. 7. erscheinen die Menses, zugleich mit heftiger Exacerbation
der 1. Ovarie und sofort sich anreihendem Anfall — kurze epileptoide
Phase, dann Lethargus mit allgemeiner Muskelstarre (Katochus), auf
starke Compression des 1. Ovariums behebbar. Nach Aufhören dieser
sofort wieder Lethargus, anscheinend mit Aufhebung des Bewusstseins.
Der Lethargus dauert durch die ganze menstruelle Phase an, ist
nur vorübergehend durch Morphininjection zu beseitigen. Episodisch,
aber zuweilen durch viele Stunden, complicirt er sich mit allgemeiner
Contractur (Starrkrampf); dem Eintreten dieser geht jeweils eine
kurze epileptoide Phase voraus.
Nach Aufhören der Menses und Cessiren des Anfalls, Versuch
Hysteria gTavis. 239
einer hypnotischen Behandlung, die nach Bernheim'scher Methode,
besser durch Stirnstreichen, bis zu Engourdissement gelingt und am
21. schon sich bis zu Somnambulismus vertiefen lässt. Die ersten
Tage löst der Hypnoseversuch jeweils Katochusanfälle aus, später
nicht mehr. Die Anfälle werden milder, seltener, Morphin wird ent-
behrlich. Bedeutende Besserung des Schlafes, Gewichtszunahme, Ver-
trauen in die Zukunft uud gute Stimmung, unter hypnotischer Suggestion,
dass Schmerz und Anfälle schwinden werden uud Genesung nur noch
eine Frage der Zeit sei, werden erzielt. Ganz refractär gegen hyp-
notische Behandlung erwiesen sich aber 1. Ovarie, Katochusanfälle und
Contractur der 1. UE. Die letztere lässt sich temporär durch cen-
tripetales Streichen am Fusse lösen. Centrifugales Streichen befördert
ihr Wiedereintreten. Deutliche Diathese de contracting an 1. UE.
Leidlich gutes Befinden in der Folge, aber die Zeit der Menses
ruft jeweils, unter Exacerbation der 1. Ovarie, die Katochusanfälle
wieder hervor, während sie intervallär selten und nur auf Gelegenheits-
ursachen (Ovarie, Emotion, besonders durch Lärm im Hause, der die
r. acustisch sehr hyperästhetische Pat. empfindlich afficirt, sich ein-
stellen.
Vom August ab zeigt sich sozusagen eine Dissociation der an-
scheinend combinirten Krampferscheinungen. Pat hat nun „leichte"
Anfälle (blosser Lethargus), die hypnotischer Suggestion vollkommen
zugänglich sind, von der Pat, unterdrückbar („ich darf nicht, ich will
nicht") sind und vollständig zum Schwinden gebracht werden — neben
„schweren" Anfällen (Lethargus +• allgemeine Contractur = Katochus),
die jeweils durch Exacerbation der Ovarie. sicher durch den menstrualen
Vorgang ausgelöst werden, sich dem Willen der Pat. und auch der
Suggestivbehandlung gegenüber vollkommen refractär verhalten, also
vermuthlich durch organischen Eeiz ausgelöst sind.
Eine unter dieser Voraussetzung wiederholt angebrachte Paqueli-
nisirung an der Stelle des 1. Ovariums, consequente galvanische Anoden-
behandlung daselbst, unterstützt durch Antipyrininjectionen. bessert
dagegen auffallend die „Ovarie", damit die Katochusanfälle und die
Contractur der 1. UE. Diese stellt sich Oct. 1888 nur mehr anlässlich
heftiger Exacerbationen der 1. Ovarie ein. Vom November ab gehen
auch die Menses ohne Katochusanfälle vorüber, während die von
blossem Lethargus schon längst beherrschbar geworden sind.
Am 16. 1. 1889 wird dem Heimweh der Pat. Rechnung getragen
und sie entlassen.
Der Status bei der Entlassung ergiebt: 1. Amblyopie, bedeutende
conc. Sehfeldeinschvänkung. partielle Dyschromatopsie, 1. Anacusie,
240 Hysteria gravis.
Anosmie. Ageusie, dissociirte Empfindungslähmung für Tast- und
Temperatursinn, bei bloss herabgesetztem Schmerzsinn, auf der ganzen
1. Körperhälfte bis auf einige sensible Inseln, Amyosthenie in 1. OE.
und UE., hochgesteigerte tiefe Reflexe in 1. UE. bis zu Fussclonus.
1. fehlende Scleral-, Gaumen-, Rachenreflexe, leichte Rigidität in 1.
Hüft- und Kniegelenk, minimale Empfindlichkeit in der 1. Ovarial-
gegend. Zwei Monate nach der Entlassung befand sich Pat. wohl,
zu Hause.
Dann stellte sich die 1. Ovarie wieder ein, mit ihr die Contractur
der 1. UE. und seit April 1889 die Anfälle.
Am 9. 5. 1889 kehrte Pat. in meine Behandlung zurück. Status
diesmal wie bei der Entlassung, jedoch verallgemeinerte Diathese de
contracture.
Bei neuen Hypnoseversuchen Rigidität in allen Extremitäten, die
aber suggestiv sofort zu beseitigen ist, bis auf die Dauercontractur
im 1. Bein. Diese ist refraktär, gleichwie 1. Ovarie- und Katochus-
anfälle.
Dieselbe Behandlung wie das erstemal. Lethargusanfälle werden
rasch beseitigt. Die Localbehandlimg (Paquelin, Galvanisation, Antipyrin)
leistet immer weniger, die Ovarie und die offenbar von ihr abhängigen
Katochusanfälle und die 1. Contractur treten immer mehr in den Vorder-
grund, nöthigen zu immer grösseren Morphininjectionen.
Unter diesen Umständen musste sich die Ueberzeugung auf-
drängen, dass jene Trias von Symptomen nicht functionell, sondern
organisch (chronische Oophoritis?) vermittelt sei. Die Möglichkeit
der Notwendigkeit einer 1. Ovarectomie wurde den Eltern und der
Pat. klargelegt und von den vertrauensvollen und vernünftigen Be-
theiligten die eventuelle Erlaubniss zur Vornahme einer solchen
Operation ert heilt.
Die Neurotherapie, speciell die Hypuotik hatte sich ungenügend
erwiesen. Res venit ad Gynaecologam.
Herr Prof. Börner in Graz machte am 24. 6. 1889 folgenden Be-
fund in Hypnose: Vaginalportion hochstehend, in der Kreuzbeinhöhluug ;
Muttermund etwas klaffend, Corpus uteri nach rechts gezogen, deutlich
anteflectirt, von normaler Grösse.
Rechtes ligam. latum verkürzt, weniger dehnbar und druck-
empfindlich. Rechtes ligam. sacrouterinum verkürzt, etwas derb,
druckempfindlich. (Abgelaufene Parametritis dextra et posterior).
Linke Douglas'sche Falte normal, linkes ligam. latum etwas ge-
dehnt, sonst normal.
Gegen den Douglas'schen Raum emporgehend, zwischen den ligam.
Hysteria gravis. 241
sacrouterina, ein anscheinend dem normalen Ovarium entsprechender
beweglicher, höchst druckempfindlicher Körper (r. Ovarium); nach links
davon, durch das 1. Scheidengewölbe das 1. Ovarium an normaler Stelle
tastbar. Bei dessen Berührung wird sofort ein (Katochus-) Anfall aus-
gelöst. Grobe Veränderungen an den Ovarien sind nicht zu constatiren,
aber das 1. Ovarium ist viel schmerzhafter, als das r. Druck löst
sofort zum 2. Mal einen Anfall aus."
Am 4. 7. 1889 Laparotomie durch Hrn. Prof. Börner: „Linkes
Ovarium in geringem Grade kleincystisch entartet aussehend und
etwas vergrössert, wird zusammen mit dem abdominalen Ende der
Tube in 2 Parthien unterbunden und abgetragen. Stiel versenkt.
Kechtes Ovarium, im Douglas adhärent, und in die Bauchwunde
gebracht, erweist sich anscheinend normal und wird reponirt."
Befund am exstirpirten 1. Ovarium (Prof. Eppinger): „Folliculitis
haemorrhagica chronica."
Der Verlauf der Operation und die Heilung Hessen chirurgisch
nichts zu wünschen übrig.
Gleich nach der Operation hatten sich noch 3 kurze Katochus-
anfälle gezeigt. Zugleich mit der Entfernung des 1. Ovariums war die
„Ovarie" sowie die Contractur der 1. ÜE. geschwunden und kehrte
nicht wieder.
Eine unangenehme, aber bei dem Fehlen jeglicher Temperatur-
steigerung gefahrlose Erscheinung war eine den ganzen Heilverlauf bis
Mitte Juli begleitende, offenbar hysterotraumatische diffuse Hyperalgesie
und hochgradige Schmerzhaftigkeit des ganzen Abdomen, wogegen, des
glatten Wundverlaufs wegen, Morphininjectionen nüthig waren. Diese
Hyperästhesie der Bauchdecken verlor sich bis zum 16. 7.
Pat. reiste im Gefühl völliger Gesundheit Anfang August 1889 heim,
aber bei der Entlassung bestanden die vor der Operation constatirten
Ausfälle der Sensibilität uud Sinnesempfindung links unverändert fort.
Bis Ende April 1891 erfreute sich Frl. Z. des besten Wohlseins.
Sie besuchte sogar Bälle, man gedachte sie zu verheirathen. Da ver-
spürte sie nach dem Heben einer Last einen heftigen Schmerz in der
Gegend der früheren Ovarie. fieberte etwas, wurde schlaflos, verstört,
appetitlos, litt viel an Erbrechen, kam rasch körperlich herunter. Der
Hausarzt sprach von Entzündung der 1. breiten Mutterbänder und ver-
suchte Antiphlogose ohne Erfolg.
Eine Consultation mit einem hervorragende- Gynäkologen kam
zur Wahrscheinlichkeitsdiagnose eines Entzündungsprocesses in den
Adnexen (Salpingitis?). Die verordneten Ichthyoltampons waren ohne
Eifolg. Mau musste wieder zu Morphininjectionen greifen. Im Sep-
Krafft-Ebing, Arbeiten 111. 16
242 Hysteria gravis.
tember 1891 stellten sich wieder Katochusanfälle ein und kehrten, bis
zu mehreren täglich, wieder. Pat. war schlaflos, wenn sie nicht
Chloral bekam. Gegen Schmerzen und Anfälle erwiesen sich nur
Morphiumiii j ectionen erfolgreich.
Anfang Februar 1892 kam Pat. zu mir nach Wien - äusserst
herabgekommen, anämisch, über furchtbare Schmerzen klagend. Be-
rührung der linken Ovarialgegend ruft sofort Katochus hervor; auch im
Anschluss an heftige Schmerzen daselbst treten im Tage mindestens
3—4 Anfälle auf. Dieselben dauern so lange, oft durch Stunden,
bis eine Morphininjection gemacht wird.
Die dringend verlangte Hypnose erweist sich quoad Eintritt und
Intensität der Schmerzen und der Anfälle ganz wirkungslos, sodass
nur Morphium, mit dem allmälig bis zu 0.18 pro die gestiegen werden
muss, den Zustand erträglich macht.
In den Anfällen ist das Bewusstsein aufgehoben. Nach dem Er-
wachen besteht jeweils Klage über heftigen diffusen Kopfschmerz.
Die Diagnose der Gynäcologen lautet unbestimmt; Hydrosalpinx
oder Neubildung wird vermuthet. Die wiederholte Sensibilitätsprüfung
ergiebt folgenden constanten Befund:
L. Hemianästhesie, mit Ausnahme der behaarten Kopfhaut, des
Halses, Nackens, der Innenseite des Oberarms und des Abdomens.
Passive Bewegungen der Finger und Zehen werden als Be-
rührung, solche im Kniegelenk gar nicht empfunden.
L. Conjunctiva, Nasen-, Lippenhälfte, Mundschleimhaut anästhetisch.
L. Anosmie und Ageusie. L. Gesichtsfeld stark concentrisch ein-
geschränkt, 1. Farbenblindheit. Mit verbundenem r. Auge vermag Pat.
nicht umherzugehen, ohne an Gegenstände anzustossen.
Am 27. 2. 1892 machte Herr Prof. Schauta die Laparotomie.
Der mir gütigst zur Verfügung gestellte Befund lautete:
„Nach Eröffnung der Bauchhöhle an den linken Adnexa, wo das
Ovarium fehlt, mehrere Darmadliäsionen in der Gegend des entfernten
1. Ovars, die stumpf leicht gelöst werden. Die Tube normal, wird
ligirt und abgetrennt. Die r. Adnexa, in Pseudomembranen im Becken
adhärent, werden stumpf losgeschält und vorgezogen. Ovarium,' mit
mehreren kleinen Cystchen durchsetzt, wird sammt Tube 2 Mal ligirt
und abgeschnitten."
Nach der Operation waren die Anfälle und das Morphiumbedürfniss
unverändert. Schon in den folgenden Tagen werden die Anfälle
schwächer, seltener (3 — 4 pro die), beschränken sich, trotz successiver
Verminderung der Morphindosen, auf 1 täglich. Seit 4. 4. kein Anfall
mehr. Nun gelingt die Morphiumentziehung rasch.
Hysteria gravis. 243
Der Heilungsverlauf der Wunde war ein glatter gewesen.
Mitte April wurde Pat, genesen entlassen. Die Sensibilitätsprü-
fung ergab beim Austritt unveränderte Verhältnisse.
Die in den folgenden Monaten eintreffenden Nachrichten besagten,
dass Pat. häufig an Kopfschmerz, Congestionen , Hitzegefühl, Herz-
klopfen, Beklemmungen, Reizbarkeit leide. Diese grossentheils mit
dem Klimax artificialis zusammenhängenden Beschwerden, gegen welche
Brom und Antipyrin gute Dienste leisteten, verloren sich bis zum
October 1892.
Frl. Z. erfreute sich seither, wie ich mich selbst anlässlich ihrer
Besuche überzeugen konnte, des besten Wohlseins und sah blühend aus.
Noch im Lauf des Spätherbstes 1895 constatirte ich jedoch in
der 1. UE. leichte Amyosthenie und etwas herabgesetzte Sensibilität
für Tast- und thermische Eindrücke.
Genitale Blutungen sind seit der letzten Operation nie mehr auf-
getreten. Seither habe ich meine frühere Patientin nicht mehr ge-
sehen (s. u.). Aus gelegentlichen Briefen derselben (zuletzt Sommer
1897) geht hervor, dass dieselbe sich vollkommen wohl befindet.
Epikrise: Der vorstehende Fall scheint mir für den Neurologen
wie den Gynäkologen gleich interessaut und geeignet , als Baustein
für eine zu schaffende Indicationslehre operativer Behandlung der
Hysteria gravis zu dienen.
Es handelte sich hier um ein complicirtes Nervenleiden, das bei
einer augenscheinlich hereditär Belasteten, in Folge eines psychischen
Shoks, entstanden schien und nach einer halbjährigen Dauer, durch
eine weitere heftigere Gemüthsbewegung. eine bedeutende Verschlimme-
rung erfahren hatte.
In dem reichen Symptomendetail des Krankheitsbildes erscheinen
Anfangs Symptome (Lethargusanfälle u. s. w.i, die einer psychischen
und medicamentösen Therapie sich zugänglich erweisen.
Bald aber stellt sich eine Trias von Erscheinungen (Dauercon-
tractur der 1. UE., Katochusanfälle. 1. Ovarie) ein, die einer solchen
Therapie gegenüber gänzlich refractär bleibt, menstrual jeweils exa-
cerbirt, Contractur und Katochuszustände erscheinen in Zusammen-
hang mit der Ovarie, indem sie jeweils durch Exacerbation dieser mit
hervorgerufen oder, wenn vorhanden, gesteigert werden.
Nur Anfangs gelingt es. nach örtlicher Behandlung der Ovarie,
diese Symptome zurücktreten zu lassen. Den Anstoss zu Zweifeln an
einer bloss i'unctionellen Begründung jener Symptome giebt der Miss-
erfolff der suggestiven Therapie, der bei der sonst doch schrankenlos
beherrsch- und beeinflussbaren Pat. höchst auffällig sein musste.
16*
244 Hysteria gravis.
Die gynäkologische Untersuchung ergab einen negativen Befund
hinsichtlich anatomischer Veränderungen am 1. Ovarium und konnte
keine Ermuthigung zur operativen Entfernung dieses Organs geben.
Immerhin bestärkte die Exploration wenigstens die klinische Annahme,
dass jene Symptome refiectorisch ausgelöst waren, insofern Druck auf
das überaus empfindliche Ovarium Katochusanfälle auslöste.
Die Operation, welche auf Andrängen des Klinikers unternommen
wurde, bestätigte diese Annahme und erfüllte vollkommen die auf sie
gesetzten Hoffnungen.
Unverhältnissmässig gering waren indessen die anatomischen Ver-
änderungen in dem exstirpirten Ovarium. Lässt doch Nagel (Archiv
f. Gynäkologie, Bd. 31, H. 3) nur die chronisch interstitielle Oophoritis
als eine solche gelten, während er die sog. chronische folliculäre oder
kleincystische Degeneration als einen noch physiologischen Zustand
ansieht, im Widerspruch mit Petitpierre (ebenda 35, H. 4), der ihn
für pathologisch hält.
Eine solche Frage mitentscheiden zu wollen, kommt dem Neuro-
logen nicht zu. Von grosser Bedeutung ist für ihn die Thatsache,
dass so geringfügige anatomische Veränderungen im Stande sind, so
weitgehende klinische Beactionen hervorzurufen.
Von dieser Erkenntniss zur Annahme, dass auch blosse sog. func-
tionelle Störungen in Ovarien die Ursache schwerer Nervenkrankheit
sein können, ist nur ein Schritt. Nur bei Belasteten dürften übrigens
solche geringfügige periphere Beize derlei Wirkungen entfalten können.
Der operative Erfolg in dem berichteten Fall rechtfertigt jeden-
falls bei solcher Aetiologie die Exstirpation eines gynäkologisch nicht
nachweisbar veränderten Ovariums und verlegt den Schwerpunkt für
die Entscheidung iu den klinischen Befund. Ein Misserfolg in einem
ganz analogen Fall, wo erst nach vieljähriger Dauer der Krankheit
operirt wurde, legte den Wunsch nahe, dass in solchen Fällen mög-
lichst frühzeitig zur Operation geschritten werde. Liegt es doch nahe,
zu vermuthen, dass nach längerer Krankheitsdauer eine analoge „Ver-
änderung", wie sie im Gehini des Epileptischen mit Kecht voraus-
gesetzt wird, sich auch bei Hysteria gravis herausbildet und dass
dann beliebige anderweitige Organe und Theile des Körpers spas-
mogen werden können und die Stelle der „Ovarie" dann spielen.
Nur sehr ausnahmsweise, und nur bei einer so überaus suggestiblen
Person, wie es meine Patientin war, wird der Misserfolg einer Sugge-
stivbehandlung, die ja doch nur functionelle Störungen beseitigen kann,
Hinweise auf eine anatomische Begründung von Krankheitserschei-
nungen gestatten.
Hysteria gravis. 245
Pat. hatte das Unglück, nochmals ein experimentum crucis ab-
geben zu müssen, insofern eine neuerliche Erkrankung, in Gestalt
einer 1. Adnexenreizung, den früheren Symptomencomplex hervorrief
und eine neuerliche Operation nöthig machte, bei welcher diesmal
beide Tuben und das mit mehreren kleinen Cysten durchsetzte rechte
Ovarium entfernt wurden.
Dieser radikalen Operation verdankte Pat. endlich ihre Erlösung
von qualvollem Siechthum und von drohendem Morphinismus.
Im Juni 1898 kam Pat. neuerlich in meine Behandlung wegen
eines schweren, angeblich nervösen Magenleidens.
Die Beobachtung und Untersuchung durch Autoritäten ergab, dass
es sich um ein Ulcus ventriculi handelte, nicht um Neurose. Neuro-
logisch wurde quoad hysteriam ein vollkommen negativer Befund con-
statirt, sodass die operative gründliche Beseitigung der früheren Neu-
rose über allen Zweifel erhaben ist.
Lippert & Co. (Gr. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
Date Due
Demco 293-5
Accession no.
574
Author
Krafft-Ebing,R.
Arbeiten . . .
Psychiatrie.
Call no.
19 th cent.
flC Sit.
v
W^ v
\
■ '•
v^V
Vi;.
£**■■ -
. ^T T * S ""'
*1 <*
4 >
'ZT '