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Full text of "Arbeiten aus dem Gesammtgebiet der Psychiatrie und Neuropathologie"

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YALE 
MEDICAL  LIBRARY 


HISTORICAL 
LIBRARY 


THE  GIFT  OF 

Dr.  CLEMENTS  C.  FRY 


ARBEITEN  AUS  DEM  GESAMMTGEBIET 

DER  PSYCHIATRIE  UND  X EUROPATHOLOGIE. 


ARBEITEN  AUS  DEM  GESAMMTGEBIET 


DEK 


l'SYOIHATRTE  UND XEÜROPATHOIJMJIE 


Vi  IN 


R  V.  KRAFFT-EBIXG. 


I.  HEFT. 


« 

LEIPZIG 
.JOHANN    AMBROSIUS    BARTH 

18Ü7. 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Uebersetznng,  vorbehalten. 


OCT1953 


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Inhalt. 


Seite 

1.  Ueber  transitorisches  Irresein  auf  neurasthenischer  Grundlage. 

Erster  Aufsatz  ......  .....        3 

Zweiter  Aufsatz  ...       16 

Dritter  Aufsatz,  Neue  Erfahrungen   über  Vesauia  transitoria   bei  Neur- 

asthenischen    . .  .81 

Vierter  Aufsatz,  Gerichtsiirztlichc  Gutachton        ....  .65 

2.  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose  79 

3.  Ueber  Hemicranie   und    deren   Beziehungen  zur  Epilepsie   und 
Hysterie  109 

4.  Ueber  transitnrische  Geistesstörung  bei   Hemicranie   .  133 

5.  Zur  Intermittens  larvata       .     .  .     .         ....         169 


Vorwort. 


Ks  sind  bald  zwei  Jahre  verflossen,  seitdem  der  Herr  Verleger  an 
mich  mit  dem  Antrag  herantrat,  in  seinem  Verlag  eine  Sammlung  meiner 
da  und  dort  in  Zeitschriften  zerstreuten  Abhandlungen  erscheinen  zu 
lassen.  Lange  zögerto  ich,  dieser  Aufforderuni:  1  -' . .  1  -_i ♦  -  zu  leisten.  Die 
Erfahrung,  dass  ich  meinen  Verlegern  so  manche  Anregung  zu  lite- 
rarischen Unternehmnngen  verdanke,  zu  denen  ich  proprio  motu  nie 
gelangt  wiire  und  nie  den  Muth  gehabt  hätte,  das  Beispiel  von  Möbius, 
dessen  auf  8.  160  des  1.  Heftes  Beiner  „neurologischen  Beitrage"  dar- 
gelegte Gründe  die  eigenen  verstreuten  Arbeiten  am  Abend  des  Lebens  zu 
sammeln,  all  Dies  bestimmte  mich,  wenigstens  einmal  Umschau  in  meinen 
Publicationen  zu  halten  und  sie  auf  ihren  Werft  oder  Unwerth  zu  prüfen, 
sei  weit  eben  Jemand  Richter  in  eigener  Sache  sein  kann.  Das  Facil 
war,  dass  sich  gar  Manilas  fand,  was  besser  ungeschrieben  geblieben 
wiire  und  im  Staub  der  Archive  auch  ferner  ruhen  mag.  Es  fand  sich 
aber  auch  Verschiedenes,  «las,  soweit  es  tatsächliches  Material  zum 
Aufbau  wissenschaftlicher  Lehren  enthält,  mehr  Würdigung  verdient 
hätte,  als  ihm  in  wenig  gelesenen  Wochenjoumalen  und  Bachzeitschriften 
zu  Theil  wurde,  endlich  gar  Vieles,  was  neuer  Fassung  und  Prägung 
vom  Standpunkt  fortgeschrittener  Wissenschaft  bedürftig  schien.  Mit 
dieser  Erkenntniss  wurde  mir  der  (iedanke  des  Herrn  Verlegers  zu  einem 
erwünschten  Impuls  und,  nicht  der  Noth  eines  gegebenen  Versprechens 
gehorchend,  sondern  eigenem  Trieb,  stellte  ich  mich  in  den  Dien-t 
seiner  Idee. 

Zur  Bedingung  machte  ich  mir  aber:  auf  dem  Boden  früherer  Arbeit 
und  Erfahrung  fassend,  zu  neuen  Gesichtspunkten  zu  gelangen  und 
früheren  Arbeiten  als  Neudruck,  bei  sorgfältiger  Auswahl  derselben  und 


VIII  Vorwort. 


in  historischer  Aufeinanderfolge  derselben,  den  neuen  Erwerb  aus  zum 
Theil  Jahrzehnte  langer  späterer  Beobachtung  anzugliedern. 

Das  vorliegende  1.  Heft  verfolgt  solche  Ziele  und  knüpft  an  längst 
erfolgte  Publicationen  auf  Erstlings-  und  Lieblingsgebieten  an. 

Ich  hoffe,  dass  Zeit  und  Kraft  ausreichen  werden,  um  diesem  Hefte 
weitere  folgen  zu  lassen  und  wünsche  nur,  dass  das  Neue  den  Unwerth 
des  Alten  aufwiegen  möge. 

Wien,  December  1896. 

Der  Verfasser. 


I. 

HEBER  TRANSITORIS«  II  ES 

IRRESEIN  AUF  NEURASTHENISCHER 

GRUNDLAGE. 


Erster  Aufsatz.*) 

(1883.) 

Eine  nicht  blos  durch  die  Verlaufsweise,  sondern  auch  durch  tiefe 
Störung  des  Bewusstseins  und  delirantes  Gepräge  etwa  vorkommender 
Störungen  des  Vorstellens  ausgezeichnete  Erscheinungsweise  des  Irre- 
seins stellt  das  sog.  transitorische  dar.  Verfaul  und  Symptome  weisen 
aui  intensive,  aber  rasch  sicli  ausgleichende  Störungen  der  Ernährung 
und  Circulation  des  (Jeliirns  hin.  Eine  nähere  ätiologische  Untersuchung 
läs-t  diese  transitorischen  Irreseinszustände,  sofern  sie  nullt  der  Aus- 
druck einer  acut  eingetretenen  Intoxikation  sind.  als  episodische  Krank- 
heitserscheinungen im  Rahmen  und  aui  Grund  einer  vor-  und  nachher 
bestehenden  Neurose  oder  Eimerkrankung,  und  somit  als  ein  sympto- 
matisches  Krankheitsbild  erkennen.  Diese  Auffassung  hat  klinisch  eine 
fruchtbare  Bedeutung,  indem  sie  nöthigt,  nicht  bei  dem  transitorischen 
Irresein  stehen  zu  bleiben,  Bondern  die  specielle  Neurose  oder  Birn- 
krankheit.  die  es  vermittelt,  nachzuweisen.  In  der  grossen  Mehrzahl 
der  falle  von  transitorischem  Irresein  gelingt  diese  Aufgabe,  und  am 
deutlichsten  zeigt  sich  die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  gegenüber  dei 
epileptischen  Neurose,  die  ja  so  überaus  häufig  transitorische  Irre- 
seinszustande herbeiführt  Gewiss  ist  mau  jedoch  neuerdings  in  dem 
Bestreben,  jene  auf  Epilepsie  zurückzuführen,  zu  weit  gegangen,  und 
eine  sorgfältige  Kritik  geboten.  Die  nachstehenden  Fülle  von  transi- 
torischem Irresein  erscheinen  auf  den  ersten  Blick  klinisch  als  epileptische, 
sind  es  aber  entschieden  nicht.  Statt  aui  dem  Boden  einer  epileptischen 
Neurose,  stehen  sie  auf  dem  einer  neurasthenischen,  stellen  den 
Culminationspunkt  in  der  Entwicklung  einer  solchen  dar.  Unter  der 
Annahme,  dass  sie  ein  nicht  unwichtiger  Beitrag  zur  Lehre  vom  transi- 
tei'ischen  Irresein  sind  und  auf  eine  bisher  nicht  weiter  beachtete  neu- 
rotische Disposition  zur  Entstehung  desselben  die  Aufmerksamkeit  hin- 
lenken, möge  ihre  Mittheilung  gestattet  sein. 

Beobachtung  1.     Stuporartiger  Dämmerzustand  mit  Angst. 

Victorine  H..  24  Jahre,  ledig,  Kammerjungfer,  kam  am  26.  April  1880 
aui  der  Grazer  Klinik  aber  Anordnung  der  Sicherheitsbehörde  zur  Aut- 
i  i:.tz.  „Irrenfrennd"  1883,  Xr.  8. 


4  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

nähme,  da  sie,  auf  der  Strasse  umherdämmernd,  auf  einer  Brücke  unter 
Umständen  aufgefunden  wurde,  die  vermuthen  Hessen,  sie  werde  sich 
ins  Wasser  stürzen.  Bei  der  Aufnahme  war  Patientin  in  einem  stupor- 
artigen  Zustand,  im  Bewusstsein  schwer  gestört.  Sie  schrie  ängstlich 
eine  "Weile,  blieb  die  Nacht  über  stieren  Blickes  auf  ihrem  Lager  sitzen, 
murmelte  vor  sich  hin:  „Dr.  P. .,  meine  Baronin." 

Am  27.  bleibt  sie  ängstlich  verstört,  mit  verworrener  Miene,  drängt 
ab  und  zu  schreckhaft  fort,  lächelt  dann  und  wann  und  antwortet  auf 
Fragen  nur  „Dr.  P.  .  meine  Baronin  —  fort  —  mein  Kopf." 

Patientin  ist  mittelgross,  kräftig  gebaut,  schlecht  genährt,  blutarm, 
der  Schädel  normal,  die  vegetativen  Organe  ohne  Befund.  Temp.  36,5. 
P.  88,  celer,  die  Arterie  eng  contrahirt. 

Nachmittags  wird  Patientin  etwas  besinnlicher.  Sie  giebt  an,  sie 
heisse  Yictorine  R,  habe  heftigen  Schmerz  und  Druck  im  Kopf,  Angst, 
könne  nicht  denken.  Mehr  vermöge  sie  nicht  zu  sagen.  Man  möge  sie 
nicht  allein  lassen.  Abends  hellt  sich  das  Bewusstsein  rasch  auf,  unter 
Vollerwerden  des  Pulses  und  Entleerung  grosser  Quantität  wasser- 
hellen  Urins. 

Die  Nacht  auf  den  28.  April  schläft  Patientin  gut.  Sie  ist  heute  ganz 
lucid,  aber  psychisch  sehr  erschöpft  und  ruhebedürftig.  Sie  will  am 
27.  Abends  wieder  zu  sich  gekommen  sein  und  aus  dem  Benehmen  der 
Leute  um  sie  gemerkt  haben,  dass  sie  in  einem  Irrenhause  sich  befinde. 

Patientin  stellt  erbliche  Anlage  und  frühere  derartige  Anfälle, 
Epilepsie,  Hysterie  in  Abrede.  Als  Kind  habe  sie  öfter  an  Fieber- 
anfällen gelitten.  Die  Entwicklung  ging  im  12.  Jahr  ohne  Beschwerden 
vor  sich.  Mit  16  Jahren  kam  Patientin  in  Dienste.  Menses  in  der 
Folge  regelmässig,  ohne  Beschwerden,  das  letztemal  vor  8  Tagen. 
Patientin  hat  im  Vorjahr  (1879)  in  Ungarn  3  Monate  lang  an  Inter- 
na ttens  gelitten.  Im  December  1879  will  sie  gesund  bei  Baronin  X.  in  Graz 
in  Dienste  getreten  sein.  Ihre  Herrin  erkrankte  schwer  im  Januar  1880 
und  genas  erst  im  März.  Patientin  war  deren  stetige  Wärterin,  kam 
etwa  6  Wochen  lang  in  kein  Bett  und  fast  gar  nicht  zum  Schlafen. 
Sie  verlor  den  Appetit,  kam  von  Kräften,  fühlte  sich  ganz  erschöpft 
und  hatte  obendrein  Verdriesslichkeiten  mit  einem  Bedienten,  der  ihr 
anfangs  zudringlich  war,  als  sie  ihn  abwies,  sie  chikanirte.  Durch  all 
dies  wurde  ihr  die  Stelle  unleidlich.  Sie  stellte  endlich  die  Alternative 
entweder  gehe  sie  oder  der  Bediente.  Undankbarer  Weise  wurde  ihre 
Kündigung  angenommen.  Das  kränkte  sie.  Sie  verliess  am  15.  April  den 
Dienst,  miethete  sich  ein  kleines  Zimmer  und  versuchte  es  mit  Näh- 
arbeit. Seit  Anfang  April  schon  verlor  sie  den  Schlaf,  und  konnte  nur 
durch  erschöpfende  Bewegung,  z.  B.  mehrstündiges  Umhergehen,  stunden- 


Erster  Aufsatz.  5 

lang  zu  Schlaf  kommen.  Sie  fühlte  sich  matt,  wurde  begriffsstutzig, 
vergesslich,  bekam  Zustände  von  ängstlicher  Beklommenheit  mit 
erschwertem  Denken,  Gefühl,  als  ob  sie  von  eisiger  Kälte  überrieselt 
werde.  Es  trieb  sie  dann  hinaus  an  die  frische  Luft  zu  gehen,  in 
welcher  ihr  besser  wrurde. 

Am  24.  April  war  sie  noch  in  Xähereiangelegenheiten  bei  ihrer  früheren 
Herrin.  Sie  fühlte  sich  verwirrt,  konnte  nicht  mehr  recht  denken,  kannte 
sich  nicht  mehr  recht  aus  und  meint,  dass  sie  bei  diesem  Besuch  schon 
etwas  verwirrt  gesprochen  habe.  Vom  24.  Abends  bis  zum  27.  Abends 
besteht  eine  Lücke  in  ihrem  Bewusstsein.  Sie  hat  nur  eine  traumhafte 
Erinnerung,  dass  sie  einen  Gottesdienst  besuchte,  und  dass  man  sie  mit 
(iewalt  irgendwohin  brachte. 

Patientin  ist  in  der  folgenden  Zeit  zwar  ganz  lucid,  aber  psychisch 
hochgradig  erschöpft  und  neurasthenisch.  Sie  ermüdet  sofort  körperlich 
und  psychisch  beim  Versuch,  sich  geistig  zu  beschäftigen,  klagt  über 
Begriffsstutzigkeit,  Ungeschicklichkeit  zu  Schneiderarbeit  aus  Un Voll- 
kommenheit der  Bowegungsanschauungen,  über  Unfähigkeit  sich  etwas  zu 
merken,  Benommenheit  im  Kopf  mit  pressendem  Gefühl  in  der  Schläfen- 
gegend, grosse  Muskolschwäche.  Herzklopfen.  Patientin  ist  anämisch, 
ächläfl  schwer  ein,  schreckt  leicht  .ml .  hat  schwere  Tnmine  von  Leichen 
und  dergl.  Ende  Mai  verlieren  sich  unter  roborirender  Behandlung 
allmälig  ilie  Symptome  cerebraler  Erschöpfung.  Patientin  findet  als  einzige 
Ursache  ihrer  acuten  Bewusstseinsstörung  Erschöpfung  durch  forcirte 
Krankenpflege.   Am  1.  Juni  wird  sie  genesen  entlassen  und  bleibt  gesund. 

Beobachtung  2.  Dammer-Tranmzustand  mit  Delirien  von  Standes- 
erhöhung, 

Am  12.  April  1.S81  wurde  l'aul  U..  37  Jahre,  Oberlehrer,  verheirathet. 
der  (irazer  psychiatrischen  Klinik  von  der  Sicherheitsbehörde  übergeben, 
da  er  in  dem  Palais  des  Statthalters  erschienen  war,  um  sich  als  neu- 
ernannter  Landesschulinspector  R .  .  k  beeiden  zu  lassen  und  gleich 
darauf  seine  Inspectionsreise  anzutreten.  Patient  kommt  ruhig,  anscheinend 
geordnet  zur  Aufnahme,  gerirt  sich  als  Landesschulinspector  R.,  giebt 
im  Tehrigen  seine  Generalien  richtig  an,  bedauert,  sein  Decret  daheim 
liegen  gelassen  zu  haben,  seine  Familie  werde  bald  nachkommen  und 
dasselbe  mitbringen.  Er  sei  heute  früh  nach  der  Schule,  in  der  Eile 
und  ohne  sich  zu  verabschieden,  mit  der  Bahn  nach  Graz  gefahren,  um 
sich  beeidigen  zu  lassen  (thatsächlich).  Patient  klagt  Schwindel.  Kopf- 
weh, greift  öfter  nach  dem  Kopf,  die  Apperception  ist  etwas  erschwert. 
die  Miene  verwirrt,  das  Bewusstsein  getrübt. 

Patient  ist  mittelgross,  schlecht  genährt,  fieberlos  (36,8 1,  die  Gegend 
der  grossen  Fontanelle  ist  etwas  eingesattelt,  die  linke  Pupille  ist  etwa- 


6  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

erweitert,  der  Gang  leicht  schwankend,  der  rechte  Mundwinkel  paretisch, 
die  Lippen  und  Hände  zittern  etwas.  Vegetativ  kein  Befund.  Patient 
ist  congestiv;  Potus  wird  in  Abrede  gestellt.  Die  Extremitäten  sind 
kühl,  Patient  klagt  über  Kälte  der  Füsse. 

Patient  bekommt  Bäder,  worauf  er  gut  schläft,  und  die  Congestiv- 
erscheinungen  und  motorischen  Störungen  sich  verlieren.  Er  ist  ruhig, 
wundert  sich  nur,  dass  man  ihn  nicht  auf  seinem  Posten  lässt,  lebt 
ganz  in  seinem  Wahn,  beschäftigt  sich  tagüber  mit  der  Tagesordnung 
für  die  nächste  Landeslehrerconferenz. 

Am  18.  April  nach  guter  Nacht  ist  er  lucid,  begreift  nicht,  wie  er  zu 
solchen  unsinnigen  Ideen  kam.  Es  kommt  ihm  vor,  wie  wenn  er  aus 
einem  Traume  erwacht  wäre.  Er  weiss  nicht,  wie  und  wann  er  her- 
gekommen. Er  erinnert  sich  nur  seiner  Abreise.  Von  da  ab  fehlt 
jegliche  Erinnerung  bis  zur  Aufnahme  auf  der  Klinik,  von  diesem  Zeit- 
punkt an  hat  er  eine  nur  ganz  summarische  Erinnerung.  Patient  ist 
peinlich  berührt  vom  Vorgefallenen,  fürchtet  für  seine  Stellung,  lässt 
sich  jedoch  beruhigen. 

Patient  stellt  erbliche  Anlage  zu  Nervenleiden,  frühere  Krankheiten, 
speciell  Epilepsie  und  Potus  in  Abrede. 

Im  Herbst  1880  habe  er  nach  grossen  Anstrengungen  im  Beruf 
begonnen,  sich  unwohl  zu  fühlen.  Er  habe  sich  matt,  erschöpft  gefühlt, 
nicht  mehr  so  leicht  gearbeitet,  sein  Gedächtniss  sei  nicht  mehr  so 
frisch  gewesen.  Er  habe  an  zunehmendem  Kopfdruck  gelitten,  sich 
über  Alles  gleich  aufgeregt.  Im  "Winter  habe  er  viel  Sorge  durch 
Erkrankungen  seiner  Kinder  gehabt,  durch  Nachtwachen  an  ihrem  Bett 
den  nöthigen  Schlaf  vielfach  entbehrt.  Sein  Schlaf  sei  von  Weihnachten 
ab  schlecht  geworden ,  unerquicklich.  Er  sei  oft  über  schweren  Träumen 
aufgeschreckt  und  habe  sich  dann  nicht  gleich  in  der  Wirklichkeit  zurecht 
finden  können.  Etwa  14  Tage  vor  dem  Ausbruch  der  Krankheit  habe 
er  sich  unter  Steigerung  des  Kopfdrucks  höchst  unbehaglich,  aufgeregt 
ängstlich  gefühlt.  Er  habe  es  im  Zimmer  nicht  mehr  ausgehalten  es 
habe  ihn  förmlich  getrieben,  im  Freien  herum  zu  laufen,  die  °anze 
Welt  sei  ihm  zu  eng  gewesen.  Etwa  10  Tage  vor  seiner  trän sitori sehen 
Psychose  habe  er  einen  „Ohnmachtanfall"  erlitten  mit  völliger  Bewusst- 
losigkeit.  Die  letzten  3  Nächte  vor  dem  Ausbruch  habe  er  schlaflos 
zugebracht,  heftiges  Kopfweh  und  das  peinliche  Vorgefühl,  irrsinnig  zu 
werden,  gehabt. 

Patient  erholt  sich  in  der  Folge  bei  gutem  Schlaf  und  roborirender 
Behandlung  rasch.  Ab  und  zu  klagt  er  noch  Schwindelgefühl  und 
bietet  leichtes  Zittern  von  Zunge  und  Händen.  Am  1.  Mai  1881  wird 
Patient  genesen  entlassen. 


Erster  Aufsatz.  7 

Er  fühlte  sich  ganz  wohl,  nahm  am  6.  Mai  seinen  Beruf  wieder  auf, 
ohne  einen  angerathenen  Urlaub  zu  nehmen.  Bald  verspürte  er  wieder 
Abgespanntheit  und  Abgeschlagenheit.  Die  Herbstferien  machten  Alles 
wieder  gut.  Im  November  kamen  wieder  neurasthenische  Beschwerden  — 
Mattigkeit,  Abgeschlagenheit,  Gedächtnissstumpfheit,  Kopfdruck,  ängst- 
liche Beklemmung,  besonders  nach  dem  Unterricht,  Schweissausbruch 
selbst  nach  geringer  körperlicher  und  geistiger  Thätigkeit.  Er  bekam 
im  Laufe  des  Winters  Angstanfälle  von  10'  Dauer,  eingeleitet  von 
ascendirenden  Hitzegefühlen  und  begleitet  von  Schweisa  und  Herz- 
klopfen. Seine  Träume  drehten  sich  um  Brand,  Feuer,  er  schreckte  oft 
auf,  fühlte  den  Kopf  eingenommen,  wie  wenn  er  einen  „ewigeu  Rausch" 
hätte.  Er  wurde  vergesslich,  zerstreut,  fand  Dienstarten  unerledigt,  die 
er  längst  erledigt  glaubte,  warf  einen  seiner  Schuleataloge  ins  Feuer, 
ohne  hinterher  zu  wissen  wie,  wann,  warum?  Sein  Dienst  wurde  ihm 
immer  beschwerlicher,  er  ertrug  nicht  mehr  die  gewohnten  massigen 
Quantität!'!]  Wein.  Auch  bei  Tag  stellten  sich  Angstanfälle  ein,  zuweilen 
eingeleitet  von  Funken- Farbensehen.  Er  fühlte  sieb  nach  solchen  immer 
ganz  abgeschlagen,  hatte  heftigen  Kopfdruck.  Vom  4.  Januar  USS2  an 
hatte  er  mehrere  Ohnmachtanfälle.  In  einem  derselben  wurden  klonische 
Krämpfe  im  rechten  Arm  und  Hein  beobachtet.  Niemals  Stupor  oder  Delir. 
Vom  L3.  Januar  ab  blieben  diese  Anlalle  aus.  Als  ich  Patient  am  10.  Juni 
1886  das  letztemal  sah,  bot  er  noch  leicht  neurasthenische  I  iesch  werden, 

Beobachtung  3.  Dämmer-Traumzustand  mit  Delirien  der  Standes- 
erhöhung. 

Am  II.  August  1882  wurde  Franz  II. ,  41  Jahre,  Stationsaufseher  an 
der  Hahn  aus  M.  auf  die  (irazer  psychiatrische  Klinik  gebracht,  da  er 
am  L2.  plötzlich  wahnsinnig  geworden  sei,  sich  für  den  Stationschei 
halte,  den  wirklichen  Smtionschei  von  seinem  Posten  verdrängen  wolle 
und  über  dessen  Weigerung  ihn  bedrohte. 

Patient  geht  verwirrt,  stieren  Blicks,  congestir,  zornig  erregt  zu.  ver- 
langt vor  die  Bahndirection  geführt  zu  werden,  da  er  Stationschei  sei. 
Fi-  gehöre  nicht  daher,  weiss  aber  nicht,  dass  er  im  Spital  i-t.  Er 
fühle  sich  ganz  gesund,  nur  mit  Recht  zornig  darüber,  da--  sein  froherer 
Vorgesetzter  ihm  nicht  den  Dienst  übergeben  wolle.  Er  mache  ihn 
verantwortlich  für  alles  Unheil,  das  daraus  entstehen  konnte.  Patient, 
ein  kleiner,  schlecht  genährter,  schwächlicher  Mann,  giebt  seine  Gene- 
ralien im  Uehrigen  richtig  an.  Er  ist  fieberlos,  ohne  nachweisbare 
Krankheit,  von  normalem  Schädel,  ohne  Degenerationszeichen,  sichtlich 
erschöpft,  vermag  sich  kaum  auf  den  Beineu  zu  erhalten.  Der  Puls 
ist  klein,  leicht  unterdrückbar,  frequent,  die  Hände  zittern  etwa-. 
Patient  schläft  bald   ein,   schläft  mit  Unterbrechungen  in  der  Nacht  aui 


8  Transitoriscb.es  Irresein  bei  Neurasthenie. 

den  15.,  ist  am  15.  zeitlich  und  örtlich  orientirt,  mimisch  ziemlich  frei. 
Er  hält  am  Wahn  fest,  Stationschef  zu  sein,  ist  ärgerlich  darüber,  dass 
man  ihn  hier  zurückhalte,  und  dass  der  frühere  Beamte  ihm  nicht  den 
Dienst  übergebe.  Vor  einigen  Tagen  habe  er  das  bezügliche  Decret, 
vollkommen  legal  verfasst,  daheim  im  Kasten  gefunden.  Sein  Name 
stand  deutlich  darin,  und  der  Passus,  er  müsse  seine  Stelle  sofort 
antreten.  Er  habe  nicht  weiter  darüber  nachgedacht,  wie  das  Decret 
in  seinen  Kasten  gekommen  sei,  und  dass  es  ihm  nicht  auf  dem  Dienst- 
weg gestellt  wurde.  Ohne  seine  Familie  von  seiner  Beförderung  zu 
verständigen,  sei  er  aufs  Bureau  gegangen,  um  den  Dienst  anzutreten. 
Da  habe  ihn  der  alte  Stationschef,  der  ihn  immer  schlecht  behandelt, 
ihm  arg  auf  den  Dienst  gepasst  und  ihn  oft  mit  Gageabzügen  bestraft 
habe,  grob  angefahren  und  ihm  die  Thüre  gewiesen.  Tief  gekränkt  sei 
er  fort,  habe  sich  bei  Bekannten  beklagt,  sei  dann  wieder  zum  Stations- 
chef, der  aber  immer  noch  nicht  den  Platz  geräumt  hatte.  Er  war 
darüber  sehr  aufgeregt,  rathlos.  Er  ging  heim,  erzählte  alles  der  Frau, 
diese  erklärte  ihn  für  einen  Narren.  Bald  darauf  kam  der  Bahnarzt, 
der  noch  nichts  von  der  Standeserhöhung  wusste,  und  suchte  ihn  zu 
beruhigen.  Von  nun  an  hat  er  nur  höchst  summarische  Erinnerung. 
Er  weiss,  dass  er  die  Nacht  auf  den  13.  schlaflos  zubrachte,  ärgerlich, 
erregt  und  ängstlich  war,  vor  neuen  Vexationen  Seitens  seines  früheren 
Chefs  sich  fürchtete,  sich  ganz  krank  vor  Kränkung  und  Aufregung 
fühlte,  nicht  essen  noch  trinken  mochte,  am  13.  von  einem  Bahnarbeiter 
spazieren  geführt,  am  14.  nach  Graz  gebracht  wurde,  wo  ihm  Alles 
ganz  fremd  erschien  und  er  sich  nicht  auskannte.  Freilich  habe  er 
auch  über  seine  Lage  nicht  weiter  nachgedacht. 

Am  15.  ist  Patient  ruhig,  aber  in  seinem  Wahn  befangen,  den  er 
damit  motivirt,  dass  die  Direction  wahrscheinlich  von  seiner  schlechten 
Behandlung  und  Nothlage  erfahren  habe  und  endlich  Gerechtigkeit 
walten  liess. 

Er  sei  nämlich  seit  21/2  Jahren  beim  angestrengten  Telegraphen- 
und  verantwortlichen  Bahndienst,  habe  je  2  Tage  11  Stunden,  den  3. 
24  Stunden  Arbeitszeit  und  nur  den  4.  als  Buhetag,  kleine  Gage,  grosse 
Familie,  sei  beständig  in  Nahrungssorgen,  lebe  schlecht,  sei  in  letzter 
Zeit  in  Schulden  gerathen  und  habe  obendrein  einen  ihm  aufsässigen 
Chef  und  übelwollende  Collegen. 

Anfangs  sei  Alles  gut  gegangen.  Seit  einiger  Zeit  habe  er  sich 
aber  matt  und  erschöpft  gefühlt,  sei  vergesslich  geworden,  reizbar,  oft 
ganz  begriffsstutzig,  so  dass  er  kaum  mehr  mit  der  verantwortlichen 
Arbeit  vorwärts  kam,  und  zu  Allem  habe  ihn  die  Sorge  gequält,  dass 
er  Verstösse  mache  und  Geldstrafen  dafür  erleide.    In  letzter  Zeit  habe 


Erster  Aufsatz.  9 

er  sich  besonders  müde  und  erschöpft  gefühlt,  oft  kaum  Zeit  zum  Essen 
und  Schlafen  gehabt,  zudem  sei  auch  der  Schlaf  nicht  erquicklich  gewesen. 

Am  10.,  nach  gut  durchschlafener  Nacht,  ist  Patient  ruhig,  anscheinend 
geordnet,  fragt  nach  seiner  Familie  und  bittet  mit  verlegener  Miene, 
ihn  nach  Hause  zu  lassen,  er  möchte  doch  nachschauen,  ob  es  mit 
seiner  Ernennung  richtig  sei.  Patient  fängt  an  Correctur  anzunehmen, 
und  Nachmittags  meldet  er  freudig,  dass  seine  „fixe  Idee"  von  ihm 
i.r<'\vichen  sei.  In  der  Nacht  auf  den  12.  habe  er  geträumt,  er  sei 
Stütionschef  geworden  und  das  bezügliche  Decret  liege  in  seinem  Kasten. 
Er  sei  freudigt  bewegt  aufgestanden,  habe  nicht  weiter  sich  vergewissert. 
(Unfähigkeit  des  erschöpften  Gehirns,  Traumerlebnisse  zu  corrigirenli 
Hätte  er  es  gothan,  so  wäre  es  nicht  BO  weit  mit  ihm  gekommen.  Der 
freundliche  Zuspruch  der  Aerzte  hier,  ihre  Einwendungen  hätten  ihn 
stutzig  gemacht  und  ihn  zur  Kritik  aufgefordert  Da  sei  es  ihm  end- 
lich heute  wie  Schuppen  von  den  Augen  gefallen.  Patient  stellt  erb- 
liche Veranlagung,  frühere  Krankheiten,  Potus  in  Abrede.  Für  Epilepsie 
finden  sich  auch  nicht  die  leisesten  Verdaohtgrttnde. 

Patient  macht  diese  Mittheilungen  kl;ir  and  besonnen,  aber  er  ist 
sichtlich  noch  erschöpft,  hat  einige  Muhe  seine  Gedanken  zu  sammeln 
und  zum  Ausdruck  zu  bringen.  I'ntor  gutem  Schlaf  und  reichlicher 
Krnährung  verliert  sich  diees  Symptom  eines  erschöpften  (lehirns  voll- 
kommen, und  am  20.  August  verlässt  er  genesen  das  Spital.  Obwohl 
ihn  daheim  die  alte  Lebonsnoth  traf  und  er  seinen  Dienst  verlor,  blieb 
er  psychisch  gesund  bis  zum  April  1883,  wo  er  mit  den  Symptomen 
eines  Delirium  alcoholicum  der  Klinik  wieder  zugeführt  wurde.  Der 
Unglückliche  hatte  in  der  letzten  Zeit,  um  Gram.  Sorge  und  Hunger 
zu  übertäuben,  sich  dem  Sehnapsgenuss  ergeben.  Kin  Aufenthalt  von 
11  Tagen  im  Spital  stellte  ihn  wieder  her, 

Beobachtung  4.     Stuporartiger  Dämmerzustand. 

Heinrich  St.,  30  Jahre,  ledig,  Lehrer,  fand  am  29.  .Januar  18S2 
Aufnahme  auf  der  (irazer  psychiatrischen  Klinik.  Patient,  aus  gesunder 
Familie,  ausgenommen  ein  seit  15  Jahren  bestehendes,  ausgebreitete 
Eczem  und  einen  schweren  Typhus  1870  immer  gesund,  von  streng 
solider  Lebensweise,  von  heiterem  Temperament,  ehrenwerthem  Character, 
guter  Begabung,  seit  S  Jahren  Volksschullehrer,  hatte  seit  3  Jahren 
sich  geistig  sehr  angestrengt  und  viele  unverdiente  Kränkungen  erfahren. 
l'ntci  Anderem  hatte  die  klerikale  Partei  den  freisinnigen  Mann  ver- 
folgt, ihn  denuncirt.  er  halte  die  Jugend  nicht  zur  Religion  an  und  habe 
ein  Schulmadchen  in  ananständiger  Weise  gezüchtigt  obwohl  bezüg- 
liche üisciplinaruntersuehuugen  seine  Schuldlosigkeit  glänzend  darthaten, 
«rar  8t  gleichwohl   doch   gemütblich   sehr  erregt     Er  klagte  wiederholt 


10  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

in  den  letzten  2  Jahren,  dass  er  in  diesem  beständigen  Kampf  gegen 
Missgunst,  Feindseligkeit  und  Dummheit  sich  geistig  und  körperlich  auf- 
reibe, alle  Lust  zum  Beruf  verliere,  sich  oft  zum  Unterricht  zwingen 
müsse.  Seit  August  1881  war  Patient  nahezu  schlaflos  geworden.  Er 
vertrieb  sich  die  schlaflosen  Nächte  mit  Studium,  literarischer  Thätig- 
keit,  fühlte  sich  matt,  müde,  oft  ganz  erschöpft,  leistungsunfähig,  fühlte 
Kopfdruck,  Zucken  in  den  Unterextremitäten,  Sensationen,  als  ob  mit 
einer  Bürste  ihm  unter  die  Beine  gefahren  werde,  litt  an  Ohrensausen, 
hatte  farbige  vibrirende  Kreise  im  Sehfeld,  die  die  Gestalt  änderten  und 
sich  in  bizarre  ornamentale  Figuren  verzogen.  Ende  November  1881 
war  die  Disciplinaruntersuchung  wegen  des  Schulmädchens  zu  Ende. 
Sie  endete  mit  einer  öffentlichen  Abbitte  seitens  der  Mutter  des  Mädchens, 
welche  dieses  infame  Gerücht  ausgestreut  hatte.  Das  genügte  seinem 
verletzten  Ehrgefühl  nicht.  Es  ekelte  ihm  vor  solchen  Menschen,  er 
glaubte,  seine  Existenz  nicht  mehr  ertragen  zu  können,  und  nachdem 
er  alle  seine  Angelegenheiten  geordnet,  verliess  er  am  15.  December 
ohne  Urlaub,  blos  mit  Hinterlassung  eines  Briefs,  in  welchem  stand,  er 
reise  ab,  sein  Domicil.  Er  weiss  noch,  dass  er  bis  Brück  fuhr,  von  da 
nach  St.  M.  zu  Fuss  ging.  Weiter  hat  er  aus  diesem  eigenthümlichen 
Dämmerzustand  keine  Reiseeindrücke.  Er  dämmerte  3  Tage  in  Ober- 
steier herum,  kam  nach  Graz  zurück,  sass  einige  Zeit  traumhaft  verloren 
im  Stadtpark,  erschien  dann  stuporartig  beim  Bruder,  sprachlos,  stier 
vor  sich  hinschauend.  Am  folgenden  Tag  war  er  lucid,  jedoch  matt, 
abgeschlagen,  klagte  Kopf  druck,  Unfähigkeit  zum  Denken  und  wusste 
nichts  von  den  Motiven  und  Erlebnissen  seiner  Reise.  Man  brachte  ihn 
zur  Mutter  aufs  Land.  Er  erholte  sich  etwas,  bot  geistig  nichts  Auf- 
fälliges, ausser  leichter  Erschöpfung  und  gereizter  Stimmung  über  seine 
Schicksale  als  Lehrer.  Am  4.  Januar  1882  machte  er  einen  Spazier- 
gang mit  seiner  Schwester.  Plötzlich  sagte  er  zu  dieser:  „jetzt  werde 
ich  dich  erschrecken"  Er  lief  ihr  davon,  lief  8  Stunden  weit  nach 
Graz,  bestieg  dort  die  Eisenbahn  mit  der  unbestimmten  Absicht,  nach 
Wien  zum  Unterrichtsminister  zu  gehen,  dort  Beschwerde  über  die 
Schulverhältnisse  zu  führen  und  um  Versetzung  zu  bitten.  Wann  diese 
Idee  unterwegs  in  ihm  aufdämmerte,  weiss  er  nicht.  Er  hat  nur  höchst 
summarische  Erinnerungen  von  dieser  Reise,  unter  Anderem,  dass  er  zu 
Fuss  über  den  Sömmering  ging,  in  Wien  angekommen  einen  lichten 
Moment  hatte,  das  Unsinnige  seines  Vorhabens  einsah  und  erkannte, 
dass  er  in  seinen  defecten  Kleidern  nicht  ins  Ministerium  gehen  könne. 
Er  sei  nun  planlos  in  einigen  Gassen  in  Wien  herumgelaufen,  habe  sich 
zu  Fuss  wieder  auf  den  Rückweg  nach  Graz  begeben.  Von  dieser  Rück- 
reise ist  ihm  nur  erinnerlich ,  dass  er  einmal  von  Gensdarmen  angehalten 


Erster  Aufsatz.  11 

dann  aber  wieder  losgelassen  worden  sei.  Am  21.  Januar  1882  kam 
er  stuporös  beim  Bruder  an.  ganz  wie  das  erstemal  sprachlos  und 
stier  vor  sich  hinschauend.  Er  schlief  lange  und  tief  in  Folge  seiner 
Erschöpfung,  stierte  unter  Tags  vor  sich  hin,  kam  nach  3  Tagen  wieder 
zu  sich,  wusste  sich  seine  Reise  nicht  zu  erklären. 

Vom  26.  Januar  ab  fing  Patient  wieder  an  schlecht  zu  schlafen.  Am 
28.  wurde  er  verstört,  drängte  wieder  motivlos  fort.  Als  der  Bruder, 
um  ihn  am  Fortgehen  zu  verhindern,  ihm  die  Kleider  wegnahm,  wurde 
er  zornig,  gereizt.  Am  29.,  bei  der  Aufnahme,  ist  Patient  in  einem 
Dämmerzustand.  Er  ist  über  seine  Lage  nicht  orientirt.  giebt  einige 
anamnestische  Details,  wird  aber  bald  psychisch  so  erschöpft,  dasa  er 
schwer  auffassl  and  nur  mühsam  die  Worte  findet.  Im  Hintergrund 
grosse  Gereiztheit,  bald  herrisch  barsches  hochfahrendes,  bald  kindisch 
weinerliches,  von  inneren   Vorgängen  absorbirtes  Wesen 

Patient  ist  gross,  schlank,  in  der  Ernährung  reducirt,  ohne  Degene- 
rationszeichen, ohne  Organkrankheit,  fieberlos,  ron  blasser  Gesichtsfarbe, 

ohne  motorische  oder  sensible  hinetion-^torungen.    Matter,  müder  moroser 

Gesichtsausdruck,  schlaue  Haltung.  Psychische  und  körperliche  Pro- 
ätration  Schlaflose  Nicht,..  Am  1.  Februar  wird  Patient  lucid,  klagt, 
das-  er  keinen  Gedanken  fassen  keime,  ganz  stumpfsinnig  sei,  eine  eigen- 
tümliche Leere  im  Kopf  habe,  einen  Druck  im  Kopl  verspüre.    Er  ist 

darüber   \erslimml.  gereizt 

Schlafmittel  versagen.    Durchleitung  galvanischer  Ströme  durch  den 

Kopf  (6 — 8  El.  Stöhrer)  bessern  den  Schlaf  Patient  erholt  sich  allmälig, 
klagt  aber  noch  einige  Zeit  über  körperliche  Mattigkeit  und  geistig 
erschwerte  Thötigkeit  mit  reaotiver  Verstimmung  bis  zur  Verzweiflung 
Bewusstseinstrübungen  kommen  nicht  mehr  zur  Beobachtung.  Unter 
Abreibungen,  Halbbädern,  allgemeiner  Faradisation,  Chinin  mit  Ergotin, 
schwinden  die  neurasthenischen  Beschwerden  Epilepsie,  bo  -ehr  dar- 
nach geforscht  wird,  ist  nicht  nachweisbar.  Am  28.  Februar  1882  wird 
Patient  genesen  entlassen. 

Beobachtung  5.     Stupor. 

Herr  P. .  45  Jahre,  Beamter,  ledig,  angeblich  ohne  erbliche  Aula-.-, 
von  Bandsbeinen  auf  nervös  erregbar,  solid  in  seiner  Lebensweise,  früh  t 
nie  schwel  krank,  war  in  den  letzten  Jahren  auf  Grand  von  dienst- 
lichen üeberanstrengungen  und  Widerwärtigkeiten  im  Dienste  -ehr  reiz- 
bar und  oft  über  geringfügigen  Anläse  erregt  gewesen.  In  den  letzten 
Wochen  de--  März  1881  war  er  dienstlich  sehr  angestrengt,  hatte  vieler 
Verdruss,  bekam  einen  Bfagencatarrh,  ass  sehr  wenig,  bekam  in  den 
letzten  Tagen  einen  fieberhaften  Bronchialcatarrh,  fühlte  sich  erschöpft, 
nuide.    Bchläfrig,    matt,    war   zerstreut,    vergass    Anordnungen,   die   er 


12  Transitoriscb.es  Irresein  bei  Neurasthenie. 

gemacht  hatte,  erschien  moros,  besorgte  aber  trotzdem  seine  Geschäfte 
und  legte  sich  nur  früher  als  sonst  zu  Bett,  ohne  jedoch  recht  den 
Schlaf  zu  finden.  Am  26.  März  erschien  er  ganz  zerstreut,  hatte  oft 
momentan  sonst  geläufige  Bewegungsanschauungen  ganz  verloren,  so 
dass  er  z.  B.  das  Oeffnen  einer  Schachtel  nicht  zu  Stand  brachte.  Am 
gleichen  Tag  Nachmittags  war  er  verstört,  unaufmerksam,  antwortete 
verkehrt,  dem  eigenen  Zug  der  Gedanken  folgend.  Er  murmelte  deutsche 
und  italienische  Worte  vor  sich  hin,  darunter  oft  das  Wort  „rallentando". 
Abends  6  Uhr  machte  Herr  P.  noch  einen  Geschäftsgang,  schrieb  auf 
demselben  ein  Billet.  Dasselbe  ist  confus  durch  abgebrochene  Sätze, 
verräth  stockenden  Gedankengang  durch  endlose  Wiederholung  von 
Worten  und  artet  schliesslich  in  ein  paragraphisches  Gekritzel  aus.  Um 
7  Uhr  wurde  Patient  auf  einer  Strasse  aufgefunden,  im  Begriff  sich  zu 
entkleiden,  offenbar  unter  dem  Gefühl  des  Schlafs  und  der  Erschöpfung 
und  in  der  Meinung,  er  sei  in  seinem  Schlafzimmer.  Er  wird  erkannt 
und  nach  Hause  gebracht.  Die  sofortige  ärztliche  Beobachtung  ergiebt 
Stupor,  bleiches,  verstörtes  Aussehen.  Patient  kann  sich  vor  Schwäche 
kaum  auf  den  Beinen  halten.  Er  weiss  nicht,  wo  er  sich  befindet, 
erkennt  nicht  die  ihm  wohlbekannte  Umgebung.  Patient  wird  zu  Bett 
gebracht,  bleibt  erschöpft  liegen,  schreckt  aber  bei  dem  leisesten  Geräusch 
zusammen.  Temperatur  36,4.  Puls  100,  klein,  leicht  unterdrückbar. 
Pupillen  erweitert,  träge  reagirend.  Häufig  verzieht  Patient  krampfhaft 
die  Gesichtsmuskeln,  besonders  links.  Das  linke  obere  Augenlid  hängt 
etwas  herab,  die  Zunge  ist  etwas  belegt. 

Die  Nacht  auf  den  27.  März  liegt  Patient  ruhig  und  erschöpft  da, 
nur  hie  und  da  ächzend.  Herztöne  etwas  dumpf  aber  rein,  Herzfigur 
normal.     Keine  Organerkrankung  nachweisbar.     Harn  ohne  Albumin. 

Patient  ist  heute  den  27.  noch  tief  erschöpft,  bleibt  ganz  unorientirt, 
findet  keine  Worte,  entbehrt  der  gewöhnlichsten  Bewegungsanschauungen. 
So  findet  er  zuerst,  als  man  ihm  Essen  bringt,  den  auf  der  Platte 
liegenden  Löffel  nicht,  greift,  auf  denselben  aufmerksam  gemacht, 
zitternd  daneben,  weiss  ihn,  als  man  ihm  denselben  in  die  Hand  giebt, 
nicht  zu  gebrauchen,  lässt  sich  dann  ohne  Widerstand  die  Nahrung  bei- 
bringen, erkennt  und  versteht  offenbar  gar  nicht,  was  um  ihn  vorgeht. 

Im  Laufe  des  Vormittags  wird  er  auf  Minuteu  etwas  besinnlicher, 
bittet,  Jemand  in  dringenden  Angelegenheiten  wohin  zu  senden,  weiss 
aber  nicht  wohin,  warum  u.  s.  w.,  vergisst  im  nächsten  Augenblicke, 
was  er  gewollt,  ersucht  dann  um  Ruhe,  er  schlafe  so  gut,  schläft  that- 
sächlich  viel. 

Die  Nacht  auf  den  28.  März  schläft  er  tief  und  ruhig  und  erwacht 
Morgens  ganz  lucid,  mit  völliger  Amnesie  für  Alles  seit  dem  26.  Nach- 


Erster  Aufsatz.  13 

mittags  Vorgfeallene.  Patient  ist  psychisch  noch  sehr  erschöpft  und 
ruhebedürftig.  Tremor  manuum.  Temperatur  36.  Puls  84,  tard. 
Acustische  Hyperästhesie,  die  sich  bald  verliert.  Patient  weiss  sich  nur 
zu  erinnern,  dass  er  sich  am  26.  sehr  unwohl,  erschöpft,  zerstreut, 
unklar  in  den  Gedanken  fühlte.  Die  Erschöpfungssymptome  verlieren 
sich  bei  Bettruhe,  gutem  Schlaf  und  reichlicher  Nahrungsaufnahme  in 
den  folgenden  Tagen.  Eine  mehrwöchentliche  Erholungsreise  stellt  die 
geschwächten  Kräfte  wieder  her  und  macht  Patienten  wieder  voll- 
kommen berufstüchtig.  Er  bleibt  gesund  b\<  mit  55  Jahren  an  Carcinom 
erfolgtem  Tode. 

Die  Aetiologie  der  vorstehenden  5  Fälle  ist  durchsichtig.  Es  handelt 
sich  um  unbelastete,  durch  Potus.  Trauma,  Lues  u.  s.  w.  nicht  complicirte, 
sicher  nicht  epileptische  Fälle,  bei  welchen  eine  Neurasthenia  cerebralis 
durch  geistige  oder  körperliche  Deberanstrengungen,  mehrmals  auch 
unter  dem  mitwirkenden  Einfluss  von  Gemfithsbewegungen  erworben 
wurde  und  dem  Ausbrach  des  transitorischen  Irreseins  woehen-  bis 
monatelang  vorausging  and  nachfolgte. 

Dieses  bildet  den  Culminationspunkt  eines  cerebralen  Erschöpfungs- 
zustands, der  auch  von  äusserliclien  Zeichen  der  Inanition  und  Erschöpfung 
begleitet  ist  (Tremores,  subnormale  Temperaturen  u.  s.  w.),  nach  offenbar 
den  Ausschlag  gobenden,  den  letzten  Kost  von  Spannkräften  aufzehrenden 
schlaflosen  Nächten  acut  eintritt  und  mit  Wiederherstellung  von  Schlaf, 
besserer  Ernährung  rasch  seine  Ausgleichung  findet. 

Die  Erschöpfung  des  psychischen  Organs  äussert  -ich  in  Trübungen 
des  Bewusstseins  bis  zur  „Bewusstlosigkeit",  mit  entsprechenden  Erinne- 
rungsdefecten,  in  Ausfallserscheinungen  sensorischer  Funetionsgebiete 
bis  zur  Aufhebung  der  Apperception  (Rindenblin<lheit  und  Taubheit), 
dem  Verlust  der  Sprach-  und  Bewegungsanschauungen.  Angst,  einzelne 
delirante  Vorstellungen  tauchen  in  diesem  stellenweise  bis  zu  Stupor 
sich  erstreckenden  geistigen  Erschöpfungszustand  auf  und  führen  zu 
traumhaften  verkehrten  Handlungen.  Interessant  ist  die  Congruenz  der 
sich  um  Standeserhöhung  drehenden  Delirien  in  Beobachtung  2  und  3, 
ferner  die  in  Beobachtung  3  sich  ergebende  Entstehung  der  betreffenden 
deliranten  Idee  aus  einer  Traumidee,  der  gegenüber  das  erschöpfte 
Gehirn  die  nöthige  Correctur  nicht  zu  üben  vermag;  gerade  wie  dies 
als  dauernde  Ausfallserscheinung  bei  dem  organisch  tief  veränderten 
Gehirn  der  an  Dementia  senilis  und  paralytica  Leidenden  gegenüber 
Traumyorstellungen  nicht  allzu  selten  vorkommt.  Mit  der  schwindenden 
Asthenie  kehrt  im  erwähnten  Falle  diese  Correctur  rasch  wieder.  TJeber 
das,  was  in  diesen  transitorischen  Dämmer-,  Traum-,  Stupor-  und  deli- 


14  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

ranten  Zuständen  im  Gehirn  vor  sich  ging,  lassen  sich  blos  Yermuthungen 
aufstellen.  Die  Annahme  eines  anämischen  Hirnzustandes  als  Ursache 
des  beobachteten  transitorischen  Irreseins  liegt  nahe  und  findet  in  den 
meist  erweiterten  und  träge  reagirenden  Pupillen,  den  Symptomen  theils 
allgemein,  theils  partiell  herabgesetzter  bis  aufgehobener  Function 
sensorischer,  psychischer,  motorischer  Rindengebiete  Stützen. 

Auf  eine  vasomotorische  Entstehungsweise  einer  solchen  Hirn- 
anämie, etwa  durch  Gefässkrampf,  weisen  im  Allgemeinen  der  kleine 
leicht  unterdrückbare  Puls  der  Kranken,  der  zudem  im  Fall  1  deutlich 
als  Krampfpuls  während  der  Höhe  des  Anfalls  sich  darstellt,  und  mit 
Lösung  des  stuporösen  Angstzustands  seine  krampfhafte  Qualität  ver- 
liert, hin. 

Die  beobachteten  Bilder  von  transitorischem  Irresein  entsprechen 
den  bekannten  des  epileptischen.  Trotz  aller  Mühe,  bei  den  5  Kranken 
epileptische  Antecedentien  heraus  zu  examiniren,  von  ihrer  Umgebung 
zu  ermitteln  oder  direct  zu  beobachten,  gelang  der  Nachweis  einer 
epileptischen  Neurose  gleichwohl  nicht,  wenn  auch  bei  einzelnen  der- 
selben, namentlich  bei  Fall  2,  das  Bestehen  sog.  epileptoider  Symptome 
zweifellos  war. 

Daraus  den  Schluss  auf  eine  epileptische  Bedeutung  des  Falls  zu 
ziehen,  dürfte  um  so  weniger  statthaft  sein,  als,  wie  jeder  Neuropathologe 
weiss,  epileptoide  Anfälle  (z.  B.  Angst  mit  Schweissausbruch ,  Anfälle 
von  Präcordialangst  mit  Erscheinungen  des  Gefässkrampfs,  Bewusstseins- 
störungen  bis  zur  Ohnmacht  mit  einzelnen  krampfhaften  Erscheinungen 
u.  s.  w.j,  alltägliche  Symptome  bei  den  verschiedensten  Nervenkranken, 
speciell  Neurasthenikern  sind,  wohl  auf  ähnlichen  Bedingungen  (regionäre 
Circulationsstö rangen  durch  Gefässkrampf?),  wie  bei  Epileptikern  beruhen, 
aber  gleichwohl  thunlichst  sorgfältig  von  eigentlich  epileptischen  Insulten 
zu  scheiden  sind.  Dass  sie  bei  Nervenkranken,  speciell  bei  Neurasthe- 
nikern, so  häufig  vorkommen,  erklärt  sich  wohl  aus  dem  labilen 
Gleichgewicht  vasomotorischer  Centren  und  Bahnen  und  deren  abnormer 
Anspruchsfähigkeit  auf  Reize  aller  Art. 

Gegenüber  den  geschilderten  Fällen  von  transitorischem  Irresein  auf 
Grundlage  einer  ne urasthenischen  Neurose,  erscheint  es  noth wendig,  in 
der  Diagnose  der  epileptischen  mit  grösserer  Vorsicht,  als  dies  im  Laufe 
der  letzten  Jahre  vielfach  zu  geschehen  pflegte,  vorzugehen  und  jene  nur 
als  gesichert  zu  betrachten,  wenn  klassische  oder  wenigstens  vertiginöse 
Insulte  anamnestisch  oder  durch  die  Beobachtung  sich  erweisen  lassen. 
Nicht  minder  erscheint  es  nothwendig,  auch  die  intervallären  Symptome 
beim  fraglichen  Epileptiker,  die  zahlreich  und  in  ihrer  Zusammenfassung  von 
nicht  geringem  Werth  sind,  im  Zweifelfall  in  die  Wagschale  zu  werfen. 


Erster  Aufsatz.  15 

Die  Ansicht  von  Samt,  dass  schon  aus  dem  klinischen  Bild 
psychischer  Anfälle  allein  ein  sicherer  Schluss  auf  eine  epileptische 
Grundlage  möglich  sei,  erscheint  mir  gewagt  und  nach  den  obigen 
Erfahrungen,  die,  bis  auf  geringfügige  Details,  den  bei  Epileptikern  vor- 
kommenden psychischen  Insulten  congruent  waren,  gleichwohl  aber 
Nichtepileptische  betrafen,  nicht  mehr  haltbar. 

Die  practische  Wichtigkeit  einer  differenriellen  Diagnose  zwischen 
derartigen  epileptischen  und  neurasthenisclien  psychischen  Insulten, 
bezüglich  der  Prognose,  Therapie  und  künftigen  socialen  Stellung  des 
Individuums  ergiebt  sich  von  selbst. 

Eine  klinische  Scheidung  muss  hier  mit  allen  ilitteln  angestrebt 
worden,  wenn  auch  sich  herausstellen  sollte,  dass  das,  was  im  epileptischen 
und  neurasthenisclien  Gehirn  gelegentlich  eintritt  iCirculationsstörungen, 
(iefiisskrampf  in  Hirnrindegebieten  >.  auf  deiche  Weise  zu  Stande  kommt. 

Intervallär  und  bezüglich  der  Wahrscheinlichkeit  einer  Wiederkehr 
solcher  Insulte  verhält  sich  das  Gehirn  de-  Epileptischen  und  des  Neur- 
asthenikers  jedenfalls  verschieden. 


Zweiter  Aufsatz.*) 

(1893.) 

Von  der  gewöhnlichen  Erscheinungsweise  der  Geistesstörung  im 
Sinne  einer  chronischen,  nach  Umständen  Monate  bis  Jahre  zum  Ablaufe 
bedürfenden  Krankheit  heben  sich  klinisch  scharf  peracute  Psychosen 
ab,  die  nur  Stunden  bis  Tage  dauern.  Sie  beruhen  jedenfalls  auf  rasch 
sich  ausgleichenden  Ernährungs-  und  Circulationsstörungen  des  Gehirns, 
bei  einer  dauernd  bestehenden  Veranlagung  oder  Gehirnveränderung, 
und  haben  demgemäss  für  den  Klinker  die  Bedeutung  symptomatischer 
episodischer  Vorgänge,  deren  ätiologische  Begründung  gesucht  werden 
muss.  Diese  Aufgabe  ist  wissenschaftlich  und  praktisch  eine  sehr 
bedeutungsvolle.  Die  occasionellen  Bedingungen  für  die  Entstehung 
solcher  transitorischer  Psychosen  sind  wesentlich  Ernährungsstörungen 
des  Centralorganes  durch  Intoxication  (Alcohol  und  andere  toxische 
Stoffe,  Infectionskrankheiten  u.  s.  w.)  oder  durch  plötzlich  eintretende 
Circulationsstörung  im  Gehirn  (vasomotorische  Neurose)  im  Sinne  des 
Gefässkrampfes  (Anämie)  oder  der  Gefässlähmung  (fluxionäre  Hyperämie). 
Der  erstere  Zustand  kann  durch  den  Affect  des  Schreckens  (Stupor, 
transitorische  Verwirrtheit,  Raptus  melancholicus)  direct  oder  auch  durch 
heftige  reflectorische  Erregung  (Neuralgie  —  Dysphrenia  neuralgica, 
Delirium  traumaticum  etc.)  hervorgerufen  werden. 

Der  entgegengesetzte  Zustand  verdankt  seine  Entstehung  nicht  selten 
dem  Affect  des  Zornes,  calorischen  Schädlichkeiten  u.  s.  w.  und  giebt 
zu  Erscheinungsbildern  der  sogenannten  Mania  transitoria  Anlass. 

Als  veranlagende  Bedingungen  ergeben  sich:  organische  Belastung 
und  neuropathische  Constitution  (originäres  labiles  Gleichgewicht  der 
vasomotorischen  Centren,  abnorme  Erregbarkeit  der  Ganglienzellen  der 
Hirnrinde),  erworbene  Invalidität  des  Ceutralorgans  durch  Trauma  capitis, 
überstandene  schwere  Hirninsulte,  bestehende  Centralerkrankungen 
(Alcoholismus  chronicus,  Lues  cerebralis  und  andere  Herdaffectionen), 
initiale  Psychosen,  z.  B.  Dementia  paralytica  und  centrale  Neurosen 
(Epilepsie,  Hysterie  u.  s.  w.). 


*)  Wiener  klinische  Wochenschrift  1891,  No.  50. 


Zweiter  Aufsatz.  17 

Das  zur  Beobachtung  gelangte  transitorische  Irresein  kann  geradezu 
eines  Hinweis  auf  solche  veranlagende  Bedingungen  darstellen,  nament- 
lich wenn  es  so  specifische  Symptome  aufweist,  wie  das  epileptische 
und  das  hysterische. 

"Während  die  Klinik  das  Vorkommen  und  typische  Detail  dieser 
letzteren  Formen  schon  längst  genauer  kennt,  ist  wenig  darüber  bekannt, 
dass  auch  auf  Grundlage  einer  Neurasthenie  transitorische  Psychose 
vorkommt.  Bei  dieser  mangelhaften  Kenntniss  des  transitorischen  nen- 
rasthenischen  Irreseins  liegt  die  Gefahr  nahe,  dass  dasselbe  mit  klinisch 
ganz  ähnlichen  Erscheinungsbildern  des  epileptischen  verwechselt  werde, 
ein  Umstand,  der  bezüglich  der  Prognose  und  der  Therapie,  namentlich 
aber  hinsichtlich  der  künftigen  socialen  Stellung  des  Individuums  ver- 
hängnissvoll werden  kann.  Umso  wichtiger  erscheint  es  bezüglich  der 
dift'erentiellen  Diagnose,  neben  dem  Detail  der  Symptome  des  Anfalles 
auch  den  intervallären,  sowie  den  ätiologischen  Bedingungen  die  grösste 
Aufmerksamkeit  zu  schenken. 

Beobachtung  6.  Transitoriscber  Angstzustand  ähnlich  einem  petit  mal. 

L,  34  Jahre,  Bahnwärter,  gelangte  am  19.  November  1879  auf 
der  Grazer  psychiatrischen  Klinik  zur  Aufnahme.  Vater  war  Potator 
strenuus,  Mutter  sehr  jähzornig.  Fünf  Geschwister  sollen  sehr  reizbare 
Nerven  haben;  ein  Bruder  starb,  1  I  Tage  alt.  an  Fraisen. 

Patient  ist  von  neuropathischer  Constitution,  hat  neuropathisches 
Auge.     Sein  Sohn  ist  an  Fraisen  gestorben. 

Er  selbst  war  von  Kindheit  auf  „nervenschwach",  litt  viel  an  Kopf- 
weh. Epileptische  Antecedentien  fehlen.  Nach  der  Militärzeit  kam  er 
1871  zum  Bahndienste.     Er  diente  zur  Zufriedenheit,  war  kein  Potator. 

Is72  litt  er  einige  Zeit  an  Febris  intermittens.  1875  mehrtägiger 
„Angstzustand"  Der  Arzt  constatirte  „Irresein  auf  epileptischer  Basis", 
erklärte  ihn  für  untauglich  zum  Bahndienste  und  für  gemeingefährlich. 
Patient  diente  gleichwohl  weiter  und  befand  sich  wohl  bis  zum  Sommer  1879. 

Da  kamen  Gemüthsbewegungen  bezüglich  einer  Erbschaft,  die  ihm 
streitig  gemacht  wurde.  Er  grübelte  viel  darüber  nach,  fing  an  schlecht 
zu  schlafen,  appetitlos  zu  werden,  bekam  Kopfdruck,  beständiges  Kälte- 
rieseln, fühlte  sich  abgeschlagen,  kaum  mehr  fähig  zum  Berufe,  Morgens 
nach  unruhiger,  durch  schreckhafte  Träume  unerquicklicher  Nacht  ganz 
matt.  Er  ass  immer  weniger  auf  Grund  von  Anorexie  und  Dyspepsie, 
die  Pfeife  Bchmeckte  ihm  nicht  mehr,  er  erschien  reizbar,  ärgerlich, 
verstimm  L 

Er  hatte  in  den  letzten  Nächten  fast  gar  nicht  geschlafen,  litt  an 
Kopfdruck,  fühlte  sich  ganz  matt  und  unbehaglich,  ass  fast  gar  nichts, 
empfand   vom    I.  November  Morgens  ab  ängstliche  Unruhe  und  fühlte 

Kr»  f  ft-Ebi  ii  ir.  .Weiten  I.  2 


18  Transitoriscb.es  Irresein  bei  Neurasthenie. 

sich  getrieben,  umher  zu  laufen.  Gegen  5  Uhr  Abends  liess  es  ihn 
nicht  mehr  auf  dem  Posten.  Er  ersuchte  einen  dienstfreien  Colleges 
ihn  abzulösen,  stellte  seine  Laterne  an  den  rechten  Platz,  „damit  kein 
"Unglück  geschehe"  und  lief,  von  Angst  getrieben,  in  der  Richtung 
gegen  seine  Wohnung.  Es  war  ihm  dabei,  wie  wenn  ihm  ein  Verfolger 
auf  den  Fersen  wäre.  Er  irrte  die  Nacht  über  herum,  kam  Morgens 
am  5.  verstört  heim,  ging  mit  der  Frau  zur  Kirche,  dann  zu  den  Eltern, 
ass  dort  etwas  Suppe,  fühlte  sich  darauf  etwas  leichter,  jedoch  sehr  matt. 

Nach  zweistündigem  Schlafe  Steigerung  der  Angst.  Es  kam  ihm 
die  Idee,  er  müsse  Steuer-  und  Gebetbuch  Jemand  entgegentragen,  der 
ihn  erlösen  werde.  Er  lief  mit  den  Büchern  fort,  kehrte  aber  nach 
einer  Viertelstunde  beschämt  zurück,  lag  nun  Stunden  lang  ermattet 
und  ganz  verwirrt  da,  entfloh  gegen  Mitternacht,  irrte  die  Nacht  auf 
den  6.  herum,  kehrte  im  Laufe  des  Vormittags  heim,  entwich  neuer- 
dings, wurde  eingeholt  und  ins  Krankenhaus  gebracht.  Er  war  dort 
noch  vier  Tage  ängstlich,  delirirte  von  Umbringen,  Gift  in  Arznei 
und  Essen. 

Am  11.  wurde  er  nach  reichlichem  Schlafe  ganz  lucid  und  gewann 
volle  Krankheitseinsicht. 

Die  Beobachtung  in  der  Klinik  ergab  ausser  leichter  psychischer 
Erschöpfung  keine  Symptome  geistiger  Abnormität  mehr,  wohl  aber 
noch  solche  von  cerebraler  Asthenie,  Dyspepsie,  Anämie,  gesunkene 
Ernährung,  herabgesetzte  Innervation  im  Gebiete  des  zweiten  und  dritten 
Astes  des  linken  Facialis.  Keine  Schädelabnormitäten,  keine  anatomischen 
Degenerationszeichen. 

Die  Erinnerung  für  die  fluchtartigen  Episoden  der  Krankheit  war 
eine  nur  summarische.  Patient,  der  seinen  überstandenen  Zustand  als 
„argen  Schwindel,  der  ihm  das  Bewusstsein  raubte,  verbunden  mit 
grossem  Angstgefühle"  bezeichnete,  erholte  sich  bis  zum  29.  November 
recht  befriedigend  und  wurde  genesen  entlassen.  Das  Gutachten  schloss 
Epilepsie  aus,  diagnosticirte  den  Fall  als  transitoriscb.es  neurasthenisches 
L-resein,  erklärte  einen  Rückfall  für  unwahrscheinlich.  Patient  wurde 
wieder  in  Dienst  gestellt  und  blieb  gesund. 

Beobachtung  7.     Transitorischer  Angstzustand  mit  Delirium. 

Herr  F.,  25  Jahre,  aus  schwer  belasteter  Familie  (Vater  leidet  an 
Folie  circiüaire),  Militär,  seit  mehreren  Jahren  in  Folge  von  Mastur- 
bation an  sexueller  Neurasthenie  leidend,  seit  einigen  Monaten  von 
Beschwerden  im  Sinne  allgemeiner,  besonders  cerebraler  Neurasthenie 
(Kopfdruck,  geistige  Hemmung,  Begriffsstutzigkeit,  Gedächtnissschwäche, 
unruhiger,  unerquicklicher  Schlaf  u.  s.  w.)  gequält,  hatte  am  6.  und 
7.    October    1880    sich    einer   für   sein    Lebensschicksal    entscheidenden 


Zweiter  Aufsatz.  19 

Prüfung  unterzogen.  Er  war  schlecht  vorbereitet,  zitterte  vor  dem 
Ausgange,  hatte  überdies  Sorgen  wegen  drückender  Schulden.  Schon 
während  der  Prüfungstage  hatte  er  sich  ganz  matt  und  im  Kopfe  confus 
gefühlt.  Er  half  sich  mit  übermässigem  Trinken  von  schwarzem  Kaffee, 
um  arbeiten  zu  können,  bestand  die  Prüfung  nicht,  war  darüber  sehr 
verstimmt,  schlief  die  folgenden  Tage  fast  gar  nicht.  Am  10.  October 
wurde  er  ängstlich,  verwirrt,  delirant.  Man  schickte  ihn  zu  den  Eltern 
heim.  Unterwegs  meinte  er,  er  sei  in  einem  Hofzuge,  man  halte  ihn 
für  einen  Mörder,  wolle  ihn  mit  Stricken  einfangen.  Er  wähnte,  er  sei 
der  Sohn  eines  1849  hingerichteten  Hochverräthers,  Hielt  den  ihn 
begleitenden  Officier  für  den  Kaiser.  Er  entfloh  seinem  Begleiter,  irrte 
planlos  herum,  wurde  von  der  Gensdarmerie  aufgegriffen. 

Am  12.  October  sah  ich  ihn.  Er  war  noch  leicht  verwirrt,  erschöpft, 
zeitlich  und  örtlich  nicht  orientirt.  Am  13.  war  er  lucid,  hatte  nur 
ganz  summarische  Erinnerung  für  die  Zeit  seines  Deliriums. 

Als  das  Delirium  kam,  sei  ihm  so  eigeuthümlieh  geworden.  Es 
war  ihm,  als  ob  man  ihm  im  Kaffeehause  Schlechtes  in  den  Kaffee 
gethan,  wenigstens  schmeckte  er  *o  eigentümlich  und  roch  ganz  sonderbar. 

Patient  bot  in  der  Folge  massenhafte  Erscheinungen  im  Sinne  der 
Neurasthenie,  genäse  allmälig  in  einer  Wasserheilanstalt.  Keine  Degene- 
ratiiinszeichen,  keine  epileptischen  Antecedentien. 

Beobachtung  8.    Transitorische  ängstliche  Verwirrtheit 

Herr  Z.,  35  Jahre,  Stationsvorstand  der  ...Eisenbahn,  stammt  von 
gesunden  Eltern.  Eine  Schwester  starb  durch  Suicidium  in  einer  Lauta- 
üonsmelancholie, 

Z.  war  früher  immer  gesund,  seit  1872  im  Bahndienste,  seit  1873 
verheirathet.  Schlechte  Ehe  durch  unverträglichen  Charakter  der  Frau, 
die  L884  davonging,  das  einzige  Kind  mitnehmend.  Dadurch  viele 
<ö  niüthsbewegungen.  Schwerer,  verantwortlicher  Dienst,  ungenügende 
Schlafzeit. 

Seit  Jahren  schlechter  Schlaf,  oft  gestört  durch  Aufschrecken  und 
Herzklopfen.  Seit  geraumer  Zeit  grosse  gemüthliche  Reizbarkeit,  seit 
einem  Jahre  neurasthenische  Beschwerden  —  Kopfdruck,  rasche,  geistige 
und  körperliche  Ermüdung,  grosse  Emotivität,  Dyspepsie,  Bulimie 
wechselnd  mit  Anorexie,  Herzklopfen,  Congestionen  zum  Kopfe  u.  s.  w.| 
und  Unlust  zum  Berufe,  der  nur  aus  Pflichtgefühl,  jedoch  pünktlich 
besorgt  wurde.     Massiger  Bierpotus. 

Am  13.  Juli  1885,  nach  angestrengter  Tagesarbeit  und  grosser  Hitze, 
hatte  sich  Patient  an  den  Honoratiorentisch  gesetzt  und  2 — 3  Glas  Biet 
getrunken.  Gegen  7  Uhr  wurde  ihm  plötzlich  eigenthümlich  bang,  wie 
wenn  er  verfolgt  würde. 


20  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Er  weiss  nur  noch,  dass  er  seinen  Ueberzieher  begehrte  und  den- 
selben weiss  angestrichen  haben  wollte.  Von  da  ab  Amnesie  bis  11  Uhr 
Abends,  wo  man  ihn  in  den  Zug  setzte  und  nach  Graz  brachte.  Da 
kam  er  plötzlich  wieder  zu  sich  und  fühlte  sich  ganz  matt. 

Patient  war  während  der  vier  Stunden  seiner  Geistesabwesenheit 
schreckhaft  verstört  gewesen,  blass  im  Gesichte,  habe  die  Umgebung 
verkannt,  ganz  verwirrt  vor  sich  hingesprochen,  öfter  davonzulaufen 
versucht. 

Auf  der  Reise  nach  Graz  war  er  noch  etwas  dämmerhaft,  bei  der 
Ankunft  auf  der  Klinik  (14.  Juli  Früh)  ganz  lucid.  Er  klagte  grosse 
Müdigkeit,  Kopfdruck,  schlief  unruhig,  hatte  schreckhafte  Träume  vom 
Irrenhaus,  Liegen  im  Sarge,  Känguruhs,  die  ihn  anschnaubten. 

Kräftiger  Mann,  Schädel  regelmässig,  vegetative  Organe  ohne  Befund. 

Keine  epileptischen  Antecedentien.  Aetiologisch  erscheint  nicht 
unwichtig  Abusus  nicot.  (8 — 10  Virginiacigarren  täglich).  Unter  Hydro- 
therapie und  allgemeiner  Faradisation  Schwinden  der  neurasthenischen 
Beschwerden. 

Patient  wurde  nach  14  Tagen  genesen  entlassen  und  soll  gesund 
gebheben  sein. 


Dritter  Aufsatz. 

Neue  Erfahrungen  über  Vesania  transitoria  bei  Neurastbenischen. 

(1896.) 

Beobachtung  9.*)    Dämmerzustand.    Delirium  der  Standeserhöhung. 

N.,  Geschäftsdiener,  20  Jahre  alt,  aufgenommen  16.  Juli  1893 
(Journ.-Nr.  13503),  stammt  von  sehr  neuropathischer,  zu  Melancholie 
geneigter  Muttor.  Eine  Schwester  litt  an  Chorea  und  ist  geistesschwach, 
2  weitere  Geschwister  sind  gesund. 

Patient  hat  nie  an  Fraisen  oder  anderen  Kinderkrankheiten  gelitten, 
ausser  Morbilli  mit  6  Jahren  keine  Bchweren  Krankheiten  durchgemacht. 
Kr  war  nicht  besonders  begabt,  kam  in  der  Realschule  nicht  fort,  war 
von  jeher  leicht  erregbar,  errüthete  leicht,  zitterte  bei  geringer  Auf- 
regung, war  alcoholintolerant,  kein  Potator,  sexuell  erregbar  und  bedürftig, 
kein  Masturbant,  etwa  ein  Jahr  vor  seiner  Erkrankung  abusiv  in  Venere. 

in  seiner  letzten  Stelle  war  er  überangestrcngt,  musste  täglich  bis 
1  Uhr  Früh,  arbeiten,  litt  seit  einiger  Zeit  an  oft  heftigem  Kopfdruck. 

Am  16.  Juli  hatte  Patient  wie  gewöhnlich  gearbeitet,  nichts  getrunken. 
Als  er  Mittags  12  Uhr  zum  Essen  heimging,  hatte  er  besondre  luftigen 
Kopfdruck.  Er  weiss  noch,  dass  er  sich  zu  Tisch  setzte  —  von  da  ab 
bis  21/.:  Uhr  Nachmittags,  ,  wo  man  ihn  weckte  und  einem  Arzt  vor- 
stellte, besteht  eine  Lücke  in  seiner  Erinnerung.  Die  Umgebung  ergänzt 
diese  Lücke  dahin,  dass  Patient  unauffällig  heimkam,  zu  Tisch  ging, 
als  das  Essen  gebracht  wurde,  es  von  sich  schob  und  erklärte,  das  sei 
für  ihn  zu  schlecht,  er  sei  ein  Graf.  Darauf  sei  er  aus  Fenster  gegangen, 
um  nach  einem  Wagen  zu  sehen,  der  auf  ihn  warte.  Er  verhielt  sich 
ganz  ruhig,  kannte  die  Angehörigen,  griff  sich  unter  Aeusserungen  von 
Schmerz  an  den  Kopf,  legte  sich  dann  zu  Bett  und  schlief,  bis  man 
ihn  aufweckte. 

Erwacht  war  Patient  ganz  lucid.  wusste  nichts  vom  Vorgefallenen, 
klagte  über  starken  Kopfdruck,  der  erst  Abends  im  Spital  aufhörte. 

*)  Beobachtungen  9    -12  aus  .Wiener  medicinische  Presse"  lS0<i,  Xr.  1. 


22  Transitorisckcs  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Auf  der  Klinik  kam  er  Nachmittags  ganz  geordnet  an,  konnte  nicht 
begreifen,  wie  eine  solche  Krankheit  über  ihn  gekommen  sei. 

Schädel  55  Cm.  Umfang,  im  Stirnbein  etwas  schmal,  abnorm  grosse 
Ohrmuscheln.  Patellarreflex  sehr  lebhaft,  Pupillen  gleich,  mittelweit, 
prompt  reagirend.     Leichter  Tremor  der  Finger. 

Vegetative  Organe  ohne  Befund. 

Nach  gut  durchschlafener  Nacht  am  17.  Juli  volles  Wohlbefinden. 
Genesen  entlassen  am  20.  Juli  und  seither  gesund  geblieben. 

Beobachtung  10.     Dämmerzustand.     Delirium  der  Standeserhöhung. 

H.  Josef,  Journ.-Nr.  6764,  18  Jahre  alt,  Schüler,  wurde  am  11.  April 
1893  auf  der  psychiatrischen  Klinik  im  Wiener  allgemeinen  Kranken- 
hause aufgenommen.  Patient  stammt  aus  gesunder  Familie,  hatte  keine 
Convulsionen  in  der  Kindheit,  machte  ausser  Morbilli  mit  4  Jahren 
keine  schwere  Krankheit  durch,  soll  keine  neuropathische  Constitution 
geboten  haben,  ein  ruhiger,  fleissiger  Schüler  gewesen  sein. 

Seit  Anfang  April  durch  übereifriges  Studium  angestrengt,  hatte  er 
in  den  letzten  Nächten  vor  dem  10.  April  fast  gar  nicht  geschlafen. 
In  der  Schule  war  er  durch  verstimmtes  hinbrütendes  Wesen  auf- 
gefallen, daheim  dadurch,  dass  er  wie  in  Gedanken  verloren  war,  öfter 
den  Faden  des  Gesprächs  verlor. 

Auch  sprach  er  einmal  von  einer  schlechten  Qualification  in  der  Schule. 

Am  10.  ging  er  wie  gewöhnlich  zum  Unterricht  um  2  Uhr 
Nachmittags. 

Gegen  Abend  gab  Patient  eine  Depesche  in  Pressbaum  an  seine 
Eltern  in  Wien  auf,  in  welcher  er  auf  einen  hinterlassenen  Zettel  auf- 
merksam machte.  Dieser  Zettel  wurde  gefunden  und  enthielt  die  Notiz, 
man  möge  ihm  verzeihen,  er  habe  mit  einem  Professor  einen  Zwist 
gehabt.  Auf  dem  Telegraphenamte  war  Patient  durch  sein  verstörtes 
Wesen  aufgefallen. 

La  später  Nachtstunde  wurde  Patient  planlos  in  den  Strassen  von 
Wien  herumdämmernd  aufgegriffen.  Er  brachte  die  Nacht  am  Commissariat 
zu,  erschien  am  11.  früh  dem  Polizeiarzt  blass,  zeitlich  und  örtlich 
sehr  mangelhaft  orientirt.  Er  wusste  nicht  anzugeben,  wo  er  sich  seit 
dem  10.  Nachmittags  herumgetrieben  habe,  behauptete,  er  sei  der  Kaiser 
von  China ,  seit  8  Tagen  auf  der  Reise  zum  Kaiser  von  Oesterreich,  um 
ihm  über  die  Zustände  in  China  zu  berichten.  *Er  hat  in  China  ein 
Gesetz  erlassen,  wonach  die  Gymnasialprofessoren  den  Schülern  Fünfer 
(schlechte  Noten)  nur  mit  Zustimmung  der  Schüler  geben  dürfen. 

In  solchem  Zustande,  verwirrt,  blass,  erschöpft,  wurde  Patient  am 

11.  Vormittags  auf  die  Klinik  gebracht.    Er  schlief  bald  ein,  schlief  bis 

12.  April.     Morgens   erwacht,    ist    er   zeitlich  und    örtlich  vollkommen 


Neue  Erfahrungen.  23 

orientirt,  lucid.  giebt  geordnet  Anamnese,  hat  summarische,  durch  Nach- 
hilfe an  Umfang  und  Detail  gewinnende  Erinnerung. 

Er  habe  in  den  letzten  14  Tagen  auf  das  Maturitätsexamen  über- 
mässig studirt,  sei  ganz  abgespannt,  von  Kopfschmerz  und  Augen- 
brennen geplagt  gewesen,  immer  aufgeregter  und  verwirrter  geworden, 
so  dass  seine  Mitschüler  sagten,  „Du  gehst  wie  ein  Verrückter'  Eine 
schlechte  Note  habe  ihm  den  Rest  gegeben,  ihn  sehr  aufgeregt.  Am 
10.  Nachmittags  habe  es  ihn  getrieben,  sich  auf  einem  Spaziergang  zu 
erholen.  Kr  habe  noch  einen  beruhigenden  Zettel  an  seine  Angehörigen 
geschrieben,  sei  planlos  fort.  Er  sei  ganz  in  Gedanken  verloren,  nur 
mit  der  Idee  beschäftigt,  die  schlechte  Note  zu  repariren.  herumgelaufen. 
Er  erinnert  sich  summarisch  seiner  mehr  als  8  stündigen  Wanderung  im 
Wiener  Wald.  Unterwegs  sei  ihm  der  Gedanke  gekommen,  Kaiser  von 
China  zu  sein  und  habe  er  sich  sofort  dafür  gehalten.  Als  er  auf  die 
Klinik  kam,  habe  er  noch  Hämmern  und  Stechen  in  den  Schläfen  ver- 
spürt und  ein  Gefühl,  als  ob  sich  das  Gehirn  von  dem  Schädeldache  loslöse. 

Patient  hat  normalen  Schädel  (Cf.  •">">  Cm),  gesteigerten  Patellar- 
reflex,  grosses  Ruhe-  und  Schlafbedürfniss.  Am  12.  April  hat  er  noch 
Mühe,  sich  an  die  Erlebnisse  des  früheren  Lebens  zu  erinnern.  Er 
erholte  sieh  rasch,  wurde  am  18.  April  genesen  entlassen  und  erfreute 
sieh  bei  einem  Besuche  auf  der  Klinik  am  27.  April  1893  des  besten 
Wohlseins. 

Meobachtung  1 1      TraumzuBtand. 

I\\,  15  Jahre  alt,  Schüler,  wurde  am  20.  December  1*9)  der 
psychiatrischen  Klinik  in  Wien  übergeben. 

Am  18.  December  war  er  aus  seinem  Domicil  in  der  Nahe  von 
Wien  fort  und  hatte  einen  Zettel  hinterlassen,  „ich  bin  nach  (i.  gegangen, 
am  den  Anzug  zu  holen".  Dieser  an  die  Adresse  der  Mutter  gelichtete 
Zettel  war  ganz  unverständlich. 

K.  war  auch  gar  nicht  nach  G.  gegangen,  sondern  in  Wien  herum- 
gedämmert, wo  ihn  am  20.  Vormittags  ein  Bekannter  trat.  Diesem 
erklärte  K.  auf  sein  Befragen,  was  er  denn  treibe,  er  sei  hier  in  Paris, 
im  Theater,  sei  mit  der  Flugmaschine  hergefahren.  Da  K.  so  eigen- 
thümlich  dreinschaute  und  offenbar  geistig  gestört  war,  wurde  er  der 
Polizei  zugeführt  und  von  dieser  der  Klinik  überstellt. 

K.  betritt  dieselbe  in  ganz  traumhafter  Verfassung,  örtlich  und  zeitlich 
vollkommen  desorientirt  Er  ist  heiterer  Stimmung,  behauptet  im  Theater 
in  Paris  zu  sein,  erklärt,  er  sei  ein  Mädchen,  heisse  Hans  Veronika, 
trommelt  ab  und  zu  mit  den  Fingern  auf  den  Tisch,  in  der  Meinung, 
spiele  Ciavier,  tritt  mit  den  Füssen  auf  den  Verbindungsbalken  der 
fischfüsse,  am  Orgel  zu  spielen,  isst  Bmd  und  hält  es  für  Chocolade. 


24  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Der  ihn  untersuchende  Arzt  scheint  ihm  ein  Schauspieler.  Er  ist  mit 
der  Flugm aschine,  die  so  rrrr  gegangen,  nach  Paris  gekommen,  es  mögen 
schon  einige  Jahre  her  sein.  Er  lauscht  hallucinatorischer  Musik,  fragt, 
ob  das  Theater  bald  anfange,  hält  einen  Krankenwärter  für  eine  auf- 
gezogene Puppe.     Seine  Eltern  kenne  er  nicht. 

Er  erinnert  sich  nur  dunkel  eines  Bruders,  der  Gustav  heisse- 
Das  Stück,  welches  im  Theater  aufgeführt  wird,  heisst  „Der  Gustav  ist 
frei  geworden" 

Patient  isst  und  schläft  ausgiebig,  bietet  körperlich  ausser  weiten 
Pupillen  und  gesteigerten  Patellarreflexen  nichts  Auffälliges,  äussert  ab 
und  zu  schmerzhaften  Kopfdruck,  verbleibt  in  seinem  Traumzustande 
bis  zum  25.,  wo  er  plötzlich  lucid  wird,  sich  im  Spital  zurecht  findet 
und  über  heftigen  Kopfdruck  klagt. 

Er  hat  eine  vollständige  Erinnerungslücke  für  die  Zeit  vom 
18. — 25.  December,  berichtet,  dass  er  seit  dem  30.  November,  an 
welchem  Tage  ein  geliebter  Bruder  wegen  des  Verdachtes  einer  Unter- 
schlagung im  Amt  verhaftet  wurde,  sich  sehr  kränkte,  wenig  schlief, 
sich  zunehmend  matt,  leidend  fühlte,  viel  an  Kopfdruck  litt  und  in  den 
letzten  Tagen  vor  dem  18.  December  oft  ganz  benommen  im  Kopfe  war. 

Tor  dem  30.  November  war  er  immer  wohl  gewesen,  hatte  nie  in 
potu  excedirt,  auch  nicht  masturbirt.  Er  stammt  aus  ganz  gesunder 
Familie,  war  aber  wenig  begabt,  hatte  geringe  Schulerfolge  und  soll 
bis  zum  10.  Jahre  gestottert  haben.  Er  hat  eine  Insuff.  valvul.  mitralis 
von  unbekannter  Entstehung. 

Am  30.  December  1894  wurde  Patient  genesen  entlassen. 

Beobachtung  12.     Traumzustand.     Teufelsvisionen. 

Am  18.  October  1893  wurde  Herr  X.,  Beamter,  am  Südbahnhof 
in  "Wien  wegen  bedenklichen  Geisteszustandes  angehalten  und  auf  die 
psychiatrische  Klinik  im  allgemeinen  Krankenhause  gebracht. 

Anlass  zu  seiner  Anhaltung  war  folgende  Beschwerde  an  die 
„Löbl.  k.  k.  Polizeiinspection:  Die  Südbahn  will  mir  einen  Expresszug 
nach  Paris,  woselbst  ich  mit  dem  Teufel  noch  heute  sein  soll,  nicht 
freiwillig  beistellen  und  habe  ich  schon  die  verflossene  ganze  Nacht 
darauf  ohne  Erfolg  warten  müssen.  Die  Löbl.  k.  k.  Polizeiinspection 
wolle  mir  deshalb  sofort  den  gewünschten  Eisenbahnzug  zur  Verfüguno- 
stellen lassen.  Die  Kosten  werden  eventuell  von  der  Gemeinde  gedeckt 
werden.  Achtungsvollst  ergebener  .  .  .,  derzeit  auf  der  Bereisung  mit 
dem  Teufel." 

Auf  der  Klinik  erscheint  X.  scheinbar  lucid,  ruhig,  geordnet  in 
Wirklichkeit  aber  in  tiefem  Traumzustand,  dämmerhaft,  zeitlich  und 
örtlich  ganz  desorientirt,  wünsch-  und  beschwerdelos,   ganz  affect-  und 


Neue  Erfahrungen.  25 

kritiklos,  einsichtslos  für  seine  Lage.  Er  ist  gut  genährt,  fieberlos,  hat 
normalen  Schädel  (Cf.  590  Mm.),  feinen  frequenten  Fingertrenior,  sehr 
weite,  prompt  reagirende  Pupillen,  lebhaft  gesteigerte  Patellarreflexe. 

X.  giebt  seine  Personalien  richtig  an,  erzählt,  dass  er,  unbestimmt 
wann  (thatsächlich  am  15.  October),  aus  seinem  Wohnorte  (Provinz  im 
Süden  von  Oesterreich)  zu  Fuss  fortgegangen  sei.  Bis  zu  diesem  Tage 
habe  er  regelmässig  im  Bureau  gearbeitet.  Da  habe  er  durchs  Fenster 
in  den  Garten  geblickt  und  den  Teufel  gesehen,  welcher  ihm  winkte, 
derselbe  sei  ihm  als  schwarze  zottige  Bocksgestalt  mit  Hörnern  erschienen. 
Er  habe  sofort  gemerkt,  dass  er  diesem  Folge  leisten  müsse.  Der  Teufel 
ging  und  tanzte  vor  ihm  her,  pfiff  dazu,  sprach  aber  nichts.  Ihm  folgend. 
sei  er  durch  die  Strassen  des  Ortes,  dann  auf  die  Laudstrasse  gekommen, 
einen  oder  mehrere  Tage  so  fortgegangen,  bis  .schliesslich  auf  einer  ihm 
nicht  mehr  erinnerlichen  Bahnstation  der  Teufel  auf  das  Dach  eines 
Waggons  gesprungen  sei.  Da  sei  er  mitgefahren  bis  Wien,  habe  eine 
nder  mehrere  Nächte,  ohne  den  Teufel  aus  dem  Auge  zu  verlieren,  am 
Südbahnhof  auf  einen  Extrazug  nach  Paris  gewartet,  da  er  der  Meinung 
gewesen,  der  Teufel  wolle  dahin  und  er  dürfe  ihn  nicht  entwischen 
lassen.  Mit  seinem  Begehren  abgewiesen,  habe  er  sich  an  die  Polizei 
gewendet,  dio  ihn  aber  hieher  (ins  Spital  i  brachte.  Auch  hierher  sei 
der  Teufel  mitgefahren,  er  sehe  ihn,  so  oft  er  zum  Fenster  blicke,  auf 
einem  Baume,  auf  ihn  wartend.  Er  möchte  endlieh  mit  dem  Teufel 
nach  Paris  fahren.  X.  lässt  sich  belehren,  dass  er  im  Spital  ist.  macht 
sich  nichts  daraus,  dass  er  als  Beamter  ohne  Urlaub  seinen  Posten  ver- 
lassen und  sich  von  seiner  Familie  nicht  verabschiedet  hat.  Er  fühlt  sich 
wohl  bis  auf  Kopfdruck.  Während  des  ganzen  Aufenthaltes  an  der  Klinik 
bis  zum  27.  Octobor  ist  Patient  affectlos,  mimisch  verschleiert,  herum- 
dämmernd. Alle  Kritik  fehlt  in  diesem  traumhaften  Zustand.  Er  kümmert 
sich  nicht  mehr  um   den  Teufel   auf  dem  Baume,   isst  und   schlaft   gut. 

Am  20.  kommt  X.'s  Vater.    Er  erkennt  und  begrüsst  ihn,  ohne  jedocl 
über  dessen  Besuch  verwundert  zu  sein  oder  nach  dessen  Grund  zu  fragen. 
Der  Vater  bringt  einen  von  X.  an  seine  Frau  gerichteten,  am  15.  October 
unterwegs  aufgegebenen  Brief  des  Inhalts,  er  müsse  dem  Teufel  nach- 
gehen, sie  möge  ihm  zu  Hilfe  kommen,  damit  er  des  Teufels  habhaft  werde. 

Patient  verbleibt  die  folgenden  Tage  in  seinem  traumhaften  Zustand, 
isst,  schläft  befriedigend,  klagt  häufig  über  heftigen  schmerzhaften  Kopf- 
druck. Der  Tremor  verliert  sich,  die  Pupillen  verengern  sich  etwas  und 
reagiren  prompter. 

Am  25.  kommt  des  Patienten  Frau  zum  Besuch.  Er  zeigt  leichten 
und  flüchtigen  Ausdruck  der  Freude,  verbleibt  aber  im  Uebrigen  dämmer- 
haft  und  sieht  noch  den  Teufel  auf  dem  Baume. 


26  Transitorieehes  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Am  27.  October  Früh  nach  gut  durchschlafener  Nacht  erwachte  X. 
lucid,  in  vollem  günstigen  Wohlsein,  über  seine  Lage  orientirt,  aber  in 
völliger  Unkenntniss  Alles  dessen,  was  ihm  seit  dem  Verlassen  des 
Bureaus  am  15.  October  passirt  war.  Nur  für  die  Tage  seit  dem 
21.  October  bestehen  einige  lebhaft  betonte  Erinnerungen,  z.  B.  der 
mehrmalige  Besuch  des  Vaters  im  Spital. 

Für  alles  Andere  —  Keise,  Vorgänge  am  Südbahnhof,  Aufenthalt 
im  Spital  —  besteht  vollständige  Amnesie. 

Er  erinnert  sich  nicht  einmal  an  die  Vision  des  Teufels  —  es  habe 
ihm  beständig  vor  den  Augen  geflimmert.  X.  fühlt  sich  vollkommen 
wohl,  bis  auf  Kopfdruck  und  Ohrensausen. 

Aus  seinen  und  seiner  Angehörigen  Mittheilungen  ergiebt  sich  hinsicht- 
lich seines  Vorlebens  und  der  Umstände   seiner  Erkrankung  Folgendes: 

X.,  37  Jahre  alt,  ist  hereditär  nicht  belastet,  jedoch  von  neuropathischer 
Constitution,  von  jeher  zaghaft,  leicht  gekränkt.  Er  lebte  in  glück- 
licher Ehe,  war  starker  Baucher  und  sehr  massiger  Trinker. 

Seit  längerer  Zeit  war  er  mit  Berufsgeschäften  überlastet  gewesen 
und  hatte  dazu  unangenehme  amtliche  Fersonalverhältnisse  gehabt.  Seit 
Monaten  war  er  unter  dem  Einfluss  dieser  Momente  neurasthenisch 
geworden.  Er  arbeitete  nicht  mehr  so  leicht  wie  früher,  hatte  eigen- 
thümliche  Angstgefühle  bei  der  Arbeit,  schlechten  unerquicklichen  Schlaf, 
schwere  schreckhafte  Träume,  fühlte  sich  Morgens  beim  Erwachen  ganz 
abgemattet.  Auch  plagten  ihn  Kopfdruck,  Sensationen  im  Kopf,  als  ob 
kein  Blut  darin  und  Alles  kalt  wäre. 

Im  Amte  hatte  X.  in  letzter  Zeit  öfter  die  Unterschrift  unter  aus- 
gefertigten Acten  vergessen,  im  Uebrigen  aber  keine  Verstösse  gemacht. 

Bis  zum  10.  October  war  er  seiner  Umgebung  völlig  gesund 
erschienen. 

Von  da  ab  hatte  er  fast  gar  nicht  geschlafen,  sich  Nachts  über 
Gepolter  beklagt,  wie  wenn  ober  ihm  getanzt  oder  Stühle  durcheinander- 
geworfen würden.  Auch  hörte  er  bei  Tage  ein  zirpendes  Geräusch, 
wie  von  Cicaden. 

Als  er  das  Bureau  am  15.  verliess,  habe  er  sich  ganz  verstört  im 
Kopfe  gefühlt.  Einigen  Bekannten,  denen  er  auf  der  Strasse  beim  Fort- 
gehen begegnete,  erschien  er  äusserst  wortkarg  und  in  seinem  Benehmen 
auffällig.  —  —  —  Am  27.  October  wurde  Patient  genesen  entlassen. 
Als  man  ihm  seine  Beschwerde  an  die  Polizei  wegen  des  Extrazuges 
nach  Paris  zeigte,  konnte  er  sich  vor  Erstaunen  nicht  fassen,  einen 
solchen  „Blödsinn"  geschrieben  zu  haben.  Er  ging  noch  ein  paar  "Wochen 
zur  Erholung  aufs  Land  und  kehrte  dann  im  vollen  Wohlsein  zu  seiner 
Berufsthätigkeit  zurück. 


Neue  Erfahrungen.  27 

Beobachtung  13.   Dämmerzustand  mit  Delirium  der  Standeserhöhuug. 

Am  6.  Mai  1896  wurde  G..  Lehrling,  19  Jahre,  der  Klinik  über- 
geben, da  er  sich  als  Präsident  der  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika 
gerirt  und  den  Kaiser  von  Oesterreich  zu  sprechen  gewünscht  hatte. 

Patient  betritt  die  Klinik  ruhig,  aber  verwirrt,  über  Zeit  und  Ort 
nicht  orientirt.  Er  weiss  sich  zwar  in  Wien,  identificirt  sich  aber  mit 
einem  Amerikaner,  copirt  ziemlich  gut  in  Haltung.  Gesten  und  Sprache 
einen  solchen. 

Er  erklärt  sich  für  den  Präsidenten  der  ü.  S.  Wie  lange  er  es 
sei,  wisse  er  nicht  anzugeben.  Auch  wie  und  warum  er  nach  Europa 
gekommen,  weiss  er  nicht.  Sein  Vorgänger  im  Amte  habe  Lincoln 
geheissen.  Die  Aufforderung  zu  schreiben,  unter  Anderem  eine  Pro- 
clamation  an  die  Amerikaner,  lehnt  er  ab,  mit  der  Motivirung,  er  habe 
heftiges  Kopfweh. 

Auf  die  Frage,  ob  er  Cleveland  kenne,  antwortet  er  mit  englischem 
Accent  und  die  Worte  wie  ein  deutsch  sprechender  Engländer  stellend  : 
„Cleveland,  ich  habe  gekannt,  ich  bringen  hier  eine  Zeitung  von  die 
Präsident1' 

Seinen  gerade  in  der  Klinik  als  Patient  itransirorisehe  Psychose) 
weilenden  Bruder  verwechselt  er  mit  einem  Freunde  R,  Verkehr  mit 
der  Umgebung,  über  die  er  auch  gar  nicht  rcfleetirt,  lehnt  <i.  ab  mit 
der  Erklärung,  der  Kopf  thue  ihm  so  weh.  Er  ist  blase,  bat  weite 
Pupillen,  gesteigerten  Patellarreflex.  normale  Temperatur,  sieht  ermüdet, 
erschöpft  aus,  hat  Bedürfniss  nach  Schlaf,  schläft  die  Nacht  auf  den 
7.  Mai  gut,  kommt  Morgens  am  7.  zu  sich,  erscheint  ganz  lucid,  hat 
nur  höchst  summarische  Erinnerung  dafür,  dass  er  nach  Amerika  zum 
Onkel  wollte,  heftigen  Kopfdruck  hatte,  fühlt  sich  schlaff,  abgeschlagen 
am  ganzen  Körper,  auch  sehr  ruhebedürftig. 

Patient  stammt  aus  schwer  belasteter  Familie.  Mutters  Vater  und 
dessen  Schwester  starben  in  der  Irrenanstalt.  Mutter  und  2  Schwestern 
derselben  leiden  an  Hemicranie,  überdies  an  Hysterie.  Der  Vater  des 
Patienten  war  mauvais  sujet,  Spieler,  beging  Unregelmässigkeiten  und 
musste  «regen  eines  Sittlichkeitsdelicts  seines  Amtes  entsetzt  werden. 

I'atient  war  als  Kind  nerv'is.  kränklich,  vom  9. —13.  Jahre  sehr 
der  Masturbation  ergeben,  von  da  ab  neurasthenisch,  viel  von  Kopf- 
druck heimgesucht.  Hysterische  und  epileptische  Antecedentien  sind 
nicht  zu  ermitteln. 

In  den  letzten  Monaten  dissolute  Lebensweise.  Viel  Verkehr  in 
Turfkreisen  und  mit  Amerikanern.  Schwärmerei  für  Amerika,  Pläne,  sich 
dort  eine  Zukunft  zu  gründen.  In  den  letzten  Tagen  vor  der  Erkrankung 
"rosse  Aufregung,  da  Patient  im  Widersprach  mit  seiner  bisher  tadel- 


28  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

losen  Redlichkeit,  die  Uhr  seiner  Schwester  entwendet  und  ver- 
setzt hatte. 

Die  Psychose  war  am  Morgen  des  6.  Mai  unter  heftigem  Kopfdruck 
plötzlich  eingetreten.  Patient  klagte  in  der  Klinik  noch  durch  2  Tage 
über  solchen,  erholte  sich  dann  vollkommen  und  wurde  nach  einigen 
weiteren  Tagen  genesen  entlassen. 

Beobachtung  14.     Dämmerzustand. 

J.  W.,  34  Jahre,  verheirathet,  Schriftsetzer,  seit  Jahren  wiederholt 
mit  Bleikolik  behaftet,  angeblich  unbelastet,  ohne  irgend  welche  neurotische 
Antecedentien,  kein  Potator,  wurde  von  seiner  Frau  am  20.  Juni  1895  als 
abgängig  bei  der  Polizei  gemeldet.  Am  23.  Juni  früh  33/4  Uhr  erschien 
er  bei  der  Wiener  Bettungsgesellschaft,  mit  der  Bitte  ihn  ins  Irrenhaus 
zu  bringen.  Er  war  lucid,  geordnet,  ruhig,  klagte  über  heftige  Kopf- 
schmerzen, als  ob  man  ihm  das  Hirn  herausreissen  würde  und  wusste 
über  seinen  Verbleib  seit  dem  20.  nicht  das  Mindeste.  Der  Klinik  am 
23.  früh  zugeführt,  gab  er  an,  dass  er  seit  1891,  wesentlich  wegen 
pecuniärer  Missstände  und  häuslicher  Zerwürfnisse,  leidend  sei,  sich 
matt  fühle,  viel  mit  schmerzhaftem  Kopfdruck  geplagt  sei,  unruhig  und 
unerquicklich  schlafe. 

Am  18.  Juni,  nach  einem  Streit  mit  seiner  Frau,  sei  er  vom  Hause 
fort,  zunächst  zu  Bekannten  nach  F.,  dann  nach  K.  Am  20.  Juni  kehrte 
er  nach  Wien  zurück,  hatte  heftigen  Kopfdruck.  Er  erinnert  sich  noch, 
dass  er  etwa  Nachmittags  2  Uhr  aus  dem  Abgeordnetenhause,  wo  er 
einer  Sitzung  beigewohnt  hatte,  fortging.  Was  weiter  mit  ihm  geschah 
bis  zum  23.  Juni  früh  3  Uhr,  wo  ihn  ein  Wachmann  an  der  Franzens- 
brücke (Wien)  ansprach,  ob  er  denn  sich  ins  Wasser  stürzen  wolle,  davon 
weiss  er  nicht  das  mindeste  zu  berichten.  Er  habe  damals  erkannt,  dass  es 
mit  ihm  nicht  richtig  im  Kopfe  sei  und  sich  deshalb  zur  Rettungs- 
gesellschaft begeben.  Patient  ist  schwächlich,  schlecht  genährt,  blass, 
hat  leichten  Bleisaum  am  Zahnfleisch,  ist  blass  mit  Stich  ins  Gelbliche. 
Die  Pupillen  sind  weit,  die  linke  weiter  als  die  rechte,  beide  prompt 
reagirend.  Patellarreflexe  sehr  leicht  auslösbar.  Ausser  heftigem  schmerz- 
haften Kopfdruck  keine  Klagen. 

24.  Juni  nach  gut  durchschlafener  Nacht  kein  Kopfdruck  mehr. 
Psychisch  normal.  Patient  wird  nach  einigen  Tagen  genesen  bis  auf 
leicht  neurasthenische  Beschwerden  entlassen. 

Beobachtung  15.     Dämmerzustand. 

Am  9.  Juli  1895  3  Uhr  Nachmittags  ersuchte  der  46  Jahre  alte 
Theaterbedienstete  Z.  einen  Wachmann  in  der  Nähe  der  Rotunde  im 
k.  k.  Prater  (Wien),  er  möge  ihn  zur  Excellenz  führen.  Er  müsse  mit 
dem  Herrn  wegen  eines  Vorschusses  reden,  den   man  ihm  verweigere, 


Neue  Erfahrungen.  29 

obwohl  er  mit  "Weib  und  Kindern  in  Nothlage  sei.  Aufs  Commissariat 
gebracht,  hält  Z.  den  Commissar  für  einen  Intendanten,  verlangt  zum 
Generalintendanten  geführt  zu  werden,  glaubt  sich  im  Theater,  im  Logen- 
rang, hält  den  Wachmann,  der  ihn  hergeführt,  für  den  Logenmeister, 
weiss  nichts  davon,  dass  er  im  Prater  war,  dass  man  ihn  daher  geführt. 
Den  Zweck  der  ärztlichen  Untersuchung  erkennt  er  nicht.  Sich  selbst 
überlassen,  starrt  er  vor  sich  hin,  in  Schweigen  versunken. 

Patient  geht  in  gleicher  Verfassung,  wie  auf  dem  Kommissariat,  der 
Klinik  zu,  kommt  aber  bald  nach  seinem  Eintritt  zu  sich,  erkennt  seine 
Situation,  schläft  einige  Stunden  in  der  Nacht  auf  den  10.  und  berichtet 
geordnet  und  lucid  am  10.  früh,  dass  er  am  9.  Juli  Mittags  in  der 
Theaterkanzloi  neuerdings  mit  einem  Gesuch  um  einen  dringend  nöthigen 
Gehaltsvorschuss  abschlägig  beschieden  worden  sei  und  dann  in  ver- 
zweifelter Stimmung  planlos  herumlief.  Er  weiss  nicht,  welchen  Weg 
er  genommen,  noch  überhaupt,  was  mit  ihm  von  etwa  1  Uhr  ab  bis 
Abends,  wo  er  in  dem  Spital  sich  wiederfand,  vorgegangen  sei. 

Er  vermag  auch,  als  man  ihm  alles  Geschehene  mittheilt,  keine 
bezüglichen  Erinnerungen  wachzurufen. 

Z.  ist  unbelastet,  frei  von  epileptischen  oder  hysterischen  Ante- 
cedention,  auch  kein  Potator. 

Er  bezeichnet  anstrengenden  Beruf  und  drückende  Familiensorgen 
als   die  Ursachen   einer  seit  Jahren   nachweisbaren  Berufsneurasthenie. 

Seine  Frau  berichtet,  dass  die  Familie  seit  Jahren  mit  den  drückendsten 
materiellen  Sorgen  kämpfe.  Sie  habe  schon  oft  gefürchtet,  dass  ihr 
Mann  unter  der  Last  der  Sorge  zusammenbreche.  Seit  2  Jahren  sei  er 
matt,  ernster,  mathlos,  von  Cephalaea  gequält  und  schlafe  schlecht  Er 
sei  Nachts  öfter  aufgesprungen  und  habe  ge>agt.  •■!•  müsse  sich  etwas 
anthun,  da  er  das  finanzielle  Elend  der  Familie  nicht  mehr  ertragen  könne. 

Die  letzten  Nächte  seien  ganz  schlaflos  gewesen.  Am  9.  habe  er 
über  heftigen  Kopfdruck  geklagt,  sei  sehr  aufgeregt  gewesen.  Die  neuer- 
liche Verweigerung  seiner  Bitte  um  Gehaltsvorschuss  habe  ihn  offenbar 
ausser  Band  und  Band  gebracht. 

Patient  wurde  am  10.  auf  seine  Bitte  entlassen,  nachdem  es  gelungen 
war,  für  die  nächste  Zeit  seine  finanziellen  Sorgen  zu  beheben. 

Beobachtung  lf>.     Dämmerzustand.     Suicidversuch. 

J.  B.,  47  Jahre,  verheirathet,  Tischlergehilfe,  sprang  in  der  Nacht 
vom  17.  auf  den  18.  October  1894  oberhalb  Wien  in  die  Donau,  schwamm 
dann  wieder  dem  Ufer  zu  und  begab  sich  in  das  Waclizimmer  einer 
Polizeiwache.  Er  war  dort  sehr  deprimirt.  klagte  über  Ruhelosigkeit, 
Selbst  vorwürfe,  Selbstmordgedanken,  Schwere  im  Kopf,  Mattigkeit,  Schlaf- 
losigkeit, Gedächtnissschwäche.    Er  erschien  zeitlich  und  örtlich  orientirt 


30  Transitoriscb.es  Irresein  bei  Neurasthenie. 

und  wurde  am  18.  früh  der  psychiatrischen  Klinik  übergeben.  Er  betritt 
sie  vollkommen  lucid,  klagt  über  obige  Beschwerden,  bietet  das  Bild 
eines  typischen  Zustands  cerebraler  Neurasthenie. 

Angeblich  unbelastet,  ohne  epileptische  und  hysterische  Ante- 
cedentien,  früher  kein  Potator,  sei  er  durch  widrige  häusliche  Verhält- 
nisse, Familien-  und  Existenzsorgen  schon  seit  geraumer  Zeit  matt, 
müde,  vermindert  leistungsfähig,  habe  schlecht  und  unerquicklich 
geschlafen,  Schwere  und  drückenden  Schmerz  im  Kopfe  verspürt. 

Wegen  Ausbleibens  in  der  Fabrik  sei  er  am  11.  October  1894 
entlassen  worden.  Subsistenzlos,  in  Sorgen  über  die  Zukunft  seiner 
Familie,  habe  er  Vermehrung  seiner  körperlichen  Beschwerden  verspürt, 
dazu  seien  Selbstvorwürfe  und  Selbstmordgedanken  bekommen.  Um 
seinen  Gram  zu  übertäuben,  habe  er  jetzt  angefangen  (geringe  Mengen) 
Schnaps  zu  trinken. 

Am  15.  October  sollte  er  eine  Arbeit  antreten.  Er  weiss  aber  nicht, 
wie  es  kam,  dass  er  nach  Leobersdorf  bei  Baden  fuhr.  Abends  kehrte 
er  nach  Wien  zurück,  übernachtete  im  Asyl.  Am  17.  ging  er  planlos 
nach  Klosterneuburg  und  kam  zu  sich  in  der  Donau. 

Für  den  15.,  16.  und  17.,  bis  zum  Gang  nach  KL,  hat  er  nur  ganz 
summarische  Erinnerung,  für  die  Zeit,  bis  zu  welcher  er  sich  in  den 
Wellen  wiederfand,  besteht  totale  Amnesie.  Im  Wasser  kam  er  zu  sich, 
rettete  sich  ans  Land  und  hat  von  da  an  ungetrübte  Erinnerung. 

Patient  bot  in  der  Klinik  ausser  geringen  neurasthenischen  Beschwerden 
keinen  Befund,  erschien  psychisch  vollkommen  im  Gleichgewicht  und 
wurde  am  25.  October  genesen  entlassen. 

Beobachtung  17.     Depressiver  Dämmerzustand.     Suicidversuch. 

Am  28.  Mai  1895  wurde  die  21  Jahre  alte  ledige  A.  S.  arretirt, 
weil  sie  sich  in  die  Donau  stürzen  wollte.  Sie  motivirt  ihr  Taed.  vitae 
mit  Stellenlosigkeit,  Schulden,  Unfähigkeit  für  ihr  Kind  zu  sorgen, 
Verstossensein  vom  Geliebten,  den  sie  in  einem  bei  ihr  gefundenen 
Brief  verflucht.  Die  S.  weint  heftig,  zerreisst  die  Kleider,  kommt  ver- 
stört auf  der  Klinik  an,  klagt  über  heftigen  schmerzhaften  Kopfdruck, 
führt  eine  Puppe  mit  sich,  die  sie  aus  Kleiderfetzen  sich  gedreht  hat.  Sie 
ist  verwirrt,  verlangt  nach  einem  Hölzchen,  um  damit  zu  spielen, 
behauptet,  sie  habe  den  babylonischen  Thurm  beim  Commissar  zurück- 
gelassen, glaubt  sich  in  einem  Gefängniss,  in  das  man  sie  gesteckt, 
weil  sie  3  Monate  für  ihr  Kind  nicht  mehr  gezahlt  habe.  Sie  kniet  ab 
und  zu  nieder  und  gesticuliert  mit  den  Armen,  wie  betend.  Sie  schläft 
ausgiebig,  ist  afebril,  ohne  Störungen  vegetativer  Organe.  Sie  behauptet, 
es  sei  der  15.  Mai,  ihr  Geburtsjahr  giebt  sie  mit  1873  an,  das  Kalender- 
jahr mit  1888.     Sie  behauptet,   der  Wachmann  habe  gesagt,  sie  müsse 


Neue  Erfahrungen.  31 

3  Monate  hier  im  Kerker  bleiben.  Sie  macht  unrichtige  Angaben  über 
Geburtsort  und  Schulbesuch,  richtige  über  Familie  und  Vita  anteacta. 
Sie  hat  vor  18  Monaten  geboren. 

Sie  erscheint  von  gehemmtem  theilnahmlosen  "Wesen,  zeigt  erschöpfte 
Miene,  seufzt  oft,  spricht  nur  auf  Befragen,  leise,  monoton,  ist  augen- 
scheinlich traumhaft  verloren. 

Die  Pupillen  mittelweit,  sehr  prompt  reagirend.  feinwelliger  frequenter 
Tremor  der  Finger,  Klagen  über  schmerzhaften  Kopfdruck,  Scheitelhöhe 
und  Wirbelsäule  sehr  druckschmerzhaft.     Puls,  celer  80. 

2.  Juni.  Andauernd  ganz  dämmerhaftes  Verhalten,  Eindrücke  der 
jüngsten  Vergangenheit  haften  nicht;  Pat.  ganz  reactiouslos  gegenüber  den 
Vorgängen  in  der  Umgebung,  seufzt  oft  auf.  glaubt  sich  im  Gefängniss. 

3.  Juni.  Heute  Nachmittag  wie  aus  einem  Traum  erwacht,  hat  nur 
vereinzelte,  unklare  Erinnerungen.  Ist  nun  lucid.  Von  jeher  schwäch- 
lich, nervös,  zu  Verstimmung  geneigt. 

Seit  der  Geburt  des  Kindes  vor  l'/8  Jahren  viel  Kummer,  Sorgen, 
VerlaBsensein  vom  Geliebten,  musste  wegen  Neurasthenie  Stelle  im  März 
als  zu  schwer  aufgeben,  fand  keine  entsprechende,  gerieth  in  Xoth. 

In  letzter  Zeit  in  Folge  von  Aufregung,  Sorgen,  Xothlage  sehr 
herabgekommen,  grosse  Mattigkeit,  andauernd  Cephalaea. 

Für  die  Dauer  des  Dämmerzustandes  besteht  absolute  Amnesie;  in 
koiner  Weise  wiedererweck  bare  Erinnerungsfähigkeit  Die  anfangs  vor- 
handen gewesenen  Erinnerungsspuren  sind  verschwunden.  Patientin 
erklärt,  diese  ganze  Episode  komme  ihr  vor  wie  ein  Traum,  den  man 
nach  dem  Erwachen  vergisst.  Der  Beginn  der  Amnesie  ist  nicht  schart 
festzustellen.  Schon  vom  20.  Mai  ab  fehlen  sichere  Erinnerungsbilder. 
Vom  23.  Mai  bis  zum  3.  .Juni  besteht  eine  vollkommene  Erinnerungslücke. 

Patientin  erholt  sieh  von  ihrer  schweren  Neurasthenie  im  Spital. 

Psychisch  bleibt  sie  frei.  Ihre  gedrückte  Stimmung  ist  physiologisch 
und  durch  ihre  traurige  sociale  Lage  wohl  motivirt. 

Hereditäre  Bolastung  nicht  nachweisbar,  aber  Cranium  rachiticum. 
Hysterische  und  epileptische  Antecedentien  fehlen.  Patientin  wird  Ende 
Juni  1895  genesen  entlassen. 

Beobachtung  18.     Dämmerzustand.     Selbstanklagedelirium. 

K.  H.,  41  Jahre,  Handelsmannsgattin,  aufgenommen  21.  December 
1893  in  der  psychiatrischen  Klinik  im  allgemeinen  Krankenhause  in  Wien, 
stammt  von  neuropathischen,  selir  reizbaren,  jähzornigen  Eltern.  Sie 
bot  dieselben  Anomalien  von  jeher,  war  nie  schwer  krank,  heirathete 
Ist*.»,  gebar  3  mal,  zuletzt  1890.  Zwei  Kinder  Leben.  Patientin  war 
sehr  angestrengt  im  Haushalt  und  Geschäft  und  hatte  durch  Kränkungen 
und   selbst  Mißhandlungen   seitens    ihres   Beit   .Jahren    zum    Trunkenbold 


32  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

gewordenen  Mannes  viel  auszustehen.  Sie  litt  sehr  darunter,  grämte 
sich,  verbrachte  meist  die  Nächte  schlaflos,  fürchtete  sich  vor  ihrem 
rohen  Manne,  hatte  Bangigkeit  und  Sorge,  wie  es  ihr  und  den  Kindern 
in  der  Zukunft  ergehen  möge.  Sie  wünschte  sich  und  den  Kindern 
in  verzweiflungsvollen  Stunden  oft  den  Tod,  dachte  auch  gelegentlich, 
ob  es  nicht  am  besten  wäre,  die  Kinder  und  sich  umzubringen,  im 
Jenseits  zu  versorgen. 

Pflichtgefühl  und  religiöser  Sinn  verscheuchten  aber  jeweils 
solche  Ideen. 

Bei  All'  dem  fühlte  aber  Patientin  ihre  Gesundheit  wanken.  Sie 
schlief  wenig,  unerquicklich,  wurde  matt,  müde,  abgeschlagen,  freudlos, 
hatte  fast  beständig  eingenommenen  Kopf. 

Am  19.  December  hatte  ihr  Mann  sich  wieder  einmal  besonders 
brutal  benommen,  so  dass  der  Patientin  Bruder  sie  vor  Thätlichkeiten 
schützen  musste.  Damit  war  der  bedauernswerthen  Frau  auch  die  Freude 
des  Christfestes,  zu  dem  sie  ein  paar  Gulden  für  die  Kinder  zusammen- 
gespart hatte,  vergällt  worden. 

Sie  schlief  die  Nacht  auf  den  20.  nicht  Als  ihr  Mann  am  20.  früh 
wieder  brutal  wurde,  entlief  sie  ihm  mit  ihren  Kindern,  brachte  diese 
bei  einer  alten  Frau,  einer  Bekannten  in  der  Nähe  von  "Wien  unter 
und  ging  dann,  offenbar  schon  nicht  mehr  recht  bei  sich,  ohne  klare 
Absicht  wieder  fort.     Sie  scheint  herumgedämmert  zu  sein. 

Am  20.  December  erschien  sie  auf  einem  Polizeicommissariat  in 
Wien  mit  der  Angabe,  Vormittags  gegen  10  Uhr  ihren  beiden  Kindern 
mit  einem  Rasirmesser  ihres  Mannes  den  Hals  abgeschnitten  zu  haben. 
Die  Ursache  dieser  That  sei  eheliches  Unglück  und  Unfriede.  Nach 
verübter  That  sei  sie  davon  gelaufen,  um  sich  in  der  Donau  zu  er- 
tränken. Sie  habe  es  unterlassen,  da  sie  nicht  sicher  wisse,  ob  die 
Kinder  wirklich  ihren  Verletzungen  erlegen  seien.  Die  polizeilichen 
Erfahrungen  ergaben,  dass  die  Kinder  unverletzt  und  wohl  daheim  seien. 

Da  die  Mutter  verworren  und  geistesgestört  schien,  wurde  sie  vom 
Polizeiarzt  untersucht. 

Sie  erschien  verstört,  zitterte,  beharrte  bei  ihrer  Selbstanklage  und 
motivirte  ihre  vermeintliche  That  damit,  dass  sie  nach  ihrem  Tod  die 
Kinder  nicht  dem  brutalen,  trunksüchtigen  Vater  habe  überlassen  können. 
Sich  selbst  überlassen,  starrte  sie  vor  sich  hin,  ohne  von  dem  um  sie 
Vorgehenden  Notiz  zu  nehmen. 

Sie  erschien  zeitlich  und  örtlich  desorientirt,  wusste  auch  die  Details 
ihrer  angeblichen  That  nicht  anzugeben. 

Bei  der  Aufnahme  in  der  Klinik  am  21.  December  Abends  derselbe 
Status.   Sie  weiss  noch  von  ihrer  That,  nichts  mehr  aber  von  Selbstanzeige, 


Dritter  Aufsatz.  33 

Vorgängen  auf  dem  Commissariat,  ist  zeitlich  und  örtlich  nicht  orientirt, 
klagt  über  schmerzhaften  Kopf  druck. 

Am  22.  nach  mehrstündigem  Schlaf  äussert  sie  Zweifel,  ob  sie 
wirklich  den  Kindern  den  Hals  abgeschnitten  habe  und  vermag  sich 
nicht  zu  orientiren,  da  sie  nur  ganz  fragmentare  Erinnerung  von  den 
Erlebnissen  des  Vortages  besitzt. 

Sie  erinnert  sich,  dass  der  Bruder  sie  vor  dem  Mann  schützen  musste, 
dass  sie  mit  den  Kindern  fort  sei,  zu  einer  „tauben"  alten  Frau,  die 
vom  Verbrechen  nichts  hören  werde.  Von  allem  Folgenden  weiss  sie 
heute  nichts  mehr.  Sie  glaubt  sich  seit  14  Tagen  von  Hause  fort. 
Patientin  in  Ernährung  reducirt,  Pupillen  über  mittelweit,  prompt  reagireml. 
Scheitelhöhe  sehr  druckempfindlich  und  auch  spontan  Sitz  schmerzhaften 
Druckgefühles.     Geistig  erschöpftes,  ganz  affectloses  Verhalten. 

Puls  90  celer.  Temperatur  normal.  Am  23.  December  nach  ziem- 
lich reichlichem  Schlaf  ist  Patientin  geistig  frischer. 

Im  Anschluss  an  den  Besuch  der  Schwägerin  und  deren  Versicherung, 
die  Kinder  der  Patientin  seien  gesund,  steigen  ihr  Zweifel  bezüglich 
der  Richtigkeit  der  Wahnvorstellung  auf,  aber  sie  ist  noch  dämmerhaft, 
geistig  sichtlich  gehemmt  und  offenbar  zu  energischer  geistiger  Thätig- 
keit  noch  nicht  fähig. 

Dazu  kommt  das  rasche  Verblassen  ihrer  Wahnvorstellung.  Sie 
lebt  nur  mehr  auf,  wenn  man  darauf  zu  sprechen  kommt  und  bleibt 
nach    wie  vor   in   diesem    traumhaften   Zustand   affectiv    ganz    unbetont. 

Am  24.  ist  Patientin  ruhig,  geordnet,  aber  still,  offenbar  noch 
erschöpft,  Schlaf  und  Appetit  befriedigend. 

Am  24.  Nachmittags  war  Weihnachtsbescheerung  in  der  Klinik. 
Während  derselben,  angeblich  durch  den  Anblick  des  Weihnachtsbaumes, 
die  dadurch  geweckte  Erinnerung  an  ihre  Kinder  und  durch  die  Rede 
des  Vorstandes  an  die  Anwesenden  sei  sie  plötzlich  wieder  zu  sich 
gekommen,  habe  eine  Nachbarin  gefragt,  wo  sie  sei  und  Aufklärung 
bekommen.  Sie  habe  sich  sofort  nach  ihren  Kindern  erkundigt,  für 
deren  Weihnachtsbescheerung  sie  ja  das  ganze  Jahr  Geld  zusammen- 
gespart hatte.  Jetzt  erst  habe  sie  sich  vollkommen  über  ihre  Situation 
orientirt.  Für  die  ganze  Krankheitszeit  habe  sie  nur  eine  dunkle 
Erinnerung  verworrener  Vorgänge  gehabt,  ohne  sich  irgend  welcher 
Einzelheiten  zu  erinnern. 

Thatsächlich  ist  die  Erinnerung  für  Alles  verloren  gegangen  seit 
jenem  Moment,  in  welchem  sie  das  Haus  am  20.  verliess,  um  zu  der 
alten  Frau  zu  gehen.  Sie  weiss  nichts  von  den  Vorgängen  bei  der 
Polizei,  von  ihrem  Eintritt  in  die  Klinik  bis  zum  24.  Abends  und  ist 
sehr  erstaunt,  als  man  ihr  den  Sachverhalt  berichtet.     Sie  erinnert  sich 

Krafft-Bblng,    libdtui  I.  3 


34  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

dunkel,  während  dieser  Zeit  an  heftigem  schmerzhaften  Kopfdruck  gelitten 
zu  haben.     Genesen  entlassen  11.  Januar  1894. 

Beobachtung  19.     Dämmerzustand. 

Th.  P.,  40  Jahre,  geschiedene  Frau  eines  Gewerbetreibenden,  wurde 
am  7.  Januar  1894  auf  der  Klinik  aufgenommen.  Sie  stammt  von  einem 
Vater,  der  ein  Säufer  war.  Dessen  Bruder  war  mit  einem  Krampf  leiden 
behaftet.    Die  Mutter  litt  höchstwahrscheinlich  an  Lues. 

Frau  P.  war  von  jeher  schwächlich,  kränklich,  nervös,  aufgeregt, 
jähzornig  gewesen,  zur  Zeit  der  Menses  immer  matt,  vergesslich,  leicht 
verwirrt,  niedergeschlagen,  mit  Migräne  behaftet. 

Sie  hat  2  mal  abortirt,  2  mal  rechtzeitig  geboren,  liess  sich  scheiden, 
nachdem  ihr  Mann  untreu  gewesen  und  sich  luetisch  inficirt  hatte. 
Eine  Tochter  leidet  an  Vertigo  epileptica. 

"Wegen  häuslichem  Kummer  und  nervösen  Beschwerden  ergab 
sich  Patientin  dem  Uebergenuss  von  Alcohol.  Nach  Alcoholexcessen 
hatte  sie  in  den  letzten  Jahren  wiederholt  Dämmerzustände  von  etwa 
1  tägiger  Dauer  geboten ,  in  welchen  sie  herumirrte.  Amnesie  für 
diese  Episoden. 

In  den  letzten  Jahren  war  Patientin  immer  mehr  neurasthenisch 
geworden.  Nach  reichlichen  Alcoholexcessen  setzte  am  2.  Januar  1894 
neuerlich  ein  Dämmerzustand  ein,  in  welchem  sie  planlos  herumzog,  am 
7.  wegen  ganz  verwahrloster  Toilette  auf  der  Strasse  aufgegriffen  und 
der  Klinik  überwiesen  wurde. 

Sie  kam  ganz  verwirrt  an,  afebril,  zeitlich  und  örtlich  desorientirt, 
ohne  Erscheinungen  von  Alcoholintoxication.  Sie  glaubte  sich  in  der 
Gegend  von  Graz,  interpretirte  Ohrensausen  als  Rauschen  des  Mur- 
flusses, wollte  durchaus  zu  ihrer  Herrschaft  (sie  war  früher  in  Graz  in 
einem  Dienst  gewesen),  meinte,  sie  sei  in  einem  Eisenbahn  Wartesaal, 
hielt  die  Anwesenden  für  Mitreisende. 

Sie  sei  in  Leoben  eingestiegen,  wisse  nicht,  wo  sie  jetzt  sei,  sucht 
nach  ihrem  Eeisegeld,  Fahrschein,  Gepäck,  deren  Abgang  sie  bemerkt, 
bleibt  aber  dabei  ganz  affektlos,  wie  in  einem  Traum.  Sie  erinnert  sich 
unvollkommen  ihrer  Vita  anteacta.  Sie  sei  vor  Jahren  in  "Wien  gewesen, 
habe  gearbeitet  bei  der  Mutter,  einer  Greislerin.  Sie  sei  jetzt  im  Begriff, 
eine  Stelle  in  Graz  anzutreten;  sie  wisse  nicht,  wo  sie  momentan  sei. 
Man  solle  sie  endlich  fortlassen.  Dem  Lauf  der  Mur  folgend,  werde  sie 
schon  nach  Graz  kommen. 

Dämmerhafte  Miene,  traumhaftes  "Wesen.  Pupillen  weit,  prompt 
reagirend,  Patellarreflexe  etwas  gesteigert,  keine  Tremores.  Afebril, 
vegetative  Organe  ohne  pathologischen  Befund.  Klagen  über  schmerz- 
haften Kopfdruck.   Scheitelbeine  sehr  druckempfindlich.    Sie  motiviit  den 


Dritter  Aufsatz.  35 

Kopfdruck  mit  einer  (vermeintlichen)  Contusion,  die  sie  sich  durch  Austossen 
an  der  Coupethüre  des  Waggons  während  der  Fahrt  zugezogen  habe. 

Am  13.  Januar  allmälige  Aufhellung  des  Bewusstseins.  zugleich  mit 
dem  Eintritt  der  Menses.  Klagen  über  heftigen  Kopf  druck,  an  dem  sie 
seit  Jahren  leide.  Völlige  Amnesie  für  die  Zeit  der  Krankheit  bis  zum 
16.  Januar. 

Vom  17.  ab  vollkommen  lucid,  glaubt  sich  erst  2  Tage  hier.  Sie 
erinnert  sich  nur,  dass  sie  unter  heftiger  Cephalaea  um  den  1.  Januar 
ausging,  um  einzukaufen.  Sie  bestätigt  seit  Jahren  vorhanden  gewesene 
Neurasthenia  cerebralis  und  theilt  mit,  dass  sie  in  der  letzten  Zeit  vor 
der  jüngsten  Erkrankung  viel  Aerger  hatte,  schlecht  schlief,  von  schreck- 
haften Träumen  gequält  war,  sich  Morgens  ganz  zerschlagen  fühlte. 

Patientin  bietet  in  der  Folge  bis  auf  neurasthenische  Beschwerden 
nichts  Besonderes  und  wird  am  21.  Januar  1894  genesen  entlassen. 

Beobachtung  20.     Dämmerzustand. 

C,  43  Jahre,  verheirathet,  Beamter,  wurde  am  4.  Juni  1894  vom 
Polizeicommissariat  der  psychiatrischen  Klinik  übergeben. 

Patient  unbelastet,  nie  krank  bis  auf  eine  Malariaaffection  vor  vielen 
Jahren,  ohne  epileptische  oder  hysterische  Antecedentien,  streng  solid, 
gut  begabt,  hatte  seit  7  Jahren  in  guter  Ehe  gelebt.  Seit  einem  Jahr 
hatte  C.  neben  seinem  anstrengenden  Dienst  sich  für  die  Prüfung  zur 
Erlangung  einer  höheren  amtlichen  Stellung  vorbereitet  und  in  den 
letzten  Monaten  sich  übermässig  geistig  angestrengt.  Er  hatte  wenig 
geschlafen,  war  Morgens  nicht  erquickt,  fühlte  sich  matt,  unaufgelegt 
zur  Arbeit,  den  Kopf  eingenommen.  Gleichwohl  hatte  C.  mit  Aufbietung 
aller  Willenskraft  sich  zur  Arbeit  fortgezwungen.  Am  28.  Mai  fand  er 
auf  der  Strasse  einen  Kreuzer.  Als  er  ihn  zu  sich  steckte,  glaubte  er 
einen  Kukuk  rufen  zu  hören,  wurde  unschlüssig,  was  er  mit  dem  Kreuzer 
anfangen  solle  und  schenkte  ihn  endlich  dem  Amtsdiener.  Einige  Tage 
später  fand  er  in  seinem  Portemonnaie  2  Kreuzer,  an  deren  Provenienz 
er  sich  nicht  erinnern  konnte.  Er  glaubte  wieder  den  Kukuk  rufen  zu 
hören  und  bekam  die  Idee,  das  seien  Glückskreuzer.  Diese  Idee  drängte 
sich  ihm  als  Zwangsvorstellung  beim  Arbeiten  auf.  Sie  beunruhigte 
ihn,  damit  verband  sich  die  Vorstellung,  er  könne  diese  2  Kreuzer 
nicht  rechtmässig  erworben  haben.  Nun  plagte  ihn  der  Gedanke, 
was  mit  denselben  anfangen.  Er  sah  übrigens  das  Unsinnige  dieser 
Ideen  ein  und  reiste  am  3.  Juni  nach  Wien,  wo  er  seine  Prüfung 
ablegen  Bollte. 

Er  hatte  die  Nacht  auf  den  3.  schlaflos  verbracht,  Tag  über  wenig 
gegessen  und  kam  nach  12  stündiger  Eisenbahnfahrt  ganz  abgespannt 
und  nervös  in  Wien  an. 

3* 


36  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Da  kam  ihm  nun  der  Gedanke,  er  solle  die  2  Kreuzer  als  herren- 
loses Gut  dem  Kaiser  übergeben,  dessen  Prägung  sie  tragen. 

Ohne  dass  ihm  irgend  ein  Bedenken  kam,  ging  er  gleich  nach  der 
Ankunft  in  Wien  zum  Commandanten  der  Burgwache,  händigte  dem 
erstaunten  Offizier  die  2  Kreuzer  ein,  worauf  er  sich  sehr  erleichtert 
fühlte  und  zunächst  nicht  mehr  an  die  Angelegenheit  dachte. 

Am  4.  früh  begab  er  sich  in  Galauniform  neuerlich  in  die  Hofburg, 
um  die  deponirten  2  Kreuzer  Sr.  Majestät  oder  doch  dem  Obersthof- 
meister zu  übergeben.  Auf  die  Klinik  gebracht,  war  er  bereits  zur  Ein- 
sicht über  das  Krankhafte  seines  Vorgehens  gelangt  und  erzählte  den 
ganzen  Hergang  in  vollkommen  klarer  und  geordneter  Weise.  Er  konnte 
nicht  begreifen,  wie  er  zu  so  fremdartig  und  wunderlich  ihm  jetzt 
erscheinenden  Vorstellungen  gelangt  sei. 

Patient  erschien  bis  auf  leicht  neurasthenische  Symptome  (weite, 
überaus  prompt  reagirende  Pupillen,  etwas  gesteigerte  Patellarreflexe, 
feinwelligen  Tremor  der  Finger)  auch  körperlich  ganz  normal.  Die  ganze 
Episode  kam  ihm  wie  ein  Traum  vor,  jedoch  bewahrte  er  eine  treue 
Erinnerung  für  alle  Details. 

C.  schlief  sich  gründlich  aus,  war  am  5.  vollkommen  geordnet,  wurde 
am  gleichen  Tage  entlassen,  machte  nach  einigen  Tagen  mit  gutem  Erfolg 
seine  Prüfung  und  blieb  von  weiterer  Krankheit  verschont. 

Beobachtung  21.     Dämmerzustand.     Delirien  der  Standeserhöhung. 

Am  26.  Februar  189 .  wurde  Herr  X.,  40  Jahre,  verheirathet, 
Beamter  in  Wien  von  der  Sicherheitsbehörde  der  psychiatrischen  Klinik 
übergeben.  Er  war  um  10  Uhr  früh  in  die  Pfarrkanzlei  G.  gegangen, 
um  den  ihm  bekannten  Pfarrer  Z.  zu  sprechen.  Da  der  Pfarrer  nicht 
anwesend  war,  beschloss  er,  auf  ihn  in  dessen  Kanzlei  zu  warten  und 
schrieb  dort  folgende  Telegramme,  die  er  dem  Messner  übergab: 

1.  „An  seine  apostolische  Majestät  den  Kaiser.  Mahnung.  Lebt  er 
noch?    10  Worte.     20  xr." 

2.  „Seiner  erzbischöflichen  Gnaden  Herrn  Cardinal  von  Wien.  Frage: 
Vor  welches  Forum  gehört  der  Priester?    14  Worte.     20  xr." 

Da  X  dem  Messner  geistig  gestört  vorkam,  holte  er  einen  Wach- 
mann, der  X.  aufs  Commissariat  brachte.  Dort  behauptete  X.,  der  heilige 
Geist  sei  ihm  erschienen  und  habe  ihm  die  Rede  soufflirt,  die  er  als 
Candidat  für  den  Reichsrath  halten  wolle.  Er  sei  nämlich  Candidat  für 
einen  böhmischen  Bezirk.  Das  Telegramm  an  den  Kaiser  habe  den 
Monarchen  an  seine  Pflichten  mahnen  sollen.  Den  gleichen  Zweck  habe 
das  an  den  Erzbischof  gehabt,  der  nur  dem  Namen  nach  ein  Christ 
sei.  Im  Commissariate  spricht  er  aufgeregt  von  Kant,  Schopenhauer, 
seiner  Candidatur  für  den  Reichsrath. 


Dritter  Aufsatz.  37 

Auf  die  Klinik  gebracht,  ist  er  erregt,  schlägt  über  die  Umgebung 
das  Kreuz,  verlangt,  dass  die  Anderen  dies  auch  thun,  und  ist  sehr 
ungehalten,  dass  man  seinem  Verlangen  nicht  entspricht 

Er  ergeht  sich  dann  in  längerer  Rede  über  das  angebliche  Unrecht, 
dass  man  den  jüngst  verstorbenen  Obersthofmeister  auf  einem  längst 
geschlossenen  Friedhofe  beerdigt  habe.  Der  Erzbischof  sei  kein  Priester; 
Niemand  kümmere  sich  um  das  kirchliche  Wohl  "Wiens,  das  wieder 
katholisch  werden  müsse.  Er  könne  nicht  zugeben,  dass  die  Juden  den 
Pfarrer  Z.  vernichten.  Derselbe  gehöre  vor  ein  katholisches  Gericht, 
was  er  auch  bereits  an  den  obersten  Kirchenfürsten  Wiens  telegraphirt 
habe.  Er  sei  ganz  klar  im  Kopf,  so  klar,  wie  er  niemals  gewesen,  die 
Aerzte  hier  hingegen  seien  Narren.  Heute  Nacht  habe  er  eine  heilige 
Erscheinung  gehabt,  gegen  Morgen  sei  die  Klarheit  über  ihn  gekommen, 
er  habe  sich  so  eigenthümlich  gefühlt,  es  sei  ihm  vorgekommen,  wie 
wenn  er  alle  Fähigkeiten  besässe,  alle  Sprachen  beherrsche  und  in  poli- 
tischen Dingen  eine  bessere  Einsicht  besitze.  Er  sei  der  beste  Candidat 
für  Landtag  und  Reichsrath,  allseitig  zur  Candidatur  aufgefordert,  weil 
man  ihn  als  echt  katholischen  Mann  kenne.  Gedankengang,  besonders 
erleichterte  Association  bietet  Patient  nicht,  auch  ist  seine  Stimmung 
keine  euphorische,  sondern  eine  aigrirte. 

Auf  Zwischenfragen  nach  Befinden,  früherer  Lues,  giebt  er  prompt 
Auskunft. 

Patient  erscheint  gut  genährt,  blass,  hat  Andeutung  von  Cranium 
hydrocephal.  rachiticum.  Sehr  prompte  Pupillen-  und  Patellarreflexe. 
Keine  motorischen  Störungen,  kein  Fieber.  Schlaf  auf  27.  unruhig. 
Am  27.  ist  er  ruhig,  giebt  präciso  Auskünfte  über  sein  Vorleben,  berichtet 
TOD  Lues  1876  mit  energischer  Schmierkur,  von  grosser  Nervosität  seit 
Juni  1895,  die  er  auf  Ueberanstrengung  und  Kränkungen  im  Dienst 
zurückführt.  Er  klagt  über  neurasthenische  Beschwerden  (Kopfdruck, 
Schlaflosigkeit,  Reizbarkeit,  Palpitationen).  Besonders  in  den  letzten  Tagen 
sei  er  sehr  erregt  gewesen  und  habe  vermehrten  Kopfdruck  empfunden. 

Seit  4  Monaten  habe  er  Alcohol  gemieden,  weil  er  ihn  schlecht 
vertragen  habe. 

Sich  selbst  überlassen,  hängt  X.  <einen  Phantasien  nach.  Am  28.  meint 
er,  der  Monarch  sei  gestorben,  er  werde  jetzt  Kaiser.  Er  ernennt  einige 
Mitpatienten  zu  Ministem,  verspricht  ihnen  grosse  Geldsummen,  hält  sich 
für  enorm  reich,  gedenkt  Reformen  einzuführen  wie  früher  Kaiser  Josef  IL 

Dabei  ist  Patient  zeitlich  und  örtlich  orientirt,  findet  aber  nichts 
dabei,  dass  er  im  Spital  ist  und  denkt  gar  nicht  über  seine  Lage  nach. 

Am  28.  wird  er  erregter,  erklärt,  er  sei  erleuchtet,  verlangt  unbe- 
dingten Gehursani  von  der  Umgebung,  bietet  grosses  Selbstgefühl.   Erklärt 


38  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

sich  für  einen  Doctor  der  Medicin,  fordert  2  Stenographen,  da  er  jetzt 
einen  medicinischen  Vortrag  halten  wolle.  Dieser  beziehe  sich  auf  ein 
Universalmittel  gegen  alle  Krankheiten,  müsse  in  alle  Sprachen  der  Welt 
übersetzt  werden.  Er  werde  für  dieses  Heilmittel  ein  Spital  errichten 
und  zu  dessen  Vorständen  die  Aerzte  hier  an  der  Klinik  ernennen. 

Daneben  spricht  er  über  die  Stellung  eines  kaiserlichen  Beamten, 
die  Arroganz  der  Juden  u.  s.  w. 

Um  6  Uhr  Abends  wird  Patient  plötzlich  lucid,  hat  genaue  Erinnerung 
für  die  Details  seiner  Krankheit  und  erklärt  Alles,  was  er  gethan  und 
behauptet,  für  Blödsinn.  Von  da  ab  bleibt  er  lucid  und  geordnet  und 
körperlich  wohl  bis  auf  geringe  neurasthenische  Beschwerden. 

X.  entstammt  einer  gesunden  in  keiner  Weise  belasteten  Familie. 
Ausser  Lues  1876  (2  gesunde  Kinder,  keine  Abortus),  nie  schwer  krank 
gewesen.  Lebte  in  guter  Ehe,  war  kein  Potator,  trank  seit  einigen 
Jahren  fast  gar  nicht  mehr  geistige  Getränke.  Seit  5  Jahren  Coitus 
interruptus.  Seit  15  Jahren  im  Staatsdienst  und  zeitweise  sehr  angestrengt 
bei  vieler  Nachtarbeit,  hatte  er  bis  vor  2  Jahren  die  Beschwerden  des 
Dienstes  leicht  ertragen.  Seither  deutliche  Berufsneurasthenie,  zunehmende 
Reizbarkeit,  fing  an,  sich  mit  seinen  Vorgesetzten  schlecht  zu  vertragen, 
hatte  oft  erregte  Auseinandersetzungen,  litt  oft  an  Kopfdruck,  Hitze- 
gefühi  am  Scheitel,  schlief  schlecht,  musste  im  Sommer  1895  einen 
3  monatlichen  Urlaub  nehmen,  erholte  sich  völlig,  machte  September 
und  October  wieder  anstrengenden  Dienst,  erkrankte  neuerlich,  zugleich 
an  Bronchialcatarrh,  pausirte  bis  20.  Februar  1896,  war  aber,  als  er 
wieder  ins  Amt  eintrat,  noch  recht  nervös,  aufgeregt,  schlief  schlecht. 
Da  sein  Dienst  um  6  Uhr  früh  begann,  musste  er  schon  um  5  Uhr 
aufstehen.  Im  Amt  neue  Verdriesslichkeiten,  dazu  politisch  aufgeregte 
Zeit,  bevorstehende  Gemeinderathswahlen,  Absicht  in  seiner  Heimath 
für  Landtag  und  Reichsrath  zu  candidiren,  wozu  ihn  auch  seine  Freunde 
befähigt  hielten. 

Vom  22.  Februar  ab  war  er  durch  4  Tage  absolut  schlaflos,  hatte 
heftige  Kopfschmerzen,  als  ob  der  Kopf  zerspringe.  In  der  Nacht  auf 
den  26.  grosse  Unruhe,  es  ging  ihm  alles  Mögliche  wirr  durch  den  Kopf. 

Am  26.  früh  hatte  er  ein  ganz  eigenthümliches  gehobenes  Gefühl, 
es  kam  ihm  vor,  er  sei  ein  von  der  Vorsehung  auserlesener  Prophet, 
dazu  auserkoren,  auf  der  Erde  überall  Ordnung  zu  machen.  Er  hatte 
im  Sinne,  überall  Reformen  einzuführen;  alle  Menschen  sollten  glück- 
lich werden,  die  Reichen  dazu  bewogen  werden,  mit  den  Armen  zu 
theilen.  Er  weinte  dabei  vor  Rührung,  segnete  sein  Kind  vor  dem  Weg- 
gehen, erschien  um  6  Uhr  früh  im  Amt,  versah  seinen  Dienst,  machte 
aber  viele  Verstösse,  die  er  jedoch  selbst  bemerkte  und  corrigirte.     Er 


Dritter  Aufsatz.  39 

fühlte  seine  Arbeitsunfähigkeit,  schrieb  ein  Urlaubsgesuch,  das  aber 
ziemlich  confus  und  in  der  Form  recht  mangelhaft  war.  Bei  der  Ueber- 
reichung  (9  Uhr)  machte  er  dem  Amtsvorstand  eine  Scene  ohne  Anlass. 
wollte  dann  nach  Hause,  auf  dem  Wege  dahin  fiel  ihm  bei,  er  müsse 
den  Pfarrer  Z.,  den  er  kannte,  besuchen,  um  sich  zu  erkundigen,  ob 
er  wirklich  wieder  angeklagt  sei,  wie  es  in  den  Zeitungen  hiess.  Patient 
hatte  sich  früher  nie  um  des  Pfarrers  Angelegenheiten  gekümmert. 
Damals  aber  kam  es  ihm  vor,  er  müsse  sich  der  Sache  annehmen,  um 
ein  öffentliches  Unrecht  zu  verhüten.  Patient  erinnert  sich  aller  Details 
im  Pfarrhof,  wo  er  um  10  Uhr  ankam.  Auf  den  Pfarrer  wartend,  schrieb 
er  bis  12  Uhr  eine  Art  Apologie  des  Pfarrers,  kam  aber  dabei  in  theo- 
logische und  philosophische  Auseinandersetzungen,  über  die  heilige  Drei- 
zahl ,  über  Kant,  Schopenhauer  u.  s.  w. 

Zum  Schlüsse  schrieb  er  die  2  Telegramme  an  die  höchsten  Spitzen 
der  weltlichen  und  geistlichen  Macht.  Et  wollte  damit  als  neuer  Prophet 
an  sie  eine  Mahnung  ergehen  lassen,  weil  ihm  die  Auflösung  des  Gemeinde- 
rathes  und  die  Stellung  des  Pfarrers  vor  ein  weltliches  Gericht  als  ein 
Unrecht  erschien  Als  Patient  durch  die  Polizei  auf  die  Klinik  kam, 
fasste  er  dies  als  eine  Fügung  Gottes  auf  in  der  Meinung,  er  solle  wie 
Christus  durch  Unbilden  zur  Grösse  gelangen. 

In  der  ersten  Nacht  im  Spitale  hörte  Patient  Geschrei:  „Hoch  Lueger, 
Gewehr  raus,  Patrouille,  Oberst  Regiment  72  vortreten,  nieder  mit 
Badeni,  Bezirkshauptmann  Friebeis."  Er  meinte,  es  sei  draussen  eine 
Schlacht.  Diese  Episode  erscheint  ihm  retrospectiv  wie  ein  Halbtraum. 
Patient  hat  für  die  geringsten  Details  seines  psychischen  Ausnahms- 
zustands  getreue  Erinnerung.  Seine  Frau  theilt  mit,  dass  X.  seit  Jahren 
neurasthenisch  war.  Er  beschäftigte  sich  viel  mit  Politik,  las  alle 
Zeitungen,  studirte  Gesetzbücher,  wollte  Abgeordneter  werden.  Sein 
Chef  schildert  ihn  als  fleissigen  Menschen,  der  in  letzter  Zeit  sehr 
nervös  war. 

Patient  wurde  am  17.  März  genesen  entlassen  und  ist  bisher  von 
psychischer  Störung  frei  geblieben. 

Beobachtung  22.    Dämmerzustand.    Delirium  der  Standeserhöhung. 

E.,  47  .lahre,  Gymnasiallehrer  in  R.,  ledig,  wurde  am  2.  Februar 
189  .  der  psychiatrischen  Klinik  übergeben. 

Die  Eltern  sollen  gesund  gewesen  sein.  Ein  Bruder  litt  an  Paranoia 
religiosa.  Patient  hatte  als  Kind  Convulsionen,  war  von  jeher  eigen- 
tliümlich,  pathetisch  in  seiner  Redeweise,  ein  erfahrener  Philologe,  aber 
ungeschickter  Pädagoge.  Masturbatio  strenua  bis  1874,  seither  Neur- 
asthenie (Kopf druck,  Mattigkeit,  zeitweise  Agrypnie,  Herzklopfen.  Tremor 
der  Hände,  Intoleranz  für  calurische  Schädlichkeiten  u.  s.  w.).    Versuchte 


40  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

nur  ImalCoitus,  der  aber  nicht  befriedigte.  R.  Kryptorchie.  1882  und 
1883  schwerer  Neurasthenia  cerebralis  wegen  Aufenthalt  in  Heil- 
anstalten. 

1890  nahm  Patient  wegen  seiner  Nervosität  seinen  Abschied.  Er 
lebte  dann  ruhig  auf  dem  Land,  hegte  mit  Besserung  seines  Nerven- 
leidens den  Wunsch  reactivirt  zu  werden,  fand  aber  keine  Erfüllung 
seiner  "Wünsche,  jedoch  wurde  er  in  den  letzten  2  Jahren  als  Supplent 
an  einem  Gymnasium  verwendet,  in  welcher  Stellung  er  zur  Zufrieden- 
heit diente.  Im  Laufe  des  Winters  189  .  hatte  ihn  die  Idee  einer 
Reactivirung  wieder  lebhaft  beschäftigt  und  zu  bezüglichen  Schritten 
veranlasst.  Zugleich  war  aber  seine  Neurasthenie  wieder  bedeutender  zu 
Tage  getreten. 

Am  9.  Januar  189  .  hatte  er  ein  Majestätsgesuch  um  Reactivirung 
eingereicht  und  lebte  nun  in  der  Hoffnung  und  Erwartung  der 
kommenden  Dinge. 

Ende  Januar,  nach  schlaflosen  Nächten  und  unter  zunehmender 
Nervosität,  Kopfdruck,  kam  ihm  der  Gedanke,  er  sei,  in  Anerkennung 
seiner  Verdienste,  reactivirt.  Er  fühlte  sich  überaus  glücklich  und 
gehoben,  bekam  die  Idee,  als  Lehrer  der  Erzherzogin  Elisabeth  berufen 
zu  werden  und  eine  einflussreiche  Stellung  bei  Hofe,  sowie  einen  Orden 
zu  bekommen. 

Patient  war  sehr  erregt,  bereitete  seine  Abreise  nach  Wien  vor, 
notirte  sich  eine  Anzahl  von  Namen  von  Beamten,  die  er  zu  Beförde- 
rungen und  Adelsverleihungen  vorschlagen  wollte. 

Um  den  28.  Januar  kam  ihm  der  Wahn  zugeflogen,  er  sei  zum 
Unterrichtsmiuister  ernannt.  In  sofortiger  Antretung  seines  Berufes 
reiste  er  noch  2  Tage  in  der  Provinz  herum,  um  Schulen  zu  inspiciren, 
und  trat  am  30.  Januar  die  Reise  nach  seinem  Posten  in  Wien  an. 
Unterwegs  depeschirte  er  an  den  Ministerpräsidenten:  „Wo  ist  der  Kaiser 
wo  die  Kronprinzessin  Stephanie?  Freiherr  von  E.  Sr.  Majestät  Cultus- 
und  Unterrichtsminister"  Ausserdem  sandte  er  folgendes  Schreiben  an 
die  kaiserliche  Cabinetskanzlei : 

„Majestät!  Ich  stelle  den  allerunterthänigsten  Antrag,  die  Gemeinde  F. 
(Geburtsort  des  Patienten),  welche  zur  Zeit  Rudolfs  von  Habsburg,  des 
Gründers  unseres  allerhöchsten  Kaiserhauses,  gegründet  wurde,  die  ferner 
in  Gestalt  eines  ^  eine  deutsche  Meile  weit  nach  Südwesten  zieht, 
deiner  getreuesten  Unterthanen  mehr  als  2000  zählt,  zur  Marktgemeinde 
sofort  allergnädigst  zu  erheben  und  deren  Namen  in  Falkenau  zu  ver- 
wandeln." 

Ein  anderes  Schreiben  war  an  die  Frau  Kronprinzessin-Wittwe 
gerichtet  und  hatte  folgenden  Inhalt: 


Dritter  Aufsatz.  41 

„Ich  bin  der  Bitter  Lohengrin 

Und  komme  bald,  wenn  Du  erlaubst,  nach  Wien. 

Zu  Elsa  von  Brabant. 

Ich  warb  bereits  um  Valerie, 

Die  edle  Wittwe  Stephanie, 

Selbst  unsrem  guten  Kaiser 

Schaff  ich  Verlegenheit, 

Denn  meine  Braut  heisst  Adelheid." 

Am  1.  Februar  kam  E.,  der  bisher  nirgends  auffällig  erschienen 
war,  nach  Wien,  fuhr  direkt  ins  Unterrichtsministerium,  übergab  dem 
Portier  sein  Gepäck,  liess  sich  bei  dem  Sectionschef  melden,  wurde  aber 
nicht  vorgelassen,  ging  darüber  gekränkt  in  die  Hofburg,  um  sich  zu 
beschweren,  kam  auch  dort  nicht  zum  "Wort,  kehrte  ins  Ministerium 
zurück,  drang  bis  in  die  Präsidialkanzlei  vor,  erklärte  mit  erhobener 
Stimme:  „Hier  habe  ich  zu  befehlen,  hier  amtire  ich.  ich  bin  Unter- 
richtsminister." 

Mit  Mühe  aus  dem  Ministerium  entfernt,  fuhr  er  ins  Hotel.  Von 
da  aus  depeschirte  er  nach  Hause,  er  verzichte  auf  seinen  Gehalt  von 
900  fl.,  da  er  Minister  geworden  sei. 

Die  Nacht  auf  den  2.  Februar  verbrachte  er  ruhig  im  Hotel.  Am 
2.  ging  er  zum  Gottesdienst  in  die  Votivkirche.  wo  gerade  eine  mili- 
tärische Gedenkfeier  war.  Als  zum  Schluss  des  Gottesdienstes  die  Militär- 
kapelle vor  der  Kirche  die  Kaiserhymne  intonirto,  begann  er  in  der 
Kirche  mit  lauter  Stimme  das  Kaiserlied  zu  singen.  Man  entfernte  ihn. 
Darauf  ging  er  in  eine  Druckerei,  bestellte  sich  Visitkarten  ..A.  E.  Frei- 
herr v.  E.,  Sr.  Majestät  Minister  für  Cultur  und  Unterricht",  dann  ins 
Hotel,  wo  ein  Detoctiv  auf  ihn  wartete  und  ihn  zur  Polizei  citirte.  E. 
protestirte  anfangs,  da  er  Minister  sei.  Wenn  der  Polizeipräsident  etwas 
von  ihm  wolle,  so  möge  er  sicli  zu  ihm  bemühen.  Schliesslich  ging  er 
mit  und  wurde  vom  Commissar  der  Klinik  zugewiesen,  in  welcher  er 
ruhig,  zeitlich  und  örtlich  orientirt  anlangte 

Er  schlief  bis  frühmorgens  am  3.,  war  erregt  beim  Erwarben,  ver- 
langte seine  Dokumente.  Kleider  etc.,  versprach  den  Wärtern  hohe  Orden. 

Patient  gut  genährt,  Pupillen  weit,  überaus  prompt  reagirend;  starkes 
Erzittern  der  geschlossenen  Augenlider.  Tremor  der  Gesichtsmuskeln, 
der  Zunge  und  Finger.     Patellarreflexe  gesteigert. 

Patient  hält  an  seinem  Wahne  fest,  ist  in  der  Folge  aber  ganz 
affectlos,  ruhig,  findet  sich  in  die  seinem  Wahne  nicht  entsprechende 
Situation,  benimmt  sich  vornehm,  reservirt,  macht  psychologische  Studien 
an  den  Kranken,  verfasst  Krankenberichte  über  sie,  findet  z.  B.  die 
Beobachtung  eines  Kranken  (Paralytiker),  der  den  Stephansdom  und 
die  innere  Stadt  Wien  ausbauen  will,  sehr  interessant,  seine  Gedanken 


42  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

äusserst  gesund.  E.  spricht  herablassend,  belehrend  mit  den  Aerzten,  findet 
jede  geistige  Erkrankung,  mit  Ausnahme  der  Gehirnerweichung,  für  heilbar. 

Am  5.  nach  der  Demonstration  in  der  Klinik,  wobei  Patient  noch 
ganz  in  seinem  Wahn  lebte,  ging  eine  bemerkenswerthe  Veränderung 
mit  ihm  vor.  Er  wurde  kleinlaut,  verlegen,  fing  an  zu  zweifeln,  dass 
er  Minister  sei,  und  gelangte  am  6.  zur  vollen  Klarheit,  dass  er  in  einem 
Wahne  gelebt  habe. 

Seitdem  man  ihn  in  der  klinischen  Demonstration  am  5.  aufmerksam 
gemacht  habe,  dass  ein  wirklicher  Minister  ein  Handschreiben  Sr.  Majestät 
haben  müsse,  sei  er  bedenklich  geworden. 

Bis  dahin  habe  er  vollkommen  in  seiner  Täuschung  gelebt.  Er 
bedauere  tief  seinen  Irrthum,  der  ihm  alle  seine  Ersparnisse  (300  fl.) 
gekostet  habe. 

Patient  verblieb  bis  zum  8.  März  189 .  in  der  Klinik,  vollkommen 
geordnet.  Er  besass  eine  peinlich  genaue  Erinnerung  für  alle  Details 
seiner  Krankheitserlebnisse. 

Beobachtung  23.     Dämmerzustand.     Selbstanklagedelirium. 

M.  B.,  32  Jahre,  Offizierswaise,  wurde  am  5.  Juli  1893  zum  zweiten- 
mal auf  der  psychiatrischen  Klinik  im  allgemeinen  Krankenhause  in  Wien 
aufgenommen. 

Mutters  Vater  war  durch  12  Jahre  wegen  Irrsinn  in  einer  Anstalt. 
Mutter  leicht  erregbar,  jähzornig. 

Patientin  von  jeher  nervös,  sonst  gesund  gewesen.  1885  Geburt 
eines  gesunden  Kindes.  Von  Jugend  auf  Abusus  nicotianae  (bis  zu 
25  Cigaretten  täglich).  Von  Anfang  1889  ab  Neurasthenia  cerebralis 
durch  angestrengtes  Studium  in  einer  Handelsschule.  Vom  März  1889 
ab  ganz  abgespannt,  emotiv,  schreckhaft,  Agrypnie,  Unvermögen  zu 
denken,  zu  lesen.  Patientin  stimulirte  ihr  Hirn  mit  Rauchen,  Trinken  von 
Thee  mit  Rum,  arbeitete  die  Nächte  durch  bis  zur  Prüfung  (13.  Juli 
1889),  fiel  bei  derselben  durch,  erschien  nun  geistig  ganz  gebrochen 
und  erkrankte  an  hallucinatorischem  Wahnsinn  Ende  Juni  1889.  In 
diesem  Zustand  kam  sie  zum  erstenmal  auf  die  Klinik  (28.  Juli).  Sie 
hörte  Gläserklirren,  Klagerufe,  Lärm,  meinte,  aus  ihrem  Mund  dringe 
Elektricität,  die  Andere  gefährde.  Sie  glaubte  auf  10  Jahre  dem  Teufel 
verschrieben  zu  sein,  wollte  sich  umbringen. 

Im  Verlauf  beständiges  Hören  von  Stimmen,  die  ihre  Gedanken, 
noch  bevor  sie  ausgedacht  waren,  aussprachen,  ihr  Allerlei  vorschrieben, 
sie  beschimpften,  sie  nicht  schlafen  Hessen. 

Körperlich  Bild  schwerer  Neurasthenie.  Anfang  October  Nachlass 
der  Stimmen,  Besserung  des  Schlafes.  Ende  October  Correctur,  Recon- 
valescenz.     Genesen  entlassen  am  16.  December  1889. 


Dritter  Aufsatz.  43 

Patientin  in  der  Folge  leidlich  wohl,  brachte  sich  kümmerlich  mit 
Stickerei  durch,  oft  die  Nächte  opfernd. 

Seit  Mitte  Juni  1893  hatte  sie  fast  gar  nicht  geschlafen,  Nachts 
gearbeitet.  Sie  fühlte  sich  immer  schwächer,  abgespannter,  appetitlos, 
genoss  2  mal  täglich  Thee  mit  etwas  Rum,  hatte  oft  Angstgefühle  und 
den  Gedanken  eines  schweren  bevorstehenden  Unglücks. 

Während  kurzen  Schlafes  angstvolle  Träume  mit  Aufschrecken. 

Anlass  zur  Wiederaufnahme  am  5.  Juli  1893  bot  ihre  Selbstanzeige 
auf  dem  Polizeicommissariat.  sie  habe  ihren  Knaben  erschlagen  und 
gehöre  an  den  Galgen.  Man  möge  aber,  mit  Rücksicht  darauf,  dass  ihr 
Vater  Offizier  gewesen,  sie  lieber  erschiessen. 

Als  man  ihr  den  von  Hause  herbeigeholten  Sohn  gesund  vorführte, 
erklärte  sie,  das  nicht  zu  verstehen,  da  sie  doch  bestimmt  ihren  Sohn 
umgebracht  habe.  Auf  die  Klinik  gebracht,  machte  Patientin  die  gleichen 
Angaben.  Sie  schlief  etwas  in  der  Nacht  auf  den  6.  Juli  mit  1.5  Chloral- 
hydrat,  erschien  gedrückt,  ängstlich,  sehr  blass,  verstört,  erwartete  ihre 
be vorstellende  Hinrichtung  als  Mörderin  ihres  Sohnes.  Wo,  wie,  warum 
sie  ihn  umgebracht,  wisse  sie  nicht  anzugeben.  Es  sei  gestern  geschehen; 
sie  sei  dann  gleich  auf  die  Polizei  gegangen.  Sie  habe  all  das  nicht 
geträumt,  sondern  wirklich  erlebt. 

Patientin  dämmerliaft,  aber  örtlich  orientirt,  erschöpft,  blass,  in  der 
Ernährung  sehr  reducirt,  anämisch. 

Klagen  über  Mattigkeit,  Kopfdruck,  wie  wenn  ein  Stein  darauf  laste. 
Pupillen  sehr  weit,  prompt  reagirend.  Feinwelliger  Tremor  der  Finger, 
von  den  Armen  diesen  mitgetheilt.     Patellarreflexe  sehr  prompt. 

Auf  Amylenhydrat  (5.0)  in  der  Nacht  auf  den  7.  Juli  Behr  aus- 
giebiger Schlaf.  Aussehen  frischer,  Turgor  vitalis  besser.  Patientin 
beginnt  ihren  Wahn  zu  corrigiren,  anknüpfend  an  die  Erklärung  der 
Aerzte,  dass  wenn  ihre  Selbstanklage  wahr  wäre,  sie  ja  nicht  hier, 
sondern  im  Landesgericht  wäre.  Sie  erkennt,  dass  sie  phantasirt  habe 
und  sehnt  sich,  ihr  Kind  zu  sehen. 

Unter  Amylenhydrat  gute  Nächte.  Unter  antineurasthenischer  Behand- 
lung rasche  Erholung.  Im  Stat.  retrospectivus  giebt  Patientin  die  obige 
Anamnese  und  ergänzt  sie  dahin,  dass  in  Folge  ihrer  Arbeitsüberbürdung, 
wobei  sie  sich  den  Schlaf  abbrechen  musste,  sie  schrecklich  nervös 
geworden  sei.  Gereiztheit,  Unruhe,  Mattigkeit,  als  hätte  sie  eine  schwere 
Krankheit  durchgemacht,  Druck  im  Kopfe  ohne  eigentlichen  Schmerz 
seien  von  Ende  Juni  ab  ganz  unerträglich  geworden. 

Am  5.  Juli  Mittags,  während  sie  mit  der  Zubereitung  des  Mittag- 
essens beschäftigt  war,  sei  es  plötzlich  über  sie  gekommen,  als  habe  sie 
ihr  Kind  umgebracht  und  müssr  jetzt  gleich  die  Anzeige  davon  bei  der 


44  Transitoriscb.es  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Polizei  erstatten.  Sie  könne  das  Ganze  nur  eine  „Fata  morgana"  nennen. 
Es  sei  ihr  unbegreiflich,  dass  sie  von  einem  solchen  Gedanken  überwältigt 
wurde,  da  ihr  Sohn  doch  zu  Hause  vor  ihr  gestanden  sei  und  sie  ihn 
selbst,  bevor  sie  zur  Polizei  ging,  in  der  Wohnung  einsperrte.,  Sie 
erinnere  sich  genau  aller  folgenden  Ereignisse  — ■  an  die  Vorbringung 
ihrer  Selbstbeschuldigung  beim  Polizeicommissär,  an  die  Worte  dieses 
Beamten,  an  die  Art  ihrer  Unterbringung  im  Spital. 

Während  des  5.  und  6.  Juli  habe  sie  beständig  über  die  Sache 
nachdenken  müssen,  ob  es  so  sei.  Die  Idee,  wenn  auch  ganz  unklar  über 
die  Details  der  Wahnthat,  sei  aber  so  lebhaft  und  ihre  Fähigkeit,  sich 
des  wirklichen  Sachverhalts  zu  erinnern,  überhaupt  an  ihrer  Idee  Kritik 
zu  üben,  sei  so  darnieder  gewesen,  dass  sie  erst  am  7.  und  unterstützt 
durch  die  Bemerkungen  der  Aerzte,  zur  Klarheit  über  die  wirkliche 
Situation  und  zur  Erkennung  ihres  schrecklichen  Wahns  gekommen  sei. 
Auffallend  ist  ihr,  dass  sie  in  dieser  wahnhaften  Situation  eigentlich  gar 
keine  Angst,  wie  ein  wirklicher  Verbrecher,  gehabt  habe. 

Ende  Juli  1893  wurde  M.  B.  genesen  entlassen. 

Beobachtung  24.     Dämmerzustand  mit  Delirium. 

Herr  W.,  29  Jahre,  Kaufmann,  stammt  von  einer  Mutter,  die  irr- 
sinnig gewesen  war,  auch  eine  Schwester  ist  geistig  gestört.  Sonst  nichts 
Belastendes  in  der  Familie.  Keine  schwere  Krankheiten.  Von  Kinds- 
beinen auf  etwas  nervös.  Keine  epileptischen  oder  hysterischen  Ante- 
cedentien.  Seit  2  Jahren  massige  Berufsneurasthenie.  Viel  Sorgen  wegen 
einer  Liebesaffaire ,  welche  die  Neurasthenie  steigerten,  aber  durch  eine 
Verlobung  beseitigt  wurden.  In  der  letzten  Zeit  Selbstquälereien,  ob  die 
geliebte  Braut  sich  in  seinem  künftigen  Domicil  (kleinere  Provinzstadt) 
glücklich  fühlen  werde.     Am  6.  März  189  .  sollte  die  Hochzeit  sein. 

In  der  Nacht  vom  3.  bis  4.  März  schlief  Patient  schlecht.  Er  sah  seine 
kranke  Schwester  im  Traum,  die  ihn  vor  der  Heirath  warnte  und  ihm 
mehrmals  sagte:  „Du  machst  dich  und  das  Mädchen  unglücklich.  Ihr 
dürft  nicht  heirathen." 

Er  war  am  4.  darüber  deprimirt,  fing  an,  an  seinem  Lebensglück  zu 
zweifeln,  obwohl  er  sich  sagte,  dass  er  seine  Braut  treu  und  wahr  liebe. 

Er  kämpfte  gegen  die  Traumsuggestion  an,  sah  den  Unsinn  dieser 
Obsession  ein,  aber  am  5.  war  ihm  bang,  er  hatte  das  Gefühl,  er  solle 
seine  TrauuDg  verschieben,  verreisen. 

Die  Nacht  auf  den  6.  (Hochzeitstag)  schlief  Patient  wenig.  Morgens 
Kopfdruck,  banges  Gefühl  mit  dem  Drang  fortzugehen.  Es  stieg  ihm 
die  hemmungslose  Idee  auf,  seine  Braut  sei  gar  nicht  in  Wien,  seine 
Schwester  habe  sie  in  eine  Provinz  im  Süden  der  Monarchie  entführt. 
Es  trieb  ihn  seiner  Braut  nachzureisen.    Dass  heute  sein  Hochzeitstag 


Dritter  Autsatz.  45 

sei,  dass  sein  Nichterscheinen  einen  Eclat  verursachen  werde,  dass  er 
sich  zuerst  vergewissern  solle,  ob  seine  Braut  wirklich  nicht  da  sei, 
kam  ihm  nicht  in  den  Sinn. 

Er  fuhr  auf  die  Bahn  und  bestieg  den  nach  G.  fahrenden  Zug.  Er 
hatte  während  dieser  ganzen  Reise  ein  leises  Bewusstsein,  dass  er  nicht 
normal  sei  und  einen  dummen  Streich  begehe.  Am  Bestimmungsort 
angekommen,  trieb  er  sich  auf  dem  Bahnhof  planlos  herum.  Abends 
traf  ihn  dort  sein  ihm  nachgereister  Bruder.  Patient  war  schon  in 
beginnender  Klärung  seines  Bewusstseins,  als  er  mit  dem  Bruder  zusammen- 
kam und  erkannte  nach  kurzer  Besprechung  seinen  Unsinn. 

Recht  deprimirt  kehrte  er  nach  Wien  zurück.  Am  7.  erschien  er 
mit  seinen  Verwandten  in  meiner  Sprechstunde  vollkommen  compossui.  Er 
hatte  Erinnerung  für  alle  Details  des  Vortags.  Gewöhnliche  Erscheinungen 
einer  massigen  Neurasthenia  cerebralis. 

W.  und  seine  Verwandten  waren  besorgt,  dass  sich  ein  solcher 
Zustand  wiederholen  konnte.  Ich  war  anderer  Meinung,  rieth  zu  Auf- 
schiebung der  Trauung,  Behandlung  der  Neurasthenie.  Der  Vorschlag 
wurde  acceptirt.  Nach  einigen  Wochen  Trauung  im  engsten  Familien- 
kreise.    Seither  glückliche  Ehe  und  volle  Gesundheit. 

Beobachtung  25.     Dämmerzustand.     Delirante  Reisepläne. 

Am  3.  März  1886  Abends  C>  Uhr  wurde  der  Grazer  psychiatrischen 
Klinik  von  der  Sicherheitsbehörde  J.  T.,  34  Jahre,  Tagschreiber,  zugeführt, 
weil  er  verwirrt  rede  und  beständig  nach  Amerika  abreisen  wolle. 

Patient  geht  ruhig,  äusserlich  geordnet  zu.  Er  ist  matt,  erschöpft, 
schlaf  bedürftig  bei  der  Ankunft,  faselt  von  einem  Dampfschiff,  mit  dem 
er  nach  Amerika  müsse,  legt  sich  aber,  ohne  über  seine  Lage  nach- 
zudenken, augenscheinlich  in  ganz  dämmerhafter  Verfassung  nieder, 
schläft  die  Nacht  hindurch  tief  und  erwacht  am  4.  früh  lucid.  Für 
die  Zeit  vom  3.  Mittags  bis  zum  Erwachen  am  4.  ist  er  amnestisch. 

Man  erfährt  von  seiner  Frau,  dass  er  am  3.  früh  ihr  psychisch  ver- 
ändert vorgekommen  sei,  von  einer  nothwendigen  sofortigen  Reise  nach 
Amerika  gefaselt  und  gefragt  habe,  ob  sie  mitreise.  Er  gehe  jetzt  aus, 
um  Fahrscheine  zu  lösen.  T.  ging  fort,  dämmerte,  ohne  auffällig  zu  sein, 
in  den  Strassen  von  Graz  herum,  erregte  aber  schliesslich  doch  Auf- 
sehen, da  er  ganz  planlos  und  ohne  Hut  auf  den  Strassen  herumlief, 
winde  in  diesem  Zustand  von  einem  Bekannten  getroffen,  der  des 
Patienten  Frau  herbeiholte.  Als  sie  ihn  traf,  sagte  er:  „Gehst  du  jetzt 
mit  nach  Amerika?  Du  bist  mein  christlich  angetrautes  Weib,  wenn 
du  nicht  gehst,  zeige  ich  dich  au".     Darauf  brachte  man  T.  ins  Spital. 

T's.  Vater  war  Potator  strenuus  gewesen,  die  Schwester  seiner  Mutter 
epileptisch.     Mehrere  seiner  Geschwister  hatten  in  frühester  Kindheit  an 


46  Transitori6ob.es  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Convulsionen  gelitten.  T.  hatte  sich  normal  entwickelt,  als  junger  Mann 
Gelenkrheumatismus  und  später  Typhus  überstanden,  nie  ein  Trauma 
capitis  erlitten,  nie  epileptische  Symptome  geboten. 

In  den  letzten  Jahren  hatte  er  etwas  in  geistigen  Getränken  excedirt, 
jedoch  seit  4  Monaten  bis  auf  die  letzten  Tage  vor  seiner  Erkrankung 
abstinirt. 

Seit  mehreren  Monaten  hatte  T.  sich  matt,  abgeschlagen  gefühlt, 
schlecht  und  unerquicklich  geschlafen,  nächtliches  Aufschrecken,  zu- 
nehmende Gemüthsreizbarkeit  gezeigt  und  besonders  Morgens  über  Kopf- 
druck geklagt.  Die  wesentliche  Ursache  dieser  neurasthenischen  Be- 
schwerden war  Ueberanstrengung  im  Beruf  gewesen,  indem  er  bis  2  Uhr 
früh  oft  arbeiten  und  gleichwohl  um  6  Uhr  schon  wieder  bei  der  Arbeit 
sein  musste. 

In  den  letzten  Wochen  hatte  er  fast  permanenten  Kopfdruck,  grosse 
Mattigkeit  und  Erregtheit  gespürt,  sich  kaum  mehr  fähig  zur  Arbeit 
gefühlt,  an  der  Möglichkeit  seine  Familie  zu  ernähren  zu  zweifeln  begonnen, 
wobei  ihn,  Zwangsvorstellungen  gleich,  Ideen  beschäftigten,  drüben  in 
Amerika  Reichthum  zu  erwerben.  Bis  zum  28.  Februar  hatte  Patient 
in  seinem  Berufe  gearbeitet.  Vom  1.  ab  ging  es  nicht  mehr.  Er  trieb 
sich  auf  den  Strassen  und  in  Wirthshäusern  herum.  Am  2.  März  acuter 
Magencatarrh ,  Erbrechen,  Anorexie.  Die  Nacht  auf  den  3.  hatte  er 
schlaflos  zugebracht. 

T.  bot  am  4.  März  grosse  Erschöpftheit,  mittelweite  Pupillen  von 
träger  Reaction,  keine  Spuren  von  Alcoholismus,  blieb  vollkommen  lucid 
und  geordnet,  vermochte  die  durch  seine  Krankheit  geschaffene  Bewusst- 
seinslücke  nicht  auszufüllen,  erholte  sich  in  guter  Spitalspflege  und  wurde 
am  13.  März  1886  genesen  entlassen. 

Am  4.  Januar  1889  kam  T.  neuerlich  zur  Aufnahme.  Bis  Anfang 
1888  hatte  er  sich  wohl  befunden,  solid  gelebt.  Von  da  ab,  unter  dem 
Einfluss  von  beruflicher  Anstrengung  und  Familiensorgen,  hatten  sich 
wieder  Erscheinungen  von  Neurasthenie  gezeigt. 

Gelegentlich  Exacerbationen,  unter  Kopfdruck,  Mattigkeit,  Reizbar- 
keit, hatten  sich  wieder  Anwandlungen  seiner  früheren  Krankheit  gezeigt. 
Er  vernachlässigte  in  solchen  bis  8  Tage  währenden  Episoden  seinen 
Beruf;  es  zwang  ihn,  Reisepläne  zu  machen,  Landkarten  zu  studiren, 
Projekte  zu  entwerfen,  sein  und  der  Familie  Glück  in  überseeischen 
Ländern  zu  machen.  Er  sprach  dann  ernstlich  davon,  seine  Habe  zu 
Geld  zu  machen  und  fortzureisen,  war  vorübergehend  ganz  in  diesen 
Ideenkreis  versunken,  zornig,  wenn  man  ihm  diese  unsinnigen  Ideen 
ausreden  wollte,  vermochte  aber  doch  meist  selbst  noch  einigermaassen 
Kritik  an  denselben  zu  üben,  so  dass  es  bei  blossen  Projekten  angesichts 


Dritter  Aufsatz.  47 

dieser,  wesentlich  nur  als  Zwangsvorstellungen  zu  betrachtenden  und  nach- 
träglich auch  erinnerten  Reiseideen  blieb. 

Dann  wurde  er  wieder  plötzlich  ganz  klar,  sah  den  ganzen  Unsinn 
ein,  nannte  ihn  selbst  seine  „Reisemanie"  und  gab  an,  dass  diese  Anfälle 
jedesmal  mit  Kopfweh  und  Gefühl  des  Zusammenziehens  des  Gehirns 
zu  einer  Kugel  begönnen. 

In  den  letzten  Tagen  vor  der  Aufnahme  hatte  T.  durch  Anstrengung, 
Gemüthsbewegungen  eine  bedeutende  Exacerbation  seiner  Neurasthenie 
erfahren.  Nach  mehreren  schlaflosen  Nächten,  unter  quälendem  Kopf- 
druck und  Zeichen  geistiger  und  körperlicher  Erschöpftheit  debutirte  T. 
am  4.  Januar  Morgens  mit  Plänen,  sofort  nach  Ostafrika  abzureisen,  wo 
er  durch  Erwerbung  von  Reichthümern  die  Existenz  seiner  Familie 
schleunigst  sicherstellen  müsse,  da  er  höchstens  noch  6  Jahre  zu  leben  habe. 

Da  er  zu  Hause  nicht  haltbar  war,  Miene  machte,  seine  Habe  zu 
veräussern,  fand  er  Aufnahme  auf  der  Klinik.  Er  betritt  sie  ruhig, 
äusserlich  geordnet,  aber  mimisch  verstört,  erschöpft,  blass,  abgemagert. 
Sich  selbst  überlassen,  versinkt  er  in  Brüten  über  seine  Reisepläne,  ohne 
von  der  Aussenwelt  Notiz  zu  nehmen.  Er  gleicht  einem  Träumer  im 
wachen  Zustand,  trifft  auch  gar  keine  Anstalten  zur  Verwirklichung 
seiner  Pläne.  Spontan  spricht  er  nicht,  wenn  aber  interpellirt,  motivirt 
er  sein  Vorhaben  in  obiger  Weise  und  bleibt  jeglicher  Correctur  unzu- 
gänglich. Ausser  Klagen  über  Kopfweh  keine  Beschwerden.  Vegetative 
Functionen,  Nahrungsaufnahme  ganz  befriedigend,  Schlaf  unruhig,  spär- 
lich, oft  Aufschrecken.  So  geht  es  bis  zum  17.  Januar,  an  welchem  Tag 
ein  vollkommenes  lucides  Intervall  besteht.  "Während  dessen  Dauer 
völlige  Amnesie  für  die  bisherige  Krankheitszeit.  Vom  18.  ab  wieder 
im  Reisedelirium.  Die  geistige  Hemmung  mindert  sich,  die  Associationen 
werden  freier. 

Noch  ganz  im  Bann  seiner  Reiseidee  protestirt  er  dagegen,  dass 
man  ihn  etwa  für  geisteskrank  halte,  weil  er  nach  Aussergewöhnlichem 
strebe.     Auch  Columbus  sei  dies  passirt,  als  er  übers  Meer  wollte. 

Auch  Mackay  sei  dahin  gegangen  und  in  kurzer  Zeit  Millionär 
geworden.  Am  2.  Februar  nahm  ihn  über  sein  Bitten  seine  Frau  aus 
der  Klinik.  Sofort  erkundigte  er  sich  nach  Fahrgelegenheiten  nach  Ost- 
afrika, wollte  sein  Mobiliar  verkaufen,  fortreisen,  wurde  gewalttbätig, 
als  man  ihn  daran  hindern  wollte,  so  dass  er  am  4.  Februar  wieder 
nach  der  Klinik  gebracht  wurde. 

Am  5.  Februar  Abends  wurde  ihm  plötzlich  im  Kopfe  „klar11  Nach 
erstmaliger  guter  Nacht  am  6.  Februar  mimisch  frei,  volle  Correctur, 
summarische  Erinnerung  für  die  2.  Periode  der  Krankheit.  Patient  theilt 
mit.  dass  er  die  ganze  Zeit  derselben  heftigen  Druck  und  Beengung  im 


48  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Kopfe  gefühlt  habe.  Er  misstraut  selbst  dauernder  Genesung,  bittet  um 
längere  BelassuDg  im  Spital,  erfährt  entsprechende  Behandlung,  bleibt 
von  Eückfällen  verschont  und  wird  im  März  1889  genesen'  entlassen. 


Es  ist  auffallend,  dass  der  interessanten  und  practisch  wichtigen, 
weil  häufig  vorkommenden  transitorischen  Psychose  der  Neurastheniker 
in  der  Literatur  bisher  so  wenig  Beachtung  zu  Theil  wurde. 

"Werthvolle  Beiträge  zu  diesem  klinischen  Gebiet  hat  Professor 
C.  Mayer  (Innsbruck)  unter  dem  Titel  „Sechzehn  Fälle  von  Halbtraum- 
zustand"  in  den  Jahrbüchern  für  Psychiatrie  XI,  3  geliefert.  Er  beob- 
achtete 15  Männer,  1  "Weib;  11  seiner  Fälle  waren  neuropathisch  belastet 
gewesen,  4  davon  schon  längere  Zeit  vor  der  Psychose  deutlich  neur- 
asthenisch.  In  4  weiteren  unbelasteten  Fällen  brach  die  Psychose  auf 
der  Höhe  einer  durch  erschöpfende  Schädlichkeiten  (Strapazen,  schlechte 
Ernährung  bei  angestrengter  Arbeit,  Nahrungssorgen)  acquirirten  tem- 
porären Neurasthenie  aus.  Fast  ausschliesslich  handelte  es  sich  um  im 
jugendlichen  oder  frühen  Mannesalter  stehende  Individuen. 

Die  Dauer  der  Psychose  betrug  Stunden  bis  6  Tage,  nur  in  einem 
Fall  protrahirte  sie  sich  bis  zu  24  Tagen. 

In  allen  Fällen  bestand  ein  traumhafter  Zustand,  in  12  daneben 
temporär  oder  dauernd  Verwirrtheit.  Episodisch  kamen  öfter  Angst- 
gefühle bis  zur  Abwehr  gegen  die  Umgebung  vor.  Ein  passendes  Bei- 
spiel solcher  Verwirrtheit  ist  C.  May  er 's  5.  Fall.  Er  betrifft  einen  18  Jahre 
alten  Arbeiter,  der  aufs  Polizeicommissariat  kommt  mit  Brod,  das  ihm 
König  Milan  gegeben  habe,  das  aber  vergiftet  sei.  Er  will  sich  seiner 
Kleider  entledigen,  weil  Thiere  drin  seien,  die  ihn  tödten  wollen,  äusserst 
Angst,  ermordet  zu  werden,  bleibt  verwirrt  und  gehemmt  durch  S'/a  Tage, 
wird  plötzlich  lucid,  hat  complete  Amnesie  für  die  ganze  Zeit  der  Krank- 
heit, die  durch  Nothlage  und  relative  Inanition  vermittelt  war. 

In  4  der  12  betreffenden  Fälle  von  Halbtraum  mit  Verwirrtheit 
bestanden  Grössenideen  (Erzherzog,  Erwarten  reicher  Braut  u.  s.  w.j.  Ein 
Kranker  kaufte  Laugenessenz  und  machte  daheim  einen  ganz  unmotivirten 
Selbstmordversuch,  wie  Mayer  vermuthet,  im  Sinne  der  Erinnerung  und 
Nachahmung  des  Selbstmordes  eines  geliebten  Bruders,  der  sich  vor 
einem  Jahre  entleibt  hatte.  Ein  Anderer  kaufte  einen  Revolver,  kam 
aber  zu  sich,  bevor  er  damit  einen  Schaden  gestiftet  hatte. 

In  sämmtliehen  Fällen  fand  sich  durchweg  Amnesie  für  die  Erleb- 
nisse der  Anfallszeit. 

Die  4  von  Mayer  ausführlich  geschilderten  Falle  iniigen  hier  kurz  erwähnt  werden. 

1.    A.,   17  Jahre,   wird  auf  der  Strasse  auffällig,   kommt   scheinbar  geordnet,  in 

Wirklichkeit  aber  in  traumhafter  Verfassung,  auf  die  psychiatrische  Klinik  (Mai)  1888. 


Dritter  Aufsatz.  49 

Er  hält  sich  für  General  Boulanger,  fabulirt  einen  ganzen  Roman  im  Sinne  dieses 
Wahns.  Er  spricht  nur,  wenn  man  ihn  anredet,  verhält  sich  äusserlich  geordnet.  Am 
21.  Tag  Ansätze  zu  Correctur,  am  24.  völlige  Lucidität. 

Seine  letzte  Erinnerung  datirt  vom  Vortag  seiner  Erkrankung.  Er  reist  planlos 
aus  Böhmen  ab,  dämmert  4  Tage  in  Wien  unbeanstandet  herum,  concipirt  nun  den 
Wahn,  Boulanger  zu  sein  und  sich  in  Paris  zu  befinden. 

Amnesie  für  die  4  ersten  Tage,  summarische  Erinnerung  für  die  folgende  Krank- 
heitszeit. 

Die  Lösung  der  Psychose  überdauert  noch  um  einige  Tage  Kopfschmerz.  Erb- 
liche Belastung.     Epileptoide  Antecedentien. 

2.  Halbtraumzustand  von  17  stündiger  Dauer  nach  erschöpfenden  Strapazen.  Ein 
Manu  stellt  sich  1891  in  der  Station  der  Kettungsgesellschaft  Wien  als  Hauptmann 
Roder  vor  und  bittet,  ihm  seine  soeben  in  der  Schlacht  von  Königgrätz  blessirte  rechte 
Hand  zu  verbinden.  Nach  17  Stunden  plötzliche  Lösung  dieses  Tramnzustands.  Patient 
hat  Narben  von  einer  Verletzung  des  rechten  Zeigefingers,  die  noch  öfter  schmerzen. 
Vom  1.  März  ab  hatte  er  grosse  Strapazen  erduldet  und  nicht  geschlafen.  Am  5.  März 
war  er  wegen  des  Gebrechens  an  der  Hand  bei  der  Assentirung  zurückgestellt  worden. 
Am  8.  März  Abends,  im  Begriff  heimzureisen,  war  er  unter  heftigem  Kopfschmerz  plötz- 
lich erkrankt  und  am  0.  im  Spital,  unter  Fortdauer  des  Schmerzes,  plötzlich  zu  sich 
gekommen.     Amnesie.     Rasche  Erholung  von  der  Erschöpfung. 

8.  Ein  32jähriger  Mann  geräth  1801  auf  einer  Reise  von  Hamburg  nach  Dresden, 
wo  er  einen  Poston  antreten  soll,  in  einen  Traumzustand,  kommt  nach  Wien,  hält  sich 
für  Dom  Pedro,  Kaiser  von  Brasilien,  fabulirt  innerhalb  dieses  Wahns  einen  ganzen 
Lebensroman,  schreibt  eine  Proclamation  an  sein  Volk,  kommt  nach  5 Tagen  plötzlich 
zur  Wirklichkeit  zurück,  hat  ganz  summarische,  grosseutheils  fehlende  Erinnerung  lür 
die  Krankheitraeit.  Der  Anfall  war  plötzlich  nach  mehrtägiger  Schlaflosigkeit  eingetreten. 

4.  Mann  von  32  Jahren  wird  18Ü0  in  Wien  auffällig  durch  Erkundigung  nach 
der  brasilianischen  Gesandtschaft,  er  sei  Kaiser  von  Brasilien. 

Klagen  über  Kopfschmerz,  Müdigkeit,  Abspannung.  Patient  sehr  gehemmt,  weiss 
nichts  vom  Verbleib  seiner  Frau,  nicht  den  Namen  seines  Kindes.  Glaubt  sich  auf 
einem  Schiff,  spricht  nur  antwortend  auf  Fragen.  Plötzliche  Lösung.  Amnesie.  Seit 
Jahren  Neurasthenie. 

C.  Mayer  betont  das  Traumhafte  dieser  Zustände  und  die  Unfähig- 
keit, Eindrücke  aus  der  Aussenwelt  zur  Correctur  des  Wahns  zu  benutzen, 
also  einen  eigentümlichen  Hemmungsvorgang  im  Vorstellen,  „wobei 
aber  innerhalb  des  Wahngebiets  phantastische  Ausschmückungsfähigkeit 
besteht"  Als  Grundlage  dieser  Hemmungserscheinungen  nimmt  C.  Mayer 
eine  corticale  Erschöpfung  an,  wodurch  eine  eigenthümliche  Einengung  des 
Bewusstseins  gegeben  ist  und  nur  von  dem  herrschenden  Wahn  getragene 
Vorstellungen  die  Schwelle  des  Bewusstseins  überschreiten  könnten. 

Die  Uebereinstimmung  der  von  C.  Mayer  geschilderten  Fälle  mit 
den  von  mir  beobachteten  ist  eine  vollständige. 

Die  Eigenartigkeit  derselben  innerhalb  des  Gebietes  transitorischen 
Irreseins  ist  nicht  zu  bezweifeln. 

Versucht  man  dem  Krankheitsbild  in  seiner  klinischen  Eigenart  näher 
zu  treten,  so  erscheint  es  als  die  Acme  eines  Erschöpfungszustands  im 

KrafftKMn,'     Lrtwltan  1.  4 


50  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Eahmen  cerebraler  Neurasthenie,  als  eine  Episode  im  Verlaufe  dieser 
Neurose.  Die  Asthenie  ist,  unbeschadet  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nach- 
weisbarer hereditärer  und  individueller  Veranlagung  zu  Neuropathieen 
überhaupt,  wesentlich  eine  Berufsneurasthenie,  bei  welcher  Gemüths- 
bewegungen,  missliche  Lebens-  und  Familienverhältnisse  die  Wirkung 
des  Surmenage  unterstützen. 

Bei  einem  dergestalt  übermüdeten  und  überreizten  Gehirn  genügt 
dann  ein  geringfügiges  Accidens  in  Gestalt  eines  psychischen  Shoks, 
schlafloser  Nächte,  der  Inanition  durch  Anorexie  oder  Nahrungsmangel 
oder  eine  letzte  Anspannung  der  geistigen  Kräfte  im  Beruf,  um  die 
Psychose  in  Gestalt  eines  schweren  Erschöpfungszustands  des  psychi- 
schen Organs  hervorzurufen.  Bemerkenswerth  ist,  dass  auch  bei  Unbe- 
lasteten unter  dem  Einflüsse  von  Schädlichkeiten,  die  ungebührlichen 
Verbrauch  an  Nervenkraft  bei  mangelhaftem  Wiederersatz  herbei- 
führen, jene  auftreten  kann.  (Beobachtung  1,  2,  3,  4,  8,  10,  14,  15, 
16,  20,  21). 

Schwer  gestörte  chemische  Thätigkeit  der  Ganglienzellen  der  Hirn- 
rinde, in  Folge  jener  Schädigungen,  ist  offenbar  das  Substrat  der  klinischen 
Symptome. 

Jene  Störung  des  Chemismus  ist  auf  2  Bedingungen  zurückführbar, 
auf  Inanition  und  Intoxication.  Die  Inanition  ist  die  Folge  der  durch 
übermässige  Leistung,  Agrypnie  abnorm  vermehrten  Verausgabung  von 
lebendiger  Kraft,  wobei  der  Ersatz  in  Gestalt  chemischer  Aequivalente, 
so  lange  die  Ganglienzellen  psychische  Arbeit  leisten,  unmöglich  ist. 
Dazu  mögen  mangelhafte  Nahrungszufuhr  oder  wenigstens  erschwerte 
Peptonisirung  und  Assimilation  kommen,  endlich,  unter  dem  Einfluss 
vasospastisch  gestörter  Circulation  im  Gehirn,  mangelhafte  Blutzufuhr. 

Die  Intoxication  im  psychischen  Organ  erklärt  sich  durch  Anhäufung 
schädlich  wirkender  Ermüdungsstoffe,  bei  ungenügender  Oxydation 
und  Abfuhr  derselben  in  Folge  mangelhaften  Schlafes.  Die  klinischen 
Erscheinungen  setzen  sich  aus  Hemmungs-  und  Reizphänomenen  zusammen, 
die  ersteren  überwiegen.  Die  Hemmungsphänomene  lassen  sich  als 
Ausfallserscheinungen  corticaler  Function  ansprechen  im  Sinne  von  par- 
tieller Seelenlähmung,  Seelenblindheit,  Worttaubheit,  bis  zu  allgemeiner 
Hemmung  im  Sinne  der  Associationshemmung,  der  unmöglichen  Schluss- 
und  Urtheilsbildüng,  der  Hemmung  der  Bewusstseinsfunction  in  Gestalt 
von  Dämmer-,  Traum-  und  Stuporzuständen. 

Dem  Grad  der  Bewusstseinsstörung  entspricht  wohl  das  Verhalten 
der  Erinnerung,  die  erhalten,  getrübt,  summarisch,  meist  aber  fehlend 
sich  erweist.  Von  grossem  Interesse  ist  die  schon  von  C.  Mayer  hervor- 
gehobene erhaltene  partielle  Associations-  und  psychische  Coordinations- 


Dritter  Aufsatz.  51 

fähigkeit  innerhalb  des  herrsehenden  (Wahn-)  Vorstell ungskreises,  eine 
Erscheinung,  die  in  ganz  analoger  Weise  auch  im  Somnambulismus 
beobachtet  wird. 

Dem  Grade  der  Inanition  dürfte  die  Störung  der  Bewusstseinsenergie 
entsprechen.  Als  schwerster  Ausdruck  derselben  erscheinen  Stupor-  und 
Verwirrtheits-,  dann  Dämmer-  und  Traum-  bis  Halbtraumzustände. 

Bei  den  meisten  dieser  Kranken  lässt  sich  die  psychische  Verfassung 
als  Wachtraum  bezeichnen.  Als  Reizphänomene,  wohl  als  Ausdruck 
toxischer  Vorgänge,  lassen  sich  Angst,  gewisse  (schreckhafte)  Delirien 
und  Hallucinationen  ansprechen. 

Ein  wichtiges  Symptom  im  Krankheitsbild  sind  Delirien  resp.  Wahn- 
ideen. Sie  finden  sich  in  C.  Mayers  Fällen  fl  mal  unter  16,  in  meiner 
Beobachtungsreihe  14  mal  unter  25  Fällen. 

Unter  diesen  23  Beobachtungen  mit  Wahnbildung  ist  der  Wahn 
14  mal  ein  expansiver  und  zwar  10  mal  ein  Monodelirium  im  Sinne  einer 
Standeserhöhung. 

Seltener  finden  sich  Delirien  depressiven  Inhalts  (in  meinen  25  Fällen 
4  mal).  Sie  sind  Monodelir.  fix,  nach  Art  der  Delirien  der  Standes- 
erhöhung, in  Gestalt  von  Selbstanklagedelir  (18,  23)  oder  vage,  flüchtig, 
im  Gefolge  ängstlicher  Verwirrtheit.  Solches  vages  depressives  Delirium 
mit  Störung  des  Bewusstseins,  im  Sinne  ängstlicher  Verwirrtheit,  scheint 
sich  nur  auf  dem  Boden  relativer  Inanition  und  vasospastischer  Zustände 
im  Gehirn  zu  finden.  Bei  schwerer  Inanition  dürften  Delirien  fehlen, 
und  einfach  ängstliche  Verwirrtheit  bis  zu  Stupor  den  Inhalt  des 
Symptomenbildes  darstellen. 

In  solchen  Fällen' deuten  auch  die  körperlichen  Erscheinungen  (enge, 
drahtartig  contrahirtc  Arterien,  abnorm  weite,  träge  Pupillen,  wohl  durch 
vermehrte  Innervation  der  Vasodilatatoren  der  Iris)  auf  vasospastische 
Zustände  im  Gehirn  hin.  Von  grossem  Interesse  und  für  die  Erkennung 
der  eigenthümlichen  Hemmung,  in  welcher  sich  der  geistige  Mechanismus 
in  diesen  Wachtraumzuständen  befindet,  wichtig  ist  die  Ermittelung  der 
Entstehung  der  Monodelirien  bei  diesen  Kranken. 

Auffallend  geringfügig  ist  der  hallucinatorische  Weg  für  solche 
Wahnbildung  (12),  ebenso  der  der  Allegorie  (C.  Mayer's  vermeintlicher 
Verwundeter)  gegenüber  der  Entstehung  des  Wahns  aus  der  Eigen- 
In'ziehung  von  Tagesereignissen  (Zeitungslektüre  u.  s.  w.)  oder  von  kürz- 
lichen Erlebnissen  in  traumhaft  phantastischer  Umgestaltung,  ferner  der 
Verwechslung  von  lebhaft  Gedachtem,  Geträumtem  mit  Wirklichkeit 

Das  deutet  mit  Sicherheit  darauf,  dass  plötzlich  eine  Aenderung  im 
Bewusstseinsorgan  sich  vollzog,  vermöge  welcher  Kritik,  Besonnenheit, 
Sinneswahrnehmung,  Associationsvorgänge  eine  schwere  Hemmung  bis 

4* 


52  Transitoriscb.es  Irresein  bei  Neurasthenie. 

zur  Unfähigkeit  ihrer  Leistung  erfuhren.  Vielleicht  am  schönsten  zeigt 
sich  dies  in  Beobachtung  25,  deren  Repräsentant  in  relativer  Gesundheit 
an  und  für  sich  nicht  unsinnige  Auswanderungspläne  hegte,  mit  Beginn 
neurasthenischer  Zustände  von  entsprechenden  Zwangsvorstellungen 
befallen  wurde,  die  mit  eintretender  Psychose  dann  sofort  die  Bedeutung 
von  Wahnideen  gewannen. 

Gute  Beispiele  von  Umwandlung  von  im  gesunden  Leben  offenbar 
bestandenen,  lebhaft  betonten  Ideen  einer  Verbesserung  der  Lage,  in 
Wahnideen  einer  eingetretenen  Standeserhöhung,  sind  der  Oberlehrer  (2), 
der  sich  für  einen  Landesschulinspector  hält,  der  Gymnasialprofessor  (22), 
der  Minister  wird,  der  Schüler  (10),  der  Kaiser  von  China  wird  und 
als  solcher  ein  Gesetz  erlassen  hat,  dass  die  Schüler  künftig  ohne  ihre 
Zustimmung  keine  Fünfer  (schlechte  Noten)  mehr  erhalten  dürfen;  ferner 
der  Lehrling  (13),  dem  Europa  nicht  mehr  behagte,  der  nach  Amerika 
auswandern  wollte  und  plötzlich  Präsident  der  V.  S.  wurde.  Dass  sogar 
ein  einfach  nicht  corrigirbarer  Traum  den  Inhalt  des  Wahns  bilden 
kann,  lehrt  jener  Stationsaufseher  (3),  der  sich  für  einen  Stationsvorstand 
hielt.  Auch  die  Selbstanklagewahnvorstellungen,  wie  sie  die  Beobachtungen 
18  und  23  enthalten,  finden  offenbar  ihre  Begründung  in  entsprechenden 
Gedanken  des  relativ  gesunden  Geisteslebens,  von  denen  die  bedauerns- 
werthen  Mütter  heimgesucht  waren. 

Bezeichnend  für  die  Hemmung  der  Denkvorgänge,  speciell  der  Kritik 
in  solchem  Zustand  ist  Beobachtung  23,  wo  die  Mutter  beim  Fortgehen 
ihr  gesundes  Kind  vor  sich  hat,  gleichwohl  auf  die  Polizei  eilt  und  sich 
anklagt,  dasselbe  ermordet  zu  haben. 

Treffliche  Beispiele  von  Verwechseln  von  Gelesenem  und  Erlebtem  resp. 
von  Entstehung  von  Wahn  aus  Zeitungslectüre  sind  C.  Mayer's  „General 
Boulanger'1  und  die  beiden  „Dom  Pedro's  von  Brasilien''. 

Solche  psychische  Ausnahmszustände  haben  die  grösste  Analogie 
mit  dem  Traumleben,  mit  dem  sie  die  Art  der  Wahnbildung  auf  Grund 
gehemmter  Associationsthätigkeit  und  damit  gehemmter  Kritik  und  Urtheils- 
fähigkeit,  gleichwie  die  phantastische  Umbildung  und  Uebertreibung  von 
irgendwie  gegebenen  Eindrücken  gemein  haben.  Auch  in  sofern  besteht 
hier  eine  Analogie,  als  erfahrungsgemäss  Träume  expansiven  Inhalts 
am  häufigsten  in  Zeiten  körperlicher  und  geistiger  Erschöpfung  vorkommen 
und  expansive  Wahnideen  bei  solchen  Wachtraumzuständen  der  Neur- 
astheniker  prävaliren.  Aus  der  gleichen  körperlichen  Grundlage  ergiebt 
sich  wohl  zugleich  die  Erklärung  für  dieses  Prävaliren. 

Gleichwie  beim  Träumenden  sind  auch  diese  Delirien  gemüthlich 
wenig  betont  und  ihre  Umsetzung  in  entsprechende  Handlungen  unter- 
bleibt in   der  Mehrzahl  der  Fälle.     Eine  geringfügige   Rolle   spielen  in 


Dritter  Aufsatz.  53 

dieser  Form  der  Vesania  transitoria  Hallucinationen.  Sie  finden  sich  nur 
in  den  Beobachtungen  12  und  21.  In  ätiologischer  Beziehung  bestätigen 
meine  Erfahrungen  die  von  C.  Mayer,  dass  es  vorwiegend  jugendliche 
Personen  sind,  die  dieser  Krankheit  anheimfallen.  Das  U  eberwiegen  der 
Männer  (20  :  5)  über  die  Frauen  in  meinen  Beobachtungen  erklärt  sich 
ohne  Weiteres  aus  der  exponirteren  gesellschaftlichen  Position  der 
ersteren.  Das  plötzliche  Einsetzen  und  die  rasche  Lösung  der  Psychose 
hat  die  Vesania  transitoria  der  Neurasthenischen  mit  den  anderen  Formen 
des  transitorischen  Irreseins  gemein.  Die  Bedeutung  eines  ausgiebigen 
reparatorischen  Schlafs  für  die  Genesung  ergiebt  sich  aus  der  Mehrzahl 
der  mitgetheilten  Fälle. 

Bezüglich  der  Dauer  der  Psychose  ergeben  sich  grosse  Verschieden- 
heiten. Sie  währt  von  21/2  Stunden  (9)  bis  zu  32  Tagen  (25),  im  Durch- 
schnitt 1 — 4  Tage.  In  diagnostischer  Hinsicht  sind  die  dämmerhafte 
oder  traumhafte  Verfassung  des  Sensoriums,  die  schwere  Störung  der 
Kritik  auf  Grund  von  Hemmung  der  associatorischen  Vorgänge,  die 
Seltenheit  von  Hallucinationen.  die  Häufigkeit  von  ganz  märchenhaften 
Delirien,  besonders  solchen  der  Standeserhöhung,  hervorzuheben.  Wichtig 
ist  der  Nachweis  der  Delirien  als  das  mit  Eintreten  der  Bewusstseins- 
veränderung  correcturlose,  weil  durch  Hemmung  der  Kritik  uncorrigir- 
bare  Fürwahrhalten  von  Ideen,  die  als  prämorbide  in  Gestalt  von 
Luftschlössern,  Zwangsvorstellungen  oder  wenigstens  lebhaft  sich  auf- 
drängenden Gedanken  oder  Tageserlebnissen  schon  bestanden. 

Dazu  traumhaftes  Wesen,  Versunkensein,  mangelhafte  Betonung  der 
Wahnideen  durch  entsprechende  Affecte  und  seltene  Bestrebung  in  ihrem 
Sinne  zu  handeln. 

Ueberdies  vorausgehende  und  folgende  Erscheinungen  eines  cerebral 
asthenischen  Gesammtzustands,  initialer  und  begleitender  Kopfdruck, 
erschöpfter,  verschleierter  Gesichtsausdruck,  weite  träge  Pupillen,  Erzittern 
der  Lider  beim  Augenschluss,  Inanitionstremor,  gesteigerte  tiefe  Reflexe, 
gesunkener  Muskeltonus,  sofern  nicht  Delirien  der  Standeserhöhung  im 
Spiele  sind,  abnormale  Temperaturen,  bedeutende  Vermehrung  des 
Indicangehalts  des  Urins. 

Von  grosser  Wichtigkeit  scheint  mir  die  differentielle  Diagnose 
dieser  Zustände  von  ähnlichen,  wie  sie  auf  epileptischer  Grundlage  vor- 
kommen. Schon  in  meinem  ersten  Aufsatz  (S.  14)  habe  ich  die  Bedeutung 
einer  solchen  Differenzirung  betont.  Practisch  kann  es  nicht  gleichgültig 
sein,  wie  die  Diagnose  gestellt  wird,  da  es  sich  um  einen  Menschen  in 
recht  verantwortlicher  socialer  Stellung  handeln  kann,  der,  wenn  bloss 
an  neurasthenischer  transitorischer  Psychose  krank  gewesen,  bei  der 
geringen    Gefahr   einer  Recidive,    seinem   verantwortlichen  Beruf  ohne 


54  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Weiteres  zurückgegeben  werden  kann,   -während   dies   bei   epileptischer 
Bedeutung  des  Falles  nicht  zulässig  wäre. 

Die  Diagnose  in  solchen  zweifelhaften  Fällen  gehört  jedenfalls  zu 
den  schwierigsten  Aufgaben  auf  psychiatrischem  Gebiete,  denn  die 
klinischen  Bilder  des  neurasthenischen  und  gewisser  Formen  des  epi- 
leptischen transitorischen  Irreseins  sind  noch  keineswegs  endgültig 
erforscht  und  —  wahrscheinlich  vermöge  nicht  wesentlich  verschiedener 
Gehirnveränderungen  als  Substrat  des  Anfalls,  einander  überaus 
ähnlich. 

Auch  aus  dem  Erweis  oder  Nichterweis  epileptischer  Antecedentien 
lässt  sich  kein  sicherer  Schluss  ziehen,  da  ein  positives  anamnestisches 
Ergebniss  zwar  den  Fall  höchst  epilepsieverdächtig  macht,  aber  die  Mög- 
lichkeit nicht  ausschliesst,  dass  der  Epileptiker  zugleich  neurasthenisch 
war,  und  die  transitoiische  Psychose  auf  Kechnung  der  letzteren  Neurose 
zu  setzen  sei. 

Ueberdies  kann  es  zweifelhaft  bleiben  beim  gegenwärtigen  Stand 
unserer  Kenntnisse  von  der  Epilepsie,  ob  anamnestische,  zudem  oft 
mangelhaft  beobachtete  oder  berichtete  epilepsieartige  Phänomene  einen 
sicheren  Rückschluss  auf  vorhandene  Epilepsie  gestatten. 

Es  ist  hier  nicht  zu  vergessen,  dass  epileptoide  Phänomene  auch 
im  Eahmen  der  Neurasthenie  vorkommen  und  dass  Leute  mit  epilep- 
tischen Traumzuständen  selten  oder  nie  mit  Anfällen  klassischer  Epi- 
lepsie behaftet  zu  sein  pflegen. 

Differentiell  diagnostisch  kommen  gegenüber  dem  transito- 
rischen neurasthenischen  Irresein  epileptische  Angst-  und  Verwirrt- 
heitszustände einerseits  und  andererseits  epileptische  Traum- 
zustände in  Betracht. 

Bezüglich  der  ersteren  lässt  sich  differentiell -diagnostisch  geltend 
machen,  dass  sie  nur  Stunden  oder  umgekehrt  Monate  lang  andauern, 
dass  sie  gerade  selten  ohne  epileptische  Hinweise  sind,  oft  geradezu 
postepileptisch  in  Erscheinung  treten. 

Auf  Grund  von  Angst  und  illusorischer  feindlicher  Verkennung  der 
Aussenwelt  sind  solche  Kranken  errabund.  Es  fehlt  hier  der  Grundzug 
neurasthenischer  Angstzustände,  die  grosse  psychische  und  damit  auch 
motorische  Hemmung.  Eben  deshalb  sind  auch  bedeutende  und  selbst 
gefährliche  motorische  Reactionen  bei  solchen  Kranken  etwas  ganz 
Gewöhnliches.  Immer  ist  hier  das  Bewusstsein  schwerer  gestört  und 
nie  fehlt  Verwirrtheit.  Die  Erinnerung  ist  eine  nur  summarische  für 
die  Anfallserlebnisse.     Recidive  sind  an  der  Tagesordnung. 

Der  folgende  Fall  möge  als  Paradigma  solcher  epileptischer  Angst- 
und Verwirrtheitszustände  dienen. 


Dritter  Aufsatz.  55 

Beobachtung  26.    Epileptischer  Angstzustand. 

0.,  34  Jahre,  ledig,  Steinmetz,  wurde  auf  meiner  Klinik  am  12.  März 
1878  aufgenommen. 

Unbelastet,  ohne  epileptische  Antecedentien,  dem  Potus  nicht  ergeben, 
früher  gesund,  war  er  im  Spätherbst  1870  von  Bauernburschen  in  einem 
Streit  heftig  gewürgt  und  mit  dem  Hinterhaupt  an  eine  Wand  geworfen 
worden.  Er  bekam  Funkensehen,  Ohrenklingen,  wurde  bewusstlos,  kam 
nach  10  Minuten  wieder  zu  sich,  blieb  aber  benommen,  betäubt  durch 
einige  Tage,  hatte  Halsschmerzen,  Suggilationen. 

Seither  war  er  intolerant  gegen  hohe  Temperatur  und  AJcohol  gewesen, 
litt  viel  an  Schwindel  und  Blutandrang  zum  Kopf,  fühlte  Abnahme  seines 
Gedächtnisses,  konnte  nicht  mehr  so  coulant  schreiben  und  rechnen  wie 
früher,  zeigte  Mangel  an  Ueberlegung  und  Geschicklichkeit  im  Beruf. 
Auch  war  er  reizbar  geworden   und  gerieth  leicht  in  maasslosen  Zorn. 

1871,  etwa  ein  halbes  Jahr  nach  der  Misshandlung,  als  0.  in  der 
Sonnenhitze  arbeitete,  verspürte  er  plötzlich  Nachmittags  Summen  im 
Kopf,  Ohrenklingen,  Schwindel,  Betäubung  und  sank  zu  Boden.  Nach 
kurzer  Bewusstlosigkeit  kam  er  zu  sich,  war  aber  nun  ängstlich,  lief 
in  erheblicher  Bewusstseinsstörung.  ohne  Motiv  und  ohne  zu  wissen, 
was  or  thue,  zum  Pfarrer,  sah  diesen  mit  2  Köpfen,  allerlei  Thiere, 
schalt  den  Geistlichen  aus,  lief  dann,  von  Angst  getrieben,  ohne  Stiefel 
planlos  fort,  verletzte  sich  auf  dieser  Flucht  die  Füsse,  wurde  gegen 
10  Uhr  Abends  planlos  umherirrend  gesehen,  flüchtete  in  einen  Wald, 
wo  er  einschlief  und  am  anderen  Morgen  beim  Erwachen  nur  ganz 
traumhaft  sich  des  Vorgefallenen  erinnerte.  Von  da  ab  bis  zum  Sommer 
1873  befand  sich  0.  bis  auf  zeitweisen  Schwindel,  Kopfweh,  nervöse 
Erregtheit  und  psychische  Keizbarkeit  leidlich  wohl. 

Nun  kamen  etwa  3  mal  wöchentlich  Angstanfälle  von  etwa  1  Stunde 
Dauer,  mit  erheblicher  Verwirrtheit  und  Bewusstseinstrübung.  Sie  wurden 
in  typischer  Weise  eingeleitet  von  Vorstellungen,  dass  ihn  die  Leute 
würgen  wollten,  dass  ihm  etwas  Schreckliches  bevorstehe,  er  sich  durch 
die  Flucht  retten  müsse,  und  hinterliessen  nur  eine  traumhafte,  summarische 
Erinnerung.  Vom  Herbst  1873  bis  Januar  1876  schwiegen  diese  Anfälle, 
aber  geschwächte  geistige  Leistungsfähigkeit,  Gedächtnissabnahme,  Nei- 
gung zu  Congestionen  und  grosse  Eeizbarkeit  dauerten  fort. 

Vom  Januar  1876  ab  wieder  Angstanfälle,  fast  täglich,  meist  Mittags 
beim  Essen.  Patient  wurde  schwindlig,  betäubt,  verwirrt,  bekam  Pria- 
pismus, delirirte  von  Vergiftung,  wogegen  er  sich  durch  Trinken  grosser 
Mengen  von  Wasser  zu  schützen  suchte.  Solche  Anfälle  von  ängst- 
licher Verwirrtheit  dauerten,  allerdings  mit  Intervallen  bis  zu  Monaten, 
typisch  bis  zum  Eintritt  in  die  Klinik  fort. 


56  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Patient  bot  ausser  etwas  kleinem,  plagiocephalem  Schädel  (Cf.  54), 
Parese  des  linken  Mundfacialis  somatisch  nichts  Bemerkenswerthes, 
psychisch  erhebliche  Schwäche  und  grosse  Keizbarkeit.  Trotz  mehr- 
wöchentlicher Beobachtung  Hessen  sich  keine  irgendwie  gearteten  epi- 
leptischen Insulte  constatiren.  Die  Angstanfälle  traten  unter  Bromkali- 
Behandlung  nicht  mehr  zu  Tage. 

Noch  grössere  Schwierigkeiten  dürfte  die  Auseinanderhaltung  epi- 
leptischer und  neurasthenischer  Traumzustände  bieten. 

Der  meist  expansive  Inhalt  der  Wahnideen,  der  dämmer-  oder  traum- 
hafte Zustand  des  Bewusstseins,  die  wenig  beschränkte  Association  und 
Handlungsfähigkeit  im  Bahmen  des  Wahns,  die  meist  nur  Tage  oder 
selbst  nur  Stunden  betragende  Dauer,  das  Zusichkommen  wie  aus  einem 
Traum ,  die  meist  bestehende  Amnesie  für  die  Erlebnisse  des  Ausnahms- 
zustands  sind  beiden  transitorischen  Psychosen  gemeinsame  Symptome. 

Als  Unterscheidungsmerkmale  lassen  sich  vorläufig  geltend  machen: 
der  grosse  Wechsel  der  Intensität  der  Störung  des  Bewusstseins  bis  zu 
relativer  Lucidität,  und  demgemäss  das  Schwanken  im  Werthcharakter 
der  krankhaften  Vorstellungen  zwischen  Zwangs-  und  "Wahnideen  bei 
epileptischen  Traumzuständen,  während  die  neurasthenischen  auf  der 
Höhe  der  Bewusstseinsstörung  ohne  deutliche  Bemissionen  zu  ver- 
harren pflegen. 

Dazu  kommt  die  nicht  selten  ausgesprochene  epileptische  Aura  vor 
dem  Anfall  im  Sinne  einer  hallucinatorischen  (Umwogtsein  von  Gestalten, 
besonders  solchen  in  rother  Farbe,  schreckliches  Getöse  u.  s.  w.),  das 
Vorherrschen  von  Hallucinationen  im  Anfall  bis  zu  förmlichem  hallu- 
cinatorischem  Delir,  während  Hallucinationen  bei  neurasthenischen 
Zuständen  entschieden  selten  sind,  überdies  einförmig  und  stabil,  gleich- 
wie etwaige  Wahnvorstellungen,  nicht  vielfach  und  polymorph  wie  bei 
epileptischem  Traumzustand. 

Ganz  besonders  wichtig  erscheint  ferner  der  Nachweis  von  episo- 
dischem Stupor  im  (epileptischen)  Dämmer-  oder  Traumzustand. 

Während  bei  rein  neurasthenischen  Fällen  die  Lösung  des  transi- 
torischen Irreseins  plötzlich  und  mit  Wiedereinsetzen  voller  Lucidität 
zu  erfolgen  pflegt,  geht  in  epileptischen  die  Psychose  in  der  Begel  durch 
ein  postparoxysmales  Dämmer-,  Verwirrtheits-  oder  Betäubungsstadium 
hindurch,  das  selbst  Züge  des  Stupor  gewinnen  kann. 

Auch  anamnestisch  oder  durch  Beobachtung  festgestellte  Becidive 
sind  zu  verwerthen.  Sie  sprechen  entschieden  für  epileptische  Bedeutung 
des  Falles. 

Begleitende  und  intervalläre  klinische  Zeichen  der  einen  oder  der 
anderen  Neurose  mögen  ebenfalls  diagnostische  Fingerzeige  geben. 


Dritter  Aufsatz.  57 

Sehr  wahrscheinlich  scheint  mir  aber,  dass  es  Fälle  giebt,  in  welchen 
sowohl  eine  gleichzeitig  bestehende  epileptische  wie  auch  neurasthenische 
Neurose  Einfluss  auf  einen  solchen  Traumzustand  gewinnt  und  dadurch 
ein  combinirtes  Krankheitsbild  entsteht. 

Die  folgenden  3  Fälle  gestatten  wahrscheinlich  eine  solche  Deutung. 
Ich  beschränke  mich  darauf,  das,  was  im  Bild  der  Neurasthenie  fremd 
scheint,  mit  gesperrter  Schrift  hervorzuheben. 

Beobachtung  27.     Neurasthenisch- epileptischer  Traumzustand. 

Am  14.  October  1896  erschien  H.,  24  Jahre,  ledig,  Friseurgehilfe, 
auf  einem  Polizeicommissariat  in  Wien  und  bat  um  Schutz  vor  dem 
Scharfrichter,  einem  Manne  mit  rothem  Bart  und  grünem  Mantel, 
der  ihm  seit  3  Tagen  nachgehe,  ihm  grundlos  vorwerfe,  einen  Menschen 
gehängt  zu  haben  und  nun  an  ihm  Vergeltung  üben  wolle.  Derselbe 
habe  ihm  auch  seine  Baarschaft  abgenommen.  H.  macht  diese  Angaben 
ganz  verstört,  vor  Angst  zitternd  und  wird  sofort  der  psychiatrischen 
Klinik  zugeführt. 

Dort  glaubt  sich  Patient  im  Vorzimmer  des  Scharfrichters,  der  bald 
zur  Thüre,  bald  zum  Fenster  drohend  hereinsehe  und  ihm  einen  zur 
Schlinge  formirten  Strick  entgegenhalte. 

Patient  ist  wie  fascinirt  von  dieser  Vision,  starrt  angstvoll  nach 
derselben  hin,  erscheint  schwer  associativ  und  motorisch  gehemmt  und 
ist  zu  weiteren  Mittheilungen  vorläufig  nicht  zu  gewinnen. 

Er  bietet  müde,  schlaffe,  verschleierte  Miene,  gesunkenen  Muskel- 
tonus, schlaffen  Gang  und  Haltung,  verharrt  angstvoll  starrend  im  Bett, 
nimmt  von  der  Aussenwelt  keine  Notiz.  Die  Pupillen  sind  mittelweit, 
von  prompter  Reaction,  die  Zunge  zittert  fibrillär.  die  tiefen  Reflexe 
an  den  Unterextremitäten  sind  collosal  gesteigert.  Ein  Schlag  auf  Sehnen, 
Knochen  genügt,  um  allgemeinen  Schüttelkrampf  der  UE.  hervorzurufen, 
der  sich  weiterhin  auf  OE.  und  Rumpf  fortsetzt.  Die  Haut  ist  hyperal- 
getisch  und  ihre  Gefässe  sind  äusserst  lähmbar  (Dermographie).  Im 
Urin  sind  keine  abnormen  Bestandtheile,  Phosphate  sehr  reichlich. 

Die  erste  Nacht  verläuft  schlaflos,  die  auf  den  16.  wird  auf  2.0  Chloral- 
hydrat  durchschlafen. 

Am  16.  früh  ist  Patient  mimisch  etwas  freier,  aber  bald  erscheint 
wieder  der  Scharfrichter  und  übt  seine  facsinirende  Wirkung.  Man 
erfährt  vom  Patienten,  dass  die  Polizei  jenem  zwar  das  Hängen  ver- 
boten habe,  aber  er  drohe,  ihn  nun  durch  einen  seiner  vielen  Diener 
vergiften  zu  lassen. 

Trotz  dieser  peinlichen  Situation  bietet  Patient  in  der  Folge  keinen 
eigentlichen  Affect  und  keine  Versuche,  sein  vermeintlich  bedrohtes 
Leben  zu  retten. 


58  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Grosse  allgemeine  Hemmung  der  psychischen  Functionen,  traum- 
hafte Verfassung  des  Sensoriums.  Am  16.  Nachmittags  etwa  einstündige 
Remission,  in  welcher  H.  folgenden  Brief  an  seinen  Bruder  schreibt: 

„Lieber  Victor!  Ich  möchte  Dich  doch  bitten,  mir  zu  helfen,  ich 
bin  seit  der  Zeit  im  Spital  und  weiss  nicht  warum,  und  bin  bis  auf 
den  letzten  Kreuzer  beraubt." 

Patient  klagt  über  Kopfdruck  („Kappe")  und  globusartiges  Gefühl. 

Die  Remission  wird  wieder  durch  die  Vision  des  Scharfrichters  ver- 
drängt und  Patient  ist  wieder  traumhaft  gehemmt. 

Am  17.  früh  nach  guter  Chloralnacht  ist  H.  nur  noch  dämmerhaft. 
Er  weiss,  wo  er  ist,  glaubt,  es  sei  heute  ein  Sonntag  im  November. 
Er  erinnert  sich  nicht,  dass  er  einen  Brief  geschrieben,  hat  summarische 
Erinnerung  für  den  Scharfrichter,  den  er  vor  einiger  Zeit  bei  einer 
Hinrichtung  in  N.  (thatsächlich)  gesehen  habe. 

Er  beschreibt  ihn  als  unheimlichen  Mann  mit  rothem  Bart  und 
grünem  Mantel. 

Im  Laufe  des  Tages  exacerbirt  der  Zustand.  Patient  sieht  wieder 
das  Phantasma  und  hat  ein  Gefühl,  als  ob  er  am  Nacken  gepackt  werde 
(die  ganze  Nacken-  und  obere  Wirbelsäule  ist  sehr  druckempfindlich). 
Correcturversuchen  gegenüber  ist  H.  ganz  unzugänglich.  Er  begreift 
nicht,  dass  Jemand  ohne  Strafthat,  Gerichtsverhandlung,  Urtheil  in  die 
Gewalt  des  Scharfrichters  gelangen  könne,  versucht  auch  seinen  "Wahn 
gar  nicht  mehr  zu  motiviren.  Wiederholt  Klagen  über  Kopfdruck,  leb- 
haftes Erzittern  der  geschlossenen  Lider. 

Am  18.  October  Abends  wird  Patient  plötzlich  lucid.  Er  kommt 
wie  aus  einem  „Traum"  zu  sich,  hat  Amnesie  für  die  ganze  Epi- 
sode vom  14.  October  ab.  Seine  Erinnerung  bricht  an  diesem  Tage 
mit  der  Thatsache  ab,  dass  er  Morgens  6  Uhr  den  Geschäftsladen 
öffnete. 

Von  nun  ab  ist  Patient  noch  einige  Tage  leicht  dämmerhaft,  aber 
über  seine  Lage  orientirt  und  ganz  geordnet. 

Er  klagt  heftigen  Kopfdruck,  allgemeine  Mattigkeit  und  Zerschlagen- 
heit,  schläft  nur  mit  Nachhülfe  (Brom-Antipyrin  Codein)  und  ist  vom 
Schlaf  nicht  recht  erquickt. 

Die  ganze  Nacken-  und  Rückenwirbelsäule  ist  höchst  druckempfind- 
lich. Die  Steigerung  der  tiefen  Reflexe  in  den  UE.  reducirt  sich  auf 
Patellar-  und  Fussclonus.     Das  Lidzittern  verliert  sich. 

Am  20.  October  Nachmittags  wird  Patient  plötzlich  wieder 
traumhaft,  starrt  vor  sich  hin,  erklärt  auf  Befragen  wieder 
den  Scharfrichter  zu  sehen.  Nach  5  Minuten  Stat.  quo  ante 
leichter  Umdämmerung.     Für  diesen  Anfall  besteht  Amnesie, 


Dritter  Aufsatz.  59 

sodass  derselbe  eine  Lücke  in  der  seit  18.  Abends  continuir- 
lichen  und  ungetrübten  Erinnerung  bildet 

Vom  21.  ab  ist  H.  mimisch  und  psychisch  endlich  ganz  frei  und 
bleibt  so,  ohne  dass  irgend  welche  epileptische  Phänomene  zur  Beobachtung 
gelangen,  bis  zur  Entlassung  am  31.  October.  Der  Stat.  retrospectivus, 
der  wegen  anfangs  jeweils  rasch  eintretender  psychischer  (ne urasthenischer) 
Erschöpfung  nur  in  mehreren  Sitzungen  möglich  war,  ergab  Folgendes: 
Keine  hereditäre  Belastung.  Rachitis  im  1.  Jahr  (untermittelgross,  Schädel 
etwas  aufgetrieben  an  den  Tubera,  Cf.  54  Cm.  Säbelbeine,  etwas  grosse 
Epiphysen  u.  s.  w.).  Von  jeher  nervös,  emotiv,  schreckhaft,  bei  Schreck 
am  ganzen  Leibe  zitternd. 

Seit  Monaten  neurasthenisch  gewesen  (Kopf druck,  allgemeine  Mattig- 
keit, rasche  psychische  und  körperliche  Ermüdbarkeit,  Zusammenfahren 
beim  geringsten  Geräusch,  grosse  Erregbarkeit,  ungenügender  unerquick- 
licher Schlaf,  mit  häufigem  Aufschrecken).  Neuerlich  Kränkung  über 
den  mit  H.s  Leistungen  unzufriedenen  Dienstgeber,  der  unter  Anderem 
schlechte  Arbeit,  Rasiren  der  Kunden  nur  auf  einer  Gesichtshälfte  und 
andere  Zerstreutheiten  mit  Recht  bemängelte.  Dazu  Zerwürfniss  mit 
der  Geliebten.  Sorgen  bezüglich  der  Zukunft,  Gefühl  beruflicher  Insuffi- 
cienz,  schlechte  Nächte  kurz  vor  der  Erkrankung. 

Seit  dem  11.  Jahr  Schwindelanfälle  mit  Bewusstseinstrübung 
ohne  Aura,  in  deren  einem  Patient  zu  Boden  stürzte  (restirende  Narbe 
am  Nasenrücken. 

Seit  Jahren  oft  jeden  2.  Tag  petit  mal  Anfälle  i  plötzliche  Erstarrung, 
stierer  Blick,  Fallenlassen  von  Gegenständen,  Dauer  kaum  eine  Minute, 
Amnesie). 

Als  Knabe  schon  jähzornig,  oft  grundloser  Lachzwang,  der  ihm  in 
Schule  und  Haus  Prügel  eintrug.  Nie  Trauma  capitis,  kein  Potator, 
keine  sexuelle  Excesse. 

1892  orster  Anfall  von  impulsivem  Fortlaufen  nach  Hause  zu 
den  Eltern,  mitten  aus  der  Arbeit  (hatte  gerade  einen  Kunden  ein- 
geseift), mehrtägiger  Dämmerzustand  mit  nur  ganz  summarischer 
Erinnerung. 

1895  2.  analoger  Anfall.  Patient  hatte  damals  ein  eigenes 
Geschäft  in  einem  Landstädtchen  in  Böhmen.  Plötzlich  kam  ihm  der 
Gedanke,  nach  Wien  zu  fahren  und  diese  Stadt  zu  besehen.  Er 
Hess  Alles  stehen,  seinen  Laden  offen,  fuhr  nach  Wien,  dämmerte 
durch  einige  Strassen,  kam  plötzlich  ganz  traumhaft  zu  sich,  schämte 
sich  des  Vorgefallenen,  getraute  sich  nicht  heimzufahren,  nahm  eine 
Stelle  in  Wien  an,  wo  er  bis  auf  die  letzte  Zeit  zur  Zufriedenheit 
gedient  hatte. 


60  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Bei  der  Entlassung  am  31.  October  psychisch  normal,  aber  noch 
neurasthenisch  (leichter  Kopf  druck,  gesteigerte  tiefe  Reflexe,  Wirbel- 
säule empfindlich,  rasche  Ermüdung,  grosses  Ruhebedürfniss). 

Beobachtung  28.  Neurasthenisch  epileptischer  Traumzustand  mit 
Delirien  der  Standeserhöhung. 

Am  16.  November  1893  wurde  ein  junger  Mensch  in  den  Strassen 
von  "Wien  mit  derangirter  Toilette  herumdämmernd  aufgegriffen. 

Er  behauptete ,  Graf  K.  aus  Böhmen  zu  sein  und  wurde  der  psychia- 
trischen Klinik  noch  am  gleichen  Tage  von  der  Sicherheitsbehörde  zugestellt. 

Der  Unbekannte  klagte  über  heftigen  drückenden  Kopfschmerz,  bot 
das  Bild  eines  schwer  neurasthenischen,  erschöpften,  im  Bewusstsein  tief 
gestörten  Menschen,  gab  aber  ganz  zusammenhängend  an,  er  sei  Graf  K., 
vor  5  Tagen  ungefähr  nach  Wien  gekommen,  weil  ihn  die  anderen  Grafen 
zu  Standesgenossen  und  Priestern  führen  wollten.  Es  sei  hier  ein  gräf- 
liches Haus  mit  lauter  Grafen  in  Uniform  (Spitalkleidung),  die  ihm  aber 
nicht  gefalle.  Es  behage  ihm  hier  nicht,  er  wolle  fort,  man  lasse  ihn 
aber  nicht  weg.  Er  besitze  viele  Schlösser,  Pferde,  Wagen.  Ueber 
seine  Herkunft  ist  nichts  herauszubringen.  Nach  seiner  Beschäftigung 
befragt,  äussert  er  mit  einer  gewissen  Süffisance,  ein  Graf  arbeite  ja 
doch  nichts. 

Sich  selbst  überlassen,  versinkt  Patient  in  traumhaftes  Brüten.  Er 
ist  ein  schwächlicher,  mangelhaft  genährter  Junge,  hat  leicht  rachitischen 
hydrocephalen  Schädel,  gesteigerten  Patellarreflex,  grosses  Schlaf bedürf- 
niss.  Pupillen  weit,  etwas  träge  reagirend,  die  Lider  wie  die  eines  Schlaf- 
trunkenen nur  halb  geöffnet.  Bis  zum  19.  erschöpft,  viel  Schlaf,  ohne  spon- 
tane Aeusserungen,  auf  Befragen  immer  die  obigen  Angaben  wiederholend. 

Yon  da  ab  ist  er  etwas  regsamer,  erwartet  seine  Abholung  mit 
Equipage  in  das  Schloss  des  Grafen  X.  in  Wien.  In  der  Nacht  sieht  er 
ab  und  zu  schwarze  Wagen  mit  schwarzen  Pferden ,  angefüllt  mit  Grafen. 
Er  beklagt  sich,  dass  die  anderen  „Grafen",  da  sie  Nachts  zuviel  Lärm 
machten,  ihn  im  Schlafe  stören.  Gelegentlich  weigert  er  die  Nahrung, 
weil  sie  für  einen  Grafen  zu  schlecht  sei. 

Andauernd  schwere  Bewusstseinsstörung,  ganz  desorientirt,  spontan 
äusserungs-  und  actionslos  bis  auf  gelegentliches  Fortdrängen  nach  seinem 
gräflichen  Schloss.  Viel  Kopfdruck,  erschöpftes  Wesen,  Tremor  der 
Hände,  gesteigerte  Patellarreflexe. 

Am  15.  December  wird  Patient  mimisch  und  motorisch  freier,  klagt 
nicht  mehr  über  Kopfdruck. 

Er  ist  „Consul",  römischer  Kaiser,  Cäsar,  Herakles,  schreibt 
Tags  über  endlos  und  confus  Zahlenreihen  nieder,  wird  auffällig  reiz- 
bar, unwirsch. 


Dritter  Aufsatz.  61 

Am  21.  Januar  1894  unter  zunehmender  Verstörtheit  und  Gereizt- 
heit, wird  er  stuporös  und  bleibt  so  l1/»  Tage.  Dann  wieder 
dämmerhaft  —  Consul,  Cäsar,  Herakles. 

Vom  20.  Februar  ab  zunehmend  freier  und  Klärung  des  Bewusstseins. 

Am  3.  März  ist  er  endlich  lucid,  giebt  seinen  richtigen  Namen  an 
(Bohumil  C.)  und  hat  Amnesie  für  alle  Erlebnisse  vom  12.  November 
1893,  wo  er  ohne  Motiv  planlos  von  seinem  Dienst  als  Lehrling  in  einem 
Städtchen  in  Böhmen  fortlief,  bis  Ende  Februar  1894. 

Am  22.  März  1894  epileptoider  Anfall  (bewusstlos,  Zuckungen 
im  Gesicht  und  OE),  gefolgt  von  2tägigem  Stupor.  Dann  wieder 
Stat.  quo  ante.  C.  erklärt,  unbelastet  zu  sein,  16  Jahre  alt,  ohne  epi- 
leptische Antecedentien.  Seit  der  Kindheit  öfter  Anfälle  von  Hemi- 
crania  simplex. 

Seit  einem  Jahr  Neurasthenia  ex  masturbatione  et  potu  (viel  Cognac, 
den  er  als  Lehrling  in  einem  Kaufmannsladen  trank).  Ausser  grosser 
Reizbarkeit  und  einem  geringen  Grad  von  Imbecillität  bis  zur  Entlassung 
am  26.  Juni  1894  nichts  Auffälliges  mehr. 

Beobachtung  29.  Traumzustand  mit  expansivem  Delirium.  Neur- 
asthenie.    Epileptische  Antecedentien. 

Am  15.  Mai  1894  wurde  im  Inundationsgebiet  am  linken  Donau- 
ufer bei  Wien  ein  Mann  in  mittleren  Jahren  aufgefunden,  der  ganz 
nackt  war,  in  der  Hand  einen  Blumenstrauss  hielt  und  als  man  sich 
ihm  näherte,  dem  Strom  zueilte.  Er  gab  auf  Fragen  keine  Antwort, 
äusserte  spontan  nur  einzelne  Sätze,  wie  „ich  suche  Eva,  gieb  ihr 
es,  da  ist  sie,  dort  steht's."  Dabei  sah  er  wie  suchend  ins  Leere,  erschien 
schwer  im  Bewusstsein  gestört. 

Patient  wird  der  psychiatrischen  Klinik  übergeben,  geht  in  gleicher 
Verfassung  zu,  schaut,  wie  suchend  oder  beobachtend  nach  einem 
bestimmten  Punkt  oder  geht  ruhig  in  der  Zelle  auf  und  ab,  ist  stumm 
bis  auf  das  Verlangen  nach  einer  Peitsche,  reagirt  in  keiner  Weise  auf 
die  Vorgänge  um  ihn,  nimmt  Nahrung,  ist  schlaflos,  episodisch  leicht 
stuporös. 

Vom  19.  Mai  ab  wird  er  regsamer,  schreibt  auf  einen  Zettel:  „Rudolf 
Polner  hinausgesprungen",  drängt  verwirrt  fort  mit  den  Worten:  „gehen 
wir  fort,  gehen  wir  suchen,  ich  finde  sie  schon."  Eine  Auskunft  ist 
von  ihm  nicht  zu  erhalten. 

Am  21.  Mai  Abends  wird  er  zugänglicher,  giebt  seinen  Namen  mit 
Josef  Huber  an,  Schiffsmann  aus  Klosterneuburg,  gestern  mit  dem  Schiff 
hergekommen,  jetzt  im  Wartesaal,  um  mit  dem  Dampfschiff  zurück- 
zufahren. Die  Mitpatienten  sind  Passagiere,  der  Arzt  ist  ein  „Vor- 
gesetzter-.    Patient  spricht  von  einem  Rettungsgeld,  das  in  Klosterneu- 


62  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

bürg  für  ihn  erliege.  Er  habe  den  Rudolf,  einen  grossen  Herrn,  einen 
Verwandten  des  Herzogs,  einen  Sohn  des  Kaisers,  den  die  Schwarzen 
in  einem  Kloster  gefangen  hielten,  befreit  und  zu  seinem  Vater  in  die 
Burg  gebracht.  Er  werde  dafür  ein  Jahresgehalt  von  4000  fl.  von  Rudolfs 
Frau  bekommen.  Patient  macht  diese  Angaben  nur  auf  eindringliches 
Befragen.  Spontan  fragt  er  nur,  ob  keine  Waare  zum  Mitnehmen  sei, 
da  er  Mittags  nach  Hause  fahre.  Ueber  sein  Vorleben  ist  nichts  heraus- 
zubekommen, da  Patient  associationsfähig  nur  in  seinem  Wahnkreis  ist. 
Die  am  Tische  schreibenden  Aerzte  hält  er  für  Beamte  des  Dampfschiffs. 

Am  23.  Mai  (klinische  Demonstration)  ist  er  J Herzog  (wirk- 
licher Name)  hält  die  Beamten  für  Dampfschiffsbeamte,  behauptet,  Arbeiter 
in  einer  Steindruckerei  zu  sein,  aus  Ungarn  zu  kommen,  den  Rudolf 
aus  einem  Kloster  befreit  zu  haben.  Wo  er  ist  und  wie  er  da  herein- 
gekommen, weiss  der  dämmerhafte  Kranke  nicht. 

Am  27.  Mai  hält  er  den  Professor  für  einen  Stabsarzt,  glaubt  sich 
in  einem  Militärspital,  verlangt  zum  10.  Artillerieregiment  in  W. -Neu- 
stadt. Er  sei  im  Militärspital,  weil  er  auf  der  Reise  von  Ungarn  herauf 
vom  Pferd  gestürzt  sei. 

Anfang  Juni  wird  Patient  mimisch  und  associativ  freier,  dies  aber 
nur  in  seinem  Wahnkreis.  Er  fabulirt,  dass  er  den  Prinzen  Rudolf  aus 
den  Händen  der  Schwarzen  gerettet  habe.  Er  ist  Lieutenant  der  Artillerie, 
im  Dienst  der  Frau  Kronprinzessin,  seit  3  Tagen  hier.  Er  drängt  fort 
zu  einer  gerichtlichen  Commission,  die  im  Kloster  Untersuchung  halte. 
Die  Schwarzen  werden  kriegsgerichtlich  erschossen. 

Am  18.  Juni  ist  er  Oberst  der  Infanterie.  Es  ist  heute  der  19.  Juli 
1895.  Am  17.  Juli  ist  er  von  Ungarn  heraufgeritten.  Einen  Geistlichen,  der 
die  Klinik  betritt,  hält  er  für  einen  Verschwörer  in  der  Prinzenaffaire. 
Derselbe  kommt,  ihn  zu  vergiften.     Darüber  sehr  erregt  und   drohend. 

Am  7.  Juli  schreibt  Patient  einen  langen  und  ganz  geordneten  Brief 
an  die  Frau  Kronprinzessin.  Er  theilt  mit,  dass  er  4  Jahre  auf  der 
Suche  nach  Rudolf  war,  ihn  endlich  gefunden,  befreit  und  ins  Militär- 
spital gebracht  habe.  Geistliche  hätten  sich  hier  eingeschlichen,  um 
Patient  zu  ermorden,  aber  er  stehe  unter  gutem  Schutz  und  fürchte 
nichts.  Er  werde  seine  Mission  zu  Ende  führen,  sämmtliche  Schwarze 
justificiren,  am  1.  September  R.  auf  den  Thron  setzen.  Die  15  Mil- 
lionen, die  im  Kloster  gefunden  wurden,  habe  er  an  einen  sicheren 
Platz  in  der  Schweiz  gebracht.  Er  habe  noch  3000  fl.  in  Händen,  um 
das  Befreiungswerk  zu  vollenden.  Er  dankt  für  die  Ernennung  zum 
Oberst,  nniss  aber  vorerst  sich  in  der  Schweiz  aufhalten,  um  das  Recht 
zn  requiriren  und  Rudolf  in  Sicherheit  zu  bringen,  der,  wenn  er  in  die 
Hände  der  Schwarzen  (Geistlichen)  fällt,  verloren  wäre. 


Dritter  Aufsatz.  63 

Am  16.  Juli  löst  sich  fast  plötzlich  der  Dämmerzustand.  Patient 
ist  nun  andauernd  lucid  und  hat  völlige  Amnesie  für  alles  Erlebte  und 
Gefabelte  vom  7.  Mai  ab.  Den  ihm  vorgelegten  Brief  vom  7.  Juli 
erkennt  er  nicht  als  von  ihm  geschrieben  an.  Er  staunt  über  dessen 
Inhalt  und  erklärt  ihn  für  Unsinn. 

Patient  giebt  nunmehr  eine  zusammenhängende  Darstellung  seiner 
Vita  anteacta. 

Der  Yater  starb  an  Tabes,  die  Mutter  litt  viele  Jahre  an  schwerer 
Migräne.  Als  kleines  Kind  hat  Patient  an  Convulsionen  gelitten,  vom 
3.  —  6.  Jahre  war  er  fast  beständig  bettlägerig  (Scharlach,  Typhus  mit 
Nachkrankheiten).  Während  der  Knabenjahre  bis  zur  Pubertät  hat  er 
Noctambulismus  gehabt.  Seit  der  Pubertät  viel  Cephalaea  („eiserner 
Reif  um  die  Stirne"),  die  nach  Trauma  mit  Commotio  cerebri  (1867 
und  1871)  häufiger  und  heftiger  wurde.  Patient  will  immer  ein  träume- 
rischer verschlossener  Junge  gewesen  sein,  habe  nur  an  Leetüre,  nicht 
an  Spielen  mit  Kameraden  Gefallen  gefunden,  nie  masturbirt,  dagegen 
früh  in  Venere  excedirt.  Beim  Militär  nach  1/a jähriger  Dienstzeit  wegen 
Haemoptoe  (1878)  superarbitrirt.  wurde  er  Steindrucker,  ertrug  aber  die 
scharten  Dämpfe  der  Chemikalien  nicht  bei  diesem  Gewerbe,  wurde 
Kellner,  orgab  sich  unregelmässiger  Lebensweise,  excedirte  in  Baccho 
et  Venere,  legte  dadurch  den  Grund  zu  schwerer  Neurasthenie  (allgemeine 
Mattigkeit,  Kopfdruck,  Agrypnie,  Paralgien,  Spinalirritation,  Verstimmung 
u.  s.  w.),  wurde  berufsuntüchtig,  verkam  immer  mehr,  beging  Dieb- 
stähle, wurde  zuletzt  1891  neuerlich  mit  2  Jahren  Kerkor  bestraft,  ver- 
büsste  die  Strafe  in  dem  Strafhause  Carlau,  machte  dort  eine  14tägige 
Psychose  mit  Amnesie  durch,  während  deren  er  getobt  haben  soll,  wurde 
im  November  1893  in  die  Zwangsarbeitsanstalt  in  Korneuburg  abgegeben, 
von  dort  aus  seit  Mitte  April  1894  bei  Wildbachverbauungsarbeiten  an 
der  ungarischen  Grenze  verwendet.  Patient  berichtet,  dass  er  damals 
viel  an  Kopfschmerzen  und  Digestionsstörungen  gelitten  habe  und  des- 
halb nur  mit  leichterer  Arbeit  betheilt  worden  sei. 

Am  7.  Mai  bricht  seine  Erinnerung  plötzlich  ab.  Er  weiss  nicht. 
wie  er  von  dort  weggekommen  ist,  hat  nur  noch  verschwommene 
Erinnerungsbilder  von  langer  Strassen  Wanderung,  durchnässtem  Liegen 
im  Walde.  Ebenso  bestehen  nur  dunkle  fragmentäre  Erinnerungsspuren 
für  die  deliranten  Erlebnisse  der  letzten  Zeit  der  Krankheit.  Er  ver- 
sichert aber  nur  ganz  langsam  durch  Nachdenken  seine  Lucidität  zurück- 
gewonnen zu  haben.  Patient  macht  noch  wichtige  Mittheilungen  über 
seit  der  Kindheit  vorgekommene  Anfälle  von  Bewusstseins- 
trübung,  in  denen  er  irgend  eine  sinnlose  Handlung  beging, 
ohne   hinterher,    ausser   durch    Mittheilungen    der   Umgebung 


64  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

von  derselben  zu  wissen.  So  habe  er  z.  B.  ein  Glas  zu  Boden 
geworfen,  in  der  Haftzeit  wiederholt  an  seiner  Arbeit  (Lithographie) 
etwas  ganz  Verkehrtes  gemacht,  ohne  zu  wissen  wann  und  warum. 
Einmal  habe  er  sich  bei  der  Arbeit  geglaubt  und  sei  zu  sich  gekommen 
auf  einer  Bank  sitzend.  Dabei  bestand  jeweils  gleichzeitig  Gefühl 
von  Schwindel  und  Schwarz  werden  vor  den  Augen.  Zeitweise 
Bettnässen  bis  auf  die  letzten  Jahre. 

Patient,  37  Jahre,  bot  in  der  Beobachtung  der  Klinik,  die  bis  zum 
2.  September  dauerte,  nie  epileptische  Phänomene,  auch  nur  gering- 
fügige neurasthenische.  An  der  Stirn  hat  er  einige  oberflächliche  unver- 
dächtige Narben.     Schädel  normal.     Cf.  56. 


Die  Prognose  des  transitorischen  Irreseins  auf  neurasthenischer 
Grundlage  ist  eine  günstige.  In  allen  Fällen  bisheriger  Erfahrung  erfolgte 
eine  vollständige  Genesung.  Die  Seltenheit  der  Recidive  (3,  4,  25)  erklärt 
sich  wohl  daraus,  dass  eine  Reihe  erschöpfender  Bedingungen  zusammen- 
treffen müssen,  um  die  Psychose  hervorzurufen  und  dass  deren  neuer- 
liche Combination  nur  selten  sich  ereignen  wird. 

Hinsichtlich  der  Therapie  scheint  eine  Selbstheilung  schon  durch 
das  Eintreten  des  Anfalls  angebahnt,  insofern  während  seines  Bestehens 
die  psychische  Leistung  auf  ein  Minimum  reducirt  ist. 

Unterstützend  wirken  jedenfalls  gute  Ernährung,  Anregung  des  Stoff- 
wechsels (Bäder),  Bettruhe,  Beförderung  des  Schlafes.  Der  letzteren 
Indication  werden  nur  ausnahmsweise  Narcotica  entsprechen,  da  die 
Ganglienzellen  ohnehin  schon  mit  Ermüdungsstoffen  und  Stoffwechsel- 
produkten überladen  sind. 

Die  forensische  Bedeutung  dieser  Irreseinszustände  ist  trotz  sehr 
reducirter  Handlungsmöglichkeit  eine  nicht  geringe.  Fast  alle  meine 
Kranken  wurden  Gegenstand  polizeilicher  Anhaltung,  2  machten  grund- 
lose Selbstbeschuldigungen,  2  Selbstmordversuche,  gleichwie  im  Fall 
von  C.  Mayer,  der  von  einem  weiteren  berichtet,  in  welchem  ein 
Revolver  gekauft  wurde. 

Hinweise  auf  die  Bedeutung  solcher  Irreseinszustände  für  das 
Forum  criminale  bieten  die  folgenden  2  Gutachten. 


Vierter  Aufsatz. 

Gerichtsärztliche  Gutachten. 

a)  Majestätsbeleidigung,  Sinnesverwirrung  (krankhafte  Bewusst- 
losigkeit)  auf  Grundlage  von  Neurasthenie.*) 

Ergebnisse  aus  den  Akten.  Am  27.  Juli  1888  führte  der  auf 
der  Durchreise  in  einem  Gasthause  in  K.  befindliche  W.  S.,  Privat- 
gelehrter aus  Polen,  42  Jahre  alt,  im  Wirthszimmer  ein  politisches 
Gespräch.  Im  Verlaufe  desselben  äusserte  S.,  der  Kaiser  solle  etwas 
energischer  gegen  die  Juden  auftreten.  Als  ein  Gast  ihn  ermahnte,  er 
möge  die  Person  des  Kaisers  nicht  in  das  Gespräch  hineinmengen, 
erwiderte  S.,  es  sei  gerade  nicht  nöthig,  von  dem  jetzigen  Kaiser  zu 
sprechen,  man  könne  ja  in  der  Geschichte  weiter  zurückgehen  Er  dachte 
einige  Zeit  nach  und  sagte  dann,  „wie  hiess  doch  nur  der  Kerl-'?  Als 
Zeuge  D.  sagte,  mit  der  Bezeichnung  „Kerl'1  könne  er  doch  einen  öster- 
reichischen Monarchen  nicht  meinen ,  sagte  S.  „Kaiser  Josef  II.  meine  ich". 

Den  Anwesenden  machte  S.  den  Eindruck,  dass  es  bei  ihm  im 
Kopfe  nicht  ganz  richtig  sei.  Als  der  Gastwirth  den  Fremden  auf  sein 
Zimmer  führte,  wackelte  dieser  etwas  auf  den  Füssen.  Die  Kellnerin 
con8tatirte,  dass  S.  während  seines  Verweilens  im  Gastzimmer  etwa 
5—6  Glas  Bier  getrunken  habe. 

Im  Verhör  vom  29.  Juli  1888  giebt  S.  an,  dass  er  1874  in  M.  die 
Staatsprüfung  über  Philologie  abgelegt  habe  und  seit  längerer  Zeit  an 
einer  Nervenkrankheit  leide,  welche  ihn  gegenwärtig  berufsunfähig 
mache.  Er  komme  aus  dem  Kloster  zu  K,  wo  er  sich  vom  10.  April 
bis  27.  Juli  aufgehalten  habe.  Er  sei  im  Begriff  nach  Graz  zu  reisen, 
um  dort  einen  Arzt  wegen  seines  Leidens  zu  berathen. 

Er  könne  sich  nicht  erinnern,  über  Kaiser  Josef  beleidigende  und 
die  Ehrfurcht  verletzende  Aeusserungen  gethan  zu  haben,  als  er  im  Gast- 
zimmer am  27.  anwesend  war.  Er  stellt  in  Abrede,  damals  betrunken 
gewesen  zu  sein.  Er  vertrage  wegen  seines  Nervenleidens  keine  geistigen 
Getränke,  und  es  sei  ihm  ärztlich  untersagt,  solche  zu  gemessen.    Dadurch 

•)  Zeitschrift  fiir  Psychiatrie,  Bd.  46. 

Krafft-Et.ini:.  Arb«iten  I.  5 


66  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

dass  er  an  jenem  Tage  gleichwohl  einige  Gläser  Bier  getrunken,  sei  er 
bewusstlos  geworden.  Er  gebe  die  Möglichkeit  zu,  die  von  den  Zeugen 
angegebenen  und  incriminirten  Aeusserungen  getban  zu  haben,  stelle 
aber  in  Abrede,  die  Absicht  gehabt  zu  haben,  die  Ehrfurcht  gegen  den 
Kaiser  Josef  zu  verletzen. 

Am  28.  Juli  1888  stellte  der  Prior  des  Klosters  K.  ein  Zeugniss 
aus,  wonach  S.  im  Kloster  verweilt  habe,  um  sich  von  einer  krank- 
haften Ueberreizung  des  Nervensystems  zu  erholen.  Er  verliess  ungeheilt 
das  Kloster,  um  einen  Arzt  zu  berathen  und  sich  einer  Kur  zu  unter- 
ziehen. Solange  S.  im  Kloster  weilte,  war  sein  Verhalten  ein  tadel- 
loses. Niemand  konnte  sich  erinnern,  eine  unehrerbietige  Aeusserung 
über  das  kaiserliche  Haus  aus  seinem  Munde  vernommen  zu  haben. 
Der  traurige  Vorfall  lasse  sich  nur  erklären  aus  dem  zerrütteten  Zustand 
seines  Nervensystems,  der  sich  durch  den  in  der  Sonnenhitze  zurück- 
gelegten Weg  nach  K.  verschlimmert  haben  möge. 

Aus  den  Zeugenangaben  ist  zu  entnehmen,  dass  den  incriminirten 
Aeusserungen  des  S.  ein  lebhafter  politischer  Discurs  vorherging,  dass 
S.  dem  Einen  den  Eindruck  eines  betrunkenen,  dem  Anderen  eines  im 
Kopfe  nicht  richtigen,  der  Kellnerin  den  eines  schwerhörigen  Menschen 
machte. 

Die  Aeusserungen  dürften  etwa  um  11  Uhr  Abends  gefallen  sein. 

Ergebnisse  der  persönlichen  Exploration  am  18.  Aug.  1888. 
Explorat  ist  ein  mittelgrosser  Mann  von  regelmässigen  Zügen,  ziemlich 
gut  genährt.  Die  Untersuchung  der  vegetativen  Organe  ergiebt  keine 
auf  organische  Erkrankung  hinweisende  Symptome. 

Der  unstete  Blick,  die  lebhafte  Miene  und  Gesticulation,  der  in 
seiner  Frequenz  äusserst  wechselnde  Puls  weisen  auf  ein  nervöses 
Temperament  hin. 

Der  sonst  regelmässige  und  symmetrische  Schädel  hat  einen  die 
Norm  um  circa  3  cm  übersteigenden  Umfang  von  59  cm.  Erhebliche 
Steigerung  der  tiefen  Reflexe,  namentlich  der  Kniesehnenreflexe,  sowie 
Druckempfindlichkeit  einzelner  Dornfortsätze  weisen  auf  eine  vorhandene 
Störung  im  Centralnervensystem  hin. 

Thatsächlich  berichtet  Explorat  auf  Befragen  Symptome,  die  unschwer 
als  solche  von  sogenannter  reizbarer  Schwäche  im  Centralnervensystem 
(Neurasthenie)  und  zwar  speciell  als  Cerebrasthenie  zu  deuten  sind. 

So  berichtet  er  von  Kopfschmerz,  Kopfdruck,  zeitweisen  Congestionen 
zum  Gehirn,  geschwächter  Gedächtnissleistung,  erschwertem  Denken  bis 
zur  temporären  Berufsunfähigkeit,  schlechtem,  unerquicklichem  Schlaf 
mit  häufigem  Aufschrecken,  rascher  geistiger  und  körperlicher  Ermüdung. 
Explorat  versichert,  seit  über  10  Jahren  an  diesem  Nervenübel  zu  leiden, 


Vierter  Aufsatz.  67 

wenn  auch  mit  zeitweisen,  sehr  erheblichen  Remissionen.  Dadurch  sei 
er  in  seinem  Studium  und  Beruf  vielfach  behindert  gewesen.  In  den 
letzten  Jahren  habe  sich  sein  Leiden  so  sehr  gesteigert,  dass  er  zu 
anhaltender  geistiger  Beschäftigung  ganz  unfähig  wurde.  Diese  "Ver- 
schlimmerung sei  durch  widrige  Schicksale  und  Gemüthsbewegungen 
entstanden.  Ein  Trinker  ist  Explorat  nicht,  auch  fehlen  an  ihm  alle 
für  habituellen  Uebergenuss  von  alcoholischen  Getränken  sprechenden 
Symptome.  In  den  letzten  Jahren  habe  er  geistige  Getränke  immer 
weniger  ertragen  und  sich  derselben  im  Allgemeinen  auch  enthalten. 
Anlässlich  Gemüthsbewegungen  und  körperlicher  Anstrengungen  habe 
er  allerdings  sich  hie  und  da  verleiten  lassen  im  Genuss  geistiger  Getränke 
Trost  und  Kräftigung  zu  suchen,  aber  derartige  relative  Excesse  seien 
ihm  immer  schlecht  bekommen,  und  wiederholt  sei  es  ihm  passirt,  dass 
er  dabei  in  Zustände  gerieth,  in  welchen  er  anscheinend  noch  bei  sich 
war,  conversirte  und  handelte,  ohne  hinterher  das  Mindeste  von  dem 
zu  wissen,  was  er  gesprochen  und  gethan  hatte.  Thatsächlich  befand 
sich  Explorat  seit  Mitte  April  zur  Erholung  im  Kloster  K,  consultirte 
kurzlich  den  Professor  R.  in  G.  und  wurde  von  diesem  zum  Kur- 
gebrauch nach  S.  gewiesen. 

Er  versichert,  aus  ganz  gesunder  Familie  zu  stammen,  jedoch  erfährt 
man  von  ihm,  dass  sein  Vater  ein  höchst  aufgeregter,  nervös  erregbarer 
Mann  und  dessen  Mutter  eine  jähzornige,  unverträgliche  Frau  war. 

Ausser  an  einem  Typhus  mit  14  Jahren  will  Explorat  nie  schwer 
krank  gewesen  sein. 

Er  vermuthet  als  Ursache  seines  Leidens  Onanie,  der  er  vom 
20.  Lebensjahre  bis  vor  l1/«  Jahren  ergeben  gewesen  sei. 

Als  Motiv  für  diese  perverse  Geschlechtsbefriedigung  ergiebt  sich 
eine  angeborene  krankhafte  perverse  Geschlechtsempfindung,  insofern 
Explorat  zu  Männern  inclinirt  und  durch  das  Weib  geschlechtlich  uner- 
regbar ist.  Diese  sogenannte  conträre  Sexualempfindung  regte  sich  in 
ihren  ersten  Anfängen  schon  im  10.  Jahre.  Sein  geschlechtliches  Bedürf- 
niss  war  ein  geringes,  und  so  gelang  es  ihm,  immer  im  Bereiche  pla- 
tonischer Verhältnisse  Freunden  gegenüber  zu  verbleiben.  Die  Befriedigung 
durch  Onanie  war  ein  Aequivalent  für  die  seinem  moralischen  Sinn 
widerstrebende  Befriedigung  mittelst  Männern  und  für  die  ihm  von  der 
Natur  versagte  Möglichkeit  sexuellen  Umgangs  mit  Personen  des  anderen 
Geschlechtes.  Ein  näheres  Eingehen  auf  die  charakterologische  Besonder- 
heit des  Individuums  ergiebt  sehr  entwickelte  moralische  und  ästhetische 
Gefühle,  idealistische  und  stellenweise  sogar  verschrobene  Lebens- 
anschauungen und  eine  sehr  rege  Phantasie.  Bezüglich  der  Vorfälle  am 
27.  Juli  wurde  folgendes  vom  Exploraten  ermittelt. 

5* 


68  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Als  er  um  die  Mittagsstunde  das  Kloster  verliess,  befand  er  sich 
in  einer  erheblichen  Gemüthsaufregung,  da  man  ihm  erklärt  hatte,  man 
könne  ihn  nicht  im  Kloster  behalten,  und  seine  Tauglichkeit  zum  Beruf 
eines  Geistlichen  bezweifelte.  Bei  heftiger  Sonnenhitze  will  Explorat 
nun  die  21/»  Stunden  "Weges  nach  K.  marschirt  sein ,  wo  er  sehr  ermattet 
vor  Hitze,  ganz  erschöpft  von  der  ungewohnten  Fusswanderung  etwa 
um  48/4  ankam.  Er  spürte  heftigen  Kopfdruck  und  Schmerz.  Es  liess 
ihn  nicht  im  dumpfen  Gastzimmer,  er  schlenderte  mehrere  Stunden  lang 
in  K.  umher,  da  es  ihm  unbehaglich  war,  und  trank  da  und  dort  ein 
Glas  Bier.  Schon  für  die  späten  Nachmittagsstunden  erscheint  sein 
Bewusstsein  getrübt,  insofern  er  sich  nicht  zu  erinnern  weiss,  wo  überall 
er  herumging;  dunkel  weiss  er  nur  noch,  dass  er  in  einem  Gasthause 
am  Marktplatz  einkehrte. 

Wie  und  wann  er  in  den  Gasthof,  in  welchem  er  abgestiegen  war, 
zurückkehrte,  weiss  er  nicht.  Er  weiss  nicht,  dass  und  wie  er  im  Gast- 
zimmer verkehrte,  was  und  mit  wem  er  sprach,  wie  und  mit  wem  er 
in  sein  Wohnzimmer  kam.  Am  Morgen  des  28.  sei  er  in  seinem  Bette 
erwacht,  mit  vollständiger  Erinnerungslücke  für  Alles  seit  der  Kückkehr 
am  Abend  des  27.  im  Gasthof  Erlebte. 

Explorat  giebt  bereitwillig  und  prompt  auf  Kreuz-  und  Querfragen 
der  Gerichtsärzte,  bezüglich  der  Zeit,  welche  diese  Erinnerungslücke 
umfasst,  Auskunft.  Man  stösst  niemals  auf  einen  Widerspruch  und 
gewinnt  die  volle  Ueberzeugung,  dass  für  die  Zeit  vom  27.  Abends  bis 
zum  Morgen  des  28.  die  Erinnerung  vollständig  mangelt. 

Explorat  erkennt  bereitwillig  an,  dass  die  Zeugen  die  Wahrheit 
gesprochen,  er  gesteht  freimüthig  zu,  dass  er  als  sehr  klerikal  gesinnt, 
mit  den  Ansichten  und  Bestrebungen,  wie  sie  die  Geschichte  von  Kaiser 
Josef  II.  berichtet,  nicht  einverstanden  sei,  aber  wenn  er  etwas  gegen 
diesen  Monarchen  gesprochen,  so  habe  er  es  seiner  selbst  nicht  bewusst 
gethan.  In  bewusstem  Zustand  hätte  er  sich  nicht  so  ausgesprochen, 
jedenfalls  müsse  er  jeglichen  Animus  injuriandi  in  Abrede  stellen. 

Er  weiss  sich  nicht  zu  erklären,  wie  er  in  einen  derartigen  unbe- 
wussten  Zustand  gerathen  sei,  stellt  Berauschung  in  Abrede,  wird  ängst- 
lich, als  man  ihm  andeutet,  dass  jener  Zustand  mit  seiner  Nerven- 
krankheit in  Beziehung  stehen  dürfte,  und  meint,  dann  laufe  er  ja 
Gefahr,  abermals  in'  solche  Zustände  zu  gerathen. 

Gutachten.  Die  fehlende  Erinnerung  des  Exploraten  für  die  Erleb- 
nisse am  Abend  des  27.  Juli  spricht  zu  Gunsten  der  Annahme,  dass  er 
sich  während  der  Zeit,  welche  die  Erinnerungslücke  umfasst,  in  einem 
psychischen  Ausnahmszustand  befunden  habe,  in  welchem  Explorat  nicht 
seiner  selbst  bewusst  dachte  und  handelte. 


Vierter  Aufsatz.  69 

Solche  Zustände  sind  wissenschaftlich  constatirt  und  in  den  ver- 
schiedenen Straf gesetzgebun gen  als  Sinnesverwirrung  oder  Zustände  krank-» 
harter  Bewusstlosigkeit  angeführt.  Dass  in  solchem  Zustand  Jemand  — 
wenn  auch  des  Selbstbewusstseins  verlustig  —  combinirt  denken  und 
handeln  kann,  ist  Thatsache  der  Erfahrung  und  aus  dem  Automatismus 
des  Gehirnlebens  und  aus  Aeusserungen  unbewusster  geistiger  Thätig- 
keit,  wie  sie  im  natürlichen  Somnambulismus  und  im  sogenannten  Hyp- 
notismus  beobachtet  wird,  einigermaassen  begreiflich.  Dass  Explorat 
tempore  criminis  in  einem  psychischen  Ausnahmezustand  sich  befunden 
haben  muss,  geht  schon  aus  den  Zeugenaussagen,  die  von  „Trunken- 
heit", „im  Kopfe  nicht  ganz  richtig"  berichten,  hervor. 

Auch  der  Umstand,  dass  Explorat  sich  auf  den  Narnen  des  doch 
jedem  Kind  bekannten,  in  der  Geschichte  verewigten  Monarchen  nicht 
gleich  erinnern  konnte,  dass  er  dann,  ohne  in  heftigem  Affect  zu  sein, 
seinem  Bildungsgrad  und  seinem  in  normalem  Zustand  höchst  anständigen 
"Wesen  entgegen  sich  so  unziemlich  über  einen  in  der  Geschichte  hoch- 
gefeierten Monarchen  äusserte,  all  dies  spricht  zu  Gunsten  der  Annahme, 
dass  er  damals  non  compos  sui  gewesen  sein  mag. 

Eine  Sinnesverwirrung,  sofern  sie  nicht  auf  der  Höhe  eines  Affects 
oder  einer  Intoxication  (Berauschung)  entstanden  ist,  lässt  sich  immer 
auf  ein  schlecht  aequilibrirtes  (belastetes)  oder  von  einer  allgemeinen 
Nervenkrankheit  afficirtes  Gehirn  begründen.  Sie  hat  jedenfalls  eine 
symptomatische  Begründung,  wie  die  transitorische  Geistesstörung  über- 
haupt und  nöthigt  zur  Aufsuchung  ihrer  ursächlichen  Bedingungen.  Im 
concroten  Fall  erscheint  es  ausser  Zweifel,  dass  eine  belastete  und  wahr- 
scheinlich erblich  belastete  Persönlichkeit  (Abnormitäten  der  charaktero- 
logischon  Veranlagung,  originäre  Anomalie  des  Geschlechtssinns  u.  s.  \v. 
sprechen  dafür),  sowie  eine  constitutionelle  Nervenkrankheit  (Neurasthenie) 
im  Spiele  sind. 

Wio  bei  Epilepsie  und  Hysterie,  so  kommen  auch  bei  der  Neur- 
asthenie zuweilen   transitorische  Störungen    des  Selbstbewusstseins  vor. 

Das  labile  Gleichgewicht  der  Hirnfivnctionen,'  die  abnorm  leichte 
Anspruchsfähigkeit  des  Gehirns  auf  Reize  aller  Art,  die  äusserst  aus- 
giobige  Keaction  desselben  anlässlich  solcher,  machen  diese  Thatsache 
begreiflich. 

Im  concreten  Fall  waren  es  offenbar  gemüthliche  Erregung,  Sonnen- 
hitze, ein  anstrengender  und  erschöpfender  Marsch  in  Verbindung  mit 
einem  relativen  Alcoholexcess,  die  das  äusserst  empfindliche  Organ  des 
Bewusstseins  (Gehirnrinde)  vermöge  temporärer  Störungen  der  Blut- 
vertheilung  und  der  Ernährung  ungünstig  beeinflussten  und  damit  einen 
temporären  psychischen  Ausnahmezustand  hervorriefen,  welcher  sich  im 


70  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Sinne    des    §    2    des    österreichischen    Strafgesetzbuchs   als    „Sinnes- 
verwirrung" bezeichnen  lässt. 

b)  Desertion.     Zweifelhafter  Geisteszustand.*) 

(Erbliche  Belastung.  Epileptoide  Anfälle.  Zwangsvorstellungen  und 
Zwangsimpulse.  Neurasthenie  mit  episodischem  delirantem  Traumzustand.) 

Species  facti.  Am  24.  Februar  1883  Nachmittags  entfernte  sich  der 
Cadet  X.  unerlaubterweise  aus  seiner  Garnison  (Böhmen),  fuhr  nach 
Wien,  von  da  am  25.  weiter  nach  Graz,  erkundigte  sich  nach  der 
Ankunft  bei  einem  Wachmann,  wohin  er  den  Weg  nach  dem  Dampf- 
schiffbureau zu  nehmen  habe,  um  nach  Afrika  zu  gehen  und  sich  einer 
wissenschaftlichen  Expedition  anzuschliessen.  Da  X.  in  Uniform  war, 
erschien  er  der  Desertion  verdächtig.  Verhaftet  und  vor  den  Inspections- 
offizier  geführt,  wiederholte  er  sein  Verlangen,  einer  unter  Lieutenant 
Wissmann  zur  Erforschung  Afrikas  abgehenden  Expedition  sich  anzu- 
schliessen. Auf  die  Frage  nach  seinem  Namen  wusste  er  keinen  Bescheid, 
zog  aber  einen  Brief  seines  in  Graz  wohnenden  Vaters  mit  Couvert  und 
Adresse  aus  der  Tasche,  wodurch  seine  Person  festgestellt  wurde. 

Er  verbrachte  die  Nacbt  im  Kasernenarrest  schlaflos,  unruhig,  ver- 
wirrt. Am  Morgen  des  26.  besuchten  ihn  der  herbeigerufene  Vater  und 
der  Bruder,  fanden  ihn  zusammengekauert,  verstört  auf  einer  Pritsche 
und  erkannten,  dass  er  irrsinnig  sein  müsse.  X.  fiel  zitternd  dem  Vater 
um  den  Hals,  bat,  man  möge  ihn  doch  fortlassen,  sonst  versäume  er 
die  Expedition  nach  Afrika. 

X.  kam  nun  in  die  Beobachtung  des  Garnisonsspitals. 

Bei  der  Aufnahme  am  26.  erscheint  Patient  etwas  ängstlich,  ver- 
wirrt, traumhaft.  Er  bietet  starken  Nystagmus,  Zucken  der  Lippen,  der 
Mundwinkel  und  der  Hände,  ist  in  leichtem  Schweiss,  fieberlos,  ohne 
Erkrankung  vegetativer  Organe.  Er  schläft  die  Nacht  auf  den  27.  mit 
Chloral  einige  Stunden,  glaubt  sich  dazwischen  in  einem  Wald,  berichtet 
am  27.,  dass  er  Nachts  Stimmen  hörte,  die  ihn  aufforderten,  nach  Afrika 
zu  gehen,  dass  er  den  Lieutenant  Wissmann  sah,  mit  ihm  sprach.  Er 
glaubt  nun  genügend  für  seine  Expedition  vorbereitet  zu  sein,  weiss, 
dass  er  Grosses  leisten  und  berühmt  werden  wird.  Er  ist  unstet,  ver- 
wirrt, bietet  noch  Nystagmus,  Tremor,  schwitzt  stark,  fühlt  sich  matt, 
erschöpft.  Er  erhält  Bromkali,  bringt  die  Nacht  auf  den  28.  Februar 
ruhig  zu,  wird  mimisch  freier,  drängt  aber  noch  fort  nach  Afrika. 

Nach  gut  durchschlafener  Nacht  kommt  Patient  am  1.  März  aus 
seinem  traumhaften  Zustand  heraus,  zum  Bewusstsein  seiner  Lage,  frei 
von  Nystagmus  und  Tremor.  Er  ist  erstaunt,  als  man  ihm  erzählt,  dass  er 
nach  Afrika  wollte,  begreift  die  Situation  nicht  und  giebt  folgende  Anamnese. 

*)  Friedrichs  Blätter  f.  gerichtl.  Median  1883.    VI. 


Vierter  Aufsatz.  71 

Am  24.  Februar  habe  er  sich  eigenthümlich  beklommen  gefühlt  und 
den  Drang  verspürt,  ins  Freie  zu  gehen.  Er  erinnert  sich  dunkel,  mit 
einer  Pappschachtel,  in  die  er  Einiges  gepackt  habe,  auf  den  Bahnhof 
gegangen  zu  sein  und  dort  den  Regimentsschneider  getroffen  zu  haben. 
Von  da  an  hat  er  keine  Erinnerung  bis  zur  Ankunft  in  Wien  (24.  Abends), 
wo  er  den  Eindruck  einer  grossen  Menschenmenge  hatte.  Er  dämmerte 
bis  gegen  Morgen  auf  dem  Stephansplatz  herum  und  gelangte  mit  Hilfe 
eines  Dienstmanns  in  ein  Hotel.  Er  verliess  es  (mit  Hinterlassung  der 
Schachtel,  in  welcher  sich  nur  einige  Bilder  und  ein  Zahubürstchen 
befanden),  um  eine  befreundete  Familie  auf  dem  Rennweg  zu  besuchen, 
gelangte  aber  nicht  hin.  Weiter  weiss  er,  dass  er  am  Südbahnhof  mehr- 
mals seine  Fahrkarte  vorwies,  bis  man  ihn  einsteigen  Hess,  dass  er  im 
Coup6  schwarz  gekleideten  Damen  gegenüber  sass,  die  ihn  ansprachen, 
über  seine  Antworten  aber  lachten.  In  G.,  als  er  die  Station  ausrufen 
hörte,  kam  ein  unbestimmtes  Heimathsgefühl  über  ihn.  Er  stieg  aus, 
fragte  wiederholt  Passanten  um  den  ihm  sonst  wohlbekannten  Weg, 
wurde  aber  regelmässig  ausgelacht,  wohl  „weil  er  dumm  fragte"  End- 
lich habe  ihn  ein  Wachmann  mitgenommen,  in  eine  Kaserne  geführt. 
Er  erinnert  sich,  dass  dort  Jemand  sagte:  „wenn  er  den  geringsten 
Versuch  zu  entweichen  macht,  wenden  Sie  Eisen  an".  Im  Kasernenhof 
habe  er  eine  dunkle  Gestalt  gesehen,  mit  der  er  über  seine  Reise  sprach, 
am  anderen  Morgen  aber  erkannt,  dass  es  der  Ofen  war.  Im  Spital 
habe  er  sich  noch  nicht  ausgekannt,  flüsternde  Stimmen  bezüglich  seiner 
Reise  und  öfter  den  Namen  Wissmann  gehört.  Endlich  am  1.  März  sei 
er  wieder  zur  Besinnung  gelangt. 

Patient  ist  lucid,  geordnet.  Nach  einem  Aerger  am  4.  März  schlaf- 
lose Nacht.  Am  5.  März  besteht  wieder  Nystagmus,  Zittern  der  Gesichts- 
muskeln und  der  rechten  Hand,  leichte  Parese  des  linken  Mundwinkels. 
Patient  ist  nervös  erregt,  unstet,  wird  in  der  Nacht  auf  den  6.  zweimal 
in  hockender  Stellung  im  Bett  betroffen,  weiss  am  6.  nichts  davon.  Am 
6.  ist  er  wieder  wohl,  unauffällig.  Am  9.  zeigen  sich  nach  schlechter 
Nacht  wieder  die  motorischen  Störungen.  Bei  der  Aufnahme  am  10.  März, 
im  Civilspital,  ist  Patient  ruhig,  etwas  moros,  spricht  mit  matter  Stimme, 
klagt  Schmerz  in  der  Schläfengegend. 

Er  fühlt  sich  matt,  erschöpft,  schlafbedürftig,  bedarf  aber  Nachhilfe, 
um  zu  schlafen  (Paraldehyd  3,0),  geräth  leicht  in  Affect,  wobei  sich 
dann  leichtes  Zittern  der  Gesichtsmuskeln  und  Nystagmus  zeigt,  bietet 
wechselnde  Röthc  und  Blässe  des  Gesichts,  jedenfalls  sehr  labile  Vaso- 
motoriusinnervation,  ist  absolut  intolerant  gegen  Spirituosen,  bekommt 
davon  gleich  Kopfschmerz  und  Kopfdruck,  erscheint  unfähig  zu  geistiger 
Beschäftigung. 


72  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

Patient  ist  körperlich  kräftig,  gut  genährt,  ohne  Degenerations- 
zeichen, jedoch  von  exquisit  neuropathischem  Auge,  fieberlos,  vegetativ 
in  Ordnung.  Er  ist  andauernd  ganz  lucid,  hat  nach  wie  vor  Interesse 
an  Afrikaexpeditionen,  aber  in  vernünftiger  "Weise.  Er  hält  es  für  mög- 
lich, wenn  er  einmal  gesund  und  nach  Jahren  in  den  Besitz  aus- 
reichender Kenntnisse  und  Mittel  gelangt  sei,  diese  Liebüngsidee  zu 
realisiren. 

Unter  gutem  Schlaf,  Kühe,  Aufenthalt  im  Freien,  Abreibungen,  Sol. 
Fowler,  verlieren  sich  die  neurasthenischen  Beschwerden  grossentheils 
im  Laufe  des  März. 

Vita  anteacta.  Herr  X.,  geboren  1860,  stammt  von  einer  nerven- 
schwachen, mit  Zuckungen  behafteten  Mutter.  Deren  Vater  soll  ein  sehr 
talentirter,  aber  excentrischer  Mann  gewesen  sein.  Des  Vaters  Bruder 
führte  ein  abenteuerliches  Leben,  das  er  grossentheils  auf  Reisen  in 
fernen  Ländern  zubrachte.  Des  Vaters  Mutter  soll  ziemlich  lange  vor 
ihrem  Tod  blödsinnig  geworden  sein. 

Patient  war  von  Kindesbeinen  auf  sehr  erregbar,  emotiv,  zu  Con- 
gestionen  geneigt,  litt  viel  an  Nasenbluten.  Er  war  begabt,  jedoch  wenig 
ausdauernd.  Ton  Kindheit  auf  batte  er  Sinn  für  Naturwissenschaften, 
schwärmte  schon  als  Knabe  für  Forschungsreisen  in  fernen  Ländern. 
Gutmüthig  und  seine  Eltern  aufrichtig  liebend,  hatte  er  ihnen  gleich- 
wohl durch  Unfleiss  und  leichtsinniges  Schuldenmachen  viel  Kummer 
bereitet. 

Bis  1877  war  Patient  von  schweren  Krankheiten  verschont  gewesen. 
Ein  damals  aufgetretener  Typhus  erschütterte  seine  Gesundheit.  Er  litt 
von  nun  an  an  sehr  häufigem  und  intensivem  Kopfschmerz,  wurde  äusserst 
emotiv  und  erregbar,  gerieth,  wenn  vom  Vater  über  seine  Streiche  zur 
Rede  gestellt,  in  heftige  Aufregung,  kam  ganz  ausser  sich,  zitterte  am 
ganzen  Leib,  sodass  man  ihn  jeweils  beschwichtigen  musste.  Etwa  ein 
halbes  Jahr  nach  dem  „Typhus",  als  er  einmal  den  Zorn  des  Vaters 
über  versäumten  Unterricht  zu  fürchten  hatte,  gerieth  er  zum  erstenmal 
in  einen  psychischen  Ausnahmszustand,  lief  planlos  davon.  Man  besorgte, 
der  excentrische  Junge  habe  sich  ein  Leids  angethan.  Am  andern  Tag 
kam  von  befreundeter  Familie  ein  Telegramm  aus  M.  des  Inhalts,  dass 
X.  da  sei  und  was  mit  ihm  geschehen  solle?  Patient  wusste  kein  plau- 
sibles Motiv  für  diese  Flucht  und  hatte  nur  summarische  Erinnerung 
für  die  Details  derselben. 

Ein  andermal,  etwa  6  Monate  später,  lief  Patient  ebenfalls  nach 
einer  Gemüthsbewegung  planlos  fort,  wurde  bewusstloss  in  einem  Wald 
in  Zuckungen  aufgefunden.  Heimgebracht,  soll  er  bewegungsunfähig 
und  bewusstlos  bis  zum  folgenden  Tag  dagelegen  sein. 


Vierter  Aufsatz.  73 

Einige  Zeit  später,  als  Patient  in  der  Cadettenschule  in  L.  war  (1879) 
erlitt  er  aus  Aerger  über  einen  Kameraden,  der  ihm  ein  neues  Bein- 
kleid beschädigt  hatte,  einen  dritten  Anfall.  Er  stürzte  bewusstlos 
zusammen,  lag  einige  Stunden  so  da,  zitternd  am  ganzen  Körper  und 
kam  allmälig  mit  heftigem  Rückenschmerz  wieder  zu  sich. 

An  diese  Anfälle  schloss  sich  jeweils  ein  bis  zu  2  Tagen  dauernder 
Zustand  „eigentümlicher"  Mattigkeit,  in  welchem  Patient  kein  Glied 
rühren  konnte,  Zittern  in  den  Händen  hatte,  sich  beklommen  fühlte, 
jedoch  bei  sich  war. 

Irgendwelche  epileptische  Antecedentien,  Convulsionen  in  der  Kind- 
heit, Schlafwandeln  u.  s.  w.  werden  in  Abrede  gestellt.  Patient  war 
kein  Trinker,  hat  nie  eine  Kopfverletzung  erlitten  und  war  nicht  der 
Masturbation  ergeben.  Sein  geschlechtliches  Bedürfniss  war  gering  und 
wenn  er  einmal  zum  Coitus  sich  herbeiliess,  ärgerte  es  ihn  hinterher, 
„dass  er  sich  wie  ein  Thier  benommen  habe,  was  er  doch  vom  moral- 
philosophischen Standpunkt  verabscheuen  müsse".  Patient  theilt  weiter 
mit,  dass  er  an  Zwangsvorstellungen  und  entsprechenden  Impulsen  leide. 
Er  sehe  deren  Unsinnigkeit  zwar  vollkommen  ein,  könne  aber  gleich- 
wohl nicht  Herr  über  dieselben  werden. 

Vor  etwa  5  Jahren  kam  der  Zwang  über  ihn,  dass  er  Alles  Mög- 
liche dreimal  oder  in  einer  durch  3  theilbaren  Zahl  thun  musste.  Schon 
beim  blossen  Gedanken  Widerstand  zu  leisten,  wurde  ihm  bang  zu  Muth 
und  kam  es  ihm  vor,  wenn  er  nicht  folge,  passire  ihm  etwas.  Bald 
darauf  kam  eine  Zeit,  in  welcher  er  die  Zahl  3  in  jeder  Weise  ängst- 
lich meiden  musste.  Diese  Phase  wurde  abgelöst  durch  eine,  in  welcher 
die  Zahl  5  dieselbe  Rolle  spielte,  wie  früher  die  3.  In  neuerer  Zeit 
stand  er  unter  dem  Zwang,  auf  das  „Rechts"  besonders  zu  achten.  Alles 
musste  im  Zimmer  so  stehen  und  hegen,  dass  es  ihm  nach  rechts  gedreht 
erschien,  resp.  dass  die  rechte  obere  Ecke  eine  Vorzugsstellung  einnahm. 
So  trug  er  auch  mit  ziemlicher  Sorgfalt  den  rechten  Schnurrbart  um 
ein  Minimum  länger  als  den  linken.  Wenn  er  Abends  die  Schuhe  hin- 
stellte, musste  der  rechte  vor  dem  linken  vorstehen.  Seit  einem  Jahr 
musste  er  Acht  geben,  dass  kein  Stuhlfuss  auf  eine  Fuge  des  Fuss- 
bodens  zu  stehen  kam.  Auf  einem  solchen  Stuhl  zu  sitzen  war  ihm 
unerträglich,  brachte  ihn  aus  der  Contenance.  Als  Residuum  aus  der 
Phase  der  Vermeidung  der  Dreizahl  besteht  noch  ein  Zwang,  darauf  zu 
achten,  dass  nirgends  auf  Tisch,  Kanten  u.  s.  w.  sich  drei  Dinge  befinden. 
Wenn  dies  der  Fall,  so  muss  irgend  etwas  und  sei  es  nur  eine  Brod- 
krume, ein  Papierschnitzel  dazu,  sonst  ist  ihm  die  Situation  unerträg- 
lich. Ebenso  machen  ihm  symmetrische  Verhältnisse  grösstes  Unbehagen. 
Auf   seinem   Nachttisch    muss   Alles   nach    rechts    gedreht   hegen   und 


74  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

die  Gegenstände  müssen  in  ungleichen  Abständen  von  einander  sich 
befinden. 

Sonst  bestehen  keine  Zwangsvorstellungen  oder  Furchtarten.  Patient 
versicherte,  dass  seine  Mutter  ähnliche  Tic's  habe.  So  müsse  sie  beständig 
nachsehen,  ob  Alles  recht  verschlossen  sei,  ob  Niemand,  selbst  in  unmög- 
lichen Behältern,  sich  versteckt  halte,  ob  nicht  irgendwo  ein  Stäubchen 
sich  vorfinde  und  dergleichen. 

Patient  war  von  ungewöhnlich  lebhafter  Phantasie.  Unmittelbar 
nach  der  Lieblingslectüre  —  Reisebeschreibungen  —  war  es  ihm  oft, 
als  habe  er  Alles  gerade  selbst  erlebt.  Auch  auf  Spaziergängen  gerieth 
er  oft  in  Träumereien,  bis  ihn  ein  greller  Sinnesein  druck  zur  "Wirklich- 
keit zurückführte.  Auf  Bahnhöfen  erfasste  ihn  jeweils  ein  grosses  Sehnen 
und  Behagen.  Nach  abgelegter  Prüfung  (October  1880)  kam  Patient 
zum  Regiment.  Der  militärische  Beruf  war  ihm  unsympathisch.  Er 
fand  sich  nur  schwer  in  die  stramme  Ordnung  des  militärischen  Lebens 
und  war  unglücklich  darüber,  dass  sein  Vater  ihm  die  militärische  Lauf- 
bahn als  Lebensberuf  vorschrieb.  Wo  immer  er  nur  konnte,  vertiefte 
er  sich  in  Reiseberichte  aus  fremden  Ländern  und  schwelgte  im  Gedanken, 
doch  vielleicht  einmal  Entdeckungsreisen  zu  machen.  Das  Militärleben 
wurde  ihm  immer  unerträglicher.  Er  versuchte  seinen  Unmuth  über 
seine  Lage  durch  Trinkgelage,  die  er  seinen  Kameraden  gab,  zu  über- 
täuben. Zudem  war  es  ihm  bange  und  peinlich,  allein  zu  sein.  Durch 
seine  Freigebigkeit  gerieth  er  in  Schulden  und  zog  sich  bittere,  aber 
verdiente  Vorwürfe  von  Hause  zu. 

Bald  wurde  ihm  die  ausschweifende  Lebensweise  zuwider,  auch 
fing  er  an  Spirituosen  nur  mehr  schlecht  zu  ertragen  und  fühlte  sich 
leidend,  abgespannt  (1882). 

Er  studirte  nun  mit  Furor  Geographie,  Mathematik  und  andere 
Naturwissenschaften.  Der  Gedanke  an  Forschungsreisen,  afrikanische 
Expeditionen  beherrschte  ihn  immer  mehr.  Schon  vor  einem  Jahr  meinte 
er  dem  Vater  gegenüber,  Europa  sei  ihm  zu  klein;  er  habe  Einiges  von 
Gerstäcker  gelesen,  ein  so  berühmter  Mann  müsse  er  auch  werden. 

In  den  letzten  4  Monaten  war  Patient  immer  deutlicher  neur- 
asthenisch  und  zugleich  myopisch  durch  sein  übermässiges  Studium 
geworden.  Er  fühlte  sich  matt,  gerädert,  abgespannt  schon  beim  Auf- 
stehen wie  nach  einem  Uebungsmarsch,  ertrug  den  Aufenthalt  in  ge- 
schlossenen Räumen,  z.  B.  Theater,  nicht  mehr,  litt  an  Kopfschmerz, 
Kopfdruck,  schlechtem  unerquicklichem  Schlaf,  schreckte  leicht  auf,  hatte 
wechselnde  Sensationen  von  Hitze,  Kälte,  kitzelnde  Gefühle  in  der  Kopf- 
haut, beim  Schliessen  der  Augen  oft  Mouches  volantes,  Flammen-  und 
Woikenerscheinungen,  wurde  hyperästhetisch  für  Gehörseindrücke,  äusserst 


Vierter  Aufsatz.  75 

nervös,  emotiv,  erregbar.  Gleichwohl  fuhr  er  fort  mit  Furor  von  5 — 10  Uhr 
Abends  zu  studiren  und  als  es  in  den  letzten  Wochen  mit  dem  Studium 
nicht  mehr  gehen  wollte,  suchte  er  sich  mit  angeblich  zwei  Litern 
Thee  unter  Zusatz  von  etwas  Rum  zu  Stimuliren!  Die  neurasthenischen 
Beschwerden  steigerten  sich,  die  Zwangsvorstellungen  (siehe  oben)  nahmen 
immer  mehr  überhand.  Die  Idee,  ein  berühmter  Reisender  zu  werden, 
beschäftigte  ihn  immer  mehr,  bis  er  in  den  letzten  Wochen  Abends 
Stimmen  zu  hören  begann,  er  solle  sich  der  afrikanischen  Expedition 
Wissmanns  anschliessen.  In  den  letzten  Nächten  hatte  er  gehört,  es 
sei  jetzt  Zeit,  abzureisen. 

Aus  den  letzten  Wochen  liegen  Briefe  an  die  Eltern  vor  (14.  bis 
21.  Februar),  die  von  grosser  nervöser  Erregung  und  Exaltirtheit  zeugen. 

So  schreibt  er  unterm  14.  Februar:  „Ich  bin  eben  ein  excentrischer 
Mensch.  Meine  Pläne  für  die  Zukunft  gehen  über  das  Alltägliche  hinaus." 
Oberstlieutenant  H.  hat  ja  gesagt,  „entweder  er  geht  elend  zu  Grund, 
oder  er  wird  etwas  Besonderes  leisten".  Wer  mich  verstehen  wollte, 
müsste  ich  selbst  sein.  Selbst  meine  Eltern  können  es  nicht.  Ein 
edler  Sinn  wohnt  in  mir." 

17.  Februar.  „Die  Afrikaforschung  ist  ausgearbeitet,  Hurrah,  ich 
werde  berühmt.  Von  morgen  an  werde  ich  mir  ein  eigenes  Tagebuch 
einrichten,  damit  die  Welt  erkennt,  wer  ich  sei". 

Weiter  findet  sich  ein  Briefconcept  ohne  Datum,  vermuthlich  aus 
den  letzten  Tagen  vor:  „nicht  mehr  vermag  ich  dem  Traume  meiner 
Jugend,  den  Bildern,  die  mich  umgaukeln,  zu  entsagen.  Mein  Ent- 
schluss  ist  gefasst.  Die  grossen  Erfolge  des  Lieutenant  W.  bewegen 
mich  auch,  mein  Körnlein  für  die  Wahrheit  herbeizuholen.  Dort  blüht 
mir  Ruhm  und  Ehre.  Die  nächsten  Tage  reise  ich  nach  Zanzibar  ab, 
um  dort  den  Spuren  W.'s  zu  folgen.  Ich  halte  mich  in  G.  auf  und  bitte 
Papa  das  nöthige  Geld  flüssig  —  (hier  bricht  das  Schreiben  ab). 

Der  Zimmercollege  bemerkte  an  X.  bis  auf  den  letzten  Tag  keine 
Spuren  von  Irrsinn,  jedoch  habe  er  beständig  über  Afrika  studirt. 

Bei  X.  fand  sich  das  Concept  einer  dienstlichen  Meldung  de  dat. 
23.  Februar  vor:  „Ich  melde  Ew.  Hoch  wohlgeboren  meinen  Abgang  nach 
Centralafrika,  um  mich  der  Expedition  des  Lieutenants  W.  anzuschliessen." 

Gutachten.  Herr  X.  befand  sich  vom  24.  Februar  bis  1.  März 
1883  in  einem  ziemlich  genau  abgegrenzten  Zustande  von  tiefer  hallu- 
cinatorisch  deliranter  Bewusstseinsstörung  (Sinnesverwirrung).  Das 
Pathologische  dieses  Zustandes  erhellt  aus  dem  Detail  seiner  Symptome, 
aus  dem  Verlauf,  den  begleitenden  motorisch  cerebralen  Störungen.  Die 
Tiefe  der  Bewusstseinsstörung  lässt  sich  ermessen  aus  der  höchst  sum- 
marischen, für  längere  Zeitabschnitte  des  Anfalls  sogar  fehlenden  Erinne- 


76  Transitorisches  Irresein  bei  Neurasthenie. 

rung.  Als  Vorboten  (Aura)  dieses  Anfalles  werden  Gehörshallucinationen 
ermittelt,  die  noch  in  die  Zeit  desselben  hineinreichen.  Die  Vermuthung 
einer  Simulation,  wenn  auch  berechtigt  bei  der  Thatsache  der  Unerträg- 
lichkeit  des  Berufslebens,  wird  unhaltbar  durch  die  Details  des  empirisch 
klar  und  wahr  sich  als  Sinnesverwirrung  darstellenden  Anfalles.  Auch 
die  allgemein  psychologischen  Kriterien  (Entweichen  in  Uniform,  Anhalten 
in  G. ,  Befragung  eines  Sicherheitswachmannes,  was  zur  Arretirung  führte), 
sprechen  gegen  die  Annahme  eines  geistesklaren  und  für  die  eines  sinnes- 
verwirrten Zustandes.  Der  Anfall  lässt  sich  klinisch  als  ein  dem  des 
Schlafwandelnden  nahestehender  Traumzustand  bezeichnen  und  anatomisch 
auf  eine  Störung  der  Blutcirculation  im  Gehirn  begründen.  Die  Exper- 
tise gewinnt  weitere  Anhaltspunkte  aus  der  wissenschaftlichen  Thatsache 
dass  transitorische  Geistesstörung  nur  eine  symptomatische  Bedeutung 
hat  und  der  Zurückführung  auf  eine  dauernde  Nervenkrankheit  oder  Hirn- 
störung bedarf.  Eine  solche  ergiebt  sich  sofort  aus  der  Vita  anteacta 
des  Exploraten.  Patient  ist  erblich  neuropathisch  belastet.  (Ab- 
normer Charakter,  abnorm  lebhafte  Phantasie,  Emotivität,  abnorm  leicht 
afficirbares  Gefässnervensystem,  Neigung  zu  Congestionen  u.  s.  w.).  Seit 
der  Pubertät  und  möglicherweise  im  Anschluss  an  einen  Typhus  leidet 
er  an  gesteigerter  Nervosität  und  elementaren  psychischen 
Störungen  (Zwangsvorstellungen  und  Zwangsimpulse).  Er  bietet  zudem 
zeitweise  im  Anschluss  an  Gemüthsbewegungen  auftretende  und  jeden- 
falls neurotisch  (vasomotorisch)  bedingte  Anfälle  von  Bewusstlosig- 
keit  mit  motorischen  Störungen  (epileptoide  Zustände).  Seit  einer 
Reihe  von  Monaten  haben  sich  in  Folge  von  Nachtschwärmerei,  Gemüths- 
bewegungen, excessivem  Studium,  übermässigem  Genuss  von  die  Hirn- 
thätigkeit  stimulirenden  Mitteln  die  Symptome  einer  Nervenkrankheit 
(Neurasthenie)  eingestellt,  welche  den  episodischen  Anfall  von  Sinnes- 
verwirrung überdauern  und  jetzt  noch  nachweisbar  sind.  Bei  dieser 
Neurasthenie  sind  Störungen  der  Gefässinnervation  integrirende  Symp- 
tome. Es  ist  medicinisch  vollkommen  begreiflich,  dass  auf  der  Höhe 
des  neurasthenischen  Allgemeinzustandes  die  Innervation  der  Gehirn- 
gefässe  derart  abnorm  wurde,  dass  eine  tiefere  Störung  der  Blutcircu- 
lation und  damit  ein  Zustand  von  Sinnesverwirrung  entstand.  Zur  "Wür- 
digung der  Zurechnungsfähigkeit  des  Exploraten  während  seiner  Sinnes- 
verwirrung  ist  folgendes  hervorzuheben:  Die  treibende  Vorstellung  zur 
Entweichung  war  eine  schon  länger  vorhandene,  aber  vernünftig  beherrschte 
Reiseidee.  Wahrscheinlich  gestaltete  sie  sich  vor  Ausbruch  des  Anfalls 
bis  zur  Gehörshallucination.  Mit  Eintritt  des  Anfalls  und  der  durch 
ihn  bedingten  Bewusstseinsstörung  verlor  der  Kranke,  zugleich  mit  der 
Trübung  seines  Bewusstseins,  jegliche  Hemmung  gegenüber  der  treibenden 


Vierter  AufBatz.  77 

Idee,  jegliche  Besonnenheit  und  Einsicht  für  seine  Handlung  und  die 
dadurch  geschaffene  Situation.  Die  Idee  wurde  das  Leitmotiv  einer 
traumhaften  Reise,  die  objectiv  sich  als  Desertion  ansieht,  subjectiv  nur 
die  unwiderstehliche  Handlungsconsequenz  eines  delirirenden  traumhaft 
gestörten  Bewusstseins  bildet. 

Die  Wahl  des  militärischen  Berufs  muss  für  den  cerebral  belasteten, 
psychisch  nicht  normalen  Exploraten  als  eine  unglückliche  und  unge- 
eignete bezeichnet  und  die  Gefahr  betont  werden,  dass  derselbe  bei 
Belassung  in  seinem  Beruf  neuerdings  von  Anfällen  transitorischer 
Geistesstörung  heimgesucht  werde,  ja  sogar  dauernd  an  seinen  geistigen 
Functionen  Schaden  leide.  Jedenfalls  ist  derselbe  beim  labilen  Gleich- 
gewicht seiner  Gehirnfunctionen  für  Jahre  hinaus  ungeeignet  zu  körper- 
licher und  geistiger  Anstrengung,  in  Gefahr  bei  Gemütsbewegungen 
sofort  wieder  psychisch  zu  erkranken  und  ärztlicher  Ueberwachung  und 
Behandlung  bedürftig.  Die  Untersuchung  gegen  X.  wurde  eingestellt 
und  derselbe  aus  dem  Heeresverband  entlassen. 


IL 

BEZIEHUNGEN  ZWISCHEN  NEURALGIE  UND 
TRANSITORISCHER  PSYCHOSE. 


Seltene  und  noch  recht  der  Klärung  bedürftige  Erscheinungen  sind 
Bilder  peracuter  psychischer  Erkrankung  im  zeitlichen  und  wohl  auch 
genetischen  Zusammenhang  mit  Neuralgie. 

Bei  der  enormen  Häufigkeit  dieser  und  der  grossen  Seltenheit 
begleitender  Psychose  bedarf  es  offenbar  besonderer  Dispositionen,  über- 
haupt des  Zusammentreffens  ganz  ungewöhnlicher  Bedingungen,  um 
diesen  Zusammenhang  zu  vermitteln. 

Als  Wege,  auf  denen  eine  Rückwirkung  einer  Neuralgie  auf  das 
psychische  Organ  denkbar  wäre,  würden  zunächst  ins  Auge  zu  fassen 
sein:  das  psychische  Moment  des  Schmerzes,  das  organische  Moment 
einer  Störung  des  psychischen  Organs  direct  durch  einen  peripheren 
Erregungsvorgang,  indirect  auf  dem  Wege  einer  Functionsstörung  vaso- 
motorischer Centren  und  Bahnen,  und  dadurch  einer  Aenderung  der 
Circulationsverhältnisse  (Gefässkrampf  oder  Gefässlähmung)  in  jenem. 

Vom  Standpunkte  klinischer  Erfahrung  aus  drängt  sich  aber  zur 
Erklärung  der  Seltenheit  des  durch  eine  Neuralgie  vermittelten  Irreseins 
die  Vermuthung  auf,  dass  in  solchen  Fällen  die  Neuralgie  eine  sympto- 
matische Bedeutung  haben  mag,  d.  n.  Symptom  oder  Syndrom  eines 
dauernd  bestehenden  krankhaften  neurotischen  Zustandes  sein  dürfte. 

Auffallend  häufig  stösst  man  bei  solchen  Fällen  auf  epileptische 
und  auch  hysterische  Neurose. 

Es  wären  alle  Schwierigkeiten  für  die  Pathogenese  behoben,  wenn 
die  sensible  Affection  hier  die  Bedeutung  einer  Aura  eines  folgenden 
psychischen  Aequivalents  einer  dieser  Neurosen  hätte,  oder  wenigstens 
(hysterische  Fälle)  die  Rolle  eines  Agent  provocateur  oder  gar  die  der 
spasmogenen  Zone  eines  auf  die  Phase  de  delire  beschränkten  Hysteria 
gravis- insults  spielte. 

An  solche  symptomatische  Bedeutung  einer  Neuralgie  muss  man 
ohne  weiteres  denken,  wenn  der  Anfall  auf  traumhafter  Bewusstseins- 
stufe  verläuft  und  Amnesie  für  das  in  demselben  Vorgefallene  hinterlässt. 

Das  Verdienst,  zuerst  auf  den  klinischen  Zusammenhang  von  Neur- 
algie und  transitorischer  Alionatio  mentis  aufmerksam  gemacht  zu  haben, 
gebührt  bekanntlich  Griesinger  (1866)  und  Schule  (1867).    Schon  diesen 

Krafft-Ebiinr,  Arbeiten  II.  6 


82  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

Beobachtern  ist  die  Analogie  der  Fälle  mit  Aura  und  epileptischen 
Delirien  nicht  entgangen. 

"Weitere  Förderungen  haben  diesem  dunklen  Gebiete  Verf.  (1868 
„Transitorische  Störungen  des  Selbstbewusstseins",  1883  „Dysphrenia 
neuralgica  transitoria",  Mascbka's  Handb.  d.  ger.  Med.  IV,  598),  Anton 
(Wiener  klin.  Wochenschr.  1889,  12—14),  J.  v.  Wagner  (Jahrb.  f.  Psych. 
VIII,  287)  und  neuerdings  Laquer  (Archiv  f.  Psych.  XXVI,  3)  an- 
gedeihen  lassen. 

Versucht  man  das  vorliegende  klinische  Material  nach  den  obigen 
pathogenetischen  Gesichtspunkten  zu  ordnen,  so  ergiebt  sich  zunächst 
die  Gruppe  der  durch  den  Schmerz  via  Affect,  also  rein 
psychisch  provocirten  Fälle. 

Am  einfachsten  sind  hier  die  als  Affectzustände  bis  zu  pathologischem 
Affect  sich  erstreckenden  wuthzornigen  Aufregungszustände  von  durch 
übermässigen  Wehenschmerz  (Tetanus  uteri)  provocirter  transitorischer 
Störung  der  psychischen  Function  (vgl.  d.  Verf.  Arbeit  bei  Maschka, 
p.  631  und  Lehrb.  der  ger.  Psychopathol.,  3.  Aufl.,  p.  385). 

In  den  übrigen  Fällen  von  neuralgischer  transitorischer  Affect- 
psychose  sind  es  ausschliesslich  Neuralgien  in  der  Bahn  des  Quintus, 
des  Occipitalis  und  der  Intercostalnerven,  die  in  Betracht  kommen. 

Fälle  von  als  durch  Neuralgie  vermitteltem  Affectdelir  anzusprechen- 
der transitorischer  Psychose  scheinen  sehr  selten  zu  sein. 

Ein  solcher  Fall  scheint  mir  der  von  J.  Wagner  (Jahrb.  f.  Psych. 
VUI,  p.  287)  berichtete.  —  Bauersfrau,  offenbar  etwas  imbecill,  bekommt 
links  Augenentzündung  und  links  Kopfneuralgie,  wird  hypochondrisch 
verstimmt,  äussert  Taedium  vitae.  Mit  den  Exacerbationen  bezw.  An- 
fällen der  Neuralgie,  die  sie  als  Fahren  des  Teufels  in  sie  deutet,  kommen 
Allegorien  des  Kopfschmerzes  im  Sinne  eines  Thieres,  das  Patientin  beisse. 

Als  Schmerz-  bezw.  Affectdelir  dürfte  auch  der  folgende  Fall  zu 
bezeichnen  sein. 

Beobachtung  1. 

S.,  23  Jahre,  stud.  med.,  wurde  am  9.  October  auf  meiner  Klinik 
aufgenommen. 

Keine  erbliche  Belastung.  Aus  bäuerlicher  Familie.  Als  kleines 
Kind  einmal  Convulsionen.  Ausser  Scharlach  und  Masern  (bis  zum 
7.  Jahre)  nie  schwer  krank  gewesen.  Normale  geistige  und  körperliche 
Entwickelung.  Seit  der  Pubertät  in  der  heissen  Jahreszeit  öfter  Schlaf- 
losigkeit und  diffuse  Kopfschmerzen.  Bei  Emotion  gleich  Herzklopfen. 
Geringe  Toleranz  für  Spirituosa.    Vita  sexualis  normal.     Kein  Potator. 

Am  2.  October  1893  war  ein  cariöser  Backzahn,  der  schon  längere 
Zeit  Schmerzen  verursacht  hatte,  in  Narcose  extrahirt  worden. 


Beziehungen  znischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose.  83 

Fortdauer  der  Schmerzen  im  Kiefer,  sehr  heftig,  den  Schlaf  raubend. 
Am  8.  Extraction  eines  2.  Zahnes.  Keine  Linderung.  Am  9.  October 
nahm  Patient,  der  durch  8  Tage  schlaflos  gewesen  war  und  auch  fast 
gar  nichts  genossen  hatte,  um  Schlaf  zu  erzwingen,  etwas  Rum  und 
1/8  Liter  Wein  und  schlief  darauf  kurze  Zeit. 

Von  den  folgenden  Vorgängen  weiss  Patient  aus  eigener  Er- 
fahrung nichts. 

Er  erwachte  nach  kurzer  Zeit,  klagte  über  heftige  Schmerzen,  wurde 
erregt,  ganz  verwirrt,  gestikulirte  lebhaft,  sprach  unverständliche  Dinge, 
beantwortete  nicht  an  ihn  gerichtete  Fragen,  rief  fortwährend  „Klinik, 
Zahnarzt,  Papa  telegraphiren" ,  wälzte  sich  im  Bett.  So  ging  es  durch 
2  Stunden  fort. 

Man  bi  achte  den  Patienten  auf  die  Klinik,  auf  welcher  er  bereits  ganz 
lucid  ankam.  Nach  einer  Weile  klagte  er  wieder  über  Schmerz,  wurde 
vorübergehend  erregt,  störend,  schimpfte  über  den  Zahnarzt,  das  Zahn- 
reissen,  wurde  dann  aber  ruhig,  schlief  den  Rest  der  Nacht  gut,  fühlte 
sich  bis  auf  etwas  „Ziehen"  im  Kiefer  ganz  wohl  und  bot  auch  objectiv 
psychisch  nichts  Abnormes  mehr.  Für  die  Zeit  des  Anfalls  hatte  Patient 
nur  eine  summarische  Erinnerung. 

Schädel  normal,  angewachsene  Ohrläppchen,  neuropathisches  Auge. 
Leichter  feiner  Tremor  der  Finger,  etwas  gesteigerte  Patellarreflexe, 
weite,  überaus  prompt  reagirende  Pupillen.  Patient  verweilte  bis  zum 
14.  October  auf  der  Klinik.     Er  blieb  in  der  Folge  gesund. 

Eine  neuropatlüscho  Veranlagung  dürfte  in  solchen  Fällen  von 
„Schmerzdelir"  wohl  immer  vorhanden  sein  und  prädisponirend  wirken. 

Die  Fälle  unterscheiden  sich  nicht  wesentlich  von  anderweitigen 
Aftectpsychosen.  Hinweise  auf  das  neuralgische  Moment  ergeben  sich 
eventuell  in  allegorisirenden  Delirien. 

Schwieriger  ist  die  pathogenetische  Deutung  der  nicht  psychisch, 
sondern  organisch  durch  Neuralgie  vermittelten  Fälle. 

Da  wir  über  die  dynamische  Wirkung  heftiger  centripetaler 
Reizungen  (z.  B.  Neuralgien)  der  Hirnrinde  wenig  wissen  und  den  Ein- 
fluss  des  Schmerzes  von  der  mit  ihm  meist  gesetzten  Schlaflosigkeit  u.  s.  w. 
nicht  gut  sondern  können,  ist  der  Hypothese  freie  Bahn  gegeben. 
Zweifellos  dürfte  es  aber  sein,  dass  durch  fortgesetzten  Schmerz  die 
Hirnrinde  in  den  Zustand  abnorm  leichter  Anspruchsfähigkeit  und  Er- 
schöpfbarkeit  versetzt  wird,  was  auch  für  ihre  vasomotorischen  Functionen 
gelten  dürfte. 

Beachtenswerth  erscheint  die  Annahme  La  quer 's  gegenüber  seinen 
Fällen,  dass  „durch  Irradiation  hochgradiger  Schmerzen  gewisse  Erreg- 
barkeitsveränderungen in  der  Hirnrinde  und   damit  Zustände  von  Ver- 


84  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  trausitorischer  Psychose. 

wirrtheit  und   Incohaerenz  (Delirien)    auf   hallucinatorischer  Basis,  mit 
mehr  oder  minder  ausgesprochener  Amnesie"  erzeugt  werden  können. 

Eine  besondere  Praedisposition,  für  welche  in  erster  Linie  an  eine 
latente  hysterische  oder  epileptische  Neurose,  dann  an  eine  degenerative 
Constitution  der  Nervenelemente  gedacht  werden  muss,  darf  wohl  auch 
hier  vorausgesetzt  werden. 

Die  Verschiedenartigkeit  der  Pathogenese  mag  es  mit  sich  bringen, 
dass  die  Krankheitsbilder  hier  so  verschiedenartig  sind  (blosse  Dysthymie 
mit  noch  auf  der  Grenze  zwischen  Obsession  und  Wahn  stehenden 
Delirien,  flüchtige  Hallucinationen  bis  zum  voll  entwickelten  halluc. 
Deliriuni,  zornige  Tobsucht,  raptusartige  Zustände  u.  s.  w.). 

Auch  hier  kann  der  neuralgische  Factor  allegorische  Verwerthung 
finden,  insofern  er  den  Kern  von  Wahnideen  bildet. 

Die  Veränderungen  des  Bewusstseins  sind  sehr  verschiedenartig. 
In  Fällen,  wo  es  sich  quasi  um  eine  heerdartige  umschriebene  Afficirung 
von  dem  Vorstellen  und  der  Sinneswahrnehmung  dienenden  Rinden- 
gebieten  handelt  (Mitvorstellungen,  Mithallucinationen  im  Sinne  Grie- 
singer's),  ist  die  Bewusstseinstrübung  eine  recht  geringfügige.  Da,  wo 
der  neuralgische  Reiz  via  Gefässnervensystem  (vasomotorische  Reflex- 
neurose?) zu  wirken  scheint,  ist  das  Bewusstsein  tief  getrübt  und,  ent- 
sprechend der  diffusen  Hirnveränderung,  die  Psyche  allseitig  gestört. 

Auch  für  diese  Gruppe  von  Vesania  transitoria  findet  sich  nur 
dürftige  Casuistik  in  der  Litteratur. 

Griesinger's  4  Fälle  sind  zu  aphoristisch  mitgetheilt,  um  sichere 
Verwerthung  zu  finden. 

Die  3  ersten  (1.  40jährige  Frau,  veraltete  Occipitalis-Quintus- 
neuralgie  —  Hallucinationen  und  unsinnige  Gedanken,  wenn  Patientin 
im  neuralgischen  Anfall  die  Augen  schliesst;  2.  Mädchen,  linksseitige 
Supraorbitalneuralgie  mit  Verwirrtheit,  psychischer  Verstimmung,  Ero- 
tismus;  3.  Mann,  45  Jahre,  rechts  Prosopalgie  — halluc.  Delir)  kann  ich 
nicht  mit  Verfasser  als  Schmerzdelir  anerkennen ,  ebenso  wenig  folgenden 
Fall  von  Laquer:  54  Jahre,  Zugsführer,  ohne  neurotische  Grundlage. 
Kein  Potus.  Rheumatische  (?)  rechtsseitige  Quintusneuralgie  im  1.  Ast. 
Im  Anschluss  an  Schmerzattaquen  berufliches  Beschäftigungs-  und  ex- 
pansives Delir  von  1/i—1l2  Stunde,  mehrmals  täglich,  durch  8  Wochen. 
Hier  dürfte  ein  von  Antou  (Wiener  klin.  Wochenschrift  1889,  12) 
beobachteter  und  in  seinem  Aufsatz  „Ueber  Beziehungen  der  Neuralgie 
zu  den  Psychosen"  berichteter  Fall  von  mit  einer  Supraorbitalneuralgie 
ausgelösten  peinlichen  Mitvorstellungen  anzureihen  sein. 

KI.,  23  Jahre,  mos.,  ledig,  Jurist,  Russe,  aus  schwer  belasteter  Familie,  rachitisch 
gewesen,  hatte  sich  gut  entwickelt,  war  in  politische  Verwicklungen  und  Untersuchungs- 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose.  85 

haft  gerathen,  in  welcher  quälender  Kopfschmerz  auftrat.  Im  4.  Haftmonat  Anfälle  von 
„Bewusstlosigkeit"  bis  zu  20'  mit  gellendem  Lachen.  Später,  nach  der  Freilassung, 
Angstzustände  mit  Taed.  vitae. 

Kurz  vor  der  Aufnahme  in  der  psychiatrischen  Klinik  in  Wien  am  3.  October 
1888,  seit  einer  heftigen  Gemütbsbewegung,  die  eine  Ohnmacht  zur  Folge  gehabt  hatte, 
waren  wiederholte  Anfälle  von  durch  3 — 4  Tage  bewusstlosem  Handeln,  Sprechen, 
Lachen,  Weinen  aufgetreten. 

In  der  Klinik  psychische  Depression,  Angstgefühle,  Taed.  vitae,  heftige  Hyperaesthesie 
und  zeitweise  Neuralgie  im  Gebiet  der  nn.  supraorbitales. 

Bei  Exacerbation  der  Neuralgie  zuerst  Gefühl  von  Gedankenleere,  geistiger  Un- 
fähigkeit, Oede  im  Kopf,  dann  Gedankendrang  mit  peinlichem  Inhalt,  der  sich  um 
unangenehme  Keproductionen,  aber  auch  um  widrige,  selbst  feindliche  Beziehungen 
zur  Gegenwart  und  Aussenwelt  dreht. 

Anfälle  besonders  nach  Affect  und  relativer  geistiger  Anstrengung.  Auf  faradische 
Behandlung  der  kranken  Nervengebiete  bedeutende  Besserung. 

Die  folgenden  Fälle  eigener  Beobachtung  mögen  die  jedenfalls  in 
Verschiedenheit  der  Pathogenese  begründeten  verschiedenartigen  neur- 
algisch psychotischen  klinischen  Bilder  illustriren. 

Der  l.  ist  eine  Dysphrenia  im  Sinne  Griesinger's  qua  Mitvorstel- 
lungen, der  2.  ein  hallucinatoriscb.es  Delir  mit  Amnesie,  der  3.  offenbar 
eine  vasomotorische  Keflexpsychose,  ein  Uebergangsfall  zur  epileptischen 
Gruppe,  aber  ohno  Nachweisbarkeit  dieser  Neurose. 

Beobachtung  2.*) 

Ludwig  M.,  10  Jahre  alt,  von  hysterischer  Mutter,  schwächlich,  von 
neuropathischer  Constitution,  anaemisch,  durch  rasches  Wachsen  und 
angestrengtes  Lernen  in  der  Ernährung  herabgekommen,  war  seit  4  Mo- 
naten episodisch  verstimmt,  ängstlich  geworden  und  hatte  unter  Weinen 
geklagt,  dass  ihm  so  abscheuliche  Schimpfnamen  und  gemeine  Gedanken 
in  den  Sinn  kämen,  die  auszusprechen,  er  sich  kaum  enthalten  könne. 
Dieser  Zustand  trat  täglich  ein,  dauerte  durch  mehrere  Stunden  und 
war  von  heftigem  stechenden  Schmerz  in  der  linken  Brusthälfte  und 
einem  globusartigen  Gefühl  begleitet. 

Kehrte  der  Schmerz  wieder,  so  waren  auch  sofort  die  bösen  Ge- 
danken wieder  da. 

In  den  schmerzfreien  Zeiten  war  der  Knabe  munter  und  wohl, 
jedoch  machte  er  sich  in  letzter  Zeit  Gedanken  über  die  bösen  Ideen 
und  fing  an,  sie  für  etwas  Sündhaftes  oder  gar  Uebernatürliches 
zu  halten. 

Die  genaue  Untersuchung  ergab  Status  nervosus,  Anämie,  konnte 
Neurosen,  Masturbation  ausschliessen. 

Der  Verlauf  des  1.  4.  S.  9.  n.  intercostalis  war  schmerzhaft  auf  Druck. 


*)  S.  m.  „Transitor.  Störungen  des  Selbstbewusstseins*  1868,  p.  73. 


86  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

Eine  forcirte  Durchtastung  der  neuralgisch  afficirten  Nervenbahnen 
machte  den  Knaben  ängstlich,  weinerlich  und  erzeugte  sofort  die 
Schimpfgedanken.  Eine  entsprechende  allgemeine  und  örtliche  Behand- 
lung brachte  nach  einigen  Monaten  die  Genesung. 

Beobachtung  3. 

S.,  Marie,  Dienstbote,  17  Jahre,  wurde  am  28.  Mai  1896  auf  meiner 
Klinik  aufgenommen. 

Aus  dem  polizeiärztlichen  Bericht  geht  hervor,  dass  die  S.  seit 
8  Tagen  zur  Zufriedenheit  im  letzten  Dienstorte  gedient  hatte,  in  der  letzten 
Nacht  aufgeregt  geworden  war,  schrie,  weinte,  sich  am  Boden  wälzte,  un- 
zusammenhängend sprach,  u.  A.  von  ihrer  früheren  Dienstgeberin,  die 
grundlos  eifersüchtig  auf  sie  gewesen,  zu  ihr  heute  Nacht  mit  einem 
Messer  ins  Zimmer  gedrungen  sei  und  sie  H . . .  geschimpft  habe. 

Patientin  geht  verstört,  weinerlich  zu,  ist  kaum  zum  Sprechen  zu 
bringen,  behauptet,  man  habe  ihr  heute  Nacht  ein  Messer  in  den  Kopf 
gestossen,  ein  "Wagen  mit  Pferden  sei  in  ihr  Gehirn  gefahren. 

Patientin  ist  fieberlos,  ohne  vegetativen  Befund.  Schädelumfang  52 
Sie  klagt  über  starkes  Kopfweh.  Sämmtliche  Trigeminus-,  aber  auch 
die  Occipitalisbahnen,  namentlich  rechts,  sehr  druckschmerzhaft  und  Sitz 
spontaner  Schmerzen.     Keine  Stigmata  hysteriae. 

Sich  selbst  überlassen,  brütet  Patientin  vor  sich  hin,  ist  über  ihre 
Lage  gar  nicht  orientirt,  empfindet  auch  gar  kein  Bedürfniss  nach 
Orientirung,  nimmt  von  den  Vorgängen  der  Aussenwelt '  keine  Notiz. 
Vorübergehend  ist  sie  ganz  reactionslos,  ohne  jedoch  stuporös  zu  sein. 

Man  gewinnt  den  Eindruck,  dass  innere  Vorgänge  sie  ganz  absorbiren. 
Ab  und  zu  Aeusserungen,  sie  werde  fortwährend  beschimpft  von  der 
früheren  eifersüchtigen  Dienstgeberin.     „Sie  giebt  keine  Ruhe." 

Patientin  klagt,  dass  bewusste  Frau  ihr  mit  Messerstichen  Schmerzen 
im  Kopf  zufüge.  Die  Nächte  werden  ruhig  und  meist  schlafend  zu- 
gebracht. 

Am  2.  Juni,  mit  Nachlass  der  Kopfschmerzen,  wird  Patientin  besinn- 
licher, freier,  spürt  aber,  dass  ein  Messer  im  Kopf  stecke  und  klagt 
noch  bis  zum  4.  Nachmittags  über  Messerstiche  und  dass  die  Frau  mit 
Schimpfen  keine  Ruhe  giebt. 

Nun  wird  sie  ganz  lucid  und  theilt  mit,  dass  sie  vom  26.  März  1896 
ab  in  dem  früheren  Dienst  unter  der  Eifersucht  der  Herrin  viel  zu 
leiden  hatte.  Am  13.  Mai  habe  sie  wegen  der  sich  immer  ärger  wieder- 
holenden Eifersuchtsscenen  den  Dienst  endlich  verlassen,  einen  neuen 
in  der  Nähe  des  früheren  angetreten. 

So  oft  sie  der  früheren  Dienstgeberin  begegnete,  habe  diese  sie 
beschimpft.     Patientin  versichert,   sie  sei  aus  dem  Kummer   über   das 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose.  87 

erlittene  Unrecht  und  über  die  infarnirenden  Angriffe  auf  ihre  Ehre  gar 
nicht  mehr  herausgekommen. 

Am  25.  Mai  habe  es  neuerlich  eine  höchst  peinliche  Scene  auf  der 
Strasse  gegeben.  Sie  bekam  in  dem  dadurch  provocirten  Affect  heftige 
Kopfschmerzen,  Appetit-  und  Schlaflosigkeit. 

In  der  Nacht  auf  den  28.  Mai  habe  sie  sich  wegen  Schlaflosigkeit 
mit  Bügeln  die  Zeit  vertrieben.  Vor  Kopfweh  und  "Weinen  konnte  sie 
von  ll1^  Uhr  Abends  ab  nicht  mehr  arbeiten.  Sie  setzte  sich  nieder. 
Von  dem,  was  nun  mit  ihr  geschab,  bis  zum  4.  Juni,  wo  sie  Nachmittags 
im  Spital  zu  sich  kam,  weiss  Patientin  nicht  das  Mindeste. 

Sie  hat  noch  etwas  Kopfschmerz,  der  sich  aber  binnen  wenig  Tagen 
verliert,  bietet  keine  Schwankungen  ihres  körperlichen  und  psychischen 
Befindens,  geräth  nicht  mehr  in  Affect  bei  der  Erinnerung  an  die  ihr 
von  der  früheren  Herrin  angethanen  Kränkungen. 

Am  10.  Juni  auf  die  Nachricht,  ihr  Vater  komme,  geräth  Patientin 
neuerlich  in  einen  psychischen  Ausnahmszustand. 

Sie  erscheint  bei  der  Krankenvisite  verstört,  dämmerhaft,  kennt  die 
Umgebung  nicht,  auch  nicht  den  Vater,  hat  wieder  Kopfschmerz,  zuckt 
bei  Durchtastung  der  rechten  Kopfhälfte  zusammen,  blickt  starr  vor  sich 
hin,  äussert  keine  Delirien  und  kommt  nach  etwa  4  Stunden  wieder  zu 
sich,  mit  Amnesie  für  diese  Zeit. 

Am  17.  Juni,  nach  gutem  intervallärem  Befinden,  neuerlich  neural- 
gischer Kopfschmerz,  Behauptungen,  die  Frau  habe  ihr  ein  Messer  in  den 
Kopf  gestossen.  Tiefer  Dämmerzustand  wie  früher.  Keine  Gehör- 
hallucinationen. 

Am  21.  Juni  wieder  lucid.  Von  jetzt  ab  bis  zur  Entlassung 
(29.  Juni)  noch  täglich  heftiger  Kopfschmerz,  aber  ohne  psychopathische 
Symptome. 

Vom  Vater  erfährt  man,  dass  durchaus  keine  hereditäre  Belastung 
im  Spiele  sei,  dass  seine  Tochter  jedoch  von  Kindsbeinen  auf  sehr  emotiv 
war,  gleich  weinte,  von  jeher  oft  an  Kopfweh  litt  und  schon  1895  im 
Anschluss  an  eine  Ohrfeige,  die  sie  von  ihrer  Dienstgeberin  erhalten, 
sich  sehr  gekränkt  habe  und  in  ähnlicher  Weise  wie  diesmal  verwirrt 
gewesen  sei,  sodass  sie  3  Wochen  im  Spital  zu  Pressburg  zubringen  musste. 

Ein  Trauma  capitis  habe  sie  nie  erlitten. 

Anamnestische  und  gegenwärtige  Nachforschungen  nach  Epilepsie 
und  Hysterie  ergaben  ein  völlig  negatives  Resultat. 

Beobachtimg  4. 

Fräulein  Rov  . . .,  26  Jahre,  Erzieherin,  in  meiner  Klinik  aufgenommen 
am  11.  October  1874,  soll  von  gesunden  Eltern  stammen.  Eine  Schwester 
ist  nervenleidend. 


88  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

Patientin  war  als  Kind  gesund,  litt  vom  17.  Jahr  ab  an  Chlorose, 
■wurde  menstruirt  mit  20  Jahren.  Mit  24  Jahren  5  monatliche  Tobsucht 
mit  nymphomanischen  Erscheinungen.  Vollständige  Genesung.  Ende 
August  1874  nach  Schreck  (Vater  verunglückte  auf  der  Eisenbahn) 
neuerlich  erkrankt  —  Cardialgie,  Druck  im  Epigastrium,  trübe  Stimmung, 
grosse  gemüthliche  Keizbarkeit.  Nach  3  Wochen  Aufhören  der  epi- 
gastralen  Beschwerden,  nun  aber  Kopfschmerz,  unruhiger  Schlaf,  schwere 
Träume,  Praecordialangst. 

Tom  20.  October  1874  ab  Temporal-  und  Intercostalneuralgie, 
dabei  psychische  Verstimmung,  Hang  allein  zu  sein,  Unlust  zur  Arbeit. 

Die  Neuralgien  bestanden  continuirlich  mit  Exacerbationen.  Mit 
solchen  kam  es  jeweils  zu  Anfällen  folgenden  Charakters: 

Mit  sich  steigerndem  Temporalschmerz  wird  Patientin  blass,  ohn- 
mächtig. Nach  einigen  Minuten  kommt  sie  zu  sich;  sie  ist  weinerlich, 
klagt  über  heftigen  linksseitigen  Temporalschmerz.  Das  Gesicht  ist  dabei 
geröthet.  Solcher  Anfälle  kommen  zuweilen  mehrere  an  einem  Tag, 
wobei  die  Temporalneuralgie  die  Kolle  einer  Aura  zu  spielen  scheint. 
Als  Sitz  des  Schmerzes  findet  sich  ein  umschriebener  Punkt  nach  oben 
und  aussen  vom  linken  oberen  Augenhöhlenrand.  Dieser  ist  auf  Druck 
sehr  schmerzhaft  und  lassen  sich  von  diesem  Punkt  aus  experimentell 
Anfälle  provociren.    Der  Schmerz  irradiirt  nirgends  hin. 

An  dieser  Stelle  findet  sich  keine  gewebliche  oder  Knochen- 
veränderung. Der  1.  Ast  des  linken  Trigeminus  ist  allenthalben  druck- 
empfindlich. Von  TJebelkeit,  Flimmerscotom  u.  s.  w.  sind  die  Anfälle 
nie  begleitet.  Der  Augenspiegelbefund  ist  negativ.  Das  linke  Ohr  ist 
hochgradig  hyperaesthetisch,  das  Ticken  der  Uhr  wird  hier  höchst  lästig 
empfunden.     Stigmata  hysteriae  sind  nicht  auffindbar. 

Neben  der  temporalen  besteht  eine  linksseitige  Intercostalneuralgie, 
die  zwar  jeweils  mit  ersterer  exacerbirt,  aber  auf  die  Auslösung  der 
Anfälle  keinen  Einfluss  gewinnt. 

Die  vegetativen  Organe  functioniren  normal.  Uterus  virginal,  Druck 
auf  die  Vaginalportion  schmerzhaft.  Ord.  kalte  Abreibungen,  laue  Bäder, 
Tonica,  Morphiuminjectionen  ad  locum  dolentem. 

Die  Erscheinungen  der  Dysthymie  verlieren  sich  in  den  folgenden 
Wochen.     Die  Localerscheinungen  und  die  Anfälle  bleiben. 

Diese  treten  1—2  Mal  täglich  auf,  dauern  bis  zu  einer  halben  Stunde, 
gehen  mit  völliger  Aufhebung  des  Bewusstseins  einher.  Patientin  ver- 
hört dasselbe  nicht  plötzlich,  sondern  allmälig.  Sie  greift  nach  der 
schmerzhaften  Temporal-  und  Intercostalgegend,  bedeckt  sie,  zuckt  heftig 
zusammen,  wenn  man  an  ersterer  einen  Druck  ausübt.  Es  kommt  zu 
Jactation,  Umherwälzen,  Umsichschlagen,  das  den  Eindruck  bewusstloser 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose.  89 

Reaction  auf  den  intensiven  Schmerzzustand  macht.  Oft  kommt  es  auf 
der  Höhe  des  Anfalls  zu  Stöhnen,  tremorartigem  Zucken  der  unteren 
Extremitäten,  ähnlich  einem  Schüttelkrampf,  Einkrallen  der  Finger  in 
die  Kissen,  Zähneknirschen,  Rotation  der  Bulbi  nach  oben.  Häufig 
zeigen  sich  Spuren  von  Delirium  —  zusammenhangslose,  abgerissene 
"Worte,  Gespräche  mit  dem  Bruder. 

Respiration  und  Circulation  sind  ungestört,  aber  der  Puls  wird 
frequent  und  klein.  Nach  dem  Anfall  ist  Patientin  rasch  wieder  bei 
sich,  ohne  Schwindel,  matt,  erschöpft.    Keine  Urina  spastica. 

Menses  regelmässig,  ohne  Einfluss  auf  die  Anfälle. 

Seit  Januar  1875  ist  Patientin  psychisch  andauernd  frei.  Die  Tem- 
poralneuralgie äussert  sich  nur  mehr  als  Aura.  In  der  Zwischenzeit  der 
Anfälle  besteht  hier  kein  Druckschmerz  mehr.  Dafür  ist  die  Intercostal- 
neuralgie  in  den  Vordergrund  getreten.  Sie  vermag  keine  Anfälle  aus- 
zulösen, exacerbirt  aber  mit  diesen  und  ist  nach  solchen  besonders  intensiv. 
Die  Anfälle  werden  seltener,  durch  psychische  Reize  nicht  auslösbar, 
sondern  nur  durch  die  Intercostalneuralgie.  Unter  Brombehandlung 
(6,0  pro  die)  und  Fortsetzung  der  Morphiumin jectionen  (2  Mal  täglich 
0,03),  bis  zum  Mai  werden  die  Anfälle  sehr  selten. 

Nachdem  im  September  und  October  keine  Anfälle  mehr  zu  beob- 
achten gewesen  waren  und  das  Krankheitsbild  sich  nur  auf  leichte 
Temporalempfindlichkeit  und  nervöse  Erregbarkeit  beschränkt  hatte, 
wurde  Fräulein  R.  am  9.  November  1895  entlassen.  Die  Genesung  hat 
sicli  erhalten. 

Wohl  am  häufigsten  besteht  der  Zusammenhang  zwischen  Neuralgie 
und  transitorischer  Psychose  darin,  dass  eine  epileptische  oder  hysterische 
Veränderung  im  Centralnervensystem  vorhanden  ist  und  die  Neuralgie 
nichts  anderes  als  die  Aura  eines  Insults  einer  dieser  beiden  Nervenkrank- 
heiten darstellt.  Kommt  es,  wie  nicht  selten,  zu  einem  blossen  psychischen 
Insult  —  so  bei  Epilepsie  als  Aequivalent  eines  Krampfanfalls,  bei 
Hysteria  gravis  als  rudimentärer  Anfall  (p6riode  de  dülire),  —  so  entsteht 
klinisch  ein  neuralgisches  transitorisches  Irresein,  das  nur  verständlich 
wird,  wenn  die  Neuralgie  in  ihrer  eigentlichen  Bedeutung  erkannt  wird. 

Es  ist  sogar  wahrscheinlich,  dass  es  bei  der  neuralgischen  Aura 
eines  epileptischen  Insults  sein  Bewenden  haben  kann,  oder  dass  dieser 
insofern  abortiv  bleiben  kann,  als  nur  Bewusstseinstrübung  und  einzelne 
Symptome  des  sonst  klassisch  convulsiven  Anfalls  die  Neuralgie  begleiten, 
bezw.  den  epileptischen  Insult  markiren.  Dann  gewinnt  das  Ganze  das 
Gepräge  eines  neuralgischen  Aequivalents  eines   gewöhnlichen  Anfalls. 

Provocirt  eine  Neuralgie  auf  hysterischer  Grundlage  transitorisches 
Irresein,  so  geschieht  dies  wohl  immer  in  der  Weise,  dass  das  neuralgische 


90  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

Gebiet  die  Bedeutung  einer  spasmogenen  Zone  gewann  und  damit  den 
Anfall,  der  auf  die  periode  de  delire  beschränkt  sein  kann,  auslöste. 

Eine  Deutung  im  Sinne  eines  epileptischen  Aequivalents  scheint 
mir  folgender  von  Anton  (op.  cit.)  berichtete  Fall  zu  verdienen. 

K.,  18  Jahre,  Buchführer,  von  heiasteter  Mutter,  begabt,  Dervös,  seit  der  frühesten 
Jugend  mit  Stirnkopfschmerzen  behaftet. 

Mit  16  Jahren  im  Anschluss  an  Tod  der  Mutter  bewusstloses  Zusammenfallen  mit 
sich  anschliessender  Erregung,  Verworrenheit,  sinnlosem  Umsichschlagen,  Beissen,  Zähne- 
knirschen. Solche  Anfälle  wiederholt.  Seither  reizbar,  Steigerung  des  quälenden  Stirn- 
kopfschmerzes. 

Juli  1888  Suicjdversuch  in  der  Donau  mit  Amnesie. 

Seither  Groll  gegen  den  Chef,  Ideen,  sich  an  diesem  zu  rächen. 

Am  2.  August  zu  diesem  Zweck  in  dessen  Geschäft  eingedrungen,  Wuthanfall  mit 
Amnesie.     In  Klinik  erschöpft,  desorientirt,  nach  4  Tagen  geordnet. 

2.  Aufnahme  auf  Klinik  15.  September  1888  mit  heftiger  Hyperaesthesie  im  n. 
supraorhitalis.  Patient  erschöpft,  verwirrt,  ist  Dr.  Faust,  300  Jahre  alt,  hat  den 
30jährigen  Krieg  mitgemacht  u.  s.  w. 

Patient  fabulirt  förmlich,  spricht  fliessend  innerhalb  seines  Wahnkreises,  ist  sonst 
arg  gehemmt,  amnestisch  für  Vita  anteacta,  für  früheren  Aufenthalt  auf  der  Klinik. 
Nach  2  Tagen  rasche  Lösung  des  psychischen  Ausnahmszustands,  mit  völliger  Amnesie 
für  die  Zeit  vom  9. — 17.  September. 

Die  Schriftzüge  sind  nun  ganz  anders  als  die,  welche  Patient  als  Dr.  Faust 
gehabt  hat. 

Am  17.  n.  supraorbitalis  noch  schmerzhaft.  Die  Neuralgie  klingt  ab.  Patient 
erscheint  noch  psychisch  leicht  ermüdbar,  nach  wie  vor  nervös,  erregbar,  gedrückt. 

Während  des  Aufenthalts  im  Spital,  provocirt  durch  Gemüthsbewegungen,  noch 
2  Wuthanfälle  von  etwa  10'  Dauer,  analog  dem  am  2.  August  vorgekommenen,  jeweils 
mit  Exacerbation  der  Neuralgie. 

Die  beiden  folgenden,  von  mir  vor  vielen  Jahren  beobachteten  Fälle 
mögen  als  Typen  für  die  klinischen  Bilder  des  neuralgisch  epileptischen 
und  hysterischen  transitorischen  Irreseins  hier  Abdruck  finden. 

Beobachtung  5.  Epilepsia  larvata  in  Gestalt  von  Vesania  neuralgica 
transitoria.*) 

Es  handelt  sich  im  folgenden  Falle  um  mit  einer  Intercostalneuralgie 
zeitweise  aufgetretene  Hallucinationen  und  Delirien  bei  einem  früher 
epileptischen  Anfällen  unterworfen  gewesenen  Mädchen  (Dysthymia 
neuralgica  epileptica),  welche  allmälig  au  die  Stelle  der  letzteren 
getreten  waren,  und  wobei  sich  aus  dem  eigenthümlichen  psychischen 
Bilde  der  paroxysmalen  und  interparoxysmelleu  Erscheinungen  mit 
Sicherheit  auf  die  Grundursache  (Epilepsie)  zurückschliessen  liess.  Zu- 
gleich gelang  es  der  klinischen  Beobachtung,  die  einzelnen  Paroxysmen 
auf  die  peripherische  Ursache  (Neuralgie)  zurückzuführen,  und  die  Be- 
achtung dieser  reflectorischen  Auslösung  derselben  hatte  einen  günstigen 


*)  Zeitschrift  f.  Psychiatrie  XXIV,  4. 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose.  91 

therapeutischen  Erfolg  in  Gestalt  einer  Beseitigung  des  Krankheitszustandes 
mittelst  subcutaner  Morphiuminjectionen,  womit  ein  experimenteller 
Beweis  des  ätiologischen  Zusammenhangs  der  einzelnen  Krankheits- 
erscheinungen und  der  reflectorischen  Auslösung  der  Paroxysmen  zugleich 
geliefert  war.  Die  Wichtigkeit  und  Schwierigkeit  der  Begutachtung  der- 
artiger Zustände  für  die  forensische  Praxis  ergiebt  sich  aus  einem  Dieb- 
stahl, den  die  Kranke  in  einem  Anfalle  ihres  Leidens  beging,  der  die 
Gerichte  zur  Einforderung  eines  Gutachtens  über  ihren  Gesundheits- 
zustand zur  Zeit  der  That  veranlasste. 

Wilhelmine  W. . .,  33  Jahre  alt,  katholisch,  ledig,  Dienstmagd,  später 
Taglöhnerin  und  Vagabundin,  wurde  der  Anstalt  Ulenau  aus  der  Unter- 
suchungshaft, in  der  sie  sich  wegen  eines  am  26.  April  1S65  begangenen 
Wäschediebstahls  seit  dem  15.  Mai  befunden  hatte  und  in  Seelenstörung 
verfallen  sein  sollte,  am  10.  Juli  1866  zum  Zweck  der  Behandlung  und 
Begutachtung  ihres  Seelenzustandes  übergeben. 

Aus  den  gleichzeitig  eingelaufenen  Acten  über  das  frühere  Leben 
der  W.  ergab  sich  Folgendes:  Das  Verbrechen,  das  sie  zum  letzten  Mal 
in  die  Gewalt  der  Gerichte  geführt  hatte,  war  ein  Wäschediebstahl,  den 
sie  am  26.  April,  Nachts  zwischen  1  und  2  Uhr,  auf  einem  Bleichplatz 
in  R.  begangen  hatte.  Gleich  nach  dem  Diebstahl  war  sie  mit  ihrem 
Raub  fortgeeilt,  hatte  sich  mehrere  Tage  in  verschiedenen  Ortschaften 
herumgetrieben,  einen  Theil  der  entwendeten  Gegenstände  veräussert 
und  mit  dem  Rest  sich  am  1.  Mai  bei  ihrer  Mutter  unter  dem  Vorwand 
eingefunden,  dass  sie  die  Wäsche  von  einer  Familie,  bei  der  sie  gewesen, 
zum  Geschenk  erhalten  habe.  Bei  der  Verhaftung,  am  15.  Mai,  fand 
man  noch  einen  Theil  der  entwendeten  Gegenstände,  nebst  anderen 
früher  gestohlenen  vor,  die  übrigen  hatten  Mutter  und  Tochter  theils 
verkauft,  theils  verarbeitet.  Die  Angeklagte  legte  ein  offenes  Geständniss 
ab  und  wurde  einstweilen  im  Amtsgefängniss  in  Untersuchungshaft 
gehalten. 

Schon  in  der  ersten  Zeit  ihrer  Gefangenschaft,  in  welcher  grosse 
Anaemief  Oodem  der  Füsse  und  Stuhlverstopfung  bald  auftraten,  stellte 
sich  fast  jeden  Abend  bedeutende  ängstliche  Unruhe  ein;  sie  behauptete, 
dass  Nachts  ein  grosser,  schwarzer  Mann,  mit  Acten  unter  dem  Arme, 
zu  ihr  in  die  Zelle  komme,  sich  auf  ihre  Pritsche  setze  und  sie  schreck- 
lich anblicke.  Die  Nächte  waren  schlaflos,  unruhig,  unter  Tags  verhielt 
sich  die  Gefangene  ruhig.  Trotz  Versetzung  in  gemeinsame  Haft  stellte 
sich,  vom  5.  Juli  an,  steigende  Unruhe,  blindes  Fortdrängen  aus  dem 
Gefängniss,  Taedium  vitae  ein,  so  dass  ihre  Versetzung  in  die  Irrenanstalt 
vom  Gefängnissarzt  beantragt,  und  am  10.  Juli  ausgeführt  wurde. 

Wir  fanden  bei  der  Aufnahme  eine  kräftig  gebaute,  aber  in  ihrer 


92  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

Ernährung  sehr  herabgekommene  und  in  hohem  Grade  anämische  Per- 
sönlichkeit. Der  Schädel  etwas  dolichocephal,  symmetrisch;  indifferente, 
oft  stupide  Gesichtszüge,  träge  Mimik,  träge  Bewegungen,  aber  der 
motorische  Apparat  frei  von  Störungen.  Keine  Erkrankung  vegetativer 
Organe,  dagegen  weit  gediehene,  in  schwacher  Circulation,  wachsbleicher, 
etwas  gedunsener  Haut,  Oedem  der  Füsse  sich  wesentlich  aussprechende 
Anämie  nebst  Fluor  albus. 

Eine  Reihe  von  Nervenbahnen,  besonders  aber  der  ganze  Verlauf 
des  linken  8.  Intercostalnerven  zeigten  sich  auf  Druck  sehr  empfindlich, 
wobei  sofort  ein  auf  die  Schmerzpunkte  dieser  Nerven  (Valleix)  aus- 
geübter Druck  eine  eigenthümliche,  ängstliche  Erregung  und  Gereiztheit 
bei  der  Kranken  hervorbrachte,  und  sie  fragen  Hess,  ob  man  ihr  denn 
die  Geschichte  mit  dem  „schwarzen  Mann'1  machen  wolle.  Psychisch  fand 
sich  zunächst  ein  hoher  Grad  von  Gedächtnissschwäche  und  Beschränkt- 
heit, derart,  dass  sie  selbst  über  ganz  einfache  Thatsachen  ihres  früheren 
Lebens  keine  Auskunft  zu  geben  wusste,  und  ein  anamnestisches  Ein- 
dringen in  dasselbe  unmöglich  war.  Wie  die  ganze  Haltung  und  Mimik, 
so  verriethen  auch  die  trägen,  nur  auf  ganz  concrete  Fragen  erfolgen- 
den Antworten  eine  grosse  Schwäche  im  psychischen  Mechanismus,  die 
sich  auch  weiter  in  kindischem  "Wesen,  grosser  Weinerlichkeit  und 
Eeizbarkeit  aussprach.  Ihren  Diebstahl  gestand  sie  auf  Befragen  unum- 
wunden ein,  gerieth  aber  sofort  in  Weinen  und  Klagen,  sie  sei  unschuldig, 
ein  schwarzer  Mann,  den  sie  auch  früher  schon  und  jetzt  wieder  im 
Gefängniss  gesehen,  habe  sie  geheissen,  das  Weisszeug  zu  nehmen;  sie 
habe  nicht  widerstehen  können,  auch  Nichts  weiter  dabei  gedacht.  — 
Schon  einige  Tage  vorher  und  früher  öfter,  sei  ihr  so  sonderbar  gewesen 
im  Kopf;  sie  habe  oft  ein  Hämmern  darin  verspürt,  es  sei  ihr  gewesen, 
als  ob  eine  ganze  Menge  Leute  ihr  zurufe.  Wenn  es  ihr  so  wurde, 
habe  sie  auf  und  davon  gemusst;  Tage  lang  sei  sie  oft  planlos  umher- 
gelaufen. So  sei  es  alle  paar  Wochen  über  sie  gekommen.  —  Nach  dem 
Diebstahl  habe  es  sie  3  Tage  und  3  Nächte  fortgetrieben,  sie  habe  nichts 
als  laufen  müssen,  habe  nicht  mehr  essen  können  und  ein  Gefühl  im 
Kopf  und  Herz  gehabt,  wie  wenn  sie  die  ganze  Welt  mitnehmen  müsste. 
An  der  Realität  des  Phantasma  hielt  sie  fest;  die  Erinnerung  daran 
versetzte  sie  in  lebhafte  Unruhe;  es  werde  doch  nicht  der  Teufel  gewesen 
sein,  und  sie  drüber  verloren  gehen  müssen?  Worüber  sie  dann  in 
läppisches  Weinen,  Klagen  und  einen  in  keiner  Weise  beherrschbareD, 
schmerzlichen  Gedankendrang  im  Sinn  dieser  dämonomanischen  Vor- 
stellung gerieth. 

Im  Verlauf  der  nächsten  Wochen  änderte  sich  dieses  Bild  blöd- 
sinniger Schwäche   mit  kindischer  Reizbarkeit  und  grosser  Anämie  nur 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose.  93 

wenig.  Ein  bald  nach  der  Aufnahme  verlangtes  Gutachten  konnte  bei 
dem' Mangel  aller  anamnestischen  Daten  und  der  Kürze  der  Beobachtungs- 
zeit nur  ein  vorläufiges  sein;  es  machte  geltend,  dass  ein  Zustand  blöd- 
sinniger Schwäche  vorhanden  sei,  wahrscheinlich  hervorgerufen  aus 
Anämie  in  Folge  zu  langen  Stillens  bei  ungenügender  Nahrung,  und 
Dahm  an,  dass  bei  der  weitgediehenen  Ausbildung,  die  der  Krankheits- 
zustand schon  bei  der  Aufnahme  hatte,  die  geistige  Störung  schon  früher, 
wahrscheinlich  zur  Zeit  des  Diebstahls  vorhanden  gewesen  sei.  Patientin 
habe  sich  in  einem  Zustand  befunden,  in  dem  sie  der  weder  damals 
noch  jetzt  als  solche  erkannten  Hallucination,  die  sie  zur  That  aufforderte, 
keinen  Widerstand  leisten  konnte.  —  Auf  dieses  vorläufige  Gutachten 
hin  wurde  die  Untersuchung  eingestellt  und  die  Kranke  in  der  Anstalt 
belassen,  wo  wir  durch  fortgesetzte  Beobachtung  und  sorgfältige  Er- 
forschung der  Anamnese  endlich  im  Stande  waren,  den  Zusammenhang 
der  Erscheinungen  und  die  Pathogenese  aufzufinden  und,  darauf  gestützt, 
eine  erfolgreiche  Therapie  zu  gründen. 

Nachdem  bis  zum  Anfang  November  die  bereits  erwähnte  intellec- 
tuelle  und  Gedächtnissschwäche,  grosse  gemüthlicho  Reizbarkeit,  zeitweise 
Gedrücktheit,  Verstimmung,  vage  Angstgefühle,  hie  und  da  Klagen  über 
Intercostalschmerzen,  dio  hervortretenden  psychischen  und  somatischen 
Krankheitserscheinungen  gebildet  hatten,  trat  am  18.  November  ein 
heftiger  Paroxysmus  auf,  der  über  die  Deutung  des  Falles  volle 
Klarheit  verbreiten  sollte.  —  Die  Kranke,  an  welcher  ausser  einer 
gewissen  Verstörtheit  und  grösseren  Gereiztheit  nichts  Auffallendes  be- 
merkt worden  war,  schreckte  plötzlich  auf,  rannte  davon  und  wurde  von 
den  nacheilenden  Wärterinnen  auf  dem  Boden  liegend,  im  verzweiflungs- 
vollen Kampf  mit  einem  schrecklichen  Phantasma  getroffen.  Der  Kopf 
war  glühend  heiss  und  roth,  der  Blick  wild,  das  Gesicht  entstellt;  plötz- 
lich stürzte  sich  die  Kranke  auf  die  Umgebung,  biss,  trat,  schlug  um 
sich  aus  Leibeskräften,  so  dass  Beschränkung  nöthig  wurde.  Zu  Bette 
gebracht  dauerte  das  Umsichschlagen  und  Wüthen  der  Kranken  noch 
10  Minuten  fort,  dann  wurde  sie  ruhig,  begann  Eindrücke  aus  der  Aussen- 
welt  aufzunehmen,  kam  rasch  zu  sich,  blieb  noch  einige  Stunden  sehr  ge- 
reizt, schwerbesinnlich,  verstimmt,  mit  schmerzlichem  Gedankendrang,  dass 
Gott  sie  verlassen  habe,  und  ging  dann  in  den  Status  quo  ante  über.  Es 
zeigte  sich,  dass  sie  gar  kein  Bewusstsein  von  dem,  was  während  ihres 
Anfalls  mit  ihr  vorgegangen  war,  hatte,  dagegen  wusste  sie  ziemlich  gut 
Bescheid  über  die  Erlebnisse  ihres  Traumzustandes  zu  geben. 

Unter  Hämmern  im  Kopf,  Gefühl  von  Schauern  durch  den  Körper, 
sei  plötzlich  eine  fürchterliche  Bangigkeit  über  sie  gekommen.  Ein 
schwarzer  Mann  mit  langen  Ohren,  langem  Barte  und  Rossfüssen  sei  vor 


94  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

ihr  gestanden,  habe  Feuer  gegen  sie  gespieen,  ihre  ewige  Seligkeit  von 
ihr  verlangt,  befohlen,  dass  sie  Alles  zusammenschlagen  solle.  Er  habe 
sie  ins  Herz  gestochen,  in  der  Seite  getreten  und  gebrannt.  Sie  könne 
nicht  begreifen,  wie  er  zur  Thüre  hereingekommen  sei,  aber  "Wirklich- 
keit müsse  es  doch  sein,  da  sie  ihn  gesehen,  gehört  und  gefühlt  habe. 
Dieser  Zustand  eines  transitorischen  Deliriums,  das  im  ganzen  Erank- 
heitsverlauf  isolirt  stand,  noch  mehr  die  Angaben  der  Eranken,  dass  sie 
in  die  Seite  gebrannt,  gestochen  u.  s.  w.  worden  sei,  was  auf  irgend 
eine  schmerzhafte  Empfindung  an  dieser  Stelle  hindeutete,  der  Umstand, 
dass  schon  früher  an  dieser  Stelle  Intercostalneuralgie  beobachtet  worden 
war,  mit  deren  Exacerbationen  Zustände  von  psychischer  Verstimmung, 
Gereiztheit  oder  flüchtiges  Auftauchen  der  hallucinatorischen  Figur  des 
schwarzen  Mannes  aufgetreten  waren,  musste  zunächst  den  Verdacht 
erwecken,  dass  wir  es  mit  einer  Dysthymia  neuralgica,  einer  Reflex- 
psychose, die  durch  einen  peripheren  Reiz,  vielleicht  die  schon  constatirte 
Intercostalneuralgie  geweckt  war,  zu  thun  hatten. 

Die  Vermuthung  sollte  sich  bald  bestätigen,  da  am  30.  d.  M.  wir 
rechtzeitig  zu  einem  weiteren  Anfall  gerufen,  das  Vorhandensein  einer 
äusserst  heftigen  Neuralgie  des  8.  linken  Intercostalis  nachweisen  konnten. 
Der  Anfall  dauerte  dies  Mal  länger,  etwa  eine  halbe  Stunde,  verlief  im 
Uebrigen  genau  wie  der  frühere.  Druck  auf  die  neuralgische  Stelle 
steigerte  ihn  zu  einer  enormen  Höhe  und  führte  sofort  zur  Wiederkehr 
des  Wahns,  dass  das  Phantasma  sie  ins  Herz  stechen  wolle.  —  Mit  dem 
Aufhören  des  Anfalls  war  auch  die  Neuralgie  verschwunden.  An  der 
Diagnose  war  somit  nicht  mehr  zu  zweifeln;  wir  hatten  es  mit  einer 
Dysthymia  neuralgica  zu  thun,  die,  je  nach  der  Intensität  des 
Schmerzes,  bald  als  blosse  psychische  Depression,  als  flüch- 
tige Hallucination,  oder  als  furibundes  Delirium  sich  äusserte) 
dessen  einzelne  Wahnvorstellungen  ihr  Material  von  der 
neuralgischen  Stelle  bezogen,  gleichsam  nur  die  allegorischen 
Interpretationen  des  ins  Traumleben  hinüber  percipirten 
Schmerzes  waren.  Derartige  Anfälle  traten  in  der  Folge  noch  am 
4.,  8.,  23.  December,  am  4.  und  23.  Januar  auf.  Hämmern  im  Eopf, 
Gefühl  eines  Schauers  im  ganzen  Eörper,  heisser,  congestionirter  Eopf, 
verstörter,  grosse  Angst  verrathender  Blick,  grosse  Gereiztheit,  barsche, 
heftige  Sprache,  unruhiges  Umhertreiben,  plötzliche  Angriffe  auf  die 
Umgebung,  waren  regelmässig  die  Prodromi  der  Anfälle,  die  plötzlich 
eintraten,  bis  ins  Detail  einander  glichen,  10  Minuten  bis  1/2  Stunde 
dauerten,  und  nur  eine  Erinnerung  für  das  im  Traumzustand  Erlebte 
hinterliessen.  —  Heftiger  Eopfschmerz,  grosse  Mattigkeit,  Reizbarkeit, 
Schwerbesinnlichkeit  bestanden  dann  noch'  einige  Stunden,  worauf  die 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose.  95 

Kranke  wieder  in  den  früheren  Zustand  zurückkehrte.  —  Mit  der 
Erkenntniss  des  Zusammenhangs  der  Erscheinungen  war  die  Therapie 
gegeben  und  einfach.  Die  Neuralgie  wurde  mit  subcutanen  Morphium- 
Injectionen  (2  mal  täglich  0.01  —  0.03  an  die  Schmerzpunkte)  behandelt 
und  gemildert,  die  Umgebung  angewiesen,  bei  den  geringsten  prodromi 
den  Arzt  sofort  zu  rufen;  vorhandene  Anfälle  wurden  durch  starke 
Injectionen  coupirt,  die  Anämie  durch  Eisen  und  Diät  gemindert,  end- 
lich unter  fortgesetzter  Anwendung  der  Injectionen  die  Neuralgie  be- 
seitigt*), worauf  die  Anfälle  ausblieben,  die  intellectuelle  und  Gedächt- 
nissschwächc  sich  besserte,  die  Reizbarkeit,  Verstimmung  und  Hallucina- 
tionen  schwanden  und  die  Kranke  im  Mai  1866  nach  Hause  entlassen 
werden  konnte  und,  wie  bis  zum  Juni  1867  eingezogene  Nachrichten 
ergaben,  von  den  früheren  Erscheinungen  ihres  Leidens  frei  blieb. 

Offenbar  hatten  wir  es  in  unserem  Fall  mit  einer  neuralgischen 
Psychose  zu  thun,  und  soweit  war  er  klar.  Weniger  zu  Tage  aber  lag 
der  pathologische  Zustand  des  Centralorgans,  die  Bedingungen,  durch 
welche  in  diesem  ein  peripherer  Reiz  sonst  unerreichbare  Nervengebiete 
in  Erregung  versetzen  konnte.  Waren  die  Bedingungen  dieses  krank- 
haften Hirnzustandes  einfach  in  der  mangelhaften  Hirnernährung,  der 
grossen  Anämie  zu  suchen,  oder  bestand  eine  anderweitige  centrale 
Neurose,  deren  symptomatischer  Ausdruck,  vielleicht  in  transformirter 
Gestalt,  die  bei  der  Kranken  beobachteten  Anfälle  waren  und  von  denen 
die  neuralgischen  Erscheinungen  nur  eine  Theilerscheinung  darstellten? 
Hier  konnten  zunächst  nur  zwei  Neurosen  in  Betracht  kommen,  hysterische 
und  epileptische  Zustände.  Für  Hysterie  sprach,  ganz  abgesehen  von 
der  inzwischen  erhobenen  Anamnese,  weder  die  Form  der  Anfälle,  noch 
der  psychische  Zustand  in  der  Zwischenzeit,  wohl  aber  fanden  sich  starke 
Indicien,  dass  ein  epileptisches  Leiden  vorlag.  Darauf  deuteten  ein 
Mal  die  grosse  Gedächtnissschwäche,  grosse  Reizbarkeit  und  zeitweise 
psychische  Verstimmung  der  Kranken,  ihre  ganz  abrupt  auftretenden 
Hallucinationen  schrecklichen  Inhalts,  die  Art  der  Anfälle  selbst,  ihre 
Gleichförmigkeit,  die  nur  Intensitätswechsel  zuliess,  die  Delirien  und 
Hallucinationen  schrecklichen  Inhalts  in  diesen,  ihr  plötzliches  Auf- 
treten, die  Amnesie  für  Alles  während  der  Anfälle  um  die  Kranke  Vor- 
gegangene, der  Uebergang  derselben  zum  früheren  Status  quo  durch 
ein  Stadium  des  Stupors  und  der  Schwerbesinnlichkeit.    Liess  schon  all 

*)  Eine  auffallende  Erscheinung  war,  dass  während  sonst  0.015  Morph,  in  sub- 
cutaner Anwendung  schon  Brechen  hervorrief,  während  des  Anfalls  0.06  injicirt,  durch- 
aus keine  toxische  Erscheinung  hervorbrachte,  so  dass  also  während  desselben  das 
Nervensystem  in  einem  ganz  auderen  Zustand  sich  befinden  musste.  Ebenso  gelang  es 
nur  den  Anfall  zu  coupiren,  wenn  in  dem  Prodromalstadium  injicirt  wurde;  im  Anfall 
selbst  hatte  die  Injection  gar  keine  Wirkung  mehr. 


96  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

dies  die  charakteristischen  Züge  einer  epileptischen  Störung  erkennen, 
so  gewann  die  Vermuthung  Gewissheit,  als  die  Kranke  einmal  plötzlich 
vom  Stuhl  fiel  und  eine  mehrere  Secunden  dauernde  vertigo  epil.  dar- 
bot. Ebenso  wurde  sie  eines  Morgens  mit  aufgeschärfter  Wange  ausser 
Bett  in  einem  schwerbesinnlichen ,  gereizten  Zustand  getroffen,  ohne 
dass  sie  Auskunft  über  das,  was  mit  ihr  vorgegangen  war,  geben  konnte. 
Die  Anamnese,  die  mit  der  fortschreitenden  Besserung  des  psychischen 
Befindens  allmälig  möglich  geworden  war,  und  durch  Angaben  der  zum 
Besuch  gekommenen  Mutter  ergänzt  wurde,  sollte  den  Beweis  vervoll- 
ständigen, dass  es  sich  um  eine  reine  Reflexepilepsie  handelte,  deren 
convulsivische Paroxysmen  von  eigentümlichen  neuropsychischen  Zufällen, 
analog  den  epileptisch -maniakalischen,  vertreten  waren,  und  als  Aequi- 
valente  jener,  als  transformirte  Erzeugnisse  ein  und  desselben  Grund- 
zustandes angesehen  werden  mussten. 

Die  bezüglichen  anamnestischen  Momente  waren  folgende: 

W.  W.  ist  keiner  nachweisbaren  Prädisposition  zu  Psychosen  unter- 
worfen; eine  Schwester  litt  an  epileptischen  Krämpfen.  Die  W.  war  in 
ihrer  Jugend  sehr  kränklich  und  litt  schon  in  ihrem  10.  Jahr  an  links- 
seitiger Intercostalneuralgie,  mit  deren  Exacerbationen  sie  schon  damals 
häufig  ängstlich ,  schwermüthig  wurde ,  über  einen  Druck  am  Herz  klagte, 
und  plan-  und  ziellos,  oft  mitten  in  der  Nacht,  davon  lief,  und  ohne 
zu  wissen,  was  sie  gethan,  wo  sie  gewesen  war,  nach  Stunden  oder 
Tagen  wieder  heimkehrte. 

In  ihrem  11.  Jahr  traten  auf  der  Höhe  der  Intercostalneuralgie,  die 
sie  charakteristisch  beschreibt,  Krampfanfälle  auf,  in  denen  man  sie  für 
todt  hielt.  Sie  hatte  allgemeine  heftige  clonische  Krämpfe;  das  Bewusst- 
sein  war  völlig  aufgehoben,  oft  stand  Schaum  vor  dem  Mund  — ,  un- 
zweifelhaft epileptische  Krämpfe,  die  sich  häufig,  besonders  zur  Zeit 
der  Menses,  wiederholten  und  bis  zum  15.  Lebensjahr  die  Kranke 
heimsuchten. 

Mit  131/2  Jahren  traten  die  Menses  unter  Schmerzen  ein  und  ver- 
liefen in  der  Folge  sehr  unregelmässig  und  schmerzhaft.  Von  der  Zeit 
der  Pubertät  an  scheint  die  Kranke  mehrere  Jahre  an  Chlorose  gelitten 
zu  haben.  Mit  dem  Aufhören  der  Krämpfe  hörten  aber  die  neural- 
gischen Anfälle  nicht  auf.  An  die  Stelle  jener  traten  mit  den  Exacer- 
bationen der  Neuralgie  die  ersten  Hallucinationen.  Dasselbe  dämonische 
Phantasma,  das  im  späteren  Krankheitsverlauf  eine  so  grosse  Rolle  spielt, 
erschien  in  Zeiträumen  von  4  — 12  Wochen,  spie  Feuer  gegen  sie,  schlug 
gegen  sie  (an  die  neuralgische  Stelle)  mit  zwei  grossen,  schwarzen  Flügeln, 
befahl  ihr,  Das  und  Jenes  zu  stehlen  und  zu  thun,  und  wenn  sie  ihm 
sofort  nicht  zu  Willen  war,  so  verhöhnte  und  verfolgte  es  sie. 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitoriseher  Psychose.  97 

Diese  schrecklichen  Visionen  stellten  sich  meist  mit  dem  Gefühl 
von  Brausen  und  Hämmern  im  Kopfe  ein.  Wenn  sie  die  Augen  schloss. 
wurden  die  Phantasmen,  die  sie  früh  als  eine  Teufelsvision  erkannte, 
heftiger.  Erreichte  der  Anfall  seine  Höhe,  so  liess  es  ihr  keine  Ruhe 
mehr,  in  blindem  Drang,  planlos  auf  und  davon  zu  laufen.  Der  „Böse" 
verfolgte  sie  dann  Stunden  weit,  gebot  ihr  Gegenstände,  die  sie  sah,  zu 
nehmen,  zusammenzuschlagen  u.  s.  w.  Wenn  sie  ihm  den  Willen  that. 
wurde  ihr  sofort  leichter.  Ein  klares  Bewusstsein  von  der  Umgebung 
hatte  sie  während  dieser  Zufälle  nicht;  die  Leute  kannte  sie  nicht,  die 
ihr  begegneten.  Wenn  sie,  nach  Stunden  oder  Tagen,  erschöpft  nach 
Hause  kam,  wusste  sie  nicht,  wo  sie  gewesen  war,  noch  wo  sie  die 
Gegenstände,  die  sie  bei  sich  trug,  entwendet  hatte.  —  Diese  Anfälle 
traten  seit  ihrem  15.  Jahr,  nur  nicht  so  ausgebildet,  als  die  in  der 
Anstalt  beobachteten,  alle  paar  Wochen  auf.  Sie  glichen  wesentlich 
bis  ins  Detail,  einander,  nur  die  Intensität  war  eine  wechselnde.  Bald 
kam  die  Vision  nur  flüchtig,  schattenhaft  und  rief  ihr  einen  Befehl  zu, 
dem  sie  noch  widerstehen  konnte,  bald  war  das  Phantasma  so  lebhaft, 
die  Bewusstseinsstörung  so  gross,  dass  sie  blind  gehorchen  musste.  Sie 
habe  auf  das  Geheiss  des  „schwarzen  Mannes"  Viel  wegnehmen  müssen, 
dadurch  viel  Kummer  und  Verdruss  von  den  Leuten  erfahren,  sei  oft 
eingesperrt  worden  und  habe  doch  von  ihren  Diebstählen  nichts  gewusst 
und  selbst  oft,  wenn  sie  wieder  bei  sich  war,  die  Gegenstände  den 
Eigentümern  wieder  zurückgegeben.    Es  habe  ihr  viel  Thränen  gekostet. 

Zuweilen  kam  es  auch  nicht  bis  zur  Visnn,  sondern  die  Neuralgie 
führte  blos  zu  grosser  Bangigkeit  und  Ruhelosigkeit.  Ein  Gefühl  unend- 
licher Depression  im  Epigastrium  kam  über  sie,  ein  Drang,  auf  und 
davon  zu  laufen  und  aufzupacken,  wessen  sie  nur  habhaft  werden  konnte, 
Gedanken,  wie  wenn  sie  Alles  zusammenschlagen  müsste.  Auch  hat  sie 
wirklich,  in  einem  solchen  Zustand,  ihrer  Dienstherrschaft  einmal  Zimmer- 
geräthe  demolirt.  Im  Allgemeinen  entsprachen  diesen  Zuständen  niedere 
Grade  der  Neuralgie;  mit  der  Steigerung  derselben  trat  jedesmal  die 
bekannte  Vision  ein,  und  ihrer  Hohe  entsprachen  die  geschilderten  furi- 
bunden  Delirien.  So  weit  die  Anamnese,  aus  der  noch  hervorgeht,  dass 
die  Kranke  in  den  letzten  Jahren  oft  vom  Stuhl  gefallen,  auf  dem  Feld 
bei  der  Arbeit  bewusstlos  umgesunken  und  mit  einem  unendlichen  Weh- 
gefühl  wieder  aufgewacht  war. 

Wir  haben  der  klinischen  Erörterung  des  Falles  wenig  mehr  bei- 
zufügen. Offenbar  handelt  es  sich  nur  um  verschiedene  Symptomen- 
gruppen ein  und  desselben  Grundzustandes,  nämlich  einer  epileptischen 
Reflexneurose,  die  bald  als  einfache  psychische  Depression  mit  ängst- 
lichen Affecten   uud   destructiveu  Antrieben,  bald  als   hallucinatorisches 

Krirtt-EbiDK-  Arbeiten  I  7 


98  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

Delirium  in  bestimmter  Weise,  bald  als  vertigo,  bald  als  genuiner  epi- 
leptischer convulsiver  Paroxysmus  in  Scene  tritt.  —  Trotz  der  Viel- 
gestaltigkeit des  Krankheitsbildes  erkennen  wir  doch  deutlich  an  der 
Pathogenese,  dem  Verlauf,  dem  immer  nachweisbaren  peripheren  ßeiz 
und  dem  eigenthümlichen  paroxysmellen  und  interparoxysmellen  psy- 
chischen Zustand  die  gemeinschaftliche  epileptische  Basis. 

Beobachtung  6.  Nach  einer  Kopfverletzung  aufgetretenes  hysterisches 
Irresein.*) 

Die  ledige  Elisabeth  H.,  geboren  17.  Februar  1838,  wurde  der  Anstalt 
Illenau  wegen  eines  schweren  Nervenleidens,  von  dem  sie  im  April  d.  J. 
1861  befallen  wurde,  im  März  1864  übergeben. 

Sie  war  keiner  hereditären  Disposition  zu  Neurosen  und  Psychosen 
unterworfen,  hatte  sich  körperlich  und  geistig  gut  entwickelt  und  nie 
Störungen  der  Menstruation  dargeboten.  Ebenso  wenig  gelang  es  der 
Anamnese,  eine  besondere  Neigung  zu  nervösen  Beschwerden,  ein  Ueber- 
wiegen  der  sensiblen  und  Gemüthssphäre  über  die  anderen  Functionen 
nachzuweisen.  Ebenso  fehlten  alle  Erscheinungen,  die  auf  gewisse  Eigen- 
thümlichkeiten  des  Charakters  hingedeutet  hätten;  thätig,  sittlich,  gut- 
müthig,  hatte  Patientin  bisher  mit  Handarbeiten  und  Besorgung  der  Haus- 
haltungsgeschäfte im  Hause  ihrer  Eltern,  die  als  ruhige  harmlose  Leute 
galten,  ihr  Leben  zugebracht. 

Am  4.  April  1861  erlitt  sie  auf  dem  Feld  ihres  Vaters  von  einem 
Nachbar  eine  rohe  Misshandlung,  indem  dieser  ohne  weitere  Veranlassung, 
nach  einem  Wortwechsel,  mit  der  Hand  ihr  heftige  Hiebe  auf  die  linke 
Scheitelgegend  versetzte.  Sie  sank  in  Folge  dieser  Misshandlung  zu 
Boden,  erhob  sich  aber  alsbald  mit  dem  Gefühl  heftigen  Schwindels 
und  Kopfschmerz.  Aeussere  Verletzungen  waren  in  Folge  der  Miss- 
handlung keine  zu  bemerken;  die  H.  ging  nach  Hause,  fühlte  sich  aber 
bald  sehr  angegriffen,  sodass  sie  sich  zu  Bette  legen  musste.  Sie  war 
in  grosser  Aufregung  über  das  ihr  widerfahrene  Unrecht,  „es  stellte  sich, 
quälender  Schmerz  an  der  Stelle  ein,  an  welcher  sie  geschlagen  worden 
war,  sodass  sie  nichts  mehr  auf  dem  Kopfe  tragen  konnte'-.  Eine  Eeihe 
von  Umständen,  die  in  der  nächsten  Zeit  auf  die  Kranke  einwirkten, 
dienten  dazu,  die  Aufregung  derselben  zu  vermehren:  einmal  das  ihr 
vorgehaltene  Beispiel  einer  Frau  im  Ort,  die  durch  eine  ähnliche  Miss- 
handlung an  Krämpfen  und  Schmerzen  erkrankt  war,  ferner  die  gerichts-, 
ärztlichen  Untersuchungen  und  gerichtlichen  Verhandlungen,  in  die  sie 
durch  den  mit  dem  Nachbar  angefangenen  Process  verwickelt  wurde.. 
Der  Kopfschmerz,    der  sich   später  als  eine  äusserst   heftige  linksseitige 


*)  Friedreichs  Blätter  f.  gerichtl.  Medicin.    1806. 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  unl  transitorischer  Psychose.  99 

Cervico-occipital-Neuralgie  auswies,  wurde  immer  quälender;  Sensationen, 
als  ob  der  Schädel  ander  dem  Trauma  entsprechenden  Stelle  herausbrechen 
wolle,  irradiirte  Empfindungen  auf  andere  sensible  Trigeminus-Aeste, 
Schwindel,  Unruhe,  Frösteln,  Durst,  unruhiger  Schlaf  gesellten  sich 
hinzu,  sodass  die  Kranke  meist  das  Bett  hüten  und  ärztlicher  Behand- 
lung übergeben  werden  musste. 

Bis  zum  16.  April  bestand  unter  vorübergehender  Besserung  der 
Erscheinungen  (13. — 16.  April)  dieser  Zustand,  dessen  hervortretende  Symp- 
tome ein  sehr  heftiger  Kopfschmerz,  verschiedene  nervöse  Beschwerden 
und  leichte  Fieberbewegungen  waren,  fort.  Der  Kopfschmerz  war  äusserst 
quälend,  wurde  vorwiegend  auf  der  linken  Hälfte  des  Kopfs  gefühlt, 
irradiirte  aber  oft  auf  andere  Trigeminusprovinzen  und  verhinderte  die 
Kranke  an  anstrengenderer  Arbeit.  Unter  Exacerbation  desselben  tritt 
am  16.  ein  etwa  eine  halbe  Stunde  dauernder  tetanischer  Krampfanfall 
ein,  auf  den  am  17.  heftige  tonische  und  clonische  Krämpfe  folgen, 
während  deren  Dauer  das  Bewusstsein  der  Patientin  getrübt  ist  und 
Nadelstiche  nicht  empfunden  werden.  Diese  Anfälle,  welche  sich  in  der 
Folge  fast  täglich  monatelang  wiederholen,  bekommen  immer  mehr  das 
Gepräge  hysterischer  Attaquen,  sie  nehmen  einen  polymorphen  Charakter 
an,  treffen  bald  die,  bald  jene  Muskelgruppen,  sind  von  sehr  wechselnder 
Intensität  und  Ausdehnung,  bald  mehr  clonisch,  bald  mehr  tonisch;  häufig 
werden  sie  von  der  Kranken  voraus  verkündet.  Das  Bewusstsein,  anfangs 
nur  getrübt,  erlischt  später  in  den  Anfällen  gänzlich,  sodass  die  Kranke 
keine  Erinnerung  •  für  das  in  ihnen  Geschehene  behält,  zuweilen  aber 
treten  zwischendurch  Anfälle  auf,  in  denen  das  Bewusstsein  frei  bleibt. 
Bemerkenswert  ist,  dass  jeweils  eine  Exacerbation  des  Kopfschmerzes 
die  Anfälle  einleitet  und  annähernd  der  Heftigkeit  desselben  die  Inten- 
sität dieser  entspricht,  eine  Eigenthümlichkeit,  die  in  prägnanter  Weise 
auch  während  des  Aufenthalts  der  Kranken  in  der  Anstalt  beobachtet 
wird.  Im  Herbste  1861  werden  die  spastischen  Erscheinungen  seltener, 
aber  das  Bild  der  Neurose  wird  ein  complicirteres,  indem  auch  die 
psychischen  und  sensoriellen  Functionen  in  den  Krankheitsprocess  mit 
hineingezogen  werden.  —  Das  Tagebuch  des  Arztes  berichtet  von  Ver- 
wirrung der  Vorstellungen,  religiösen  Delirien,  ecstatischen  Zuständen, 
tobsüchtigem  Schreien,  automatischen  Handlungen,  Zuständen  von  (hyste- 
rischem) Coma  (die  sogenannten  „stillen  Krämpfe"  der  Kranken)  u.  s.  w. 
In  den  sogenannten  freien  Zeiträumen  ist  die  Kranke  relativ  wohl,  zur 
Besorgung  leichterer  Geschäfte  fähig,  aber  immer  schwebt  wie  ein 
Ihunoclesschwert  über  ihr  der  Kopfschmerz,  dessen  Steigerungen  sie 
den  Anfällen  preisgeben.  Aus  dem  Diarium  des  Amtsgerichtsarztes  M. 
geht  hervor,  dass   als  der  Sitz  dieses  Schmerzes  genau  dieselbe  Stelle 

7* 


100         Ueber  Beziehungen  zwischen  Meuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

wie  hier,  beobachtet  wurde,  nämlich  das  linke  Scheitelbein  (Februar 
1862).  In  den  übrigen  Functionen  des  Körpers  zeigen  sich  während 
dieser  Zeit  nur  unerhebliche  Störungen;  die  Menstruation  nimmt  ihren 
regelmässigen  Fortgang,  nur  steigern  sich  während  ihrer  Dauer  die 
Anfälle;  die  Thätigkeit  des  Darmkanals  ist  etwas  träge,  der  Schlaf,  ausser 
wenn  durch  Anfälle  unterbrochen,  ruhig;  Zeichen,  die  auf  eine  cerebrale 
Heerderkrankung  deuten,  wie  Lähmungen  und  dergl.  kommen  nicht  zur 
Beobachtung;  die  Pupillen  reagiren  meist  träge  und  sind  meist  contra- 
hirt.  "Wie  die  erwähnten  Krampfanfälle  das  deutliche  Gepräge  hyste- 
rischer Paroxysmen  trugen,  deuteten  auch  gewisse  Eigenthümlichkeiten 
im  psychischen  Leben  —  rascher  unmotivirter  Wechsel  der  Stimmung 
von  grosser  Depression  und  Reizbarkeit  bis  zum  Gefühl  grössten  Wohl- 
seins und  der  heitersten  Lebensanschauung  auf  die  hysterische  Natur  des 
Leidens.  Ein  deutlicher  Zusammenhang  fand  sich  zwischen  Kopfschmerz 
und  Stimmung,  der  während  des  Aufenthalts  zu  Illenau  sich  noch  deut- 
licher herausstellte,  indem  nämlich  eine  grössere  Depression  der  Selbst- 
empfindung immer  mit  Steigerungen  des  Kopfschmerzes  einherging  und 
Zeiten  behaglicher  Stimmung  mit  Remissionen  desselben  zusammentrafen. 

Im  Frühjahr  1862  wurden  der  Kopfschmerz  und  die  Anfälle  seltener, 
kehrten  aber  im  Winter  1862/63  um  so  heftiger  wieder  und  änderten 
etwas  ihren  Charakter,  indem  die  krampfhaften  Muskelstörungen  zurück- 
traten und  mehr  das  Bild  der  Chorea  major  mit  zeitweisen  Delirien  und 
Hallucinationen,  die  die  erlittene  Misshandlung  zum  Gegenstand  hatten, 
sie  vertrat.  Dieses  Gepräge  behielten  sie  in  der  Folge;  das  Bewusstsein 
für  das,  was  in  den  Anfällen  vor  sich  gegangen  war,  fehlte  immer,  die 
Kranke  beging  in  diesen,  die  in  Zwischenräumen  von  14  Tagen  bis 
einigen  Wochen  immer  wiederkehrten,  eine  Reihe  ganz  verwirrter  Hand- 
lungen, rannte  z.  B.  auf  und  davon,  in  den  Wald,  aufs  Feld,  verkannte 
in  ihrem  Delirium  die  Personen,  griff  sie,  indem  sie  diese  für  vermeint- 
liche Verfolger  hielt,  an  und  entwickelte  dabei  ausserordentliche  Rück- 
sichtslosigkeit, Gewandtheit  und  Muskelkraft.  In  den  freien  Zeiträumen 
befand  sich  die  Kranke,  eine  gedrückte  Stimmung  abgerechnet,  frei  von 
psychischer  Störung,  litt  aber  sehr  unter  dem  fortwährenden  Kopfschmerz, 
der  sie  auch  fast  gänzlich  am  Arbeiten  verhinderte.  Vergebens  wurde 
durch  wiederholte  Blutentziehungen,  Vesicantien,  Fontanellen,  Haarseile 
im  Nacken,  Chinin,  Morphin  etc.  etc.  eine  dauernde  Besserung  des 
Leidens  versucht.  Bemerkenswerth  ist,  dass  allmälig  die  Sehaxen  dauernd 
eine  convergirende  Richtung  annahmen. 

Die  Untersuchung  der  Kranken  bei  ihrer  Aufnahme  in  die  An- 
stalt im  März  1864  ergab  folgenden  Befund:  Sie  ist  von  mittlerer 
Grösse,  kräftigem  Körperbau,  gut  genährt;   der  Schädel  ist  regelmässig 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose.  101 

gebildet,  die  Sehaxen  etwas  convergirend ;  keine  motorischen  Störungen, 
keine  Störung  der  Functionen  in  den  vegetativen  Organen;  die  Menses 
sind  regelmässig.  Die  Exploration  der  Stelle,  an  welcher  die  Kranke 
geschlagen  worden  war,  ergab  keine  krankhafte  Veränderung  des  Knochens 
oder  der  ihn  bedeckenden  häutigen  Gebilde,  dagegen  war  der  ganze 
linke  Nervus  occipitalis  in  allen  seinen  Verzweigungen  hyperästhetisch 
und  beantwortete  Druck  in  seinem  Verlauf  mit  lebhaftem  die  ganze 
Bahn  durcbschiessendem  Schmerz,  auch  konnte  die  Kranke  seit  langer 
Zeit  nicht  die  geringste  Last  auf  dem  Kopfe  tragen,  ohne  sofort  von 
heftiger  Neuralgie  ergriffen  zu  werden.  Besonders  empfindlich  war  der 
Parietalpunkt ,  auf  der  Höhe  des  linken  Scheitelbeins,  da  wo  es  sich  mit 
dem  der  anderen  Seite  und  dem  Hinterhauptsbein  verbindet;  dieser 
neuralgische  Punkt  hatte  etwa  die  Ausdehnung  eines  Quadratzolls;  ein 
zweiter  fand  sich  im  Verlauf  des  N.  occipitalis  magnus,  hinter  dem  Pro- 
cessus mastoideus  (Occipitalpunkt).  Die  Intensität  der  Neuralgie  war 
wechselnd,  die  Kranke  nie  ganz  frei  von  Schmerz  und  unerschöpflich 
in  der  Schilderung  der  Gefühle,  die  sie  im  Kopfe  empfand;  bald  klagte 
sie  Kälte,  Frieren,  Brennen,  Klopfen,  Zucken,  Stechen,  das  Gefühl,  als 
ob  der  Kopf  gespalten  sei,  Wind  vom  Ohr  hinauf  (entsprechend  dem 
Verlauf  des  N.  occip.)  durch  jenen  Spalt  blase  Wasser  zwischen  Schädel 
und  Kopfschwarte  hin-  und  herlaufe  u.  s.  w.  Sonstige  Störungen  der 
Sensibilität  fehlten,  besonders  etwaige  Muskelbyperiisthosieen;  die  höheren 
Sinne  waren  etwas  hyperästhetisch,  Hallucinationen  bei  der  Aufnahme 
nicht  nachzuweisen.  Die  Gemüthsstimmung  war  eine  trübe,  geilrückte, 
schmerzliche;  das  Sinnen  und  Vorstellen  der  Fat.  vorzugsweise  auf  ihr 
Leiden,  ihre  schmerzhaften  Sensationen  gerichtet  und  in  der  Erinnerung  an 
die  ihr  widerfahrene  Misshandlung,  der  Sorge  für  ihr  Lebensglück,  ihre 
Gesundheit  befangen.  Es  that  der  Kranken  wohl,  wenn  sie  die  ärztliche 
Aufmerksamkeit  und  das  Mitgefühl  Anderer  auf  sich  lenken  konnte,  wie 
ihr  umgekehrt  der  geringste  Zweifel  an  der  Schwere  der  Erkrankung 
oder  nur  die  Verminderung  der  Theilnahme  Anderer  sofort  eine  sehr 
gedrückte  Stimmung  verursachte.  Im  Allgemeinen  war  diese  durchaus 
abhängig  von  der  jeweiligen  Intensität  der  Neuralgie,  ein  Abhängigkeits- 
verhältniss,  das  sich  in  der  Folge  sehr  deutlich  herausstellte.  Diese  habi- 
tuelle Gemüthsverstimmung,  der  krankhafte  Zwang,  in  den  das  Vor- 
stellen durch  das  schmerzliche  Fühlen  gebannt  war,  der  bei  allen  der- 
artigen Kranken  zu  beobachtende  Drang,  das  Interesse  und  Mitleid  Anderer 
zu  erregen,  selbst,  wenn  nöthig,  mit  halbgewollter  Selbststeigerung  der 
Krankheitssymptome,  eine  gesteigerte  Erregbarkeit  für  Gemüthseindrücke, 
entsprechend  der  Hyperästhesie  im  neuralgisch  afficirteu  Nervengebiet, 
waren  die  bemerkenswerthen  psychischen  Anomalien,  die  sich    bei    der 


102  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitori scher  Psychose. 

Aufnahme  der  Kranken  vorfanden.  Schon  in  den  ersten  Tagen  ihrer 
Anwesenheit  vervollständigte  sich  das  Krankheitsbild  durch  das  Auftreten 
spasmodischer  Zufälle,  die  sich  in  der  Folge  binnen  Tagen  oder  Wochen 
beständig  wiederholten.  Immer  waren  sie  durch  heftige  Exacerbationen 
der  Cervicoccipitalneuralgie  bedingt  und  hatten  als  entferntere  Ursache 
fast  ausschliesslich  psychische  Momente.  Bald  war  es  der  Nachlass  des 
Interesses  für  ihren  Krankheitszustand  von  Seiten  der  Umgebung,  bald 
Aussetzen  mit  medicamentösen  Eingriffen,  unangenehme  Begegnungen 
mit  anderen  Pfleglingen,  Ruhestörungen  oder  Krampfzufälle  anderer 
Kranker,  die  bei  der  zu  einem  hohen  Grade  gesteigerten  psychischen 
Erregbarkeit  die  Anfälle  provocirten,  bald  waren  es  direct  die  Neur- 
algie hervorrufende  Krankheitsreize,  wie  Anstossen  mit  dem  Kopf,  Sich- 
aussetzen höheren  Wärmegraden  durch  Sitzen  in  der  Sonne  mit  unbe- 
decktem Haupt,  die  bei  der  ebenfalls  hochgradig  gesteigerten  spinalen 
Reflexerregbarkeit,  motorische  Erscheinungen  auslösten ;  ja  eine  Zeit  lang 
genügten  bei  vorübergehend  besonders  hochgesteigerter  Reflexerregbar- 
keit Irradiationen  anderer  neuralgischen  Beschwerden  auf  den  locus 
minoris  resistentiae,  unangenehme  Geruchsperceptionen,  grelle  Sinnes- 
eindrücke oder  selbst  Vorstellungsreize,  z.  B.  die  lebhafte,  sich  später 
bis  zur  Hallucination  steigernde  Reproduction  des  Vorfalls  auf  dem  Acker, 
durch  den  sie  unglücklich  geworden  war,  um  durch  Wiederhervorrufung 
der  Neuralgie,  spastische  und  hallucinatorische  Phänomene  hervorzurufen. 
Der  schon  angedeutete  Connex  zwischen  Stimmung,  Neuralgie  und  Anfall 
Hess  sich  immer  deutlicher  nachweisen:  exacerbirte  die  Neuralgie,  so 
ging  die  Stimmung  aus  ihrer  relativen  Gleichgewichtslage  auf  die  Seite 
der  Depression  hinüber,  und  zum  Uebergang  in  den  Anfall  war  es  nur 
ein  Schritt;  aber  auch  Alles,  was  das  Gemüth  unangenehm  berührte, 
war  geeignet,  sofort  die  Neuralgie  und  damit  die  spastischen  Zufälle 
heraufzubeschwören  —  ein  Zustand,  der,  als  das  Leiden  sich  steigerte, 
widerstandslos  die  Kranke  diesem  krankhaften  Zwang  unterwarf.  Da  all 
diese  ursächlichen  Momente  fast  ausnahmslos  bei  Tage  einwirkten,  ist 
es  begreiflich,  dass  Patientin  Nachts  von  ihren  Anfällen  verschont  blieb. 
Es  ist  schwer  für  diese  selbst  ein  Musterbild  zu  entwerfen,  da  bald 
die,  bald  jene  Function  in  Mitleidenschaft  gezogen  wurde  und  die 
Erscheinungen  gestörten  Nervenlebens  in  ihrer  Intensität  sehr  wechselten. 
Unter  steigenden  Schmerzen  im  Gebiet  des  N.  occipitalis  und  Irra- 
diation derselben  auf  Aeste  des  Quintus  und  der  Cervicalnerven,  An- 
deutungen von  Globus,  bemächtigte  sich  der  Kranken  eine  immer  mehr 
zunehmende  Unruhe  und  Bangigkeit,  die  bald  als  von  der  neuralgischen 
Stelle,  bald  vom  Epigastrium  ausgehend  angegeben  wurde;  die  bulbi  ver- 
drehten sich,  der  Strabismus  convergens  nahm  zu,  es  trat  eine  exquisite 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitoii6cher  Psychose.  103 

Gefässlähmung  im  Bereich  der  afficirten  Nerven  ein,  eine  Erscheinung, 
die  auch  meist  höhere  Grade  der  Neuralgie,  auch  wenn  es  nicht  zum 
Anfall  kam,  begleitete  Das  Bewusstsein  trübte  sich,  die  Kranke  fühlte 
selbst  eine  Verwirrung  der  Gedanken,  ein  „Drunter-  und  Drübergeheu 
im  Kopf"',  fing  an,  abgerissen  vor  sich  hin  zu  sprechen,  die  Umgebung 
zu  verkennen  und  gab  auf  Anreden  barsche,  unzusammenhängende  Ant- 
worten; das  Bewusstsein  für  die  objective  Welt  erlosch  völlig,  das  Gesicht 
nahm  einen  fratzenhaften  Ausdruck  an  und  wurde  krampfhaft  nach  allen 
Richtungen  hin  verzerrt,  es  stellte  sich  die  Vision  des  Mannes,  der  sie 
geschlagen,  ein,  er  verfolgte  sie,  drohte  sie  wieder  zu  schlagen,  sie 
fühlte  die  Schläge  desselben,  indem  sie  bei  ihrem  gestörten  Bewusstsein 
die  Schmerzen,  welche  die  Neuralgie  setzte,  dafür  hielt.  Diese  waren 
so  heftig,  dass  selbst  bei  sonst  völlig  aufgehobener  Sinnesperception 
Druck  auf  die  Schmerzpunkte  empfunden  wurde  und  den  Anfall  sofort 
steigerte.  Ein  verzweifeltes  Ringen  und  Kämpfen  mit  dem  hallucina- 
torischen  Gebilde  erfolgte  nun,  bei  dem  die  Kranke  eine  unglaubliche 
Gewandtheit  und  Muskelkraft  entwickelte;  sie  hörte  den  Angreifer  schelten, 
spotten,  drohen  und  erschöpfte  sich  in  endlosen  Vociferationen  dagegen; 
sie  sprang  auf  Möbeln,  Betten  mit  merkwürdiger  Geschicklichkeit  umher, 
ihm  zu  entweichen  versuchend,  bis  endlich  diese  das  Gepräge  von  ge- 
wollten Bewegungen  noch  tragenden  Muskelaktionen  in  allgemeine 
mangelhaft  coordinirte,  Chorea  major  ähnliche  Bewegungen  übergingen 
oder  statt  dieser  oder  im  Anschluss  an  diese,  allgemeine  clonische  Krämpfe, 
unterbrochen  vorübergehend  von  tetanischer  Starre  der  Extremitäten,  sich 
einstellten.  Das  Delirium  dauerte  dann  noch  einige  Zeit  fort;  allmälig, 
etwa  nach  Verlauf  von  20  Minuten  bis  zu  einer  halben  Stunde  trat  ein 
soporartiger  Zustand  ein,  die  Kranke  näherte  sich  dann  ziemlich  rasch 
wieder  der  objectiven  Welt,  klagte  über  heftige  Occipitalschmerzen,  all- 
gemeine Erschöpfung,  sprach  noch  einige  Zeit  etwas  verwirrt,  zeigte 
ein  getrübtes  Bewuss'.sein  und  kehrte  dann,  indem  die  Schmerzen 
auf  ein  bescheidenes  Maass  zurückgingen,  in  ihren  früheren  Zustand 
zurück.  Die  Erinnerung  für  das,  was  im  Anfall  vorgegangen  war, 
fehlte  vollständig. 

Nicht  immer  wurde  die  ganze  psychische,  sensorielle  und  motorische 
Sphäre  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Ohne  dass  ein  Grund  nachweisbar 
war,  kam  es  zuweilen  nur  zu  unvollständigen  Attaquen,  die  entweder 
nur  in  hallucinatorischem  Delirium,  oder  in  Chorea  magna  ähnlichen  oder 
hysteroepileptischen  Krämpfen  sich  abspielten. 

Die  Behandlung  (Chinin,  Morphium.  Chloroform,  Atropin,  Argentum 
nitricum  mit  extr.  Aconiti,  laue  Bäder,  traitement  moral)  hatte  keinen 
rechten  Erfolg. 


104  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

Im  Januar  1865  entschloss  man  sich  zur  Anwendung  der  Inductions- 
elektricität,  indem  2  mal  täglich  eine  kräftige  cutane  Faradisation  des 
Parietalschmerzpunktes  ausgeführt  und  durch  den  Verlauf  des  N.  occi- 
pitalis  ein  starker  Inductionsstrom  10  Minuten  geleitet  wurde.  Der  Erfolg 
war  ein  überraschender;  schon  nach  der  ersten  Sitzung  ertrug  die  Kranke 
starken  Druck  an  den  Schmerzpunkten,  die  Anfälle  wurden  seltener, 
die  Stimmung  hob  sich,  die  Neuralgie  cessirte  stundenlang  und  wurde 
sehr  gemässigt.  Leider  recidivirte  diese  aber  immer  wieder  bei  der 
geringsten  Gemüthsbewegung,  die  Faradisation  wurde  lästig  und  mit 
subcutanen  Morphiuminjectionen  (1 — 2  Gran  2  mal  täglich  an  die  Schmerz- 
punkte) vertauscht.  Die  Wirkung  war  palliativ  eine  noch  günstigere 
als  die  der  Elektricität;  der  Zustand  besserte  sich  sogar  so,  dass  sub- 
cutane Wasserinjectionen  einige  Wochen  im  August  an  deren  Stelle  ohne 
Vorwissen  der  Patientin  gemacht,  den  gleichen  Erfolg  gegen  die  Neur- 
algie hatten.  Nicht  so  war  es  aber  mit  der  Unruhe,  Bangigkeit,  Reiz- 
barkeit, die,  so  lange  die  Kranke  unter  der  Wirkung  hoher  Morphium- 
dosen gestanden  hatte,  verschwunden  waren;  die  plötzliche  Entziehung 
des  gewohnten  Nervenreizes  rief  jene  wieder  hervor,  es  stellte  sich  dazu 
noch  Schlaflosigkeit  ein,  so  dass  die  Morphiumbehandlung  wieder  begonnen 
werden  musste.  Die  günstige  Wirkung  aufs  Allgemeinbefinden  blieb 
nicht  aus,  und  als  in  Folge  der  subcutanen  Injectionen  im  August  an 
der  neuralgischen  Stelle  ein  bedeutender  Abscess  der  Kopf  schwarte  ent- 
standen war,  stand  die  Neuralgie  einige  Zeit  gänzlich,  kehrte  nur  noch 
selten  und  schwach  angedeutet  wieder  und  die  Kranke  schien  der  Recon- 
valescenz  entgegen  zu  gehen. 

Aber  noch  im  August  stellte  sich  eine  heftige  linksseitige  Inter- 
costalneuralgie  in  der  Höhe  der  zweiten  Rippe  ein,  nachdem  schon  in 
früheren  Monaten  herumziehende  neuralgische  Beschwerden  im  Bereich 
verschiedener  Intercostalnerven  sich  gezeigt  hatten.  Merkwürdigerweise 
vertrat  nun  die  neue  Neuralgie  ganz  die  Stelle  der  erloschenen  in 
Bezug  auf  die  Genese  der  Anfälle  und  auf  die  Stimmung  der  Kranken. 
Jene  traten  wieder  ganz  in  der  alten  Weise  auf,  sobald  die  Intercostal- 
neuralgie  exacerbirte  und  gingen  nun  auch  deutlicher  mit  Globus  und 
epigastrischen  Angstgefühlen  einher,  ohne  dass  sich  aber  in  der  Magen- 
grube eine  Muskelhyperästhesie  je  auffinden  liess.  Die  Neuralgie  wich 
der  Behandlung  mit  subcutanen  Morphiuminjectionen  ebenfalls,  mit  denen 
bis  zu  6  Gran  pro  die  gestiegen  werden  musste.  Unter  dem  Einfluss 
dieser  hohen  Dosen  zeigte  sich  endlich  eine  unverkennbare  Abnahme 
der  gesteigerten  Reflexerregbarkeit  des  Nervensystems,  sodass  endlich 
die  oben  angedeuteten  ätiologischen  Momente,  trotz  der  noch  gemässigt 
fortbestehenden  Neuralgie,  die  Anfälle  nicht  mehr  so  leicht  hervorzu- 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitori6cher  Psychose.  105 

bringen  vermochten  und  die  Kranke  drohende  durch  Heranziehung  der 
wiedergewonnenen  Willenskraft  zu  beherrschen  im  Stande  war.  Allmälig 
wurde  aber  das  Morphium,  das  eine  sehr  beruhigende  Wirkung,  behag- 
liche Stimmung  und  Gemeingefiihlsempfindung  hervorzubringen  schien^ 
ein  wahrer  Lebensreiz  und  nur  schwer  gelang  die  Abgewöhnung,  deren 
Versuch  von  der  Kranken  schmerzlich  empfunden  wurde  und  sie  zu 
Nachlass  in  ihrer  Willensanstrengung  und  sogar  Selbststeigerung,  wenn 
spasmodische  Zufälle  sich  einstellen  wollten,  veranlassen  konnte.  All- 
mälig gelang  es  aber  durch  consequente  Verminderung  der  Dosis  und 
strengere  psychische  Behandlung  die  Kranke  zu  entwöhnen.  Was  die 
Behandlung  beginnender  Anfälle  betrifft,  so  war  es  mehrmals  möglich 
durch  Chloroform -Narcose,  Faradisation  oder  subcutane  Injection  au  der 
neuralgischen  Stelle,  selbst  mitten  im  Anfall,  diesen  zu  coupiren,  ein 
Beweis  für  die  reflectorische  Auslösung  desselben. 

Das  Befinden  der  Kranken  in  den  freien  Zeiträumen  hing  fast  aus- 
schliesslich von  dem  Vorhanden-  oder  Nichtvorhandensein  der  Neur- 
algie ab.  Dem  schmerzlichen  Fühlen  ging  das  schmerzliche  Vorstellen 
durchweg  parallel.  Die  Verminderung  der  psychischen  Reizbarkeit  ging 
gleichen  Schritt  mit  Abnahme  der  Reflexerregbarkeit  in  anderen  Pro- 
vinzen des  Nervenlebons;  das  Heraustreten  aus  dem  engen  und  krank- 
haften Vorstellungskreis,  in  dem  die  Kranko  gebannt  war,  war  erst  mög- 
lich, als  der  krankhafte  Zwang,  in  den  sich  das  Fühlen  durch  den  Schmerz 
versetzt  fand,  gebrochen  war.  Zu  Zeiten,  wo  sich  dieser  zu  einem  höheren 
Grad  steigerte,  kam  es  selbst  zu  taedium  vitae,  zu  Stimmen,  die  zu 
Selbstmord  aufforderten,  zum  Abschneiden  der  Zöpfe  u.  s.  w.,  zu  Visionen 
des  Mannes,  der  die  Kranke  geschlagen  hatte,  aber  nur  in  ganz  ephe- 
merem Bestand.  —  Die  übrigen  Verzweigungsgebiete  sensibler  Nerven 
waren  selten  afficirt.  Einige  Male  fand  sich  einige  Tage  lang  eine  all- 
gemeine spinale  Hyperästhesie,  mehrmals  litt  die  Kranke  an  plötzlich 
kommender  und  schwindender  nervöser  Aphonie  und  Arthralgie,  aber 
bemerkenswert!!  ist,  dass,  wenn  neuralgische  Beschwerden  vorübergehend 
da  waren,  sie  zwar  die  Stimmung  verschlechterten,  aber  nie  einen  Anfall 
hervorzurufen  im  Stande  waren.  Leichte  Gastricismen,  Neigung  zu  Obsti- 
pation waren,  nebst  Cessatio  mensium  vom  Juli  bis  November  1805,  die 
einzigen  Störungen  vegetativer  Organe,  die  wir  beobachteten. 

Die  Kranke  kehrte  wesentlich  gebessert,  d.  h.  bereits  längere  Zeit 
frei  von  Anfällen  und  seltener  und  gemässigter  von  ihren  neuralgischen 
Beschwerden    heimgesucht,    im  Januar    1866    in   ihre   Heimath    zurück. 

Bei  einem  Versuch,  der  transitorisch  neuralgischen  Psychose  auf  epi- 
leptischer oder  hysterischer  Grundlage  an  der  Hand  der  in  der  Literatur 


106  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

niedergelegten  Beobachtungen  näherzutreten,  stösst  man  auf  nicht  geringe 
Schwierigkeiten.  Die  grosse  Mehrzahl  der  bezüglichen  Fälle  ist  ungenau 
beobachtet  oder  lückenhaft  mitgetheilt,  so  z.  B.  der  interessante  Fall 
von  Oppenheim  (Archiv  f.  Psychiatrie  XVI,  p.  744),  den  ich  eher  als 
einen  Fall  von  hysterischer  als  von  epileptischer  transitorischer  Psychose 
in  Anspruch  nehmen  möchte. 

Die  meisten  älteren  Beobachtungen  sind  klinisch  ätiologisch  nicht 
ganz  zuverlässig. 

Einen  bemerkenswerthen  Beitrag  zu  dem  Gebiet  der  traumatischen 
psychischen  Epilepsie  hat  J.  von  Wagner  geliefert  („über  Trauma,  Epi- 
lepsie und  Geistesstörung",  Jahrbücher  f.  Psychiatrie,  VIII,  1,  2). 

Unter  Anführung  von  Casuistik  und  Mittheilung  eigener  prägnanter 
Beobachtungen  von  nach  Kopfverletzung  aufgetretener  psychischer  (Beflex-) 
Epilepsie  (op.  cit.  p.  84,  88,  94)  betont  Wagner  die  Thatsache  der 
Seltenheit  der  traumatischen  Reflexepilepsie  überhaupt  und  schliesst 
daraus,  dass  besondere  Bedingungen  zu  ihrer  Entwicklung  vorhanden 
sein  müssen. 

Als  solche  findet  er:  besondere  hereditäre  oder  sonstwie  entstandene 
Veranlagung,  die  mit  dem  Trauma  verbunden  gewesene  Hirnerschütterung, 
das  Zustandekommen  des  Trauma  in  jugendlichem  Alter,  Trauma  am 
Kopf  (andere  Körperstellen  jedoch  nicht  absolut  ausgeschlossen),  mit 
Läsion  von  sensiblen  Trigeminusbahnen,  Bildung  von  drückenden  oder 
sonstwie  reizenden  Narben  daselbst. 

Besonders  interessant  ist  des  Autors  Nachweis,  dass  die  „psychische" 
Epilepsie  3  mal  häufiger  bei  traumatischer  als  bei  nicht  traumatischer 
Ursache  dieser  Neurose  vorkommt,  wie  sich  aus  dem  vom  preussischen 
Kriegsministerium  herausgegebenen  Werk  über  die  Erkrankungen  des 
Nervensystems  beim  deutschen  Heere  im  Krieg  gegen  Frankreich  ergebe. 
J.  von  Wagner  knüpft  daran  mit  Recht  die  Forderung,  dass  in  jedem 
Falle  von  recidivirender  transitorischer  Geistesstörung  vom  Gepräge  der 
sogenannten  Epilepsie  eine  sorgsame  Untersuchung  des  Körpers  auf 
Residuen  von  Trauma  (Narben)  stattfinden  möge. 

Eine  solche  Narbe  kann  freilich  nur  dann  als  Ursache  des  Leidens 
angesehen  weiden,  wenn  sie  sich  als  der  Ausgangspunkt  einer  Aura 
von  Anfällen  beobachten  lässt.  Bemerkenswert!!  ist,  wie  schon  von 
Wagner  hervorgehoben,  die  grosse  Seltenheit  von  klassischen  Insulten 
der  Neurose  bei  solcher  Reflexepilepsie,  an  deren  Stelle  aber  nicht  selten 
Erscheinungen  von  petit  mal  beobachtet  werden.  Die  psychischen  Anfälle 
sind  hier  fast  ausnahmslos  Dämmer-  oder  Traumzustände. 

Werthvolle,  zugleich  forensische  gut  beobachtete  Fälle  von  trauma- 
tischer psychischer  Epilepsie  hat  Zierl  in  Friedreichs  Blättern  für  gerichtl. 


Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose.  107 

Medicin  mitgetheilt,  1882,  5,  1883,  2  (SchussverletzuDg  des  Arms  bei 
Sedan),  1885,  1  (Verbrechen  des  Mordes  und  Raubes.  Vor  4  Jahren 
Stichverletzung  in  die  linke  Brustseite.  Reflexpsychose  von  epilept. 
Charakter.  —  Stuporöse  und  Dämmerzustände).  Auch  von  mir  veröffent- 
lichte Fälle  (Psychopathie  sexualis,  9.  Aufl.,  Beob.  148  und  Jahrbücher 
f.  Psychiatria,  XIV,  3,  verdienen  Beachtung. 

Beobachtung  7.     Psychische  Reflexepilepsie. 

S.,  42  Jahre,  Advocatenschreiber,  verheirathet,  stammt  von  einem 
Vater,  der  sehr  jähzornig  war;  eine  Schwester  starb  im  Kindesalter  an 
Convulsionen,  ein  Bruder  ist  imbecill.  Patient  hatte  als  Kind  an  Scarlatina, 
als  Schulknabe  bis  zur  Pubertät  an  Anfällen  von  Somnambulismus,  von  da 
ab  an  alle  paar  Wochen  wiederkehrenden  Anfällen  heftiger,  im  Stirn- 
theil  lokalisirter  Cephalaea  gelitten.  Diese  von  bis  24  stündiger  Dauer 
und  meist  so  heftig,  dass  er  ganz  deprimirt  und  lebensüberdrüssig  war. 
Er  litt  daran  nur  zur  Winterszeit. 

Patient  diente  12  Jahre  beim  Militär,  fühlte  sich  bis  auf  seine 
Kopfwehanfälle  gesund. 

1866  in  Verona,  ohne  Cephalaea,  transitorischer  Irreseinszustand  von 
14  stündiger  Dauer  mit  Amnesie. 

Es  wurde  ihm  erzählt,  dass  er  Nachts  von  der  Schlafstelle  auf- 
gesprungen und  in  den  Hof  gerannt  sei,  wo  er  den  ganzen  folgenden 
Tag  verstört  beim  Brunnen  gestanden  habe. 

Patient  wurde  später  Conducteur  einer  Bahn.  1870  fiel  ihm  beim 
Abladen  eines  Fasses  dasselbe  auf  den  Kopf.  Er  stürzte  bewusstlns 
um,  hatte  eine  Rissquetschwunde  längs  der  rechten  Coronarnaht  bis  zum 
Tuber  frontale.  Seither  fühlte  sich  Patient  nicht  mehr  so  gesund  und 
leistungsfähig.  Er  war  empfindlich  gegen  Sonnenhitze  und  Alcohol 
geworden,  merkte  Gedächtnissabnahme,  besonders  für  Namen  und  Num- 
mern, fühlte  sich  von  relativer  geistiger  Anstrengung  leicht  verwirrt, 
empfand  spontan,  besonders  aber  bei  Witterungswechsel,  Genuss  selbst 
geringer  Mengen  geistiger  Getränke,  Schmerz  in  der  Narbe  der  Kopf- 
wunde und  hatte  bei  heftigeren  Exacerbationen  desselben  öfter  eigen- 
tümliche, wohl  als  petit  mal  zu  deutende  Anfälle  von  momentanem 
Bewusstseinsverlust,  aus  denen  er  mit  Starre  der  Augen,  Unfähigkeit 
zu  fixiren  und  leicht  verwirrt  sich  wieder  fand.  Er  musste  dann  den 
Kopf  tüchtig  schütteln,  um  wieder  ganz  zu  sich  zu  kommen.  Patient 
hatte  die  letzten  Jahre  ein  dürftiges  Auskommen  als  Schreiber  bei  einem 
Advocaten  gefunden.  Da  dieser  fand,  dass  S.,  obwohl  ein  williger, 
fleissiger  Mensch,  vergesslich  war,  sich  im  Dienst  oft  überhastete,  ganz 
sonderbar  ängstlich  und  stier  momentan  dreinschaute,  kündigte  er  ihm  am 
13.  November  1877   den   Dienst     S.  erschrak  heftig,  da  er  seine   miss- 


108  Beziehungen  zwischen  Neuralgie  und  transitorischer  Psychose. 

liehe  finanzielle  Lage  und  seiner  Frau  Kränklichkeit  bedachte.  Er  bat 
um  15  fl.  Vorschuss,  ging  mit  diesem  Geld  in  den  Telegraphenkurs, 
fühlte  heftigen  Schmerz  an  der  Stelle  der  Narbe  und  zunehmende 
Benommenheit.  Er  weiss  nur  noch,  wie  im  Traum,  dass  er  dort  Alles 
verwundert  anschaute,  ohne  Grund  bald  wieder  fortging,  einen  Dienst- 
mann mit  3  fl.  zu  seiner  Frau  schickte,  auf  dem  Heimweg  ein  Glas  Bier 
trank.  Seine  Verwirrtheit  nahm  immer  zu.  Auf  der  Strasse  sah  er 
Alles  im  Nebel,  fand  nicht  nach  Hause.  Von  nun  an  Amnesie  für 
Alles,  was  sich  ereignete,  bis  er  sich  staunend  am  17.  früh  im  Spital 
wiederfand. 

Am  14.  Nachmittags  wurde  er  betroffen,  als  er  dämmerhaft  und 
verwirrt  in  den  Strassen  von  Graz  herumschlich,  an  den  Mauern  horchend. 
Er  murmelte  fortwährend  „6°/0  und  öVg'/o  Interessen,  Sparkasse,  Alle 
einklagen",  dabei  lauschend  und  gestikulirend.  Bei  der  Aufnahme  auf 
der  Klinik  am  15.  noch  grosse  Bewusstseinsstörung.  Patient  wiederholt 
auf  alle  Fragen  stereotyp  die  obigen  abgerissenen  Worte.  Er  wird  nach 
einigen  Stunden  etwas  besinnlicher,  giebt  richtig  seine  Personalien  an, 
klagt  heftigen  Kopfschmerz.  Er  glaubt  sich  zu  Hause,  ruft  nach  der 
Frau,  dem  Caffee,  kommt  immer  wieder  auf  „Sparkasse,  6°/o"  etc.  zurück. 
Patient  fieberlos,  verworrene  Miene,  Schädel  normal,  im  Verlauf  der 
Coronarnaht  rechts  lineare,  im  unteren  Theil  aber  wulstige  und  sehr 
schmerzhafte  Narbe.  Pupillen  mittelweit,  träge  reagirend.  Guter  Schlaf. 
Am  16.  Abends  weitere  Klärung.  Patient  merkt,  dass  er  nicht  zu  Hause, 
vermag  sich  aber  noch  nicht  zu  orientiren.  Am  17.  früh,  nach  gut 
durchschlafener  Nacht,  ist  Patient  lucid.  Er  bricht  in  Thränen  aus  über 
sein  Unglück,  dass  seine  Frau  krank  zu  Hause  liege.  Patient  bietet 
keine  psychischen  Störungen  in  der  Folge  mehr.  Die  Narbe  ist  nicht 
mehr  spontan  und  auf  Druck  nur  wenig  mehr  schmerzhaft.  S.  verlässt 
nach  wenigen  Tagen  die  Klinik,  befindet  sich  unter  Brombehandlung  in 
der  Folge  so  wohl,  dass  er  die  ihm  angerathene  Excision  der  Narbe  nicht 
für  nöthig  hält. 


III. 

UEBER 

HEMICRANIE  UND  DEREN  BEZIEHUNGEN 

ZUR  EPILEPSIE  UND  HYSTERIE. 


Jeder  erfahrene  Praktiker  weiss,  dass  die  so  häufige  und  gefürchtete 
Migräne  überaus  verschieden  klinische  Bilder  darbietet.  Es  liegt  nahe, 
anzunehmen,  dass  diese  Verschiedenheit  des  Erscheinungsbilds  in  diffe- 
renter  Aetiologie  der  Fälle  begründet  sei. 

Vielleicht  wird  die  nichts  weniger  als  in  glänzendem  Ruf  stehende 
Therapie  dieser  Krankheit  erfolgreicher,  wenn  man  ihre  verschiedene 
ätiologische  Begründung  versteht. 

Lange  kannte  man  nur  die  Migräne  als  constitutionelle,  wohl  fast 
ausschliesslich  erblich  degenerative  Neurose,  die  gleich  anderweitigen, 
dergestalt  bedingten  Nerven-  und  auch  psychischen  Krankheiten  mit 
Vorliebe  in  biologischen  Lebensphasen  zum  Ausbruch  gelangt  und  zuerst 
in  Lieveing  1873,  neuerlich  in  Möbius  ihre  ausgezeichneten  Mono- 
graphen  fand. 

Die  Symptome  dieser  Migräneform  sind,  nach  kürzeren  oder  längeren 
Prodomi  allgemeinen  Unwohlseins,  halbseitiger  Kopfschmerz  von  beson- 
derer Intensität,  optische  und  acustische  Hyperästhesie,  Uebelkeit  bis 
zu  Erbrechen,  Anorexie,  Lösung  des  Anfalls  meist  mit  Schlaf.  Im  Anfall 
Gesichtsblässe,  selten  Gesichtsröthe. 

Als  seltenere  und  wohl  als  Complicationen  zu  deutende  Erscheinungen 
des  Anfalls  sind  initiales  flüchtiges  Trübsehen  und  Flimmern  (Ueber- 
gangsfälle  zur  Hemicrania  ophthalmica),  olfactorische  Hyperästhesie,  Ohren- 
sausen, vasospastische  Erscheinungen  an  den  Extremitäten  (eiskalte  Hände 
und  Füsse)  zu  erwähnen.  An  die  Erkenntniss  dieser  klassischen  Migräne- 
form reihte  sich  die  der  Hemicrania  ophthalmica  (Galezowski  1878, 
Fere  und  Andere),  d.  h.  das  integrirende  Mitgehen  und  Dominiren  von 
Augensymptomen  (Scotoma  scintillans)  im  Bild  des  hemicranischen  Anfalls. 

Diese  Varietät  ist  häufig  diejenige,  in  welcher  sich  die  hereditär- 
constitutionelle  Form  abspielt.  Sie  kann  gleich  von  Anfang  an  als  solche 
einsetzen  oder  das  Migränescotom  entwickelt  sich  erst  im  Verlauf 
des  Leidens. 

Unter  allen  Umständen  ist  diese  Form  der  Migräne  die  schwerere. 

So  begreift  es  sich  auch,  dass  hier  häufig  complicirende  Hirn- 
störungen eintreten,  die  dem  Bild  der  einfachen  Migräne  sonst  fremd  sind. 


112        Ueber  Hernicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie. 

Als  solche  sind  halbseitige  Parästhesien,  motorische  und  amnestische 
Aphasie,  vorübergehende  Hemiparesen,  Reizerscheinungen  in  der  Gehörs- 
und Geschmackssphäre,  Erscheinungen  von  Agraphie,  Alexie,  Worttaub- 
heit, Seelenblindheit  (Berbez)  zu  verzeichnen. 

Ein  weiterer  Fortschritt  in  der  klinischen  Erkenntniss  war  die  Er- 
fahrung, dass  die  Migräne  auch  eine  symptomatische  Bedeutung  haben 
könne.  So  lernte  man  sie  als  eine  erworbene,  oft  erst  in  späterem 
Lebensalter  entstandene  Krankheit  kennen  auf  Grund  von  Dispositionen 
und  Veränderungen,  die  Lues  cerebri,  Tumor  cerebri  (Lebert,  Wernicke), 
der  Paralyseprocess  (Sander,  Mendel,  Parinaud,  Blocq,  Charcot)  und 
Tabes  (Oppenheim,  Charcot,  Roullet)  im  Gehirn  vermittelten. 

Damit  erscheint  die  tardive  Migräne  in  verdächtigem  ominösem  Licht, 
aber  es  darf  nicht  übersehen  werden,  dass,  in  allerdings  seltenen  Fällen, 
die  hereditär  constitutionelle  Migräne  auch  erst  in  späteren  Lebensjahren, 
eventuell  im  Klimacterium  sich  entwickeln  kann. 

Absolut  sichere  Unterscheidungsmerkmale  giebt  es  hier  vorläufig 
nicht,  ausser  etwa  hereditäre  Belastung  und  eventuelle  familiäre  Er- 
scheinung der  Migräne. 

Zugegeben  muss  werden,  dass  die  symptomatische  Migräne  auf 
organischem  Boden  in  der  übergrossen  Mehrzahl  der  Fälle  als  ophthal- 
mische  sich  klinisch  darbietet  und  zwar  als  solche  von  vornherein,  nicht 
wie  in  manchen  Fällen  von  gutartiger  Provenienz  und  Bedeutung,  sich 
erst  all  mal  ig  mit  ophthalmischen  Symptomen  vervollständigend.  Ganz 
besonders  ominös  scheint  mir  nach  meiner  Erfahrung  das  Miteintreten 
von  Hemiparästhesie  (sensibl.  Jackson)  in  das  Symptomenbild  der  tar- 
diven  Hemicrania  ophthalmica.  Ich  habe  hier  nie  das  baldige  Auftreten 
von  Paralysis  progressiva  oder  von  organischer  Heerderkrankung  (be- 
sonders Excephalomalacia)  vermisst. 

Aber  auch  simple  Migräne,  ohne  alles  derartige  Beiwerk,  kanu 
diese  ominöse  Bedeutung  haben,  wie  ich  u.  A.  bei  einem  16  Jahre 
alten,  mit  hereditärer  Lues  behafteten,  ohne  alle  migränöse  Familien- 
disposition dastehenden,  an  progressiver  Paralyse  erkrankten  Mädchen 
beobachtete.  Demnach  wäre  in  diagnostischer  Hinsicht  auf  das  Fehlen 
jeglicher  familiärer  Disposition  zur  Migräne  das  Hauptgewicht  zu  legen. 

Angesichts  der  Thatsache  einer  möglichen  symptomatischen  Bedeutung 
der  Hemicranie  drängt  sich  die  Frage  auf,  ob  die  Anfälle  dieser  Krank- 
heit nicht  auch  in  einer  Beziehung  zu  gewissen  Neurosen  (Epilepsie, 
Hysterie)  stehen  können. 

Was  diese  Frage  gegenüber  der  Epilepsie  anbetrifft,  so  haben  schon 
Dejerine  1886  (l'heredite  dans  les  maladies  du  Systeme  nerveux)  und 
Fere  1890  (les  epilepsies)  auf  das  überaus  häufige  Vorkommen  von  Bpi- 


Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie.         113 

lepsie  und  Hemicranie  in  der  Ascendenz  und  Blutsverwandtschaft  hin- 
gewiesen. Parry,  Liveing,  Gowers  und  Andere  halten  beide  Neurosen 
für  verwandt  und  glauben,  dass  sie  in  einander  übergehen  können. 
Möbius  weist  darauf  hin,  dass  beide  überaus  oft  vererbt  und  zwar 
gleichförmig  vererbt  vorkommen,  beide  meist  in  der  Kindheit  beginnen, 
in  Anfällen  mit  Tendenz  zu  Periodicität  sich  entäussern,  vielfach  die- 
selben Gelegenheitsursachen  haben,  dass  beide  Vorläufer,  Aura,  Polymor- 
phismus, Un Vollständigkeit  der  Anfälle,  sogar  Status  aufweisen,  in  ein- 
ander übergehen,  bezw.  einander  substituiren  können. 

Bei  beiden  müsse  eine  dauernde  „Veränderung'1  im  Gehirn  zu 
Grunde  liegen. 

F6re  ging  noch  einen  Schritt  weiter,  insofern  er  Epilepsie  und 
Migräne,  speciell  die  ophthalmische,  für  einander  gleichwertig  hielt, 
somit  für  Manifestationen  einer  gemeinsamen  Gehirnveränderung. 

Fere  (Revue  de  med.  1881  und  „Die  Epilepsie",  deutsch  von  Ebers  1896)  erklärt 
die  Augenmigräne  ohne  Weiteres  für  eine  „partielle  sensorielle  Epilepsie"  Diese 
könne  sich  aus  simpler  Migräne  herausbilden,  bestehe  aber  meist  von  Anfang  an  als 
solche.  Diese  sensorielle  Epilepsie  könno  sich  jahrelang  auf  die  Augeusymptome 
(Flimmerscotom  oder  Hemianopsie  oder  beide  zusammen)  beschränken.  Die  Symp- 
tome der  Augenmigräne  könnten  auch  dissncirte  sein,  insofern  auf  eine  transitorische 
Amblyopie  oder  aut  Flimmerscotom  erst  nach  einigen  Tagen  die  ergänzende  Migräne 
mit  Erbrechen  folge.  Zur  vollständigen  oder  incoinpletpn  Augenraigräne  könnten  auch 
Aphasie,  Paraesthesie  einer  Seite,  Hemiplegie  hinzutreten.  Es  könne  aber  auch 
geschehen,  dass  diese  Erscheinungen  losgelöst  von  der  Hemicranie  bei  demselben 
Individuum  anfallsweise  auftreten.  Ebenso  häufige  Begleiterinnen  der  Augenmigräne 
seien  die  Epilepsie  und  namentlich  die  partielle  Fem  derselben. 

Die  von  Fere  u.  A.  beigebrachten  Fälle  von  mit  Migräne  zusammen- 
hängender, bezw.  aus  solcher  hervorgegangener  Epilepsie,  betreffen  fast 
ausschliesslich  Fälle  von  ophthalmischer  Hemicranie. 

Auch  Gowers  machte  aufmerksam,  dass  fast  in  allen  seinen  12  Fällen 
von  Umwandlung  der  Migräne  in  Epilepsie  die  erstere  mit  sensorieller 
Aura  verbunden  gewesen  war. 

Auch  in  meiner  Erfahrung  kenne  ich  keinen  einzigen  Fall,  wo  eine 
simple  Migräne  in  klinische  Beziehungen  zur  Epilepsie  getreten  wäre  und 
muss  somit  das  Zusammenvorkommen  einfacher  Migräne  und  Epilepsie 
bei  demselben  Individuum  für  einfache  Coincidenz  resp.  Complication 
halten,  leicht  erklärbar  aus  der  grossen  Häufigkeit  beider  Neurosen  an 
und  für  sich  und  namentlich  auf  erblich  belasteter  Grundlage.  Die  fol- 
gende Beobachtung,  aus  zahlreichen  analogen  ausgewählt,  ist  ein  Beleg 
für  diese  Annahme. 

Beobachtung  1. 

K.,  19  Jahre,  Arbeiter,  aus  belasteter,  aber  nicht  epileptischer,  auch 
nicht  mit  Migräne   behafteter  Familie,   etwas   imbecill,   leidet  seit  dem 

Kiafft-Ebing,  Arbeiteu  III.  8 


114       Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie. 

13.  Jahr  an  häufig  wiederkehrender  klassischer  Epilepsie,  der  keine  Aura 
vorhergeht.  Er  ist  sehr  reizbar  seit  seiner  Krampfkrankheit,  wollte  sich 
tödten  wegen  Versagung  eines  geringfügigen  Wunsches.  Deshalb  Auf- 
nahme auf  der  Klinik.  Dort  wurde  erhoben,  dass  er  seit  dem  12.  Jahr 
an  meist  linksseitiger  heftiger,  in  Pausen  von  mehreren  Wochen  wieder- 
kehrender Hemicranie  leidet.  Nie  bestanden  bei  Anfällen  dieser  Augen- 
symptome. 

Die  These  Feres  von  der  epileptischen  Bedeutung  der  (ophthal- 
mischen)  Migräne  bedarf  nach  meiner  Erfahrung  einer  Einschränkung 
und  zugleich  einer  Erweiterung.  In  fast  allen  Fällen,  wo  in  meinem 
Beobachtungskreise  klinische  Beziehungen  zwischen  Migräne  und  Epi- 
lepsie nicht  abzuweisen  waren,  handelte  es  sich  zwar  um  Augenmigräne, 
aber  ich  habe  andererseits  eine  grössere  Zahl  von  Fällen  verzeichnet 
und  durch  eine  Beihe  von  Jahren  hindurch  verfolgt,  in  welchen  aus- 
schliesslich Migräne  ophthalmique  bestand,  gleichwohl  aber  keine  epi- 
leptische Grundlage  oder  auch  nur  epileptoide  Symptome  zu  consta- 
tiren  waren. 

Fere's  Ansicht  könnte  nur  zu  Recht  bestehen,  wenn  die  Augen- 
symptome innerhalb  des  Bildes  der  Migräne  als  etwas  dieser  an  und  für 
sich  nicht  zukommendes,  wohl  aber  der  Epilepsie  zuzuschreibendes,  also 
als  ein  Stück  Epilepsie  innerhalb  der  Migräne,  die  dadurch  zu  einer 
epileptischen  Migräne  würde,  nachgewiesen  werden  könnten.  Dazu  reichen 
aber  die  bisherigen  Erfahrungen  nicht  aus,  und  muss  es  offene  Frage 
bleiben,  ob  die  Augenmigräne  in  allen  Fällen  klinische  Beziehungen  zur 
Epilepsie  hat.  Die  klinisch  prognostische  Wichtigkeit  der  Lösung  dieser 
Frage  liegt  auf  der  Hand. 

Dass  die  Augenniigräne  aber  jene  klinischen  Beziehungen  haben 
kann,  dürfte  aus  den  folgenden  Beobachtungen  klar  hervorgehen.  Die 
Fere'sche  These  bedarf  andererseits  einer  Erweiterung,  insofern  die 
gleiche  Bedeutung,  wie  die  Augensymptome  innerhalb  der  Migräne,  solche 
von  sensiblem  Jacksonanfall  haben  mögen. 

Bei  dieser  seltenen  Combination  der  Migräne  erscheint  die  Berech- 
tigung der  Zuweisung  der  sensiblen  Jacksonerscheinungen  zur  Epilepsie 
noch  grösser,  als  bei  den  Augensymptomen. 

Eiue  Vorfrage  entsteht  freilich  hier,  nämlich  die,  ob  man  die  Erschei- 
nungen eines  sensiblen  Jacksonanfalls  denen  eines  motorischen  gleich- 
wertig auffassen  darf. 

Erfahrungen,  die  ich  an  durch  organische  Erkrankung  bedingtem  moto- 
rischem Jackson ,  an  solchen  durch  Hysterie  vermittelten  Anfällen,  sowie 
bei  Paralytikern  machen  konnte,  wo  sensible  Anfälle  den  motorischen  als 
äquivalente  sich  beobachten  Hessen,  berechtigen  mich  zu  dieser  Annahme. 


Ueber  Hemirranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie.        115 

Pitres  (Revue  de  med.  1888,  VIII)  brachte  den  Erweis,  dass  nicht 
blos  sensible,  sondern  sogar  psychische  Insulte  den  motorischen  Jackson- 
anfall substituiren  können. 

Oppenheim  (Handb.  d.  N.- Krankheiten,  p.  437),  erklärt,  dass  die 
partielle  (Jackson 'sehe)  Epilepsie  sich  auch  auf  sensorischem  Gebiet 
abspielen  könne,  indem  Paraesthesien  den  Krampfanfall  einleiten,  die 
Zuckungen  begleiten  oder,  „indem  die  Paraesthesien  das  einzige  Symptom 
des  Reizzustands  sind,  also  gewissermaassen  ein  Aequivalent  des  An- 
falls bilden". 

Von  nicht  geringem  Interesse  ist  es  auch,  dass  in  der  ungeheueren 
Mehrzahl  der  Fälle  von  symptomatischer  Migräne  (Tabes,  progressive 
Paralyse  u.  s.  w.),  die  Migräneform  die  ophthalmische  oder  die  mit  sen- 
siblem Jackson  einhergehende  ist,  sodass  man  versucht  wäre,  die  sympto- 
matische Migräne  ausschliesslich  in  diesen  beiden  Formen  anzuerkennen. 
Dieser  Standpunkt  verdient  jedenfalls  vorläufig  in  der  Untersuchung  der 
klinischen  Beziehungen  der  Migräne  zur  Epilepsie  festgehalten  zu  werden. 

Versucht  man  auf  solcher  Grundlage  der  Frage  näher  zu  treten,  so 
bieten  sich  zunächst  Fälle  dar,  in  welchen  ein  und  dasselbe  Individuum 
innerhalb  desselben  Anfallsganzen  einen  epileptischen  und  einen  hemi- 
cranischen  Insult  erfährt,  als  deren  gemeinsame  Aura  Flimmerscotom 
erscheint.  Dieses  kann  überdies,  insofern  es  in  rother  Farbe  sich  dar- 
stellt, eine  direkt  auf  Epilepsie  hinweisende  Bedeutung  gewinnen.  Wäh- 
rend die  Migräne  immer  dieselbe  bleibt,  kann  die  epileptische  comple- 
mentäre  Seite  des  Gesammtan falls  verschieden  sein. 

In  den  folgenden  9  Fällen  handelt  es  sich  3  mal  um  klassische  epi- 
leptische Anfälle  (Beobachtung  2,  3,  4)  6  mal  um  sensiblen  Jackson 
(Beobachtungen  5 — 10).  Einmal  leitet  dieser  den  Gesammtanfall  ein  (10), 
so  dass  es  in  diesem  einzigen  Fall,  wo  keine  visuelle  Aura  bezw.  Flimmer- 
scotom besteht,  den  Anschein  hat,  als  könne  die  Paraesthesie  (sensible 
Aura)  die  Stellvertreterin  des  Flimmerscotoms  einer  Migräne  darstellen. 

In  einem  dieser  Fälle  (7)  reiht  sich  an  den  sensiblen  Jacksonanfall 
jeweils  ein  Zustand  von  (postepileptischer)  Verwirrtheit,  jedenfalls  eine 
bemerkenswerthe  Thatsache  zur  Stütze  der  oben  verfochtenen  These  von 
der  Bedeutung  sensibler  Jacksonanfälle,  als  möglicher  Aequivalente  moto- 
rischer, überhaupt  epileptischer  Anfälle. 

Von  nicht  geringer  Bedeutung  ist  die  Thatsache,  dass  die  irgendwie 
gearteten  epileptischen  Anfälle  nur  in  der  Zeit  und  im  Rahmen  von 
hemicranischen  Insulten  in  der  folgenden  Casuistik  sich  vorfinden,  nie 
als  freistehende  und  von  der  hemicranischen  Neurose  losgelöste. 

Hier  wird  der  klinische  Zusammenhang  unabweisbar  und  die  obige 
Vermuthung,    dass   epileptische    und    hemicranische    Veränderung   oder 

8 


116      Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie. 

Disposition  im  Gehirn  in   sehr  nahen  Beziehungen  zu  einander  stehen, 
fast  zur  Gewissheit. 

Die  Beobachtungen,  welche  zu  vorstehenden  Schlüssen  berechtigen, 
sind  die  folgenden. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  in  allen  die  genaueste  Beobachtung 
und  Untersuchung,  auch  mittelst  Augenspiegels,  keine  Heerdsymptome 
überhaupt  keine  Zeichen  irgend  eines  organischen  Hirnleidens  aufwies, 
sodass  der  Einwand  eines  organischen  symptomatischen  Bedingtseins 
epileptischer  und  hemicranischer  Symptome  hinfällig  würde. 

Beobachtung  2. 

Frau  W.,  43  Jahre,  von  sehr  nervöser  Mutter,  selbst  neuropathisch, 
hat  seit  der  Pubertät  an  gewöhnlicher  Hemicranie  gelitten.  Seit  etwa 
einem  Jahre  Klimacterium.  Seit  4  Monaten  ist  die  Migräne  sehr  heftig 
geworden  und  hat  sich  mit  Flimmerscotom  vergesellschaftet.  Seither 
auf  der  Höhe  des  Anfalls  klassische  epileptische  Insulte. 

Beobachtung  3. 

Herr  R.,  34  Jahre,  aus  angeblich  ganz  gesunder  Familie,  frei  von 
Lues,  potus  nimius,  Trauma  capitis,  leidet  seit  seinem  20.  Jahre  an  Migraine 
ophthalmique.  Wenn  der  Anfall  besonders  heftig  ist,  bekommt  er  auf 
der  Höhe  desselben  einen  epileptischen  Insult  (Bewusstlosigkeit,  allge- 
meiner tonisch -clonischer  Krampf,  Zungenbiss).  Solche  Anfälle  treten 
etwa  4  mal  jährlich  auf  und  hinterlassen  jeweils  bis  zu  24  Stunden 
anhaltende  Mattigkeit  und  geistige  Unfähigkeit. 

Beobachtung  4. 

Fräulein  E.,  18  Jahre,  hat  eine  Mutter  und  Schwester,  die  an 
Hemicrania  simplex  leiden. 

Patientin  hatte  mit  5  Jahren  Convulsionen,  seit  der  Kindheit  fast  con- 
tinuirliche  Cephalaea,  war  eine  unbegabte,  geistig  beschränkte  Schülerin 
und  bekam  mit  13  Jahren  Anfälle  von  jeweils  r.  Hemicranie  (Kopfweh, 
Erbrechen),  die  mit  schwarzem,  den  grössten  Theil  des  ganzen  Gesichts- 
felds ausfüllendem  Scotom  sich  einleitete.  Nach  wenigen  Monaten  stellten 
sich  auf  der  Höhe  solcher  Hemicraniezustände  genuine  epileptische  Anfälle 
ein  (Bewusstlosigkeit,  Suggilationen,  Zungenbisse  u.  s.  w.),  die  minde- 
stens alle  paar  Wochen  wiederkehrten,  nie  aber  als  freistehende,  d.  h. 
von  der  Migräne  losgelöste  Paroxysmen  erschienen. 

Dazwischen,  und  ziemlich  häufig  lief  der  Complex  ophthalmischer  Mi- 
gränesymptome ab,  ohne  sich  mit  epileptischen  Erscheinungen  zu  combiniren. 

Mit  15  Jahren  wurde  Patientin  menstruirt.  Die  Pubertät  hatte  keinen 
Einfluss  auf  die  beiden  Neurosen.  Dagegen  zeigten  sich  von  nun  an 
hysterische  Phänomene  (globus,  concentr.  Einengung  des  Gesichtsfelds, 
beiderseitige  Ovarie  u.  s.  w.). 


Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie.       117 

Mit  17  Jahren  war  Patientin  oft  Zeugin  epileptischer  Insulte  eines 
Knaben.  Sie  wurde  davon  sehr  emotionirt  und  begann  mit  173/4  Jahren 
.Tacksonepilepsie  in  der  rechten  Oberextremität  zu  bieten,  die  ohne  alle 
Beziehungen  zu  Hemicranie,  ohne  Trübung  des  Bewusstseins,  bei  nicht 
starren  Pupillen,  1 — 5  mal  täglich  in  Anfällen  bis  zu  mehreren  Minuten 
sich  zeigte  und  sich  als  eine  schlechte  hysterische  Imitation  von  wirk- 
lichen Jacksonanfällen,  die  Patientin  bei  jenem  Knaben  gesehen  hatte, 
auswies.  Unter  Brombehandlung  schwanden  die  Anfälle  von  Epilepsie 
und  ophthalmischer  Migräne,  während  die  hysterische  Imitation  davon 
unbeeinflusst  blieb. 

Beobachtung  5. 

Fräulein  S.,  17  Jahre,  stammt  von  sehr  nervöser,  mit  Hemicranie 
behafteter  Mutter.  Sie  wurde  mit  12  Jahren  menstruirt,  ist  seither  Consti- 
tutionen neurasthenisch  und   von  fast  permanentem  Kopfdruck  geplagt. 

Mit  15  Jahren  entwickelte  sich  gewöhnliche  Migräne.  Viermal  in 
den  letzten  2  Jahren  wurde  diese  von  Hemianopsie  und  Flimmerscotom 
eingeleitet.  Jeweils  in  diesen  Anfällen,  die  von  den  gewöhnlichen  men- 
strualen  auch  dadurch  sich  unterschieden,  dass  sie  nicht  menstrual  auf- 
traten, kam  es  zu  mindestens  eine  Stunde  dauerndem  sensiblem  Jackson- 
anfall in  rechter  Gesichtshälfte,  Zunge  und  Hand. 

Beobachtung  6. 

S.,  Techniker,  58  Jahre,  angeblich  unbelastet,  hat  seit  der  Kindheit 
ophthalmische  Migräne.  Die  Anfälle  kommen  etwa  16  —  30  mal  im  Jahr, 
in  den  letzten  Jahren  gehäuft.  Der  Anfall  beginnt  mit  einem  dunklen 
Fleck  im  Sehfeld  des  Auges,  auf  dessen  Seite  der  Kopfschmerz  sich  später 
einstellt.     An  der  Peripherie  dieses  Scotoms  finden  sich  Lichtbüschel. 

Das  Migränescotom  dauert  etwa  eine  halbe  Stunde  bis  zum  Eintritt 
des  Schmerzes.  Zuweilen  besteht  das  ophthalmische  Symptom  auch  in 
einem  weissen  flimmernden  C  oder  Z,  das  bald  auf  dem  einen,  bald 
dem  anderen  Auge  erscheint,  ,,als  gewellter,  licht  flimmernder  Buch- 
stabe, der  schräg  durch  das  Sehfeld  zieht.-'  Dieser  Buchstabe  entwickelt 
sich  aus  einem  weissen  Fleck. 

Auf  der  Höhe  des  dann  folgenden  Schmerzzustandes  hat  Patient 
eingenommenen  Kopf,  erschwertes  Denken,  Gefühl  peinlicher  Verwirrung 
und  eine  „grauenvolle"  Empfindung,  d.  h.  er  fühlt  auf  der  dem  Kopf- 
schmerz gleichnamigen  Seite  Vertaubung  in  Gesicht,  Zunge,  Oberextremität, 
vermag  nicht  zu  sprechen  und  hat  das  Bewusstsein,  gelähmt  zu  sein 
(sensibler  Jackson). 

Beobachtung  7. 

Fräulein  V.,  18  Jahre,  mit  15  Jahren  menstruirt,  angeblich  unbe- 
lastet, leidet  seit  der  Pubertät  an  ophthalmischer  Migräne,  die  Anfangs 


118        Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie. 

nur  l1/^,  neuerlich  bis  zu  4  Stunden  dauerte.  Auf  der  Höhe  des  Migräne- 
anfalls, etwa  1/a  Stunde  nach  Auftreten  des  Flimmerscotoms,  setzt  sensibler 
Jackson  ein  (Gesicht,  Zunge,  Oberextremität),  und  zwar  auf  der  dem 
Schmerz  gleichnamigen  Seite.  Einen  Tag  lang  nach  dem  Anfall  klagt 
Patientin  Schwindel,  ist  vergesslich,  zerstreut,  verwirrt,  verloren,  lässt 
mit  der  betreffenden  parästbetisch  gewesenen  Extremität  Alles  fallen, 
hantirt  damit  ganz  ungeschickt.  Patientin  hat  nur  summarische  Erinne- 
rung für  dieses  postmigränöse  (postepileptische?)  Stadium. 

Intervallär  ist  sie  ganz  wohl.     Epileptische  Antecedentien  fehlen. 

Beobachtung  8. 

Fräulein  Z.,  19  Jahre,  von  migränöser  Mutter,  Vater  jähzornig, 
mehrere  Geschwister  an  Convulsionen  gestorben. 

Menses  mit  14  Jahren  Mit  18  Jahren  Commotio  cerebri.  3  Monate 
später  beginnt  Hemicranie.     Anfälle  etwa  alle  8  Tage. 

Beginn  mit  Flimnierscotom  vor  beiden  Augen.  Dasselbe  schwindet 
nach  etwa  20  Minuten.  Nun  Gefühl  von  Todtsein  in  der  rechten  OE., 
von  den  Fingern  nach  aufwärts  sich  erstreckend.  Nach  etwa  10  Minuten 
vermindert  sich  die  Paraesthesie  der  rechten  OE.,  schreitet  aber  nun  auf 
Unterlippe,  Zunge  fort,  sodass  Patientin  am  Sprechen  gehindert  ist.  Nun 
erst  Kopfschmerzen,  die  auf  der  ganzen  linken  Kopfhälfte  lokalisirt  werden. 
Uebelkeit  begleitet  den  ganzen  Anfall.     Selten  Erbrechen. 

Beobachtung  9. 

H.  M.,  Kleidermacherin ,  stammt  von  nervösem,  jähzornigem  Vater, 
der  viel  an  „Kopfschmerzen"  leidet.  Ihre  Schwester  bietet  die  gleichen 
Anomalien. 

Patientin  ist  nervös,  aufgeregten  Temperaments  von  Kindesbeinen 
auf,  wurde  ohne  besondere  Beschwerden  mit  15  Jahren  menstruirt. 

Seit  dem  9.  Jahr  leidet  Patientin  an  Kopfschmerzen,  die  bis  2  mal 
wöchentlich  auftreten ,  aus  dem  Schlaf  heraus  entstehen,  den  Tag  über  an- 
dauern, auf  der  linken  Schläfe  beginnen,  sich  bei  besonders  schwerem  Anfall 
über  die  Stirn  nach  rechts  verbreiten,  mit  Gähnen  und  Anorexie  einhergehen. 
In  den  ersten  Jahren  waren  sie  mit  Brechreiz  und  Erbrechen  verbunden. 

Um  die  gleiche  Lebenszeit  traten  Anfälle  von  sensiblem  Jackson 
mit  Flimmerscotom,  Acusmen  und  aphasischen  Erscheinungen  auf,  die 
regelmässig  in  einen  Anfall  gewöhnlicher  Migräne  übergehen. 

Diese  zweite  Categorie  von  Anfällen  stellt  sich  in  Intervallen  von 
3  Wochen  bis  zu  Monaten  ein,  ohne  Anlass,  plötzlich,  jeweils  in  den 
Morgenstunden.  Der  Anfall  spielt  sich  auf  der  rechten  Körperhälfte  ab 
und  dauert  bis  zum  üebergaug  in  den  gewöhnlichen  linksseitigen  Migräne- 
anfall V*— Vi  Stunde.  Ohne  alle  Vorboten  fühlt  Patientin  ein  „Stechen 
wie    mit  Nadeln"    auf  der  rechten  Zungenhälfte;    nach    1  —  2   Minuten 


Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hyslerie.        119 

erstreckt  sich  dieses  „Stechen"  auch  auf  das  Zahnfleisch  und  die  Wangen- 
schleimhaut  der  rechten  Mundhälfte.  Dann  kommt  ein  Gefühl  vonYertaubung 
und  Schwellung  auf  der  rechten  Hälfte  beider  Lippen.  Nach  einigen 
Minuten  werden  gleichzeitig  ergriffen  Auge,  Ohr  und  Hand  der  rechten 
Seite.  Die  rechte  Gesichtshälfte  erscheint  von  schimmernden  Streifen 
durchzogen  auf  dunklem  Grund.  Patientin  sieht  dabei  nicht  auf  der  rechten 
Gesichtshälfte,  ausser  sie  dreht  den  Kopf  nach  dieser  Seite.  Während 
das  Flimmerscotom  schwindet,  entsteht  Sausen  im  Kopf,  Klingen  im 
rechten  Ohr.  Patientin  hört  ihre  eigene  Stimme  nicht;  die  der  anderen 
Leute  kommt  ihr  ganz  entfernt  vor,  das  Ohr  ist  ihr  wie  verlegt.  Nun 
kommt  ein  Gefühl  von  Steifigkeit  und  Ameisenlaufen  in  der  rechten  OE. 
das  im  Daumen  beginnt,  nach  der  Reihe  die  übrigen  Finger  ergreift 
und  von  den  Fingerspitzen  bis  zum  Ellbogen-  eventuell  bis  zum  Schulter- 
gelenk aufsteigt. 

Während  dieser  Zeit  muss  Patientin  langsam  sprechen  und  sich 
dabei  sehr  zusammennehmen,  weil  sie  sonst  Worte  oder  wenigstens 
Anfangsbuchstaben  verwechselt,  z.  B.  statt  „nützt"  ,.rützt"  sagt.  Wieder- 
holt geschah  es  ihr,  dass  sie  den  Namen  für  ganz  gewöhnliche  Gebrauchs- 
gegenstände Anfangs  gar  nicht  aussprechen  konnte  und  endlich  in  falscher 
Wortstellung,  z.  B.  „Messerfeder"  statt  „Federmesser"  herausbrachte,  was 
ihr  ausserhalb  des  Anfalls  nie  passirte.  Sie  war  sich  dabei  ihrer  Aphasie 
und  der  Unrichtigkeit  ihres  Sprechens  in  peinlicher  Weise  bewusst. 

Das  Bewusstsein  in  solchem  Anfall  ist  ein  ganz  ungetrübtes,  die 
Stimmung  eine  traurige,  weinerliche.  Die  Gesichtsfarbe  zeigt  keine 
Veränderung. 

Patientin  von  guter  Intelligenz,  etwas  anämisch,  bietet  keine  Zeichen 
einer  Störung  im  Nervensystem,  ausser  sehr  lebhaften  tiefen  Reflexen 
und  starker  Druckempfindlichkeit  in  der  Gegend  des  linken  Ovariums. 
Augenhintergrund  normal.  An  beiden  Trommelfellen  Residuen  wieder- 
holter Mittelohrerkrankung. 

Beobachtung  10. 

Am  29.  September  1896  bat  der  23  Jahre  alte  L. ,  verheirathet, 
Buchhalter,  auf  der  Strasse  einen  Sicherheitswachmann  um  Schutz  vor 
2  vermeintlich  ihn  verfolgenden  Männern,  erschien  geistig  gestört  und 
wurde  auf  die  psychiatrische  Klinik  (Wien)  überstellt. 

Patient  kommt  verstört,  weinerlich,  verwirrt,  schreckhaft  dieUmgebung 
appercipirend  zur  Aufnahme,  wird  bald  ruhig,  schläft  ein  und  erwacht 
nach  einigen  Stunden  lucid.  Er  erinnert  sich  nur  daran,  dass  er  um 
7  Uhr  früh  von  Hause  fort  ins  Bureau  gegangen  sei,  wo  er  aber  nicht 
erschienen  ist;  für  alles  Folgende  bis  zum  Zusichkommen  auf  der  Klinik 
bietet   Patient  absolute   und  dauernde  Amnesie.     Er  stammt   von  einem 


120       Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie. 

sehr  nervösen  erregbaren  Vater,  dessen  Schwester  an  Epilepsie  gelitten 
haben  soll.  PatieDt  hat  während  der  1.  Dentitionsperiode  an  Convulsionen 
gelitten,  desgleichen  während  eines  Typhus  als  Knabe.  Er  war  von 
Kindheit  auf  nervös,  sehr  reizbar. 

Vor  5  Jahren,  im  Theater,  wahrscheinlich  nach  Alcoholexcess  1.  epi- 
leptischer Insult,  dem  eine  ganze  Serie  durch  3  Tage  gefolgt  sein  soll. 
Im  Juni  1896,  neuerliche  Serie  nach  Uebergenuss  von  Alcohol.  Seither 
öftere  vereinzelte  Anfälle  Abends. 

Seit  5  Jahren  hat  Patient  überdies  etwa  2 —  3  Wochen  einen  Anfall 
von  petit  mal. 

Seit  einigen  Jahren  leidet  Patient  auch  an  hemicranischen  Insulten, 
die  besonders  leicht  durch  Emotion  hervorgerufen  werden,  auf  Einnehmen 
von  Antipyrin  rasch  und  mit  Schlaf  schwinden.  Der  Anfall  beginnt  mit 
Blasswerden  im  Gesicht,  Paraesthesie  (Gefühl  von  Eingeschlafensein)  in 
linker  Hand,  die  einige  Minuten  dauert. 

Dann  kommt  Schmerz  in  der  rechten  Schläfe,  der  sich  nach  der 
linken  Schläfe  und  linken  Orbita  zieht  und  dort  fixirt  bleibt.  Dabei 
wird  die  linke  Lidspalte  enger,  Patient  optisch  und  acustisch  hyper- 
ästhetisch. Zu  Flirnmerscotom  und  Erbrechen  kommt  es  nicht.  Unter 
fortdauernder  Parästhesie  in  der  linken  Hand  tritt  lallende  Sprache  ein. 
Das  Bewusstsein  ist  nicht  getrübt. 

Intervallär  fühlt  sich  Patient  ganz  wohl  und  berufsfähig.  Hirn- 
und  Gesichtsschädel  leicht  assymetrisch.  Keine  Zeichen  einer  Heerd- 
erkrankung.     Bei  Augenspiegelung  negativer  Befund. 

In  einer  folgenden  Serie  von  Fällen  sind  hemicranische  und  epilep- 
tische Erscheinungen  dissociirt,  zeitlich  von  einander  getrennt,  aber  klinisch 
verbunden  durch  gemeinsame  Augensymptome,  die,  je  nachdem,  sich 
als  die  visuelle  Aura  eines  epileptischen  Insults  oder  als  Migränescotom 
ansprechen  lassen. 

Es  kann  hier  bei  der  Aura  bleiben  (abortiver  Anfall)  oder  die  „Aura" 
führt  zum  epileptischen  oder  zum  Migräneanfall  über.  Die  isolirte  Migräne 
mit  Scotom  (visuelle  Aura)  erscheint  dann  deutbar  als  Aequivaient  eines 
epileptischen  Anfalles.  Andererseits  kann  Epilepsie,  die  mit  visueller 
Aura  einhergeht  (11)  und  postepileptisch  Erbrechen  und  halbseitiges 
Kopfweh  aufweist  (15),  als  Aequivaient  einer  Migräne  angesehen  werden. 

Auch  die  folgenden  6  Beobachtungen  bieten  bei  invariablen  Migräne- 
erscheinungen  Polymorphismus  der  epileptischen  Phänomene.  So  erscheint 
im  Fall  15  statt  motorischer  Symptome  jeweils  Verwirrtheit. 

Besonders  interessant  ist  in  dieser  Hinsicht  Fall  16,  in  welchem 
ursprünglich  nur  Flimmerscotom  erscheint,  dann  epileptische  Insulte, 
von  solchem  eingeleitet.     Nach    temporärer  Verdrängung  der  Epilepsie 


Ueber  Hemicranie  nnd  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hvsterie.       121 

durch  Anfälle  von  Flimmerscotom  mit  Migräne,  erscheint  neuerlich  wieder 
Epilepsie,  aber  in  Gestalt  von  durch  Flimmerscotom  eingeleitetem  psy- 
chischen Aequivalent. 

Auch  diese  zeitweise  Verdrängung  von  Symptomencomplexen  durch 
andere  ist  ein  häufiges  Vorkommen  bei  Epilepsie. 

In  interessanter  Weise  zeigt  sich  dies  in  Beobachtung  11,  12  gegen- 
über der  Hemicranie. 

Beobachtung  1 1. 

G.,  17  Jahre,  Lehrling,  aus  erblich  angeblich  unbelasteter  aber  tuber- 
culöser  Familie,  leidet  seit  dem  10.  Jahr  an  meist  linksseitiger  Hemi- 
cranie mit  röthlichem  initialem,  ganz  kurz  dauerndem  Scotom. 

Mit  16  Jahren,  ohne  allen  Anlass,  setzte  klassische  Epilepsie  ein. 
Es  wird  ihm  jeweils  heiss  im  Kopf,  er  sieht  einen  Moment  das  ganze 
Gesichtsfeld  in  dunkelrothem  Schein  und  wird  nun  bewusstlos.  Zuweilen 
reiht  sich  an  das  convulsive  Stadium  ein  postepileptischer  hallucina- 
torischer  Zustand,  in  welchem  er  dann  jeweils  eine  Markthalle  in  Wien 
sieht,  dio  ganz  gross  ist,  dann  immer  kleiner  wird,  bis  sie  nur  noch 
wie  ein  Punkt  erscheint.  Dann  sieht  er  20  und  mehr  solcher  Gebäude 
hintereinander,  die  in  bedrohlicher  Weise  auf  ihn  eindringen,  worüber 
er  heftig  erschrickt  und  sich  unter  dem  Bett  verkriecht.  Das  Ganze 
kommt  ihm  hinterher  wie  ein  Traum  vor.  Seit  dem  Auftreten  der  Epi- 
lepsie sind  die  hemicranischen  Anfälle  viel  milder  und  seltener  geworden. 

Beobachtung  12. 

Frau  G.,  40  Jahre,  hat  leicht  rachitisches  Cranium.  Die  Mutter  litt 
an  Hemicrania  ophthalmica.  Patientin  hat  seit  der  Kindheit  das  gleiche 
Leiden.  Die  Migräne  leitet  sich  mit  Flimmerscotom  von  kurzer  Dauer 
ein.     Zuweilen  bleibt  es  bei  diesem  ohne  folgendes  Kopfweh. 

Mit  38  Jahren,  nach  heftigen  Gemüthsbewegungen  und  Influenza, 
setzte  klassische  Epilepsie  ein,  jeweils  mit  visueller  Aura  (Sterne,  Funken, 
Flimmern)  beginnend.  Seit  dem  Auftreten  der  Epilepsie  sind  die  Migräne- 
anfälle seltener  geworden. 

Beobachtung  13. 

Fräulein  L,  19  Jahre,  trat  im  September  1889  in  meine  Behandlung. 

Sie  entstammt  einer  nervösen  Familie,  bot  früher  aber  nie  nervöse 
Symptome,  hatte  keine  schweren  Krankheiten  zu  bestehen,  menstruirte 
ohne  Beschwerde  vom  15.  Jahr  ab,  hatte  bisher  nie  hysterische  oder 
irgendwelche  epileptische  Symptome  geboten,  war  bis  zum  18.  Jahr  heiter, 
lebenslustig  gewesen,  hatte  dann  schwere  Gemüthsbewegungen  wegen 
Heirathsangelegenbeiten  gehabt,  die  aber  ihre  befriedigende  Lösung  fanden. 
Nach  heftigem  Affect  und  Erkältung  durch  ein  Seebad  während  der 
Menses,  eines  Nachts  im  August  1888,  Serie  von  6  epileptischen  Insulten 


122       Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie. 

mit  Zungenbiss.  Seither  nervös,  reizbar,  emotiv.  Neue,  meist  gehäufte 
Anfälle  November  1888,  Januar,  Mai,  Juni,  Juli,  September  1889,  jeweils 
mit  Erbrechen  endigend  und  meist  praemenstrual.  Die  bisher  als  simple 
Epilepsie  imponirenden  Anfälle  gewannen  ein  eigenes  klinisches  Relief 
durch  folgende  Angaben  der  Patientin.  Der  Beginn  jener  Anfälle  sei 
die  Vision  einer  drehenden  glänzenden  Scheibe  von  den  verschiedensten 
Farben,  ausschliesslich  im  Sehfeld  des  linken  Auges.  Oft  geschehe  es, 
dass  die  Scheibe  immer  kleiner  werde  und  dann  verschwinde.  Dann 
bleibe  der  Anfall  aus.  Wenn  die  Scheibe  aber  statt  kleiner  immer 
grösser  werde,  so  komme  es,  sobald  sie  das  ganze  Sehfeld  erfülle, 
zum  Anfall. 

Für  dessen  Vorkommnisse  Mangel  jeglicher  Erinnerung. 

Der  Befund  eines  hervorragenden  Gynäkologen  war  ein  ganz  nega- 
tiver. Blühendes  Madchen,  keine  Anämie,  keine  Erkrankung  vegetativer 
Organe,  absolut  keine  Stigmata  hysteriae.  Bei  Druck  auf  das  linke  Foramen 
supraorbitale  kein  Schmerz,  aber  sofort  Sehen  eines  goldenen  Reifs,  der 
schwindet,  sobald  der  Druck  aufhört.  Patientin  wird  dabei  ganz  ängst- 
lich, offenbar  in  der  Befürchtung  eines  neuen  Anfalls.  Sie  theilt  mit, 
dass  ähnlich  die  „Scheibe"  sei,  wenn  der  Anfall  drohe.  Sie  bezeichnet 
den  Reif  als  äusserlich  goldig,  innerlich  dunkelblau. 

Druck  auf  andere  Stellen  des  Trigeminus,  auf  die  Bulbi  u.  s.  w. 
bringt  diese  Lichterscheinuug  nicht  hervor. 

Die  Verordnung  bestand  in  Natr.  bromat.  3.0  —  4.0  pro  die. 

Am  18.  Mai  1890  meldete  Patientin  dankerfüllt,  dass  sie  seit 
8  Monaten  unter  dieser  Behandlung  von  allen  Krankheitserscheinungen 
frei  geblieben  sei.  Am  17.  Mai  habe  sich  zum  ersten  Mal  wieder  eine 
„Vision"  eingestellt.  Sie  sah  3  mal  hinter  einander  vor  dem  linken  Auge 
eine  rothglühende  Kugel,  die  einen  Moment  sich  drehen  wollte,  dann 
eine  schwarze  Kugel,  dann  die  gewöhnliche  glänzende  Scheibe.  Unter 
Ruhe  und  kalten  Umschlägen  schwand  Alles  rasch,  aber  am  18.  hatte 
Patientin  das' Gefühl  grosser  Schwäche,  wie  nach  einem  (epileptischen) 
Anfall .  obwohl  doch  keiner  aufgetreten  war. 

Am  19.  Juni  1893  schrieb  Patientin,  dass  sie  unter  Fortsetzung  der 
Brombehandlung  von  Krampfanfällen  frei  geblieben  sei,  dagegen  leide 
sie,  namentlich  nach  angestrengter  Goldstickerei  (seit  Winter  1890/91) 
noch  oft  an  „Visionen". 

Sie  unterscheidet  2  Arten: 

1.  Funken,  wie  von  einer  Elektrisirmaschine,  die  sich  vor  dem 
linken  Auge  wie  an  einem  Spinnwebfaden  entlang  spinnen  und  plötz- 
lich einem  Funkenregen  weichen.  Dann  erscheint  ein  wolkenartiger 
dunkler   Fleck    vor  beiden   Augen,    der   allinälig   violettblau  wird,  um- 


Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie.         123 

geben  von  hellen  glitzernden  Sternen  und  nach  etwa  3  Minuten  ver- 
schwindet. 

2.  Die  Erscheinung  der  glänzenden  Scheibe.  Ihr  geht  fast  regel- 
mässig bis  zu  10  Minuten  dauernde  Hemianopsie  voraus.  Dann  kommen 
2  glitzernde  Punkte,  aus  denen  sich  ein  über  das  ganze  Sehfeld  reichendes, 
in  Gold  und  allen  Farben  spielendes  Flimmerscotom  „wie  ein  Kalei- 
doscop"  entwickelt.  Nun  entstehen,  während  die  glänzende  Scheibe  das 
ganze  Gesichtsfeld  einnimmt,  Schwindel  und  heftige  Kopf-  und  Augen- 
schmerzen, diese  regelmässig  auf  der  dem  Migränescotom  entgegen- 
gesetzten Seite.  Diese  Anfälle  dauern  25  Minuten.  Sie  lassen  sich  durch 
Phcnacetin  0.5  abkürzen,  während  Antipyrin  gegen  sie  wirkungslos  ist. 
Im  December  1893  hatte  ich  Gelegenheit,  Patientin  wieder  zu  unter- 
suchen. Sie  war  seit  4  Monaten  glücklich  verheirathet,  frei  von  epi- 
leptischen Insulten  unter  Brom  3.0  täglich,  hatte  seltene  und  meist  nur 
zur  menstrualen  Zeit  einsetzende  Anfälle  von  Hemicrania  ophthalmica, 
bald  rechts,  bald  links,  vorwiegend  aber  links.  Die  Hemianopsie  war 
aber  jeweils  bilateral.  Druck  auf  den  1.  n.  supraorbitalis  genügte  auch 
jetzt  noch,  um  Liehterscheinungen  zu  provociren. 

Beobachtung  14. 

W.,  14  Jahre,  Schüler,  stammt  angeblich  von  ganz  gesundem  Vater. 
Die  Mutter  ist.  eine  höchst  nervöse  Dame.  Sein  Bruder  bekam  in  der 
Pubertät  Augeumigräne.    An  solcher  leidet  auch  ein  Bruder  des  Vaters. 

Patient  ist  ein  intelligenter  Junge  ohne  Degenerationszeichen.  Er 
hat  nie  an  Convulsionen  gelitten.  Seit  dem  9.  Jahr  klagte  Patient  über 
ein  zeitweise  vor  dem  rechten  Auge  auftauchendes  Flimmerscotom,  das 
er  seine  „Sonne"  nannte.  Dasselbe  entstand  nach  geringer  körperlicher 
oder  geistiger  Anstrengung,  dauerte  nie  länger  als  6  Minuten  und  war 
gewöhnlich  von  rechtsseitigem  intensivem  Kopfschmerz  gefolgt. 

Patient,  der  eine  Zeichnung  seines  Flimmerscotoms  vorlegt,  beschreibt 
dasselbe  folgendermaassen : 

Es  entwickelt  sich,  ausschliesslich  vor  dem  rechten  Auge,  eine  kreis- 
runde Scheibe,  allseitig  von  Zacken  umgeben.  Diese  Scheibe  zeigt  ein 
unregelmässiges  oberes  Feld  in  blauer,  ein  ebensolches  mittleres  in  grüner 
und  ein  unteres  grösseres  in  gelber  Farbe.  Die  Zacken  sind  silberweiss 
und  intensiv  glänzend,  gleich  den  Farbenfeldern  der  Scheibe.  Die  Scheibe 
vergrössert  sich  und  nimmt  schliesslich  das  ganze  Sehfeld  des  rechten 
Auges  ein.  Episodisch  kommen  Momente,  wo  Alles  verschwunden  ist  und 
er  schwarz  auf  dem  rechten  Auge  sieht.    Das  linke  Auge  ist  unbetheiligt. 

Vom  10.  Jahr  ab  schlössen  sich  an  besonders  intensive  Anfälle  von 
Flimmerscotom  genuine  epileptische  Anfälle.  Er  hat  deren  bis  zum 
Tag  der  Consultation  (19.  October  1895)   0  gehabt.     Seither  fürchtet  er 


124       lieber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie. 

sich  vor  der  Wiederkehr  der  „Sonne".  Er  wird  dann  ängstlich,  auf- 
geregt, verstört.  Wenn  die  „Sonne"  sich  immer  mehr  vergrössert,  weiss 
er  bestimmt,  dass  ein  Krampfanfall  eintritt.  Er  klagt  dann,  die  Sonne 
klopfe  in  sein  Hirn  hinein  und  verliert  rasch  das  Bewusstsein.  Solange 
Patient  Brom  nahm  (bis  zu  4.2  täglich)  blieben  die  epileptischen  Insulte 
aus,  auch  die  Migräneanfälle  wurden  seltener  und  beschränkten  sich 
meist  auf  blosses  Flimmerscotom  ohne  Kopfschmerz. 

Patient  intervallär  ganz  wohl.  Augenspiegel  ohne  Befund.  Ord. 
Natr.  bromat.  3.5  mit  Antipyrin  0.8  pro  die. 

Unter  dieser  Behandlung  frei  von  epileptischen  Anfällen  und  nur 
selten  Migränescotom. 

Beobachtung  15. 

D.,  26  Jahre,  Arbeiterin,  hat  eine  Mutter  und  Schwester,  die  an 
simpler  Migräne  leiden.  Patientin  hat  seit  der  Pubertät,  jeweils  prä- 
menstrual  Hemicranieanfall.  Im  Beginn  hat  sie  Plimmern,  das  mit  dem 
Tanzen  von  Stäubchen  in  einem  Sonnenstrahl  verglichen  wird.  Zugleich 
sieht  Patientin  auf  dem  linken  Auge  nichts.  Dieses  Flimmerscotom  dauert 
10  Minuten.  Daran  reiht  sich  der  Kopfschmerz.  Seit  2  Jahren  wird 
Patientin  etwa  bei  jedem  2.  Anfall,  der  dann  besonders  intensives  Migräne- 
scotom entwickelt,  gleich  beim  Beginn  desselben  verwirrt,  macht  ganz 
unarticulirte  Lautbewegungen,  reagirt  nicht  auf  Anreden  und  Berühren, 
lässt  fallen,  was  sie  gerade  in  der  Hand  hat,  geht  bewusstlos  mit  offenen 
Augen  und  weiten  Pupillen,  herumdämmernd  umher.  Dieser  Zustand 
dauert  solange  als  das  Flimmern,  d.  h.  10  Minuten.  Sie  kommt  dann 
mit  Kopfschmerz  zu  sich  und  weiss  von  allem  während  dieser  Zeit  mit 
ihr  Vorgegangenen  nicht  das  Mindeste  (psych.  Aequivalent  eines  epilep- 
tischen Anfalls).  Sie  ist  in  dieser  Periode  des  Anfalls  blass,  während 
sie  in  der  Zeit  des  Kopfschmerzes  roth  und  heiss  im  Gesicht  ist.  Vor 
5  Monaten  hatte  Patientin  zum  ersten  Mal  einen  genuinen  epileptischen 
Aufall  aus  dem  Schlaf  heraus.  Als  die  Krämpfe  vorüber  waren,  hatte 
sie  ihren  gewöhnlichen  Migräneschmerz.  Seither  häufige  Wiederholung 
der  epileptischen  Anfälle,  meist  Nachts  aus  dem  Schlaf,  sodass  über 
etwaiges  Migränescotom  nichts  zu  berichten  ist,  jedoch  jedesmal  mit 
halbseitigem  Kopfschmerz  beim  Zusichkommen  aus  dem  Insult. 

Intervallär  ohne  Krankheitszeichen.  Unter  Brombehandlung  (5.0) 
schweigen  die  Anfälle. 

Beobachtung  16. 

P.,  29  Jahre,  Techniker,  von  neuropathischer  Constitution,  unbe- 
kanntem Vater,  nervenkranker,  durch  Suicidium  gestorbener  Mutter,  hatte 
als  Kind  Convulsionen. 

Vom  19.  Jahre  ab  heftige  Anfälle  von  Flimmerscotom,  meist  nach 


Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie.        125 

dem  Erwachen,  von  1  Minute  Dauer,  ohne  sonstige  hemicranische  Begleit- 
erscheinungen. 

Schwinden  dieser  Anfälle  auf  Brombehandlung.  Wiederkehr  der- 
selben mit  18  Jahren.     Neuerliches  Schwinden  auf  Brom. 

Nach  Aussetzen  des  Brom  wieder  obige  Anfälle.  1890  im  Anschluss 
an  einen  Anfall  von  Flimmerscotom  1.  epileptischer  Insult.  Nun  trotz 
Brombehandlung  (bis  10.0  pro  die)  Fortdauer  der  epileptischen  Anfallet 
jeweils  eingeleitet  durch  Flimmerscotom.  Gelegentlich  auch  statt  jener 
blosse  Absencen. 

1891  postepileptischer  Aufregungszustand  mit  Würgen  der  Mutter- 
Amnesie.  Seit  dem  7.  April  1895  keine  epileptischen  Insulte  mehr,  dafür 
aber  häufig  Flimmerscotom  als  Aura  genuiner  Hemicranieanfälle,  ohne 
alle  Bewusstseinsstörung,  von  3  Stunden  Dauer. 

Am  25.  December  1895  nach  Genuss  von  0.5  Liter  Wein  gut  geschlafen 
Am  29.  Morgens  Flimmerscotom,  an  das  sich,  ohne  Convulsionen,  ein 
psych,  epileptischer  Aufregungszustand  von  mehrstündiger  Dauer  an- 
schliesst.     Amnesie. 

Oranium  rachiticum.  Keine  Narben  am  Kopf.  Im  Februar  1896 
noch  2  solcho  Anfälle.  Unter  Brom  1.0.0  Ausbleiben  solcher,  wie  auch 
der  Anfälle  von  Augenmigräne. 

Als  Corrolarien  aus  der  vorausgehenden  Beobachtungsreihe  und  als 
Gesichtspunkte  für  weitere  Forschung  lassen  sich  folgende  Sätze  formuliren : 

1.  Es  giebt  diagnostisch  und  prognostisch  verschieden  qualificirte 
Hemicranien.  Es  können  zweierlei  Arten  von  Migräne  bei  demselben 
Individuum  sich  vorfinden  (Beob.  5,  9). 

2.  Die  Hemicranie  kann  symptomatische  Bedeutung  haben,  so  bei 
organischen  Hirnerkrankungen,  aber  auch  bei  Neurosen  (Epilepsie). 

3.  Die  ophthalmische  und  die  mit  sensiblem  Jackson  verbundene 
Migräne  haben  sehr  häufig  symptomatische  Bedeutung,  fast  sicher  dann, 
wenn  die  Hemicranie  eine  erworbene  (nicht  veranlagte)  und  tardive  ist. 

4.  Die  in  klinische  Beziehung  zur  Epilepsie  tretende  Migräne  scheint 
ausschliesslich  den  sub  3  angeführten  Categorien  angehörig,  jedenfalls 
existiren  keine  Beweise  dafür,  dass  eine  einfache  Migräne  eine  solche 
Rolle  spielen  könnte. 

5.  Das  äussere  Merkmal  klinischer  Zusammengehörigkeit  von  Hemi- 
cranie und  Epilepsie  ist  zunächst  eine  gemeinsame  visuelle  Aura,  die 
überdies  in  rother  Farbe  auftreten  kann  (Beob.  11).  Diese  gemeinsame 
visuelle  Aura  ist  um  so  bemerkenswerther,  als  sie  qua  Migränescotom 
weder  der  gewöhnlichen  Hemicranie,  noch  qua  optische  Aura  der  vul- 
gären Epilepsie  zukommt,  vielmehr  besondere  klinische  Typen  beider 
Keurosen  dadurch  schafft. 


126       Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  ETjilepsie  und  Hysterie. 

Wüsste  man  Genaueres  über  die  Bedingungen  des  Zustandekommens 
dieses  gemeinsamen  Symptoms,  so  wäre  der  Einblick  in  die  klinische 
Zusammengehörigkeit  beider  neurotischer  Bilder  sehr  erleichtert. 

Dass  diese  visuelle  Aura  schon  Symptom  eines  klinischen  .Ganzen 
ist,  dürfte  nicht  zu  bezweifeln  sein. 

Es  ist  möglich  (Beob.  10),  dass  sensibler  Jackson ,  quasi  als  sensible 
Aura,  jene  optische  substituiren  kann.  "Wie  diese  Aura  (optische,  even- 
tuell sensible)  als  gemeinsames  Symptom  zweier  Neurosen  Beziehungen 
gewinnt  zu  jenen  dauernden  Gehirnveränderungen,  die  wir  sowohl  für  die 
Hemicranie  als  auch  für  die  Epilepsie  annehmen  müssen,  ist  recht  unklar. 

Die  Thatsachen  weisen  darauf  hin,  dass  dies  um  so  leichter  mög- 
lich wird,  wenn  die  Hemicranie  mit  Symptomen  sich  vergesellschaftet, 
die  auf  eine  ihr  sonst  nicht  zukommende  territoriale  Ausbreitung  in  der 
Hirnrinde  hinweisen. 

6.  Die  visuelle  Aura  kann  isolirt  auftreten  (abortiver  Anfall)  oder 
einen  hemicranischen  oder  epileptischen  Insult  herbeiführen  oder  gar 
beide  auslösen. 

Im  letzteren  Fall  kann  die  eine  Neurose  nicht  als  der  Agent  provo- 
cateur der  anderen  angesehen  werden;  beide  sind  vielmehr  einander 
gleichwertig,  auf  eine  gemeinsame,  in-  oder  extensiv  verschiedene  Hirn- 
veränderung zu  beziehen. 

7.  Die  (migränöse)  Epilepsie  und  die  (epileptiforrae)  Migräne  können 
einander  substituiren.  Im  ersteren  Falle  sind  psychische  und  krampf- 
hafte Anfälle  als  Substitutionen  möglich. 

8.  Da  wo  Migräne  und  Epilepsie  in  klinische  Beziehungen  zu  ein- 
ander treten,  erscheint  die  letztere  als  sensibler  Jackson  (Beob.  5—10) 
eventuell  mit  postepileptischem  psychischem  Insult  (7),  als  klassischer 
Insult  (2,  3,  4)  eventuell  auch  als  psychisches  Aequivalent  (15,  16). 

9.  Einer  epileptischen  Bedeutung  verdächtig  ist  immer  ophthalmische 
Migräne;  fast  sicher  als  epileptische  Migräne  anzusprechen  ist  die  mit 
sensiblem  Jackson  verbundene. 

Beziehungen  zu  Migräne  verdächtig  sind  immer  epileptische  Anfälle 
irgend  welcher  Art  mit  visueller  Aura  (11—16),  mit  Erbrechen  (13)  halb- 
seitigem Kopfschmerz  ganz  besonders  aber  dann,  wenn  sie  nur  tempore 
Hemicraniae,  nie  intervallär  auftreten. 

10  Auch  therapeutisch  bedarf  die  Hemicranie  einer  Differenzirung 
nach  ihren  ätiologischen  Formen. 

Die  mit  Epilepsie  in  klinischem  Zusammenhang  stehende  Migräne 
wird  eventuell  durch  antiepileptischu  Behandlung  günstig  beeinflusst 
(13—16).  Besonders  nützlich  erweist  sich  dagegen  Brom  in  Verbindung 
mit  Antipyrin.  


Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie.       127 

Viel  grösser  sind  die  Schwierigkeiten,  wenn  man  die  Beziehungen 
zwischen  Hemicranie  und  Hysterie  festzustellen  versucht.  Dass  bei  der 
Häufigkeit  beider  Neurosen,  besonders  beim  weiblichen  Geschlecht,  Coin- 
cidenz  beider  bestehen  kann,  ist  a  priori  zuzugeben  und  jedem  Prak- 
tiker bekannt.  Auch  das  zeitliche  Zusammentreffen  von  Hemicranie  und 
hysterischen  Insulten  kann  nicht  Wunder  nehmen,  da  Gemüthsbewegungen 
für  beide  Agents  provocateurs  sein  können.  Weiter  gehen  französische 
Autoren  (Charcot,  Babinski,  Fink  und  Andere),  indem  sie  einen  klinischen 
Zusammenhang  zwischen  beiden  Neurosen  annehmen. 

Der  Ausgangsfall  für  diese  klinische  Auffassung  ist  folgende  von  Charcot 
in  seinen  Lecons  du  mardi  ä  la  Salpetriere  1887  —  88  p.  10  nieder- 
gelegte Beobachtung: 

Prud  .  .,  21  Jahre,  Graveur,  bekommt  anlässlich  einer  Conjunctivitis  Anfälle  von 
lancinirenden  Schuier/en  und  Gesichtsfeldverdunklung,  die  zur  selben  Stunde  täglich 
wiederkehren. 

Anlässlich  einer  Emotion  stellt  sich  Ende  Januar  bei  ihm  der  1.  Anfall  von 
Hysteria  gravis  ein.  Dieser  Anfall  wiederholt  sich  bis  Mitte  Februar  täglich  zur 
selben  Stunde  und  erscheint  ohne  Vorboten. 

Von  nun  an  geht  ihm  durch  eine  Viertelstunde  eine  Aura  (Schmerz,  der  vom 
Vertex  sich  zum  linken  Auge  forterstreckt,  dann  Flimmerscotom,  das  das  ganze  Seh- 
feld erfüllt1,  vorher. 

Diese  Aura  (Migränesrotom)  zeigt  sich  oft  auch  ohne  folgenden  Anfall.  Nicht 
selten  erscheint  statt  dieser  visuellen  Aura  vor  dem  hysterischen  Anfall  Mutismus. 
Unter  Brombchandlung  (3  —  6,0)  schwinden  die  hysterischen  Anfälle  und  werden  die 
Migränesymptome  milder. 

Babinski,  der  (Archives  de  neurologie  1890  XX.  60)  diesen  Fall 
reproducirt,  macht  zu  Gunsten  der  hysterischen  Bedeutung  der  hemi- 
cranischen  Symptome  dieses  Falles  geltend,  dass  sie  als  Aura  eines 
hysterischen  Insults  öfters  auftreten,  ferner  dass  diese  hemicranische 
Aura  zuweilen  durch  ein  specifisches  hysterisches  Symptom  (Mutismus) 
vertreten  werde.  Deshalb  müsse  diese  äquivalente  Hemicranie  ebenfalls 
als  hysterische  angesprochen  werden.  Zur  Stütze  seiner  Annahme,  dass 
die  Hemicranie  Syndrom  der  Hysterie  sein  könne,  bietet  Babinski  (s.  u.) 
3  weitere  Fälle,  wobei  er  aber  nur  den  1.  und  2.  der  ganzen  Reihe  als 
beweisend  ansieht. 

Sein  2.  Fall  betrifft  ein  16  Jahre  altes  Mädchen,  das  seit  3  Monaten  Anfangs  täg- 
lich an  rechtsseitiger  simpler  Migräne  litt,  naeh  10  Tagen  dazu  Schmerzen  am  6.  Dorsal- 
wirbel, in  der  Supra-  und  Iufiainaiumargegend  bekam,  nach  weiteren  5  Ta^en  lokale 
hysterische  Krämpfe  (Globus,  Clonismen  des  rechten  Augenlides)  zugleich  mit  ophthal- 
mischer  Migräne  bot,  wobei  sich  vom  6.  Dorsalwirbel  aus  („point  migrainogcue")  die 
Migräne  auslösen  liess. 

Im  3.  Fall  handelte  es  sich  um  ein  22  Jahre  altes  belastetes  Fräulein,  das  vom 
8.-5.  Jahre  Pavor  nocturnus  gehabt  batte,  mit  16  Jahren  nach   einer  Emotion  einen 


128       lieber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie. 

1.  Anfall  von  ophthalmischer  Migräne  erlitt,  dem  ein  solcher  von  Bewusstlosigkeit  mit 
Convulsionen  folgte. 

14  Tage  später  Flimmerscotom  durch  1  Stunde  mit  folgendem  mehrstündigem 
hemicranischein  Schmerz. 

Solche  Anfälle  ophthalmischer  Migräne  kehren  in  der  Folge  etwa  alle  14  Tage 
meist  im  Schlafe  wieder,  werden  wiederholt  erfolgreich  durch  Brombeh.indlungbeeinflusst. 

Neuerlich  (ohne  Brom)  Anfälle  täglich,  aber  auf  blosses  Scotom  sich  beschränkend. 
Druck  aufs  linke  Ovarium  ruft  es  experimentell  aber  schwach  jederzeit  hervor,  des- 
gleichen Emotion  oder  auch  die  blosse  Erinnerung  an  dasselbe ,  während  Suggestiv- 
behandlung dasselbe  günstig  beeinflusst. 

Der  4.  Fall  Babinskys  betrifft  ein  21  Jahr  altes  Mädchen.  Seit  4  Jahren  Anfälle 
von  Hysteria  gravis,  seit  2  Monaten  ophthalmische  Migräne,  mit  deren  Auftreten  die 
Hysterieanfälle  geschwunden  sind.  Diese  Migräneattaquen  sind  ad  libitum  durch  hyp- 
notische Suggestion  hervorzurufen  und  zu  beseitigen. 

Diese  Fälle  beweisen  jedenfalls  einen  näheren  klinischen  Zusammen- 
hang beider  Neurospn,  insofern  die  ophthalmische  Migräne  Aura  eines 
hysterischen  Insults  werden,  an  die  Stelle  solcher  Anfälle  dauernd  treten, 
ja  sogar  durch  Reizung  einer  hyperästhetischen  Hautstelle,  die  aber  nicht 
zugleich  spasmogen  sich  erweist,  in  einem  Falle  sogar  durch  hypnotische 
Suggestion  provocirt  werden  kann. 

In  einem  anderen  Falle,  in  welchem  die  blosse  Erinnerungs- 
vorstellung genügt,  um  Migränescotom  hervorzurufen,  ist  dieses  auch 
durch  Druck  auf  ein  Ovarium  auslösbar. 

Immerhin  niuss  vor  voreiligen  Schlüssen  gewarnt  werden.  Dass  bei 
Hysterie,  die  alles  Mögliche,  selbst  organische  Rückenmarkserkrankung 
imitiren  kann,  auch  Migräne  durch  psychische  Einflüsse  ausgelöst  werden 
kann,  dass  bei  der  ungewöhnlich  intensiven  und  paradoxen  Anspruchs- 
fähigkeit des  Nervensystems  solcher  Kranken  auch  ein  mechanischer 
peripherer  Reiz  dies  vermag,  darf  doch  nicht  Wunder  nehmen.  Auf- 
fallend bleibt  jedenfalls,  dass  von  den  Verfechtern  der  Ansicht,  dass 
Migräne  Syndrom  einer  hysterischen  Neurose  oder  gar  Aequivalent  eines 
hysterischen  Insults  sein  könne,  bis  1891  (vergl.  Gilles  de  la  Tourette 
traite  de  l'hystörie  p.  379)  nur  13  bezügliche  Fälle  beigebracht  werden 
konnten,  von  denen  die  Mehrzahl  nicht  einwandfrei  ist  und  nur 
Coincidenz  von  ophthalmischer  Migräne  und  hysterischen  Syndromen 
nachweist. 

Angesichts  dieser  Umstände  muss  es  offene  Frage  bleiben,  ob  die 
Migräne  eine  Rolle  der  Hysterie  gegenüber  spielen  kann,  wie  sie  sie 
thatsächlich  der  Epilepsie  gegenüber  besitzt. 

Die  bisherigen  Beobachtungen  erweisen  nur,  dass  bei  Hysterischen 
psychische  und  mechanische  Reize  ausnahmsweise  genügen,  um  einen 
Migräneanfall  zu  provociren  und  dass  ein  Migräneinsult  Agent  provo- 
cateur für  einen  hysterischen  Anfall  sein  kann,  etwa  in  der  Weise,  dass 


Uelier  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie.        129 

das  Gebiet  hemicranischer  Hyperästhesie  temporär  oder  dauernd  spas- 
mogene  Zone  wird,  analog  zahlreichen  Fällen  (Schützenberger,  Bastian 
und  Andere),  in  welchen  ein  anderweitiges  neuralgisch  afficirtes  Nerven- 
gebiet diese  Bedeutung  gewinnt.  Unter  allen  Umständen  könnte,  und 
hier  wieder  in  Analogie  mit  der  Epilepsie,  nur  der  ophthalmischen 
Migräne  eine  Bedeutung  als  Syndrom  oder  Aequivalent  innerhalb  der 
hysterischen  Neurose  möglicherweise  zukommen,  denn  die  sichere  Ab- 
grenzung der  simplen  Migräne  von  gewissen  Fällen  des  Clavus  hystericus 
mit  sensorieller  Hyperästhesie  und  Erbrechen,  sowie  von  sogenannter 
Pseudomeningitis  hysterica  ist  eine  missliche  Sache. 

In  meinem  Erfahrungskreise  finde  ich  zahlreiche  Fälle  von  einfacher 
und  ophthalmischer  Hemicranie  bei  Hysterischen,  aber  keinen  einzigen,  in 
welchem  der  Migräneanfall  sich  als  Syndrom  oder  Aequivalent  der 
hysterischen  Neurose  deuten  Hesse;  dagegen  verfüge  ich  über  einige 
Fälle,  in  welchen  der  Migräneanfall  offenbar  der  Agent  provocateur  für 
die  Wiederkehr  von  hysterischen  Insulten  war,  wobei  sich  annehmen 
lässt,  dass  das  Migränegebiet  temporär  die  Rolle  einer  hystero(spasmo)- 
genen  Zone  bekommen  hatte.  Umgekehrt  kann  auch  der  hysterische 
Anfall  den  Migräneanfall  provociren. 

Als  solche  Beispiele  mögen  die  folgenden  Fälle  dienen: 

Beobachtung  17. 

Frau  Z.,  35  Jahre  alt,  leidet  seit  dem  30.  Jahr  an  Augenmigräne. 
Keine  familiäre  Beziehungen  zu  diesem  Leiden.  Der  Vater  litt  an 
Dementia  senilis.  Die  Geschwister  sind  höchst  neuropathisch.  Schon  seit 
dem  25.  Jahr  leidet  die  sehr  nervöse  Frau  an  Hy.  gravisanfällen.  Diese 
treten  fast  ausschliesslich  nach  Emotionen  auf  und  kehren  in  Pausen 
von  Wochen  bis  Monaten  wieder.  Die  Hemicranie  entwickelte  sich  vor 
5  Jahren  im  Anschluss  an  eine  Gravidität  Sie  ist  nie  selbstständig, 
sondern  erscheint  immer  im  Gefolge  der  hysterischen  Anfälle,  die  mit 
Kopfschmerz  auf  der  linken  Kopfhälfte  beginnen  und  1  —  2  Stunden 
dauern.  In  seltenen  Fällen  entwickelt  sich  die  Hemicranie  schon  auf 
der  Höhe  des  Anfalls,  augenscheinlich  aus  der  hysterogenen  Zone  heraus, 
meist  aber  im  Anschluss  an  den  Krampfanfall.  Die  Hemicranie  hat  ihren 
Sitz  immer  links  und  dauert  bis  zu  2  Tagen.  Im  Anschluss  daran  besteht 
durch  etwa  14  Tage  Unfähigkeit  den  Kopf  nach  links  zu  drehen. 

Grosse,  stattliche  Frau.  Eine  umschriebene  Stelle  links  von  der 
Scheitelhöhe  ist  auch  intervallär  andauernd  hyperalgetisch  und  auf  Druck- 
empfindlich.    L.  Ovarie.     Sonst  keine  Stigmata  hysteriae. 

Beobachtung  18. 

Fräulein  T.  21  Jahre,  aus  Frankreich,  Gouvernante,  stammt  von 
neuropathischer  Familie.     Eltern  und   sämmtliche  Geschwister  leiden  an 

Krafft-Ehini,'.  Artwiten  III.  9 


130        Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie. 

Hemicranie,  eine  Schwester  überdies  an  Hysteria  gravis.  Patientin  gut 
begabt,  frei  von  schweren  Krankheiten,  leidet  seit  dem  15.  Jahre  an 
typischer  simpler  Migräne.  Seit  den  ersten  Menses  hat  sie  Hysteria 
gravis  mit  seltenen  Anfällen,  den  letzten  vor  einem  Jahr.  "Wegen  Ver- 
schlechterung der  finanziellen  Verhältnisse  der  Familie  musste  Patientin 
neuerlich  eine  Gouvernantenstelle  antreten.  Sie  war  darüber  sehr  emo- 
tionirt,  bekam  am  7.  October  1893  einen  Anfall  von  Hysteria  gravis 
(Lachen,  Schreien,  Herumwerfen,  Augen  verdrehen ,  Zähneknirschen, 
Delirien  von  Blumen,  der  Vater  sei  verrückt  geworden,  sie  solle  es 
auch  sein,  Protest  dagegen  u.  s.  w.). 

Dieser  Zustand  dauert  bei  der  Aufnahme  auf  die  Klinik  (9.  October) 
noch  an  und  löst  sich  am  10.  October.  Nur  summarische  Erinnerung. 
Patientin  berichtet  von  ihrer  Migräne,  die  nie  ophthalmisch  war. 

Bemerkenswerth  sind  Mouches  volantes  und  Erythropsie  beim  Fixiren 
von  Gegenständen.  Als  Stigma  hysteriae  bietet  sie,  ausser  Clavus  und 
Ovarie,  echt  hysterischen  Charakter. 

Am  14.,  19.,  20.,  29.  October  wiederholen  sich  die  oben  geschil- 
derten und  bis  auf  geringfügige  convulsive  Erscheinungen  rein  psychisch 
sich  abspielenden  Anfälle  von  Hysteria  gravis.  Ihre  Ausgangsstelle  ist 
offenbar  der  Clavus.  In  der  Mehrzahl  der  Anfälle  lässt  sich  nachweisen, 
dass  Hemicranie  dieselben  einleitet  und  begleitet.  Patientin  bestätigt 
dies  auch  aus  ihrer  bisherigen  Erfahrung.  Als  Ausgangspunkt  der  Hemi- 
cranie wird  die  Scheitelhöhe  (Clavus)  angegeben. 

Am  6.  November  letzter  Anfall  von  Hysteria  gravis  (blosses  Delir, 
das  sich  um  Blumen,  episodisch  aber  auch  um  schreckhafte  Hallucina- 
tionen  dreht),  in  der  Dauer  von  4  Stunden  mit  initialer  und  offenbar  den 
Anfall  provocirender  Migräne.  Während  der  Dauer  des  Hysterieanfalls 
besteht  halbseitiger  Kopfschmerz,  ohne  aber  in  den  Delirien  irgendwelche 
Verwerthung  zu  finden.  Am  20.  December  1893  wird  Patientin  als 
,.genesenli  entlassen. 

Beobachtung  19. 

Am  19.  Juli  1896  früh  wurde  die  22  Jahre  alte,  ledige  M.  K. 
von  einem  Polizisten,  den  sie  mit  den  Worten  „Du  bist  mein  Doctor" 
angepackt  hatte,  auf  das  Commissariat  gebracht.  Sie  erschien  verwirrt, 
aufgeregt,  spuckte  beständig,  zeigte  grossen  Stimmungswechsel,  klagte 
heftigen  Kopfschmerz,  wegen  dessen  sie  wiederholt  schon  internirt  gewesen 
sei.  Sie  sei  wegen  grosser  Unruhe  und  Angst  nach  Wien  gefahren, 
habe  den  ganzen  Tag  ein  Wasser  gesucht,  um  sich  zu  ertränken,  da  sie 
ihr  Leben  nicht  freue.  Darauf  fing  sie  an  zu  pfeifen  und  zu  singen. 
Auf  die  Klinik  gebracht,  ist  sie  noch  leicht  verwirrt,  hat  nur  summa- 
rische Erinnerung  für  die  jüngste  Vergangenheit,  ist  schreckhaft,  unstet, 


Ueber  Hemicranie  und  deren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie.        131 

zeigt  grossen  Stimmungswechsel,  erotisches  Wesen.  Sie  klagt  Kopf- 
schmerz, bietet  Druckschmerzpunkte  am  1.  n.  supraorbitalis  und  tempo- 
ralis,  1.  Hemihyperästhesie,  concentr.  Sehfeldeinschränkung,  sonst  keine 
hysterischen  Stigmata.  Patientin  schläft  die  Nacht  zum  20.  ruhig.  Am 
20.  Menses,  unter  heftiger  Colik  und  Exacerbation  des  1.  Kopfschmerzes, 
mit  der  Begleitvorstellung,  es  trete  ihr  Jemand  auf  den  Kopf,  welche 
Idee  aber  nicht  festgehalten  wird.  Patientin  ist  nicht  mehr  verwirrt, 
aber  emotiv,  schreckhaft,  bald  erotisch,  bald  deprimirt  mit  Taedium  vitae, 
das  ganze  Bild  von  entschieden  hysterischem  Gepräge.  Mit  dem  Auf- 
hören der  Menses  am  25.  treten  diese  Erscheinungen  zurück.  Patientin 
wird  ruhig,  geordnet,  erscheint  geistig  beschränkt,  ethisch  etwas  defekt 
und  giebt  folgende  Anamnese: 

In  der  Familie  ist  mehrfach  Alcoholismus,  Irrsinn  und  Tuberculose 
vorgekommen.  Der  Vater  ist  an  Pthisis  gestorben,  eine  Schwester  durch 
Suicidium  in  der  Irrenanstalt,  die  Mutter  ist  jähzornig. 

Patientin  hat  Cranium  rachiticum  und  Spuren  von  Rachitis  am 
sonstigen  Skelet.  Sie  machte  die  gewöhnlichen  Kinderkrankheiten  durch, 
litt  nach  heftigem  Schreck  vom  9. — 15.  Jahre  an  Anfällen  von  Hysteria 
gravis.    Seit  dem  18.  Jahr  traten  diese  neuerlich,  aber  seltener  auf. 

Vom  14. — 17.  Jahr  hatte  Patientin  sich  in  Gesellschaft  einer  herum- 
ziehenden Volkssängergesellschaft  umhergetrieben.  Heimgekehrt  und  mit 
der  Mutter  ausgesöhnt,  Streitigkeiten  wegen  eines  Mannes,  den  sie  gegen 
ihren  Willen  heirathen  sollte.  Als  Patientin  im  19.  Jahre  gewahr  wurde, 
dass  sie  gravid  sei,  machte  sie  in  einem  (hysterischen  ?)  psych.  Aus- 
nahmezustand einen  Suicidversuch  mit  Phosphorlösung  und  Sturz  aus 
dem  Fenster.  Seit  jenem  Sturz  Anfälle  von  linksseitigem  heftigem  Kopf- 
schmerz, eingeleitet  von  Sehen  schwarzer  Ringe  vor  den  Augen,  jedoch 
ohne  Flimmern;  auf  der  Höhe  desselben  Uebelkeit. 

Dieser  hemicranische  Symptomencomplex  ist  seither  in  Beziehung 
zu  den  Hy.  gravis -Anfällen  getreten,  insofern,  nach  der  Versicherung  der 
Patientin,  der  Aura  des  Globus  und  Schwindels  sich  Scotom  und  Kopf- 
schmerz hinzugesellt  haben. 

Im  Lauf  der  letzten  Jahre  sind  die  convulsiven  Anfälle  der  hyste- 
rischen Neurose  sehr  selten  geworden.  Dafür  stellen  sich  aber  im  Ge- 
folge der  obigen  Aurasymptome  öfter  psychische  Anfälle  ein,  in  Form 
von  Verwirrtheit,  ängstlicher  Unruhe,  Taedium  vitae.  In  einem  dieser 
Anfälle  Sprung  in  den  Fluss.  Patientin  war  2  mal  wegen  solcher  Anfälle 
in  der  Irrenanstalt,  war  episodisch  Kellnerin,  Femme  entretenue  gewesen. 
Eines  Tages  wurde  ihr  Zuhälter  als  Hochstapler  verhaftet.  (7.  Juli  1896.) 
Sie  floh  erschreckt  zur  Mutter  nach  Graz.  Von  da  ab  gehäufte  hemi- 
cranische Insulte  mit  ängstlicher  Verwirrtheit,  Taedium  vitae  und  schreck- 


132        lieber  Heniicranie  und  eieren  Beziehungen  zur  Epilepsie  und  Hysterie. 

haften  Sinnestäuschungen.  Man  band  sie  daheim  an.  Im  Anschluss  au 
eineu  solchen  Insult  floh  sie  nach  Wien  (17.  Juli),  um  dort  Erwerb 
zu  suchen. 

Am  18.  früh  setzte  Hemicranie  ein  —  sie  wurde  verwirrt,  bekam 
wieder  Angst,  Taedium  vitae,  wollte  in  die  Donau,  verschenkte  ihre 
Habseligkeiten,  als  für  sie  überflüssig  an  Passanten,  irrte  in  der  Stadt 
herum.  Sie  erinnert  sich  summarisch,  in  mehreren  Kirchen  zu  beten  versucht 
zu  haben,  aber  vor  Unruhe  und  Angst  nicht  dazu  gekommen  zu  sein. 
Sie  sei  auch  auf  einem  Friedhof  gewesen,  um  zu  sehen,  wie  ihre  künftige 
Ruhestätte  aussehe.  Abends,  unter  Zunahme  des  Kopfwehs,  sei  sie 
stärker  verwirrt  geworden  und  in  diesem  Zustand  arretirt  worden. 

In  der  folgenden  mehrwöchentlichen  Beobachtung  bot  Patientin 
Züge  von  psychischer  Degeneration,  neben  solchen  von  hysterischem 
Charakter.  Neuerliche  Anfälle  von  Migräne  oder  von  hysterischem  Delir 
resp.  Insult  gelangten  nicht  mehr  zur  Beobachtung. 


IV. 

UEBER  TRANSITORISCHE  GEISTESSTOERÜNG 
BEI  HEMICRANIE. 


Möbius  gebührt  das  Verdienst,  durch  die  in  seiner  Monographie 
der  Migräne  (Nothnagels  Handbuch)  enthaltenen  Bemerkungen  zum 
Studium  von  mit  hemicranischen  Anfällen  offenbar  in  Beziehung  stehen- 
den psychischen  Störungen  Anregung  geboten  zu  haben. 

Er  berichtet  (p.  29  1.  c.)  von  „nicht  selten  den  Migräneanfall 
begleitender  Verwirrtheit,  in  welcher  die  Kranken  sagen,  sie  seien  wirr 
im  Kopf,  die  Gedanken  liefen  ihnen  durcheinander,  sie  wüssten  nicht, 
was  sie  wollen,  dabei  zuweilen  verkehrte  Antworten  geben  oder  gar 
nicht  antworten." 

In  seiner  Erfahrung  verzeichnet  Möbius  auch  einen  Fall,  in  welchem 
die  Migräne  jedes  Mal  mit  plötzlich  eintretender  Angst  ohne  anderweitige 
Aura  einsetzte.  Er  verweist  auf  Liveing,  der  mehrere  solche  Anfälle 
beobachtet  hat,  ferner  solche  von  Gemüthsdepression,  die  während  des 
ganzen  Anfalls  fortbestand. 

Aehnliche  Klagen  hatte  ich  vielfach  auch  von  meinen  Kranken 
vernommen.  Bei  Manchen  bestand  eine  förmliche  psychische  Aura  im 
Sinne  von  „Aufgeregtheit,  Angst".  Einer  derselben  erklärte,  dass  er 
schon  Stunden  lang  vor  dem  Anfall  nervös  aufgeregt,  zappelig,  reizbar  sei. 

Es  lässt  sich  schwer  entscheiden,  ob  die  nur  elementaren  psychischen 
Functionsstörungen  in  solchen  Fällen  einfach  seelische  Reaction  des 
neuropathischen  Kranken  auf  die  zu  gewärtigende  oder  bereits  einge- 
tretene hemicranische  Krise  seien  oder  in  directer  organisch  ausgelöster 
Beziehung  zum  Symptomencomplex  der  Migräne  stehen. 

A  priori  ist  diese  Möglichkeit  Angesichts  des  Umstandes,  dass  die 
Migräne  eine  Hirnrindenaffection  sein  dürfte,  die,  entsprechend  ihrer 
Schwere  sich  mit  immer  weiter  reichenden  Symptomen  von  Hemmung 
oder  Reizung  von  Hirnrindengebieten  complicirt,  nicht  von  der  Hand 
zu  weisen.  In  meiner  bisherigen  Erfahrung  finde  ich  psychische,  über 
Elementares  hinausreichende  Störung  nur  in  Fällen  von  ophthalmischer 
oder  auch  mit  sensiblem  Jackson  sich  verbindender  Migräne. 

Es  ist  ganz  gut  möglich,  dass  es  bei  der  oder  durch  die  Veränderung, 
welche  während  des  Migräneanfalls  in  dem  Cortex  angenommen  werden 
muss,  auch  einmal  zu  einer  diffusen  Rindenstörung  im  Sinne  einer 
Psychose  komme,  zumal  da  die  Migränekranken  ja  durchwegs  belastete 


136  Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie. 

Persönlichkeiten  sind,  bei  welchen  abnorme  Anspruchsfähigkeit  des 
Centralorgans  und  abnorm  leichte  Irradiation  von  Reizvorgängen  zuge- 
geben werden  muss. 

Die  folgende  Beobachtung  ist  ein  Beleg  für  die  Berechtigung  zur 
obigen  Annahme. 

Beobachtung. 

Frau  N.,  55  Jahre,  Arbeitersfrau,  angeblich  früher  gesund,  ohne 
epileptische  oder  hysterische  Andecedentien,  sehr  gut  conservirt,  leidet 
seit  dem  Eintritt  ins  Kliniacterium  vor  11  Jahren,  an  ophthalmischer 
Migräne.  Sie  versichert,  dass  sie  niemals  früher  an  derlei  Anfällen 
gelitten  habe.  Ueber  die  Gesundheitsverhältnisse  der  früh  gestorbeneu 
Eltern  weiss  sie  nichts  zu  berichten. 

Ursprünglich  erkrankte  Patientin  an  linksseitiger  Augenmigräne.  Nach 
3  Jahren  erschien  die  in  ihrem  Wesen  gleiche  Affection  nur  mehr 
rechts.  Der  Anfall  wurde  besonders  leicht  durch  körperliche  Anstrengung 
provocirt.  Er  beginnt  mit  einem  schwarzen  senkrechten,  etwa  1  Finger 
breiten  Streifen  im  rechten  Sehfeld,  der  nach  etwa  10  Minuten  schwindet, 
recte  zu  einem  schwarzen,  das  ganze  rechte  Sehfeld  füllenden  Scotom  sich 
ausbreitet.  Nun  erscheinen  gelb  glänzende  Lichtbüschel  und  Sterne, 
die  */2 — 1  Stunde  andauern.  Patientin  kann  die  Dauer  dieses  Stadiums 
abkürzen,  wenn  sie  sich  rechtzeitig  niederlegt.  Bei  Schluss  der  Augen 
steigert  sich  das  Flimmerscotom.  Die  Sterne  werden  bald  grösser,  bald 
kleiner,  bis  sie  endlich  sich  immer  mehr  verkleinern  und  schwinden. 

Nun  setzt  heftiger,  bohrender,  drückender  rechter  Schläfenschmerz 
ein,  der  sich  nach  dem  rechten  Auge  zieht.  Zugleich  kommen  „Carri- 
caturen"  (Fratzen,  Statuen,  Pagoden,  die  in  beständiger  Bewegung  sind), 
die  etwa  10  Minuten  andauern.  Schliesst  Patientin  die  Augen,  so  dauern 
sie  gleichwohl  fort.  Wird  bloss  das  linke  Auge  geschlossen,  so  sieht 
sie  die  Figuren  im  dunklen  Sehfeld.  Gewöhnlich  erscheinen  dann  noch- 
mals die  goldglitzernden  Sterne  auf  kurze  Zeit. 

Unter  schwindendem  Scotom  und  Fortdauer  heftigen  Kopfschmerzes 
kommt  nun  das  „kuriose"  Stadium,  das  etwa  5  Minuten  dauert 
und  erst  seit  2  Jahren  besteht.  Patientin  fühlt  sich  während 
desselben  wie  sinnlos,  sie  kenne  sich  nicht  aus,  ihren  Mann 
nicht,  habe  ein  banges  Gefühl  drohenden  Irrsinns,  sei  ganz 
verwirrt,  bringe  kein  Wort  heraus  (Schilderung  amnestisch 
aphasischen  Zustands),  habe  das  Gefühl,  dass  sie  von  Jemand 
verfolgt  werde.  Sie  verliere  in  dieser  Episode  nicht  das  Be- 
wusstsein,  aber  der  Zustand  sei  entsetzlich  peinlich  durch 
das  Gefühl,  dass  der  Verstand  schwinde. 

An  diese  Episode  reihe  sich  Erbrechen.     Im  Kopf  werde  es  nun 


Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie.  13  f 

frei,  aber  der  Schmerz  ziehe  sich  regelmässig  in  Wange  und  Unterkiefer 
und  tobe  sich  da  aus.  Dieses  Ausklingen  der  Hemicranie  in  Gestalt 
einer  Neuralgie  des  2.  und  3.  rechten  Trigeminusgebiets  dauere  bis  zu 
2  Tagen  an. 

Ich  sah  Patientin  wiederholt  in  diesem  Stadium  und  fand  alle 
Gebiete  des  rechten  2.  und  3.  Trigeminus  höchst  druckempfindlich,  wäh- 
rend links  selbst  heftiger  Druck  schmerzlos  war. 

Die  genaueste  Untersuchung  der  Patientin  vermochte  keine  Symptome 
eines  organischen  Hirn-  oder  Rücken marksleidens  bei  diesem  tardiven 
Fall  von  Hemicrania  ophthalmica  aufzufinden.  Die  Untersuchung  mit 
dem  Augenspiegel  ergab  ein  negatives  Resultat. 

Unter  fortgesetzter  Behandlung  mit  Kai.  bromat.  4,0  Antipyrin  1,0 
pro  die  sind  die  Hemicranieanfälle  seit  mehr  als  12  Wochen  nicht  mehr 
wiedergekehrt. 

Solche  Fälle  sind  übrigens  auch  innerhalb  des  Rahmens  der  com- 
plicirten  Migräne  seltene  Vorkommnisse. 

Ihre  Seltenheit  angesichts  der  enormen  Häufigkeit  der  Migräne  lässt 
besondere  Dispositionen  und  eventuell  zufällige  Hilfsursachen  voraus- 
setzen, auf  Grund  welcher  es  zu  hemicranischer  Psychose  kommt. 

Bezüglich  der  letzteren  mögen  psychische  Traumen,  calorische 
Schädlichkeiten,  auch  Excesse  in  potu  eine  Rolle  spielen.  Hinsichtlich 
der  besonderen  Dispositionen  muss  an  die  klinische  Verwandtschaft  der 
ophthalmischen  Migräne  mit  der  Epilepsie  erinnert  werden. 

In  der  bisherigen  Litteratur  sind  nur  transitorische  Psychosen  im 
Zusammenhang  mit  einem  Migräneanfall  und  zwar  als  inter-  oder  post- 
hemicranischo  Erscheinungen  verzeichnet. 

Damit  erhebt  sich  die  wichtige  und  interessante  Frage,  ob  es  sich 
hier  um  eigenartige  Psychosen  im  Sinne  hemicranischer  Psychose 
handelt,  oder  ob  nicht  vielmehr  eine  larvirte  Epilepsie  (s.  o.)  im  Spiele 
ist,  der  psychische  Antheil  des  Krankheitsanfalls  somit  dieser  Neurose 
zukommt. 

Die  Entscheidung  dieser  Frage  ist  beim  gegenwärtigen  Standpunkt 
unseres  Wissens  eino  recht  schwierige,  denn  die  Bilder,  unter  welchen 
die  sogenannte  psychische  Epilepsie  auftritt,  sind  polymorph,  nocli  keines- 
wegs endgültig  festgestellt  und  möglicher  Weise  untrüglicher  Kenn- 
zeichen baar. 

Unter  allen  Umständen  scheint  es  mir  Angesichts  der  klinischen 
Verwandtschaft  der  Augenmigräne  und  der  Epilepsie  geboten,  erst  dann 
an  die  Existenz  einer  an  Hemicranie  ausschliesslich  gebundenen  transi- 
torischen  Psychose  zu  denken,  wenn  alle  Möglichkeiten  für  die  Annahme 
einer    epileptischen    Bedeutung    des    Falles    sich    als    nicht    stichhaltig 


138  Ueber  trausitorische  Ueistesstöruug  bei  Hemicrauie. 

erwiesen  haben.    Der  Zusammenhang  zwischen  hemicranischer  Psychose 
und  Epilepsie  kann  in  folgender  Weise  sich  darstellen. 

1.  Der  Kranke  leidet  an  (simpler)  Hemicranie  und  ausserdem  an 
Epilepsie. 

Der  hemicranische  Anfall  ist  blosser  Agent  provocateur  für  einen 
Anfall  der  Krampfkrankheit. 

2.  Beide  Neurosen  stehen  in  inniger  klinischer  Beziehung. 

Die  (ophthalmische)  Migräne  ist  nur  eine  symptomatische.  Sie  ver- 
tritt die  Stelle  eines  epileptischen  Insults  und  an  diesen  symptomatischen 
Migräneanfall  reiht  sich  eine  (postepileptische)  psychische  Störung 
{vgl.  p.  126).  Entspricht  diese  bekannten  Bildern  des  epileptischen  Irre- 
seins im  Sinne  des  petit  oder  grand  mal  oder  des  Stupor  u.  s.  w.,  so 
ergeben  sich  Anhaltspunkte  für  die  symptomatisch  epileptische  Bedeutung 
des  psychischen  Symptomenbilds;  ist  dies  nicht  der  Fall,  so  wird  bei 
unserer  Unsicherheit  der  Diagnostik  quoad  psychischer  Epilepsie  der 
Möglichkeit  einer  doch,  d.  h.  unabhängig  von  aller  Epilepsie,  existirenden 
hemicranischen  Psychose  der  Weg  gebahnt. 

Darüber  kann  nur  die  künftige  Forschung  entscheiden.  Wie  aus 
der  folgenden  Casuistik  hervorgehen  wird,  entsprechen  die  bisher  bekannt 
gewordenen  Bilder  von  peracuter  an  den  Migräneanfall  geknüpfter 
Psychose  nur  ausnahmsweise  den  uns  bekannten  und  doch  recht  häufig 
zu  beobachtenden  von  sogenannter  psychischer  Epilepsie  oder  psychischem 
Aequivalent  dieser  Neurose.  Im  Falle,  dass  es  gelänge,  jene  sämmtlicli 
auf  eine  epileptische  Grundlage  zurückzuführen,  müsste  immerhin  zu- 
gegeben werden,  dass  die  (symptomatische)  Migräne  offenbar  Einfluss  auf 
die  Gestaltung  dieser  psychischen  Bilder  gewinnt. 

Klinisch  muss  noch  an  die  Möglichkeit  gedacht  werden,  dass  auch 
die  Beziehungen  des  Psychoseanfalls  zur  Hemicranie  verschleiert  bleiben, 
insofern  diese  abortiv  bleibt  und  sich  nur  als  Migränescotom  äussert- 
Es  wäre  das  ein  Analogon  des  epileptischen  Insults  mit  visueller  Aura 
und  würde  meines  Erachtens  die  Diagnose  einer  transitorischen  Psychose 
zu  Gunsten  der  Annahme  eines  psychischen  Aequivalents  entschieden 
stützen,  sie  wohl  sichern,  wenn  das  Scotom  in  rother  Farbe  spielen 
würde.  Endlich  besteht  noch  die  Möglichkeit,  dass  die  an  Hemicranie 
sich  anschliessende  psychische  Störung  Aequivalent  oder  Theilbild  eines 
abortiv  gebliebenen  Hysteria  gravis- Anfalles,  der  unvollkommen  in  die 
Erscheinung  trat,  sein  kann  (vgl.  die  bezüglichen  p.  130  mitgetheilteu 
Beobachtungen). 

Sehen  wir  uns  in  der  bisherigen  Litteratur  nachpsycbischen  Störungen 
im  Zusammenhang  mit  Hemicranie  um,  so  sind  zunächst  Mingazzini's 
Arbeiten  in  Betracht  zu  ziehen. 


Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie.  139 

Der  genannte  Autor  veröffentlichte  in  der  Rivista  sperimentale  XIX, 
2,  3,  folgende  Fälle. 

1.  F.,  24  Jahre,  ledig,  Militär,  aus  schwer  belasteter  Familie,  vom  7. — 16.  Jahre 
Masturbant,  erlitt  mit  9  Jahren  eine  Kopfwunde  durch  Sturz. 

Vom  16.  Jahre  ab  Abusus  Coitus  und  passive  Fellatio.  Psychopathische  Minder- 
werthigkeit.  Anwandlungen  zu  Selbstmord.  Reizbarkeit,  Unverträglichkeit,  Insubordi- 
nationen, mehrfache  Bestrafungen.    Ethische  Defectuosität. 

Seit  einigen  Monaten  Anfälle  von  linker  Hemicrania  ophthahnica,  mit  Vision  eines 
schwarzen  Mannes,  der  drohend  auf  Patient  losgeht.  Im  Moment,  wo  F.  von  diesem 
an  der  Brust  oder  am  linken  Arm  gepackt  wird,  verliert  er  das  Bewusstsein  unter 
leichtem  Schrei  und  kurzem  Herumschlagen  mit  deu  Armen.  Einige  Augenblicke  später 
ist  F.  wieder  bei  sich,  empfindet  Torpor  und  Formication  in  der  linken  OE.,  die  sich 
dann  auf  die  linke  UE.  fortsetzt. 

Während  des  Anfalls  sind  die  Supraorbitalbögen  drucksehmerzhaft  und  ist  die 
linke  Stirn  wärmer  als  die  rechte.  Nur  für  die  Zeit  der  Bewusstlosigkeit  besteht  Amnesie. 

Auf  dem  linken  Os  frontis  findet  sich  eine  kleine  adhärente  Hautnarbe.  Als  Dauer- 
symptom constatirt  man  linke  Heinihyperästhesie.  Auf  beiden  Augen  wird  Grün  für 
Himmelblau  angesehen.    Auf  dem  linken  Auge  besteht  conr,  Sehfeldeinschränkung. 

2.  G. ,  31  Jahre,  verheirathet ,  stammt  aus  schwer  belasteter  Familie,  ist  Mastur- 
bator  strenuus.  Mit  9  Jahren  (1870)  begannen  Absencen,  die  bis  zu  einer  Viertelstunde 
dauerten  und  sich  alle  2  —  3  Monate  wiederholten.  Als  Aura  solcher  Anfälle  hörte  er 
Anfangs  r.  ein  Geräusch  gleich  dem  eines  heranrollenden  Bahnzugs.  Später  trat  an 
dessen  Stelle  ein  nur  leichtes  Bauschen  im  rechten  Ohr,  mit  sofort  folgender  Hemi- 
crania ophthalmica. 

Vom  16.  Jahr  ab  waren  die  Anfälle  von  Hemicranie  heftiger  geworden  und  gingeu 
mit  Torpor,  Parese  des  rechten  Arms  und  Mutismus  umher. 

In  einer  solchen  Anfallszeit  tödtete  Patient  im  Affect  die  Dienstgeberin  mit  mehr 
als  100  Messerstichen.  Darauf  ass  er  ruhig  und  legte  sich  schlafen.  In  die  Irrenanstalt 
gebracht,  bot  er  6  Monate  lang  einen  Dämmerzustand  mit  Amnesie. 

In  der  Folge  hatte  er  wiederholt  Anfälle  von  petit  mal  und  befand  sich  deshalb 
wiederholt  in  der  Irrenanstalt. 

Mit  25  Jahren  (1886)  bekam  er  den  ersten  klassischen  epileptischen  Insult,  der 
unter  dem  Einfluss  von  Alcoholexcessen  sich  häufig  wiederholte. 

Am  1.  December  1892  wurde  er  auf  der  Strasse  in  tiefem  Dämmerzustand  (ist 
Gott,  Kaiser,  will  nach  Amerika)  aufgegriffen.  Nach  2  Tagen  kam  er  zu  sich,  mit 
Amne3ie  für  das  Vorgefallene.  G.  ist  eine  psychisch  degenerative  Persönlichkeit,  ethisch 
defekt,  conträr  sexual. 

3.  V.,  34  Jahre,  ledig,  aus  einer  Säuferfamilie,  seit  dem  13.  Jahre  Masturbant. 
später  Potator,  befand  sich  1881  wegen  Alcoholismus,  1889  wegen  hallucinatorischer 
Melancholie  in  der  Irrenanstalt. 

Seit  1889  (31  Jahre)  litt  er  öfter  an  Anfällen  von  Hemicrania  ophthalmica  (linkes 
Auge)  in  der  Dauer  von  7 — 8  Minuten  mit  Ameisenkriechen  in  der  linken  OE.  und 
motorischer  Aphasie. 

Am  25.  August  1892  heftiger  Anfall  von  linker  Hemicrania  ophthalmica.  Unter 
Fortdauer  dieser  bis  27.  früh  verstimmt,  ruhelos,  Erbrechen,  schlechter  Schlaf  mit 
schweren  Träumen. 

Am  27.  früh  beginnt  ein  psychischer  Ausnahmszustand.  Er  geräth  in  eine  Kirche, 
fängt  an   zu  predigen,    über  die  katholische  Religion   und   die  Priester  zu  schimpfen 


]4(J  Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie. 

Er  sieht,  wie  ein  Madonnabild  ihn  tadelnd  ansieht,  beginnt  zu  schluchzen,  die  Madonna 
um  Schutz  anzuflehen.  Sofort  in  die  Irrenanstalt  gebracht,  kommt  er  zu  sich  und  ist 
amnestisch  für  alles  Vorgefallene. 

Plagio-submicrocephaler  Schädel  (Cf.  525).  Sensible  Anfälle.  Concentrische  Gesichts- 
feldeinschränkung. 

4.  0.,  34  Jahre,  von  trunksüchtigem  Vater,  periodisch  psychopathischer  Mutter,  hat 
einen  irrsinnigen  Bruder.  Seit  10  Jahren  hat  er  Anfälle  von  rechtsseitiger  „Cephalaea". 
Sie  dauert  24  Stunden,  kehrt  2 — 3  mal  monatlich  wieder.  Auf  der  Höhe  der  Anfälle 
trübt  sich  sein  Bewusstsein  und  bekommt  er  Antriebe  sich  umzubringen.  3  mal  hat 
er  dies  mit  Sublimat  versucht,  4 mal  sich  der  Polizei  wegen  Taedium  vitae  in  solchem 
Anfall  gestellt.  Seine  Erinnerung  für  die  Erlebnisse  in  solchem  Zustand  ist  eine 
summarische. 

In  einem  solchen  Anfall  kam  er  am  20.  December  1892  in  die  Irrenanstalt.  Auf 
dem  rechten  Parietalbein  eine  Hautnarbe.  Concentr.  Gesichtsfeldeinschränkung.  Kachi- 
tischer  Schädel. 

Die  vorausgehenden  Fälle  sind  der  Annahme  einer  besonderen  hemi- 
cranischen  transitorisehen  Psychose  nicht  günstig,  denn  sie  bieten  sowohl 
nach  der  psychischen  als  auch  der  somatischen  Symptomenreihe  epilep- 
tische und  hysterische  klinische  Zeichen.  Fall  2  ist  eine  zweifellose 
Epilepsie.  M.  erkennt  dies  selbst  in  der  Epikrise  seiner  Fälle  an  und 
wirft  die  Frage  auf,  ob  diese  Anfälle  von  transitorischer  Psychose  bei 
oder  nach  Hemicranie  nicht  psychische  Aequivalente  der  Epilepsie  seien. 

Gleichwohl  hält  er  die  Annahme  der  Existenz  einer  besonderen 
transitorisehen  hemicranischen  Psychose  fest  und  sucht  sie  damit  zu 
erklären,  dass  ein  dem  hemicranischen  Anfall  zu  Grunde  liegender 
vasospastischer  Zustand  der  Hirnrinde,  auf  weitere  Territorien  dieser 
irradiirend,  das  Zustandekommen  solcher  Psychose  bewirke. 

In  der  Rivista  sperimentale  XXI,  4,  berichtet  Mingazzini  zur  Stütze 
dieser  Anschauung  weitere  6  Fälle. 

5.  Soldat,  22  Jahre,  angeblich  unbelastet,  früher  an  Malaria  leidend.  Seit  dem 
IS.  Jahre  (1891)  frontale  persistirende  Cephalaea. 

1892  bei  Exacerbation  derselben  optische  Reizerscheinungen  (Sternchen  im  Seh- 
feld beider  Augen,  Flimmerscotora). 

1893  in  solchem  Anfall  schreckhaftes  hallucinatorisches  Delir  von  l  Tag  Dauer. 
Amnesie. 

Im  November  1894  in  neuerlichem  Anfall  von  Hemicrania  ophthalmica  aber- 
mals halluzinatorisches  Delir. 

Am  20.  Februar  1895  3.  Anfall  (wollte  sich  umbringen,  delirirte  1  Tag,  Amnesie), 
der  ihn  der  Irrenanstalt  zuführte. 

In  dieser  andauernd  leichter  Stirnkopfschmerz,  Emotivität,  Reizbarkeit.  Ab  und 
zu  leichter  Schwindel  mft  Verdunklung  des  Sehfelds,  aber  ohne  Bewusstseinstrübung. 
Andauernd  conc.  Sehfeldeinschränkung  auf  dem  recht'  n  Auge. 

6.  B.,  50  Jahre,  belastet,  wurde  nach  einer  Kränkung  im  Mai  1894  melancholisch. 
Zugleich  bekam  er  heftigen  Frontalschmerz  und  wurde  mit  Exacerbationen  des  Schmerz« 
von  Phosphenen  heimgesucht.  Vorübergehend  kam  es  sogar  zu  Visionen  von  Gestalten, 
allgemeinem  Tremor   und  Verlust   des  Bewusstseins.     Meist   fehlte    die  Correctur  flS 


ITeber  transitorische  Geistesstörung  bei  Heinicranie.  141 

diese  Hallueinationen.     Die  Beobachtung  ergab  r.  Hemihyperaesthesie  für  alle  Quali- 
täten, r.  Amyosthenie,  r.  fehlenden  Pharynxreflex. 

Nach  Am  Anfällen  fand  sich  eine  bedeutende  concentrische  Einengung  des  Gesichts- 
felds. R.  Verminderung  deB  Geruclis-  und  Gehörvermögens.  Intelligenz  mtakt.  Grosse 
Eraotivität.  Häufige  Wiederkehr  von  Cephalaeaanfällen  mit  schreckhaftem  hallucina- 
torischern  Delir,  dem  jeweils  Phosphene  vorausgingen.    Nach  Monaten  Genesung. 

7.  Mädchen,  20  Jahre,  unbelastet.  Vom  5.  — 17.  Jahr  häufige  Convulsioneu,  von 
da  ab  klassische  epileptische  Insulte. 

Mit  19  Jahren  beginnen  Anfälle  von  Hemicranie.  Wenn  diese  heftig  sind,  stellen 
sich  2 — 3  Stunden  nach  dem  Beginn  des  Kopfschmerzes  optische  iieuerscheinungen 
(Sterne)  ein.  Dann  erscheinen  Visionen  (Paradies,  Engel,  Mutter  Gottes)  neben  Hemi- 
anopsie der  Personen  der  Umgebung.  Oft  kommt  es  auch  zu  Erbrechen.  Patientin 
erkennt  ihre  Hallueinationen  als  solche. 

Kürzlich  Ausbruch  eines  hallucinatorischen  Delirs  (Hölle,  Flammen,  die  Patientin 
auf  der  Haut  spürt,  dazwischen  Visionen  der  Madonna,  Ecstase). 

In  solchem  wird  sie  in  der  Irrenanstalt  aufgenommen.  Sie  hat  massenhaft  Sensa- 
tionen, ganz  dieselben,  wie  sie  auch  als  Aura  ihrer  epileptischen  Anfälle  aufzutreten 
pflegen.  Sie  wähnt.  Thiere  im  Leib  zu  haben,  verlangt,  dass  man  ihr  den  Bauch  aul- 
schneide, ist  ängstlich,  weint,  schluchzt,  unter  heftigem  Kopfweh,  stundenlang.  Plötz- 
liche Lösung  des  Anfalls. 

Am  6.  März  1695  epileptischer  Anfall  unter  vorausgehenden  Sensationen  im  Leib, 
die  als  Thiere  interpretirt  werden. 

Am  7.  März  analoger  Anfall,  diesmal  mit  Globus  als  Aura.  Dann  automatische 
Handlungen,  Stupor.     Der  ganze  Anfall  dauert  nur  einige  Minuten. 

8.  Weib,  39  Jahre,  unbelastet,  nie  Couvulsiouen.  Mit  21  Jahren  Heiratli, 
3  Partus.  Seit  Jahren  Anfälle  von  leichter  Cephalaea.  Neuerlich  solche  Anfälle 
gehäuft,  heftig,  Schmerz  bilateral,  mit  Gefühl  von  Pulsiren. 

In  diesen  heftigen  Anfällen  Ausbruch  von  Delir  (Leute  dringen  ins  Zimmer,  um 
Patientin  umzubringen,  sie  hat  ein  Pteid  gekauft  und  ist  mit  demselben  auf  Bergen 
herumgeritten  etc.).  Im  Anfall  Trübsehen,  Lärm  in  den  Obren,  Hitzegefiihl  im  Gesicht. 
Plötzliche  Lösung  des  Anfalls.     Keine  Amnesie. 

Neuerlich,  in  einem  besonders  heftigen  Aufall  war  Patientin  2  —  3  Tage  lang 
ganz  verwirrt,  delirant,  schlaflos  gewesen. 

Ausser  rechter  Ovarie  nichts  Bemerkenswerthes.  Unter  Bromgebrauch  Besserung 
der  Hemicranie. 

9.  A.,  2(j  Jahre,  ledig.  Maurer,  kein  Potator,  vor  Jahren  luetisch  inficirt, 
1884  — 1885  3mal  wegen  Melancholie,  1885  — 1889  2mal  mit  unbekannter  Diaguose  iu 
der  Irrenanstalt  gewesen,  litt  seit  der  Kindheit  immer  häufiger  und  heftiger  an  Anfällen 
diffuser  Cephalaea  von  2  Stunden  bis  3  Tagen  Dauer,  mit  leichter  Verwirrung,  Phos- 
phenen (Lichter,  leuchtende  Zickzackerscheinungen)  bis  zuVisioneu  (schrceMi  ifto  Gestalten) 
und  Amnesie  für  die  Erlebnisse  des  Anfalls. 

In  der  Irrenanstalt  bot  A.  nach  3  derartige  Anfälle. 

Ausser  beidseitiger  Gesichtsfeldeinschränkung  nichts  Abnormes. 

10.  Frau  C.  '■>'  Jahre,  unbelastet,  hat  nie  geboren,  war  früher  gesund  bis  auf 
einige  Coliken.  Mai  1894  ohne  Ursache  heftiger  stechender  Schmerz  über  den  Augen, 
bald  darauf  Schwindelanfall.  Sie  bleibt  nun  wegen  heftiger  Cephalaea  in  Nacken  und 
Occiput  4  Monate  zu  Bett. 

Der  Schmerz  wird  nun  milder  und  exaeerbirt  nur  noch  episodisch  heftig. 
Januar  1895,    auf  der  Höhe  eines  solchen  Schmerzanfalls,   durch   einige  Minuten 


142  Ueber  transitorisehe  Geistesstörung  bei  Hemicranie. 

Lichterscheinungen  (Funken  Sterne),  aber  keine  Scotome.  Nur  1  mal  kam  es  anlässlich 
heftiger  Schmerzen  zu  Erbrechen.  Wiederholt  stellten  sich  auf  deren  Höhe  Visionen 
unheimlicher  Gestalten  ein,  jedoch  behielt  Patientin  Einsicht  für  das  Krankhafte 
dieser  Phänomene. 

Die  Lambdanaht  ist  druckschmerzhaft,  nicht  aber  der  Quintus.  Im  Anfall  besteht 
auch  Wirbelschmerz,  der  sich  bis  zum  Epigastrium  erstreckt  und  Nausea  auslöst. 
Zeichen  im  Sinne  einer  hysterischen  oder  epileptischen  Neurose  sind  nicht  auffindbar, 
wohl  aber  leicht  neurasthenische  Stigmata. 

Auch  diese  neuerliche  Serie  von  (6)  Fällen  lässt  die  Frage  nach 
einer  eigenartigen  hemicranischen  Psychose  recht  unentschieden.  In 
Fall  7  handelt  es  sich  bestimmt  um  epileptische  Phänomene;  in  8  und 
10  scheint  mir  die  hemicranische  Bedeutung  der  Fälle  nicht  sicher 
gestellt,  im  10.  eher  eine  Cephalaea  neurasthenia  anzunehmen.  In 
5,  6,  7  sind  hysterische  Stigmata  vorhanden  und  Beziehungen  der 
psychischen  Phänomene  zu  Hysterie  nicht  von  der  Hand  zu  weisen. 

Verf.  erkennt  selbst  an,  dass  in  seinen  Fällen  Symptome  von  Hysterie, 
Neurasthenie  und  epileptoide  Erscheinungen  mit  unterlaufen ,  glaubt  sich 
aber  gleichwohl  berechtigt,  eine  ,,Disfrenia  emicranica  transitoria"  anzu- 
nehmen, die  er  auf  Arteriospasmus  der  Hirnrinde  zurückführt,  reflec- 
torisch  bedingt  durch  die  gereizten  sensiblen  Nerven  der  Dura. 

Er  weist  darauf  hin,  dass  in  seiner  Casuistik  der  Kopfschmerz 
immer  diffus,  bilateral  war,  meist  mit  ophtha] mischen  Erscheinungen 
(bilaterale  Phosphene,  einigemal  auch  Scotome)  verbunden,  dass  hier 
der  Kopfschmerz  den  optischen  Phaenomenen,  im  Gegensatz  zu  gewöhn- 
lichen Fällen  von  (ophthalraischer)  Migräne,  voraufgeht.  Er  fand,  dass 
die  Photopsien,  gleichwie  die  sich  daraus  entwickelnden  Gesichtshallu- 
cinationen,  dem  Intensitätsgrad  des  Kopfschmerzes  parallel  gingen  und 
hält  als  typisch  für  seine  Fälle  von  „Disfrenia  emicranica"  das  etappen- 
weise Auftreten  von  Schmerz,  Phosphenen,  Hallucinationen,  Entwick- 
lung von  hallucinatorischem  Delir  auf  der  Höhe  des  Schmerzanfalls. 

Aus  der  sonstigen  Literatur  sind  zu  erwähnen: 

11.  Sciamanna,  Nevrosi  emicraniche,  Atti  delF  XI.  Congresso  med. 
internaz.  IV.  Band,  1895. 

Briefträger  von  32  Jahren.  Seit  Jahren  Anfälle  von  „Cephalaea".  Im  Verlauf 
eines  besonders  heftigen  Anfalls  Zustand  von  Verwirrtheit.  Später  2  weitere  Anfälle, 
im  letzten  tobsüchtige  Aufregung.  Während  der  ganzen  Dauer  der  Cephalaea  (circa 
12  Stunden)  waren  dem  manischen  Insult  Ameisenkriechen  und  aphasische|  Sprech- 
störung voraufgegangen.  In  der  Folge  noch  einige  mildere  Anfälle  von  Cephalaea  ohne 
psychopathische  Begleiterscheinungen. 

12.  Zacher,  Berliner  klin.  Wochenschrift.     1892.    28. 

B.,  17  Jahre,  hereditär  schwer  belastet,  von  migränöser  Mutter,  Convulsionen  in 
der  Kindheit.  Vom  14.  Jahre  ab  eine  Zeitlang  Somnambulismus.  Seit  Jahren  Migräne. 
Bei  heftigen  Migräneanfällen,  die  häufig  mit  Augensymptomen  (hellglänzender,  in  ver- 


Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemieranie.  143 

Bchiedenen  Farben  spielender  Kreis  vor  dem  linken  Auge,  allmälig  grösser  werdend 
und  dann  schwindend  oder  auch  Zittern  und  Vibriren  der  Gegenstände  auf  deren  linker 
Hälfte)  sich  einleiteten,  seit  dem  16.  Jahr  im  Verlauf  oder  im  Anschluss  an  Migräne- 
anfälle bis  mehrstündige  Zustände  geistiger  Störung  (getrübtes  Bewusstsein,  Verwirrt- 
heit, grosse  Reizbarkeit,  bis  zu  Gewaltthätigkeit,  episodisch  schreckhafte  Gesichts- 
hallucinationen),  die  mit  Schlaf  sich  lösten  und  Amnesie  hinterlies3en.  Nur  heftige 
und  fast  ausschliesslich  ophthalmische  Migräneanfälle  lösten  sie  aus. 

Brombehandlung  machte  beiderlei  Anfälle  allmälig  schwinden.  Z.  bezeichnet  seinen 
Fall  ausdrücklich  als  einen  solchen  von  „Migräne  ophthalmique  mit  transitorischer  epi- 
leptoider  Geistesstörung",  will  ihn  aber  doch  nicht  schlechtweg  mit  Epilepsie  identi- 
ficiren  und  fasst  ihn  auf  als  „auf  dem  Boden  der  hemicranischen  Constitution  ent- 
standene transitorische  Psychose  analog  den  postepileptischen  Anfällen". 

13.  Löwenfeld,  neurolog.  Centralblatt,  1882,  p.  268. 

Frau,  27  Jahre,  seit  der  Kindheit  Hemicranie,  früher  geistig  normal,  körperlich 
gesund,  Mutter  von  4  Kindern,  bekam  am  3.  Februar  1889  mitten  aus  vollem  Wohl- 
sein morgens  9  Uhr  Sehstörung  (Schleierscotom)  bis  zur  Unfähigkeit  Gegenstände  zu 
erkennen,  dann  heftigen,  den  ganzen  Kopf  einnehmenden  Schmerz,  dann  Erbrechen  und 
weiter  Gesichtshallucinationen  (Mehrzahl  von  Personen  im  Zimmer).  Um  12  Uhr  kommt 
der  Mann  heim  und  sieht  sich  veranlasst,  sofort  nach  dem  Arzt  zu  schicken.  L.  findet 
bei  seinem  Besuch  um  12'/2  Patientin  collabirt,  blass  im  sonst  blühenden  Gesicht,  mit 
jedoch  gerötheter  Conjunctiva.  Sie  ist  fieberlos,  spricht  verworren,  verwechselt,  ver- 
kennt die  Personen,  äussert  Kopfschmerz,  ist  aber  eher  heiterer  Stimmung.  Mit 
Zunahme  der  Verwirrung  stellt  sich  amnestisch  -atactische  Aphasie  ein.  Bei  Ver- 
suchen sich  aufzusetzen,  Erbrechen.  Die  Verwirrung  schwindet  circa  3  Uhr  Nach- 
mittags.   Der  Kopfschmerz  dauert,  immer  mehr  abnehmend,  bis  zum  6.  Februar  an. 

Complete  Amnesie  für  die  Dauer  der  psychischen  Störung. 

Patientin  hatte  bisher  nie  einen  solchen  psychischen  Anfall  zur  Zeit  ihres  Migräne- 
insults gehabt.  Epilepsie  und  Hysterie  erscheinen  ausgeschlossen.  Ob  Patientin  schon 
früher  an  der  ophthalmischen  Form  der  Migräne  litt,  geht  aus  der  Beobachtung  nicht 
hervor. 

L.  versucht  die  Psychose  als  „Aequivalent  des  Hemicranieanfalls  (entsprechend  dem 
psychischen  Aequivalent  des  epileptischen  Anfalls")  zu  deuten. 

14.  Brackmann,  „Migräne  und  Psychose",  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  53, 
p.  556. 

S.,  Kaufmann,  26  Jahre,  ledig,  erblich  schwer  belastet  (Mutter  u.  A.  mit  schwerer 
Migräne  behaftet),  schwächlich,  begabt;  lebhaft,  aufgeregt,  seit  früher  Jugend  an  Diabetes 
insipidus  und  Cephalaea  leidend,  ohne  epileptische  oder  hysterische  Zeichen,  hat  mit 
9  Jahren  eine  Commotio  cerebri  ohne  erkennbare  Folgen  erlitten.  Seit  dem  15.  Jahre 
typische  Migräneanfälle  ohne  Augensymptome.  Nach  gemüthlicher  Alteration  Dämmer- 
zustand. Dann  Psychose  (Gehörstäuschungen  und  Verfolgungsdelirien)  von  l1/«  Jahren 
Dauer.  In  der  Beconvalescenz  etwa  8  mal  im  Verlauf  von  Migräneanfa'len  deliranter 
Zustand  von  1/i  —  l/a  Stunden,  in  Schlaf  übergehend  und  Amnesie  hinterlassend.  Inhalt 
der  Delirien  schreckhaft  („jetzt  kommen  sie  und  wollen  mich  todt  machen;  die  Eltern 
sind  hier  und  haben  Euch  Geld  gegeben,  Ihr  sollt  mich  todt  machen")  oder  um  Tages- 
erlebnisse harmloser  Art  sich  drehend.  Nach  5  monatlichem  Wohlbefinden  neuerlich 
schwere  Migräneanfälle,  Dämmerzustand  mit  Amnesie  vom  20.  Februar  bis  7.  März  1895, 
daran  anschliessend  bis  18.  März  schreckhaftes  hallucinatorisches  Delirium.  In  der 
Folge  bis  auf  Reizbarkeit  ohne  Symptome.   Juni  1895  begannen  wieder  einfache  Migräne- 


144  Ueber  transitorisehe  Geistesstörung  bei  Hemicranie. 

anfalle.  Beim  Scbliessen  des  Auges  der  kranken  Seite  zuweilen  ParbenempfinduDgeii 
im  Sehfeld  desselben.  Neuerlich  im  Anschluss  an  solche  Migräneanfälle  bis  zu  3  Tagen 
•lauernde  Anfälle  von  psychischer  Verstimmung,  mit  Hören  von  höhnenden  Stimmen 
und  Ideen  der  Beeinträchtigung  von  Seiten  bestimmter  Personen.  Die  Erinnerung  an 
diese  Zustände  nicht  getrübt. 

Nie  hisher  epileptische  oder  epileptoide  Anfälle. 

Verf.  hält  es  für  möglich,  dass  diese  transitorischen  Zustände  psychischer  Störung:, 
die  er  nicht  als  epileptische  anzuerkennen  vermag,  dadurch  zu  Stande  kommen,  dass 
Anfälle  gewöhnlicher  Migräne  hei  dem  schwer  belasteten  und  durch  Commotio  cerebri 
noch  weniger  Widerstandsfähigen  genügten,  um  jene  auszulösen. 

In  „Feestbundel  der  Nederlaudsche  Yereeniging  voor  Psychiatrie1, 
s 'Hertogenbosch  1896  berichtet  Buringh  Boekhoudt  über  angebliche 
psychische  Migräneäquiralente. 

a)  X. ,  42  Jahre,  Gelehrter,  Mutter  migrüneleidend.  Patient  hat  seit  dem  5.  Jahr 
Augenmigräne.  Mit  31  Jahren,  unter  dem  Einfluss  sitzender  geistig  angestrengter 
Lebensweise,  kamen  neurasthenische  Beschwerden,  Atonie  von  Magen  und  Darm  mit 
erleichternden  Kuctus.  Episodische  Zustände  von  Ermattung,  die  in  Halbschlaf  mit 
.i  btraum  übergehen  un>l  aus  denen  Patient  momentan  zeitlich  und  örtlich  desorientirt, 
quasi  schlaftrunken  langsam  zu  sich  kommt.  Diese  Zustände  regelmässig  nach  der 
Mahlzeit,  von  Müdigkeit  im  Hinterkopf  eingeleitet,  ohne  alle  Beziehung  zu  Hemicranie- 
anfällen.  Seit  Eintritt  dieser  neurasthenischen  Beschwerden  und  einer  entsprechenden 
Kur  dagegen,  fast  gänzliches  Zurücktreten  der  Migräne. 

Verf.  deutet  die  Intestinal-  und  Halbschlafzustände  („Traumzustände")  als  Aequi- 
valente  der  Hemicranie  und  bezieht  sich  bezüglich  ersterer  auf  einen  von  Bary  (neurolog. 
Centralblatt  1895,  (j)  mitgotheilten  Fall ,  in  welchem  (ebenso  unberechtigt)  Anfälle  von 
epigastralem  Schmerz,  die  episodisch  eine  simple,  seit  der  Kindheit  bestehende  Migräne 
verdrängen ,  als  Aequivalente  solcher  aufgefasst  werden. 

h)  0.,  cand.  med.,  23  Jahre,  seit  früher  Jugend  simple  Migräne,  an  welcher 
auch  die  Mutter  litt. 

Seit  1  Monat  zeitweise  momentane  Verwirrtheit  und  Desorientirtheit ,  ohne  be- 
gleitende Migräne,  ferner  elementare,  die  Migräneanfälle  complicirende  psychische  Er- 
scheinungen im  Sinne  von  Verstimmung  und  Streitsucht. 

Auch  hier  spricht  Arerf.  von  „Traumzuständen u  und  ist  geneigt,  sie  als  Migräne- 
äquivalente  anzunehmen.  Da  die  Krankengeschichte  höchst  aphoristisch  gehalten  ist, 
wird  eine  nähere  Deutung  jener  Bewusstseinsstörungen  unmöglich. 

e)  Kaufmann,  2(3  Jahre,  Mutter  mit  Cephalaea,  Patient  seit  dem  6.  Jahr  mit 
Hemicrania  simplex  behaftet,  seit  der  Jugend  Masturbant.  Mit  23  Jahren  erschreckt 
durch  die  Bemerkung  eines  Bekannten,  dass  Masturbation  frühes  Senium  bedinge.  Im 
Anschluss  mehrtägiger  Angstzustand  mit  Furcht  vor  Senium  praecox,  Depression  und 
Selbstanklagen.  Diese  Anfälle  lehren  aller  paar  Wochen  wieder  und  schwinden  auf 
Kaltwasserkur.  Während  dieser  Episode  zeigten  sich  die  Migräneantälle  nur  spurweise. 
Weil  die  dysthymischen  Zustände  (scheinbar)  an  deren  Stelle  treten,  hält  Verf.  auch 
sie  für  Migräneäquivalente! 

Dies  sind  alle  Erfahrungen,  welche  ich  in  der  Literatur  aufzufinden 
vermochte.  Ich  wende  mich  zu  den  von  mir  selbst  gesammelten  Beob- 
achtungen. 


Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie.  145 

Beobachtung  15.*) 

M.,  18  Jahre  alt,  Lehrling  in  einer  Hutfabrik,  gelangte  am  7.  Fe- 
bruar 1895  auf  der  psychiatrischen  Klinik  des  allgemeinen  Kranken- 
hauses in  Wien  durch  Intervention  der  Sicherheitsbehörde  zur  Aufnahme 
Er  hatte  am  7.  früh  Morgens,  auf  der  Strasse  umherirrend,  einen  Sicher- 
beitswachmann  um  Schutz  vor  den  Menschen  und  vor  ihn  verfolgenden 
Geistern  gebeten. 

Auf's  Polizeicommissariat  gebracht,  erschien  er  ängstlich,  gehemmt, 
sah  böse,  verfolgende  Menschen,  hörte  beständig  seinen  Vornamen 
„August"  rufen.  Er  wusste  nur  anzugeben,  dass  er  so  heisse,  sonst 
hatte  er  Alles  vergessen,  selbst  den  Familiennamen.  Bei  der  Aufnahme 
am  Vormittag  des  7.  auf  der  Klinik  ist  er  ängstlich,  gehemmt,  im  Be- 
wusstsein  schwer  gestört.  Er  vermuthet,  aus  Oesterreich  zu  sein,  glaubt 
sich  in  einer  Kanzlei,  hat  5  — |-  5  =  9,  später  =  11  Finger. 

Er  versteht  ganz  einfache  Fragen  nicht,  weiss  z.  B.  nicht,  was 
„Profession",  „Religion",  nach  denen  er  gefragt  wird,  bedeutet  Er  kennt 
die  Geldmünzen  des  Alltagsverkehrs  nicht,  weiss  sie  ihrem  Werth  nach 
nicht  zu  unterscheiden.  Seine  Vita  anteacta  vermag  er  nicht  zu  repro- 
duciren,  er  ist  aber  auch  ganz  interesselos  für  die  Gegenwart,  für  die 
Umgebung,  sucht  sich  nicht  zu  orientiren,  lebt  nur  im  Augenblick, 
apathisch,  still,  äusserungs-  und  bewegungsunlustig.  Am  Nachmittag  des 
7.  erscheint  er  ein  wenig  freier,  aber  er  bleibt  desorientirt,  ohne  Zeit- 
mass.  Die  meisten  Perceptionen  erheben  sich  nicht  bis  zur  Stufe  der 
Apperception.  Viele  Begriffe  mangeln,  andere  sind  höchst  vag.  TJrtheil, 
Kritik,  erlerntes  Wissen  (z.  B.  Rechnen)  liegen  ganz  darnieder.  Selbst 
das  mechanische  Gedächtniss  ist  schwer  geschädigt  (Patient  zählt  die  Monate 
und  die  Wochentage  lückenhaft  und  in  ganz  verkehrter  Reihenfolge  auf). 

Erinnerungen  sind  aber  leicht  wachzurufen,  ebenso  Associationen, 
wenn  man  ihm  das  Stück  einer  Gedankenreihe  oder  eines  Satzes  giebt. 

Er  weiss,  dass  er  „walken"  musste,  vermag  aber  sein  Gewerbe  nicht 
zu  benennen.     Als  man  es  ihm  nennt,  agnoscirt  er  es. 

Oft  zuckt  er  zusammen,  indem  er  sich  plötzlich  „August"  rufen  hört. 
Seine  Geliebte  ruft  ihn.  Er  fragt  plötzlich,  ob  er  ihr  schreiben  dürfe, 
und  schreibt  dann  ohne  Mühe  correct  folgenden  Brief: 

„Geehrtes  Fräulein!  Ich  ersuche  Sie  freundlich,  mir  Aufklärung 
darüber  zu  verschaffen,  warum  Sie  immerwährend  mich  beim  Namen 
rufen;  es  berührt  mich  nämlich  dies  schmerzlich.  Sie  sind  ein  zu  ernst- 
haftes Mädchen,  als  dass  Sie  mit  mir  einen  so  grausamen  Scherz  treiben 
könnten.     Deshalb  ersuche  ich  Sie  inständig  um  Aufklärung  darüber. 

Ihr  ergebener  AM" 

*)  Aus  „Wiener  kliu.  Rundschau''  1895,  40. 

Krafft-Ebing,  Arbeiten  IV.  10 


146  Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie. 

Patient  ist  von  kräftigem  Wuchs.  Schädelumfang  53  cm,  steiler 
Gaumen.  Geringer  Grad  von  Anämie,  Puls  80,  Temperatur  normal, 
Urin  eiweiss-  und  zuckerfrei,  vegetative  Organe  befundlos.  Klagen  über 
stechenden  Stirnkopfschmerz ;  Pupillen  übermittelweit,  gleich,  etwas  träge 
reagirend.  Tiefe  Reflexe  normal,  keine  Stigmata  Hysteriae  aut  Neur- 
astheniae.     Der  Kopf  ist  weder  percussions-  noch  druckempfindlich. 

Im  Laufe  des  7.  dämmern  M.  einige  Erinnerungen  auf.  Er  weiss 
nun,  dass  er  am  Vortag  Abends  „heim  ging".  Da  kam  ihm  ein  Haufe 
mit  Stöcken  und  Säbeln  bewaffneter  Menschen  entgegen  und  ging  auf 
ihn  los.  Er  floh  durch  viele  Strassen,  erinnert  sich,  dass  er  die  Ring- 
strasse, den  Votivkirchenplatz  passirte,  überall  von  dem  Haufen  bedroht 
und  verfolgt.  Er  floh  über  den  Ring  zurück,  irrte  Stunden  lang  umher, 
bis  er  den  Wachmann  um  Schutz  bat. 

Von  da  an  hat  er  nur  ganz  summarische  Erinnerung  an  Herren  in 
einem  erleuchteten  Zimmer  (Polizeicommissariat),  Wagenfahrt  (nach  dem 
Spital),  Zimmer,  in  welchem  ein  Herr  schrieb  (Spital).  In  der  Nacht 
auf  den  8.  schläft  er  unruhig  einige  Stunden. 

8.  Februar.  Unverändert.  Einige  Erinnerungen  vom  Vortag  haften, 
aber  sie  werden  falsch  in  der  Vergangenheit,  um  Tage  zurück,  localisirt. 
Patient  hält  die  anderen  Patienten  für  Geister,  glaubt  sich  selbst  im 
Geisterreiche,  todt,  weiss  aber  nicht,  wann  er  gestorben.  Er  hört  sich 
noch  immer  beim  Namen  rufen,  bleibt  erschöpft,  ruhebedürftig.  Er  ist 
partiell  seelenblind,  erkennt  z.  B.  einen  vorgezeigten  Metallknopf  nicht, 
sofort  aber,  als  man  durch  Aussprechen  des  Namens  das  acustische  Er- 
innerungsbild weckt. 

Nach  der  ärztlichen  Morgenvisite  schreibt  M.  an  seine  Mutter  mit 
richtiger  Adressangabe: 

„Liebste  Mutter!  Ich  bitte  Sie  inständig,  besuchen  Sie  mich  sobald 
als  möglich,  da  ich  mich  sehr  einsam  fühle  und  ich  sehr  melancholisch 
bin.  Es  ist  wohl  schon  sehr  lange  her,  dass  ich  Sie  nicht  gesehen  habe. 
Ich  weiss  nicht,  wo  ich  mich  gegenwärtig  befinde,  auch  leide  ich  an 
heftigen  Kopfschmerzen. 

Ihr  dankbarer  Sohn 

A." 

Nachmittags  kommt  seine  Mutter  zu  kurzem  Besuch.  Er  ist  erfreut, 
sie  zu  sehen,  aber  auffällig  gehemmt  und  nach  den  Angaben  der  Mutter 
ganz  anders  als  in  gesunden  Tagen.  Diese  weiss  zur  Erklärung  des 
Zustandes  nichts  beizutragen. 

9.  Februar.  Patient  hat  die  Nacht  über  gut  geschlafen.  Seine  Miene 
ist  heute  etwas  freier.  Er  äussert  keine  Klagen  über  Stirnkopfschmerz. 
Des  Besuches  der  Mutter   am   Vortag   erinnert    er    sich    nicht.     Er  ist 


Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie.  147 

wesentlich  in  demselben  psychischen  Status  wie  gestern,  unorientirt  über 
Zeit  und  Raum,  geistig  gehemmt  his  zur  partiellen  Worttaubheit,  Seelen- 
blindheit, hallucinirend. 

In  dieser  Verfassung  wird  Patient  als  Fall  von  transitorischer 
Geistesstörung  in  der  Klinik  vorgestellt,  unbekannt  auf  welcher  neuro- 
tischen Grundlage,  mit  dem  Hinweis  auf  die  Aehnlichkeiten,  aber  auch 
Verschiedenheiten,  welche  der  Zustand  gegenüber  gewissen  Bildern 
transitorischer  Psychose  auf  Grund  neurasthenischer  und  epileptischer 
Neurose  biete. 

Bis  zum  10.  Februar  ändert  sich  am  Bilde  nichts.  An  diesem  Tage, 
Nachmittags  4  Uhr,  löst  sich  plötzlich  der  traumhafte  Ausnahmszustand. 
Patient  ist  mimisch  frei,  vollkommen  orientirt  und  geordnet  Er  hat 
summarische  Erinnerung  für  die  wirklichen  und  delirirten  Vorkommnisse 
vom  6.  bis  10.  Februar.  All'  das  stehe  ihm  wie  ein  Traum  in  der  Er- 
innerung. Bis  zum  10.,  Nachmittags,  habe  er  sich  noch  immer  „August" 
rufen  gehört.    Das  sei  natürlich  eine  Illusion  gewesen. 

Interessant  gestaltete  sich  bei  dem  in  der  folgenden  Beobachtung 
sich  ganz  normal  erweisenden  und  von  Recidive  verschonten  M.  die 
Feststellung  der  Vita  prämorbida  und  der  einleitenden  Symptome  seines 
Anfalls.  Explorat  stammt  von  einer  Mutter,  die  vom  18.  bis  zum 
36.  Jahre  an  häufigen  anfallsweisen,  halbseitigen  Kopfschmerzen  mit 
Uebelkeit,  aber  ohne  Aura  litt.  Deren  Mutter  litt  an  Migräneanfällen 
mit  jeweiligem  Erbrechen. 

M.  hat  als  kleines  Kind  an  Rachitis  gelitten  und  Convulsionen 
gehabt;  er  war  schwächlich,  lernte  erst  mit  6  Jahren  gehen,  war  geistig 
gut  begabt,  Vorzugsschüler,  nie  schwer  krank  gewesen,  von  etwas  jäh- 
zornigem Temperament.  Nach  wiederholt  aufgenommener  Anamnese 
sind  bisher  bei  M.  Erscheinungen  einer  neurasthenischen,  epileptischen 
oder  hysterischen  Neurose  nie  beobachtet  worden.  Dagegen  leidet  er 
seit  der  Kindheit  an  anfallsweisem,  heftigem,  auf  Stirn  und  in  beiden  Augen 
localisirtem  Kopfweh,  dem  häufig  Flimmerscotom  vorausgeht.  Nie  komme 
es  aber  bei  diesen  Migräneanfällen,  die,  sobald  er  schlafen  könne,  sofort 
schwinden,  zu  Uebelkeit  oder  Erbrechen,  Parästhesie,  Hemianopsie.  Diese 
Anfälle  sind  in  ihrer  Intensität  ziemlich  gleich,  von  ganz  unregelmässiger 
Wiederkehr.  Seit  einigen  Jahren  sei  der  Anfall  immer  von  Flimmerscotom 
als  Aura  durch  etwa  3  Minuten  eingeleitet;  dasselbe  spiele  in  allen 
Farben  des  Regenbogens,  jedoch  sei  die  violette  Farbe  prävalent. 

Seit  l'/g  Jahren  war  Patient  in  einer  Hutfabrik  als  Lehrling.  Er 
war  daselbst  in  keiner  Weise  angestrengt  gewesen,  aber  er  war  unzu- 
frieden in  seiner  Stellung,  wünschte  schon  lange  eine  Aenderung,  hatte 
sich   endlich,   wobei  er  sich  gemüthlich  sehr  erregte,  entschlossen,  den 

10* 


148  Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Heraicranie. 

Posten  aufzugeben,  am  4.  Februar  einen  Abschiedsbrief  an  den  Herrn 
geschrieben  und  vom  5.  ab  sich  bei  einem  Freund  auf  Besuch  befunden, 
dem  M.  heiter  und  ganz  wie  sonst  vorgekommen  war.  Am  6.  Februar 
gegen  Abend  merkte  M.  an  dem  Auftreten  von  Scotoma  scintillans  die 
Wiederkehr  eines  Migräneanfalls,  der  auch  bald  in  ungewöhnlich  heftiger 
Weise  sich  einstellte.  Aus  diesem  Grunde  zog  er  es  vor,  zur  Mutter 
heimzugehen.  Etwa  eine  halbe  Stunde  nach  Auftreten  der  Aura  dürfte 
das  hallucinatorische  Delir  eingesetzt  haben. 

Leider  kann  M.  nicht  bestimmt  angeben,  wann  er  seine  Migräne- 
schmerzen los  wurde.  Bestimmt  lässt  sich  nur  sagen,  dass  er  am  8. 
Nachmittags  noch  über  solche  klagte.  Der  Anfall  transitorischer  Geistes- 
störung, welcher  einen  ungewöhnlichen,  weil  abnorm  starken,  lange  an- 
dauernden, durch  Schlaf  wie  sonst  sich  nicht  lösenden  Migräneanfall 
begleitete,  überdauerte  also  diesen  um  etwa  36  Stunden.  Als  ich  den 
Fall  publicirte,  schrieb  ich:  „ich  glaube  berechtigt  zu  sein,  einen  klini- 
schen Zusammenhang  zwischen  den  beiden  Symptomengruppen  des 
Migräne-  und  des  psychischen  Insultes  anzunehmen.  Am  naheliegendsten 
ist  die  Deutung  im  Sinne  der  Fortentwickelung  einer  umschriebenen 
Störung  in  der  Function  der  Hirnrinde  (Migräne)  zu  einer  diffusen 
(Psychose)  unter  allerdings  ausnahmsweise  bestehenden  besonderen  Be- 
dingungen. (Patient,  der  seither  von  Psychose  verschont  blieb,  ver- 
sicherte, dass  er  früher  niemals  anlässlich  seiner  häufigen  Migräneanfälle 
psychisch  irgendwie  leidend  gewesen  sei.) 

Erweist  sich  meine  Annahme  stichhaltig,  so  gäbe  es  eine  migränische, 
transitorische  Geistesstörung,  gleichwie  wir  eine  neurasthenische,  epilep- 
tische, hysterische  kennen." 

Bald  nach  der  Entlassung  des  Patienten  stellten  sich  täglich  2  bis 
3  Mal,  selbst  mitten  im  Gespräch,  Schlafanfälle  ein,  die  etwa  eine  Viertel- 
stunde dauerten  und  angeblich  jeweils  von  Migräne  eingeleitet  waren. 
Nach  etwa  14  Tagen  gesellten  sich,  während  Patient  in  diesem  Schlaf- 
anfall war,  allgemeine  tonisch -cloniscbe  Krämpfe  von  mehreren  Minuten 
Dauer  hinzu,  der  Beschreibung  nach  epileptische.  Die  Dauer  der  Schlaf- 
anfälle dehnte  sich  auf  etwa  1  Stunde  aus. 

Patient  wurde  moros,  reizbar,  beschuldigte  grundlos  seine  Mutter, 
sie  sei  ihm  schlecht  gesinnt,  weil  er  sich  nichts  verdienen  könne. 

Seit  August  1895  Aufhören  dieser  Anfälle,  wie  auch  der  hemicra- 
nischen  Erscheinungen.    Patient  trat  nun  einen  Dienst  als  Schreiber  an. 

Am  7.  März  1896  hatte  er  einen  Verdruss  mit  seinem  Vorgesetzten 
gehabt.  Nachmittags  5  Uhr  war  er  noch  ganz  wohl  und  unauffällig  bei 
einer  befreundeten  Familie  gewesen.   Von  da  ab  ging  seine  Spur  verloren. 

In  der  Nacht  zum  9.  März  wurde  Patient  aufs  Polizeicommissariat 


Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie.  149 

gebracht,  weil  er,  in  den  Strassen  umher  irrend,  einen  Wachmann  um 
Schutz  vor  imaginären  Verfolgern  gebeten  hatte. 

In  der  Klinik  wurde  er  in  tiefem  Dämmerzustand  aufgenommen. 
Er  war  ganz  desorientirt,  in  sich  versunken,  körperlich  und  psychisch 
erschöpft,  schreckte  auf,  wenn  man  an  ihn  das  Wort  richtete,  faselte  von 
Menschen,  die  ihn  bedroht  hätten,  gab  sonst  richtige,  aber  spärliche 
Auskünfte,  glaubte  andauernd,  es  sei  der  7.  März,  klagte  über  diffusen 
Stirnkopfschmerz,  lag  ruhig  im  Bette,  schlafbedürftig,  fieberlos,  mit  weiten 
Pupillen  und  blassem  Gesicht.  Gesichtsfeld  nicht  eingeschränkt,  Trige- 
minus  nirgends  druckempfindlich.  Am  10.  März  Abends  kommt  Patient 
rasch  zu  sich. 

Er  hat  summarische  Erinnerung  dafür,  dass  er  am  7.,  als  er  hörte, 
dass  seine  Mutter  um  ihn  besorgt  sei  (er  hatte  in  letzter  Zeit  Lebens- 
überdruss  geäussert)  heim  wollte,  auf  dem  Heimweg  Kopfweh  bekam, 
ängstlich,  verwirrt  wurde,  herumdämmerte,  im  Gedanken,  sich  zu  retten, 
mit  der  Bahn  fortfuhr.  Thatsächlich  fuhr  Patient  nach  W.-Neustadt, 
übernachtete  im  Freien,  brachte  am  8.  Vormittags,  weil  ihn  fror,  mehrere 
Stunden  daselbst  in  einer  Kirche  zu.  Darauf  fragte  er  einen  Mann,  wo 
er  sei,  erfuhr,  dass  er  10  Stunden  von  Wien  entfernt  sei.  Er  war  er- 
staunt, beschloss,  da  er  kein  Geld  hatte,  zu  Fuss  nach  Wien  zu  gehen. 
Unterwegs  hörte  er  grossen  Lärm,  sah  in  weiter  Entfernung  einen 
Haufen  von  mit  Stöcken  und  Säbeln  bewaffneten  Menschen  auf  ihn  los- 
stürzen und  ihm  zurufen  „wir  werden  Dich  erstechen'1.  Er  floh,  gelangte 
endlich  nach  Wien,  dämmerte  den  9.  Tags  über  in  den  Strassen  herum, 
sah  immer  noch  ab  und  zu  in  gleicher  Entfernung  Verfolger  und  bat 
endlich  einen  Wachmann  um  Schutz. 

Patient  bot  seit  dem  10.  März  Abends  keine  psychopathischen 
Symptome  mehr  und  wurde  nach  einigen  Tagen  entlassen. 

Beobachtung  16. 

Kr.,  J.,  46  Jahre,  Geschäftsmann,  kam  laut  Angabe  des  Polizei- 
commissariats  am  15.  Januar  1896  Morgens  in  die  Aufnahmskanzlei  des 
allgemeinen  Krankenhauses  in  Wien  und  verlangte,  man  solle  ihm  einen 
grossen  Stein,  den  er  im  Kopfe  habe,  entfernen,  da  er  vorher  nichts 
essen  könne. 

Aufs  Commissariat  gewiesen,  wiederholte  er  diese  Angabe,  erschien 
sehr  niedergeschlagen  und  verwirrt.  So  äusserte  er  u.  A.,  er  sei  300  Jahre 
alt,  im  gelobten  Lande  geboren,  wo  er  die  Bekanntschaft  mehrerer 
Heiligen  gemacht  habe.  Während  der  polizeiärztlichen  Exploration  setzte 
er  sich  einen  Lampenschirm  als  Hut  auf  den  Kopf,  um  auf  einen  Lall 
zu  gehen  u.  s.  w. 

Am  15.  Januar  Abends  auf  der  Klinik   aufgenommen,  erscheint  er 


150  Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Heraicranie. 

moros,  einsilbig,  zeitlich  und  örtlich  ganz  desorientirt,  faselt  von  einem 
Stein  im  Kopf,  den  man  da  (Stirngegend)  entfernen  müsse.  Er  giebt 
an,  an  dieser  Stelle  heftigen  Kopfschmerz  zu  haben.  Druck  und  Per- 
cussion  sind  daselbst  nicht  empfindlich,  Temperatur,  vegetative  Functionen 
normal.  Patient  schläft  etwas  in  der  Nacht  zum  16.,  klagt  neuerdings 
über  Schmerz  und  Stein  im  Kopf,  bleibt  Tags  über  ruhig,  apathisch,  ver- 
wirrt zu  Bett,  behauptet,  er  habe  Heilige  gesehen,  u.  A.  den  heiligen 
Petrus,  ganz  weiss  gekleidet. 

Abends  9  Uhr  kommt  Patient  aus  diesem  dämmerhaften  Zustand 
zu  sich  und  orientirt  sich  mit  Hilfe  des  Wärters  über  die  Situation. 

Am  17.  früh  findet  man  ihn  geistig  vollkommen  klar. 

Er  weiss  nichts  von  allen  Vorkommnissen  während  seines  psychi- 
schen Ausnahmszustandes. 

Kr.  berichtet  von  ab  und  zu  vorkommenden  Anfällen  von  rechtsseitigem 
Kopfschmerz,  die  bis  zu  2  Tagen  dauern.  Sie  beginnen  mit  schwarzen 
Flecken  im  Gesichtsfeld,  die  mit  dem  Auftreten  des  Schmerzes  schwinden. 
Er  leide  während  dieser  Anfälle  an  optischer  und  acustischer  Hyper- 
ästhesie, habe  Uebelkeit,  Brechreiz,  ohne  dass  es  jedoch  zum  Erbrechen 
komme.    Dabei  sei  er  arbeitsfähig,  aber  vergesslich  und  schlafe  schlecht. 

Solche  Anfälle,  an  denen  auch  sein  Vater  gelitten  habe,  kehren  alle 
paar  Monate  wieder,  besonders  nach  Potus,  dem  er  aber  nicht  übermässig 
huldige. 

Patient  ist  die  folgenden  Beobachtungstage  ganz  geordnet,  frei  von 
Kopfschmerz. 

Im  Status  praesens  sind  weder  Zeichen  von  Alcoholismus  noch  von 
Neurasthenie  aufzufinden.  Auch  die  Nachforschung  nach  epileptischen 
oder  hysterischen  Antecedentien  fällt  negativ  aus. 

Patient  hat  vor  4  Jahren  einen  Sturz  auf  den  Kopf  erlitten  und 
eine  ca.  2  cm  lange,  leicht  verschiebbare  Narbe  am  rechten  Arcus 
superciliaris  zurückbehalten,  aber  diese  Narbe  ist  nicht  druckempfindlich 
und  nach  seiner  Angabe  niemals  der  Ausgangspunkt  seiner  Kopf- 
schmerzen. Der  Augenspiegelbefund  ergiebt  beiderseits  leichte  Neuritis 
optica.  Im  Uebrigen  ist  an  dem  kräftigen  Manne  nichts  Pathologisches 
«ufzufinden.  Dem  psychischen  Ausnahmszustand  war  Genuss  mehrerer 
Viertel  Wein  am  14.  Abends  vorausgegangen.  Am  frühen  Morgen  des 
15.  war  Kr.  mit  rechtsseitigem  Kopfweh  erwacht.  Genesen  entlassen  am 
18.  Januar  1896. 

Beobachtung  17. 

St.  M.,  Wittwe,  36  Jahre,  Handarbeiterin,  wurde  am  30.  Mai  1896 
Nachts  108/4  als  irrsinnsverdächtig  von  einem  Wachmann  aufs  Commis- 
sariat  gebracht.     Derselbe  hatte  sie  auf  einem  Platz  vor  der  G.-Kirche 


Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie.  151 

sitzend  getroffen,  wo  sie  angeblich  ihren  (verstorbenen)  Gatten  erwartete, 
der  ihr  versprochen  habe,  sie  um  12  Uhr  früh  abzuholen.  Auf  dem 
Commissariat  wurde  sie  unruhig,  rief  nach  ihrem  Philipp,  der  ihr  gesagt 
habe,  er  werde  sie  mit  dem  Kinde  abholen.  Sie  habe  ihren  1891  ver- 
storbenen Mann  gebeten,  zu  ihr  zu  kommen,  da  alle  Welt  sie  als  Diebin 
bezeichne  und  auf  sie  mit  den  Fingern  deute.  Sie  besitze  noch  eine 
13jährige  Tochter,  die  sich  auf  ihrer  Villa  befinde.  Sie  selbst  sei  in 
einem  Hotel  als  Stubenmädchen  bedienstet.  Im  Uebrigen  sind  von  der 
ganz  desorientirten  Patientin  keine  präcisen  Auskünfte  zu  erlangen.  Sie 
ist  in  fortwährender  Aufregung,  rauft  sich  die  Haare  aus  und  erwartet 
mit  grösster  Ungeduld  ihren  Philipp. 

Auf  der  Klinik  am  31.  Mai  aufgenommen,  ist  sie  schwer  verwirrt, 
glaubt  sich  im  Hotel,  in  welchem  sie  bisher  bedienstet  war,  klagt  über 
heftiges  Kopfweh,  erwartet  angstvoll  ihren  Philipp  und  weint,  weil  er 
noch  nicht  kommt. 

Die  Personen  der  Umgebung  werden  als  Hotelbedienstete  verkannt. 
Patientin  giebt  ihr  Alter  auf  48  Jahre  an,  glaubt  sich  im  April  1880. 
Sie  klagt,  dass  man  allseitig  sie  für  eine  Diebin  halte. 

Patientin  ist  afebril,  das  rechte  Os  temporale  und  der  angrenzende 
Theil  des  Os  parietale  höchst  druckschmerzhaft  und  der  Sitz  spontaner 
Schmerzen. 

Nach  einer  Morphiuminjection  schläft  Patientin  einige  Stunden,  wird 
freier,  weiss  nichts  von  allem  Vorgefallenen,  bis  auf  Kopfschmerzen, 
orientirt  sich,  bleibt  aber  moros,  über  Kopfweh  klagend,  zeitlich  unklar. 
Am  2.  Juni  Menses. 

Am  3.  Juni,  unter  neuerlichem  heftigem  Kopfschmerz  wieder  ganz 
unorientirt  und  delirant.  Sie  jammert  wieder  nach  ihrem  Mann,  der  viel 
zu  lange  ausbleibe,  giebt  gleichzeitig  zu,  Wittwe  zu  sein,  ohne  einen 
Widerspruch  darin  zu  finden.  Dabei  Klagen,  dass  man  sie  ungerecht 
für  eine  Diebin  erklärt  habe. 

Am  5.  Juni  wird  Patientin  lucid.  Sie  erzählt,  dass  sie  schon  oft 
solche  Anfälle  von  Kopfweh  gehabt  habe,  aber  nie  so  heftig.  Es  beginne 
mit  Flimmerscotom  auf  dem  rechten  Auge,  dann  komme  rechtsseitiger 
Kopfschmerz,  Uebelkeit. 

Ihre  Hemicranie  habe  mit  19  Jahren  tempore  primae  rnenstruationis 
begonnen. 

Ueber  ihre  Familie  und  etwaige  familiäre  Disposition  vermag  Patientin 
nur  zu  berichten,  dass  die  Schwester  an  Migräne  leide,  ihre  Tochter 
nervös  und  eine  Cousine  epileptisch  sei.  Die  Heftigkeit  des  diesmaligen 
Anfalls  von  Migräne  motivirt  sie  mit  einer  schweren  Gemüthsbewegung. 
Sie  wurde  nämlich  im  Hotel,  wo  sie  bedienstet  war,  am  22.  Mai  eines 


152  Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie. 

Diebstahls  beschuldigt,  ihre  Effecten  in  Gegenwart  eines  Polizisten  durch- 
sucht. Sie  hatte  sich  sehr  über  diesen  Vorfall  aufgeregt.  Nachdem  sie 
am  23.  Mai  ein  Verhör  bei  der  Polizei  zu  bestehen  gehabt  hatte,  war  ein 
aussergewöhnlich  heftiger  Anfall  von  ophthalmischer  Migräne  aufgetreten 
mit  mehrstündiger  Amnesie.  Seither  hatte  bei  ihr  ein  Status  hemicranicus 
bestanden,  mit  täglichen  Exacerbationen,  begleitender  psychischer  Störung 
und  auch  für  die  Remissionszeiten  nicht  lückenloser  Erinnerung. 

Vom  26.  Mai  erinnert  sich  Patientin,  dass  sie  ganz  verstört  über 
die  ihr  angethane  Kränkung  war,  dass  sie  die  Absicht  hatte,  das  Grab 
ihres  Gatten  zu  besuchen,  um  sich  dort  auszuweinen,  aber  vor  Kopf- 
schmerz und  Flimmern  vor  dem  Auge  auf  halbem  Wege  umkehren 
musste. 

Am  27.  und  28  war  sie  etwas  freier  im  Kopf,  trug  sich  mit  Gedanken, 
eine  andere  Stelle  zu  suchen.  Vom  29.  und  30.  weiss  sie  nur  wenig 
zu  berichten,  u.  A.  von  ihrem  Kummer  als  Diebin  zu  gelten,  von 
heftiger  Migräne.  Bezüglich  der  Tage  vom  30.  Mai  bis  5.  Juni  fehlt 
jegliche  Erinnerung.  Ihr  Lucidwerden  trat  ziemlich  plötzlich  ein  und 
fiel  zeitlich  fast  zusammen  mit  der  Mittheilung  ihrer  sie  besuchenden 
Cousine,  der  Dieb  sei  eruirt  und  sie  selbst  sei  wieder  unbescholten. 

Frau  St.  blieb  bis  auf  einen  leichten  Migräneanfall,  nach  Gemüths- 
bewegung  entstanden  am  10.  Juni,  ganz  wohl.  Die  genaueste  Anamnese 
und  Untersuchung  vermochte  weder  hysterische  noch  epileptische  Zeichen 
aufzuweisen. 

Am  30.  Juli  1896  wurde  Patientin  zum  zweiten  Male  der  psychia- 
trischen Klinik  zugesendet.  Der  polizeiärztliche  Bericht  enthielt  nur  die 
Notiz,  dass  die  Patientin  sehr  aufgeregt  sei,  nach  ihrer  „Burg"  wolle 
und  ihre  sämmtlichen  Diener  um  sich  zu  haben  verlange. 

Bei  der  Aufnahme  auf  der  Klinik  ist  sie  desorientirt,  verwirrt, 
delirant,  faselt  von  ihrer  Burg,  grossem  Besitz,  glaubt  sich  dazwischen 
in  einem  Krankenhause,  sei  daselbst  aufgenommen  wegen  heftigem  Kopf- 
weh. Die  ihr  von  früherem  Aufenthalt  bekannten  Räume  und  Personen 
erkennt  sie  nicht.  Gesicht  sehr  blass.  Die  ganze  rechte  Gesichts-  und 
Kopfhälfte  sehr  druckempfindlich.  In  der  Nacht  zum  31.  etwas  Schlaf. 
Am  31.  Mai  um  5  Uhr,  unter  Aufhören  des  Kopfwehs,  kommt  Patientin 
plötzlich  zu  sich,  ist  sofort  orientirt,  berichtet,  dass  sie  seit  27.  Juli 
beschwerdelos  menstruirte,  am  30.  früh  mit  ihrer  Migräne  erwachte, 
mühsam  ihren  Geschäften  nachging,  mehrmals  erbrach.  Um  circa  9^  Uhr 
begann  der  psychische  Ausnahmszustand,  für  dessen  Dauer  bis  zum 
31.  Nachmittags  Patientin  vollkommen  amnestisch  ist.  Der  Migräne- 
anfall sei  diesmal  ungewöhnlich  heftig  quoad  Schmerz  gewesen.  Sie 
schreibt  dies  der  grossen  Sommerhitze  und  der  Arbeit  in  der  dumpfen, 


Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie.  153 

heissen  Küche  zu.  Der  vorletzte  Anfall  von  ophthalmischer  Migräne 
vom  12.  — 13.  Juli  war  ohne  alle  psychische  Störung  abgelaufen. 

Patientin  erhielt  bei  der  diesmaligen  Entlassung  (3.  August)  den 
Rath,  praemenstrual  5.0  Kai.  Brom,  pro  die  und  bei  drohendem  Anfall 
1.0  Phenacetin  zu  nehmen. 

Beobachtung  18. 

H.  Th.,  21  Jahre,  Bauersfrau,  stammt  von  einer  Mutter,  die  viel 
an  Cephalaea  gelitten  hat.  Nervenkrankheiten,  speciell  Epilepsie  und 
Hemicranie  sind  in  der  Familie  nicht  vorgekommen.  Patientin  war 
früher  gesund,  menstruirte  vor  Jahren  zum  ersten  Mal  ohne  Beschwerden, 
seither  regelmässig,  heirathete  vor  einem  halben  Jahre.  2  Monate  vor- 
her erkrankte  sie  an  heftigen  Kopfschmerzanfällen,  die  sich  seither  etwa 
alle  14  Tage  wiederholten. 

Eingeleitet  wird  der  Anfall  jedesmal  von  Aengstlichkeit  und  Bangig- 
keit. Dann  kommen  stechende  Kopfschmerzen  über  beiden  Augen.  Diese 
Schmerzen  sind  nun  das  Hauptsymptom  während  der  2tägigen  Dauer 
des  Anfalls. 

Episodisch  sieht  Patientin  graue  glänzende  Wolken  vor  den  Augen. 
Diese  Erscheinung  wiederholt  sich  mehrmals  während  der  Zeit  des  An- 
falls und  fällt  mit  Exacerbation  der  Schmerzen  zusammen  (Status  hemi- 
craniae  ophthalmicae?). 

Patientin  fühlt  sich  sehr  unwohl  im  Anfall,  klagt  über  heftiges 
Kältegefühl  in  Händen  und  Füssen,  hat  grosses  Ruhe-  und  Schlaf- 
bedürfnis«, erträgt  nicht  Licht  noch  Geräusch  und  bleibt  am  liebsten 
allein  im  dunklen  Zimmer.  Sie  schläft  wohl  auch  bei  Tage  ein,  empfindet 
flüchtige  Erleichterung  davon.  Zu  Erbrechen  kam  es  nur  einmal.  Seit 
einiger  Zeit  sind  diese  Anfälle  heftiger  geworden,  gehen  mit  Bangigkeit 
einher  und  dauern  bis  zu  4  Tagen.  Die  beiden  letzten  Anfälle  Ende 
Juli  und  11.  — 14.  August  waren  besonders  schwer. 

Sie  gingen  mit  psychischer  Störung  einher,  die  nach  1  —  2  tägiger 
Dauer  der  Kopfschmerzen  einsetzte  und  weitere  2  Tage  andauerte. 
Patientin  wurde  ganz  verwirrt,  gab  verkehrte  Antworten,  lachte  und 
weinte  ganz  unmotivirt.  Sie  wollte  immer  davon  gehen  und  konnte  nur 
mit  Gewalt  davon  abgehalten  werden.  Die  Erinnerung  war  für  diesen 
Zeitraum  eine  ganz  summarische. 

Patientin  behauptet,  seit  Beginn  ihrer  Krankheit  vergesslich  geworden 
zu  sein.  Auch  käme  es  vor,  dass  sie  etwas  sage  oder  thue,  von  dem 
sie  hinterher  nichts  wisse.  Petit  mal-artige  Zustände  haben  aber  die 
Angehörigen  nicht  beobachtet,  auch  fehlen  alle  Anhaltspunkte  für  die 
Annahme  einer  epileptischen  oder  hysterischen  Neurose.  Patientin  ver- 
weilte zur  Beobachtung  vom   17.  —  28.  August  1896   auf  meiner  Klinik. 


154  Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Heinicranie. 

Intelligente  Frau,  normaler  Schädel,  Centralnervensystem  und  vege- 
tative Organe  ohne  Befund. 

Bedeutende  Druckempfindlichkeit  des  1.  linken  und  des  1.  und  2. 
rechten  Trigeminusastes. 

Am  17.  August  durch  1  Stunde  heftige  stechende  Stirnkopfschmerzen. 

Am  19.  August  Menses. 

In  der  kurzen  Zeit  der  Beobachtung  war  kein  weiterer  Anfall  ein- 
getreten. 

Beobachtung  19. 

Herr  F.,  48  Jahre,  Kaufmann,  stammt  aus  sehr  nervöser  Familie, 
in  der  jedoch  Migräne  und  Epilepsie  bisher  nicht  vorgekommen  sein 
sollen.  Patient  war  von  entschieden  neuropathischer  Constitution,  seit 
der  Jugend  beruflich  angestrengt,  seit  etwa  6  Jahren  deutlich  neur- 
asthenisch.  Epileptische  und  hysterische  Antecedentien  fehlen  durchaus. 
Schwere  Krankheiten  hat  Patient  nie  durchzumachen  gehabt,  speciell 
nicht  Lues.  Seit  etwa  5  Jahren  hat  Patient  zeitweise,  besonders  nach 
beruflicher  Anstrengung  oder  Emotionen,  Anfälle  von  heftigem  halb- 
seitigem Kopfschmerz,  die  Morgens  früh  beim  Erwachen  einsetzen  und 
bis  Nachmittags  dauern.  Häufig,  aber  nicht  immer,  geht  ihnen  das 
Gefühl  voraus,  als  ob  ein  Schleier  vor  dem  rechten  Auge  sich  befinde. 
Nie  kommt  es  zu  Flimmerscotom.  Das  anfallsweise  Auftreten  eines 
Schleiers  vor  dem  rechten  Auge  erfolgt  häufiger,  ohne  dass  ein  Anfall 
von  Kopfweh  erfolgte.  In  diesem  besteht  Anorexie,  leichte  TJebelkeit, 
jedoch  kam  es  nie  zu  Erbrechen.  Seit  2  Jahren,  wohl  veranlasst  durch 
Sorgen  über  schlechten  Geschäftsgang,  sind  die  Anfälle  heftiger  und 
häufiger  geworden. 

Als  Patient  seiner  neurasthenischen  Beschwerden  wegen  sich  ent- 
schloss,  blos  seiner  Gesundheit  auf  dem  Lande  zu  leben,  bleiben  jene 
aus.  So  oft  er  es  versuchte,  wieder  in  seinem  Berufe  thätig  zu  sein, 
kehrten  sie  wieder. 

Seit  dem  October  1893  haben  sich  zur  Zeit  solcher  Anfälle  wieder- 
holt Störungen  der  Geistesfunktion  gezeigt. 

Am  9.  Januar  1894  sah  ich  ihn  zum  ersten  Mal  in  einem  solchen 
Zustand.  Er  lag  zu  Bett,  war  blass  im  Gesicht,  afebril,  Puls  56.  Das 
Bewusstsein  war  schwer  gestört.  Auf  Ansprache  reagirte  Patient  nicht 
Er  klagte  über  heftigen  linksseitigen  Kopfschmerz.  Druck  in  der  Gegend 
des  linken  Schläfebeins  wurde  schmerzhaft  empfunden.  Einen  Eisumschlag 
appercipirte  er  als  steifen  Hut  und  wollte  sich  desselben  entledigen. 

Seine  Frau  gab  an,  der  Anfall  sei,  gleich  den  gewöhnlichen,  aus 
dem  Schlaf  heraus,  unter  Kopfweh  erfolgt.  Ihr  Mann  sinke  dann  plötz- 
lich zusammen,  wisse  nichts  mehr  von  sich  und  phantasire  dann  gleich. 


Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie.  155 

Sein  Delir  drehe  sich  um  schlechten  Geschäftsgang,  finanziellen  Eiün,  in  den 
er  verwickelt  sei.  Er  beklage  Frau  und  Kinder,  die  er  um  das  Vermögen 
gebracht  habe,  jammere  über  seinen  Kopfschmerz,  verlange  ins  Spital, 
aber  unentgeltlich,  da  er  nichts  mehr  habe,  sonst  müsse  er  sich  umbringen. 

Der  Anfall  dauere  so  gegen  8  Stunden,  endige  mit  Schlaf,  aus  dem 
Patient  mit  völliger  Amnesie  für  die  Vorgänge  in  der  deliranten  Zeit,  frei 
von  Kopfweh  erwache  und  bis  auf  eine  Sensation  von  „Hohlsein"  im  Kopf 
sich  wohl  fühle.    Intervallär  sei  er  ohne  Beschwerden,  falls  er  sich  schone. 

Am  9.  Februar  1894  hatte  ich  Gelegenheit,  einen  dem  früheren 
typisch  gleichen  Anfall  zu  beobachten.  Patient  jammerte  über  seinen 
Kopf,  war  auf  Druck  und  Percussion  höchst  empfindlich  in  der  linken 
Schläfegegend,  verlangte  stürmisch  ins  Spital,  sonst  geschehe  ein  Unglück, 
war  ganz  unorientirt  über  seine  Lage,  kannte  die  Umgebung  nicht, 
stöhnte  stundenlang  vor  sich  hin. 

Dieser  Anfall  soll  bis  zum  10.  Februar  Nachmittags  gedauert  und 
sich  plötzlich,  diesmal  ohne  Schlaf,  gelöst  haben. 

Für  die  Zeit  des  Anfalls  bestand  völlige  Amnesie. 

Intervallär  bot  Patient  bis  auf  leichte  neurasthenische  Beschwerden, 
nie  etwas  Pathologisches. 

Ich  gab  nun  3.5  Natr.  brom.  und  1.0  Antipyrin  pro  die  und  erfuhr  1895, 
dass  Patient,  der  von  der  Leitung  seines  Geschäftes  sich  zurückgezogen 
habe,  von  neuerlichen  Anfällen  seiner  Krankheit  verschont  geblieben  sei. 

Beobachtung  20. 

Am  13.  Mai  1895  erschien  in  meiner  Sprechstunde  ein  löjähriger 
Schüler  in  Begleitung  seiner  Mutter,  die,  gleichwie  ihr  Mann,  an  Migräne 
leidet.  Mit  11  Jahren  stellte  sich  auch  bei  dem  Sohn  das  Leiden  der 
Eltern  ein  und  zwar  zunächst  als  gewöhnliche  Hemicranie. 

Seit  6  Wochen  hat  sich  bei  ihm  die  Migräne  mit  Flimmerscotom 
vergesellschaftet  und  ist  ungewöhnlich  heftig  geworden.  Sie  stellt  sich 
alle  paar  Tage  ein,  dauert  aber  nur  etwa  P/a  Stunden. 

Gleich  mit  dem  ersten  Anfall  der  Migraine  ophthalmique,  die  nun 
auch  angeblich  mit  Hemiopie  einhergeht,  stellten  sich  ganz  sonderbare 
psychische  Reactionserscheinungen  ein.  Patient  ist,  solange  der  Anfall 
dauert,  wie  „toll",  es  ist  mit  ihm  „nicht  zu  verkehren" 

Er  „tobt  und  wüthet",  zerschlägt  und  zerreisst,  was  ihm  nur  in  die 
Hände  fällt,  stösst  sich  den  Kopf  an  die  "Wände,  bis  er  blutet,  beisst 
sich  in  die  Hand.  Für  das  im  Anfalle  Vorgekommene  besteht  voll- 
ständige Amnesie.  Patient  ist  ein  riesiger  Dolichocephalus,  der  Schädel 
deutlich  rachitisch.  Er  war  von  Kindsbeinen  auf  nervös,  reizbar,  jäh- 
zornig. Alle  Hinweise  auf  Epilepsie  fehlen  völlig.  Auch  in  der  Ascen- 
denz  und  Blutsverwandtschaft  giebt  es  keine  Epileptiker.   Die  Stirne  ist 


156  Ueber  transitoiisctae  Geistesstörung  bei  Hemicranie. 

contusionirt.  Mein  Rath,  den  Kranken  der  Klinik  zu  übergeben  behufs 
Feststellung  der  Diagnose,  wurde  acceptirt,  aber  nicht  befolgt.  Das 
psychische  Verhalten  dieses  degenerativen  Individuums  scheint  mir 
Reactionserscheinung  auf  den  Migräneschmerz,  aber  dieselbe  ist  ganz 
absonderlich    und  mindestens    als   pathologischer  Affect   zu   bezeichnen. 

Beobachtung  21. 

P.,  17  Jahre,  Conditorlehrling,  hat  einen  asymmetrischen,  submicro- 
cephalen  (53  cm)  rachitischen  Schädel. 

Muttersmutters  Schwester  endigte  durch  Suicidium.  Mutters  Schwester 
litt  seit  der  Kindheit  an  simpler  Migräne.  Seit  dem  Klimacterium  bekam 
sie  auf  der  Höhe  besonders  intensiver  Migräne  anfalle  solche  von  Bewußt- 
losigkeit ohne  Krämpfe,  in  der  Dauer  von  2  Stunden. 

Deren  Sohn  leidet  an  typischer  Migräne. 

Patient  selbst  war  gut  begabt,  hat  aber  seit  dem  15.  Jahr  alle 
8  —  14  Tage  Migräneanfälle,  beginnend  frühmorgens  beim  Erwachen  mit 
Drehschwindel  und  Erbrechen,  welche  Symptome  etwa  5  Minuten  dauern. 
Dann  kommt  acustische  Hyperaesthesie,  bifrontaler  stechender  Kopf- 
schmerz und  plötzliches  Kraftloswerden  beider  Oberextremitäten,  die 
gefühllos  werden  von  der  Peripherie  bis  zu  den  Schultern  herauf;  neigt 
Patient  den  Kopf  nach  vorwärts,  so  kommt  es  sofort  zu  Erbrechen. 
Gegen  Mittag  endigt  der  Anfall.     Intervallär  ist  Patient  ganz  wohl. 

Am  6.  Januar  1896  war  wieder  ein  solcher  Anfall  Mittags  vorüber. 

Am  7.  Januar  Abends  ertheilte  ihm  der  Geschäftsführer  einen  Ver- 
weis und  gab  ihm  einen  leichten  Schlag  auf  den  Hinterkopf.  Patient  war 
darüber  sehr  erregt,  empfand  einen  leichten  Druckschmerz  am  Hinter- 
kopf, aber  nicht  den  gewöhnlichen  Stirnkopfschmerz  des  Migräneanfalls. 
Er  legte  sich  bald  zu  Bett,  schlief  einige  Zeit  unruhig,  erwachte  in  der 
Nacht  zum  8.  Januar,  äusserte  lebhafte  Angst  vor  ihm  unbekannten 
Männern,  die  ihn  berauben,  erschlagen,  verbrennen  wollten. 

Auf  das  Commissariat  gebracht,  war  Patient  schreckhaft,  klagte  über 
Männer,  die  ihn  mit  Drohungen  obigen  Inhalts  verfolgen,  mit  Messern, 
Stangen  über  ihn  herfallen  wollen.  Er  wolle  die  Sache  der  Polizei  an- 
zeigen und  dann  recht  weit  hinein  nach  Italien  flüchten. 

Im  Spital  stat.  idem  bis  8.  Abends,  dann  plötzliche  Lösung  der 
Psychose  und  volle  Lucidität.  Patient  hat  summarische  Erinnerung  für 
seine  Krankheitserlebnisse  —  er  sah  Männer  in  drohender  Haltung,  die 
ihm  mittheilten,  sie  würden  ihn  erschlagen  und  verbrennen. 

Er  erinnert  sich  nur  dunkel  seiner  Verbringung  ins  Krankenhaus. 
Während  der  ganzen  Dauer  des  hallucinatorischen  Delirs  habe 
er  keinen  Kopfschmerz,  überhaupt  keine  Symptome  seines 
Migräneanfalls   gehabt.     Dieser  Anfall    von   Delir   sei   der  erste  in 


Ueber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie.  157 

seinem  Leben  gewesen.  An  Patient  sind  in  der  Folge  keine  Krankheits- 
symptome  zu  ermitteln.  Er  bot  keine  Stigmata  hysteriae,  auch  keine 
epileptische  Antecedentien  und  wurde  nach  wenigen  Tagen  entlassen. 

Auch  die  vorausgehende,  die  Beobachtungen  11 — 21  umfassende 
Casuistik  giebt  keine  Gewissheit,  dass  es  eine  eigene  Psychosis  transi- 
toria  hemicranica  giebt. 

Fall  11  möchte  ich  als  symptomatische  Hemicranie  (sensibler  Jackson!) 
mit  folgendem  postepileptischem  Aufregungszustand  ansprechen. 

Auch  12  (epilepsieverdächtige  anamnestische  Thatsachen  —  Con- 
vulsionen  in  der  Kindheit,  Somnambulismus)  ist  als  psychisch  epilep- 
tisches Aequivalent  deutbar. 

Fall  14  ist  durch  mehrmalige  Dämmerzustände  ebenfalls  epilepsie- 
verdächtig. Die  posthemicranischen  hallucinatorisch-deliranten  Zustände 
sind  von  zweierlei  Charakter,  die  einen  1/i —  '/2  Stunde  dauernd,  mit 
Amnesie,  die  anderen  3  Tage  während,  ohne  Erinnerungsdefekt.  Die 
ersteren  können  epileptische  Bedeutung  haben,  wobei  die  übrigens  simple 
Hemicranie  der  Agent  provocateur  gewesen  sein  könnte;  die  letzteren 
mögen  in  einer  Beziehung  zum  hemicranischen  Anfall  stellen,  in  der 
reaktiven  Weise,  wie  sie  Verf.  zu  erklären  sucht. 

Fall  15  glaube  ich  als  epileptisches  psychisches  Aequivalent  an- 
sprechen zu  dürfen,  zumal  da  die  Hemicranie  später  dem  psychischen 
Insult  gleichwerthige  Anfälle  von  epileptischer  Marke  (Schlafanfälle,  solche 
mit  Convulsionen,  Dämmerzustände  mit  Deambulatio  und  schreckhaften 
Gesichtshallucinationen )  auslöst. 

Ueberdies  sind  die  Hallucinationen  im  letzten  Anfall  dem  1.  an- 
scheinend hemicranischen  congruent. 

In  den  übrigen  Fällen  schwindet  die  klinische  Basis  der  epilep- 
tischen Neurose. 

Davon  könnte  Beobachtung  17  ein  blosses  Affectdelir  sein,  das  sich 
neben  einer  Hemicranie  praemenstrual  abspielte,  wenigstens  giebt  es 
genug  solcher  Fälle  ohne  hcmicranische  Complication. 

Im  2.  freilich  inhaltlich  (Grössendelir)  ganz  anders  gearteten  Anfall 
fehlen  alle  Beziehungen  zu  einem  Affect  und  ist  ein  möglicher  Zusammen- 
hang der  Psychose  mit  Hemicranie  nicht  auszuschliessen.*) 

*)  Während  des  Druckes  dieser  Arbeit  kam  Patientin  neuerlich  (23.  December  1896) 
zur  Aufnahme  auf  der  Klinik,  wesentlich  im  gleichen  Zustande  (transitorische  Geistes- 
störung und  Hemicranie)  wie  die  beiden  ersten  Male.  Diesmal  gelang  aber  der  Nach- 
weis einer  hysterischen  Neurose  (1.  Hemianaesthesie ,  1.  Ovarie,  1.  starke  concentr.  Seh- 
feldeinschränkung als  Dauersymptome,  r.  Ovarie,  r.  Hemihyperalgesie,  Clavus  tempor. 
insultus)  sodass  mögliche  Beziehungen  der  transitorischen  Psychose  zur  hysterischen 
Neurose  nicht  von  der  Hand  zu  weisen  sind,  zumal  da  eine  neuerlich  aufgenommene 
Anamnese  frühere  Lethargusanlälle  wahrscheinlich  macht. 


158  lieber  transitorische  Geistesstörung  bei  Hemicranie. 

Fall  19  (nihilistisches  Delir  auf  der  Höhe  hemicranischer  Anfälle) 
lässt  eine  Beziehung  zu  dieser  Neurose  zu.  Das  „Wie"  ist  frag- 
lich, möglicherweise  durch  den  körperlichen  Schmerz  provocirtes 
Affectdelir. 

Fall  20  gestattet  kaum  eine  andere  Deutung  als  die  einer  psychischen 
Reaction  auf  den  Schmerz  im  Sinne  eines  pathologischen  Affects. 

Fall  21  (simple  Hemicranie,  1  Tag  nach  deren  Ablauf,  im  Anschluss 
an  einen  Affect,  hallucinatorisches  schreckhaftes  Delir)  findet  seine  ein- 
fachste Erklärung  unter  der  Annahme  eines  Affectdelirs. 

Es  bleiben  als  unanfechtbare  Beispiele  von  mit  Migräne  und  zwar 
ophthalmischer  in  engen  klinischen  Zusammenhang  tretenden  Fällen  nur 
Beobachtung  13,  16,  18  übrig.  In  13  besteht  Verwirrtheit  mit  Gesichts- 
hallucinationen,  in  16  ein  Dämmerzustand  mit  religiösen  Delirien,  in 
18  Verwirrtheit. 

Daraus  lassen  sich  keine  sicheren  ätiologisch-klinischen  Schlüsse 
ziehen.  Die  Aehnlichkeit  mit  gewissen  psychisch  epileptischen  Bildern 
ist  nicht  zu  verkennen. 

Wäre  die  These  der  epileptischen  Bedeutung  der  ophthalmischen 
Hemicranie  (Fere)  erwiesen,  so  würden  auch  jene  Fälle  als  psychische 
Aequivalente  anzusprechen  sein. 


V. 
ZUR  „INTERMITTENS  LARVATA".*) 


*)  Wiener  med.  Presse.     1892.    1. 


Am  13.  Februar  1889  wurde  A.  S.,  Arbeiter  aus  Krain.  auf  die 
Grazer  Nervenklinik  wegen  angeblicher  Epilepsie  aufgenommen. 

Patient  ist  29  Jahre  alt,  unbelastet,  kein  Potator.  In  der  Jugend 
gesund,  keine  Fraisen.  Keine  epileptischen  Antecedentien.  Vor  5  Jahren 
Rheumatismus  articulor.  acutus  mit  Endocardilis  (restirende  Insuff.  valvul. 
mitralis).  Im  August  1886  erkrankte  Patient  in  Laibach  an  Febris  inter- 
mittens  (Tertiana).  Er  lag  3  Monate  deshalb  im  Spital,  bekam  vorüber- 
gehend Chinin.  Die  Anfälle  wurden  seltener  und  schwanden  gänzlich. 
Sie  waren  niemals  mit  Delirien  oder  epileptischen  Insulten  complicirt 
gewesen.  Er  blieb  gesund  bis  zum  Juni  1888.  Da  kehrte  das  Fieber 
wieder,  Anangs  nur  2  — 3  mal  im  Monat. 

In  einem  solchen  Fieberanfall  stürzte  er  in  einen  Canal  und  trug 
eine  leichte  Verletzung  am  r.  Processus  mastoideus  davon.  Seit  diesem 
Sturz  Abnahme  der  Sehkraft,  zeitweises  Flimmern  und  Schwarzwerden 
vor  den  Augen. 

Zwei  Tage  nach  dem  Sturz  (Ende  Juni  1888)  Anfall  von  bewusst- 
hisem  Hinstürzen.     Dauer  1  Minute.     Keine  Krämpfe. 

Nach  1  Monat  zweiter  ähnlicher  Anfall. 

Im  August  2  Anfälle. 

Im  September  Anfälle  fast  täglich  mit  postparoxysmalen  Dämmer- 
zuständen von  Minuten  bis  zwei  Stunden  Dauer.  Dabei  Delirien.  Patient 
sah  sich  in  einem  schönen  Garten,  sah  viele  Wägen,  mit  Schimmeln 
bespannt.  Patient  hatte  für  diese  Erlebnisse  des  Deliriums  nur  höchst 
summarische  Erinnerung. 

Seit  14  Tagen  will  er  täglich  neben  diesen  Anfällen  auch  an  solchen 
von  Fieber  gelitten  haben. 

Patient  geht  fieberlos  zu.  Er  ist  gross,  kräftig,  anämisch,  in  der 
Ernährung  reducirt. 

Schädel  normal.  Am  r.  Processus  mastoideus  eine  2  Cm.  lange, 
horizontale,  auf  Druck  nicht  schmerzende  Hautwunde,  mit  einem  kleinen 
hygromartigen  Gebilde.  Die  Anfälle  gehen  nie  auraartig  von  dieser 
Stelle  aus.  Gehirnnerven  normal.  Geringer  Grad  von  Amblyopie.  Seh- 
feld nicht  eingeengt.  Farbenempfindung  intact.  Augenspiegel  negativ. 
Sensibilität  normal.     Keine  Stigmata  hysteriae.     Milz  vergrössert.     Sonst 

K  r.i  ri  t  -K I.  i  ii  lt  .  Arbeiten  V.  U 


162  Zur  „Iutermittens  larvata". 

keine  vegetativen  Anomalien.  Urin  ohne  Albumin  und  Zucker.  Ord. 
5.0  Bromkali  pro  die. 

17.  Februar.  Patient  klagt  über  Frieren,  springt  aus  dem  Bette, 
stürzt  bewusstlos  zu  Boden,  bietet  einige  Minuten  clonische  Krämpfe 
in  allen  Extremitäten,  erscheint  dann  noch  eine  Weile  dämmerhaft. 

19.  Februar.  Heute  3  Anfälle  =  17,  hintereinander.  Darnach 
1  Stunde  delirant  (meint,  er  sei  auf  einem  Ball,  hört  schöne  Musik, 
wähnt  sich  dann  in  einer  Kirche,  betet.  Dann  schreckhaftes  Delirium  — 
verkriecht  sich  unter's  Bett). 

Temp.  im  Beginn  der  Anfälle  38.5,  Abends  39.7.  Milz  stark  geschwellt. 

21.  Februar.  Ohne  Aura  heute  5  Anfälle  mit  1/i  Stunde  Intervall 
nach  dem  3.  Anfall.  Im  Anschluss  an  den  5.  schreckhaftes  Delirium 
(Patient  schlägt  wie  wüthend  um  sich  und  bäumt  sich  auf  mit  stierem  Blick). 

Dann  kurzes  Stadium  mit  tonischer  Starre  der  Extremitäten  mit 
folgendem  schreckhaftem  Delirium  (Sichverkriechen  unter's  Bett),  aus 
welchem  Patient  rasch  zu  sich  kommt. 

28.  Februar.  Abortiver  Anfall  mit  folgendem  Delirium  (glaubt  sich 
bei  einer  Tanzmusik,  wird  dann  ängstlich,  sieht  sich  von  einer  Menge 
Menschen  verfolgt,  meint  in  einen  Abgrund  zu  stürzen). 

Keine  Temperaturerhöhung. 

3.  März.  Patient  wird  heute  plötzlich  bewusstlos,  stiert  vor  sich 
hin.  Darauf  blindes  Umsichschlagen,  Aufbäumen,  Hin-  und  Herschleudern 
des  Körpers.  Augen  geschlossen.  Ab  und  zu  Zähneknirschen.  Wird 
dann  ruhiger,  murmelt  vor  sich  hin,  delirirt  davon,  dass  er  Geld  gestohlen 
habe,  angezeigt  sei.  Er  glaubt  sich  in  einem  Gebüsch,  schreckt  plötz- 
lich vor  einem  Mann,  der  ihn  schlagen  will,  zurück.  Er  glaubt  sich 
in  Triest,  wird  allmälig  ruhig  und  lucid.  Solcher  Anfälle  werden  8  hinter- 
einander beobachtet.     Vor  dieser  Serie  klagt  er  über  Frösteln. 

Temp.  36.8.  Nach  den  Anfällen  39.0,  bis  Abends  auf  38.7  zurückgehend 

7.  März.  Heute  2  Anfälle,  Dauer  4  —  6  Minuten,  angeblich  mit 
völliger  Extremitätenstarre.     Temp.  38.0. 

8.  März.  Temp.  6  Uhr  früh  36.3.  Um  7  Uhr  2  Anfälle;  danach 
38.9.     Von  heute  an  täglich  0.3  Chinin. 

12.  März.  Temp.  7  Uhr  früh  37.9,  kurz  vor  Anfällen  gemessen, 
deren  4  von  7  —  8  Uhr  mit  Delirium  beobachtet  werden. 

Milz  vergrössert  (13.5  Cm.  lang,  12  breit),  Temp.  um  8  Uhr  früh 
39.7,  Nachmittags  4  Uhr  38.5,  Abends  36.7. 

15.  März.  Heute  aus  vollem  Wohlbefinden  Anfälle  von  2—5  Uhr 
Nachmittags.  Temp.  früh  36.6,  um  2  Uhr  37.5,  4  Uhr  39.5,  6  Uhr  38.2. 

Der  Anfall  beginnt  mit  Frösteln.  Nun  Verlust  des  Bewusstseins, 
Zähneknirschen,  allgemeine  tonische  Starre,  darauf  kurzes  Aufbäumen, 


Zur  „Intermittens  larvata"  163 

Opisthotonus,  Kissenbohren,  Pusten,  Blasen.  Bulbi  nach  oben  fliehend, 
anästhetisch.  Pupillen  maximal  erweitert,  nicht  reagirend,  krampfhafte 
Respiration,  unarticulirte  Laute.  Nach  kurzer  Pause  neuer  Insult,  ein- 
geleitet durch  schreckhaftes  Umherblicken.  Nun  wieder  Zähneknirschen, 
allgemeine  Starre;  die  Wangen  blähen  sich  bei  der  Exspiration  segel- 
artig auf,  zeitweise  clonischer  Krampf  im  2.  und  3.  r.  Facialis.  Nach 
einigen  Minuten  ist  der  Krampf  vorüber.  Nun  tiefer  Traumzustand  mit 
Delirium.  —  Patient  rafft  Polster  und  Bettdecken  zusammen,  verkriecht 
sich  mit  weit  aufgerissenen  Augen  unter  das  Bett.  Man  holt  ihn  her- 
vor. Er  faselt  von  einem  Manne,  der  ihn  schlage,  schaut  angstvoll 
nach  dem  Plafond;  frequente  Respiration,  Puls  weich,  dicrot,  108. 
Schüttelfrost. 

Patient  bleibt  noch  eine  Weile  delirirend  (faselt  von  einem  Manne, 
der  ihn  schlagen  will,  von  Sturmwind,  Musik,  Brücke,  von  der  man 
ihn   hinabstossen  will).     Milz    stark  vergrössert.     Endlich  Ruhe,  Schlaf. 

16.  März.  Temp.  37.5 — 36.3.  Kopfweh,  Milz  detumescirt.  Von 
heute  an  1.0  Chinin,  bisulf.  pro  die. 

17.  März.  Heute  2  Anfälle  mit  anschliessendem  Delirium,  aber 
ohne  Temperatursteigerung  und  ohne  Milzschwellung. 

1.  April.  Unter  0.5  Chinin  pro  die  keine  Anfälle  mehr.  Völlige 
Euphorie.     Temp.  nie  über  36.8.     Milz  nicht  vergrössert.     Entlassung. 

Neue  Aufnahme  10.  April  1889. 

Seit  3  Tagen  wieder  Anfälle.  Patient  hat  heute  2,  am  11.  April 
3  Insulte.     Vom  11.  ab  täglich  1.0  Chinin.     Milz  wieder  geschwollen. 

Der  erste  Anfall  beginnt  am  11.  April  um  6  Uhr  früh.  Temp. 
38.9,  Mittags  2  Uhr  40.0,  auf  1.0  Chinin  um  4  Uhr  vorübergehend  37.0, 
Abends  8  Uhr  38.4,  11  Uhr  38.1. 

Anfall  ganz  wie  am  15.  März,  jedoch  episodisch  Schaum  vor  dem 
Munde,  Daumen  eingeschlagen,  bei  allgemeiner  Gliederstarre. 

Solcher  Anfälle  3  mit  jeweils  folgendem  Delirium  (an  dem  Plafond 
erscheint  ein  Mann,  der  Patient  erstechen  will;  er  flüchtet  unter's  Bett, 
das  Haus,  das  Bett  brennen,  grosser  Sturmwind,  der  Patient  fort- 
zutragen droht). 

12.  April.  Heute  1  milder  Anfall.  Temp.  maximal  39.4.  Milz 
stark  geschwellt. 

13.  April.     4   Anfälle.     Temp.  bis  39.4.     Nach  denselben   dämmer- 
haft,  tief  verstimmt.    Er  wolle  lieber  heute  als  morgen  zu  Grunde  gehen. 
Er  versucht  sich  den  Schädel  an  der  Wand  einzurennen  und  den  Kn 
in  den  Abortschlauch  zu  zwängen.    Amnesie  für  Alles  in  der  Folge. 

15.  April.     Milz  noch  geschwellt.     Heute  1  Anfall.     Temp.  40.5. 

18.  April.    Von  heute  an  Chinin  0.5  und  Sol.   Fowler.  gtt.  10 — 20 

11* 


164  Zur  „Intermittens  larvata"- 

23.  April.  Bisher  Euphorie,  Temp.  unter  37.0.  Heute  Abends  6  Uhr 
Temp.  bis  38.5  mit  Milzschwellung.  Die  nervöse  Reaction  auf  Schwindel 
und  Makropsie  beschränkt. 

27.  April.  Heute  leichter  Fieberanfall  (38.7)  mit  Kopfweh,  Hitze, 
Schmerzen  in  der  Milzgegend,  wässerigem  Erbrechen. 

5.  Mai.  Euphorie,  Milzdämpfung  normal.  Temp.  andauernd  unter 
37.0.     Chinin  bleibt  weg;  noch  täglich  16  gtt.  Fowler. 

12.  Mai.     Volles  Wohlbefinden.     Absque  medicatione. 

15.  Mai.  Patient  nicht  länger  zu  halten.  Keine  Symptome  mehr. 
Entlassung.     Genesung  erhält  sich. 

Epikrise.  Der  vorstehend  skizzirte  Krankheitsfall  bietet  nach  mehr- 
facher Richtung  klinisches  Interesse.  Er  lässt  sich  symptomatologisch 
als  epileptoide  Hirnneurose  bezeichnen.  Von  entscheidender  Bedeutung 
erscheint  seine  ätiologische  Begründung. 

Bis  zur  Klarstellung  der  Anamnese  liess  sich  an  traumatische  Epi- 
lepsie denken,  und  da  die  Anfälle  in  Ablauf  und  Symptomendetails, 
sowohl  motorisch  als  psychisch  Vieles  gemein  mit  Hysteroepilepsie  hatten, 
auch  an  diese  Neurose. 

Beide  Möglichkeiten  Hessen  sich  bald  ausschliessen.  Das  Geknüpft- 
sein der  Anfälle  an  die  einer  Febris  intermittens  ergab  sich  sofort  bei 
eingehender  klinischer  Beobachtung  Sie  larvirten  die  Symptome  des 
Fieberanfalles,  der  sie  gewöhnlich  überdauerte.  Die  neurotischen  Symptome 
(Krämpfe,  Delirium)  sind  nicht  durch  das  Fieber  als  solches  bedingt, 
jedenfalls  lässt  sich  das  Delirium  nicht  als  febriles  ansprechen,  denn 
seine  Intensität  entspricht  nicht  der  des  jeweiligen  Fiebers.  Die  Anfälle 
am  28.  Februar  und  17.  März  verlaufen  sogar  ohne  Temperatursteigerung, 
Die  Ursache  kann  somit  nur  in  toxischen  Einflüssen  gesucht  und  ge- 
funden werden. 

Interessant  ist,  dass  das  centrale  Nervensystem  bei  dem  Malaria- 
kranken  erst  nach  einem  Trauma  capitis  anlässlich  Fieberanfällen  mit- 
afficirt  wird.  Das  Trauma  scheint  das  Gehirn  in  seiner  Widerstands- 
kraft gegen  das  toxische  Agens  geschwächt  zu  haben,  in  analoger  Weise, 
wie  wir  dies  bezüglich  des  Alcohols  wissen  und  auch  hinsichtlich  der 
Lues,  die  vielfach  erst  nach  einem  Trauma  oder  sonst  einem  Insult  sich 
im  Centralnervensystem  lokalisirt. 

Die  Anfälle  sind  Anfangs  unvollkommen  entwickelt,  von  tertianem 
Typus,  der  eine  Zeit  lang  durch  die  Therapie  beeinflusst  wird,  dann 
Neigung  zum  quotidianen  zeigt.  Therapeutisch  erscheint  Anfangs  Chinin 
ausreichend,  um  die  nervösen  und  pyretischen  Anfälle  zu  bannen,  aber 
erst  Arsen  vermag  Genesung  herbeizuführen.  Es  ist  bemerkenswerth, 
dass  zuerst  die  nervösen  Insulte  schwinden  und  dann  die  Fieberanfälle. 


Zur  „Intermittens  larvata'-  1(35 

Leider  wurden  im  geschilderten  Falle  Blutuntersuchungen  unterlassen. 
Sie  dürften  in  künftigen  Fällen  für  Pathogenese  und  Diagnose  von 
grossem  Werth  sein.  Krankheitsfälle  von  sog.  Intermittens  larvata  sind 
ziemlich  selten  in  unseren  Gegenden ,  wenn  man  von  solchen  von  Fieber- 
delirium absieht. 

Sie  erscheinen  auf  der  Acme  des  Fiebers  (furibundes,  angstvolles 
Delirium,  transitorische  Manie)  oder  vicariirend  für  einen  Intermittens- 
anfall  (Intermittens  larvata  stricte  sit  dicta). 

Die  ziemlich  zerstreute  Literatur  findet  sich  bei:  Wuuderlich,  Handb.  IV,  p.  468 
(Uebersicht  der  älteren  Literatur);  Canstatt,  Handb.  d.  med.  Klinik  I,  p.  3919;  (Jrie- 
singer,  Virchow's  Handb.  U,  2,  p.  329;  Focke,  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  V,  p.  376 
(M.  intermittens  mit  religiös -dämonomanischem  Inhalt);  Flemming,  Path.  u.  Therapie 
d.  Psychosen,  p.  87  (heftige  quotidiane  Anfälle  von  Präcordialmelancholie);  Nockher, 
Med.  Ver.-Ztg.  1845,  Nr.  32;  Zeitschr.  „Irrenfreund"  1868,  Nr.  3;  Horn's  Archiv  f. 
med.  Erfahrg.  1813;  Januar,  Februar;  Henke,  Zeitschr.  f.  Staatsarzneikunde,  1834, 
Heft  2,  Erhardt,  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXIII,  p.  87;  Champouillon ,  Gaz.  des 
hopitaux,  1857,  Nr.  81;  Walliser,  Schmidt's  Jahrb.  d.  Med.  Bd.  180,  Nr.  10;  Schwartzer, 
Transitor.  Tobsucht,  Fall  14. 


Dnack  von  C,  Grnmbarh  in  Leipzig. 


ARBEITEN  AUS  DEM  GESAMMTGEBIET 
DER  PSYCHIATRIE  UND  NEUROPATHOLOGIE. 

II.  HEFT. 


ARBEITEN  AUS  DEM  GESAMMTGEßlET 


DER 


PSYCHIATRIE  UND  NEUROPATHOLOGIE 


VO.N 


R  V.  KRAFFTEBING. 


H.  HEFT. 


LEIPZIG 

JOHANN  AMBROSIÜS  BARTH 

1897. 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Uebersetzung,  vorbehalten. 


Inhalt. 


Seite 

1.  Die  Aetiologie  der  progressiven  Paralyse 1 

2.  Ueber  Vortäuschung   organischer  Erkrankungen  des  Nerven- 
systems durch  Hysterie 25 

Einleitung ■  27 

Hysterische  Hemiplegien  .  .  .  ...  .30 

Pseudoparesis  spastica .  64 

Paraplegia  hyslerica ....  8- 

Vortäuschung  von  multipler  Sklerose                                       .  106 

Vortäuschung  von  Tabes  dorsalis      .                 .                                       •  121 

3.  Zur  Athetosis  bilateralis ....  139 

4.  Varia 152 

Gutachten  des  k.  k.  obersten  Sanitätsrathes  bezüglich  der  gesetzlichen 

Regelung  des  Hypnotismus  in  Österreich  .           .     .  153 
Gutachten  über  die  Berechtigung  des  spiritistischen  Vereins  in .  .  .  .  zur 

Anwendung  des  Hypnotismus 161 

Zur  Verwerthung  der  Suggestionstherapie  bei  Psychosen  und  Neurosen  165 

Zur  Suggestivbehandlung  der  Hysteria  gravis .181 

Ueber  Paraldehyd- Gebrauch  und  Missbrauch,  uebst  einem  Falle  von 

Paraldehyddelirium .  186 

Ein  Fall  von  Paraplegia  brachialis 192 

Ueber  Drucklähmung  von  Armnerven  durch  Krückengebrauch  .     .     .  196 

Eine  Diagnose  auf  Tumor  in  der  Grosshirnschenkel-Haubenbahn    .     .  201 

Zur  Kenntniss  der  primären  Rückenmarksblutung             .           .           .  200 


I. 

DIE  AETIOLOGIE  DER  PROGRESSIVEN 
PARALYSE.*) 


*)  Entwurf  eines  Vortrags    für  den  internationalen   medieinischen  Congress    in 
Moskau. 

Krafft-E  bing,  Arbeiten  n.  1 


Wir  befinden  uns  an  der  Neige  eines  Jahrhunderts,  das  in  der 
Geschichte  menschlicher  Evolution  einzig  dasteht.  Soviel  geistige 
Arbeit  ist  jedenfalls  in  keinem  der  vergangenen  Jahrhunderte  geleistet 
worden.  Auf  allen  Gebieten  menschlichen  Schaffens  und  Strebens  hat 
das  zu  Ende  gehende  Säculum  einen  Fortschritt  inaugurirt,  der  nach 
einzelnen  Richtungen  ein  geradezu  überstürzter  war  und  den  Zeit- 
genossen kaum  die  nöthige  Sammlung  und  Anpassung  an  neue  sociale 
Daseinsformen  und  Lebensbedingungen  ermöglichte. 

Es  sei  in  dieser  Hinsicht  nur  auf  die  colossalen  Umwälzungen 
hingewiesen,  welche  Handel  und  Arerkehr,  Gewerbe  und  sociales  Leben 
erfahren  haben,  indem  der  Menschengeist  zwei  gewaltige  Naturkräfte  in 
Gestalt  des  Dampfes  und  der  Elektricität  sich  dienstbar  zu  machen 
vermochte. 

Für  All  das,  was  wir  als  Civilisation  und  Culturfortschritt  schätzen, 
hat  das  Gehirn  der  Menschen  des  19.  Jahrhunderts  ein  äquivalentes  Maass 
von  Arbeit  leisten  müssen.  Wenn  man  auch  zugeben  muss,  dass  Uebung 
und  Anpassung  allmälig  ein  Organ  zu  höheren  und  ausgiebigeren 
Leistungen  befähigen,  so  lässt  sich  doch  nicht  bestreiten,  dass  die  über- 
mässige Inanspruchnahme  des  Centralnervensystems  in  einem  Jahr- 
hundert, das  an  socialen  Evolutionen  und  Umwälzungen,  sowie  an  sich 
überstürzenden  Erfindungen  seines  Gleichen  sucht,  das  Gehirn  unzähliger 
Menschen  empfindlich  geschädigt  und  gegen  krankmachende  Einflüsse 
widerstandsunfähig  gemacht  hat. 

Aber  die  geänderten  gesellschaftlichen,  speciell  die  politischen, 
mercantilen,  industriellen,  agrarischen  Verhältnisse  wirken  ihrerseits 
wieder  zurück  auf  die  in  ihnen  Lebenden.  Sie  beeinflussen  bürgerliche 
Stellung,  Beruf,  Besitz,  und  zwar  auf  Kosten  des  Nervensystems,  das 
gesteigerten  socialen  und  wirthschaftlichen  Anforderungen  durch  ver- 
mehrte Verausgabung  von  geistiger  Kraft  bei  vielfach  ungenügendem 
Ersatz  gerecht  werden  muss. 

Das  Schlagwort  der  modernen  Civilisation,  der  „Kampf  ums 
Dasein1'  ist  keine  leere  Phrase,  vielmehr  ein  die  körperliche  und  geistige 

1* 


4  I.    Die  Aetiologie  der 

Gesundheit  der  Massen  tief  und  ungünstig  beeinflussender  Factor.  Er 
ist  gleichbedeutend  mit  einem  Concurrenzkampf,  nicht  blos  der  Individuen 
sondern  auch  ganzer  Völker  auf  mercantilen,  industriellen  und  agrarischen 
Gebieten. 

Die  enorme  Entwicklung  der  Verkehrsmittel  macht  die  fernsten 
Länder  concurrenzfähig,  entwerthet  die  Bodenproducte  Europa's  durch 
überseeischen  Import,  entfremdet  dadurch  die  Landbewohner  dem  nicht 
mehr  genügenden  Ertrag  bietenden  Ackerbau,  drängt  sie  in  die  Städte 
und  damit  in  die  Verhältnisse  eines  antihygienischen  Fabriklebens,  das 
überdies  in  socialer  und  sittlicher  Hinsicht  bedenkliche  Consequenzen 
hat.  Dadurch  sind  Millionen  von  Menschen,  die  früher  ein  zwar  ein- 
faches, aber  gesundes  und  sicheres  Dasein  hatten,  zu  Sclaven  der 
Civilisation  geworden,  in  den  Dienst  maschinellen  und  gross- 
kapitalistischen Getriebes  gestellt,  in  ihrem  Geschick  abhängig  von  inter- 
nationalen Handelsbilanzen,  Constellationen  des  Weltmarktes,  denn  nur 
das  Grosskapital  und  die  Association  sind  heutzutage  noch  concurrenzfähig. 

Aber  auch  das  Kleingewerbe  ist  massenhaft  zu  Grunde  gegangen. 
Nicht  dem  Grosskapital  ist  es  erlegen,  wie  thörichter  "Weise  so  viele 
Proletarier  glauben,  sondern  Naturkräften  in  Gestalt  des  Dampfes  und 
der  Elektricität,  die  Massenproduction  gestatten  und  dabei  besser  und 
billiger  arbeiten,  als  es  die  unvollkommenen  Behelfe  des  Kleinbürgers 
vermögen. 

Damit  sind  aber  unzählige  Menschen  genöthigt,  im  aufreibenden 
"Werkstätten-  und  Maschinendienst  ihre  Existenz  zu  fristen. 

Indem  Millionen  von  Proletariern  erstanden  sind,  die,  unzufrieden 
mit  ihrer  Lage,  dem  Kapital  als  solchem  ihren  Pauperismus  zur  Last 
legen,  entstand  Unzufriedenheit  der  Massen,  Drang  nach  Aenderung  der 
besitz-  und  der  gesellschaftlichen  Verhältnisse  im  Sinne  des  Socialismus 
und  des  Anarchismus.  Aber  auch  die  Fabrikanten  und  Kaufherren  sind 
nicht  immer  glückliche  Besitzer.  Sie  sind  beständig  genöthigt,  im  Wett- 
bewerb des  Weltmarktes  ihre  Kräfte  anzustrengen  und  dabei  von 
Massenausständen,  Handels-  und  Zollconjunkturen,  Unsicherheit  der 
Weltlage  und  des  Besitzes  bedroht.  Indem  heutzutage  die  Menschen 
nach  den  Städten  sich  drängen  und  die  Emporien  des  Handels  und  der 
Fabrikthätigkeit  Übervölkern,  erschweren  sie  sich  gegenseitig  den  Kampf 
ums  Dasein.  Hygienisch  ungenügende  Wohnungen,  Theuerung  und  Ver- 
schlechterung der  Nahrungsmittel  sind  die  nothwendige  Folge  dieser 
Uebervölkerung  der  Städte  und  als  weitere  Consequenzen:  ungenügende 
Ernährung  der  Massen,  Scrophulose,  Tuberculose,  Rachitis.  Als  Ersatz 
für  schlechte,  unzureichende  Nahrung  greift  der  Proletarier  zur  Brannt- 
weinflasche  und  giebt  damit  den  Anstoss  zu  eigenem  und  seiner  Descen- 


progressiven  Paralyse.  5 

denten  Nervensiechthum.  Die  vermehrte  Arbeit  bringt  aber  auch  den 
Anspruch  auf  ein  genussreicheres  Dasein.  Die  fortschreitende  Civilisation 
hat  das  Leben  bedürfnissreicher  gestaltet.  Auch  dafür  muss  das  strapa- 
zirte  Gehirn  des  Culturmenschen  aufkommen. 

Unzählige  Menschen  macht  der  Kampf  ums  Dasein,  richtiger  wohl 
Genusssucht  und  Geldgier,  zu  rücksichtslosen  Strebern.  Man  sieht  sie 
in  beständiger  fieberhafter  Erregung  auf  ihrer  Jagd  nach  Gelderwerb, 
mit  Einsetzung  aller  physischen  und  geistigen  Kräfte,  unter  Benutzung 
aller  Hülfsmittel,  wie  sie  eine  überhastete  Culturentwicklung  an  die 
Hand  giebt. 

Ein  derart  strapazirtes  Nervensystem  hat  aber  ein  grosses  Bedürfniss 
nach  Genuss-  und  Beizmitteln.  Der  ins  Ungemessene  steigende  Ver- 
brauch solcher  in  Gestalt  von  Caffee,  Thee,  Alkohol,  Tabak  in  allen 
Culturländern  ist  ein  Massstab  für  die  Bedeutung  dieses  Auswuchses 
der  Civilisation. 

Mit  den  geschraubten  Existenzbedingungen  der  Neuzeit  wird  aber 
auch  die  Schwierigkeit,  einen  eigenen  Heerd  zu  gründen,  eine  immer 
grössere.     Die  Folge  davon  ist  Cölibat  oder  verspätete  Ehesehliessung. 

Daraus  resultirt  aussereheücher  Geschlechtsverkehr,  fast  ausschliess- 
lich in  Gestalt  der  Prostitution,  mit  allen  daraus  entstehenden  Gefahren 
für  Leib  und  Seele. 

Die  Verschlechterung  der  Aussichten,  durch  die  Ehe  eine  Ver- 
sorgung zu  finden,  bringt  aber  auch  das  Weib  in  der  modernen  Gesell- 
schaft in  eine  schiefe  Position. 

Für  das  Mädchen  aus  den  höheren  Ständen  entsteht  daraus  die 
Nöthigung,  durch  Ergreifen  eines  seine  materielle  Existenz  sichernden 
Berufes  ein  Aequivalent  für  die  ihm  vorenthaltene  Versorgung  durch 
die  Ehe  zu  finden. 

Zu  solchem  Streben  vermöge  seiner  Organisation  nicht  oder  noch 
nicht  befähigt,  muss  das  Weib  seine  wichtige  Entwicklungszeit  auf  Schul- 
bänken versitzen  und  sich  unverhältnissmässig  anstrengen,  um  mit  dem 
Manne  social  und  geistig  in  Wettbewerb  zu  treten  und  eine  berufliche 
Existenz  sich  zu  erkämpfen. 

Nicht  minder  beklagenswerth  ist  die  Existenz  des  jungen  Mädchens 
aus  dem  Volke,  das  um  wahre  Hungerlöhne  im  Fabriksaal  oder  an  der 
Nähmaschine  seine  Existenz  fristen  muss  und  endlich  vielfach  der 
Prostitution  anheimfällt. 

Ein  nicht  zu  übersehender  Factor  für  die  Schädigung  der  Volks- 
gesundheit ist  die  Aenderung  früherer  patriarchalischer  Begierungsformen 
im  Sinne  moderner  politischer  Zustände,  in  welchen  die  Individualität 
zur  Geltung  kommt  und  der  Ehrgeiz  entfesselt  wird. 


(j  I.    Die  Aetiologie  der 

Das  öffentliche  Leben  der  Gegenwart  mit  seinen  politischen  Auf- 
regungen, "Wahlkämpfen  u.  s.  w.  mag  eine  nothwendige  und  berechtigte 
Folge  der  socialen  Entwicklung  sein,  aber  vom  Standpunkt  der  Volks- 
gesundheit ist  es  eine  Schädlichkeit,  denn  es  zieht  den  Mann  ab  von 
Beruf  und  Familie,  stört  und  zerstört  das  Familienleben  und  ist  mit 
eine  Ursache  für  den  Missbrauch  des  Alkohols  in  der  modernen 
Gesellschaft. 

Es  ist  unmöglich,  im  Kahmen  eines  Vortrags  alle  die  Schatten- 
seiten unseres  Culturlebens  hervorzuheben  und  sie  auf  ihre  Bedeutung 
als  ätiologischer  Factoren  hinsichtlich  der  Entstehung  der  progressiven 
Paralyse  hin  zu  prüfen. 

Auch  ohne  Pessimist  zu  sein,  rnuss  man  zugeben,  dass  der  sociale 
Organismus  krankhafte  Züge  an  sich  trägt.  Erscheint  uns  doch  der 
moderne  Europäer  vielfach  als  ein  blasirter,  mit  sich  und  der  Welt  un- 
zufriedener, in  seiner  Ethik  und  Religion  zerfahrener,  an  dem  Bestehenden 
nörgelnder,  zur  Aenderung  der  gesellschaftlichen  Zustände  hindrängender, 
von  Furcht  vor  der  ungewissen  Zukunft  angekränkelter  Mensch. 

Alle  diese  Züge  lassen  sich  auf  eine  Desequilibration  seines  Nerven- 
systems zurückführen  und  es  giebt  zahlreiche  Schwarzseher,  die  eine 
weitere  Verschlechterung  der  Nervengesundheit  prognosticiren  und, 
unter  einseitiger  Hervorhebung  der  Schattenseiten  unserer  Cultur- 
entwicklung,  unser  Jahrhundert  als  das  „nervöse"  bezeichnen  möchten. 

Es  ist  höchst  wahrscheinlich,  dass  die  übermässige  Inanspruch- 
nahme geistiger  und  physischer  Kräfte  in  dem  zur  Neige  gehenden 
Jahrhundert,  das  in  sich  überstürzender  Weise  gleichsam  nachholte,  was 
vergangene  in  träger,  oft  stagnirender  Entwicklung  versäumt  haben,  von 
einer  Zeitperiode  relativer  Ruhe  gefolgt  sein  wird.  In  dieser  mag  eine 
Anpassung  an  geänderte  Lebensbeziehungen,  eine  friedliche,  natürliche 
Ausgleichung  socialer  und  nationaler  Gegensätze,  eine  Angewöhnung 
und  Correctur  hinsichtlich  stürmisch  eingetretener  gesellschaftlicher  Ver- 
änderungen sich  vollziehen. 

Ist  doch  die  Möglichkeit  jeglichen  Fortschritts  von  dem  Gehirn  ab- 
hängig und  gerade  die  Anpassungsfähigkeit  dieses  Organs  an  geänderte 
Verhältnisse  eine  unbegrenzte ! 

Für  den  Arzt  und  Forscher,  der  mitten  in  einer  solchen  socialen 
und  geistigen  evolutiven  Bewegung  steht,  ist  es  von  hohem  Interesse, 
Krankheitserscheinungen  näher  ins  Auge  zu  fassen,  die  mit  sociolo- 
gischen  Verhältnissen  des  zu  Ende  gehenden  Jahrhunderts  in  einem 
offenbaren  genetischen  Zusammenhang  stehen.  Neben  der  sogenannten 
Neurasthenie,  der  an  dieser  Stelle  als  Culturkrankheit  des  Jahrhunderts 


progressiven  Paralyse.  7 

nur   gedacht   sein   mag,   gebührt   der  progressiven  Paralyse  in   diesem 
Sinne  eine  ganz  hervorragende  Stelle. 

Die  Berechtigung  in  einer  allgemeinen  Sitzung  eines  der  letzten  inter- 
nationalen medicinischen  Congresse  dieses  Jahrhunderts  die  Frage  der 
Aetiologie  dieser  unheilvollen  Krankheit  zu  erörtern,  schöpfe  ich  daraus, 
dass  sie  vor  100  Jahren  fast  unbekannt  war,  während  sie  von  Jahr- 
zehnt zu  Jahrzehnt  fast  allenthalben  in  geradezu  unheimlicher  Weise 
zunimmt,  sodass  sie  heutzutage  bereits  jeder  Laie  kennt.  Angesichts 
dieser  Thatsachen  kann  man  sich  dem  Eindruck  nicht  verschliessen, 
dass  diese  Krankheit,  ein  wahres  Schreckgespenst  für  den  Cultur- 
menschen,  in  ungünstigen  Einflüssen  des  Culturlebens  ihre  Begründung 
findet,  Einflüsse,  die  jedoch  bei  der  bisherigen  Unsicherheit  hinsichtlich 
der  Aetiologie  der  Krankheit,  nur  vermuthet,  nicht  aber  nachgewiesen 
werden  konnten. 

Zur  endgiltigen  Feststellung  ihrer  Ursachen  bedarf  es  offenbar 
des  Zusammenwirkens  von  Forschern  aus  den  verschiedensten  Ländern 
und  auf  verschiedenen  "Wissensgebieten,  wie  sie  eben  nur  ein  inter- 
nationaler medicinischer  Congress  zusammenbringt. 

Gestattet  sei  noch  der  Hinweis  darauf,  dass,  wenn  man  von  einem 
nicht  ganz  sicheren  Hinweis  auf  die  Krankheit  bei  Willis1)  (1672)  ab- 
sieht, es  genau  hundert  Jahre  her  sind,  dass  sie  ihre  erste  wissenschaft- 
liche Besprechung  durch  den  englischen  Arzt  Haslam2)  gefunden  hat. 

Eine  interessante  und  wichtige  Vorfrage  betrifft  die  der  Zunahme 
der  Paralysekrankheit  in  der  modernen  Gesellschaft.  Wenn  auch  fast 
allenthalben  diese  Frage  entschieden  bejaht  wird,  so  begegnet  doch  ein 
Versuch,  diese  Zunahme  wissenschaftlich  und  statistisch  zu  begründen, 
nicht  geringen  Schwierigkeiten.  Da  diese  Krankheit  fast  ausnahmslos 
tödtlich  endet,  wäre  eine  vergleichende  Statistik  der  aus  ihr  hervor- 
gehenden Todesfälle  der  sicherste  Maassstab  ihrer  Frequenz.  Aber  eine 
Speciticirung  der  Krankheit  in  der  allgemeinen  Mortalitätsstatistik  giebt 
es  nicht  und  wird  es  auch  so  leicht  nicht  geben. 

Man  darf  nicht  übersehen,  dass  zahlreiche  Paralytiker,  als  solche 
undiagnosticirt,  in  den  Anfangsstadien  der  Krankheit  zu  Grunde  gehen 
und  der  statistischen  Aufnahme  dadurch  entgehen,  dass  sie  in  der  all- 
gemeinen Mortalitätsstatistik  unter  Rubriken  wie  Schlagt'!  uss,  Pneumonie, 
Gehirnentzündung,  Selbstmord,  Tod  durch  Unglücksfall  u.  s.  w.  er- 
scheinen, während  die  in  den  Endstadien  mit  Tod  abgehenden  Fälle 
ausserhalb  der  Krankenhäuser  als  „Hirnlähmung",  ..Hirnerweichung" 
rubricirt  und  mit  Heerderkrankungen  des  Gehirns  aller  Art  zusammen- 
geworfen werden. 


8  I.    Die  Aetiologie  der 

Unter  allen  sonstigen  Wegen  bleibt  nur  der,  die  Statistik  der 
Irrenanstalten  der  verschiedenen  Länder  heranzuziehen  und  die  relative 
Zunahme  der  paralytisch  Kranken  gegenüber  dem  Gros  der  übrigen 
Geisteskranken  festzustellen. 

Auch  diese  Methode  giebt  keine  sicheren  Werthe  hinsichtlich  der 
Zunahme  der  Krankheit,  da  die  Paralyse  heutzutage  vorwiegend  in  der 
milden  Form  der  einfach  progressiven  Dementia  verläuft,  und  als  solche 
auch  ausserhalb  einer  Anstalt  behandelt  werden  kann. 

Ueberdies  ist  ein  Vergleich  zwischen  Einst  und  Jetzt  nur  für 
wenige  Decennien  möglich. 

Die  am  weitesten  zurückreichende  bezügliche  Statistik  von  Althaus3) 
ergiebt,  dass  1838  —  40  der  Procentsatz  der  Paralytiker  in  englischen 
Anstalten  12,6  %,  dagegen  von  1867 — 91  schon  18,1  °/0  betrug,  während 
in  den  gleichen  Zeiträumen  die  Gesammtzahl  der  Geisteskranken  nur 
um  circa  0,2  °/0  zugenommen  hatte. 

Ende  der  70er  Jahre  berechnete  Mendel  (Berlin)  den  Procentsatz 
der  Paralytiker  in  Irrenanstalten: 

in  Preussen     für  Männer  mit  16,3,  Weiber  3,6  °/0 

„  Frankreich   „  „  „     19,9,        „        8,0  % 

„  England       „  „  „     18,0,        „        6,0  % 

Gegenüber  dieser  Ziffern  erweisen  die  in  den  letzten  2  Decennien  da 

und  dort  ermittelten  Procentzahlen  eine  gewaltige  Zunahme. 

So  ist  beispielsweise  in  der  bayerischen,  ihie  Kranken  aus  einer 
vorwiegend  agricolen  Bevölkerung  beziehenden  Irrenanstalt  Deggendorf, 
die  1869—74  9,3%  Männer  und  5,2  °/0  Weiber  betragende  Ziffer  der 
Paralytiker  auf  23,2  bezw.  9,3  °/0  in  der  Zeitperiode  von  1885—90  an- 
gestiegen. In  der  nassauischen  Anstalt  Eichberg  hat  sich  die  Zahl  der 
Paralytikeraufnahmen  nahezu  verdoppelt.  Zu  analogen  Erfahrungen  ge- 
langten Snell4)  für  Hannover,  Regis5)  für  gewisse  französische  Anstalten, 
Huppert6)  für  Sachsen,  Townbridge7)  für  England.  Noch  viel  markanter 
ist  aber  die  Zunahme  der  Paralyse  in  den  Grossstädten. 

Aus  Recherchen,  die  ich  anstellte,  ergab  sich,  dass  von  1888—92 
der  Procentsatz  der  Aufnahmen  von  Paralytikern  in  Irrenanstalten  sich 
belief  in  Hamburg  auf  21,5  %  Männer  und  8,5  °/0  Frauen  der  Gesammt- 
aufnahme,  in  Berlin  auf  34,6  und  17,5  °/0,  in  München  auf  36,3  und 
11,2%,  in  Pest  auf  36,5  und  7,5%. 

Dieser  procentarische  Zuwachs  erfolgt  auf  Kosten  anderweitiger, 
wesentlich  functioneller  und  gutartiger  psychischer  Krankheiten8).  Es 
deutet  dies  auf  besondere  Dispositionen  in  der  heutigen  Population  hin, 
vermöge  welcher  Schädlichkeiten,  die  früher  nur  functionell  das  Gehirn 


progressiven  Paralyse.  9 

beeinflussten,  nunmehr  den  Anstoss  zu  organischer  Erkrankung  in  Gestalt 
entzündlicher  und  atrophischer  Vorgänge  geben. 

Angesichts  solcher  Thatsachen  kann  man  nicht  umhin  zuzugestehen, 
dass  die  progressive  Paralyse  in  geradezu  unheimlicher  Weise  die 
moderne  Gesellschaft  heimsucht  und  sie  decimirt. 

Nicht  minder  bedeutsam  ist  die  Erfahrung,  dass  die  Paralyse  heut- 
zutage in  viel  früherem  Lebensalter  ihre  Opfer  heimsucht.  Calmeil9)  in 
Frankreich  ermittelte  in  den  20er  Jahren  dieses  Jahrhunderts  als  Durch- 
schnittsalter der  Erkrankung  an  Paralyse  44,5  Jahre.  Ende  der  80er 
Jahre  stellten  Arnaud  dasselbe  mit  39,5,  Regis  mit  38  Jahren  fest,  während 
Kaes10)  (Hamburg)  die  grösste  Morbilität  vom  36. — 40.  Jahre  fand. 

Die  Erklärung  für  dieses  verfrühte  Auftreten  der  Krankheit  kann 
nur  in  einer  verminderten  Widerstandsfähigkeit  gegen  die  Ursachen 
derselben  oder  auch  in  einer  grösseren  Häufung  dieser  gesucht  und  ge- 
funden werden. 

Noch  auffälliger  ist  aber  das  neuerliche  Vorkommen  dieser  Krank- 
heit im  kindlichen  und  jugendlichen  Alter.  Während  beispielsweise 
Baillarger  vor  1850  unter  400  weiblichen  Fällen  von  Paralyse  nur 
einen  einzigen  unter  20  Jahren  zählte,  wimmelt  es  seit  1877  geradezu 
von  Fällen  juveniler  Paralyse  in  der  Literatur. 

Eine  der  bedenklichsten  Erscheinungen  stellt  endlich  die  Zunahme 
der  Paralyse  beim  weiblichen  Geschlecht  dar.  Während  bis  weit  in  die 
60er  Jahre  das  Verhälrniss  der  männlichen  Paralytiker  zu  den  weib- 
lichen Fällen  in  den  Irrenanstalten  8  :  1  betrug,  war  es  nach  Jung 
(Leubus)  Ende  der  70er  Jahre  4  :  1.  Anfangs  der  80er  Jahre  be- 
rechneten es  Reinhard  für  Hamburg  mit  3,2  :  1,  Meynert  für  Wien  mit 
3,4  :  1,  Siemerling11)  für  Berlin  mit  3,5  :  1. 

Für  den  Anfang  der  90er  Jahre  stellte  es  Idanoff12)  fest  für 
Dänemark  mit  3,49:1,  für  Mittel-  und  Oberitalien  mit  3,3:1,  für 
Russland  mit  3,15  :  1,  England  mit  2,9S  :  1,  Belgien  2,76  :  1,  Frank- 
reich 2.4  :  1. 

Diese  Zahlen  entsprechen  aber  sicher  nicht  ganz  der  wirklichen 
Morbiditätsziffer  der  heutigen  Frauenparalyse,  die  auch  beim  Weib  vor- 
wiegend in  der  einfach  dementen  Form  und  dazu  noch  vielfach  so  mild 
verläuft,  dass  viele  Fälle  den  Irrenanstalten,  aus  welchen  die  obigen 
Ziffern  gewonnen  sind,  nicht  zugeführt  werden. 

Die  Ermittelung  der  Ursachen  dieser  seit  den  20er  Jahren  des 
Jahrhunderts  im  Mittelpunkte  der  Aufmerksamkeit  ärztlicher  Kreise 
stehenden  Krankheit  ist  seit  Jahrzehnten  mit  dem  grössten  Eifer  unter- 
nommen worden. 


\Q  I.     Die  Aetiologie  der 

Man  erkannte  bald,  dass  ihre  Aetiologie  wesentlich  in  exogenen  Be- 
dingungen wurzeln  müsse,  denn  das  sonst  bei  psychischer  Krankheit 
ausschlaggebende  Moment  der  erblichen  Disposition  oder  der  Belastung 
fand  sich  höchstens  in  15—  20°/0  der  Falle  von  Paralyse  vor. 

Den  schädlichen  "Wirkungen  des  Geist  und  Körper  gegen  früher 
unverhältnissmässig  in  Anspruch  nehmenden  Culturlebens,  dem  Surme- 
nage, dem  Missbrauch  von  Genussmitteln,  besonders  des  Alkohols,  De- 
bauchen überhaupt,  schiebt  man  in  erster  Linie  das  Ueberhandnehmen 
der  Paralyse  zu.  Thatsacheu,  wie  die  unverhältnissmässige  Häufigkeit 
der  Krankheit  bei  Grossstädtern,  besonders  bei  ledigen  Arbeits-  und  Genuss- 
menschen, in  ganz  hervorragender  Weise  bei  Militärs,  die  fast  völlige 
Immunität  der  Frau  aus  höheren  Ständen,  das  vermeintliche  Nicht- 
vorkommen  der  Paralyse  bei  jugendlichen  Individuen,  die  grösste 
Häufigkeit  derselben  bei  irgendwie  Veranlagten  oder  sonstwie  Exponirten 
auf  der  Höhe  des  Lebens,  all  dies  schien  das  Auftreten  und  Ueberhand- 
nehmen dieser  „Krankheit  des  Jahrhunderts"  genügend  zu  erklären. 

Ganz  unbekanut  und  ungewürdigt  waren  lange  Zeit  hindurch  ur- 
sächliche Beziehungen  der  Paralyse  zur  Syphilis. 

Es  geschah  1857  zum  ersten  Mal,  dass  zwei  Forscher,  Esmarch 
und  Jessen18)  mit  der  Behauptung  auftreten,  dass  Syphilis  die  Ursacbe 
von  Paralyse  sein  könne.  Ihre  Mittheilung  stützte  sich  auf  3  Fälle  bei 
Luetischen,  von  welchen  aber  2  hinsichtlich  der  Diagnose  „Paralyse" 
nicht  einwandfrei  waren. 

Ihnen  folgte  Kjellberg14),  der  in  seinem  Erfahrungsbereiche  Paralyse 
überhaupt  nur  bei  syphilitisch  Gewesenen  beobachtet  haben  wollte,  ferner 
Ole  Sandberg. 

Diese  Anschauung,  welche  sich  bei  Einzelnen  bis  zur  Annahme 
erhob,  die  Paralyse  sei  eine  Form  der  Lues  cerebri,  fand  lebhaften 
Widerspruch15),  aber  die  Frage  des  Zusammenhangs  der  Paralyse  mit 
Syphilis  verschwand  von  nun  an  nicht  mehr  von  der  Tagesordnung 
wissenschaftlicher  Forschung  und  Discussion. 

Die  Heranziehung  der  Statistik  ergab  sehr  ungleiche  Resultate,  in- 
sofern der  Procentsatz  früherer  Lues  bei  männlichen  Paralytikern 
zwischen  11%  (Eickholt)  und  94°/0  (Regis)  ermittelt  wurde.  Diese 
Differenzen  erklärten  sich  grösstentheils  aus  der  verschiedenartigen 
Provenienz  des  statistischen  Materials,  je  nachdem  es  höheren  oder 
niederen  Gesellschaftsklassen,  der  grossstädtischen  oder  der  ländlichen 
Bevölkerung  entstammte. 

Einen  vorläufigen  Abschluss  der  statistischen  Forschungen  bot  eine 
Arbeit  von  Rieger15),  der  aus  der  Zusammenfassung  von  11  verläss- 
lichen Statistiken  verschiedener  Beobachter  ermittelte,  dass  unter  rund 


progressiven  Paralyse.  11 

1000  nicht  paralytischen  Geisteskranken  40,  unter  rund  1000  Paralytikern 
etwa  400  mal  Syphilis  in  der  Vorgeschichte  sich  nachweisen  Hess.  Zu 
ähnlichen  Resultaten  gelangten  Goldstein16),  Binswanger17),  Barwinski18), 
Ziehen"),  Dietz20),  Oebecke21). 

Mendel22)  ermittelte  bei  Paralytikern,  und  zwar  vorwiegend  bei  solchen 
aus  höheren  Standen,  in  75°/0,  bei  anderen  Psychosen  nur  in  18,6  °/0 
luetische  Antecedentien. 

Den  Einfluss  des  Umstands,  ob  das  Material  aus  höheren  oder 
niederen  Ständen  kommt,  illustrirte  eine  Statistik  von  Oebecke,  der  bei 
Paralytikern  ersterer  Categorie  73,3  °/0,  letzterer  nur  16,7  °/0  luetisch 
Gewesene  ermittelte. 

Werthvolle  neuerliche  Untersuchungen  über  die  Beziehungen  der 
Syphilis  zur  Paralyse  verdanken  wir  Hougberg23)  in  Finnland  und 
Hirschl24)  in  Wien. 

Der  erstere  Forscher  fand  unter  seinem  Material  sichere  luetische 
Fälle  75,7  °/0,  wahrscheinliche  11,2  °/0,  in  Summa  86,9  °/0,  während  bei 
nicht  paralytischen  Irren  Lues  in  deren  Vorgeschichte  nur  bei  4,24  °/0 
Dachgewiesen  werden  konnte. 

Hirschl  hat  an  meiner  Klinik  mit  ausserordentlicher  Gewissen- 
haftigkeit und  Mühe  die  Frage  studirt.  Es  gelang  ihm,  von  175  paraly- 
tischen Männern  bei  98  (56%)  sicher,  bei  44  (25°/0)  mit  Wahrschein- 
lichkeit Lues  nachzuweisen,  während  in  33  Fällen  (19  °/0)  die  Frage 
ganz  ungelöst  bleiben  musste. 

Das  Moment  dieser  negativen  Fälle  ist  es  nun,  auf  welches  sich 
die  Gegner  der  von  Kjellberg  vertretenen  Anschauung  stützen  und 
logischer  Weise  kann  man  von  der  Syphilis  als  einer  notwendigen  Vor- 
bedingung für  die  Entstehung  der  Paralyse  nicht  reden,  solange  die 
negativen  Fälle  aus  der  Statistik  sich  nicht  eliminiren  lassen. 

Jeder  Erfahrene  wird  aber  das  Gewicht  dieser  nicht  überschätzen, 
Angesichts  der  Thatsache,  dass  Syphilis  hereditär,  extragenital  und  un- 
beobachtet ein  Individuum  heimsuchen  kann,  dass  sichere  Zeichen  über- 
standener  Lues,  mit  Ausnahme  der  Immunität,  die  aber  nur  durch 
Impfung  festgestellt  werden  könnte,  nur  ausnahmsweise  nachweisbar 
sind,  dass  Anamnesen  über  frühere  Gesundheitsverhältnisse,  namentlich 
bei  Leuten  aus  niederem  Stande,  selten  sichere  Resultate  ergeben  und 
dass  zwischen  der  Erwerbung  der  Lues  und  dem  Ausbruch  der  Paralyse 
Jahrzehnte  liegen  können. 

Es  war  ein  glücklicher  Gedanke  Hii'schl's,  die  anamnestische  Nach- 
weisbarkeit der  Lues  auf  einer  syphilitischen  Abtheilung  zu  erproben 
und  die  gewonnenen  Resultate  mit  denen  der  Nachforschung  an  den 
Paralytikern  der  psychiatrischen  Klinik  zu  vergleichen. 


12  !•    Die  Aetiologie  der 

In  Ausführung  dieser  Idee  ergab  sich,  dass  auf  der  syphilitischen 
Abtheilung  des  Prof.  Lang  in  Wien  unter  63  Fällen  syphilitischer  Spät- 
formen nur  in  54%  Lues  als  sicher,  in  9,5  %  als  wahrscheinlich,  in 
36,5  °/0  aber,  trotz  gegenwärtiger  luetischer  Erkrankung,  anamnestisch 
nicht  nachweisbar  war,  während  Hirschl's  Anamnesen  bei  seinen  Para- 
lytikern die  Procentzahlen  56,  25,  19  ergeben  hatten. 

Die  positiven  Resultate  blieben  bei  den  Syphilitischen  gegenüber 
den  Paralytikern  somit  um  26,5  %  zurück ! 

Die  Analogie  der  Frage  der  Beziehungen  der  Syphilis  zur  pro- 
gressiven Paralyse  mit  der  gleichnamigen  zur  Tabes  ist  eine  zu  nahe- 
liegende, um  sie  ganz  unerwähnt  lassen  zu  können. 

Auch  hinsichtlich  der  Tabes,  die  überdies  auffällig  häufig  mit  Para- 
lyse zusammen  vorkommt  und  gleich  dieser  in  exogenen  Bedingungen 
ihre  Entstehung  findet,  ist  die  Frage  nach  ihrer  luetischen  Provenienz 
eine  gegenwärtig  noch  recht  umstrittene. 

Auch  sie  hat  ihre  Gegner  und  Yorkämpfer.  Zu  den  ersteren  ge- 
hört in  hervorragender  Weise  die  Schule  v.  Leyden's28).  Sie  schmälert  den 
Werth  statistischer  Studien  über  das  Verhältniss  der  Lues  zur  Tabes, 
hält  den  anamnestischen  Nachweis  der  ersteren  für  zu  unsicher,  verweist 
auf  die  grosse  Zahl  negativer  Fälle,  auf  die  Thatsache,  dass  man  in  den 
Sectionsprotocollen  von  Tabikern  in  höchstens  30%  der  Fälle  luetische 
Residuen  fand,  dass  Reumont  bei  seinen  Syphilitischen  nur  ein  Tabes- 
procent von  1,1  %  fand,  dass  in  gewissen  luetisch  durchseuchten  Ländern 
Tabes  selten  sei,  selten  auch  bei  Prostituirten  und  dass  antiluetische 
Therapie  bei  Tabes  versage. 

Mit  derartigen,  zum  Theil  recht  anfechtbaren  Argumenten  wird 
man  eine  solche  Frage  nie  zur  Entscheidung  bringen. 

Möglich  wäre  dies  nur,  wenn  man  die  negativen  Fälle  auf  ihre 
luetische  Bedeutung  durch  Impfung  mit  syphilitischem  Virus  prüfen 
könnte. 

Bekanntlich  besitzt  der  menschliche  Organimus  der  Lues  gegenüber 
keine  Immunität,  ausser  derselbe  wäre  durch  hereditäre  Lues  oder  durch 
acquirirte  früher  immun  geworden,  wobei  die  Möglichkeit  einer  übrigens 
sehr  seltenen  Reinfection  immer  noch  in  Betracht  käme.  Ein  solcher 
Versuch  der  Probeimpfung  wurde  an  Paralytikern  unternommen. 

Es  lagen  mir  im  vorigen  Jahre  9  Krankengeschichten  und  Proto- 
colle  vor,  die  ein  durch  wissenschaftliche  Leistungen  hervorragender 
und  höchst  zuverlässiger  College  mir  zur  Einsicht  überlassen  hatte. 

Sie  betrafen  9  männliche  Paralytiker,  bezüglich  welcher,  da  es  sich 
um  typische  Fälle  handelte,  diagnostisch  nicht  der  geringste  Zweifel  be- 
stehen konnte.   Bei  diesen  9  Kranken  hatte  weder  die  sorgfältigste  Anam- 


progressiven  Paralyse.  13 

nese,  noch  die  genaueste  fachmännische  Untersuchung  irgendwelche 
Beweise  für  vorhanden  gewesene  Lues  zu  erbringen  vermocht. 

Der  genannte  Forscher,  dessen  Befähigung  und  Gewissenhaftigkeit 
ich  verbürgen  kann,  entschloss  sich  bei  diesen  hinsichtlich  Lues  nega- 
tiven 9  Fällen  zur  Impfung  mit  Syphilisvirus,  als  dem  einzigen  Mittel, 
um  eine  etwaige  latente  Lues  zu  ermitteln.  Er  unternahm  dieses  Wag- 
niss  der  principiellen  Wichtigkeit  solcher  Versuche  wegen  und  in  der 
wissenschaftlichen  Ueberzeugung,  dass  er  seinen  Kranken,  die  ja  in 
einem  hoffnungslosen  Stadium  einer  zum  Tode  führenden  Krankheit  sich 
befanden,  keinen  Schaden  zufügen  werde. 

Als  Material  für  die  Impfungen  dienten  3  Fälle  von  Lues  und 
zwar  ein  Weib  mit  Initialsklerose,  bezw.  der  Belag  des  Geschwüres  und 
ein  Theil  des  Gewebes,  die  mit  dem  scharfen  Löffel  ausgekratzt  wurden ; 
ferner  ein  Mann  und  ein  Weib  mit  nässenden  Papeln.  Die  hohe 
Virulenz  dieser  3  Kranken  war  durch  einen  Fachmann  vorher  fest- 
gestellt worden.  Mein  Gewährsmann  impfte  mit  der  Lanzette,  machte 
bei  jedem  der  9  Paralytiker  15 — 20  Einstiche  und  rieb  in  diese  das 
Impfmaterial  ein. 

Die  betreffenden  Kranken  waren,  mit  Ausnahme  eines  einzigen, 
dessen  Beobachtung  nach  der  Impfung  nur  72  Tage  dauern  konnte, 
durch  180  Tage  und  darüber  Gegenstand  der  genauesten  klinischen 
Beobachtung. 

Weder  an  den  Impfstellen,  noch  an  den  Drüsen,  noch  am  übrigen 
Körper  traten  bei  8  der  Geimpften  irgendwelche  Reactionserscheinungen 
im  Sinne  einer  Syphilis  ein,  sodass  nach  dem  180.  Tag,  als  dem  Termin 
der  längsten  Incubation,  die  Beobachtung  eingestellt  und  der  Versuch 
einer  Impfung  aus  Syphilisvirus  als  resultatlos  constatirt  wurde. 

Nur  in  einem  Falle  war  eine  Reaction  an  der  Impfstelle  durch 
Infection  von  Aussen  erfolgt,  aber  es  war  ein  einfaches,  sicher  nicht 
specifisches  Geschwür,  was  auch  von  einem  hervorragenden  Syphili- 
dologen  anerkannt  wurde.  Es  fehlten  auch  in  diesem  bis  zu  180  Tagen 
beobachteten  Falle  jegliche  Reactionserscheinungen  im  Sinne  der  Syphilis. 
Die  Erwartungen  des  Experimentators  haben  sich  somit  bestätigt.  Seine 
Patienten  haben  nicht  die  geringste  Schädigung  durch  diese  Versuche 
erfahren.  Diese,  meiner  Meinung  nach  einwandfreien  Experimente  sind 
aber  geeignet,  die  Fälle  von  Paralyse  mit  negativem  Resultat  hinsicht- 
lich Lues  in  ein  helles  Licht  zu  setzen,  denn  die  Immunität  jener  9  Fälle 
gegen  Lues  lässt  sich  nur  im  Sinne  latenter  Syphilis  deuten. 

Mit  diesen  Versuchen  hat  aber  der  vorläufig  ungenannt  sein 
wollende  College  der  Erkenntniss  der  Bedeutung  der  Lues  als  Vor- 
bedingung für  Paralyse  jedenfalls  einen  grossen  Dienst  geleistet  und  es 


14  I-     Die  Aetiologie  der 

läge  den  Gegnern  der  Ansicht  von  Kjellberg  ob,  durch  positive  Impf- 
resultate, die  seltene  Möglichkeit  einer  Reinfection  allerdings  vorbehalten 
den  "VVerth  jener  negativen  Resultate  zu  vernichten! 

Wer  noch  an  der  Bedeutung  der  Versuche  meines  Gewährsmannes 
zweifeln  möchte,  vergleiche  damit  die  Resultate  eines  Pfälzer  Arztes25), 
der  1854  und  55  11  Geistesgesunde  und  offenbar  nie  luetisch  Gewesene 
mit  syphilitischem  Virus  geimpft  hat,  ferner  analoge  Versuche  von 
Gibert,  Guyenot,  v.  Bärensprung20),  bei  welchen  in  allen  Fällen,  wie  ja 
auch  nicht  anders  zu  erwarten  war,  Primäraffekt  und  allgemeine  Syphilis 
erfolgten. 

Dass  Paralytiker  wahrscheinlich  immun  gegen  Lues  sein  dürften, 
Hess  sich  übrigens  schon  aus  der  Thatsache  folgern,  dass  man  niemals 
einen  solchen  Kranken  mit  einem  syphilitischen  Primäraffekt  in  ärzt- 
liche Behandlung  bekommt,  obwohl  derartige  Unglückliche  doch  in  den 
Anfangsstadien  ihrer  Krankheit  meist  recht  libidinös  sind  und  durch 
häufig  bei  ihnen  vorkommende  Gonorrhöen  und  Ulcera  niollia  beweisen, 
dass  sie  der  Venus  vulgivaga  ergeben  waren  und  genug  Gelegenheit  ge- 
habt hatten,  auch  mit  Lues  sich  zu  inficiren. 

In  dem  Lichte,  welches  durch  diese  Erfahrungen  auf  die  Aetiologie 
der  Paralyse  fällt,  gewinnt  aber  eine  ganze  Reihe  von  sociologischen 
und  klinischen  Thatsachen,  die  man  längst  für  die  Entstehung  dieser 
Krankheit  als  bedeutungsvoll  erkannt  hat,  eine  weitere  Klärung  und 
werden  sie  Stützen  für  die  Vermuthung,  dass  frühere  Syphilis  conditio 
sine  qua  non  für  die  Entstehung  von  progressiver  Paralyse  sein  möge- 

Eine  der  bemerkenswerthesten  Thatsachen  ist  die,  dass  das 
Relationsverhältniss  der  Paralyse  bei  Mann  und  Weib,  nämlich  4  bis 
3,5:1  dem  relativen  Vorkommen  der  Syphilis  in  der  betreffenden  Be- 
völkerung bei  den  verschiedenen  Geschlechtern  sich  analog  erweist. 

Allerdings  lässt  sich  das  nur  für  Dänemark  erweisen,  wo  Anzeige- 
pflicht bezüglich  der  venerischen  Erkrankungen  an  die  Behörde  durch 
das  Gesetz  besteht. 

Nach  Blaschko27)  ist  in  diesem  Lande  das  Relationsverhältniss  der 
venerisch  erkrankten  Männer  und  Frauen  4,1  :  1,  während  nach  Idanoff 
das  der  Männer-  zur  Frauenparalyse  3,49  :  1  ist." 

Noch  bedeutungsvoller  ist  die  Ermittelung  der  ursächlichen  Be- 
dingungen für  die  erst  in  neuester  Zeit  bekannt  gewordene  infantile 
und  juvenile  Paralyse. 

Alzheimer28)  gelangte  in  einer  bezüglichen  Statistik  zu  91  % 
sicherer  oder  wahrscheinlicher,  meist  hereditärer  Lues.  Er  betont  über- 
dies die  auffallend  häufige  hereditäre  Belastung  durch  progressive 
Paralyse  des  Vaters  oder  auch  der  Mutter. 


progressiveu  Paralyse.  15 

Fournier29)  fand  gar  in  100  °/0  seiner  37  Fälle  von  juveniler 
Paralyse  Lues,  meist  als  hereditäre,  seltener  als  erworbene.  Zu  ähn- 
lichen Resultaten  gelangte  ich30j  bei  11  in  meiner  Klinik  von  1894 — 96 
zur  Aufnahme  gelangten  Fällen  von  juveniler  Paralyse. 

Die  enormen  Luesprocente  in  der  Paralyse  der  Kinder  und  jungen 
Leute  sind  umso  bemerkenswerther,  als  die  Schädigungen,  auf  Grund 
welcher  man  sich  früher  das  Entstehen  der  Paralyse  bei  Erwachsenen 
dachte,  hier  gar  nicht  oder  nur  minimal  zur  Geltung  gelangen.  Bedeut- 
sam ist  weiter  der  Morbiditätsuntersehied  bei  Stadt-  und  Landbewohnern. 

Schon  Mendel  wies  nach,  dass  der  Procentsatz  der  Paralyse  in  den 
Irrenanstalten  der  ackerbautreibenden  Provinzen  Schleswig-Holstein  und 
Hannover  1876  nur  4,56  betrug,  während  man  in  denen  der  Provinz 
Brandenburg  19,7  °/0  und  in  Berlin  sogar  26  °/0  zählte. 

Analog  lauten  die  Erfahrungen  von  Pontoppidan  hinsichtlich 
Irland  und  Dänemark,  in  deren  ackerbautreibenden  Bevölkerungen  die 
Paralyse  sehr  selten  ist,  ferner  die  von  Hougberg  über  Finnland,  in 
dessen  Landesirrenanstalt  Lappvik  die  Zahl  der  in  18  Jahren  auf- 
genommenen Paralytiker  nur  7,03  °/0  der  Gesammtaufnahmen  betrug 
und  das  Verhältniss  der  männlichen  zu  den  weiblichen  Paralytikern  sich 
wie  11  :  1  stellte. 

Hougberg  hebt  speciell  hervor,  dass  unter  den  1875 — 92  auf- 
genommenen 107  Paralytikern  sich  kein  einziger  Landmann  befand,  da- 
gegen auffallend  viel  städtische  Arbeiter. 

Auch  in  einer  Statistik  von  Stark31)  über  die  Aufnahmen  in  der 
elsässischen  Landesirrenanstalt  ergab  sich  markant  dieser  Unterschied 
von  Stadt  und  Land,  insofern  der  Unterelsass  exclusive  Strassburg 
10,6  °/0,  Strassburg  allein  40,3  °/0  Paralytiker  lieferte.  Der  Procentsatz 
von  100  Aufnahmen  des  Oberelsass  exclus.  der  Fabrikstadt  Mülhausen 
war  15,5  °/0,  von  Mülhausen  allein  29  °/0. 

Arnaud32)  wies  nach,  dass  in  den  grossen  Städten  Frankreichs  die 
Paralyse  4  mal  häufiger  vorkommt,  als  bei  der  ländlichen  Bevölkerung. 

So  gross  können  das  Surmenage  und  andere  kulturelle  Schädlich- 
keiten der  Gross-,  Fabriks-  und  Handelsstadt  an  und  für  sich  nicht  sein, 
um  das  vierfach  häufigere  Vorkommen  der  Paralyse  in  ihrem  Bereich 
zu  erklären. 

Der  Grund  dafür  liegt  wohl  wesentlich  in  der  grösseren  Häufigkeit 
der  Syphilis,  wozu  die  Prostitution  das  Ihrige  beiträgt. 

Bedeutsam  in  dieser  Hinsicht  ist  Blaschko's  Statistik  von  Däne- 
mark, wonach  in  Kopenhagen  2,9  °/0  Fälle  von  venerischer  Krankheit 
vorkommen,  während  die  entsprechende  Zahl  auf  dem  Lande  exclusive 
Städte  nur  0,62  °/0  ist.   Diese  Zahlen  repräsentiren  ungefähr  die  gleichen 


IQ  I.    Die  Aetiologie  der 

Relationen,  wie  sie  hinsichtlich  der  Morbidität  an  Paralyse  in  der  Stadt 
gegenüber  dem  Lande  feststehen,  nämlich  4  :  1. 

Sehr  bemerkenswerth  und  wesentlich  auf  Lues  zurückzuführen  ist 
ferner  die  grosse  Morbidität  gewisser  Berufsklassen  gegenüber  der 
relativen  Immunität  anderer  Stände. 

Die  grössten  Gegensätze  ergeben  sich,  wenn  man  die  Morbidität 
an  Paralyse  bei  Officieren  und  Geistlichen  vergleicht. 

Kundt33)  (Deggendorf)  hatte  unter  1090  Aufnahmen  in  seiner  An- 
stalt 17  katholische  Geistliche,  von  denen  kein  einziger  an  Paralyse 
litt,  dagegen  13  Militärpersonen  (5  Officiere),  davon  8  Paralytiker 
(3  Officiere)  =  61,5  °/0. 

Bouchaud M)  ermittelte  unter  288  in  3  verschiedenen  französischen 
Irrenanstalten  aufgenommenen  Geistlichen  9  Paralytiker  (3,1  °/0)  und 
vermuthet  wohl  mit  Recht,  dass  die  Seltenheit  von  Lues  und  Alkohol- 
ausschweifung bei  diesem  Stand  die  geringe  Mortalität  erklärt. 

Ich  selbst  habe  unter  rund  3000  männlichen  Paralytikern  nur 
einen  (katholischen)  Geistlichen  gezählt.  Dieser  eine  hatte  als  Student 
an  Lues  gelitten.  Wiederholte  Berechnungen  bezüglich  der  Paralyse  bei 
Officieren  ergaben  mir  in  meinem  Beobachtungskreise  bis  zu  90°/0 
Paralysefälle. 

So  kolossal  kann  der  Unterschied  des  Berufs  sich  nicht  geltend 
machen. 

Auch  die  enorme  Seltenheit  der  Paralyse  bei  Damen  aus  hohem 
Stande  lässt  sich  aus  ihrer  geschonten,  dem  Kampf  ums  Dasein  ent- 
rückten Position,  wie  man  dies  früher  sich  dachte,  nicht  erklären.  Hier 
ist  offenbar  die  Seltenheit  luetischer  Infection  das  Ausschlaggebende. 

Die  Annahme,  dass  die  Syphilis  in  irgend  einer  "Weise  die  Grund- 
bedingung für  die  Entstehung  der  Paralyse  sei,  findet  wichtige  Be- 
stätigung dadurch,  dass  in  Gegenden,  in  welchen  Lues  selten  ist,  auch 
die  Paralyse  kaum  vorkommt. 

Besonders  bemerkenswerth  sind  die  Erfahrungen  von  Rabow86), 
nach  welchen  im  Schweizer  Canton  Wallis  die  cantonsangehörigen 
Paralytiker  nur  1,1  °/0'  der  Gesammtaufnahme  der  männlichen  Kranken 
in  der  Irrenanstalt  ausmachten.  Nun  ist  aber  im  Canton  Wallis  Syphilis 
äusserst  selten.  Analoge  Erfahrungen  machte  Ehlers86)  auf  Island.  Er 
fand  dort  nur  1  Mann  und  2  Frauen,  die  an  Paralyse  litten.  Ihre  Tor- 
geschichte ergab  Lues.  Lm  Uebrigen  soll  die  Syphilis  auf  Island  sehr 
selten  sein  und  die  Paralyse  gar  nicht  vorkommen. 

Umgekehrt  giebt  es  Länder,  in  welchen  neben  der  unverhältniss- 
mässig  grossen  Zahl  der  Syphilitischen,  die  Paralyse,  aber  auch  die  Tabes 
sich  in  fataler  Weise  bemerklich  macht,  so  z.  B.  in  Rumänien,  wo  die 


progressiven  Paralyse.  17 

sanitätspolizeiliche  Ueberwachung  der  Prostitution  bis  vor  Kurzem  noch 
eine  sehr  mangelhafte  war. 

Eine  bemerkenswerthe  Thatsache  ist  die,  dass  die  Paralyse  auf  der 
Höhe  des  Lebens  die  grösste  Morbidität  zeigt.  Man  erklärte  sich  dies 
damit,  dass  man  annahm,  zur  Zeit  der  grössten  Inanspruchnahme  und 
physiologischen  Turgescenz  sei  das  Gehirn  des  Culturmenschen  am 
meisten  exponirt  dieser  Krankheit  gegenüber.  Es  kann  nicht  bezweifelt 
werden,  dass  accessorische  Schädlichkeiten,  welche  sie  zum  Ausbruch  zu 
bringen  geeignet  sind,  gerade  in  dieser  Lebenszeit  in  Gestalt  von  Sur- 
menage, Debauchen,  mechanischem  und  psychischem  Shok  auf  das  Gehirn 
besonders  häufig  vorkommen  und  von  Einfluss  auf  die  Morbidität  in 
diesem  Lebensalter  sein  mögen,  aber  die  Erfahrung  lehrt,  dass  es  doch 
unzählige  Fälle  giebt,  in  welchen  solche  Schädlichkeiten  nicht  oder  in 
nicht  genügender  Intensität  nachgewiesen  werden  können  und  gleich- 
wohl die  Krankheit  in  dem  Alter  der  besonders  grossen  Morbidität 
(35.-45.  Jahr)  zum  Ausbruch  gelangte.  Hier  dürfte  als  erklärendes 
Moment  die  frühere  Lues  heranzuziehen  sein,  denn  die  meisten  von  ihr 
Heimgesuchten  acquiriren  sie  in  der  Zeit  vom  20—30.  Lebensjahre  und 
der  Ausbruch  der  Paralyse  erfolgt  in  der  ungeheuren  Mehrzahl  der 
Fälle  5 — 15  Jahre  nach  der  Infection. 

Wenn  Paralytiker  viel  früher  oder  viel  später  als  vom  35. — 45.  Jahre 
erkranken,  so  kann  man  fast  immer  in  solchen  Fällen  ungewöhnlich 
frühe  oder  späte  Infection  nachweisen.  Die  juvenile  Paralyse,  bei 
welcher  ja  fast  immer  hereditäre,  zuweilen  auch  acquirirte  Lues  nach- 
weisbar ist,  mag  als  Beleg  für  die  Richtigkeit  dieser  Annahme  gelten. 

Von  einzelnen  Forschern,  so  z.  B.  neuerlich  von  Westphal37)  wird, 
zum  Theil  zur  Widerlegung  der  Bedeutung  der  Lues  für  die  Entstehung 
von  Paralyse,  hervorgehoben,  dass  Prostituirte  selten  an  Paralyse  er- 
kranken. So  fiel  es  Westphal  auf,  dass  unter  seinen  148  weiblichen 
Paralysefällen  keine  einzige  Puella  publica  sich  befand.  An  der  Wiener 
Klinik  sind  solche  Fälle  nicht  gerade  selten.  Man  darf  diesen,  auch 
für  Tabes  herangezogenen  Beweis  nicht  ernst  nehmen,  denn  da  die 
meisten  Puellae  um  die  30er  Jahre  ihr  Schandgewerbe  aufgeben  müssen 
und  zur  Zeit  ihrer  Erkrankung  an  Paralyse  einen  anderen  Beruf 
repräsentiren,  findet  ihr  früheres  Gewerbe  in  der  Statistik  keine  Be- 
rücksichtigung. 

Ob  die  frühere  Syphilis  eine  Conditio  sine  qua  non  für  die  Ent- 
stehung von  Paralyse  ist,  kann,  beim  gegenwärtigen  Stand  der  Forschung, 
als  nur  sehr  wahrscheinlich  behauptet  werden.  Jedenfalls  sind  die  Impf- 
versuche meines  Gewährsmannes  in  hohem  Grade  geeignet,  diese  An- 
schauung zu  stützen. 

9 

Kraff  t-Ebing,  Arbeiten  II.  " 


18  I.    Die  Aetiologie  der 

Auch  die  hochwichtige  Frage,  durch  welche  Zwischenglieder  die 
Lues  pathogen  wird,  muss  zur  Zeit  als  eine  ganz  offene  bezeichnet 
werden.  Mendel  und  Hirschl  vermuthen,  dass  die  Syphilis,  analog  der 
interstitiellen  Hepatitis  luetica,  eine  interstitielle  Encephalitis  hervorrufe. 

Mendel  lässt  ferner  die  Möglichkeit  offen,  dass  die  Lues  feinere  Ver- 
änderungen an  den  Gehirngefässen ,  mit  dem  Erfolg  abnormer  Durch- 
lässigkeit derselben,  bewirkt.  Andere  nehmen  bekanntlich  als  Ursache 
der  durch  Lues  im  Gehirn  des  Paralytikers  vermittelten  geweblichen 
Veränderungen  Toxine  (Strümpell)  an  oder  ein  unter  dem  Einfluss  der 
früheren  Syphilis  entstandenes  fermentartiges  Gift  (Möbius  —  Paralyse 
eine  metasyphilitische,  Fournier  —  parasyphilitische  Erkrankung).  All  das 
sind  vorläufig  nur  Hypothesen. 

Sicher  ist  nur,  dass  die  Paralyse  keine  specifische  (luetische)  Hirn- 
erkrankung, weder  im  Sinne  gummöser  noch  arteriitischer  Processe  dar- 
stellt, womit  sich  auch  die  Erfolglosigkeit  antiluetischer  Behandlung 
dieser  Krankheit  gegenüber  erklären  dürfte. 

Unzweifelhaft  stellt  die  frühere  luetische  Infection  das  constanteste 
und  einzige  nicht  zufällige  Moment  in  der  Aetiologie  dieser  Krankheit 
dar  (Hirschl)  und  damit  die  wichtigste  (praedisponirende)  Ursache 
derselben. 

Dadurch  erscheint  die  Krankheit,  im  Gegensatz  zu  den  meisten 
gewöhnlichen  Psychosen  (abgesehen  von  den  alkoholischen)  im  Lichte 
einer  nicht  sowohl  erblich  gezüchteten  als  vielmehr  einer  erworbenen 
und  meist  vermeidbaren  Krankheit. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  gehört  zu  den  Ursachen  der  Paralyse 
Alles,  was,  wenn  auch  nur  indirect,  der  Entstehung  der  Syphilis  Vor- 
schub leistet. 

Die  Zunahme  der  Paralyse  legt  die  Frage  nahe,  ob  denn  die 
Syphilis  in  der  modernen  Gesellschaft  zunimmt  und  in  welchen  Pro- 
portionen ? 

Eine  Statistik  der  venerischen  Krankheiten  giebt  es  nur  in  Däne- 
mark. Selbstverständlich  entgehen  ihr  viele  Fälle.  Die  Berechnung  des 
Syphilisprocentes  der  Bevölkerung  nach  dem  Vorkommen  der  Lues  bei 
der  Armee  ist  kein  verlässlicher  Maassstab. 

Der  Procentsatz  der  Syphilis  in  den  europäischen  Heeren  schwankt 
zwischen  2  und  8,4  °/0.  In  Grossbritannien  berechnete  man  1875,  dass 
5,4  °/0  der  Gesammtbevölkerung  syphilitisch  waren. 

Dass  die  Lues  allenthalben  in  bedenklicher  Zunahme  begriffen  ist 
begegnet  nirgends  einem  Widerspruch. 


progressiven  Paralyse.  19 

Neumann38)  sagt:  ,,Die  Prostitution  hat  gerade  heutzutage  eine 
ungeahnte  Ausdehnung  gefunden.  Sie  ist  es,  welche  an  der  ausser- 
ordentlichen Verbreitung  der  Syphilis  hauptsächlich  Schuld  trägt." 

Schuld  daran  ist  in  erster  Linie  die  zunehmende  Ehelosigkeit,  dann 
das  Zusammendrängen  der  Menschen  in  Städten,  die  riesige  Ausbreitung 
von  Handel  und  Wandel,  überhaupt  des  menschlichen  Verkehrs,  die 
Genuss-  und  Putzsucht  breiter  Schichten  der  weiblichen  Bevölkerung, 
die  Hungerlöhne,  welche  arme  Mädchen  dem  Laster  in  die  Arme  treiben 

Nicht  zu  unterschätzen  ist  aber  auch  die  Zunahme  der  stehenden 
Heere  und  die  allgemeine  Wehrpflicht.  Unzählige  junge  Leute,  die  auf 
dem  Lande  geblieben  wären,  kommen  heutzutage  zur  Ableistung  ihrer 
Militärpflicht  in  die  Garnisonsstadt  und  fallen  dort  der  Prostitution  in 
die  Hände,  um  dann  eventuell  später  eine  Infectionsquelle  für  die 
Heimath  zu  werden.  Die  meisten  jungen  Leute,  welche  der  Syphilis 
zum  Opfer  fallen,  haben  dieselbe  während  ihrer  Militärzeit  erworben. 

In  den  Gross-,  Handels-  und  Fabrikstädten  hält  es  die  Mehrzahl 
der  jungen  Männer  für  eine  Schande,  keusch  zu  bleiben.  Was  nicht 
das  böse  Beispiel  der  Kameraden  und  die  Verführung  bewirken,  kommt 
auf  Rechnung  des  Alkohol,  der  erogen  wirkt,  Gewissen  und  Vorsicht 
betäubt  und  damit  den  oft  so  verhängnissvollen  sexuellen  Verkehr  mit 
dem  anderen  Geschlecht  fördert. 

Es  ist  Erfahrungsthatsache,  dass  nur  ein  gewisser,  leider  nicht  be- 
stimmbarer Procentsatz  von  syphilitisch  Gewesenen  der  Paralyse  an- 
heimfällt. 

Nothwendiger  Weise  müssen  zu  der  durch  Lues  erworbenen 
Disposition  noch  andere  disponirende  und  überdies  accessorische  Ur- 
sachen hinzukommen,  um  Paralyse  hervorzubringen. 

Eine  besonders  wichtige  Disposition  scheinen  biologische  Lebens- 
phasen darzustellen,  gleichsam  kritische  Zeiten,  in  welchen  die  trophischen 
Vorgänge  im  Organismus  durch  Entwicklung  und  Functionsbethätigung 
bisher  unentwickelter  Organe  (Pubertät)  oder  Ausschaltung  derselben 
(Klimacteriuni)  grosse  Schwankungen  durch  Veränderungen  der  all- 
gemeinen Ernährungs-  und  Circulationsbedingungen  zu  bestehen  haben. 
Offenbar  schädigt  die  Lues  die  Vitalität  und  Resistenzfähigkeit  der  Ge- 
webe. Es  liegt  nahe,  zu  vermuthen,  dass  damit  evolutive  Vorgänge  ge- 
stört und  involutive  beschleunigt  werden. 

So  würde  es  sich  erklären,  dass  die  fast  ausnahmslos  mit  dem 
Beginn  der  Pubertät  einsetzende  juvenile  Paralyse  dadurch  zu  Stande 
kommt,  dass  durch  hereditäre  Lues  geschädigte  Ganglienzellen  und 
Nervenfasern  den  geänderten  Ernährungsbedingungen  in  dieser  biolo- 
gischen Phase  sich  nicht  anzupassen  vermögen  und  der  Atrophie  verfallen. 

2* 


20  I.    Die  Aetiologie  der 

Auch  das  auffallend  häufige  Auftreten  der  Paralyse  in  den 
Involutionsjahren  beim  Weibe  würde  damit  eine  Erklärung  finden. 

Für  diese  Annahme  spricht  auch  die  Thatsache,  dass  die  juvenile 
Paralyse  geradezu,  die  der  Erwachsenen  heutzutage  vorwiegend  in  der 
als  einfach  atrophische  Form  anzusprechenden  klinischen  Erscheinungs- 
weise simpler  Dementia  beobachtet  wird. 

In  verallgemeinerter  Auffassung  Hesse  sich  der  Einfluss  der  Lues 
überhaupt  dahin  deuten,  dass  durch  sie  die  in  ihren  Lebensbedingungen 
veränderten  Nervenelemente  abnorm  früh  der  Involution  zugeführt 
werden.  Die  Paralyse  wäre  also  in  diesem  Sinne,  wie  Schuele  u.  A. 
längst  lehrten,  ein  Senium  praecox  (e  lue.)  und  das  Einsetzen  der 
Krankheit  bei  Männern  schon  Anfangs  der  vierziger  Jahre  würde  ein- 
fach im  Sinne  eines  solchen  zu  deuten  sein.  Als  unterstützende 
praedisponirende  Momente  wären  dabei  noch  zu  berücksichtigen:  die 
erbliche  Belastung  und  neuropathische  Constitution,  die  durch  Rachitis 
hervorgerufenen  Schädigungen  von  Schädel  und  Gehirn,  ein  durch 
körperliche  und  geistige  Ueberanstrengung,  Debauchen  und  andere 
Schädlichkeiten  vorzeitig  abgenütztes  Gehirn. 

Ein  theilweiser  Ausdruck  der  Wirksamkeit  solcher  Factoren  in 
der  Bevölkerung  wäre  die  Thatsache  der  fortschreitend  früheren  Er- 
krankung an  Paralyse  in  den  letzten  Decennien. 

Man  ist  jedenfalls  berechtigt,  diese  Thatsache  mit  der  anti- 
hygienischen Lebensweise,  namentlich  dem  Surmenage  und  anderen 
Auswüchsen  der  Civilisation  in  ursächlichen  Zusammenhang  zu  bringen. 
Es  bliebe  aber  immerhin  noch  übrig  zu  untersuchen,  ob  heutzutage  die 
Gelegenheit  zu  luetischer  Infection  (Grossstädte!)  nicht  früher  sich  er- 
giebt,  als  in  vergangenen  Generationen.  Geringfügig  gegenüber  diesen 
aus  Lues  und  sociologischen  Bedingungen  resultirenden  ätiologischen 
Momenten  erscheinen  gewisse,  offenbar  nur  den  letzten  Anstoss  zur  Er- 
krankung gebende  oder  den  Ausbruch  beschleunigende  Factoren,  wie 
z.  B.  psychische  (Schicksalsschläge)  und  mechanische  Traumen.  Falls 
man  es  versuchen  wollte,  die  Aetiologie  der  Paralyse  in  2  Worten  zu- 
sammen zu  fassen,  so  hätten  sie  zu  lauten:  Syphilisation  und 
Civilisation. 

Das  Endziel  aller  wissen  seh  aftlichen  Forschung  ist  die  Erkenntniss 
der  Wahrheit.  Die  Philosophie  kann  sich  mit  einem  solchen  Resultat 
zufrieden  geben.  Für  die  Medicin  erwächst  daraus  aber  ein  weiteres 
ethisches  und  ein  praktisches  Bedürfniss  —  nämlich  aus  solcher  Er- 
kenntniss Gewinn  zu  ziehen  für  die  Wohlfahrt  der  Mitmenschen.  Auf 
dem  Gebiete  der  Krankheitsursachen  ist  dies  gleichbedeutend  mit  der 
Prophylaxe    von  Krankheiten,    deren  Aetiologie    klar    gestellt   ist.    Bei 


progressiven  Paralyse.  21 

einer  so  tragischen  und  unheilvollen  Krankheit,  wie  sie  die  progressive 
Paralyse  darstellt,  bei  einem  Leiden,  dem  gegenüber  die  Therapie  fast 
machtlos  sich  erweist,  erscheint  die  Prophylaxe  von  eminenter  Be- 
deutung. 

Auch  ihr  stehen  grosse  Hindernisse  im  Wege,  denn  sie  hat  mit 
einem  der  mächtigsten  Naturtriebe  und  mit  socialen  Factcren  sich  ab- 
zufinden, deren  Beeinflussung  zum  Guten  überhaupt  schwierig  ist. 

Wir  können  die  Civilisation  nicht  zurückschrauben,  aber  wir  ver- 
mögen ihre  Auswüchse  und  Schädlichkeiten  zu  bekämpfen. 

Hier  bietet  sich  ein  ungeheures  Feld  für  die  Wohlfahrtsbestrebungen 
der  Sociologen  und  Philanthropen,  für  die  der  Medicin  und  der  Staats- 
wissenschaft. 

Kampf  gegen  die  Prostitution  und  die  aus  ihr  resultirende  Syphilis, 
Kampf  gegen  den  Alkoholmissbrauch,  der  die  Menschen  körperlich 
schwächt  und  Gesittung,  Wille  und  Gewissen  untergräbt,  Schutz  der 
Jugend  vor  Allem,  was  der  Reinheit  und  Keuschheit  abträglich  ist,  Er- 
ziehung derselben  zu  körperlich  kräftigen  Wesen,  womöglich  abseits  von 
den  Gefahren  der  Grossstadt,  sind  nur  einige  und  zunächst  liegende 
Aufgaben,  die  sämmtlich  der  Entstehung  der  Syphilis  und  damit  der 
Paralyse  entgegenzuwirken  geeignet  sind.  Nicht  gering  wäre  dabei  an- 
zuschlagen die  rechtzeitige  Aufklärung  der  heranwachsenden  Jugend 
bezüglich  der  Gefahren  der  aussereheliehen  Befriedigung  des  Geschlechts- 
triebes. 

Diese  Seite  der  Jugenderziehung  ist  ein  fast  noch  unbeschriebenes 
Blatt  der  Pädagogik. 

Den  elementaren  Regungen  eines  mächtigen  Naturtriebes  gegen- 
über kann  nur  eine  klaie  Darstellung  der  sittlichen  Pflichten,  die  der 
Einzelne  gegen  sich  und  seine  Mitmenschen  zu  erfüllen  hat,  ein  Gegen- 
gewicht bieten.  Ganz  besonders  handelt  es  sich  dabei  um  die  Be- 
kämpfung der  unsinnigen  Vorurtheile,  dass  ein  an  und  für  sich 
berechtigter,  aber  durch  schädliche  Auswüchse  der  Civilisation  und  ge- 
züchtete Nervosität  vielfach  präpotenter  Sexualtrieb  befriedigt  werden 
müsse,  ferner  um  die  Aufklärung  bezüglich  der  Gefahren,  welche  auf 
den  der  Venus  vulgivaga  sich  Ergebenden  lauern. 

Wenn  die  medicinische  Wissenschaft  in  der  Lage  sein  wird,  nach- 
zuweisen, dass  eine  der  gefürchtetsten  Krankheiten  im  Dasein  der 
heutigen  Culturmenschen  nur  unter  der  Voraussetzung  einer  Lues  denk- 
bar ist,  so  wird  die  Furcht  unzählige  Menschen  davon  abhalten,  sich  in 
solche  Gefahr  zu  begeben.  Das  ist  dann  die  wirksamste  Prophylaxe. 
Es  lässt  sich  hoffen,  dass  im  Lauf  der  Zeiten  die  Menschen  durch  Ver- 
nunft,  Erstarkung    ihrer   Sittlichkeit,   durch   entsprechende  sociale  und 


22  I.    Die  Aetiologie  der 

Wohlfahrtseinrichtungen  sich  eines  der  schlimmsten  Feinde,  der  an  ihrem 
Marke  zehrt,  zu  erwehren  wissen  werden. 

Eine  Prophylaxe  der  Paralyse  durch  energische  therapeutische 
Behandlung  der  Lues  giebt  es  nach  meiner  Erfahrung  nicht.  Die  Ver- 
meidung von  Schädlichkeiten,  die  den  Ausbruch  herbeiführen  könnte,  ist 
das  Einzige,  was  hier  übrig  bleibt,  aber  dieser  Forderung  zu  entsprechen, 
ist  nur  ausnahmsweise  möglich. 


')  Willis,  de  aninia  brutoruni.  Amstelodami  1072,  Cap.  IX.  p.  280,  „observavi  in 
pluribus,  quod,  cum  cerebro  primum  indiBposito  mentis  bebetudine  et  oblivioDe  et 
deinde  stupiditate  et  /koqwoei  afficerentur,  postea  in  paralysin  (quod  jam  praedicere 
solebam,  incidebant  .  .  .  ." 

2)  Haslam,  observations  on  madness  and  melancholy  London  1798  p.  259:  „Die 
paralytischen  Affectionen  sind  eine  häufigere  Ursache  des  Irreseins,  als  man  glaubt,  und 
sind  ebenso  eine  sehr  häufige  Folge  der  Manie.  Die  Paralytischen  zeigen  in  der  Kegel 
Motilitätsstörungen,  die  ganz  unabhängig  von  ihrer  Geisteskrankheit  sind.  Die  Sprache 
ist  gestört,  die  Mundwinkel  sind  verzogen,  Arme  und  Beine  mehr  weniger  ihrer  will- 
kürlichen Bewegungen  beraubt  und  bei  der  Mehrzahl  der  Kranken  ist  das  Gedächtniss 
erheblich  geschwächt.  Auch  das  Bewusstsein  ihrer  Lage  fehlt  diesen  Kranken  in  der 
Regel.  Schwach,  dass  sie  sich  kaum  auf  den  Beinen  halten  können,  halten  sie  sich 
dennoch  für  äusserst  stark  und  der  grössten  Leistungen  fähig." 

3)  Althaus,  med.  Times  and  Gazette  1876.  Schon  1850  hat  übrigens  Moreau 
(Annales  med.  psychol.  1850,  p.  679,  als  einer  der  Ersten  und  gestützt  auf  die  Statistik 
der  Irrenanstalten  Charenton  und  Bicetre,  die  zunehmende  Häufigkeit  der  Paralyse 
constatirt.    Er  suchte  die  Ursache  davon  in  dem  Fortschritt  der  Civilisation. 

4)  Snell,  Zeitschrift  f.  Psychiatrie  44,  p.  648,  findet  für  Hannover,  dass  in  den 
letzten  Jahren  vor  1880  die  Zahl  der  Irren  nur  um  7  °/0,  die  der  Paralytiker  aber  um 
27  °/0  gestiegen  ist. 

6)  Begis  „l'encephale"  1885,  No.  5. 

6)  Huppert,  Schmidt's  Jahrbücher,  Bd.  173  p.  181. 

7)  Townbridge,  Alienist  and  Neurologist  1891. 

6)  Wille,  Corr.-Blatt  f.  Schweizer  Aerzte  1881.  3. 

9)  Cahneil,  de  la  paralysie  chez  les  alienes.  Paris  1826. 

10)  Kaes,  Zeitschrift  f.  Psych.  49.  5;  Ascher  (Dalldorf)  ebenda  46.  1.  und  Eick- 
holt  (Grafenberg)  ebenda  41.  1  fanden  die  giösste  Häufigkeit  der  Erkrankung  vom 
35.— 50.  Jahr. 

")  Siemerling,  neurolog.  Centralbl.  1888.  11. 

12)  Idanoff,  Annales  med.  psychol.  1894.  3. 

13)  Esmarch  und  Jessen,  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  14,  p.  20. 

14)  Kjellberg,  Virchow's  Jahresbericht  1868  II,  p.  16. 
,s)  Rieger,  Schmidt's  Jahrbücher,  Bd.  210,  No.  4. 
lö)  Goldstein,  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  42.  2. 

17J  Binswanger,  Festschrift,  Hamburg  1891. 

18)  Barwinski,  Mitthl.  a.  d.  Wasserheilanstalt  Elgersburg  1890/91. 

w)  Ziehen,  neurolog.  Centralbl.  1889.  9. 

!0)  Dietz,  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  43.  3. 

3,j  Oebecke,  ebenda  48.  1  und  2. 


progressiven  Paralyse.  23 

22)  Mendel,  Berlin.    Klin.  Wochenschr.  1885.  33.  34. 

S3)  Hougberg,  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  50,  p.  546. 

21)  Hirschl,  die  Aetiol.  d.  progr.  Paral.,  Wien  1890. 

")  Aerztl.  Intelligenzblatt  1856.  35  .  .  .  Cannstatt'sJahresb.  pro  1856 IV,  p.  336  .. . 
Auspitz,  die  Lehren  vom  syphil.  Contagium,  Wien  1866,  p.  183. 

ac)  Auspitz,  op.  cit,  p.  188—196. 

a')  Blasehko,  Syphilis  und  Prostitution  vom  Standpunkt  der  öffentl.  Gesundheits- 
pflege.   Berlin  1893. 

s8)  Alzheimer,  Die  Frühformen  der  allg.  progr.  Paral.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  52.  3. 

20)  Fournier,  paral.  gen.  juvenile  d'origine  heredosyph.  Academie  de  med.  (scance 
du  14.  5.  95)  u.  Revue  neurolog.  1896  IV,  p.  119. 

30)  Von  11  Fällen  juv.  Paral.  in  meiner  Klinik  waren  zur  Zeit  ihrer  Behandlung 
mit  (hereditärer)  Lues  behaftet  4,  wahrscheinlich  2,  unentscheidbar  5. 

Der  Werth  dieser  negativen  5  Fälle  wurde  aber  erheblich  herabgemindert  da- 
durch, dass  bei  einem  derselben  nach  dessen  Tode  die  ältere  Schwester  mit  heredi- 
tärer Lues  in  ambulatorische  Behandlung  kam,  bei  einem  zweiten  post  mortem  eruirt 
wurde,  dass  er  als  dreimonatliches  Kind  an  Pemphigus  syphiliticus  gelitten  hatte  und 
bei  einem  dritten,  mit  17  Jahren  Gestorbenen  die  Necropsie  „Endartenitis  aortae  „pro- 
babiliter  elue"  ergab,  sodass  also  bei  9  unter  meinen  11  Fallen  Lues  sieher  oder  höchst 
wahrscheinlich  war. 

31)  Stark,  Archiv  f.  öffentl.  Gesundheitspflege  in  Elsass-Lothringen  XIV.  1. 
")  Arnaud,  Annal.  med.  psychol.  1888  Juli. 

33)  Kundt,  Zeitschrift  f.  Psychiatrie  50,  p.  258. 
M)  Bouchaud,  Aunal.  med.  psychol.  1891  Mai. 

35)  Babow,  Extrait  du  Becueil  iuaugural  de  l'uuiversite  de  Lausanne.  1892. 
M)  Ehlers,   Deutsche  Med.  Zeitung  1896  ....  neurolog.  Centralbl.  1897,  p.  39 
"j  Westphal,  Aetiologisches  und  Symptomatologisches  zur  Lehre  d.  progr.  Paral. 
der  Frauen.     Charitc'annalen  1893. 

ss)  Neumann,  Nothnagels  Pathol.  und  Therapie.  XXIII,  p.  LIII. 


IL 

UEBER  VORTÄUSCHUNG  ORGANISCHER 

ERKRANKUNGEN  DES  NERVENSYSTEMS 

DURCH  HYSTERIE. 


liin  Umstand,  der  bei  der  Diagnostik  von  Hirn-  und  Rücken- 
niarkskrankheiten  beständig  berücksichtigt  werden  muss,  ist  die  Vor- 
täuschbarkeit  solcher,  durch  organische  Veränderungen  von  Centren  und 
Leitungsbahnen  bedingter  Krankheitsbilder,  in  Gestalt  von  durch  Neu- 
rose vermittelter  blosser  funktioneller  Störung  der  gleichen  Gebiete. 

Schon  Sydenham  hat  1681  auf  diese  die  Sicherheit  der  Diagnose 
und  damit  der  Prognose  trübende  Thatsache  aufmerksam  gemacht  und 
gerade  die  neuere  Literatur,  iu  welcher  es  an  Belegen  für  die  imitatorische 
Leistungsfähigkeit  der  hysterischen  Neurose  in  der  Hervorbringung 
pseudoorganischer  Hirn-  und  Rückenmarkserkrankung  wimmelt,  beweist, 
wie  begründet  die  Warnungen  des  grossen  Klinikers  des  17.  Jahrhunderts 
waren. 

Trotz  aller  Fortschritte  der  Diagnostik,  sowohl  auf  dem  Gebiet  der 
organischen  als  auch  dem  der  sog.  funktionellen  Nervenkrankheiten,;erscheint 
noch  heutzutage  die  Möglichkeit  einer  Verwechselung  zwischen  beiden 
Erkrankungsformen  nicht  ausgeschlossen.  Ganz  besonders  schwierig  ist 
die  Situation  da,  wo  es  sich  um  zweifellos  hysteropathische  Individuen 
handelt. 

Da  die  Hysterie  alle  möglichen  organischen  Krankheitsbilder  imi- 
tiren  kann,  andererseits  aber  jede  organische  Erkrankung  des  Nerven- 
systems als  Complication  der  hysterischen  Neurose  nicht  ausgeschlossen 
ist,  begreift  sich  die  Schwierigkeit  einer  sicheren  Unterscheidung  von 
Organischem  und  Pseudoorganischem,  die  oft  erst  nach  längerer  Beobach- 
tung, wesentlich  durch  die  Instabilität,  Discongruenz  und  eigenthümliche 
Combination  der  Symptome  zur  Entscheidung  im  Sinne  einer  blos  funk- 
tionellen, speciell  hysterischen  Bedeutung  der  gebotenen  Erscheinungen 
vorzudringen  vermag. 

"Wäre  innerhalb  des  Rahmens  der  Hysterie  alles  Gebotene  rein 
psychisch  vermittelt,  die  Pathogenese  des  Krankheitsbildes  und  die  Ab- 
hängigkeit der  Syndrome  von  „Vorstellungen"  überhaupt  und  im  con- 
creten  Falle  völlig  sichergestellt,  so  wäre  die  Schwierigkeit  der  Unter- 
scheidung der  Fälle  von  hysterischer  Bedeutung  von  organisch  vermittelten 
auf  ein  Minimum  reducirt. 


28  IL    Ueber  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen 

Nur  in  einer  gewissen  Zahl  von  Fällen  lässt  sich  aber  das  in  seiner 
Bedeutung  zweifelhafte  Krankheitsbild  auf  den  Einfluss  eines  vermitteln- 
den Vorstellungsbildes  zurückführen  und  als  dessen  mehr  weniger  ge- 
lungene, unwillkürliche,  selbst  ganz  unbewusste  Imitation   nachweisen. 

Ueberdies  handelt  es  sich  ja  gewöhnlich  nicht  um  die  einfache 
plastische  Uebertragung  eines  empfangenen  psychischen  Eindrucks  in  die 
Leiblichkeit,  sondern  um  complicirte,  indirekt  damit  verbundene  Hem- 
mungs-  oder  Eeizvorgänge  im  psychischen  Organ.  Diese  können  wieder 
in  durch  den  seelischen  Eindruck  geweckten  emotionellen  Vorgängen  be- 
stehen, in  associirten  secundär  ausgelösten  Vorstellungen,  die  überdies 
durch  das  Hereingreifen  der  Phantasie,  durch  bewusste  oder  unbewusste 
TJmprägung  des  originalen  afficirenden  Vorgangs  dessen  Wirkungsweise 
modificiren  und  den  ursprünglichen  Zusammenhang  verwischen. 

In  solchen  Fällen  kann,  neben  der  Incongruenz  und  Instabilität  der 
gebotenen  Phänomene,  zunächst  nur  ihre  grosse  Beeinflussbarkeit  durch 
psychische  Momente  die  Erkenntniss  der  rein  funktionellen  Bedeutung 
der  vorhandenen  Symptome  anbahnen  helfen.  Diagnostischen  Werth 
kann  eventuell  auch  die  hypnotische  Suggestion  gewinnen,  unter  der 
Voraussetzung  ihrer  Ausführbarkeit  d.  h.  genügender  Suggestibilität. 

Entscheidend  kann  aber  dieser  Versuch  nur  dann  sein,  wenn  er 
in  vollem  Umfang  positiv  ausfällt,  denn  auch  bei  organischer  Krankheit 
ist  oft  gar  Manches  an  den  Symptomen  funktionell  und  somit  hypnotischer 
Suggestion  zugänglich,  während  allerdings  rein  organisch  vermittelte 
Symptome  psychischem  Einfluss  unzugänglich  bleiben.  Um  diagnostisch 
sicher  vorzugehen,  erscheint  es  räthlich,  an  den  zweifelhaften  Fall  in  der 
"Weise  heranzutreten,  dass  die  organische  Bedeutung  des  Krankheitsbildes 
präsumirt  wird. 

Ergiebt  die  Genese,  der  Verlauf,  die  Gruppirung  und  der  Zusammen- 
hang der  Symptome  die  Unhaltbarkeit  einer  organischen  Begründung  der- 
selben, findet  sich  kein  einziges  klinisches  Zeichen  (Neuroretinitis, 
Atrophia  n.  optici,  Stauungspupille,  reflectorische  Pupillenstarre,  qua- 
litative Aenderung  der  electrischen  Erregbarkeit  u.  s.  w.),  das  im 
Sinne  einer  organischen  Bedeutung  des  Leidens  angesprochen  werden 
könnte,  so  ist  es  gerechtfertigt,  im  Sinne  einer  functionellen  Bedeutung 
des  Falles  zu  ihm  Stellung  zu  nehmen. 

Eine  Stütze  im  weiteren  Vorgehen  gewährt  dann  der  Nachweis, 
dass  der  Kranke  Zeichen  der  hysterischen  Neurose  aufweist.  Ihr  Mangel 
spricht  aber  nicht  gegen  die  obige  Vermuthung,  denn  es  giebt  nicht  wenig 
Fälle,  in  welchen  sie  fehlen  (monosymptomatische  Erkrankung). 

Aber  auch  die  Häufung  hysterischer  Stigmata  giebt  umgekehrt  keine 
Gewähr,  dass  Alles  im  Krankheitsbild  functionell  ist.   Neben  der  Hysterie 


des  Nervensystems  durch  Hysterie.  29 

kann  eine  beliebige  organische  Erkrankung  vorhanden  sein.  Solche  Coni- 
bination  ist  in  der  Praxis  gar  nicht  so  selten,  wie  z.  B.  Fälle  von  Hysterie, 
complicirt  mit  multipler  Sclerose  oder  auch  Syringornyelie  erweisen.  Die 
letztere  Combination  kann  überdies  recht  schwierig  für  die  Diagnostik 
sein,  da  die  dissociirten  Störungen  der  Empfindung,  wie  sie  der 
Syringornyelie  zukommen,  auch  durch  Hysterie  geboten  sein  können. 
Um  zu  einer  sicheren  differentiellen  Diagnostik  zu  gelangen,  erscheint 
es  wünschenswerth,  dass  Fälle,  welche  der  Diagnose  Zweifel  hoten  oder 
zu  diagnostischen  Irrthümern  führten,  gesammelt  und  studirt  werden. 

Souques  hat  in  einer  sehr  werthvollen  Studie  über  die  „Syndromes 
hysteriques",  welche  organische  Erkrankungen  des  Rückenmarks  vor- 
täuschen (Paris  1891),  versucht,  dieser  Aufgabe  gerecht  zu  werden.  Die 
deutsche  Wissenschaft  hat  sich  mit  dieser  wichtigen  Frage  differentieller 
Diagnostik  bisher  wenig  beschäftigt.  In  theilweiser  Erweiterung  und  Er- 
gänzung des  von  Souques  Gebotenen  habe  ich  die  nachfolgenden  Fälle 
aus  eigenem  Beobachtungskreise  zusammengestellt.  Sie  werden  dem  an- 
gehenden Praktiker  den  Beweis  liefern,  dass  die  Typen  von  Hirn-  und 
Rückenmarkskrankheit,  welche  er  in  einseitiger  Vorbildung  an  der  Klinik 
fast  ausschliesslich  in  organischer  Begründung  gesehen  hat,  in  der  Praxis 
auch  als  blos  functionell  bedingte  Bilder  vorkommen  können.  Wie  die 
folgende  Casuistik  lehrt,  hat  die  Verwechslung  functioneller  und  orga- 
nischer Erkrankung  oft  verhängnissvolle  Consequenzen.  Zunächst  be- 
stärkt sie  die  Autosuggestionen  des  Kranken,  organisch  krank  zu  seinr 
raubt  der  wichtigen  psychischen  Therapie  ihre  Grundlagen  und  stellt 
schon  dadurch  die  Möglichkeit  einer  Genesung  in  Frage.  Aber  auch 
die  auf  die  falsche  Diagnose  gestützten  directen  therapeutischen  Eingriffe 
können  dem  Patienten  zu  grossem  Schaden  gereichen. 

Der  Ausdruck  „Simulation"  organischer  Krankheiten  durch  Hysterie 
ist  ein  unglücklicher,  denn  er  fusst  auf  der  irrigen  Vorstellung,  dass 
bewusst  und  absichtlich  der  Kranke  ein  solches  Krankheitsbild  biete. 
Ebensowenig  passt  die  Bezeichnung  der  „Imitation"  für  alle  Fälle,  wenn 
sie  auch  der  Thatsache  einer  ivnbewussten  Projection  von  Vorstellungen 
in  die  Leiblichkeit  gerecht  wird.  Einzig  richtig  erscheint  die  Bezeich- 
nung solcher  Krankheitsbilder  als  „Vortäuschung  organischer  Erkrankung", 
wobei  das  Schwergewicht  hinsichtlich  der  Vortäuschung  nicht  auf  der  Seite 
des  Beobachteten,  sondern  des  Beobachters  zu  suchen  ist  und  von  dessen 
Erfahrung  abhängig  gedacht  werden  muss. 


Hysterische  Hemiplegien 

J.   Hemiplegien,  einsetzend  mit  apoplectiformem  Insult 
(„Apoplexia  hysterica"). 

Beob.  1.  Wiederholte  rechtsseitige  Hemiplegie,  jeweils 
nach  Emotionen,  mit  imitatorischer  Verwerthung  bezüglicher 
Erinnerungsbilder. 

W.,  37  J.,  Friseur,  Wittwer,  erblich  nicht  belastet,  nie  schwer  krank 
gewesen,  Vater  tou  3  gesunden  Kindern,  ohne  hysterische  Antecedentien, 
kein  Potator,  frei  von  Lues,  mit  Spuren  von  Eachitis  am  Skelet  und 
einem  Schädelumfang  von  nur  52,8  cm,  hat  Jahre  lang  seine  Schwieger- 
mutter mit  r.  Hemiplegie  vor  Augen  gehabt.  1885  erlitt  seine  Frau  eine 
Apoplexie  mit  r.  Hemiplegie  und  r.  Schulterschmerz,  genas  aber  bis  auf 
geringfügige  Residuen. 

1891  im  April  erlitt  "W.  eine  heftige  Gemüthsbewegung.  Sofort 
gab  es  ihm  einen  intensiven  Stich  in  der  r.  Schulter  und  stürzte  er 
bewusstlos  zusammen.  Nach  einigen  Minuten  biss  er  um  sich,  wurde 
dann  ruhig,  blieb  bei  getrübtem  Bewusstsein  noch  etwa  24  Stunden,  kam 
dann  ganz  zu  sich,  mit  Amnesie  für  Alles,  was  seit  dem  psychischen  Shok 
sich  zugetragen  hatte. 

Pat.  bot  eine  schlaffe  Lähmung  in  r.  OE.  und  TJE.,  totale  r.  Hemianästhe- 
sie  inclus.  Sinnesorgane,  aber  mit  Ausschluss  einer  Stelle  am  r.  Ober- 
arm, an  welcher  man  ein  Vesicans  applicirt  hatte.  An  dieser  Stelle  em- 
pfand er  lebhaften  brennenden  Schmerz.  Er  blieb  noch  einige  Tage  ver- 
gesslich,  sprach  schlecht,  bekam  Jodkali,  trat  eine  Badekur  in  Pistyan 
an  und  wurde  bis  April  92  von  allen  Beschwerden  frei. 

Im  Juni  92  bekam  Frau  W.  einen  zweiten  Anfall  von  Apoplexie 
mit  restirender  r.  Hemiplegie,  anfänglicher  Sprachlosigkeit  und  starken 
Schmerzen  im  r.  Schultergelenk.  Sie  genas  nicht.  Herr  W.  hatte  viel 
Sorgen  und  Kummer  wegen  seiner  gelähmten  Frau,  musste  seine  3  Kinder, 
die  er  sehr  liebte,  allein  betreuen,  überdies  in  seinem  Beruf  angestrengt 
arbeiten. 

Am  14.  11.  93  erfuhr  "W.  auf  einem  Geschäftsgang  die  Nachricht 
vom  plötzlichen  Tode   seiner  Frau.    Er  erschrak  heftig,   bekam  sofort, 


Hysterische  Hemiplegie.  31 

ohne  apoplectischen  Insult,  eine  schlaffe  LähmuDg  der  r.  OE.  mit  Anästhe- 
sie im  r.  Oberarm  und  Schultergürtel,  sowie  Parese  der  r.  UE. 

Jodbehandlung  und  neuerlicher  Gebrauch  von  Bad  Pistyan  waren 
diesmal  erfolglos,  weshalb  Pat.  sich  am  10.  11.  94  in  meinem  klinischen 
Ambulatorium  vorstellte. 

Pat.  mittelgross,  gut  genährt,  vegetativ  ohne  Befund.  Augenhinter- 
grund  normal,  concentrische  Einschränkung  für  Weiss  und  Farben  auf 
r.  Auge,  Dyschromatopsie;  Pupillen,  Augenmuskeln  ohne  Fuuctionsstörung. 
Facialis  intact,  tactile,  algetische  thermische  Hypästhesie  in  der  r.  Kopf- 
hälfte, Ohr-  und  Nasenreflex  r.  schwächer.  Geruch,  Geschmack,  Gehör 
intact;  Gaumen-  und  Rachenreflexe  sehr  prompt,  beiderseits  gleich. 

Das  r.  Schultergelenk  ist  spontan  und  bei  passiver  Bewegung 
äusserst  schmerzhaft,  ohne  anatomische  Veränderung.  Bei  passiver  Be- 
wegung stellt  sich  Rigor  in  den  Schultergelenksmuskeln  ein  und  wird 
das  Gelenk  steif.     Keine  Diathese  de  contracture. 

Gelingt  es,  die  Aufmerksamkeit  des  Pat.  abzulenken,  so  ist  die  Be- 
wegung im  r.  Schultergelenk  unbehindert  und  schmerzfrei. 

Die  r.  OE.  ist  im  Zustand  schlaffer  Parese,  aber  alle  Einzelbeweg- 
ungen sind  möglich.  Es  besteht  hochgradige  Muskelschwäche,  aber  virtuell 
ist  die  grobe  Muskelkraft  vorhanden.  So  contrahirt  sich  bei  befohlener 
Widerstandsbewegung  gegen  passive  Streckung  des  gebeugten  Armes 
kräftig  der  Triceps,  bei  gestrecktem  Arm  die  Bicepsgruppe. 

Wenn  Pat.  nicht  an  seine  Lähmung  denkt,  verwendet  er  die  r.  Hand 
gleich  der  linken.  Intentioneil  und  emotionell  besteht  feinwelliger  Tremor 
der  ausgestreckten  Arme,  r.  deutlicher  als  1. 

Die  tiefen  Reflexe  sind  in  den  OE.  nicht  gesteigert. 

Die  cutane  Sensibilität  ist  für  alle  Qualitäten  an  r.  OE.  distal  bis 
übers  Handgelenk  herauf,  herabgesetzt,  hier  ringförmig  abschliessend. 

Noch  intensiver  sind  die  sensiblen  Ausfallserscheinungen  an  der 
Innenseite  des  Oberarms,  an  Schulter,  Hals,  Stamm,  vorne  bis  zur-  Höhe 
der  5.  Rippe,  hinten  bis  zur  Höhe  des  10.  Brustwirbels. 

Tiefe  Sensibilität  und  Lagevorstellung  sind  in  r.  OE.  ungestört. 

In  den  r.  UE.  werden  häufig  blitzartig  durchfahrende  Schmerzen 
geklagt. 

Es  besteht  hier  Amyosthenie,  leichtes  Schwanken  des  erhobenen  Beins. 

Der  Gang  ist  normal,  die  Sensibilität  unversehrt,  der  Patellarreflex 
prompt,  gleich  links.     Der  Bauchhautreflex  ist  beiderseits  vorhanden. 

Stigmata  hysteriae  sind  nicht  aufzufinden.  Faradisation  und  Magnet 
bessern  Motiliät  und  Sensibilität;  die  Gelenkneurose  weicht  Wasser- 
injectionen,  die  an  die  Stelle  einmaliger  subcutaner  Morphiurninjection 
treten. 


32  II.  Vortäuschung  organischer  Nervenkrankheiten  durch  Hysterie. 

Vorübergehend  stört  die  Genesung  eine  episodische  Myodynie  mit 
Contractur  im  r.  pectoralis,  wobei  Pat.  sofort  wieder  in  seiner  Energie 
nachlässt,  an  seiner  Zukunft  zweifelt  und  das  Vorbild  seiner  gelähmten 
Frau  vor  Augen  hat.  Faradisation  und  Wachsuggestion  thun  ihre 
Schuldigkeit. 

Am  30.  12.  94  hält  sich  Pat.  für  gesund  und  verlässt  das  Spital. 

Am  2.  1.  95,  als  Pat.  gerade  einen  Kunden  bediente  —  er  hatte 
wieder  eine  Gemüthsbewegung  erfahren  —  bekam  er  Schwindel,  stürzte 
bewusstlos  zusammen,  blieb  einige  Stunden  bewusstlos,  kam  dann  mit 
schlaffer  Lähmung  der  r.  OE  und  stotternder  Sprache  zu  sich.  Schon 
am  folgenden  Tage  gesellte  sich  eine   sehr  schmerzhafte  Omalgie  hinzu. 

Pat.  kommt  am  5.  1.  ins  Ambulatorium  der  Klinik  und  bietet 
folgenden  Befund: 

Schlaffe  Lähmung  der  r.  OE.,  Amyosthenie  der  r.  UE.,  Anästhesie 
für  alle  Qualitäten  in  beiden  r.  Extremitäten,  Hypästhesie  der  1.  TJE., 
Hypästhesie  auf  r.  Kopf-,  Gesichts-  und  Halshälfte,  r.  Amblyopie,  r.  Ge- 
hörstörung, insofern  die  Perception  durch  die  Kopfknochen  null,  durch 
den  Meatus  minimal  ist. 

Im  r.  Mundfacialis  und  in  r.  Zungenhälfte  leichte  Contractur,  dabei 
zeitweise  tic  convulsifartige  Zuckungen  im  r.  Zygomaticus.  Die  vorge- 
streckte Zunge  weicht  nach  links  ab. 

Pat.  lässt  sich  am  14.  1.  95  neuerlich  auf  der  Klinik  aufnehmen. 

Er  klagt  über  heftige  stechende  Schmerzen  in  der  Gegend  des  r. 
Schultergelenks,  ausgehend  vom  r.  Proc.  coracoideus  und  von  hier 
ins  Gelenk,  Arm  bis  zu  den  Fingerspitzen,  Hinterhaupt  und  durch  die 
r.  Rumpfseite  ins  r.  Bein  ausstrahlend. 

Die  r-  Facialis-  und  Zungencontractur  noch  angedeutet  und  Ur- 
sache von  Klagen,  zeitweise  den  Mund  nicht  ordentlich  öffnen,  nicht  gut 
sprechen  zu  können. 

Die  r.  Schulter  ist  in  die  Höhe  gezogen  und  der  Oberarm  an  die 
Thoraxwand  angepresst  (Contractur  des  Cucullaris  und  Pectoralis).  Diese 
Contractur  scheint  eine  reflectorische,  von  Omalgie  hervorgerufen.  Sie 
wird  aber  psychisch  entschieden  beeinflusst,  denn  wenn  die  Aufmerk- 
samkeit des  Pat.  abgelenkt  ist,  erträgt  das  Gelenk  ziemlichen  Druck  und 
lassen  die  Contracturen  bedeutend  nach. 

Werden  dem  Pat.  active  Bewegungen  aufgetragen,  so  gelingen  die- 
selben im  Schultergelenk  nicht,  da  sich  sofort  die  betr.  Muskeln  con- 
tracturiren.  Oft  nimmt  sogar  der  Latissimus  dorsi  und  selbst  der  Biceps 
Theil.  Dabei  kommt  es  zu  lebhaftem  Schütteltremor  der  r.  OE.  Der- 
selbe Erfolg  tritt  bei  passiver  Bewegung  ein. 

Ellbogen-,  Hand-   und  Fingergelenke  sind  andauernd  schlaff  und 


Hysterische  Hemiplegie.  33 

anscheinend  gelähmt.  Fordert  man  aber  den  Pat.  auf,  eine  Bewegung 
vorzunehmen,  so  entsteht  eine  kräftige  Contraction  in  den  Antagonisten. 
Wiederholt  wird  beobachtet,  dass  wenn  Pat.  nicht  an  seine  r.  Schulter 
denkt,  er  rascher  und  ausgiebiger  Bewegungen  im  r.  Schultergelenk 
fähig  ist. 

Die  r.  Hemihyp-  bezw.  Anästhesie  beschränkt  sich  auf  eine  15  cm. 
im  Durchmesser  haltende,  für  alle  Qualitäten  anästhetische  Stelle  am 
vorderen  äusseren  Abschnitt  der  Schulterhöhe.  Innerhalb  dieses  anästhe- 
tischen Bereiches  ist  der  Processus  coracoideus  höchst  druckschmerzhaft. 

Sonst  finden  sich  keine  Stigmata  hysteriae.  Unter  anfänglicher 
Morphiuminjection,  die  aber  inscio  aegroto  durch  Aqua  ersetzt  wird, 
Faradisation  des  r.  Schultergelenks  und  Anlegung  eines  Magnets  all- 
mäliges  Schwinden  der  Beschwerden,  wobei  aber,  anlässlich  Gemüths- 
bewegungen  des  sehr  emotiven  Pat.,  wiederholt  noch  Relapse  vorkommen. 
Entlassen  am  5.  3.  95. 

Beob.  2.     Hemiplegia  dextra,  durch  Emotion  ausgelöst. 

Ph.,  Sophie,  29  J.,  Handarbeiterin,  aufg.  28.  2.  96  behauptet  aus 
gesunder  Familie  zu  stammen  und  stets  gesund  gewesen  zu  sein.  1895 
Abortus  im  5.  Monat. 

Am  27.  2.  96  hatte  Pat.  einen  heftigen  Auftritt  mit  einer  Nach- 
barin in  deren  Zimmer  gehabt.  Sie  ging  darauf  in  ihre  eigene  Wohnung 
und  stürzte  daselbst  bewusstlos  nieder. 

Nach  einer  halben  Stunde  kam  sie  zu  sich,  war  noch  gemüthlich 
sehr  erregt,  fühlte  Kopfweh,  Kriebeln  in  den  Fingern  der  r.  Hand  und 
Schwäche  in  der  ganzen  r.  OE.,  am  folgenden  Morgen  Kriebeln  in  den 
Zehen  des  r.  Fusses  und  Schwäche. 

Pat.  erschien  bei  der  Aufnahme  von  kräftigem  Körperbau.  Schädel 
leicht  rachitisch,  Umfang  53  cm.  Geringe  Intelligenz,  weinerliches  Wesen, 
sehr  emotionirt  und  gedrückt. 

Die  ganze  1.  Kopfhälfte  auf  Percussion  sehr  empfindlich.  Sprache, 
Facialis,  überhaupt  Gehirnnerven  ohne  jegliche  Functionsstörung. 

Die  Papillen  bieten  leichte  Verschleierung  an  deren  innerem  Rande 
jedoch  bleibt  es  von  fachmännischer  Seite  unentscheidbar,  ob  dieser  Be 
fund  als  pathologisch  anzusprechen  ist. 

Am  Stamm  und  auf  der  1.  Körperhälfte  keine  Functionsstörungen. 
Bauchhautreflex  beiderseits  auslösbar. 

Die  r.  OE.  ist  im  Zustand  einer  schlaffen  Lähmung  und  wird  zu 
bewussten  und  willkürlichen  Bewegungen  nicht  benutzt.  Fordert  man 
Pat.  zu  solchen  energisch  auf,  so  kommt  es  zu  ganz  geringfügigen  kraft- 
losen Bewegungsleistungen  in  den  grossen  Gelenken,  während  die  Finger 
gar  nicht  bewegt  werden  können.   Auch  im  Bette  liegt  die  r.  OB.  schlaff  da. 

Krafft-  Eliing,  Arbeiten  II.  3 


34      H.  Vortäuscliung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Am  r.  Bein  sind  alle  Einzelbewegungen  möglich,  jedoch  im  Hüft- 
und  Kniegelenk  mit  sehr  reducirter  Kraft.  Dorsalflexion  des  Fusses 
und  Extension  der  Zehen  gleich  kräftig  wie  links.  Plantarflexion  wird 
wegen  "Wadenschmerzen  nicht  ausgeführt.  Die  r.  Wade  ist  auf  Druck 
äusserst  schmerzhaft,  aber  auch  leichtes  Kneipen  der  Haut  in  ihrem  Be- 
reich ruft  Schmerz  hervor. 

Wohl  auf  Grund  dieser  Schmerzen  hinkt  auch  Pat.  auf  diesem 
Bein,  das  oft  mit  der  Sohle  am  Boden  schleift. 

Vasomotorische  und  trophische  Störungen  bestehen  nirgends.  Tac- 
tile  Sensibilität  im  Lähmungsgebiet,  gleichwie  tiefe  unversehrt.  Ther- 
mische und  algetische  Empfindung  auf  r.  UE.,  OE.,  aber  auch  in  r.  Ge- 
sichtshälfte deutlich  herabgesetzt. 

Keine  Rigorerscheinungen.  Die  tiefen  Reflexe  sind  r.  erheblich 
gesteigert. 

Pat.  verweilt  nur  bis  zum  12.  3.  96  auf  der  Klinik.  Geringfügige 
Besserung  der  Beschwerden. 

Beob.  3.     Recidivirende  linksseitige  Hemiplegie. 

Ha.,  38  J.,  ledig,  Taglöhner,  von  trunksüchtigem  Vater,  von  Kindes- 
beinen auf  emotiv,  reizbar,  nie  schwer  krank  gewesen,  kein  Trinker, 
ohne  hysterische  Antecedentien,  erlitt  am  6.  3.  94  einen  heftigen  psy- 
chischen Shok,  indem  ihm  im  Gasthause  während  des  Schlafes  sein 
Koffer  mit  all  seinen  Ersparnissen  und  Dokumenten  gestohlen  wurde. 

Er  war  darüber  sehr  aufgeregt,  verspürte  sofort  Kopfweh,  Schwindel, 
konnte  sich  gar  nicht  beruhigen,  blieb  schlaflos.  Am  10.  3.  auf  der 
Weiterreise,  im  dumpfen  Eisenbahncoupe,  wurde  ihm  plötzlich  unwohl, 
schwindlig;  er  bemerkte,  wie  sein  Gesichtsfeld  sich  verdunkelte,  empfand 
mit  einem  Male  ein  blitzartiges  Durchfahrenwerden  („Riss")  in  der  linken 
Körperhälfte,  verlor  das  Bewusstsein  und  stürzte  zu  Boden. 

H.  blieb  2J/2  Tage  lang  in  anscheinend  tiefem  Coma  mit  allgemeiner 
Resolution,  kam  in  einem  Spitale  in  Steiermark  wieder  zu  sich,  bemerkte, 
dass  er  auf  der  linken  Körperhälfte  gelähmt  war  und  als  er  sie  anfühlte, 
dass  er  Berührungen  derselben  nicht  empfand.  Die  ärztliche  Unter- 
suchung ergab  complete  1.  Hemiauästhesie  inclusive  Sinnesorgane,  Un- 
beweglichkeit  der  1.  OE.  und  UE.  Darauf,  ob  der  Facialis  mitgelähmt 
war,  wurde  nicht  geachtet. 

Pat.  hatte  ein  Gefühl  von  Steifheit  im  1.  Auge,  war  unfähig,  beide 
Augen  associirt  zu  bewegen,  auch  beide  Lider  vollständig  zu  öffnen 
und  zu  schliessen,  sodass  er,  wenn  er  schlafen  wollte,  sich  die  Augen 
verbinden  lassen  musste. 

Bei  geschlossenem  linkem  Auge  waren  aber  das  rechte  und  dessen 
Augenlider  frei  beweglich. 


Hysterische  Hemiplegie.  35 

Pah  konnte  mit  der  1.  Kieferhälfte  nicht  beissen,  den  Kiefer  nicht 
nach  links  bewegen.  In  der  Mundhöhle  konnte  die  Zunge  nach  allen 
Richtungen  hin  bewegt  werden,  wenn  vorgestreckt,  aber  nur  nach  rechts. 

Flüssigkeiten  regurgitirten  per  nasum,  feste  Substanzen  konnte  Paf. 
anstandslos  schlucken.     Anosmie,  Ageusie,   1.  Anacusie,  und  Amaurose. 

Er  war  unfähig  zu  sprechen,  brachte  nur  unarticulirte  Töne  her- 
vor und  empfand  bei  Sprech  versuchen,  aber  auch  sonst,  ein  Gefühl,  als 
ob  ein  Knödel  im  Halse  stecke  und  ihn  würge  (Globus).  Das  Yerständ- 
niss  für  an  ihn  gerichtete  Fragen  war  ungestört.  Die  Bewegung  des 
Kopfes  nach  links  war  eingeschränkt. 

Pat.  empfand  Kopfweh,  war  frei  von  Schwindel  und  Erbrechen,  der 
Schlaf  war  gestört  durch  schwere  Träume,  der  Puls  48. 

Schwitzen  wurde  nur  auf  der  rechten,  auch  in  allen  sonstigen 
Functionen  intacten  Körperhälfte  bemerkt.  Kein  Fieber,  vegetative  Or- 
gane ohne  Befund. 

Um  den  21.  3.  schwand  der  Kopfschmerz;  Ende  März  kehrte  die 
Sprach-,  Schling-,  Riech-  und  Schmeckfähigkeit  wieder,  auch  besserte  sich 
die  1.  Hörfähigkeit. 

Anfang  April  änderte  sich  die  1.  Sehstörung  in  der  Weise,  dass  in 
Armlänge  vor  dem  1.  Auge  eine  schwarze,  gegen  das  Centrum  hellere 
Scheibe  auftauchte,  deren  Ränder  zugleich  das  ganze  1.  Sehfeld  ab- 
schlössen. Diese  Scheibe  (Scotom)  rückte  allmälig  bis  auf  2  m  weit 
hinaus  und  verschwand  eines  Tages.  Zugleich  stellte  sich  monoculare 
Diplopie  auf  dem  1.  Auge  ein.  Das  Gefühl  der  Steifheit  in  diesem 
schwand,  desgleichen  die  Lähmung  in  der  1.  Portio  minor  trigemini  und 
in  den  1.  Extremitäten.  Pat.  fühlte  sich  Mitte  April  wieder  arbeitsfähig 
und  verliess  am  16.  4.  das  Spital. 

Am  gleichen  Tage  machte  er  einen  Marsch  von  2  Stunden,  war  in 
Sorge,  noch  rechtzeitig  auf  der  Bahnstation  anzukommen,  regte  sich  darüber 
auf,  empfand  plötzlich  Schmeiz  im  1.  Oberschenkel,  Schwere,  Schwäche 
und  Ungeschicklichkeit  im  1.  Fuss,  der  herabzuhängen  begann  und  beim 
Gehen  den  Boden  streifte. 

Er  erreichte  mühsam  die  Station,  der  Zug  war  fort.  Zunehmende 
Schwäche  in  der  1.  ÜE.  erweckte  in  ihm  die  Befürchtung  neuerlicher 
Lähmung. 

Am  17.  war  auch  der  1.  Arm  paretisch  geworden.  Pat.  ging  neuer- 
lich ins  Spital  und  als  nach  8  Tagen  keine  Besserung  zu  bemerken  war, 
liess  er  sich  nach  Wien  bringen. 

Stat.  praes.  26.  4.  94  in  der  Klinik:  Pat.  von  kräftigem  Körperbau, 
vegetativ  ohne  Befund,  Schädel  normal.     Sensorium  frei.    Miene  eines 

3* 


36     H.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

schwer  Leidenden,  Gefühl  schwerer  Krankheit,  grosse  Eniotivität,  Be- 
sorgnisse wegen  Siechthums.   Kein  Schwindel,  kein  Kopfschmerz,  Puls  90. 

Schlaue  Parese  in  1.  OE.  und  UE.,  besonders  insufficient  das 
Peroneusgebiet;  der  1.  Puss  beim  Gehen  nachschleifend,  aber  keine 
Circumduction  des  1.  Beins  wie  bei  länger  bestehender  organischer 
Hemiplegie. 

Alle  Einzelbewegungen  in  1.  OE.  und  UE.  möglich,  aber  ganz 
kraftlos,  unter  sichtlicher  Anstrengung  und  unter  reichlichen  Mitbeweg- 
ungen. Das  beim  Gehen  sichtbare  Herabhängen  des  1.  Fusses  ist  in 
Bettlage  nicht  zu  bemerken.  Bei  mehrfacher  Wiederholung  werden  die 
betr.  intendirten  Bewegungen  immer  ausgiebiger.  Ist  die  Aufmerksam- 
keit des  Pat.  abgelenkt,  so  bewegt  er  Augen,  Zunge,  1.  OE  und  UE.  viel 
besser.  Die  tiefen  Eeflexe  auf  beiden  Körperhälften  gleich  und  etwas 
gesteigert.  Bauchhautreflex  r.  und  1.  vorhanden.  Ein  Ausfall  der  Facialis- 
iunction  besteht  nirgends. 

In  der  Mundhöhle  wird  die  Zunge  anstandslos  nach  allen  Rich- 
tungen bewegt;  wenn  vorgestreckt,  weicht  sie  constant  und  stark  zitternd 
nach  rechts  ab. 

Die  Bewegung  derselben  nach  links  gelingt  trotz  bedeutender 
Anstrengung  nur  unvollkommen  und  unter  gleichzeitiger  krampfhafter 
Mitbewegung  von  Hals-  und  Schultergürtelmuskeln. 

Krampfhafte  Erscheinungen  an  der  Zunge  sind  nicht  wahrzunehmen. 
Das  Sprechen  erfolgt  anstandslos. 

Die  Leistungen  in  der  Portio  minor  trigemini  erweisen  sich  intact, 
bis  auf  Unfähigkeit  den  Unterkiefer  nach  links  zu  verschieben. 

An  den  Augenlidern  keine  Störung,  keine  Schielstellung  der  Bulbi. 
Fordert  man  aber  den  Pat.  auf  binocular  rechts  oder  links  seitwärts  zu 
blicken,  so  bleiben  die  Bulbi,  trotz  sichtlicher  Anstrengung,  starr  ge- 
radeaus gerichtet.   Intentionszittern  tritt  bei  solchen  Bemühungen  nicht  ein 

Die  gleichzeitige  Bewegung  der  Bulbi  sursum  oder  deorsum  ist  nicht- 
gestört. 

Verdeckt  man  dem  Pat.  das  linke  Auge  mit  der  Hand,  so  ist  das 
rechte  von  seinem  Bann  befreit  und  nach  allen  Richtungen  frei  beweg- 
lich, aber  bei  plötzlicher  Entfernung  der  deckenden  Hand  zeigt  sich  auch 
das  vollständige  associative  Mitgehen  des  1.  Auges  mit  den  Bewegungen 
des  rechten. 

"Wird  blos  eine  Scheidewand  zwischen  beiden  Augen  errichtet,  so 
ist  dieser  Erfolg  nicht  zu  erzielen. 

Die  etwas  über  mittelweiten  Pupillen  reagiren  normal.  Rechts 
normale  Sehschärfe,  links  bedeutende  Amblyopie.  Fundus  normal;  Ge- 
sichtsfeld 1.  für  Weiss  und  Farben  bedeutend  concentrisch  eingeengt  (auf 


Hysterische  Hemiplegie.  37 

10 — 12°).  Es  besteht  1.  Anacusie,  Anosmie,  Ageusie,  Hemihypästhesie 
für  alle  Reize.  Lagevorstellung  und  Gefühl  passiver  Bewegung  sind  1. 
sehr  mangelhaft,  Haut-  und  Schleimhautreflexe  desgleichen  sehr  herab- 
gesetzt. Die  Sprache  ist  gedehnt,  saccadirt;  die  Exspiration  erfolgt 
ruckweise. 

Kauen  und  Schlingen  sind  nicht  gestört.  Die  Functionen  der  r. 
Körperhälfte  sind  intact. 

Die  weitere  Beobachtung  lehrt,  wie  sehr  objective  Symptome  psy- 
chisch beeinflusst  sind.  So  erweist  sich  die  associative  Augenbewegung 
im  Affekt  intact. 

Bringt  man  durch  Faradisation  die  1.  OE.  in  horizontale  Lage,  so 
behält  Pat.  diese  Lage  auch  nach  dem  Oeffnen  des  Stromes  bei. 

Unter  Wachsuggestion  und  etwas  Elektrisation  rasche  Aufbesserung 
der  gestörten  Motilität  und  Sensibilität. 

7.  5.  noch  etwas  Amyosthenie  im  früheren  Lähmungsgebiet.  Die 
associirte  Blicklähmung  geht  zurück,  aber  der  1.  Rectus  superior  und 
inferior  zeigen  sich  nunmehr  insufficient  und  bei  offenen  Augen  und 
Intention  sursum  und  deorsum  bleibt  auch  der  r.  gleichnamige  Muskel 
zurück,  während  bei  geschlossenem  1.  Auge  der  Bulbus  in  der  Richtung 
des  betr.  Muskels  die  volle  Excursion  leistet. 

Das  1.  Gesichtsfeld  ist  auf  20°  erweitert.  Es  besteht  noch  1.  monoculäre 
Polyopie  und  Amblyopie  in  der  Entfernung  von  0.3 — 1.5  m.  Bei  An- 
näherung eines  Gegenstandes  unter  0.3  m  tritt  Diplopie  durch  Insufficienz 
des  1.  M.  rectus  int.  ein  (Doppelbilder  parallel,  einander  nahe). 

Eine  bekannte  Gestalt,  die  sich  nähert,  sieht  und  erkennt  Pat.  deut- 
lich erst  bei  Annäherung  auf  etwa  2  m.  In  gleicher  Entfernung  etwa 
ist  das  Seototn  localisirt. 

Es  hellt  sich  gegen  das  Centrum  auf,  bildet  eine  Scheibe  von  etwa 
1.5  m  Durchmesser. 

Schwaches  Intentionszittern  des  r.  Rectus  int.  bei  Convergenz. 

Gaumen-  und  Rachenreflex  1.  noch  stark  vermindert.  L.  nur  noch 
Hypästhesie. 

16.  5.  (Gesichtsfeld  auf  32°  erweitert,  um  ein  Geringes  weniger 
für  Roth  und  Grün.) 

Diplopie  und  Polyopie  geschwunden.  Scotom  auf  10  m  hinaus- 
gerückt. Monoculäre  Bewegungen  links  nach  allen  Richtungen  noch  in- 
sufficient, binoculäre  besser,  aber  schwächer  als  rechts. 

Ausser  geringfügiger  Herabsetzung  der  1.  Hörschärfe  bei  Knochen- 
und  Luftleitung  und  ganz  geringer  cutaner  Hypästhesie,  Sensibilität  in- 
tact. Motorische  Störungen  geschwunden.  Gaumen-  und  Rachenreflexe 
1.  wiedergekehrt.    Am  17.  5.  wurde  Pat.  genesen  entlassen. 


38    H.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Folgender  von  Dr.  Bischoff  in  der  Grazer  Nervenklinik  beobachtete 
und  in  der  Wiener  klin.  Wochenschrift  1894.  18  niitgetheilte  Fall  von  ,,hy- 
sterischer  Apoplexie"  ist  dem  vorausgehenden  so  überaus  analog  und  er- 
weist damit  eine  solche  empirische  Gesetzmässigkeit  der  Symptome,  dass 
ich  es  mir  nicht  versagen  kann,  jenen  im  Auszug  hier  mitzutheilen. 

Beob.  4.    Analoger  Fall. 

J.,  Tischlergehilfe,  28  J.,  unbelastet,  frei  von  allen  hysterischen  Antecedentien 
bis  auf  irrelevante  Infectionskrankheiten.  Früher  gesund,  intelligent,  fleissiger  Arbeiter, 
hatte  vor  Kurzem  eine  heftige  Gemüthsbeivegung  erlitten. 

Am  23.  11.,  unter  heftigem  Kopfweh,  plötzliches  apoplectisches  Zusammenstürzen 
Nach  2  T.  im  Spital,  regungslos  (Comai,  congestiv,  Respiration  mühsam,  stöhnend 
Auf  Anrufen  geringes  Oeffnen  der  Augen  und  des  Mundes. 

Schlaffe  Lähmung  der  1.  Extremitäten,  aber  bei  passiver  Bewegung  leichter  Wider 
stand  derselben.  Tiefe  Reflexe  in  beiden  UE.  gesteigert.  Plantarrefiexe  fehlend.  R.  Pu- 
pille etwas  weiter  als  1.,  beide  auf  Licht  reagirend. 

Puls  48,  Herztöne  schwach. 

24.  11.  früh  Bewusstseiu  wiedergekehrt,  1.  Hemiplegie,  1.  complete  Hermanästhesie, 
Zunge  nach  r.  abweichend.  Die  passive  Eröffnung  des  Mundes  gelingt  Anfangs  nicht 
wegen  sofort  sich  einstellender  Contractur  der  Masseteren.  Mutismus,  Kopfschmerz, 
1.  Unterlippe  unbeweglich,  Puls  48,  Mund  nach  r.  verzogen. 

25.  Sensorium  frei,  Schrift-  und  Geberdensprache.  Husten  phonisch.  Pat.  kann 
A  aussprechen.  Zunge  wird  zitternd  nach  r.  vorgestreckt,  nach  jeder  Richtung,  ausser 
nach  links,  bewegbar. 

Augenschluss  unter  Zittern.     Stirnrunzeln  wenig  möglich. 

Das  1.  Auge  amblyojiisch.  Sein  Gesichtsfeld  von  einer  schwarzen  Scheibe  ein- 
genommen. Bei  binocularem  Versuch  der  Augenbewegung  ist  die  conjugirte  Bewegung 
frei  bis  auf  erschwerte  Blickbewegung  nach  links,  gelingt  aber  auch  nach  dieser  Rich- 
tung bei  rascher  Bewegung. 

Bei  bedecktem  r.  Auge  gelingen  die  des  linken  nur  minimal  nach  innen,  oben, 
unten,  gar  nicht  nach  aussen.  (Das  gesunde  r.  Auge  erleichtert  somit  die  associirte 
Bewegung  des  linken,  mit  Ausnahme  der  Leistung  des  Abducens). 

Bei  bedecktem  linken  Auge  erfolgt  die  Bewegung  des  r.  Auges  und  die  associirte 
des  1.  frei  nach  allen  Richtungen.  (Das  1.  Auge  übt  somit  eine  Hemmung  auf  die  Be- 
wegung des  r.). 

Bei  Convergenz  bleibt  das  1.  Auge  zurück.  (Es  wiederholt  sich  also  in  diesem 
Fall  bis  zu  einem  gewissen  Grad  die  in  Beob.  3  beobachtete  vollständige  Hernniungs- 
■Wirkung  des  1.  functionell  in  seinen  Bewegungen  gestörten  Auges  auf  das  andere  — 
offenbar  ein  psychischer  Akt,  insofern  der  Kranke  die  bewusste  1.  Insuffizienz  auf  die 
assoeiativen  Bewegungen  des  gesunden  r.  Auges  überträgt  und  sie  damit  hindert.  Bei 
ausgeschaltetem  1.  Auge,  in  welcher  Situation  Pat.  bewusst  nur  r.  imnervirt,  fehlt 
dieser  hemmende  Einfiuss  auf  das  andere  Auge). 

In  1.  UE.  am  25.  11.  geringfügige  active  Beweglichkeit  der  Zehen  und  des  Unter- 
schenkels möglich.  Fortdauer  1.  totaler  Hemianästhesie,  mit  concentr.  Einengung  des 
1.  Sehfelds  für  Weiss  und  für  Farben.  Fingerzählen  nur  bei  Annäherung  derselben 
auf  2  cm.  Gehör  1.  schwach,  aber  Kinne  positiv;  1.  Anosmie,  Ageusie;  Niess-  und 
Würgreflexe  verspätet  eintretend.  Die  tiefen  Reflexe  in  UE.  sind  r.  stärker  als  1.  ge- 
worden. 

Plantarreflex  fehlt  links. 


Hysterische  Hemiplegie.  39 

In  den  folgenden  Tagen  keine  Aenderung,  bis  auf  Entwicklung  hyperästhetische,: 
Plaques  im  anästhetischen  Gebiet. 

Am  30.  11.  nach  Aerger  Comaanfall  von  2.5  Std.  Dauer  mit  48  Pulsfrequenz. 

Beim  Zusichkommen  verlangt  Pat.  nach  dem  Geistlichen,  da  er  nun  sterben  werde. 
Vom  1.  12.  ab  Faiadisation.  Nach  der  2.  Sitzung  sind  Arm  und  Bein  wieder  gebrauchs- 
fähig. Nach  3.  Sitzung  Wiederkehr  der  Sprache.  Facialisparese  (?)  geschwunden.  An 
ihre  Stelle  tritt  rhythmischer  Klonus  im  Platysma  und  Sternocleidomastoideus,  r.  stärker 
als  1.    Sensible,  sensorielle  und  Augenmuskelstörungen  unverändert. 

Pat.  furchtsam,  wehleidig.  Unter  Gymnastik  und  Faradisation  allmälige  Be- 
seitigung der  motorischen  Störungen  der  Extremitäten. 

Im  Januar  neuerlich  Parese  in  1.  OE.  und  1.  Mundfacialis ,  dabei  Zunahme  der 
1.  Gesichtsfeldeinsehränkung. 

Allmälig  Schwinden  dieser  Beschwerden. 

Am  hartnäckigsten  bleibt  die  associative  Augenmuskelstörung,  die  erst  nach 
2  Monaten  sich  verliert.  Die  klonischen  Krämpfe  waren  rasch  auf  Suspensionsbehand- 
lung geschwunden. 

Als  Pat.  nach  2  monatlichem  Aufenthalt  das  Spital  verliess,  bestand  1.  noch  eine 
leichte  Amyosthenie  und  Hypästhesie,  besonders  im  1.  Auge. 

Beob.  5.    Rechtsseitige  Hemiplegie  nach  Emotion. 

K,  Elise,  18  J.,  Gutsbesitzerstochter,  angeblich  unbelastet,  früher 
gesund,  erkrankte  vor  einem  halben  Jahre  ohne  bekannte  Ursache  an 
Hysterie  (Globus,  epigastrische  Myodynie,  1.  Ovarie,  Palpitationen,  grosse 
Emotivität)  und  verlor  die  Menses. 

Wegen  sehr  schmerzhafter  Contractur  der  Mm.  recti  abdominis  hatte 
man  Morphiuminjectionen  gemacht.  Daraus  waren  Abscesse  entstanden. 
Pat.  kam  deshalb  am  26.  8.  88  auf  die  chirurgische  Klinik  in  Graz. 

Pat  schwächlich,  durch  Anorexie  und  geringe  Nahrungsaufnahme 
sehr  abgemagert,  anamisch. 

Globus,  Oppressionsgefühl  auf  dem  Sternuni,  Mm.  recti  abdominis 
bretthart,  in  Contractur  und  sehr  empfindlich.  Spiualirritation,  1.  Ovarie. 
Sensibilität  und  Motilität  ungestört.  Grosse  Emotivität,  Furcht  vor 
Operation  und  Tod  im  Spital. 

Am  26.  9.  Chloroformnarcose  behufs  genauer  Untersuchung  wegen 
eines  vermutheten  Tumor  abdominis.     Incision  der  Abscesse. 

Nach  der  Narkose  war  Pat.  wieder  bei  sich.  Auf  dem  Transport 
ins  Krankenzimmer  Bewusstseinsverlust  mit  allgemeiner  Resolution 
(Lethargus)-  Nach  einigen  Stunden  dazu  Klonismen  im  r.  Accessorius- 
gebiet,  inspiratorischer  Krampf  der  Stimmritzenmuskeln  (Laryngismus 
stridulus),  Singultus,  enorme  Reflexerregbarkeit  im  Pharynx,  mit  Unfähig- 
keit zu  schlucken. 

In  diesem  Zustand  gelangt  Pat.  auf  die  Nervenklinik.  Lethargus 
schwindet,  Krampferscheinungen  fortdauernd.  Druck  auf  hysterogene 
Zonen  dagegen  erfolglos. 


40      II-  Vortäusclmng  organischer  Erkrankungen  des  Nervensy-stenis  durch  Hysterie. 

Das  r.  Auge  ofl'en,  aber  anlässlich  Krämpfen  sich  schliessend,  r. 
Nasenloch  enger  als  links  und  bei  der  Exspiration  der  r.  Nasenflügel 
sich  aufblähend;  r.  Mundwinkel  steht  tiefer  als  links,  die  r.  Wange  er- 
schlafft. Das  1.  Auge  meist  geschlossen,  im  1.  Facialisgebiet  keine  Spuren 
von  Krampf. 

Die  r.  OE.  schlaff,  paretisch,  beide  UE.  gestreckt,  starr,  steif.  Rechts 
dor  epigastrische  und  Bauchreflex  prompt,  1.  schwach. 

R.  Heniihypästhesie.  Nahrungsaufnahme  wegen  enormer  Reflex- 
erregbarkeit im  Pharynx  nicht  möglich.  Grosse  Schwäche,  Nährklysmen. 
Campherinjection.  Auf  heisse  Umschläge  ad  nucham  schwinden  am 
23.  9.  die  Krämpfe.  Bougirung  des  Pharynx  beseitigt  allmälig  die 
Hyperästhesie,  sodass  Sondenfütterung  möglich  wird. 

Bemerkenswert!]  ist,  dass  während  der  der  Pat.  sehr  unangenehmen 
Fütterungen  sie  unbewusst  beide  OE.  zur  Abwehr  braucht  und  sich  mit 
beiden  Füssen  gegen  das  Fussbrett  des  Bettes  stemmt,  während 
in  Ruhe  r.  Arm  und  Bein  den  Befund  einer  schlaffen  Lähmung  zeigen. 
Pat.  wird  gut  genährt,  schläft  wieder,  erholt  sich,  bietet  aber  bei  der 
Anfangs  Oktober  erfolgenden  Abholung  durch  die  Mutter  noch  r.  Hemi- 
parese  incl.  Facialis. 

Beob.  6.    Linksseitige  Hemiplegie  nach  Emotion. 

Frau  L,  38  J.,  stammt  von  neuropathischer  Mutter.  Eine  Schwester 
leidet  an  Asthma. 

Pat.  ist  seit  10  Jahren,  in  Folge  von  Gemüthsbewegungen,  an  Hysterie 
leidend  (Lach-,  Weinkrämpfe,  Schlafanfälle  u.  s.  w.).  Nach  einer  heftigen 
seelischen  Aufregung  stürzte  sie  im  Juli  94  bewusstlos  zusammen.  Nach 
etwa  einer  Stunde  wieder  zu  sich  gekommen,  bot  sie  1.  Hemiplegie 
incl.  Facialis  und  Heinianästhesie  im  Lähmungsgebiet.  Die  ersten 
Tage  habe  sie  nur  lallen  können.  Rasche  Besserung  der  1.  Lähmung; 
nach  4  Wochen  reisefällig.  Ein  hervorragender  Kliniker  vernnithete 
luetische  Ursache,  sandte  Pat.  nach  Hall,  wo  eine  Inunctionskur  neben 
der  Badebehandlung  durchgeführt  wurde.     Sie  genas  dort  vollständig. 

Im  October  94  neuer  psychischer  Shok.  Sofort  bewusstlos,  blieb 
so  2  Tage,  delirirte  noch  1  Tag  und  will  schwer  gesprochen  haben.  Keine 
Hemiplegie  diesmal. 

Anlässlich  einer  Consultation  am  26.  4.  95  constatirte  ich  r.  Am- 
blyopie, Gesichtsfeld  stark  concentrisch  eingeschränkt,  sonst  keine  Stig- 
mata hysteriae.  Keine  Residuen  von  Lähmung,  überhaupt  keine  moto- 
rischen Störungen.  Vegetative  Organe  ohne  Befund.  Keine  Spuren  von 
Lues  (3  gesunde  Kinder).  Pat.  behauptet,  dass  sie  anlässlich  Eniotiou 
in  1.  Zunge  und  1.  Wange  Ameisenkriechen  verspüre  und  erschwert 
spreche. 


Hysterische  Hemiplegie.  41 

Beob.  7.  Rechtsseitige  Hemiplegie  nach  Sturz  von  einem 
Gerüst. 

L.  43  J.,  Maurer,  Wittwer,  angeblich  unbelastet,  nie  luetisch  er- 
krankt gewesen,  ziemlicher  Potator  (2  Liter  Wein  täglich),  früher  gesund, 
stürzte  am  10.  6.  92  vom  3.  Stockwerk  eines  Neubaues  herab  und  konnte 
erst  nach  mehreren  Stunden  bewusstlos  unter  den  Trümmern  hervor- 
gezogen werden. 

Ob  Pat.  gleich  von  Anfang  an  bewusstlos  geworden  war  oder  erst 
im  Verlauf,  konnte  nicht  festgestellt  werden.  Er  blutete  aus  Mund,  Nase, 
Ohren,  hatte,  ausser  zahlreichen  leichten  Verletzungen  an  Stamm  und  Ex- 
tremitäten, eine  Verletzung  des  1.  Bulbus  und  beiderseitige  Ruptur  des 
Trommelfells  erlitten.  Pat.  soll  6  Tage  bewusstlos  geblieben  sein  und 
bot  eine  Lähmung  der  r.  OE.  und  UE. 

Als  Pat.  sich  im  Frühjahr  93  auf  der  Augenklinik  einer  Operation 
unterzog,  constatirte  man  Anästhesie  der  r.  Zungenhälfte  und  des  r.  Nasen- 
kanals. 

Pat.  war  bis  1894  bettlägerig.  Von  da  ab  besserte  sich  seine  r. 
Lähmung  soweit,  dass  er  mit  Hilfe  eines  Stocks  mühsam  gehen  konnte. 

Von  nun  an  stellten  sich  aber  Jacksonanfälle  ein,  die  folgender- 
massen  beschrieben  werden:  Etwa  10  Minuten  vor  Eintritt  des  Anfalls 
heftiger  Schwindel  und  Gefühl  von  Ameisenkriechen  im  ganzen  Körper. 
Pat.  stürzt  dann  bewusstlos  zusammen  und  bekommt  theils  tonische 
tlieils  klonische  Krämpfe,  die  jeweils  in  der  r.  UE.  beginnen,  sich  dann 
auf  die  r.  OE.  und  manchmal  auch  aufs  Gesicht  fortsetzen.  Es  handelt 
sich  immer  um  Anfallsserien  von  6  Stunden  bis  2  Tagen. 

Nach  dem  Anfall  allgemeines  Schwächegefühl,  Zunahme  der  Schwäche 
in  den  r.  Extremitäten,  heftige  Kopfschmerzen  und  Aphasie,  welche  3 — 14 
Tage  die  Krampfanfälle  überdauert.  Solcher  Anfälle  will  Pat.  bisher 
etwa  12  gehabt  haben.  Er  weiss  sie  nicht  zu  erklären.  Bemerkens- 
werth  ist  jedoch,  dass  Pat.  nach  wie  vor  viel  "Wein  trinkt.  Von  Alkohol- 
intoleranz seit  dem  Trauma  hat  er  nichts  bemerkt. 

Seit  Sommer  95  bemerkte  Pat.  Schmerzen  im  ganzen  Körper  und 
neuerliche  Zunahme  der  Schwäche  der  r.  Extremitäten,  dazu  Polydipsie 
(bis  12  Liter  täglich),  weshalb  er  am  9.  12.  95  die  Nervenklinik  aufsuchte. 

Pat.  gross,  kräftig,  Schädel  ohne  Narben,  Cf.  58  cm.  Intelligenz  ohne 
Defekt.     Vegetative  Organe  ohne  Befund. 

Der  ganze  Schädel  auf  Percussion  sehr  empfindlich,  die  "Wirbelsäule 
auf  Druck,  besonders  im  Lendentheil.  Clavus,  Globus,  Druckschmerz 
in  den  Hypochondrien,  r.  stärker  als  1.,  mit  regionärer  cutaner  Hyper- 
ästhesie. R.  Anosmie,  r.  starke  concentrische  Einengung  des  Gesichts- 
felds, aber  keine  Amblyopie  (1.  durch  Iriscolobom  und  Cornealnarbe  nur 


42     U-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Ifysterie. 

quantitative  Lichtempfindung);  1.  Nictitatio  bis  zu  temporärem  Blepharo- 
spasmus. Auf  der  r.  Gesichtshälfte  Hypästhesie  für  alle  Empfindungs- 
qualitäten. Scleral-,  Ohren-,  Nasen-,  Gaumen-,  Rachenreflex  r.  bedeutend 
vermindert.  Die  Geschmacksempfindung  fehlt  im  vorderen  Drittel  der 
Zunge.  Der  r.  Facialis  vollkommen  sufficient.  Beiderseits  Otitis  media 
chronica  suppurativa;  r.  Hypacusie,  dabei  fehlt  r.  für  Taschenuhr  und 
tiefe  Stimmgabeltöne  die  Knochenleitung. 

Die  r.  OE.  bietet  schlaffe  Parese,  aber  von  wechselnder  Intensität. 
Zeitweise  begegnen  passive  Bewegungen  durch  Contraction  der  Anta- 
gonisten erheblichem  Widerstand,  sodass  unbewusst  erhebliche  Innervation 
möglich  ist  und  an  dem  Vorhandensein  latenter  ansehnlicher  grober  Muskel- 
kraft nicht  zu  zweifeln  ist.  Bei  abgelenkter  Aufmerksamkeit  werden  auch 
active  Bewegungen  gelegentlich  beobachtet.  Rigor  oder  Contracturen 
bestehen  nicht,  auch  keine  trophischen  und  vasomotorischen  Störungen. 
Die  tiefen  Reflexe  sind  beiderseits  gleich  und  gesteigert.  R.  Rumpf 
und  OE.  bieten  cutane  Hypästhesie  für  alle  Qualitäten.  Auch  die  Lage- 
vorstellung und  das  Gefühl  passiver  Bewegung  sind  sehr  herabgesetzt; 
die  Stereognose  fehlt.  Der  Bauchreflex  (sehr  schlaffe  Bauchdecken) 
fehlt  beiderseits. 

An  der  r.  UE.  besteht  schlaffe  Parese.  Beim  Gehen  erfolgt  Nach- 
ziehen derselben.  Beim  Stehen  Tremor,  Angst  zu  stürzen,  aber  die  blosse 
Markirung  einer  Stütze  genügt,  um  Pat.  frei  stehen  zu  lassen. 

Trophische  und  vasomotorische  Störungen  bestehen  nicht.  Die  tiefen 
Reflexe  sind  r.  und  1.  massig  erhöht.  Die  oberflächliche  und  tiefe  Sen- 
sibilität ist  für  alle  Qualitäten  sehr  gestört.  Durchstechen  einer  Haut- 
l'alte  ist  schmerzlos  und  erfolgt  ohne  Blutaustritt.  Der  Plantarreflex  ist 
r.  etwas  herabgesetzt. 

Pat.  klagt  über  Detrusorschwäche,  Obstipation,  stechenden  Schmerz 
in  Kopf  und  OE.,  Herzklopfen,  fliegende  Hitze,  schlechten  Schlaf.  Er 
bietet  Polydipsie,  ist  sehr  emotiv. 

In  mehrwöchentlicher  Spitalbehandlung  unter  Gymnastik,  Wach- 
suggestion, Electrisirung  bedeutende  Aufbesserung  der  r.  Parese. 

Beob.  8.    Linksseitige  recidivirende  Hemiplegie. 

R.  27  J.,  ledig,  Techniker,  angeblich  aus  unbelasteter  Familie,  hat 
ausschweifend  gelebt,  ist  jedoch  nicht  luetisch  inficirt  geworden. 

Im  Februar  96  erlitt  er  durch  eine  Detonation  einen  heftigen 
Schreck,  stürzte  bewusstlos  zusammen  und  kam  nach  etwa  10  Minuten 
mit  1.  Hemiplegie  zu  sich.  Ueber  Details  sind  keine  Angaben  zu  ge- 
winnen. Die  Lähmung  soll  sich  rasch  gebessert  haben.  Pat.  blieb  aber 
emotiv,  verstimmt,  schlief  schlecht,  träumte  schwer,  schreckte  über  schreck- 


Hysterische  Hemiplegie.  43 

haften  Träumen  oft  aus  dem  Schlafe  auf.  Im  April  und  am  10.  Mai  96 
erfolgten  mehrstündige  Anfälle  hysterischer  Verwirrtheit. 

Am  29.  6.  96  nach  Alkoholexcessen  stürzte  R.  bewusstlos  auf  der 
Strasse  zusammen,  wurde  in  ein  Spital  gebracht,  wo  er  durch  3  Tage 
bewusstlos  geblieben  sein  soll.  Zu  sich  gekommen,  bot  er  eine  1.  Hemi- 
plegie. Diese  besserte  sich  rasch.  Gegen  den  Eath  der  Ä.erzte  verliess 
er  schon  am  10.  7.  das  Spital,  zechte  und  excedirte  bis  zum  12.  7.,  an  welchem 
Tage  er  wegen  eines  hysterisch  deliranten  Zustands  auf  die  psychiatr. 
Klinik  gebracht  werden  musste.  Am  15.  7.  kam  Pat  amnestisch  für 
diese  delirante  Zeit  zu  sich. 

Er  bot  1.  Hemiparese,  zeitweiliges  tremorartiges  Zucken  des  I.  Mund- 
winkels, Kinns  und  der  1.  Hand.  Der  1.  Buccinator  insufficient,  die 
1.  Nasolabialfalte  etwas  tiefer  und  kürzer  (Andeutung  von  Con- 
tractur),  Hypoglossus,  motor.  Trigeminus,  Augennerven  intakt  in  ihrer 
Funktion. 

In  1.  OE.  und  UE.  alle  Einzelbewegungen  möglich,  aber  grobe 
Muskelkraft  sehr  gering.  Die  galvanische  iudirecte  Erregbarkeit  leicht 
gesteigert. 

Gesichtsfeld  1.  concentrisch  eingeschränkt,  1.  Hypacusie,  Geruch, 
Geschmack  herabgesetzt.  Hemihypästhesia  sinistra.  Schleimhaut-  und 
tiefe  Reflexe  1.  erhalten.     Bauchhautreflex  r.   und  1.  auslösbar.     Globus. 

Mit  diesem  Befund  wurde  Fat.  auf  sein  Verlangen  am  20.  7.  96 
entlassen. 

Folgende  hierher  gehörige  Fälle  hat  Higier  (Warschau)  in  der 
Wiener  Klin.  Wochenschrift  1894.  18.  19.  21  veröffentlicht. 

Beob.  9.  Linksseitige  Hemiplegie  nach  Emotion.  X.,  Uhrmacher, 
IS  J. ,  aus  neurotisch  belasteter  P'amilie,  war  als  Kind  sorophulös,  litt  mit  11  J.  eine 
Zeitlang  an  Erbrechen,  später  G  Monate  an  Singultus,  vor  5  Jahren  7  Monate  lang 
an  Polyuria,  Polydipsie,  Polyphagie,  wahrscheinlich  auch  Glycosurie,  nach  Pneumonie 
vor  l1/-.  Jahren  9  Monate  an  Aphonie,  die  plötzlich  schwand  und  an  Globus. 

Seit  Jahren  reizbare  Schwäche  der  UE.,  gedrückte  oft  hypochondrische  Stimmung, 
seit  1  J.  häufig  Herzpalpitationen.  Keine  Masturbation.  In  Folge  physischer  uud  in- 
tellectueller  Anstrengung  oft  Migräue  und  Insomnie. 

Drei  Wochen  vor  der  Aufnahme,  nach  reichlichem  Mittagsmahl  und  psychischer 
Erregung,  unter  Gefühl  als  schiesse  ihm  plötzlich  etwas  in  die  Stirn,  apoplectiformes 
Zusammenstürzen.  Anscheinend  2'/a  Stunden  comatös,  ganz  reactionslos,  mit  lang- 
samer, tiefer  schnarchender  Respiration.  Zu  sich  gekommen  sprachunlahig  uud  unver- 
mögend die  Zunge  zu  bewegen  durch  5  Tage  (Mutismus).  Etwa  4  Stunden  nach  dem 
Insult,  unter  anhaltendem  Kopfweh,  schlaffe  Lähmung  der  1.  OE.  und  UE.  exclus.  Facialis. 
Nach  7  Tagen  Rückgang  der  Lähmung  im  1.  Bein. 

Stat.  präs.  3  Wochen  post  insult.:  vegetativ  normal,  Intelligenz  und  Sprache  intact. 
Aufgeregtheit,  Schlaflosigkeit.  Kopf-,  Zahnschmerz.  Motilität  r.  intact,  1.  Facialis  gut 
innervirt.  L.  OE  in  schlaffer  Lähmung  bis  auf  Flexion  und  Extension  im  Index  und 
Coutractur  in  1.  Cucullaris,   dabei  1.  Schulter  in  die  Höhe  gezogen.     L.  UE.  paretisch.- 


44:     n.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

nicht  atactisch,  auch  nicht  spastisch.  Bewegung  in  den  Zehen  ziemlich  normal,  in  den 
übrigen  Gelenken  beschränkt.  Beim  Gehen  1.  Bein  nachschleppend.  Tiefe  Reflexe  normal. 
Plantarreflex  r.  und  1.  fehlend,  sonst  cutane  Reflexe  erhalten.  Scleral-  und  Corneal- 
reflex  beiderseits,  Uvula-  und  Pbarynxreflex  I.  aufgehoben.  L.  Hemianästhesie  inclus. 
tiefe  Sensibilität,  bis  auf  erhaltene  Stellen  cutaner  Sensibilität  an  1.  Gesichtshälfte, 
1.  Bein  und  Rumpfhälfte. 

Im  Gebiet  der  unteren  Facialisäste  öfter  clonisch- tonische  Contractionen,  öfteres 
Verziehen  von  Unterlippe  und  Zunge  nach  r.  o.  Auf  Commando  kann  Pat.  nicht  Lippen 
spitzen,  pfeifen,  wohl  aber  wenn  unbeobachtet  und  zufällig  innervirend. 

Heiserkeit,  nasale  Sprache.  L.  Gehör,  Geschmack,  Geruch  minimal,  1.  Amblyopie, 
inonoculare  Polyopie  und  Makropsie  bei  Nah-  und  Fernsehen.  Augenspiegel  negativ. 
L.  Gesichtsfeld  concentrisch  für  Weiss  und  Farben  eingeengt. 

Behandlung:  Hypnose  und  Magnet.  In  1.  Sitzung  Lähmung  suggestiv  behoben. 
Wiederholte  Hy.  gravisanfälle.  Unter  einfacher  Hypnose  ohne  Ertheilung  von  Suggestionen 
bedeutende  Besserung  bis  zum  Austritt  am  30.  9. 

Beob.  10.  Rechtsseitige  Hemiparese.  Frau,  62  J..  Arteriosclerose,  hyste- 
rische Antecedentien  bis  vor  10  Jahren.  Unter  vorausgehendem  Schwindel  apoplectiforme.3 
Zusammenstürzen.  Darauf  r.  Hemiparese  bei  intactem  Facialis  und  Hypoglossus,  r.  sensi- 
tiv sensorielle  Hemianästhesie,  concentr.  Sehfeldeinschränkung  an  beiden  Augen,  leicbte3 
hyster.  Oedeni  am  r.  Unterschenkel.  Schwinden  der  meisten  Symptome  unter  Magnet- 
behandlung. 

Beob.  11.  Rechtsseitige  spastische  Hemiparese.  Frau,  60  J.,  ohne 
palpable  Ursache  6  Wochen  vor  der  Aufnahme  apoplectiformes  Zusammenstürzen.  Lag 
1  Stunde  „wie  todt",  bewusstlos. 

Bei  der  Aufnahme:  R.  spastische  Hemiparese.  Hyperästhesie  der  paretischen 
Glieder,  posthemiplegisches  Zittern  derselben,  ähnlich  Paral.  agitans.  Permanent  Kopf- 
schmerz in  1.  Scheitelgegend,  bei  Druck  gesteigert,  epileptiforme  Anfälle  im  Lähmungs- 
gebiet. 

ATerdächtige  Papillen;  hysterische  Stigmata.  Labilität  und  schliessliches  Schwinden 
der  Krankheitssymptome  bei  indifferenter  Therapie. 


Hysterische  Hemiplegie. 


2.  Hemiplegien  ohne  apoplectiformen  Insult,  meist  allmälig 

entstanden. 

Beob.  12.  Linksseitige  Hemiparese  nach  psychischem 
Trauma. 

D.,  32  J.,  Hebamme,  stammt  aus  einer  Familie,  in  welcher  mehr- 
fach Psychosen  und  schwere  Neurosen  vorgekommen  sind.  Sie  erlitt 
mit  I'/ä  J-  einen  Anfall  von  Convulsionen  mit  vierstündiger  Bewusst- 
losigkeit,  war  geistig  schlecht  begabt,  sehr  nervös,  emotiv,  zu  Auto- 
suggestionen geneigt,  bildete  sich  schon  als  Mädchen  alle  möglichen 
Krankheiten  ein. 

Menses  mit  16  J.,  unregelmässig  und  mit  Schmerzen.  Seit  1892 
zeitweise  Detrusor  vesicae  insufficient,  ohne  alle  Begründung.  Seit  1893 
oft  heftige  Cephalaea  mit  Furcht  vor  Irrsinn,  häufig  Globus.  Im  Früh- 
jahr 95  einige  Wochen  angeblich  binoculäre  Diplopie,  die  auf  Electri- 
siren  schwand. 

Ende  März  96,  einige  Tage  nach  an  einem  psychischen  Trauma 
(eine  von  Pat.  gepflegte  Wöchnerin  wurde  plötzlich  irrsinnig,  bedrohte 
sie)  Kopfweh,  Erbrechen,  Schüttelfrost,  zunehmende  Schwäche  in  1.  OE 
und  UE.  Pat.  bringt  einige  Tage  im  Bett  zu,  geht  dann,  den  1.  Fuss 
nachschleifend,  herum  und  kommt  am  26.  5.  96  zur  Aufnahme  auf  der 
Klinik. 

Kachitischer  Schädel,  Cf.  54.  Klagsam,  weinerlich,  vom  Gefühl 
schwerer  Krankheit  praeoccupirt.  Keine  Lues,  kein  Potus,  keine  Nephritis, 
kein  Vitium  cordis. 

In  Ruhe  keine  Störung  im  Facialis;  bei  mimischer  Bewegung  leichte 
Contractur  im  r.  Mundfacialis,  die  eine  Insufficienz  des  1.  Facialis  vor- 
täuscht. Bei  festem  Lidschluss  tritt  eine  verstärkte  Mitbewegung  im 
r.  Mundfacialis  zu  Tage. 

Es  besteht  auch  eine  leichte  Contractur  der  r.  Zunge.  Diese  weicht 
beim  Vorstrecken  nach  1.  ab,  ist  aber  nach  allen  Richtungen  frei  be- 
weglich. 

Das  Gesichtsfeld  ist  r.  beträchtlich,  1.  weniger  stark  für  Licht  und 


46     II.  Vortäuschnng-  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Farben  eingeengt.  Sonst  ist  im  Bereich  der  Gehirnnerven  keine  Störung 
auffindbar. 

Die  1.  OE.  ist  theils  durch  Amyosthenie,  theils  durch  Contracturen 
in  ihrer  Beweglichkeit  sehr  behindert.  Die  1.  Schulter  steht  tiefer  (ge- 
legentlich aber  auch  höher)  als  die  r.  Die  1.  Scapula  ist  der  Wirbel- 
säule genähert  (Rhomboideuscontractur),  der  Oberarm  gegen  den  Thorax 
angepresst  (Pectoraliscontractur) ,  der  Vorderarm  ist  leicht  supinirt,  die 
Hand  und  Finger  sind  flectirt,  aber  ohne  Contractur. 

Diathese  de  contracture  besteht  nicht.  Die  tiefen  Reflexe  sind 
sehr  gesteigert,  der  1.  plexus  brachialis  und  seine  Nerven  im  Verlauf 
sind  sehr  druckempfindlich,  die  Sensibilität  ist  intact. 

Am  Rumpf  wandelbare  myosalgische  Stellen  und  Ovaria  duplex. 
Bauchhautreflex  beiderseits  vorhanden. 

Die  1.  UE.  ist  höchst  muskelschwach,  die  Peroneusgruppe  aus- 
gesprochen paretisch.  Der  Gang  ist  spastisch,  aber  ohne  Circumduction, 
der  Fuss  wird  am  Boden  geschleift  und  stösst  mit  der  Spitze  an.  Es 
besteht  Patellar-  nnd  Fussclonus.  Die  Sensibilität  ist  unversehrt,  aber 
die  Nervenstämme  sind  sehr  druckempfindlich,  der  Plantarreflex  normal. 
Gelegentlich  tritt  spontan  oder  auf  blosses  Anfassen  des  Beins  Schüttel- 
tremor  in  demselben  auf.  Die  r.  OE.  und  UE.  sind  ohne  pathologischen 
Befund. 

Am  28.  5.,  gelegentlich  einer  klinischen  Demonstration,  bietet  Pat. 
ganz  das  Bild  einer  organischen  Hemiplegie,  sogar  Circumduction  im 
Hüftgelenk. 

Dieser  Eindruck  schwindet  aber  bei  genauer  Beobachtung,  die  einen 
auffälligen,  mit  einer  organischen  Hemiplegie  unvereinbaren  Wechsel  in 
der  Intensität,  Extensität  und  Qualität  der  motorischen  Störungen  auf- 
weist. Ueberdies  sind  diese  Insufficienzen  und  Contracturen  durch 
Auto-  und  Fremdsuggestion  sehr  beeinflussbar.  Die  Contracturen  werden 
durch  Emotion  oder  Intention  jeweils  hervorgerufen.  Anch  bei  passiver 
Bewegung  findet  man  in  denselben  Muskelgruppen  zeitweise  hochgradigen 
Rigor,  dann  wieder  freie  Beweglichkeit. 

Aus  diesen  Gründen  konnte  die  klinische  Diagnose  nur  im  Sinne 
einer  functionellen  (psychischen,  hysterischen)  Lähmung  lauten. 

Dazu  kam  1.  das  Fehlen  jeglicher,  organische  Erkrankung  moti- 
virenden  Ursache;  2.  die  Erkrankung  bei  einer  Hysteropathischen  im 
Anschluss  an  ein  psychisches  Trauma;  3.  das  Fehlen  1.  Facialislähmung 
und  ihr  Ersatz  durch  r.  Facio  (lingual)  contractur;  4.  das  Ausbleiben 
antagonistischer  Contracturen  durch  Radialis-  und  Peroneusparese;  5.  der 
links  prompte  Bauchhautreflex. 

Pat.  verweilte  nur  bis  zum  31.  5.  auf  der  Klinik  und  verliess  sie 


Hysterische  Hemiplegie.  47 

in  unverändertem  Zustand.  Von  neuen  Symptomen  wurden  nur  cutane 
Hyperästhesie  der  r.  Mamma  und  der  Bauchhaut  verzeichnet. 

Beob.  13.  Linksseitige  Hemiparese  nach  Emotion,  mit 
posthemiplegischen  choreiformen  Erscheinungen. 

T.,  Anna,  29  J.,  verh.,  stammt  angeblich  von  unbelasteter  Familie. 
Mit  5  J.  soll  sie  ohne  Ursache  einmal  von  einem  Krampfanfall  befallen 
worden  und  2  Std.  lang  bewusstlos  dagelegen  sein.  Ein  solcher  Anfall 
wurde  in  der  Folge  nie  mehr  beobachtet.  Er  hinterliess  auch  keine 
Folgen.  Bis  zum  15.  Jahr  viel  Cardialgien.  habituelle  Obstipation.  Von 
jeher  bis  heute  Idiosyncrasie  gegen  Thea  chinensis,  von  deren  Genuss 
sie  gleich  Erbrechen  bekam. 

Menses  mit  18  J.,  in  der  Folge  regelmässig,  aber  prämenstrual  hef- 
tige Schmerzen.  Pat.  hat  vier  mal  normal  geboren  und  ihre  Kinder 
selbst  gestillt. 

1890  hatte  Pat.  ihr  Kind  gerade  8  Monate  gestillt,  als  sie,  nach 
geringfügiger  Emotion,  von  demselben  Leiden,  das  sie  neuerlich  1892 
ins  Spital  führte,  befallen  wurde. 

Dieses  Leiden  war  eine  1.  Hemiparese  mit  choreiformen  Erscheinungen 
auf  der  gleichnamigen  Seite.    Es  verlor  sich  vollständig  nach  3  Wochen. 

1892  stillte  Pat.  gerade  ihr  letztes  Kind  seit  14  Monaten,  als  sie 
durch  das  Wiedererscheinen  der  Menses  dasselbe  abzusetzen  veranlasst 
war.  Wenige  Tage  darauf  bemerkte  sie,  dass  der  1.  Arm  und  dann  auch 
das  1.  Bein  schwerer  und  schwerer  wurden  und  das  letztere  sich  über- 
dies versteifte. 

Einige  Tage  später  stellten  sich  im  paretischen  Gebiet  unbedeutende 
choreiforme  Zuckungen  ein,  die  aber  bald  sich  zu  solcher  Intensität 
steigerten,  dass  Pat.  sich  genöthigt  sah,  am  19.  10.  92  Spitalspflege  auf- 
zusuchen. 

Pat.  ist  zart,  anämisch,  von  normalem  Skelet  und  ungestörten  vege- 
tativen Functionen. 

Sie  ist  sehr  emotiv,  besorgt  wegen  der  Heilbarkeit  ihres  Leidens. 
Bei  der  Aufnahme  der  Anamnese  bricht  sie  häufig  in  Weinen  aus. 
Interscapular  und  lumbar  finden  sich  Druckpunkte  an  der  Wirbelsäule. 

Hinweise  auf  Hysterie  gestatten  nur  beiderseitige  Ovarie.  Der 
Druckschmerz  ist  links  bedeutend  heftiger  als  rechts. 

An  Gehirnnerven,  Stamm  und  r.  Extremitäten  keine  Functions- 
störungen. 

Die  1.  OE.  und  UE.  sind  paretisch,  von  gesunkenem  Muskeltonus. 
Das  Facialisgebiet  ist  weder  im  Sinne  einer  1.  Parese  noch  einer  r.  Con- 
tractur  mit  betheiligt.  Die  Sensibilität  ist  allenthalben  unversehrt.  Im 
1.    Sprunggelenke    werden   geringfügige    Schmerzen    angegeben.    Dieses 


48     II-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

sowie  auch  die  übrigen  Gelenke  sind  anatomisch  unverändert.  Die 
tiefen  Reflexe  sind  an  1.  OE.  und  UE.  beträchtlich  gesteigert.  Bauch- 
hautreflex vorhanden. 

In  der  1.  Gesichtshälfte,  in  1.  OE.  und  UE.  finden  sich  fast  con- 
tinuirliche,  rasch  aber  nicht  blitzartig  ablaufende  arhythmische  regellose 
Zuckungen  von  ziemlichem  locomotorischem  Effect.  Dieser  besteht  im 
Heben,  Senken,  Ein-  und  Auswärtsrollen  des  Oberarms,  der  bald  in  Ad-, 
bald  in  Abductionsstellung  sich  befindet.  Im  Ellbogengelenk,  das  meist 
in  spitzwinkliger  Beugung  verharrt,  spielen  sich  Flexions-  und  Exten- 
sionsstösse  ab.  Im  Handgelenk  wechseln  Ad-  und  Abductionsstellung; 
in  den  Fingergelenken,  besonders  denen  des  1.,  2.,  3.  erfolgt  abwechselnd 
Streckung,  Beugung,  Speizung,  während  der  4.  und  5.  Einger  meist  ge- 
beugt bleiben. 

In  der  1.  UE.  kommt  es  zu  Beugungen  im  Knie,  Rotation,  Pro-  und 
Supination  im  Fussgelenk. 

Alle  diese  Bewegungen  erfolgen  zum  Theil  gleichzeitig,  zum  Theil 
nacheinander  ganz  regellos.  Sie  nehmen  bedeutend  zu,  wenn  Pat.  im 
Affect  ist  oder  sich  beobachtet  weiss,  und  sistiren  im  Schlafe. 

Alle  Einzelbewegungen  der  1.  OE.  und  UE.  sind  möglich,  aber 
ganz  kraftlos  und  meist  vereitelt  (als  Zielbewegungen)  durch  die  sie 
störenden  choreiformen.  Im  Stehen  ist  Pat.  in  permanenter  Unruhe, 
wird  von  Krampfbewegungen  im  1.  Arm  und  Bein  geradezu  geschüttelt 
und  nach  links  gerissen.  Der  Gang  ist  unsicher  durch  häufiges  Ein- 
knicken des  Kniees  und  die  Verdehnungen  im  Fussgelenk. 

Unter  Behandlung  mit  Solut.  Fowler  und  "Valeriana,  Bettruhe, 
Behandlung  der  Agrypnie  mit  Brom,  Paraldehyd,  vom  23.  10.  ab  ent- 
schiedene Besserung.  Die  choreiformen  Erscheinungen  werden  milder, 
setzen  Stundenweise  aus.  Vom  2. 11.  ab  sind  schon  Handarbeiten  möglich. 
Auch  die  kinetischen  Störungen  verlieren  sich.  Bei  der  Entlassung 
Mitte  November  nur  noch  Spuren  der  Neurose. 

Beob.  14.  Rechtsseitige  autosuggestiv  entstandene  Hemi- 
plegie mit  dissociirter  Empfindungsstörung,  ähnlich  einer 
Syringomyelie. 

Er.,  26  J.,  Schneidergehilfe,  wurde  am  25.  11.  96  auf  der  Klinik 
aufgenommen. 

Der  Mutter  Bruder  litt  an  Epilepsie.  Sonst  sind  angeblich  keine 
Nervenkrankheiten  in  der  Blutsverwandtschaft  vorgekommen.  Pat.  be- 
zeichnet sich  selbst  als  einen  leicht  erregbaren  Menschen,  der  von  jeher, 
selbst  über  Kleinigkeiten,  heftig  erschrak. 

Am  23.  6.  95  wurde  er  Morgens  von  heftiger  Uebelkeit  und 
Schwindel  befallen  (stat.  gastricus?).   Er  eilte  auf  den  Abort.   Dort  kam 


Hysterische  Hemiplegien.  49 

die  Idee  eines  drohenden  Schlaganfalls.   Er  erschrak  heftig,  bekam  einen 
allgemeinen  Schüttelkrampf.     Von  diesem  Moment  an  war   die  Sprache 
gestört  und  kaum  mehr  verständlich.     Pat.  zitterte  heftig  an  den  OE 
Hess  einen  Arzt  rufen,  der  des  Pat.  Befürchtung,  es  handle  sich  um 
einen  Schlaganfall,  bestätigte  und  Pat.  in  ein  Spital  sandte. 

Dort  anfänglich  noch  Fortdauern  des  Zitterns  und  völliger  Verlust 
der  Sprache  (Mutismus?). 

Am  27.  6.  kehrte  die  Sprache  allinälig  wieder,  das  Zittern  verlor 
sich.  Pat.  wurde  ruhiger,  aber  am  29.  früh  verspürte  er  Parästhesie  in 
der  r.  OE.  und  UE.  und  zunehmende  Schwäche  in  diesen  Extremitäten. 

Bis  Mitte  Juli  war  er  wegen  r.  schlaffer  Lähmung  ans  Bett  ge- 
fesselt. Allmälig  kehrte  r.  die  Beweglichkeit  wieder,  aber  bei  Be- 
wegungen verspürte  er  heftigen  Schmerz  in  den  bewegten  Gelenken, 
schonte  sich  deshalb  sehr  und  hielt  sich  für  sehr  krank. 

Vom  August  bis  Anfang  November  96  war  Pat.  wieder  leidlich 
arbeitsfähig,  aber  nach  relativer  Ueberanstrengung  fühlte  er  wieder 
Schwäche  in  der  r.  OE.,  in  welcher  zugleich  Zittern  auftrat. 

Pat.  suchte  nun  die  Klinik  auf,  in  welcher  er  am  28.  11.  96 
eintrat. 

Pat.  zart,  schlecht  genährt.  Blasiger  rachitischer  Schädel,  Of.  55.5  cm, 
schmale  Stirn,  eingesunkene  Fontanellgegend. 

Gehirnnerven:  Hypalgesie  und  Thermohypästhesie  der  r.  Gesichts- 
hälfte, r.  fehlender  Gaumenreflex,  schwacher  Rachenreflex,  r.  Gesichts- 
feld für  Weiss  und  Farben  concentrisch  eingeschränkt,  r.  Hypakusie 
(Knochenleitung  mehr  gestört  als  die  durch  den  Meatus). 

An  r.  Zungenspitze  fehlt  die  Geschmacksempfindung  für  süss  und 
salzig  (sauer  und  bitter  wird  gut  empfunden).  Sonst  alle  Functionen 
der  Gehirnnerven  normal,  auch  bei  Augen-  und  Kehlkopfspiegelung.  Im 
Facialisgebiet  speciell  keine  Anomalie. 

Fi.  OE.  leicht  cyanotisch  und  etwas  kühler.  Alle  Bewegungen  im 
physiologischen  Ausmass  möglich,  bis  auf  Parese  der  Handstrecker,  aber 
äusserst  kraftlos;  jedoch  ist  die  Inner vationsstärke  sehr  wechselnd  und 
psychisch  sehr  beeinflussbar. 

Alle  tiefen  und  periostalen  Reflexe  sind  hoch  gesteigert,  jederzeit 
Handclonus  hervorzurufen.  Das  Volumen  des  Ober-  und  Unterarms  ein 
wenig  reducirt.  Durch  Beklopfen  des  Proc.  styloid.  radii  lässt  sich  in 
der  ganzen  r.  OE.  Schütteltremor  hervorrufen. 

Die  r.  UE.  fühlt  sich  distal  bis  zum  Kniegelenk  etwas  kühler  an 
als  1.  Active  Bewegung  in  Sprung-  und  Zehengelenken  etwas  eingeschränkt. 
Passive  Bewegung  vollkommen  frei.     Motorische  Kraft  gleich  links. 

Patellar-    und  Fussclonus.    Im    ganzen  Lähmungsgebiet   electrisch 

Krant-Ebing,  Arbeiten  II.  4 


50       II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankung  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

normale  Keaction.  Das  r.  Bein  -wird  beim  Gehact  geschont,  ist  aber  ganz 
sufficient. 

Auf  der  ganzen  r.  Körperhälfte  tactile  Sensibilität  vollkommen 
normal.  Dagegen  vollständige  r.  Hemianalgesie  (selbst  bei  Pinselung 
mit  tetanisirenden  faradischen  Strömen).  Gleichwohl  fährtPat.  bei  geschlosse- 
nen Augen  gelegentlich  eines  ihm  unversehens  in  der  r.  Vola  manus 
beigebrachten  Stiches  ebenso  zurück,  wie  es  ein  Gesunder  in  gleicher  Lage 
thun  würde. 

Die  Thermoästhesie  ist  auf  der  gan.^n  r.  Körperhälfte  gleichmässig 
und  erheblich  für  Kalt  und  Warm  herabgesetzt.  Die  tiefe  Sensibilität 
in  Finger-,  Hand-,  Zehen-,  Fussgelenken  ist  vermindert. 

Bei  geschlossenen  Augen  und  abgelenkter  Aufmerksamkeit  zeigt 
sich  eine  erhebliche  Aenderung  resp.  Besserung  der  motorischen  Störungen 
in  der  r.  OE.  Auffallend  ist  auch,  dass  die  anscheinend  rein  spinal  ge- 
steigerten tiefen  Reflexe  auch  psychisch  beeinflusst  werden,  insofern  sie 
unter  obigen  Bedingungen  lange  nicht  so  bedeutend  ausfallen,  als  bei 
offenen  Augen  und  bei  auf  den  Versuch  concentrirter  Aufmerksamkeit. 
Wenn  Pat.  auf  seine  Lähmung  vergisst,  ist  er  in  r.  OE.  oft  recht  er- 
heblicher Kraftentfaltung  fähig. 

Die  Möglichkeit  einer  Syringomyelie  musste  trotz  der  classischen 
und  für  diese  Krankheit  sprechenden  dissociirten  Empfindungsstörung 
Angesichts  dieser  Thatsachen,  wie  auch  der  rein  psychischen  und  plötz- 
lichen Entstehung  der  Krankheit  wegen,  fallen  gelassen  werden. 

Dazu  kamen  die  Steigerung  der  tiefen  Reflexe,  die  hemiplegische, 
streng  halbseitige  motorische  Insufficienz,  die  hemian ästhetische  Aus- 
breitung der  Empfindungsstörung,  die  Störung  der  tiefen  Sensibilität,  die 
blos  als  Hypotrophie  (ex  inactivitate  aut  perturbat.  troph.  hyster.?)  nicht 
als  regionäre  und  progrediente  imponirende  trophische  Störung  der  Mus- 
gulatur,  die  unversehrte  electrische  Reaction  u.  s.  w. 

Unter  Gymnastik,  Faradisation  und  Wachsuggestion  besserten 
sich  die  sensiblen  und  motorischen  Störungen  der  r.  Körperhälfte  so  sehr, 
dass  Pat.  sich  eines  Tages  für  gesund  erklärte  und  am  10.  I.  97  das 
Spital  verliess. 

Beim  Austritt  bestand  noch  leichte  Hypalgesie  und  thermische 
Hypästhesie,  sowie  ein  gewisser  Grad  von  Amyosthenie  in  der  r.  OE. 

Beob.  15.  Rechtsseitige,  durch  Emotion  entstandene  reci- 
divirende  Hemiparese.     Erfolg  von  Suggestivbehandlung. 

Seh.,  44  J.,  Schneiderin,  aus  angeblich  nervengesunder  Familie, 
aber  von  der  Pubertät  ab  menstrual  an  Migräne  leidend,  heirathete 
mit  29  J.,  coneipirte  nie,  hatte  in  unglücklicher  Ehe  gelebt  und  sich 
vor  8  Jahren  scheiden  lassen.  Auch  in  der  Folge  viele  Gemüthsbewegungen. 


Hysterische  Hemiplegien.  51 

Vor  4  Jahren  begannen  tonische  Krämpfe  in  den  Händen  (Hyper- 
extension),  verbunden  mit  centrifugalen  parästhetischen  Sensationen  vom 
Kopf  bis  in  die  Fingerspitzen,  die  in  der  letzten  Zeit  3 — 4  mal  täglich 
auftraten  und  stundenweise  anhielten.  Seit  dem  Erscheinen  dieser  localen 
Spasmen  sind  die  Hemicranieanfälle  geschwunden. 

Im  Januar  91,  nach  vorausgehenden  heftigen  Gemüthsbewegungen, 
entwickelte  sich  binnen  8  Tagen  in  der  r.  UE.,  dann  auf  die  r.  OE. 
fortschreitend  Parese,  zugleich  mit  Anästhesie  im  Lähmungsgebiet. 
Facialis  unbetheiligt. 

Auch  die  Sinnesfunctionen  intact. 

Gefühl  des  Geschwollenseins  r.  der  Extremitäten,  Vertaubungsgefühle 
in  denselben,  Kältegefühle,  von  den  Füssen  aufsteigend,  mit  Herzklopfen. 
Nach  einem  Monat  völlige  Wiederausgleichung  aller  Functionsstörungen. 

Nach  neuerlichen  Gemüthsbewegungen  im  Mai  91  Wiederkehr  der 
r.  Parese.  Bei  der  Aufnahme  am  8.  8.  91  mittelgrosse,  ziemlich  kräftige 
Persönlichkeit. 

Lues  negirt  und  im  Status  praesens  nicht  nachweisbar.  Vegetative 
Functionen  ungestört.  Bauchhautreflex  r.  und  1.  auslösbar.  Keine  Stig- 
mata hysteriae.  Gang  breitbasig,  schwankend,  auf  r.  UE.  ausfahrend, 
atactisch.  Romberg  positiv,  aber  in  der  Intensität  stark  schwankend  und 
psychisch  sehr  beeinflussbar. 

Patellarreflex  r.  und  1.  sehr  gesteigert,  r.  Fussclonus.  Bedeutende 
Herabsetzung  der  groben  Muskelkraft  in  r.  OE.  und  UE.  Muskeltonus 
herabgesetzt,  jedoch  leichte  Versteifung  beim  Gehact  in  r.  Hüft-  und 
Kniegelenk. 

In  r.  OE.  und  UE.  Hypästhesie  für  alle  Qualitäten  der  cutanen 
Empfindung;  tiefe  Sensibilität  intact. 

Facialis  unbetheiligt.  Alle  übrigen  Hirnnervengebiete  ohne  Befund. 

Unter  Wachsuggestionen  und  Electrotherapie  keine  Besserung.  Von 
Anfang  October  ab  hypnotische  Behandlung  nach  Bernheim'scher  Me- 
thode. Pat.  ist  leicht  in  tiefes  Engourdissement  zu  bringen.  Suggestion 
der  Heilbarkeit  des  Leidens,  der  wiederkehrenden  Kraft,  Sicherheit  der 
Bewegung  und  der  Wiederkehr  der  Sensibilität. 

Schon  in  der  ersten  Sitzung  bedeutende  Aufbesserung  der  Muskel- 
kraft, der  Ataxie  und  Sensibilitätsstörung.  Während  der  Hypnose  ist  die 
volle  Muskelkraft  vorhanden. 

Ende  October  sind  die  Beschwerden  auf  ein  Minimum  reducirt. 
Pat.  legt  weite  Strecken  zu  Fuss  zurück.  Neue  Gemüthsbewegungen. 
Unterbrechung  der  Behandlung  der  ambulanten  Patientin  wegen  Bronchial- 
catarrh. 

Bei  Wiederaufnahme  derselben  19. 11.  91  wieder  Amyosthenie,  leichte 


52      !!•  Vortäuschung  organischer  Erkrankung  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Ataxie.  Sensibilität  erhalten.  Unter  entsprechenden  Suggestionen  und 
Verbot,  Getnüthsbewegungen  aufkommen  zu  lassen,  fortschreitende 
Besserung,  sodass  Pat.  am  28.  12.  sich  für  genesen  hält  und  aus  der 
Behandlung  austritt.  Bei  der  Entlassung  noch  leichte  Amyosthenie  in 
r.  UE.  und  Steigerung  der  tiefen  Keflexe. 

Beob.  16.    Rechtsseitige  autosuggestive  Hemiparese. 

H.,  23  J.,  ledig,  Dienstbote,  angeblich  aus  gesunder  Familie, 
früher  nie  schwer  krank,  in  letzter  Zeit  angestrengt  und  Gemüthsbeweg- 
ungen  ausgesetzt  gewesen,  schlief  in  vollem  Wohlsein  am  1.  5.  95 
ein  und  erwachte  am  andern  Morgen  mit  einem  heftigen  Schmerz 
in  der  r.  UE.,  der  das  Gehen  fast  unmöglich  machte.  Sie  schleppte  sich 
so  noch  einige  Tage  herum,  bekam  dann  Schmerzen  auch  in  der  1.  UE., 
wurde  amblyopisch,  sodass  sie  nicht  mehr  lesen  und  schreiben  konnte, 
war  sehr  beunruhigt  über  ihre  Krankheit,  liess  sich  in  ein  Spital  auf- 
nehmen, wo  man  mit  Schmierkur,  dann  mit  Electricität  und  anderen  Be- 
handlungsweisen  erfolglos  sich  bemühte,  sie  zu  kuriren.  Das  Leiden 
wurde  immer  intensiver.  Grosses  Krankheitsgefühl,  allgemeine  Schwäche 
und  Hyperästhesie  veranlassten  Pat.  Hilfe  im  allgemeinen  Krankenhause 
zu  suchen. 

Stat.  2.  12.  95.  Kräftiges,  gut  genährtes  Individuum,  vegetativ  ohne 
Befund,  ohne  Lues.  Grosses  Krankheitsgefühl,  leidende  Miene.  Pat. 
ganz  präoccupirt  von  ihrem  Leiden.  Am  ganzen  Körper  ruft  -schon 
massiger  Druck  lebhaften  Schmerz  hervor. 

Grosse  Sehschwäche  (zählt  Finger  r.  auf  2  m,  1.  auf  3  m,  r.  Jäger 
Nr.  20,  1.  Nr.  15)  aber  Augenspiegel  ohne  Befund.  Auch  keine  concentr. 
Sehfeldeinschränkung,  keine  Dyschromatopsie.  Von  Seiten  der  Hirnnerven 
überhaupt  keine  Störung. 

In  r.  OE.  und  UE.  grosse  Muskelschwäche,  aber  nirgends 
localisirte  Lähmung.  Der  Händedruck  r.  ganz  kraftlos.  Muskeltonus 
herabgesetzt. 

Tiefe  Reflexe  r.  und  1.  gesteigert,  bedeutend  mehr  r.  Erhebliche 
Gehstörung.  Pat.  schont  sehr  ihr  r.  Bein  und  hinkt  auf  Grund  von 
Schmerz  temporär.  An  anderen  Tagen  ist  sie  schmerzfrei  und  geht  an- 
standslos oder  nur  leicht  das  Bein  nachziehend.  Von  Seiten  der  Ge- 
lenke besteht  weder  eine  anatomische  Störung  noch  Hyperästhesie.  Die 
cutane  und  tiefe  Sensibilität  normal.  Bauchhautrefllex  r.  und  1.  prompt 
auszulösen. 

Pat,  eine  höchst  emotive,  willensschwache,  in  der  Einbildung  un- 
heilbarer Krankheit  befangene  Persönlichkeit,  reagirte  weder  auf  Wach- 
suggestionen,  überhaupt Traitement  moral,  noch  auf  Gymnastik  undElectro. 
therapie  in  der  wünschenswerthen  Weise,  sodass  der  Erfolg  der  Behand- 


Hysterische  Hemiplegien.  53 

lung  bei  ihrem  nach  einigen  Wochen  erfolgten  Austritt  als  ein  negativer 
bezeichnet  werden  musste.  Angenscheiulich  handelte  es  sich  um  eine 
rein  psychische  Lähmung  durch  Autosuggestion,  die  durch  Schmerz- 
empfindungen genährt  und  ursprünglich  hervorgerufen  wurde. 

Beob.  17.    Rechtsseitige  Hemiplegie. 

Gr.,  36  J.,  Händler,  mosaisch,  aufg.  28.  7.  95,  wahrscheinlich  aus 
belasteter  Familie,  früher  gesund,  massiger  Potator,  nicht  luetisch  ge- 
wesen, bekam  vor  3  J.  auf  der  Strasse,  nach  körperlicher  Ueberanstreng- 
ung,  Schwindel  und  Hitzegefühl  im  Kopfe,  woran  sich  eine  r.  Lähmung 
und  Sprachstörung  anschloss. 

Pat.  will  sich  bestimmt  erinnern,  dass  der  Mund  nach  r.  verzogen 
war  und  dass  er  Anfangs  ihn  nur  eine  Spur  öffnen  konnte  (Contractur 
im  Gebiet  des  r.  Facialis  und  der  Portio  minor  trigemini?).  Die  Zunge 
habe  er  anstandslos  in  der  Mundhöhle  bewegen  können,  aber  die  Sprache 
sei  fast  unverständlich  gewesen,  der  Beschreibung  nach  durch  Articu- 
lationsstörung,  bei  Ausschluss  jeder  aphasischen  Störung.  Der  r.  Arm 
hing  unbeweglich  herab,  das  r.  Bein  wurde  mühsam  nachgezogen.  So 
schleppte  er  sich  nach  seiner  nahegelegenen  Wohnung. 

Nach  etwa  5  Wochen  besserten  sich  gleichzeitig  r.  Hemiparese  und 
Sprachstörung.  Er  konnte  seine  OE.  zu  groben  Hantirungen  wieder  ge- 
brauchen und  leidlich  wieder  gehen.  Im  weiteren  Verlauf  kam  es  zu 
wechselnden  Besserungen  und  Verschlimmerungen.  Die  letzteren  knüpften 
an  relative  Ueberanstrengung,  Gemüthsbewegungen  und  Genuss  geistiger 
Getränke  an.  Besonders  belästigte  ihn  dann  stockende  stotternde  Sprache. 
Seit  der  Lähmung  behauptet  Pat.  r.  stärker  zu  schwitzen  als  1.  Seit 
kurzer  Zeit  litt  er  an  heftigen  Schmerzen  in  der  1.  Scheitelgegend. 

Pat.  erscheint  bei  der  Aufnahme  kräftig  gebaut,  gut  genährt,  ohne 
Spuren  von  Rachitis  und  Lues.  Der  Schädel  misst  59,5  cm  im  grössten 
Umfang,  Gaumen  steil,  Gaumennaht  linibös.  Vegetative  Organe  ohne 
Befund. 

Pat.  ist  emotiv,  sehr  von  seinem  Leiden  occupirt.  Sobald  er  emo- 
tionirt  ist,  namentlich  wenn  man  ihn  über  seine  Krankheit  ausfragt, 
wird  seine  Sprache  stotternd,  sonst  ist  sie  ganz  ungestört,  selbst  bei  den 
schwierigsten  Proben. 

Im  Gebiet  der  Hirnnerven  findet  sich  sonst  absolut  keine  Störung. 
Augenspiegel  ohne  Befund.     Keine  Stigmata  hysteriae. 

Die  r.  OE.  ist  dem  Stamme  adducirt,  im  Ellbogengelenk  gebeugt, 
im  Handgelenk  flectirt. 

Diese  eine  Contractur  markirende  Haltung  lässt  sich  aber  passiv 
ohne  Schmerz  oder  Schwierigkeit  ausgleichen.  Nirgends  findet  sich  eine 
Contractur  oder  nur  Rigor.    Pat.  ist  fähig,  alle  Einzelbewegungen,  auch 


54      n.  Vortäuschung  organischer  Erkrankung  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

die  Extension  im  Ellbogen-  und  Handgelenk,  mit  ziemlicher  Kraft  aus- 
zuführen, jedoch  steht  Pat.  sichtlich  unter  dem  Bewusstseirj ,  dass  sein 
Arm  krank  sei  und  schont  er  denselben  wo  immer  möglich.  Die  Nerven- 
stämme sind  r.  druckempfindlich,  die  Gelenke  frei  bei  activer  und  passiver 
Bewegung,  wie  auch  bei  Druck.  Die  tiefen  Reflexe  sind  gesteigert,  die 
Sensibilität  ist  in  allen  ihren  Qualitäten  ganz  intact. 

Am  Stamm  normale  Verhältnisse ;  Bauch-  und  epigastrischer  Reflex 
r.  erhalten. 

Auch  an  der  r.  UE.  zeigt  sich  nirgends  ein  Ausfall  grober  Muskel- 
kraft oder  Störung  der  Beweglichkeit  in  irgend  welchem  Muskelgebiet. 
Die  cutane  und  tiefe  Sensibilität  ist  normal. 

Die  Ränder  der  Knieschneibe  sind  druckempfindlich.  Der  Patellar- 
reflex  ist  beiderseits  gesteigert,  r.  bis  zu  Clonus. 

Trotz  des  negativen  Befundes  an  der  r.  UE.  streift  Pat.  beim 
Gehen  mit  der  r.  Fussspitze  am  Boden  und  schleift  etwas  das  Bein  nach, 
ohne  dasselbe  jedoch  im  Bogen  herumzuführen. 

Die  psychische  Bedeutung  dieser  „Lähmung"  ist  eine  evidente. 
Man  gewinnt  den  Eindruck,  dass  Pat.  unter  dem  Einfluss  der  Idee  einer 
r.  Functionsbehinderung  mangelhaft  willkürlich  r.  OE.  und  UE.  in- 
nervirt. 

Bei  darauf  gerichteter  Forschung  ergiebt  sich,  dass  der  impressionable 
Patient,  als  er  vor  3  Jahren  Schwindel  und  Hitzegefühl  im  Kopfe  ver- 
spürte, einen  Schlaganfall  befürchtete  und  sich  dabei  eines  Mannes  seiner 
Bekanntschaft  erinnerte,  der  vor  Jahren  von  einer  Lähmung  mit  fast 
völligem  Verlust  der  Sprache  heimgesucht  worden  war.  Das  Bild  dieses 
unheilbaren  Gelähmten  schwebe  ihm  seither  beständig  vor. 

Unter  "Wachsuggestionen,  unterstützt  durch  Electrotherapie,  besserte 
sich  diese  Hemiplegia  imitatoria  ex  imaginatione  bedeutend,  sodass  Pat. 
befriedigt  nach  3  Wochen  das  Spital  verliess. 

Beob.  18.  Linksseitige  Hemiplegie  nach  psychischem 
Trauma. 

Frl.  M.,  21  J.,  Theaterelevin,  erblich  angeblich  unbelastet,  von 
Kindesbeinen  an  blutarm,  nervös,  emotiv,  machte  die  gewöhnlichen 
Kinderkrankheiten  ohne  Folgen  durch  und  litt  mit  10  J.  etwa  6  Wochen 
lang  an  einer  r.  nach  einer  Otitis  media  aufgetretenen  peripheren  Facialis- 
lähmung. 

Am  26.  8.  95  fiel  sie  in  vollem  Wohlsein  von  einem  Tramway- 
wagen  herab,  erlitt  keine  Verletzung,  erschrak  aber  heftig. 

Keine  Commotionserscheinungen,  ging  allein  heim.  Dort  sofort 
schlaffe  Lähmung  der  1.  OE.  und  UE.,  Sprachstörung  (Zungenkrampf), 
Gesicht  nach  r.  verzogen,  Speichel  aus  dem  1.  Mundwinkel  ausfliessend. 


Hysterische  Hemiplegien.  55 

Pat.  blieb  noch  3  Tage  zu  Hause,  klagte  Kopfweh,  war  aufgeregt, 
vorübergehend  verwirrt  und  wollte  planlos  davonlaufen. 

Vom  28.  8.  bis  14.  9.  befand  sie  sich  deshalb  im  Spital,  wurde 
ruhig  und  konnte  allmälig  die  gelähmten  Extremitäten  wieder  etwas  be- 
wegen. 

Die  Krankheitsgeschichte  des  Spitals  bot  folgenden  Status  bei  der 
Aufnahme: 

Afebril,  keine  Störung  vegetativer  Organe,  Harn  ohne  fremde  Be- 
standtheile. 

Linke  Gesichtshälfte  glatt,  Stirnfalten  1.  verstrichen,  1.  Mundwinkel 
tiefer  stehend,  1.  Auge  weiter  geöffnet  als  rechtes,  Augenschluss  prompt; 
keine  Sprach-,  keine  bulbäre  Störung,  keine  Augenmuskellähmung; 
linker  Arm  schlaff  gelähmt,  unbeweglich,  Parese  des  1.  Beines;  Tast-, 
Schmerz-  und  thermische  Sensibilität  in  1.  Gesichtshälfte,  1.  OE.,  1.  Thorax- 
hälfte bis  zum  Mammillarniveau  stark  herabgesetzt,  weiter  abwärts  er- 
halten.    Bauchhautreflex  r.  und  1.  prompt. 

Decursus:  vom  6.  9.  ab  Besserung  der  gestörten  Sensibilität,  Rück- 
gang der  Facialislähmung,  Wiederkehr  der  Gehfähigkeit,  Lähmung  der 
1.  OE.  stationär.  Tiefe  Reflexe  an  dieser  nicht  auszulösen,  Patellarreflex 
1.  stärker  als  rechts.     Keine  sensorischen  Störungen. 

Therapie:  Faradisation,  Trional. 

Gebessert  entlassen  am  14.  9. 

Am  24.  9.  95  stellte  sich  Pat.  wegen  andauernder  Schwäche  der 
1.  Extremitäten  in  meinem  Ambulatorium  vor. 

Pat.,  eine  zarte  Persönlichkeit  von  feinem  Teint,  ist  zunächst  auf- 
fällig durch  mimische  Entstellung,  insofern  der  untere  Abschnitt  des  Ge- 
sichts nach  rechts  verzogen  ist.  Bei  genauer  Prüfung  handelt  es  sich 
nicht  um  Facialisparese  links,  sondern  um  r.  Contractur  des  11.  zygo- 
maticus  und  levator  menti. 

Durch  einfaches  Streichen  der  Haut  im  Bereich  dieser  Muskeln 
lässt  sich  diese  Contractur  verstärken  bezw.  hervorrufen  (Diathese  de 
contracture).  Die  Contractur,  welche  meist  auch  im  Quadratus  menti  er- 
scheint, verliert  sich  bald  nach  Aufhören  der  Hautreizung,  entsteht  aber 
spontan  bei  willkürlicher  Bewegung,  ganz  besonders  aber  bei  emotioneller 
Erregung.  Dann  verengert  sich  auch  die  r.  Lidspalte  (Contractur).  Vom 
Stamm  des  Facialis  aus  lässt  sich  durch  Druck  auf  denselben  keine  Con- 
tractur erzielen. 

Die  linke  Gesichtshälfte  ist  in  ihrer  Beweglichkeit  uneingeschränkt, 
desgleichen  die  rechte.  Bei  geöffnetem  Mund  erscheint  die  1.  Zungen- 
hälfte hart,   gewölbt,   die  r.  weich.     Beim  Vorstrecken  der  Zunge  er- 


56       II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankung  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

weitert  sich  die  rechte  Mundspalte  mehr  als  die  linke  und  wird  nach  r. 
verzogen. 

Die  Zunge  ist  nach  allen  Richtungen  frei  beweglich,  aber  sie 
weicht  beim  Vorstrecken  nach  rechts  ab. 

In  Emotion  tritt  articulatorische  Sprachstörimg  durch  Zungenkrampf 
ein.     In  ruhiger  Stimmungslage  ist  die  Sprache  frei. 

Im  ersteren  Falle  zeigen  sich  gelegentlich  blitzartige  Zuckungen 
(Tic)  in  der  r.  Gesichtshälfte. 

Die  Sinnesorgane  sind  intact,  das  Gesichtsfeld  ist  nicht  eingeengt. 

Es  besteht  linksseitige  Hemihyperalgesie,  inclusive  Gesicht,  Zunge, 
"Wangenschleimhaut,  während  die  anderen  Sensibilitätsqualitäten  sich 
normal  erweisen.  Rachen-  und  Gaumenreflex  sind  r.  kaum,  1.  gar  nicht 
hervorzurufen. 

In  1.  OE.  und  TJE.  besteht  schlaffe  Parese,  das  1.  Bein  wird  etwas 
beim  Gehen  nachgezogen.  L.  leichte  Peroneusparese  mit  Andeutung 
von  Pes  varoequimus.  Die  tiefen  Reflexe  in  1.  OE.  und  TJE.  nicht  ge- 
steigert. 

Allgemeinbefinden  gut.  Unter  faradischer  Behandlung  allmäliger 
Rückgang  der  1.  Extremitätenparese.  Alle  Einzelbewegungen  möglich, 
aber  noch  im  December  95  grobe  Muskelkraft  etwa  um  50°/0  gegen 
rechts  herabgesetzt.  Die  1.  Hyperalgesie  beschränkt  sich  nur  mehr  auf 
die  1.  OE.  Dagegen  hat  sich  die  r.  Facialiscontractur  mehr  ausgebildet 
und  besteht  im  Dec.  95  schon  im  Zustand  der  Ruhe.  Auch  die  1.  Zungen- 
hälfte ist  mehr  verkrampft,  beim  Besehen  in  der  Mundhöhle  oft  vor- 
gewölbt und,  anlässlich  Emotion,  die  Ursache  von  erschwertem  Sprechen. 

Im  Laufe  der  nächsten  Monate  keine  wesentliche  Aenderung.  Pat. 
ist  durch  Schwäche  der  1.  Extremitäten  andauernd  berufsunfähig. 

Stat.  1.  5.  96.  Contractur  gebessert,  aber  bei  geringster  psychischer 
Erregung  im  r.  Orbicularis  oculi  und  oris  zu  Tage  tretend.  Augen- 
schluss  ruft  überaus  starke  Mitinnervation  des  r.  Mundwinkels  hervor. 
Nur  noch  emotionell  Zungenkrampf  und  Sprachstörung. 

L  Amyosthenie  unverändert;  1.  Sensibilität  normal;  r.  Hypalgesie, 
1.  Extremitäten  bedeutend  kühler  als  r.,  besonders  an  den  distalen 
Partien;  tiefe  Reflexe  in  1.  OE.  und  TJE.  sehr  gesteigert;  r.  fehlender 
Rachenreflex;  Clavus. 


Die  vorstehenden,  aus  eigener  und  fremder  Erfahrung  berichteten 
Pälle  von  f unctioneller  (hysterischer)  Hemiplegie  sind  geeignet,  die  Häufig- 
keit derartiger  Krankheitsbilder  in  der  Praxis  zu  illustriren  und  zur 
Klärung  ihrer  klinischen  Eigenthümlichkeiten  Einiges  beizutragen.    Sie 


Hysterische  Hemiplegien.  57 

sind  es  umso  mehr,  als  eine  Deutung  derselben  im  Sinne  toxischer  Er- 
krankung (Alkoholismus,  Saturnistnus,  Urämie,  Diabetes  u.  A.),  ausge- 
schlossen werden  kann. 

Das  klinische  Interesse  wendet  sich  in  erster  Linie  der  Frage  zu, 
wie  sich  diese  functionellen  von  den  organischen  Lähmungen  unterscheiden 
lassen.  Das  ist  nach  Umständen  für  den  Anfänger,  dessen  ärztliches 
Wissen  nur  auf  anatomischer  Grundlage  aufgebaut  ist  und  bezüglich  der 
Neurosen  meist  erst  in  der  Praxis,  nach  unangenehmen  diagnostischen 
Irrthümern  die  nöthige  Erweiterung  erfährt,  ziemlich  schwer,  zumal  da 
man  zugeben  muss,  dass  das  organische  Krankheitsbild  zuweilen  über- 
raschend gut  von  der  Neurose  copirt  wird. 

Jedenfalls  giebt  es  weder  nach  Aetiologie,  nach  Entstehung  und 
Detailsymptomen  sichere  trennende  Merkmale,  sodass  nur  die  synthetische 
Verwerthung  aller  Krankheitszeichen,  ihre  eigenartige  Gruppirung,  die 
Abhängigkeit  derselben  von  psychischen  Einflüssen,  der  Verlauf,  die 
Diagnose  sichern  können. 

Vorweg  muss  darauf  hingewiesen  werden,  dass  der  anamnestische 
und  im  Stat.  praesens  gelingende  Nachweis  hysterischer  Neurose  nur  Ver- 
muthungen,  nicht  Gewissheit  im  Sinne  functioneller  Bedeutung  des 
Krankheitsfalles  bieten  kann,  da  auch  bei  Hysterischen  jederzeit  organische 
Complicationen  eintreten  können. 

Umgekehrt  muss  aber  auch  betont  werden,  dass  die  hysterische 
Hemiplegie  als  primäre  und  monosymptomatische  Kundgebung  dieser 
Neurose  in  die  Erscheinung  treten  kann.  Dies  trifft  sogar  für  die  Mehr- 
zahl der  von  mir  gesammelten  Fälle  zu. 

Dass  man  auch  beim  Manne  auf  solche  Hemiplegien  gefasst  sein 
muss  und  dass  das  Sexus  gar  keine  Praesumptionen  gestattet,  geht  aus  den 
7  männlichen  Fällen  meiner  Casuistik  deutlich  genug  hervor  und  bedarf 
bei  unseren  heutigen  Erfahrungen  über  Hysteria  virilis  keiner  weiteren 
Ausführung. 

Von  viel  grösserer  Bedeutung  ist  die  Nichtauffindbarkeit  von  ätio- 
logischen Bedingungen  für  organische  Erkrankung  (Vitium  cordis,  Nieren- 
erkrankung, Atherosis  arteriarum  u.  s.  w.),  ferner  die  Erkrankung  in 
jugendlichem  Alter,  wobei  aber  zu  beachten  ist,  dass  auch  im  höheren 
(Beob.  10,  11)  functionelle  Lähmungen  noch  vorkommen  können. 

Anamnestisch  wird  der  Nachweis  früher  bestandener  und  ausge- 
heilter Hemiplegien  von  Bedeutung  sein,  insofern  bei  solchen  ex  Haemor- 
rhagia,  Embolia,  Encephalomalacia  nur  ausnahmsweise  und  im  Sinne 
einer  indirecten  Heerdlähmung  eine  Restitutio  ad  integrum  möglich  ist. 

Immer  bleibt  in  solchen  Fällen  auch  noch  die  Möglichkeit  einer 
symptomatischen  Bedeutung  früherer  Hemiplegien,  so  als  Episode  einer 


58       H-  Vortäuschung  organischer  Erkrankung  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

multiplen  Sclerose,  Dementia  paralytica,  eines  Tumor  u.  s.  w.,  zu  berück- 
sichtigen. 

Bedeutungsvoll  ist  es  immerhin,  dass  die  hysterischen  Lähmungen 
in  der  Regel  unmittelbare  oder  mittelbare  Folgen  eines  psychischen 
Trauma's  sind,  jedoch  kann  psychischer  Shok  auch  der  Anlass  zu  einer 
Haemorrhagie  oder  Embolia  cerebri  werden. 

Deutlicher  wird  die  neurotische  Bedeutung  des  Falles  dann,  wenn 
Auto-  oder  Fremdsuggestion  die  psychische  Vermittlung  desselben  nahe- 
legt (Beob.  1,  12,  14,  17). 

Dieselbe  Vermuthung  ist  berechtigt,  wenn  die  Lähmung  im  An- 
schluss  an  einen  Hysteria  gravis  insult  gefunden  wird,  ein  Vorkommen, 
das  in  der  Erfahrung  französischer  Forscher  als  häufig  bezeichnet  wird, 
in  meiner  Casuistik  aber  nicht  zu  Tage  tritt,  falls  man  nicht  den  apo- 
plectischen  Insult,  der  oft  der  Lähmung  vorausgeht,  als  Aequivalent  eines 
hysterischen  anerkennt. 

Die  Präsumption  einer  organischen  Begründung  der  Hemiplegie 
wird  durch  diese  Thatsache  mächtig  gefördert.  Es  ist  Aufgabe  der  dif- 
ferentiellen  Diagnose,  vor  Allem  Unterschiede  zwischen  dem  hysterischen 
apoplectiformen  Insult  und  der  wirklichen  Apoplexie  aufzufinden. 

In  Higier's  Fall  (Beob.  9),  „Comaartiger  Zustand,  ganz  reactionslos, 
langsame   tiefe  schnarchende  Respiration",  schien  diese  sehr  gut  copirt. 

Schon  Löwenfeld  hat  an  der  Hand  der  Literatur  und  eigener  Er- 
fahrung diese  Zustände  von  hysterischer  „Apoplexie"  als  Modificationen 
desselben  pathologischen  Grundzustandes  (hysterischer  Schlaf)  zu  erweisen 
versucht  und  sie  als  den  Erscheinungen  des  hysterischen  Lethargus, 
Coma,  der  Syncope  gleichbedeutend  erklärt.  Leider  sind  die  Zustände 
von  hysterischer  „Apoplexie"  im  „comatösen"  Stadium  bisher  fachärzt- 
licher Beobachtung  kaum  zugänglich  gewesen.  Vorkommenden  Falles 
wäre  diagnostisch  wichtig  und  darauf  zu  achten,  ob  in  diesem  „Coma" 
nicht  zeitweise  Schütteltremor,  vereinzelte  Contracturen,  besonders  Tris- 
mus,  Strabismus,  episodisches  Delir  (Beob.  1),  Erweckbarkeit  aus  diesem 
Zustand  durch  Druck  auf  hysterogene  Zonen  die  hysterische  Bedeutimg 
verrathen.  Die  Lähmung  des  Gaumensegels  (stertoröses  Athmen)  ist 
jedenfalls  sehr  selten  im  hysterischen  Coma,  dagegen  Regel  im  organisch 
bedingten.  Auch  die  fast  regelmässige  Albuminurie  und  das  Sinken  der 
Eigenwärme  bis  zu  1.5°  während  des  Coma  in  organischen  Fällen 
wären  zu  verwerthen.  Die  tiefen  Reflexe  fehlen  hier  anfangs  (Hem- 
mungs-  und  Reizwirkung  von  Seiten  des  apoplect.  Heerdes  auf  die 
Reflexbahn),  während  sie  bei  hysterischer  Bedeutung  des  Falles  normal 
(Gilles  de  la  Tourette  u.  A.)  bleiben  oder  früh  schon  gesteigert  erscheinen 
(Bischoff's  Fall,  Beob.  4). 


Hysterisehe  Hemiplegien.  59 

Auch  die  Dauer  des  hysterischen  „Conia"  kann  Fingerzeige  geben, 
insofern  sie  selbst  bei  durch  Encephalomalacie  vermittelten  organischen 
Fällen  24  Stunden  kaum  übersteigt,  bei  Hysterie  bis  zu  21/2  Tage 
(Beob.  3),  ja  sogar  6  Tage  (Beob.  7,  wo  geradezu  das  Bild  einer  Schädel- 
basisfractur  vorgetauscht  war)  dauern  kann. 

Das  Erhaltensein  des  Bauchhautreflexes  bei  hysterischem,  sein  Ver- 
lust bei  organisch  bedingtem  Coma  kann  einen  weiteren  Fingerzeig 
geben.  Deviation  conjuguee  ist  meines  "Wissens  bei  hysterischer  Apoplexie 
nie  beobachtet  worden. 

Versuche,  den  Unterschied  von  Apoplexia  hysterica  und  cruenta 
festzustellen,  hat  übrigens  schon  Rendu  (Semaine  medicale  1894, 
29.  August)  unternommen.  Wie  schwierig  die  differentielle  Diagnose 
von  Heerderkrankung  sein  kann,  lehrt  ein  Fall  von  Diller  (Med.  Record 
1894,  28.  April)  von  für  hysterische  Hemiplegie  fälschlich  gehaltener 
Encephalomalacie. 

Löwenfeld  (Archiv  f.  Psychiatrie  XXIII,  p.  715)  giebt  die  inter- 
essante historische  Notiz,  dass  schon  Forestus  die  differentielle  Diagnose 
zwischen  Apoplexie  und  anderen  Syndromen  versuchte. 

Gilles  macht  darauf  aufmerksam,  dass  schon  Sydenham  (traduct.  Jault, 
p.  477)  die  hysterische  Apoplexie  genau  kannte.  Er  beschrieb  sie  mit 
folgenden  Worten:  „Wenn  diese  Krankheit  (Hysterie)  das  Gehirn  ergreift, 
entsteht  zuweilen  eine  Apoplexie,  die  ganz  der  gewöhnlichen  gleicht  und 
auch  Hemiplegie  hinterlässt". 

Die  Unterscheidung  der  hysterischen  Hemiplegie  als  primär  auf- 
getretener oder  aus  einem  apoplectiformen  Insult  hervorgegangener  von 
organischer  bietet  beim  heutigen  Stand  klinischen  Wissens  keine  beson- 
deren Schwierigkeiten. 

Versucht  man  das  Bild  hysterischer  Hemiplegie,  wie  es  der  heutigen 
klinischen  Erfahrung  erscheint,  zu  zeichnen,  so  lässt  sich  der  Typus  des- 
selben in  folgender  Weise  fixiren  Mit  oder  ohne  apoplectiformen  In- 
sult, meist  im  unmittelbaren  oder  mittelbaren  Anschluss  an  ein  psy- 
chisches Trauma  findet  sich  eine  schlaffe  Parese  bis  Paralyse  der  OE. 
und  UE.  einer  Seite,  häufig  ohne  Betheiligung  von  Facialis  und  Hypo- 
glossus.  Die  Hemiplegie  ist  in  der  grossen  Mehrzahl  der  Fälle  von 
gleichseitiger  cutaner  Anästhesie  begleitet,  häufig  auch  von  Ausfalls- 
erscheinungen der  tiefen  Sensibilität  und  der  Function  der  Sinnesorgane 
auf  der  Seite  der  Lähmung.  Diese  bleibt  eine  schlaffe,  sodass  es  beim 
Uehact  nicht  zu  Circumduction  des  lahmen  Beines,  sondern  zum  einfachen 
Nachschleifen  desselben  kommt.  War  die  Lähmung  eine  gleich  inten- 
sive auf  Arm  und  Bein,  so  ist  dieselbe  hartnäckiger  auf  letzterem  als 
ersterem.     Umfang  und  Intensität  der  Lähmung  zeigen  sich   stark  be- 


60       n.  Vortäuschung  organischer  Erkrankung  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

einflusst  durch  psychische  Einwirkungen,  die,  als  günstige  Einflüsse,  so- 
gar ein  jähes  und  vollständiges  Schwinden  der  Lähmung  bewirken 
können. 

Versucht  man  den  Detailerscheinungen  dieses  Lähmungsbildes  näher 
zu  treten,  so  kommt  hier  in  erster  Linie  die  Frage  der  Betheiligung  des 
Facialis  an  demselben  in  Betracht. 

Die  klinische  Erfahrung  constatirt  die  Seltenheit  der  Facialisbetheiligung  bei 
hysterischer  Hemiplegie  (Althaus,  Weir  Mitchell,  Charcot  u.  A.).  Schon  Todd  hat  1856 
darauf  hingewiesen.  Man  glaubte  längere  Zeit,  dassFaciallähmung  hier  gar  nicht  vorkomme. 
Pipet,  Helot,  Kolioff,  Seeligmiiller,  Chantemesse,  Ballet,  Pitres,  König  u.  A.  bewiesen 
das  Irrthümliche  dieser  Annahme.  Charcot,  Brissaud,  Marie  u.  A.  zeigten,  dass  die 
angebliche  Facialislähmung  vielfach  durch  einen  gleichseitigen  Spasmus  fglosso)  labialis 
vorgetäuscht  werde.  Schon  Brodie  hatte  dies  erkannt.  Briquet,  später  Gilles  de  la  Tou- 
rette  wiesen  auf  das  gleichzeitige  Vorkommen  von  Sensibilitätsi-törung  im  Rayon  der 
Lähmung,  und  zwar  Anästhesie  bei  solcher,  Hyperästhesie  bei  Spasmus,  hin. 

Man  fand,  dass  die  hysterische  Facialislähmung  nur  den  unteren  Ast  betreffe 
und  flüchtig  sei  und  bezweifelte,  dass  sie  als  totale  vorkommen  könne.  Zuweilen  con- 
statirte  man  nur  Lähmung  einzelner  Muskeln  (Buccinator,  Zygomaticus) ,  sodass  es 
dann  schwierig  erschien,  eine  angeborene,  in  der  Praxis  nicht  seltene  Lähmung  dieser 
Muskeln  auszuschliessen.  Ballet  fand  einen  Fall,  in  welchem  nur  mimische  Lähmung 
bestand.  In  einem  traumatisch  entstandenen  Falle  Bicher's  constatirte  man  aber  totale 
halbseitige  Facialislähmung.  In  einem  spontan  entstandenen  Thomsen's  (Archiv  f.  Psych. 
17,  p.  849)  war  nur  der  Stirnast  frei  von  Lähmung. 

Bezüglich  der  Localisation  fand  man  meist  der  Extremitätenlähmung  gleichseitige, 
seltener  gekreuzte  Facialisbetheiligung.  Sehr  selten  war  die  Lähmung  doppelseitig 
(Chantemesse).  Was  die  Facialiscontractur  betrifft,  so  sah  man  sie  meist  der  Lähmung 
gleichseitig,  selten  contralateral,  höchst  selten  doppelseitig.  Sie  erschien  meist  nur 
partiell  und  im  unteren  Facialgebiet.  Nur  ausnahmsweise  war  der  Sphincter  ocnli  mit- 
betheiligt.  Meist  ist  die  Contractur  nicht  von  Lähmungbegleitet,  nur  eine  solche  vortäuschend, 
dann  häufig  mit  Zungencontractur  der  gleichen  Seite  verbunden.  Der  Spasmus  steigert 
sich  bei  Emotion  und  mimischer  Bewegung.  In  der  Ruhe  verräth  er  sich  oft  durch 
leichte  Klonismen  der  von  ihm  befallenen  Muskeln. 

Als  weitere  Zeichen  des  Krampfes  ergaben  sich:  Grössere  Weite  der  Mundspalte, 
Entweichen  der  Luft  beim  Blasen,  stärkere  Entblössung  der  Zähne  beim  Lachen,  inten- 
siveres Hervortreten  der  Nasolabialfalte  auf  der  Krampfseite. 

Die  von  mir  zusammengestellte  Casuistik  ist  geeignet,  zur  Klärung 
dieser  Frage  Einiges  beizutragen.  Zunächst  bestätigt  sie  die  relative 
Seltenheit  der  Facialislähmung,  die  nur  in  drei  unter  18  Fällen  constatirt 
wird  (Beob.  5,  8,  18).  In  sieben  Fällen  kommt  es  zu  selbständiger 
(1,  4,  9,  12,  17,  18)  oder  der  Lähmung  associirter  (8;  Contractur. 

Während  in  Beob.  8  die  Facialislähmung  nur  in  einem  Muskel 
nachweisbar  ist,  erscheint  sie  in  5  und  18  als  eine  totale  und  damit 
paradoxe  und  excessive,  gegenüber  der  organischen  cerebralen.  Bezüg- 
lich der  in  Beob.  4  erwähnten  Facialsparese  muss  ich  die  Vermuthung 
aussprechen,  dass  sie  nur  scheinbar  und  durch  eine  r.  Ueberinnervation 
bedingt  war. 


Hysterische  Hemiplegien.  61 

Viel  -wichtiger  erscheint  diagnostisch  die  Facialiscontractur. 
Sie  besteht  isolirt  nur  in  Beob.  8,  sonst  associirt  mit  Zungencontractur 
(1,  9,  12,  18)  und  überdies  mit  Contractur  der  Masseteren  (4,  17).  Die 
Contracturen  sind  der  Hemiplegie  gleichseitig  (1,  8,  17)  oder  gekreuzt 
(4,  9,  12,  18).  Zweimal  erscheint  die  Zungencontractur  der  Facialis- 
contractur contralateral  (4,  18). 

Die  Letztere  ist  ziemlich  persistent  und  verbindet  sich  häufig  mit 
Klonismen  des  Contracturgebietes  (1,  8,  18).  Statt  dieser  erscheint  in 
Fall  4  Klonus  im  Platysma  und  Sternocleidomastoideus.  Die  Facialis- 
contractur beschränkt  sich  wesentlich  auf  die  Muskeln  des  Mundwinkels. 
Nur  in  Fall  18  verbreitet  sie  sich  auch  auf  den  Augenschliessmuskel, 
wobei  sich  sonst  nicht  nachweisbare  Diathese  de  contracture  entwickelt 
und  die  Contractur  eine  dauernde  wird. 

Dieser  bei  hysterischer  Hemiplegie  so  häufige  Hemispasmus  labialis 
scheint  für  die  Diagnose  von  ganz  besonderer  Bedeutung,  da  er  bei 
organisch  bedingter,  speciell  ins  Cortex  gesetzer  Erkrankung  nicht  vor- 
kommt. 

Dies  gilt  ganz  besonders  da,  wo  er  als  Hemispasmus  glosso  labialis 
vorkommt.  Der  Glossospasmus  bedingt  dann  das  bei  organischer  Hemi- 
plegie paradoxe  Abweichen  der  vorgestreckten  Zunge  nach  der  gesunden 
Seite.  Mit  Spasmus  der  Zunge  dürfte  auch  die  nicht  seltene  Sprachauf- 
hebung oder  Sprachbehinderung  zusammenhängen,  die  Anfangs  bei  hy- 
sterischer Lähmung  bestehen  kann,  unbeschadet  seltener  Fälle  von  Mutis- 
mus (Beob.  4,  9),  der  an  und  für  sich  einen  sicheren  Schluss  auf  Hy- 
sterie gestattet. 

Die  Hemiplegie  von  functioneller  Bedeutung  ist  durchweg  eine 
schlaffe  und  bewahrt  dieses  Gepräge  so  lange  sie  besteht,  unbeschadet 
gelegentlicher,  an  ungewöhnlichem  Ort  auftretender  und  sicher  nicht  auf 
absteigende  Degeneration  der  corticomusculären  Bahn  zurückführbarer, 
vielmehr  als  Complication  aufzufassender  Erscheinungen  von  Spasmus. 
Jedenfalls  ist  der  hysterischen  Hemiplegie  die  der  organischen  zukommende 
Contractur  in  Ellbogen-,  Hand-  und  Fingergelenken  vollkommen  fremd, 
ebenso  die  der  Hüftgelenksmuskeln,  mit  daraus  resultirender  Circumduc- 
tion.  Dass  diese  aber  episodisch,  offenbar  unter  imitatorischer  Verwen- 
dung von  an  Hemiplegikern  gewonnenen  Eindrücken  vorkommen  kann, 
zeigt  Beob.  12.  Dass  dieser  imitatorische  Einfluss  nach  Umständen  eine 
grosse  Rolle  spielen  kann,  ergiebt  sich  u.  A.  auch  aus  Beob.  1. 

Die  als  Complication  auftretenden  Contracturen  (1,  5,  9,  11,  12) 
sind  entweder  Reflexerscheinungen,  abhängig  von  Gelenkneurosen  oder 
regionärer  cutaner  und  muskulärer  Hyperästhesie,  oder  es  handelt 
sich  um  hysterische   Contracturen  (so  in  Beob.  5,    wo  eine  solche  die 


62      H.  Vortäuschung  organischer  Erkrankung  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

r.  und  1.  UE.  befällt,  während  die  r.  OE.  die  typische  schlaffe  Lähmung 
markirt). 

Was  die  (hysterischen)  Lähmungen  betrifft,  so  bieten  sie  Inten- 
sitätsgrade von  Amyosthenie  bis  zu  ausgesprochener  Paralyse,  sind 
äusserst  wandelbar  in  ihrer  Intensität  durch  psychischen  Einfluss,  viel- 
fach von  Auto-  und  Fremdsuggestion  beeinflusst  (Beob.  1,  12,  14,  17) 
und,  als  psychisch  ausgelöste,  auch  dadurch  deutlich,  dass  sie,  gleichwie 
spastische  Erscheinungen,  oft  nur  solange  existiren,  als  die  Aufmerksam- 
keit des  Pat.  auf  sie  gerichtet  ist,  andernfalls  (Ablenkung,  Affect)  zurück- 
treten. 

Auffällig  ist  auch,  dass  mitten  im  Lähmungsgebiet  einzelne  Mus- 
keln intact  erscheinen  können  (Beob.  9),  während  andere  umgekehrt, 
mitten  in  einer  nur  psychisch  vorhandenen  Lähmung,  wirklich  gelähmt 
erscheinen  (Beob.  18,  z.  B.:  Peroneuslähmung).  Ganz  ungewöhnliche 
Combinationen  sind  z.  B.  die  in  Beob.  3  bestehende  Lähmung  der  Portio 
minor  Trigemini  und  des  Gaumensegels. 

An  eine  corticale,  wenn  auch  nur  functionelle  Localisation  erinnern 
Fälle  (3,  15),  wo  die  Hemiplegie  sich  aus  Monoplegien  entwickelt.  Dass 
auch  posthemiplegisches  Zittern  (ähnlich  Paralysis  agitans),  Chorea  und 
Ataxie  hier  vorkommen  können,  lehren  Beob.  11,  13,  15. 

Selbst  Jacksonanfälle  im  Lähmungsgebiet  können  hier  zur  Beobach- 
tung gelangen  (Beob.  7,  11). 

Die  Steigerung  der  tiefen  Eeflexe  ist  bei  hysterischer  Hemiplegie 
eine  viel  weniger  markante  als  bei  organischer. 

Viel  wichtiger  ist  das  Verhalten  des  Bauchhautreflexes,  der  bei 
organischer  Hemiplegie  auf  der  Seite  der  Lähmung  regelmässig  fehlt, 
bei  hysterischer  erhalten  ist.  Eine  Ausnahme  bildet  nur  Beob.  7,  wo 
er  (schlaffe  Bauchdecken)  beiderseits  fehlte. 

Von  ganz  hervorragender  diagnostischer  Bedeutung  ist  jedenfalls 
das  Verhalten  der  Sensibilität  im  Lähmungsgebiet. 

Während  bei  organischer  Hemiplegie  die  Sensibilität  nur  shokartig 
und  flüchtig  mitbetroffen  ist,  selbst  bei  Getroffensein  des  hintern  Drittels 
des  hinteren  Schenkels  der  Capsula  interna  bald  sich  aufbessert  und  auf 
eine  nur  leichte  Hypästhesie  für  alle  oder  einzelne  Empfindungsquali- 
täten, mit  Schonung  der  tiefen  Sensibilität  sich  beschränkt,  zeigt  sich  Fehlen 
der  Empfindungsstörung  nur  in  vier  (12,  13,  16,  17)  von  den  obigen 
18  Beobachtungen. 

Sie  ist  ziemlich  hartnäckig,  betrifft  alle  Empfindivngsqualitäten, 
ausser  in  14,  wo  sie  einen  syringomyelischen  Typus  aufweist,  befällt 
auch  die  Sinnesorgane  (1,  3,  7,  8,  10)  und  einige  Male  die  tiefe  Sensi- 
bilität (9,  14). 


Hysterische  Hemiplegien.  63 

In  einem  Falle  (11)  erscheint  die  Sensibilitätsstörung  in  paradoxer 
Weise  als  Hemihyperästhesie. 

Eine  interessante,  den  Verlauf  hysterischer  Hemiplegie  begleitende 
Erscheinung  ist  die  in  Beob.  3  und  4  in  nahezu  identischer  Weise  be- 
obachtete Hemmung  der  Bewegungen  des  gesunden  Auges  von  Seiten  des 
anderen,  von  Amblyopie  und  Anästhesie  befallenen. 

Diese  associative  Hemmung  der  Blickbewegung  ist  eine 
rein  psychische  Erscheinung  und  so  begreift  es  sich,  dass  sie  nur  bei 
voller  Bewusstheit  des  Defects  auf  dem  kranken  Auge,  nicht  aber  bei 
vermeintlicher  Ausschaltung  dieses  Auges  vom  binocularen  Sehact  (durch 
Verdecken  des  betr.  Auges)  und  im  Affect  zu  Tage  tritt. 

Bischoff  bringt  in  seinem  Fall  4  das  Phänomen,  wohl  mit  Recht,  in  Ana- 
logie mit  jenen  Anästhesien,  bei  welchen  Bewegungen  (mit  dem  anästhe- 
tischen Arm)  nur  unter  Controle  der  Augen  ausführbar  sind,  und  weist 
darauf  hin,  dass  in  seinem  Fall  Anfangs  auch  in  allen  bilateral  ge- 
brauchten Gesichtsmuskeln  die  Beweglichkeit  auf  beiden  Seiten  ein- 
geschränkt war. 

Dass  die  hysterische  Hemiplegie  nach  Umständen  sehr  hartnäckig 
ist,  lehren  Beob.  7,  16,  17,  18.  Die  Gefahr  von  Recidiven  oder  Recru- 
descenzen  in  Folge  von  Emotionen  oder  relativen  Ueberanstrengungen 
wird  durch  Beob.  1,  3,  4,  6,  8,  13,  15  dargethan. 

Die  Therapie  kann  nur  eine  psychische  sein,  unter  Verwerthung 
von  Wach-  (12)  oder  Schlafsuggestionen  (15).  Dass  auch  blosse  Hypnose 
ohne  Ausnützung  derselben  zu  Suggestionen  werthvoll  sein  kann,  lehrt 
Beob.  9.  Behandlung  mit  Electricität  oder  Magnet  dürfte  nur  im  Sinne 
von  larvirter  Wachsuggestion  wirksam  sein. 


Ueber  Pseudoparesis  spastica. 

(Vortäuschung  spastischer  Spinalparalyse  durch  Hysterie.) 

Unter  dieser,  sich  an  neuere  Publicationen  von  Nonne  und  von 
Fürstner  anlehnenden  Bezeichnung,  stelle  ich  im  Folgenden  eine  Anzahl 
von  Fällen  meiner  Beobachtung  zusammen,  die  in  ihrer  Mehrzahl  das 
Bild  der  sog.  spastischen  Paralyse  vortäuschen,  -wobei  sich  aber  gleich- 
wohl nachweisen  lässt,  dass  weder  Parese  noch  Spasmus  in  Wirklich- 
keit bestehen,  vielmehr  durch  psychisch  vermittelte  Innervationsanomalien 
Seitens  Hysterischer  vorgetäuscht  werden. 

Diese  eigenartige  Störung  in  der  Function  der  Unterextremitäten 
erinnert  an  Charcot's  und  Grasset's  „Ataxie  choreiforme",  d.  h.  Abasie, 
theils  durch  Störung  der  coordinatorischen  Leistung  des  Gehens,  theils 
durch  Verkrampfung  von  Muskeln  hervorgerufen. 

Auch  ein  Fall  von  „Zitterabasie",  den  Charcot  (Poliklinische  Vor- 
träge, übersetzt  von  Kahane,  Bd.  II,  p.  305)  am  5.  3.  89  vorstellte, 
dürfte  hierher  gehören. 

Marie  (Krankheiten  des  Rückenmarks  1894,  p.  110)  erwähnt  Fälle 
von  „Paraplegie  mit  Contractur,  die  der  Tabes  spastica  nahezu  gleichen", 
jedoch  seien  bei  ihnen  die  Steigerung  der  tiefen  Reflexe  minder  aus- 
geprägt und  überdies  meist  Störungen  der  Sensibilität  und  andere  Stig- 
mata hysteriae  nachweisbar. 

Auch  an  die  Fälle  von  „pseudospastischer  Parese  mit  Tremor",  die 
Nonne  (Neurolog.  Centralblatt  1896,  12),  Fürstner  (ebenda  1896,  15)  und 
Onuf  (ebenda  1897,  8)  im  Rahmen  einer  hysterischen  traumatischen 
Neurose  veröffentlicht  haben,  erinnern  die  folgenden  Beobachtungen,  ja 
sind  ihnen  vielleicht  gleichzustellen,  als  Varianten  ein  und  desselben 
neurotischen  Bildes,  das  eventuell  nur  durch  Verschiedenheit  der 
ätiologischen  Momente,  differente  Züge  bietet. 

Am  nächsten  kommt  dieser  Bewegungsstörung  die  „psychische  Con- 
tractur" Richet's  (die  hysterischen  Lähmungen  und  Contracturen, 
Paris  1892).  R.  fasst  sie  als  einen  in  der  Hirnrinde  ausgelösten  Vor- 
gang auf  und  führt  als  Beleg  dafür,  dass  auch  die  motorischen  Hirn- 


Pseudoparesis  spastica.  65 

rindencentren  bei  Hysterie  Erregungsvorgänge  im  Sinne  einer  „Con- 
tractu^1 vermitteln  können,  die  Thatsache  an,  dass  solche  „Contracturen" 
im  künstlich  (hypnotisch)  provocirten  Somnambulismus  erfolgreich 
suggerirt  werden  können. 

Richer  denkt  sich  diese  psychische  Contractur  als  auf  dem  Wege 
der  Autosuggestion  entstanden,  ohne  auf  die  Art  und  Weise  ihres 
Zustandekommens  näher  einzugehen. 

Im  Gegensatz  zur  vulgären  (spinal,  meist  reflectorisch  entstandenen) 
Contractur  hebt  er  hervor,  dass  die  psychische  durch  psychische  Reize 
und  Eingriffe  aller  Art,  besonders  aber  durch  die  Aufmerksamkeit  des 
Kranken  auf  sein  Leiden  erheblich  gesteigert,  durch  Ablenkung  jener 
temporär  beseitigt  wird  und  im   ruhigen  Schlafe  vollständig  schwindet. 

Diese  psych.  Contractur  zeigt  nach  Richer  grössten  Wechsel  der  Inten- 
sität, allen  empirischen  Gesetzen  spottende  Lokalisationen,  ist  selten  vonSen- 
sibilitätsstörungen  begleitet  und  reagirt  demgemäss  nicht  auf  physikalische 
Behandlung  (Magnetotherapie),  die  wesentlich  eine  psychische  sein  muss. 

Beobachtung  1. 

Dr.  med.  A.,  29  J.,  consultirte  mich  im  Sommer  1887  wegen  eines 
complicirten  Nervenleidens,  unter  dessen  Symptomen  ganz  besonders  Er- 
scheinungen im  Sinne  einer  spastischen  Parese  der  UE.  den  Patienten 
belästigten  und  beunruhigten.  In  der  Familie  findet  sich  neuropathische 
Constitution  vor.  Der  Vater  soll  von  reizbarem  Temperament  sein. 
Drei  Brüder  des  Patienten  sind  nervös  erregbare  Leute.  Eine  Schwester 
litt  vom  18.  Jahr  ab  an  Neurasthenie  mit  Agoraphobie  und  temporärer 
Dysthymie.     Eine  Tante  erkrankte  an  Hysterie  im  Klimacterium. 

Patient  machte  als  Kind  Rachitis,  später  Morbillen  und  Typhus 
abdominalis  durch.  Früh  und  mächtig  regte  sich  die  Vita  sexualis. 
Von  der  Pubertät  ab  viel  Pollutionen.  Abstinenz  trotz  grosser  Libido 
führte  zu  Neurasthenia  sexualis  mit  Spermatorrhoe.  Im  weiteren  Ver- 
lauf Entwicklung  von  Neurasthenia  spinalis.  Mit  25  Jahren  Spitzen- 
katarrh, der  bald  ausheilte.  Nun  aber  allgemeine  Neurasthenie,  Anämie, 
überaus  rasche  Ermüdung  nach  relativen  Muskelanstrengungen,  be- 
sonders in  den  UE.  Aufenthalt  im  Süden  bewirkt  keine  Besserung. 
Die  Ermattung  der  Beine  nimmt  zu,  Patient  ist  zeitweise  kaum  mehr 
gehfähig.  Besonders  leicht  versagt  die  1.  TJE.,  was  Patient  nicht  ohne 
Grund  mit  relativer  Ueberanstrengung  des  1.  Beins,  anlässlich  fünf 
Monate  betriebener  Fechtübungen,  in  Zusammenhang  bringt. 

Patient  fing  an,  Anfangs  1886  über  seine  Gehschwäche  besorgt  zu 
werden.  Er  konnte  sich  die  Situation  nur  unter  Annahme  einer  Myelo- 
pathie erklären,  consultirte  ärztliche  Koryphäen,  zumal  da  sich  Er- 
scheinungen von  krampfhafter  Starre  der  Beine,  besonders  Morgens  beim 

Krafft-El.ing,  Arbeiten  II.  5 


66    IL  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Aufstehen,  und  eine  enorme  Steigerung  der  tiefen  Reflexe  bis  zu  Fuss- 
clonus,  der  reizbaren  Schwäche  hinzugesellt  hatten. 

Seine  Autodiagnose  wurde  von  den  Koryphäen  bestätigt.  Vergebens 
wurden  Hydro-  und  Elektrotherapie,  Sondenkur  und  Aetzung  des  Caput 
gallinaginis  contra  Pollutionen  und  Spermatorrhoe  angewendet.  Auch 
Seeale  und  Nervina  hatten  versagt. 

Stat.  praes.  20.  7.  87:  Patient  unterraittelgross ,  nicht  anämisch. 
Vegetative  Organe  ohne  Befund.  Bild  piner  Hysteroneurasthenia  levis 
(Dyspepsie,  durch  Gemüthsbewegungen  sehr  beeinflussbare  Herzaction, 
grosser  Stimmungswechsel,  Emotivität,  zeitweise  grundlose  Gemüths- 
depression,  rasche  geistige  Ermüdung,  Unlust  zur  Arbeit,  Nosophobie  im 
Sinne  spastischer  Spinalparalyse,  Hyposmie,  concentr. Sehfeldeinschränkung, 
schweres  Einschlafen,  wirre  Träume,  unerquicklicher  Schlaf  u.  s.w.)  Dazu 
Defäcations-  und  Mictionsspermatorrhoe.  Coram  aliis  mictio  difficilis. 
Sonst  Blase  und  Darm  in  ihren  Functionen  intact.  Nirgends  am  Körper 
finden  sich  Störungen  der  Sensibilität. 

In  den  OE.  erhebliche  Amyosthenie,  besonders  in  der  1.  und  rasche 
Erschöpfung.  R.  Dynamometer  45,  1.  30,  bei  Wiederholung  des  Druck- 
versuches überaus  rasch  absinkend  auf  minimale  Werthe.  Die  tiefen 
Reflexe  unbedeutend  gesteigert.  Keine  Dystrophien.  Hier  und  da, 
besonders  im  1.  Thenar  fibrilläre  Contractionen. 

In  den  UE.  besteht  beim  Erwachen  ein  Gefühl  von  Steifigkeit 
Objectiv  zeigt  sich,  namentlich  in  der  1.  UE.  jeweils  bei  Intention,  aber 
auch  bei  passiver  Bewegung,  Massage,  unter  demEinfluss  vonKälte,  endlich 
auch  beim  Gähnen  eine  Versteifung  der  Beine.  Zuweilen  nehmen  an 
dieser  Streckung  und  Versteifung  auch  die  OE.  Theil. 

Bei  vorsichtiger  Innervation  lässt  sich  die  Neigung  zu  diesen  Ver- 
steifungen einigermassen  überwinden,  am  wenigsten  aber  in  der  r.  UE. 

Springt  Patient  nach  dem  Erwachen  aus  dem  Bett,  so  vermag  er 
die  Steifigkeit  seiner  Beine  erst  nach  einigen  Secunden  zu  überwinden 
und  zu  gehen.  "Wacht  er  schon  nach  3  Stunden  auf,  so  besteht  diese 
Starre  nicht. 

Der  Gang  ist  spastisch,  aber  nicht  scharrend.  Die  Ausdauer  des 
Gehens  ist  eine  beschränkte  und  sehr  wechselnde.  Sie  schwankt 
zwischen  2  und  301.  Sie  hängt  vom  Allgemein-  und  psychischen  Be- 
finden ab  und  ist  nach  schlafloser  Nacht,  Spermatorrhoe  und  nach 
psychischer  Erregung  eine  viel  geringere  als  sonst. 

Schon  nach  den  ersten  Minuten,  oft  schon  nach  wenigen  Schritten 
kommt  ein  Gefühl  von  Müdigkeit  und  man  bemerkt  ein  kürzeres  Ver- 
weilen auf  dem  linken  Fusse.   Dann  nimmt  die  Müdigkeit  rapid  zu,  der 


Pseudoparesis  spastica.  67 

Gang  wird  immer  unsicherer,  bis  der  Kranke  zuletzt  den  1.  Fuss  nach- 
schleift und  über  die  geringste  Unebenheit  seines  Weges  stolpert. 

Die  Marschfähigkeit  ist  am  grössten  Morgens  nach  dem  Aufstehen 
und  Abends  nach  der  Mahlzeit.  Nach  dem  Mittagessen  ist  sie  am  ge- 
ringsten. Stiegensteigen  und  Bergaufgehen  gelingt  besser  als  die  um- 
gekehrte Leistung.  Stehen  und  Umwenden  auf  dem  1.  Fusse  ist  un- 
möglich. Die  Hebung  der  ausgestreckten  1.  UE.  ist  nicht  in  dem  Umfang 
möglich,  wie  mit  der  r.,  auch  nicht  in  liegender  Position.  Auch  die  Leistung 
im  1.  Peroneusgebiet  ist  viel  geringer  als  im  r.  Romberg  ist  negativ,, 
der  Muskelsinn,  überhaupt  die  tiefe  Sensibilität  intakt.  Der  Muskeltonus 
ist  nicht  gesteigert.  Die  elektrische  Erregbarkeit  ist  normal.  Die  tiefen 
Reflexe  sind  erheblich  gesteigert.  Fussclonus  ist  r.  und  1.  jederzeit 
hervorzurufen.  Schon  nach  kurzem  Gehen  erhöhen  sich  diese  Reflexe 
bedeutend,  um  in  der  Ruhe  abzusinken,  jedoch  bleiben  sie  constant  be- 
deutend über  die  Norm  gssteigert. 

Die  1.  UE.  ist  allenthalben  um  2  cm  schmächtiger  im  Yolumen 
als  die  r. 

Unter  Hydro-  und  Elektrotherapie  bessert  sich  das  Befinden.  Die 
Beobachtung  bis  Anfang  October  stellt  die  hystero-neurasthenische  Grund- 
lage des  Krankheitszustandes  fest.  Der  Gang  des  Patienten  ist,  wenn 
er  sich  beobachtet  weiss,  viel  schlechter  als  sonst.  Auch  bei  sciroccalem 
Wetter,  ganz  besonders  aber  bei  schlechter  Stimmung  und  nach 
Pollutionen  geht  er  viel  schwerer.  Die  Versteifung  der  UE.  tritt  nur 
dann  auf,  wenn  Ermüdungsgefühl  sich  einstellt.  Man  gewinnt  den  Ein- 
druck, dass  Patient  auf  Grund  eines  Ermüdungsgefühls  unbewusst  dann 
seine  Extensoren  übermässig  innervirt.  Jedenfalls  ist  der  psychische 
Eiufluss,  der  aber  dem  Patienten  nicht  zum  Bewusstsein  kommt,  dabei 
ausschlaggebend.  So  erklärt  sich  auch  der  überaus  grosse  Wechsel  der 
„Rigor"-Erscheinungen.  Auch  die  Steigerung  der  tiefen  Reflexe  steht  im 
correlaten  Verhältniss  zur  reizbaren  Schwäche  der  UE.  und  sinkt,  wenn 
Patient  ausgeruht  ist,  bedeutend  ab. 

Die  Autosuggestion  desselben,  von  einem  organischen  Rückenmarks- 
leiden heimgesucht  zu  sein,  liess  sich  nicht  ganz  eliminiren.  Auf  eine 
Anfrage  nach  seinem  Befinden  erwiderte  der  in  einer  grossen  Stadt  des 
Südens  in  erspriesslicher  specialärztlicher  Thätigkeit  stehende  College 
am  15.  2.  1897  Folgendes: 

„Die  Fortsetzung  meiner  Krankheitsgeschichte  lässt  sich  in  wenigen 
Worten  zusammenfassen:  Das  Wesen  der  Krankheit  ist  dasselbe  ge- 
blieben —  Steigerung  der  Sehnenreflexe  (Kniephänomen  und  Fussclonus 
beiderseits)    und    spastisch   paretischer  Zustand   der  UE.     Letzterer  ist 


68   II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

aber  in  den  letzten  10  Jahren  entschieden  schlechter  geworden,  sodass 
das  Gehvermögen  bedeutend  erschwert  ist.    Mein  anstrengender  Special- 
beruf lässt  mich  mein  Leiden  leichter  ertragen." 
Beobachtung  2. 

B.,  51  J.,  Hilfsarbeiter,  gelangte  am  26.  11.  1896  auf  der  Klinik 
zur  Aufnahme. 

Patient  ist  Findelkind,  Gesundheitsverhältnisse  der  Ascendenz  nicht 
zu  ermitteln.  B.  war  nie  luetisch,  ausser  an  Typhus  vor  vielen  Jahren 
nie  krank. 

1890  im  Herbst,  auf  einer  Landparthie,  auf  welcher  Patient  sich 
angestrengt  und  1,5  Liter  neuen  Wein  getrunken  hatte,  fühlte  er  beim 
Aufstehen  vom  Wirthstisch,  um  den  Heimweg  anzutreten,  grosse  Müdig- 
keit und  Steifheit  in  den  Beinen,  hatte  Mühe,  vorwärts  zu  kommen  und 
empfand  diese  Beschwerden  bis  zur  Bettruhe. 

Am  anderen  Morgen  fühlte  er  sich  ganz  wohl  und  konnte  wieder 
anstandslos  seinem  anstrengenden  Beruf  in  der  Fabrik  nachgehen.  Diese 
Steifigkeit  und  Müdigkeit  kehrte  aber  bis  1893  jeweils  nach  Genuss  von 
5 — 6  Halblitern  Wein  wieder. 

Seit  1893  wurden  diese  Beschwerden  aber  dauernd  und  nur  mehr 
durch  Abusus  vini  temporär  gesteigert. 

Auch  wenn  er  eine  starke  (Virginia)  Cigarre  rauchte,  war  sein 
Gehen  verschlechtert.  Noch  eigenthümlicher  war,  dass,  wenn  Patient 
sich  in  der  Fabrik  von  Jemand,  besonders  von  einem  Vorgesetzten  be- 
obachtet wusste,  er  keinen  Schritt  machen  konnte.  Er  fühlte  dann  seine 
Beine  wie  „verhext"  und  wurde  erst  wieder  Herr  derselben,  wenn  der 
Beobachter  den  Saal  verliess.  Patient  motivirte  diese  auffällige  psycho- 
motorische Reaction  damit,  dass  er  in  der  Angst  lebte,  seine  Stellung  zu 
verlieren,  wenn  man  merken  würde,  dass  er  ein  Fussleiden  habe. 

Indem  er  sich  unbeobachtet  wusste,  konnte  er  selbst  bis  auf  die 
letzte  Zeit  leicht,  ohne  Stock,  mit  einer  Last  von  50  Kilo  gehen. 

Im  Frühjahr  1893  will  Patient  durch  4  Wochen  Formications- 
gefühle  in  den  UE.  empfunden  haben,  ferner  eine  Zeit  lang  an  der 
Aussenfläche  des  1.  Oberschenkels  tactil  anästhetisch  gewesen  sein. 

In  den  letzten  2  Jahren  hatte  sich  der  Zustand  bedeutend  ver- 
schlechtert, was  Patient  dem  Abusus  vini,  namentlich  aber  dem  Aus- 
spruch eines  Arztes,  sein  Leiden  könne  zu  vollständiger  Lähmung  führen, 
zuschrieb. 

Am  21.  3.  1896  stellte  sich  mir  Patient  im  Ambulator.  clinicum 
zum  ersten  Male  vor.  Er  bot  exquisit  spastisch  paretischen  Gang,  der 
psychisch  auffallend  beeinflussbar  war,  erhaltene  grobe  Muskelkraft,  m- 
tacte  Sensibilität,  gesteigerten  Patellarreflex  und  Fussclonus. 


Pseudoparesis  spastica.  69 

Im  September  1896  unterzog  sich  Patient  einer  sogenannten 
Kneippkur  und  empfand  davon  temporär  grosse  Besserung.  Als  er 
einmal  Eisumschläge  machte,  waren  im  Anschluss  daran  die  UE.  durch 
3  Stunden  unbeweglich  geworden. 

Wegen  bedeutender  Verschlimmerung  liess  sich  Patient  im  No- 
vember 1896  auf  der  Klinik  aufnehmen. 

Stat.  30.  11.  1896.  Kräftiger  Mann,  vegetativ  ohne  Befund.  Hirn- 
nerven und  OE.  frei  von  jeglicher  Störung. 

In  den  UE.  alle  Bewegungen  möglich.  Keine  Abnahme  der  groben 
Muskelkraft,  ausser  in  den  Kniebeugeru.  wo  auch  bei  passiven  Be- 
wegungen ein  leichter  Grad  von  Kigor  zu  finden  ist.  Die  tiefen  Reflexe 
sind  stark  gesteigert.  Vasomotorische,  trophische,  sensible  Störungen 
sind  im  Bereiche  der  UE.  nicht  aufzufinden.  Blase  und  Mastdarm  in 
normaler  Function.  Stigmata  hysteriae  sind  nicht  auffindbar.  Der 
Gang  des  Patienten  ist  eigenartig,  spastisch.  Die  Beine  werden  steif  ge- 
gehalten, in  den  Gelenken  nicht  abgebogen,  im  Hüftgelenk  circumducirt. 
Dabei  tritt  Patient  mit  dem  inneren  Fussrand  auf  und  hält  den  Fuss 
dorsalflectirt,  sodass,  wenn  er  am  Boden  streift,  dies  nicht  mit  dem 
Vorderfuss,  sondern  mit  der  Ferse  geschieht.  Er  geht  ohne  Stütze 
sicher,  mit  grossen  Schritten,  ohne  zu  schwanken.  Das  Bewusstseiu 
beobachtet  zu  sein,  psychische  Erregung,  verschlechtern  im  Sinne  der 
Versteifung  das  Gehen  enorm.  Bei  abgelenkter  Aufmerksamkeit  geht 
Patient  ziemlich  gut.  Auffallend  ist  auch,  dass  er  nur  beim  Vorwärts- 
gehen, nicht  aber  beim  Rückwärtsschreiten,  überhaupt  nicht  bei  un- 
gewöhnlichen Bewegungen  die  geschilderte  Versteifung  zeigt.  Gym- 
nastik, Gehübungen  unter  Leitung  des  Arztes  bessern  bedeutend. 
Schliesslich  steht  Patient  anstandslos  auf  einem  Bein.  In  Emotion  die 
frühere  Situation.     Gebessert  entlassen  am  21.  1.  97. 

Beobachtung  3. 

Am  8.  10.  1890  stellte  sich  mir  Herr  Z.,  Beamter,  39  J.,  vor  und 
bat  um  Hülfe  gegen  ein  schweres,  seine  Gehfunction  empfindlich 
störendes  Leiden. 

Patient  stammt  von  gesunden  Eltern.  Zwei  Brüder  starben  in 
frühem  Alter  gehirnkrank  (Meningitis  tuberc. ?),  zwei  Schwestern  sind 
lungenleidend. 

Er  selbst  war  stets  gesund,  kräftig,  kein  potator,  nie  luetisch 
gewesen. 

Um  Weihnacht  1889  intensive  Erkältung  auf  einer  Bahnfahrt.  Seit- 
her Kältegefühl  in  oberer  Lenden-  und  Kreuzgegend.  Anfang  Februar  1890 
Sturz  auf  dem  Glatteis  ohne  Beschädigung.  Pat.  erschrak  dabei  heftig. 
Im  Anschluss    daran  am   folgenden  Morgen  Steifigkeit   in  Rumpf  und 


70    II.  Vortänschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

UE.,  etwas  Schmerz  interscapular.  Erschwerte  Bewegungen  des  Rumpfes 
und  schwieriges  Gehen  mit  Gefühl  eines  Drucks  am  Steiss,  Vertaubung 
der  Zehen,  überaus  rasche  Ermüdung,  Brennen  unter  der  Haut  der 
Schenkel.    Obstipation,  leichte  Dysurie. 

Im  Laufe  des  Frühjahrs  1890  zunehmende  Parästhesien  und 
Paralgien  in  der  Kreuz-  und  1.  Lumbaigegend,  Brennen  an  der  Innen- 
fläche der  Oberschenkel  und  am  Abdomen.  Kälte-  und  Vertaubungs- 
gefühle  an  UE.  und  Stamm  bis  zur  Höhe  des  Epigastriums.  Zunehmende 
Versteifung  der  Beine  und  Bewegungsstörung.  Ein  Anfangs  Juli  con- 
sultirter  Specialist  diagnosticirte  Myelitis  und  verordnete  Jodnatrium  und 
Badener  Bäder.  Während  dieser  Kur  zunehmende  Verschlechterung. 
Nach  Abbrechen  dieser  Behandlung  unter  leichter  Wasserkur  geringe 
Besserung. 

Der  Status  Mitte  October  1890  ergab  folgenden  Befund:  grosser, 
äusserst  muskulöser,  gut  genährter  Mann.  Wirbelsäule  ohne  Ver- 
änderung. Grosse  Emotivität.  Gehirnnerven  und  OE.  ohne  Functions- 
störung.  Hypästhesie  für  alle  Qualitäten  bis  zur  Höhe  des  Epigastriums 
herauf.  Klagen  über  schwammiges  Gefühl  in  den  Plantae  pedis.  Keine 
Schmerzen,  keine  Wurzelsymptome,  kein  Gürtelgefühl. 

Spastisch  paretischer,  nicht  atactischer  Gang,  nur  mit  Stock  mög- 
lich, überaus  rasche  Ermüdung.  Bis  auf  geringe  Amyosthenie  in  r.  UE. 
kein  Ausfall  grober  motorischer  Kraft.  Rigidität  sämmtlicher  Muskeln 
der  UE.,  rechts  stärker  als  1.,  in  der  Ruhe  am  stärksten,  nach  längerer 
passiver  oder  activer  Bewegung  abnehmend. 

Bei  jeder  Gemüthsbewegung  heftiger  Zitterkrampf  in  den  Ober- 
schenkeln und  Bauchmuskeln.  Ohne  Unterstützung  vermag  sich  Patient 
aus  horizontaler  Lage  nicht  aufzurichten.  Bei  motorischen  Leistungen, 
die  Patienten  sichtlich  sehr  anstrengen,  geräth  er  gleich  in  Transpiration 
und  wird  dyspnoisch. 

Enorme  Steigerung  sämmtlicher  tiefen  Reflexe  in  den  UE.,  Patellar- 
und  Fussclonus. 

Bauch-,  epigastrische,  Ciemasteren-  und  Plantarreflexe  nicht  hervor- 
zurufen. Der  1.  Cremaster  zeigt  fast  continuirliche  zuckende  Contractionen. 

Die  tiefe  Sensibilität  (Lagevorstellung,  Gefühl  für  passive  Be- 
wegung) ungeschädigt,  Romberg'scher  Versuch  negativ. 

Geringer  Grad  von  Dysurie.  Urin  ohne  fremde  Bestandtheile, 
vegetative  Organe  ohne  Befund.  Seltene  Erectionen.  Elektrische  Unter- 
suchung weist  keine  Reactionsanomalien  auf. 

Diagnostisch  wird  die  Möglichkeit  einer  Myelitis  dorsalis  an- 
genommen. Unter  Behandlung  mit  lauen  Soolbädern,  Galvanisation  der 
Wirbelsäule  und  Seeale  mit  Belladonna  intern  Verschlechterung  —  ver- 


Pseudoparesis  spastica.  71 

mehrte  Parästhesien,  Muskelrigidität  fast  permanent  und  auch  auf  Lenden- 
und  Bauchmuskulatur  ausgedehnt,  enorme  Steigerung  der  tiefen  Reflexe, 
aufgehobene  Geh-  und  Stehfähigkeit. 

Bei  Aussetzen  dieser  Behandlung  und  Ersatz  derselben  durch 
Halbbäder  Erschlaffen  der  Muskeln,  ausgenommen  der  des  Becken- 
gürtels und  der  Adductoren.  Vom  29.  10.  ab  der  frühere  Zustand, 
aber  milder.  Erheblicher  Nachlass  der  Muskelversteifung  jeweils  Abends. 
Durch  äussere  Verhältnisse  ganz  unbeeinflusste  Remissionen  und 
Exacerbationen.  Auch  Brombehandlung  bis  zu  8.0  pro  die,  Extr.  Conii 
maculati  bis  zu  0.5  täglich,  bringen  keine  Veränderung  der  Muskel- 
rigidität zu  Stande.  Erscheinungen  von  Diathese  de  contracture  werden 
nie  beobachtet. 

Im  Laufe  des  December  1896  deutliche  Hypästhesie  von  den 
Füssen  bis  zur  Höhe  des  Proc.  xyphoideus,  hinten  bis  zum  6.  Brustwirbel 
hinauf. 

Bei  einem  Versuch  der  Hypnose  geräth  Patient  in  tiefes  Engour- 
dissement.  In  diesem  Suggestion,  dass  die  Muskelrigidität  schwinden  werde. 

Nach  dieser  Sitzung  volles  Befreitsein  von  derselben  durch  viele 
Stunden.  In  weiteren  Sitzungen  ebenfalls  Erfolg,  aber  nicht  mehr  von 
so  langer  Dauer,  sodass  schliesslich  auch  dieses  Mittel  versagt. 

Anfang  Februar  1891  wohl  spontane  Abnahme  der  Rigidität.  Sie 
beschränkt  sich  auf  die  Flexores  cruris  et  femoris. 

Ende  Februar  ebenso  grundlose  Exacerbation  —  beide  Beine,  ganze 
Beckenmuskulatur  und  untere  Bauchgegend  wieder  rigid,  letztere  bretthart 
und  qua  Bauchpresse  bei  der  Urinentleerung  (erschwertes  Harnen)  sehr 
mangelhaft.  Patient  geh-  und  stehunfähig.  Des  Morgens  ist  die  Muskel- 
versteifung immer  am  heftigsten.  Jede  Willensintention,  jeder  passive 
Bewegungsversuch  steigert  sie  episodisch,  während  Hautreize  und  Druck 
auf  die  Nervenstämme  sie  nicht  beeinflussen.  Bis  zur  Abreise  des 
Patienten  nach  Hause  im  Juni  1891  nach  erfolgloser  Kur  beständiger 
Wechsel  zwischen  Remissionen  und  Exacerbationen,  die  ganz  unver- 
mittelt auftreten;  die  letzteren  waren  jeweils  von  bedeutender  Steigerung 
der  tiefen  Reflexe  begleitet.  In  den  Remissionen  beschränkte  sich  die 
Muskelcontraction  auf  bestimmte  Muskelgruppen.  Nie  waren  die  meist 
brettharten  Muskeln  schmerzhaft.  Auffallend  war  auch  der  grosse 
Wechsel  in  der  Intensität  und  Extensität  der  Sensibilitätsstörungen  in 
den  TJE.  So  war  z.  B.  der  Befund  im  Mai  der,  dass  die  cutane  und 
tiefe  Sensibilität  bis  zum  Knie  herauf  kaum  merklich  gestört  war,  sich 
daran  bis  zum  Becken  eine  Zone  schwer  gestörter  Empfindung  anschloss, 
während    von    da  bis  zur  Höhe    des  Proc.  xyphoideus   die  Sensibilität 


72    II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

kaum    mehr   gestört   war.     Diese    Gebiete    der  Hyp-    und   Anästhesie 
schwankten  auf  und  ab. 

Stigmata  hysteriae  waren  nie  zu  constatiren  gewesen.  Bernerkens- 
werth  war  die  grosse  Emotivität  des  allerdings  hilflosen  und  einer 
zweifelhaften  Zukunft  entgegensehenden  Patienten.  Ich  verlor  Herrn  Z. 
aus  den  Augen,  erfuhr  eines  Tages,  dass  er  genesen  sei  und  erbat  und 
erhielt  von  ihm  folgende  Auskünfte  über  den  weiteren  Verlauf  seiner 
Krankheit. 

„Als  ich  im  Juni  1891  nach  Hause  fuhr,  wurde  noch  Professor 
Kahler  consultirt,  welcher  mir  Hoffnung  auf  Genesung  machte,  allerdings 
dürfte  es  noch  2 — 3  Jahre  bis  dahin  dauern.  Er  empfahl  mir  leichte 
Wasserkur  und  Elektrisiren.  Ende  August  1891  fuhr  ich  nach  der 
Wasserheilanstalt  Gr.,  wo  ich  bis  October  1892  blieb.  Ich  nahm  täglich 
(im  Sommer  2  mal)  ein  Halbbad  von  23 — 21  °  E.,  5  Min.  lang,  bekam 
leichte  Abreibungen,  wurde  elektrisirt  vom  Lendenmark  zur  Leisten- 
gegend und  überdies  durch  2  Monate  mein  Rücken  gedehnt  (in  liegender 
Position  die  Füsse  gegen  den  Kopf  gebracht).  Medicamente  wurden 
keine  gebraucht. 

Im  Frühjahr  1892  trat  eine  Reaction  ein  —  es  kamen  heftige 
Schmerzen  in  der  Hüfte  und  den  Beinen,  langsam  stellte  sich  die 
Beweglichkeit  und  Empfindung  wieder  her,  kleine  Unterbrechungen,  in- 
dem die  Muskelspannungen  wieder  stärker  waren,  abgerechnet. 

Als  ich  im  October  1892  nach  Hause  kam,  konnte  ich  wohl  die 
Beine  etwas  heben,  aber  nicht  strecken.  Zu  Hause  besserte  es  sich 
zusehends.  Bald  konnte  ich  allein  stehen  und  gegen  Neujahr  1893 
etwas  gehen.  Im  März  ging  ich  frei,  ohne  Stock,  ermüdete  aber  bald. 
Es  stellte  sich  der  frühere  Zustand  beinahe  vollständig  wieder  her,  nur 
manchmal,  besonders  bei  feuchtem  Wetter  und  beim  Herabgehen  von 
Stiegen,  verspürte  ich  eine  leichte  Schwäche.  Noch  1893  wurde  ich 
wieder  vollständig  berufstüchtig." 

Beobachtung  4. 

G.,  39  J.,  ledig,  Knecht,  kam  am  8.  12.  1896  wegen  einer  Geh- 
störung zur  Aufnahme  auf  der  Klinik. 

Patient  hat  Cran.  rachiticum,  ist  geistig  beschränkt,  behauptet,  seine 
Mutter  und  eine  Cousine  des  Vaters  hätten  an  einer  ähnlichen  Geh- 
störung, wie  die  seinige,  gelitten. 

Vor  7  J.,  als  Patient  beim  Graben  eines  Kellers  Tage  lang  im 
Wasser  stand,  stellten  sich  rheumatische  Schmerzen  in  Knieen  und 
Unterschenkeln  ein,  die  in  der  Folge,  namentlich  bei  Witterungs- 
wechsel recrudescirten  und  ihn  sehr  plagten.  Bald  nach  dem  Auftreten 
dieser  Schmerzen,  wobei  er  lebhaft  seiner  dysbasischen  Verwandten  ge- 


Pseudoparesis  spastica.  73 

denken  rnusste,  stellte  sich  die  unten  zu  beschreibende  Gehstörung  ein, 
die  ihn  seither  nie  mehr  ganz  verliess.  Besonders  empfand  er  sie,  wenn 
er  nach  nächtlicher  Ruhe  seine  Beine  gebrauchen  wollte.  Er  bemerkte 
dann  darin  Schmerz  und  Steifigkeit. 

Stat.  prasens:  Cranium  565  mm  mit  Hinterhauptstufe,  stark  vor- 
springende Tubera  parietalia.  Gebiss  defect.  Von  Seiten  der  Hirnnerven 
keine  Functionsstörung,  ausser  beiderseits  fehlenden  Gaumen-  und 
Rachenreflexen. 

Wirbelsäule  normal.  OE.  ohne  Befund,  bis  auf  sehr  prompte  tiefe  Reflexe. 

Die  UE.  sind  in  der  Rückenlage  im  Hüft-  und  Kniegelenk  leicht 
gebeugt,  die  Flexores  cruris  (1.  stärker  als  r.)  etwas  contrahirt.  Die 
grobe  Muskelkraft  und  die  Sensibilität  normal.  Beiderseits  Patellar-  und 
Fussclonus.  Der  Gang  ist  spastisch  paretisch.  Die  Beine  werden  im 
Hüftgelenk  circumducirt,  die  Kniee  kaum  gebeugt,  an  einander  gewetzt, 
die  Füsse  in  ihrem  vorderen  Abschnitt  am  Boden  scharrend  geschleift; 
der  Gang  erinnert  vollkommen  an  den  bei  sog.  spastischer  Paralyse, 
nur  macht  Patient  auffallend  grosse  Schritte  und  ist  jener  psychisch  sehr 
beeinflussbar,  indem  bei  abgelenkter  Aufmerksamkeit  die  Gelenke,  nament- 
lich die  Hüftgelenke  auffallend  freier  werden.  In  den  Gelenken  findet 
sich  keine  anatomische  Veränderung.  In  den  Sehnen  der  Kniebeuger 
ist  bei  passiver  Bewegung  Knarren  zu  verspüren. 

Bei  solcher  findet  sich  nirgends  Versteifung.  Patient  wird  mit 
Gymnastik,  Faradisation  und  Wachsuggestion  behandelt.  Allmälig  ge- 
winnt man  solchen  Einfluss  auf  ihn,  dass  er  ohne  Steifigkeit,  mit  freier 
Beweglichkeit  in  den  Gelenken,  mit  grossen  sicheren  Schritten  einher- 
schreiteu  kann.  Sich  selbst  überlassen,  fällt  aber  Pat.  wieder  in  seine 
fehlerhafte  Gehweise  zurück.  Pat.  drängt  heim  und  wird  am  10.  1.  1897 
gebessert  entlassen. 

Beobachtung  5. 

D.,  55  J.,  Schneidergehülfe,  auf  der  Klinik  aufgenommen  am 
20.  1.  1897,  stammt  von  einem  Vater,  der  potator  war.  Sonst  findet 
sich  nichts  Belastendes  in  seiner  Ascendenz  und  Blutsverwandtschaft. 
Seine  3  Kinder  haben  sämmtlich  an  Convulsionen  gelitten,  seine  Frau 
hat  überdies  3  mal  abortirt.  Lues  ist  weder  anamnestisch,  noch  in  der 
Beobachtung  an  ihm  nachweisbar,  potator  war  er  nicht.  Als  Kind  gesund, 
kräftig  gewesen,  mit  19  J.  „Kopftyphusu,  im  Anschluss  daran  möglicher- 
weise Tetanie.  Mit  35  J.  fragliche  Hirnhautentzündung,  mit  49  J.  heftige 
Contusion  des  Gesässes,  im  Januar  1895  fieberhafte  Erkrankung  (Influenza?) 
darauf  wieder  Wohlbefinden. 

Im  Mai  1895  zunehmende  rasche  Ermüdung  beim  Gehen,  im  No- 
vember 1895  brennende  Schmerzen  im  1.  Gesäss  und  1.  Knie,  im  Früh- 


74    II-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

jahr  1896  Formication  und  Kältegefühl  im  1.  Ulnarisgebiet  bis  zum  Ell- 
bogen herauf. 

Dazu  Parästhesie  in  den  UE.,  Steifheit  derselben,  besonders  links, 
Schmerzen  in  Vorderarmen  und  Unterextremitäten,  als  lancinirende  ge- 
schildert.    Schwinden  von  Libido  und  Potentia  sexualis.  Obstipation. 

Stat.  praes.  25.  1.  1897.  Pat.  mittelgross,  gut  genährt,  Schädel 
regelmässig,  Umfang  56  cm.  Vegetativ  ohne  Befund,  bis  auf  geringes 
Lungenemphysem.  Pat.  von  gewöhnlicher  Intelligenz,  sehr  präoccupirt 
durch  sein  Leiden,  Siechthum  befürchtend.    Gehirnnerven  ohne  Befund. 

OE.  grobe  Muskelkraft  etwas  reducirt,  keine  trophischen  oder 
vasomotorischen  Störungen,  alle  Bewegungen  ohne  Ataxie,  Zittern  u.  s.  w. 
möglich.  Tiefe  Reflexe  und  directe  Muskelerregbarkeit  gesteigert,  r. 
mehr  als  1. 

Am  1.  Kleinfinger  besteht  tactile,  algetische  und  thermische 
BTypästhesie ,  an  der  r.  OE.  derselbe  Befund  im  ganzen'  Ulnarisgebiet 
bis  zum  Ellbogen  herauf.  Das  Lagebewusstsein  der  r.  OE.  ist  erheblich 
gestört.     Sonst  keine  Störung  der  Sensibilität. 

Am  Stamm  besteht  Schwerbeweglichkeit  und  Steifheit,  die  Pat.  mit 
Schmerzhaftigkeit  und  Müdigkeit  im  Kreuz  motivirt. 

UE.  Die  active  Beweglichkeit  in  allen  Gelenken  ist  durch  Rigor 
eingeschränkt,  1.  mehr  als  r.,  ganz  besonders  rigid  sind  Adductores  und 
Flexores  cruris.  Klagen  über  Versteifung  der  Beine  r.  mehr  als  1.  Ob- 
jectiv  besteht  temporär  Krampf  im  Extensor  hallucis. 

Bei  passiver  Bewegung  zeigt  sich  in  allen  Gelenken  Widerstand 
gegen  solche,  der  aber  auffallender  "Weise  bei  geschlossenen  Augen  oder 
auch  bei  abgelenkter  Aufmerksamkeit  des  Pat.  gänzlich  schwindet.  Die 
grobe  Muskelkraft  ist  unversehrt,  desgleichen  die  Sensibilität  in  allen 
ihren  Qualitäten.  Die  tiefen  Reflexe  sind  sehr  gesteigert,  beiderseits  ist 
Fussclonus  erzielbar. 

Pat.  bietet  den  Gang  eines  an  spastischer  Spinalparalyse  Leidenden. 
Er  geht  mit  kleinen  Schritten,  trippelnd,  leicht  scharrend,  die  Kniee  an- 
einander wetzend,  mühsam  sich  vorschiebend,  steif  in  allen  Gelenken. 
Er  ermüdet  rasch  und  fängt  dann  an  mit  dem  1.  Bein  zu  zittern.  Bei 
geschlossenen  Augen  steht  er  Anfangs  sicher,  wird  aber  dann  ängstlich, 
geräth  ins  Schwanken,  das  aber  suggestiv  sich  beseitigen  lässt.  Auch 
bei  offenen  Augen  ist  Pat.  im  Gehen  ängstlich  und  fürchtet  beständig  zu 
fallen,  was  ihm  aber  nie  passirt. 

Da  Pat.  in  seiner  gestörten  Motilität  psychisch  sehr  beeinflusst 
wird,  sein  Rigor  offenbar  nur  unbewusster  Innervationsexcess  ist  und 
bei  abgelenkter  Psyche  schwindet,  da  jegliche  Parese  fehlt  und  geome- 
trisch begrenzte  Sensibilitätsstörungen  an  den  OE.  vorhanden  sind,  wird 


Pseudoparesis  gpastica.  75 

die  Diagnose  auf  ein  functionelles  Leiden  gestellt  und  Pat.  entsprechend 
mit  Wachsuggestionen,  Electro-  und  Hydrotherapie  behandelt. 

Anlang  Mai  1897  bessert  sich  etwas  der  Gang.  Pat.  geht  weniger 
steif,  rascher  und  ausdauernder,  jedoch  hat  sich  eine  Contractur  des  1. 
Gastrocnemius  eingestellt,  sodass  die  active  Dorsalflexion  des  Fusses 
nicht  und  passiv  nur  mit  Anwendung  ziemlicher  Kraft  gelingt. 

An  den  OE.  besteht  beiderseits  an  der  Beugeseite  eine  Par- 
ästhesie,  welche  die  drei  letzten  Finger  und  die  Hälfte  des  Vorderarmes 
an  seiner  ulnaren  Seite  bis  zum  Ellbogengelenk  umfasst.  Au  der 
Streckseite  betrifft  diese  Parästhesie  die  3  letzten  Finger  und  aufwärts 
den  ganzen  Vorderarm  bis  zum  Ellbogen. 

Innerhalb  dieses  parästhetischen  Gebietes  besteht  cutane  Hyper- 
ästhesie und  Hyperalgesie.  Sonst  stat.  idem.  Pat.  verlässt  am  15.  5.  1897 
das  Spital,  um  eine  Badekur  anzutreten. 

Am  Tage  der  Entlassung  sind  die  tiefen  Reflexe  in  den  UE.  noch 
sehr  gesteigert,  1.  besteht  Fussclonus  und  bei  Manipulationen  an  der  1. 
UE.  kommt  es  zu  Schütteltremor  des  ganzen  Beins.  Der  Rigor  besteht 
nur  beim  Gehen  und  bei  passiver  Bewegung,  wenn  Pat.  die  Augen  offen 
hat.  Sonst  fehlt  er  vollkommen.  Nirgends  besteht  eine  Herabsetzung 
der  groben  Muskelkraft. 

Beobachtung  6. 

Seh.,  31  J.,  Friseur,  aufgen.  3.  2.  1897,  stammt  von  einem  von 
jeher  neuropathischen,  jähzornigen  Vater.  Ein  Bruder  des  Pat.  ist 
psychisch  krank. 

Früher  gesund,  erkrankte  Pat.,  angeblich  ohne  vorgängige  Emotion, 
Trauma,  fieberhafte  Krankheit,  Lues,  1890  unter  Ameisenlaufen  im  Fuss, 
rascher  Ermüdung  und  zunehmender  Schwäche,  an  einer  Monoparese 
der  I.  UE.,  sodass  er  den  Fuss  beim  Gehakt  nachzog.  Der  Arzt  sprach 
damals  von  Hysterie  und  stellte  ihn  nach  5  Wochen  wieder  her. 

1891,  ohne  Anlass,  kehrten  diese  Störungen  in  der  1.  UE.  wieder 
und  wichen  diesmal  nicht  der  ärztlichen  Behandlung. 

Seit  1894  fühlte  Pat.  in  der  Ruhe  eine  Versteifung  im  1.  Bein, 
die  aber  bei  Bewegung  jeweils  sich  verlor.  Anfang  1896  zeigte  sich 
Schwäche  und  Versteifung  auch  in  der  r.  UE.  Pat.  führt  dies  auf  über- 
mässige Inanspruchnahme  der  r.  UE.  zurück,  da  die  linke  beim  Gehakt 
insufficient  war.  Parästhesien  bestanden  r.  nicht.  Seit  Ende  1896  will 
er  bei  der  Urinentleerung  ab  und  zu  ein  schneidendes  Gefühl  in  der 
Blase  und  Dysurie  gehabt  haben.  Temporär  sei  auch  relative  Incon- 
tinenz  dagewesen. 

Anfaag  Januar  1897,  nach  einem  warmen  Bad,  sei  er  in  den  Beinen 
ganz  steif  und  gehunfähig  geworden. 


76    II-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Stat.  praes.  5.  2.  1897.  Kräftiges,  gut  genährtes  Individiuum,  geistig 
etwas  beschränkt,  sehr  durch  die  Functionsstörung  der  UE.  präoccupirt 
die  er  offenbar  für  eine  schwere  Krankheit  hält.  Cranium  leicht  difform. 
Hinterhauptsstufe,  Cf.  56.5,  Torus  palatinus.  Vegetativ  ohne  Befund,  ohne 
Spuren  von  Lues.  Hoden  auffallend  klein,  weich.  Masturbation  wird 
nicht  zugegeben.  Hirnnerven  intakt,  jedoch  Sehfeld  minimal  temporal 
eingeschränkt,  Fundus  und  Visus  normal. 

Am  Stamm  vorn  eine  vom  Rippenbogen  bis  zur  Nabelhöhe,  hinten 
4  Querfinger  unter  dem  Angulus  scapulae  bis  zum  Darmbeinkamm 
reichende  gürtelförmige  Zone  tactiler,  thermischer  und  algerischer 
Hypästhesie.  Pat.  vermag  sich  im  Bett  nicht  frei  aufzurichten,  leicht 
aber,  wenn  der  in  den  Rücken  gesetzte  Finger  des  Arztes  eine  bezüg- 
liche Unterstützung  markirt.     In  den  OE.  keine  Functionsstörung. 

UE.  Muskulatur  kräftig,  Tonus  gut,  nirgends  Atrophie.  Sensibilität 
intact,  keine  vasomotorischen  oder  cutanen  trophischen  Störungen. 

In  Bettlage  sind  die  Beine  gestreckt,  adducirt,  die  Füsse  in  leichter 
Varoequinusstellung. 

Bei  Gehversuchen  tritt  sofort  Versteifung  ein,  totale  Gehunfähigkeit 
und  Niederfallen  mit  einknickenden  Gelenken. 

Die  tiefen  Reflexe  sind  hochgesteigert,  beiderseits  Andeutung  von 
Fussclonus. 

Bei  genauerer  Prüfung  ergiebt  sich  bloss  in  den  Adductores  craris 
und  in  den  Plantarflexoren  ein  gewisser  Grad  von  Versteifung,  die  aber 
nicht  jederzeit  nachweisbar  ist  und  im  Schlafe  vollkommen  fehlt.  Bei 
auf  die  Füsse  gerichteter  Aufmerksamkeit  des  Pat.  macht  sich  die  Ver- 
steifung sofort  bemerklich.  Stellt  man  ihn  auf  die  Füsse,  so  wird  sie 
allgemein,  schwindet  aber  sofort,  wenn  Pat.  ohne  Stütze  gelassen  wird, 
wobei  er  sogleich  zu  Boden  sinkt.  Jedenfalls  ist  diese  Versteifung 
psychisch  stark  beeinflusst.  Weder  durch  Kneten  der  Muskeln,  noch 
durch  Hautreize  oder  Druck  auf  die  Nervenstämme,  bei  verbundenen 
Augen,  lässt  sich  Contractur  erzielen. 

Es  besteht  keine  Diathese  de  contracture.  Eine  durch  faradischen 
Reiz  hervorgerufene  Contraction  schwindet  sofort  nach  Aufhören  des  Reizes. 

Bei  verbundenen  Augen  und  bei  plötzlicher  passiver  Bewegung 
in  einer  beliebigen  Muskelgruppe  zeigt  sich  kein  Widerstand.  Im 
anderen  Falle,  sobald  der  Pat.  darauf  vorbereitet  ist,  tritt  Versteifung 
ein  und  bedeutender  passiver  Widerstand. 

Ab  und  zu  gelingen  dem  Pat.  unbewusst  Bewegungen  in  seinen 
UE.,  auch  gewinnt  man  den  Eindruck,  dass  nirgends  eine  eigentliche 
Lähmung  besteht,  aber  die  willkürliche  Leistung  einer  Bewegung  in  den 
UE.  stösst  auf  die  grössten  Schwierigkeiten   und  liefert   nur  minimale 


Pseudoparesis  spastica.  77 

locomotorische  Effecte.  Jene  lassen  sich  zurückführen  auf  sofortige 
"Versteifung  der  betr.  Muskeln  bei  Intentionen,  wesentlich  aber  auf  eine 
enorme  Innervationsungeschicklichkeit,  gleich  als  sei  Pat.  aller  Bewegungs- 
anschauungen verlustig.  Dabei  irradiirt  der  Intentionsreiz  auf  ganz  ent- 
legene, gar  nicht  zur  Action  gehörige  Muskelgruppen,  während  er  in 
den  eigentlichen  Gebieten  nur  minimal  oder  gar  nicht  zur  Geltung 
gelangt. 

Verlangt  man,  dass  Pat.  die  grosse  Zehe  eines  Fusses  dorsal  flectire, 
so  gelingt  ihm  dies  nicht;  dafür  treten  Abductions-  und  Flexions- 
bewegungen im  betr.  Fussgelenk  ein,  gelegentlich  sogar  solche  im  Knie- 
und  Hüftgelenk. 

Beim  Versuch,  die  grosse  Zehe  volarwärts  zu  bewegen,  entstehen 
momentan  kräftige  Impulse  dazu,  aber  der  Effect  wird  vereitelt  durch 
ganz  ungehörige  rotatorische  Bewegungen  im  Hüft-  und  Fussgelenk  und 
Vorstreckbewegungen  des  betr.  Fusses.  Macht  man  dem  Pat.  die  betr. 
Bewegungen  vor  und  übt  ihn  darauf  ein,  so  geht  es  momentan  ein 
wenig  besser. 

Pat.  ist  auch  nicht  im  Stande,  eine  Extremität  isolirt  zu  bewegen; 
immer  geht  die  andere  mit. 

Die  Functionen  der  Blase  sind  ganz  ungestört. 

Beobachtung  7. 

Im  Juli  1895  consultirte  mich  ein  College,  Herr  Dr.  X.,  54  J., 
wegen  einer  Gehstörung.  Er  stammt  aus  einer  Familie,  in  welcher,  bis 
auf  einen  Fall  von  Paranoia  beim  Bruder  des  Vaters,  keine  Neurosen 
oder  Psychosen  vorgekommen  sind.  X.  war  körperlich  kräftig,  aber 
emotiv,  erregbar,  von  massiger  Lebensweise,  hat  nie  an  Syphilis  gelitten. 

In  22  jähriger  Ehe  verschiedene  Schicksalsschläge,  Gemüths- 
bewegungen.  Lebensgefährliche  Erkrankung  einer  Tochter,  bei  welcher 
Pat.  gezwungen  war,  einen  schweren  operativen  Eingriff  selbst  zu 
machen.  Daneben  Familiensorgen,  angestrengte  Berufstätigkeit  als 
Arzt  und  Sanitätsbeamter.  Im  Anschluss  an  diese  Schädigungen  be- 
merkte X.  Ende  1884  Steifheit  im  r.  Sprunggelenk,  leichte  Ermüdung 
beim  Gehen,  tauben,  handtellergrossen  Fleck  auf  der  Streckseite  des 
r.  Oberschenkels  und  grosse  Emotivität. 

Im  Juli  1895,  nach  vermehrter  Anstrengung,  bemerkte  Pat.,  dass 
seine  r.  UE.  vor  Schwäche  und  Steifheit  kaum  leistungsfähig  war,  beim 
Gehakt  nachschleifte  und  einen  Bogen  nach  auswärts  beschrieb.  Ein 
hervorragender  Kliniker  diagnosticirte  Myelitis,  fand  r.  Patellar-  und 
Fussclonus,  die  1.  UE.  intact.  Besserung  unter  Hydrotherapie  und 
Galvanisation.  Nach  neuerlicher  Anstrengung  Verschlimmerung,  zu- 
gleich auch  Schwäche  und  Steifheit  in  1.  UE. 


78    II-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Hauptbeschwerden  des  Pat.  in  der  Folge  waren  rasche  Ermüdung 
Schwere  und  Steifheit  der  Beine,  besonders  im  rechten,  Zucken  und 
Tremor  in  beiden,  namentlich  Morgens  im  Bette  und  nach  Anstrengung 
im  Gehen,  danu  auch  lästige  Muskelspannungen  mit  förmlichem  Hervor- 
treten der  Muskeln  und  erheblicher  Zunahme  der  allgemeinen  Steifheit 
zeitweise  Formication  an  Zehen,  Dorsum  pedum,  Wadenmuskulatur. 

Blase  und  Mastdarm  waren  ungestört  in  ihren  Functionen.  Oft 
Schwindel,  besonders  auf  der  Strasse  und  bei  grellem  Licht.  Nachts 
öfters  Aufschrecken  und  Angstgefühle. 

Stat.  |praes.  20.  7.  1895,  stattlicher,  kräftiger  Mann  ohne  Zeichen 
von  Senium.  Vegetativ  normal.  Keine  Störungen  von  Seiten  der  Hirn- 
nerven. Function  der  OE.  normal.  Nirgends  Störungen  der  Sensibilität. 
Hier  und  da  flüchtige  Parästhesien  am  r.  Unterschenkel.  In  der  Gegend 
der  Tubera  ischii  beim  Sitzen  öfter  Schmerzen. 

Blase  und  Mastdarm  intact. 

Pat.  geht  mühsam,  mit  kurzen  Schritten,  spastisch.  Die  freie 
Beweglichkeit  in  allen  Gelenken  erscheint  behindert,  besonders  aber  im 
Hüft-  und  Kniegelenk  und  r.  stärker  als  1.  Ab  und  zu  zeigt  sich 
leichter  Schütteltremor.  Bei  passiver  Bewegung  besteht  kein  Rigor.  Je 
mehr  Pat.  geht,  um  so  freier  wird  sein  Gang.  Auch  nach  morgend- 
lichem Halbbad  ist  dies  temporär  der  Fall.  Trotz  seiner  Gehstörung 
vermag  Pat.  seinem  ziemlich  beschwerlichen  Berufe  nachzukommen. 

Die  tiefen  Reflexe  sind  gesteigert,  r.  Andeutung  von  Fussclonus. 
Die  grobe  Muskelkraft  ist  unversehrt.  Die  genaueste  Prüfung  der 
Sensibilität  vermag  keine  Störungen  nachzuweisen.  Sinnesorgane  intact. 
Augenspiegel  bietet  negativen  Befund. 

Stigmata  hysteriae  aut  Neurastheniae  sind  nicht  aufzufinden,  jedoch 
ist  Pat.  emotiv,  nervös  und  berichtet,  dass  er  öfters  das  Gefühl  eines 
elektrischen  Schlags  vom  Kopf  bis  ins  Rückenmark  hinein  empfinde. 

Meine  Diagnose  lautete  auf  functionelles  Leiden.  Ich  stellte 
Besserung  in  Aussicht  und  empfahl  den  Fortgebrauch  von  Halbbädern 
und  Galvanotherapie,  auf  welche  Pat.  grosse  Stücke  hielt. 


Versucht  man,  die  vorstehenden  Fälle  zu  analysiren  und  das 
ihnen  gemeinsam  Zukommende  hervorzuheben,  so  ergeben  sich  2 
Symptomereihen : 

1.  eine  Störung  der  Innervation  in  den  Unterextremitäten, 
die  sich  temporär  oder  dauernd  bis  zur  theilweisen  oder  allgemeinen 
Aufhebung  des  Willenseintlusses  oder  wenigstens  bis  zum  Versagen  der 
coordinirten  Innervation  der  zum  intendirten  Bewegungsakt  erforderlichen 
Muskeln  erstreckt. 


l'seudoparesis  spastica.  79 

Diese  Erscheinung  ist  eine  rein  cortical  zu  localisirende  und 
psychisch  bedingte  Functionsstörung.  Sie  täuscht  eine  Lähmung  vor, 
deren  Möglichkeit  aber  sofort  abgelehnt  werden  muss,  wenn  man 
die  freie  Beweglichkeit  und  ansehnliche  Muskelkraft  bei  abgelenkter 
Aufmerksamkeit,  bezw.  unbewusster  Bewegung  bei  solchen  Kranken 
wahrnimmt.  Derlei  Erfahrungen  sind  aber  bei  Hysterischen  nichts  Un- 
gewöhnliches. Es  genügt,  an  die  Thatsache  zu  erinnern,  dass  bei 
Solchen  das  amaurotische  Auge  bewusst  keine  Wahrnehmungen  ver- 
mittelt, unbewusst  aber  (Sehen  durch  ein  Stereoskop)  sich  beim  (bino- 
culären)  Sehakt  als  betheiligt  erweist. 

In  den  obigen  Fällen  sind  zweifelsohne  die  Bewegungsanschau- 
ungen virtuell  vorhanden,  unbewusst  verwerthbar,  nicht  aber  bewusst. 
Dies  deutet  auf  hemmende  Einflüsse,  die  ihre  Verwerthung  im  be- 
wussten  Geistesleben  stören.  Als  solche  sind  nur  psychische  Factoren 
in  Gestalt  von  irgendwie  autosuggestiv  entstandenen  hemmenden  Vor- 
stellungen denkbar.  Interessant  ist  dabei,  dass  eventuell  ungewohnte 
Leistungen,  wie  z.  B.  Rückwärtsgehen  (Beob.  2)  auffallend  gut  erfolgen 
können. 

In  allen  obigen  Fällen,  wo  eine  psychologische  Analyse  möglich 
war,  stiess  man  auf  hemmende  Vorstellungen.  In  Beob.  1  macht  sicli 
dieser  Einfluss  nur  temporär  geltend,  wenn  Pat.  durch  Ermüdungs- 
gefühle (complicirende  Neurasthenie)  an  das  Schreckbild  einer  Myelitis 
erinnert  wird.  In  Beob.  2  besteht  er  Anfangs  nur  temporär  unter  der 
durch  Abusus  vini  bedingten  Innervationsstörung  der  UE.,  oder  indem 
sich  Pat.  von  einem  Vorgesetzten  beobachtet  weiss. 

Er  wird  endlich  dauernd  durch  ärztliche  Suggestion  drohenden 
Siechthums.  In  Beob.  4  üben  einen  solchen  Hemmungseinfluss  Angst 
vor  Siechthum  und  zu  stürzen,  in  5  ein  vermeintlich  schweres 
(organisches)  Leiden,  in  7  Angst  vor  Myelitis. 

Von  wirklichem  Ausfall  der  groben  Muskelkraft  kann  in  keinem 
der  obigen  7  Fälle  die  Rede  sein,  höchstens  von  rascher  Ermüdung  ex 
neurasthenia  (Beob.  1)  oder  hysterischer  Amyosthenie  (Beob.  3),  die  ge- 
eignet sind,  die  obigen  Hemmungsvorstellungen  zu  stützen. 

2.  Zu  solcher  Pseudoparese,  recte  "Willenslähmung  gesellen  sich 
spastische  Erscheinungen.  Auch  dieser  Rigor  ist  ein  Pseudo- 
spasmus,  rein  psychisch  bedingt,  im  Schlaf  und  bei  abgelenkter  Auf- 
merksamkeit verschwindend,  dagegen  im  Zustand  des  Wachens  und  der 
Aufmerksamkeit  jederzeit  vorhanden,  durch  Intention,  passive  Bewegung, 
Kältereiz  jeweils  einer  bedeutenden  Steigerung  fähig. 

Weist  schon  das  Fehlen  aller  sonstigen  Bedingungen  für  das 
Zustandekommen  einer  Contractu!'  (Fehlen  von  Diathese   de  contracture, 


80    II-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

von  Reflexreizen  von  den  Gelenken  und  peripheren  Nerven  aus,  von 
Zeichen  einer  organischen  Erkrankung  im  Bereich  der  corticornusculären 
Bahn)  auf  eine  psychische  Auslösung  dieser  Spasmuserscheinungen  hin, 
so  ist  die  grosse  Wandelbarkeit  dieses  Pseudospasmus  in  In-  und  Ex- 
tensität geradezu  bezeichnend. 

Es  handelt  sich  hier  aber  gar  nicht  um  Contractur,  sondern  um 
eine  abnorm  intensive,  der  willkürlichen  gleichzusetzende,  aber  unbewusst 
erfolgende  übermässige  Contraction  von  Muskeln. 

Die  Erklärung  für  diese  so  wandelbaren  und  vorzngsw  eise  dieExtensoren 
befallenden  Muskelcontractionen  kann  nur  darin  gesucht  und  gefunden 
werden,  dass  der  von  der  Vorstellung  der  Insufficienz  seiner  Unter- 
extremitäten und  der  Gefahr,  umzufallen,  präoccupirte  Kranke  unbewusst 
und  unwillkürlich  seine  virtuell  unversehrte  Muskelkraft  ungebührlich 
stark  im  gegentheiligen  Sinne  verwerthet,  wobei  es  ihm  bei  der  Un- 
geschicklichkeit seiner  Innervation  gelegentlich  passirt,  dass  auch  antago- 
nistische oder  zur  Wahrung  der  aufrechten  Stellung  irrelevante  Muskel- 
gruppen diesen  übermässigen  Innervationseinfluss  erfahren. 

3.  Von  den  übrigen  Symptomen  ist  das  ausnahmslose  Vorhanden- 
sein einer  Steigerung  der  tiefen  Reflexe  hervorzuheben,  ein  Ver- 
halten, das  sich  auch  bei  allen  anderweitigen  psychischen  „Lähmungen11 
vorfindet  und  offenbar  überall  da  zu  gewärtigen  ist,  wo  in  der  cortico- 
musculären Bahn  der  Einfluss  von  Hemmungsnerven  herabgesetzt  wird. 
In  Beob.  1  schwankt  die  Intensität  der  Steigerung  der  tiefen  Reflexe 
auf  und  ab  mit  dem  Minder  oder  Mehr  psychocorticaler  Innervation. 

Störungen  der  Sensibilität  kommen  offenbar  diesem  Krankheitsbild 
an  und  für  sich  nicht  zu.  Wo  solche  vorkommen,  handelt  es  sich  um 
Complicationen  im  Sinne  einer  traumatischen  Neurose  (Beob.  3). 

Der  Tremor,  der  in  Fürstners  Fällen  so  markant  hervortritt,  scheint 
nur  bei  traumatischer  Entstehungsweise  eine  Rolle  zu  spielen,  so  auch 
in  meiner  Beob.  3.  In  Beob.  4  erscheint  er  nur  flüchtig  und  dürfte 
da  als  Ermüdungstremor  anzusprechen  sein. 

Auch  Störungen  der  Blase  kommen  der  Pseudoparesis  spastica 
an  und  für  sich  nicht  zu.  Die  leichte  Dysurie  in  Beob.  3  erklärt  sich 
wohl  aus  Störung  der  Bauchpresse,  in  Folge  unwillkürlicher  Contraction 
der  betr.  Muskeln. 

Durch  die  positiven  Momente  der  Steigerung  tiefer  Reflexe  und 
die  negativen  der  intacten  Sensibilität  und  Blasenfunction  nähert  sich 
das  Bild  vielfach  dem  der  spastischen  Spinalparalyse.  Diese  Täuschung 
wird  dadurch  vermehrt,  dass  diese  Pseudoparesis  spastica  eine  mono- 
symptomatische Manifestation  der  Hysterie  zu  sein  pflegt. 


Pseudoparesis  spastica.  81 

Die  Schwere  des  Leidens  wird  durch  das  Stationärbleiben  des 
Falles  1  durch  über  10  Jahre,  sowie  durch  den  geringen  Erfolg  der 
Behandlung  in  4,  5,  6,  7  dargethan. 

Die  Therapie  kann  nur  eine  psychisch  suggestive  sein,  unter 
Benützung  des  suggestiven  Einflusses  der  Elektricität,  Anleitung  des 
Kranken  zum  neuerlichen  Erlernen  des  Gehens  (Beob.  6)  und  Be- 
kämpfung seiner  Autosuggestionen. 


K  rafft-Ebing,  Arbeiten  H. 


Paraplegia  hysterica. 

1.    Fälle    von    schlaffer    Lähmung. 

Beob.  1. 

B.,  27  J.,  verheirathet,  Kürschner,  mos.,  aufgenommen  23.  12.  94, 
ist  angeblich  erblich  nicht  belastet,  entwickelte  sich  normal,  machte 
mit  6  J.  Typhus  ohne  Folgeerscheinungen  durch.  Er  war  starker 
Baucher,  kein  Trinker,  heirathete  1889,  acquirirte  Anfang  1890  Ulcus 
durum  mit  folgendem  Exanthem,  gebrauchte  eine  Schmierkur,  bot  in 
der  Folge  keine  Spuren  von  Syphilis,  zeugte  1892  und  1893  gesunde 
Kinder,  fühlte  sich  vollkommen  gesund,  als  er  am  18.  7.  94  eine  Reise 
auf  der  Donau  antrat,  hatte  aber  kurz  vorher  Gemüthsbewegungen 
gehabt  und  ging  einer  ungewissen  Zukunft  entgegen. 

Pat.  ging  Abends  8  Uhr  aufs  Schiffsdeck,  promenirte,  wobei  er  einen 
stechenden  Schmerz  im  Kreuz  verspürte.  Er  setzte  sich  nieder,  schlief 
circa  2  Stunden,  ohne  zu  träumen,  wollte,  erwacht,  aufstehen  und  be- 
merkte zu  seinem  Entsetzen,  dass  seine  Füsse  total  gelähmt  und  gefühllos 
waren.  Man  trug  ihn  auf  ein  Bett.  Am  folgenden  Morgen  wurde  er 
ausgeschifft  und  in  ein  Spital  gebracht.  Es  zeigte  sich  Lähmung  des 
Detrusor  vesicae,  sodass  der  Katheter  nothwendig  war.  Er  bot  schlaffe 
Lähmung  der  UE.,  Anästhesie  bis  zum  Nabel  herauf,  scharf  in  einer 
horizontalen  Linie  abschneidend.  Am  19.  erkrankte  Pat.  an  „Influenza", 
fieberte  stark,  war  nach  14  Tagen  von  dieser  Krankheit  wieder  frei. 
Die  Paraplegie  blieb  unverändert  bis  zum  September  1894.  Von  da  ab 
unter  elektrischer  Behandlung  Besserung,  sodass  Pat.  im  October  notn- 
dürftig  wieder  gehen  konnte. 

Bei  der  Aufnahme  im  December  1894  kräftig,  ziemlich  gut  genährt, 
ohne  Störung  in  den  vegetativen  Organen.  Indolente  Drüsen  in  inguine 
et  ad  nucham.  Narbe  am  Penis.  Hirnnerven  intact  bis  auf  r.  herab- 
gesetzten Gaumen-  und  fehlenden  Rachenreflex.  Cranium  rachiticum, 
Cf.  53  cm,  Klagen  über  anfallsweisen  Kopfschmerz.  OE.  ohne  Befund. 
Wirbelsäule  normal,  bis  auf  leichte  Scoliose  nach  r.  im  Brustsegment.  Vom 
2.  Lendenwirbel dornfortsatz  abwärts  bis  zum  Steissbein,  enorme  Druck- 
empfindlichkeit. Im  ganzen  r.  Hypogastrium  bis  zur  Nabelhorizontalen 
aufwärts  ist  tiefer  Druck  sehr  empfindlich. 


Paraplegia  hysterica.  83 

Die  UE.  werden  im  Bett  in  normaler  Stellung  gehalten.  Alle 
activen  Bewegungen  derselben  sind  gut  ausführbar,  die  grobe  Muskel- 
kraft erweist  sich  bei  Widerstandsbewegungen  nahezu  normal.  Die 
tiefen  Reflexe  sind  wesentlich  gesteigert.  Beklopfen  der  Patellarsehnen 
ruft,  ausser  der  Quadricepscontraction,  häufig  complicirte  Bewegungen  des 
ganzen  Beines  hervor.  Der  Gang  des  Pat.  bietet  ein  sehr  wechselndes 
Bild.  Während  er  bei  der  Ankunft  mit  zwei  Stöcken  schlürfend  ivnd 
mühsam  sich  fortbewegte  und  bei  Wegnahme  der  Stützen  umfiel,  geht 
er  am  folgenden  Tage  frei,  aber  nach  Art  eines  Hemiplegischen,  das 
1.  Bein  am  Boden  schleifend  und  im  Bogen  nach  vorne  führend,  an 
anderen  Tagen  wieder  mit  der  1.  UE.  schleudernd  atactisch.  Diese 
Ataxie  zeigt  sich  1.  auch  in  liegender  Position  beim  Kniefersenversuch, 
um  bei  entsprechender  Suggestion  und  Einübung  temporär  völlig  zu 
schwinden.  Der  Gesammteindruck  dieser  zwischen  Dysbasie,  spastischer 
Parese  und  Ataxie  schwankenden  Gehstörung  ist  der  einer  rein  psychisch 
bedingten.  Pat.  hat  häufigen  Harndrang,  Detrusor-  und  Sphincterschwäche 
(relative  Incontinentia  urinae)  und  behauptet  gar  keine  Libido  sexualis 
seit  seiner  Erkrankung  zu  empfinden. 

Ebenso  paradox,  wie  die  motorischen  Störungen,  sind  die  der 
Sensibilität.  Bis  zur  Umbilicallinie  herab  ist  sie  normal.  Von  da  ab 
bis  zu  den  Zehen  abwärts,  gleichwie  an  den  OE.,  ist  die  Tastempfindung 
und  die  tiefe  Sensibilität  normal,  die  Schmerzempfindung  aber  ge- 
stört. Von  der  Nabellinie  bis  zum  Poupartischen  Band  besteht 
höchst  wandelbare  Hypalgesie.  Analgesie  besteht  vom  Pouparti- 
schen  Band  beiderseits,  hinten  vom  Darmbein  abwärts  bis  zu  den 
Zehen,  wobei  aber  hinten  das  Kreuzbein  und  vorn  die  Genitalgegend 
segmentförmig  algetisch  bleiben.  Auf  dem  Dorsum  penis  findet  sicli 
eine  thalergrosse,  runde  hyperalgetische  Zone.  Im  analgetischen  Gebiet 
durchstochene  Hautfalten  bluten  nicht.  Der  Plantarreflex  ist  sehr  schwach. 
Unter  Suggestivbehandluug  und  Elektrotherapie  schwinden  alle  sensiblen 
Störungen.  Die  motorischen  reduciren  sich  bis  zum  Tag  der  Entlassung 
auf  Amyosthenie  der  1.  UE. 

Die  Diagnose  hatte  zu  berücksichtigen,  dass  die  Paraplegie  plötzlich 
im  Schlafe,  ohne  psychisches  oder  mechanisches  Trauma,  bei  einer  prä- 
morbid nicht  nervenkranken,  ohne  hysterische  Stigmata  erscheinenden, 
wohl  aber  luetisch  gewesenen  Persönlichkeit  entstanden  war,  sodass  die 
Möglichkeit  einer  Hämatomyelie  oder  auch  die  einer  luetischen,  spinalen 
Erkrankung  nicht  a  limine  abzuweisen  war.  Auch  der  Umstand,  dass 
im  lncubationsstadium  einer  fieberhaften,  wohl  infectiösen  Krankheit  die 
Paraplegie  erfolgt  war,  musste  bezüglich  der  Möglichkeit  einer  organischen 
Begründung   dieser   in  Betracht  gezogen  werden.     Der  Stat.  praesens, 

6* 


84   II.  Vortäuechung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

speciell  die  eigenthümliche ,  nur  bei  Hysterie  vorkommende  Art  und 
Ausbreitung  der  Sensibilitätsstörung,  nicht  minder  die  rein  psychisch 
vermittelten  Störungen  der  Motilität  sprachen  zu  Gunsten  einer  functionellen 
Bedeutung  der  Krankheitserscheinungen  in  diesem  interessanten  Fall 
welcher  Annahme  auch  der  Verlauf  und  der  Ausgang  desselben  ent- 
sprachen. 

Beob.  2. 

Frau  Z.,  Gattin  eines  Arztes,  57  J.  alt,  seit  24  J.  verheirathet, 
Mutter  von  4  Kindern,  aus  neuropathischer  Familie,  von  jeher  aufgeregt, 
reizbar,  emotiv,  nervös,  neurasthenisch,  an  Phobien  leidend,  mit  Migräne 
bis  zum  im  50.  Jahr  absolvirten  Klimacterium  behaftet,  nie  schwer  krank, 
in  den  letzten  Jahren  vielen  Aufregungen  unterworfen  gewesen,  erkrankte 
ohne  palpablen  Aulass  am  12.  5.  93  unter  schiessenden,  reissenden 
Schmerzen  vom  Kreuz  bis  zu  den  Zehen,  zunächst  in  1.  UE.,  bald  auch 
in  r.  UE.  Die  Schmerzen  wurden  vorwiegend  im  Gebiet  der  Nn.  ischia- 
dici,  peronei  und  tibiales  empfunden.  Sie  bestanden  continuirlich,  waren 
sehr  heftig,  raubten  den  Schlaf.  Wenn  sie  etwas  nachliessen,  klagte 
Pat.  über  Parästhesien  in  den  UE.  Schon  nach  wenigen  Tagen  gesellte 
sich  eine  höchst  lästige,  cutane  Hyperästhesie  hinzu,  die  bis  zum  Becken- 
gürtel sich  herauf  erstreckte.  Seit  Ende  Mai  hatte  sich  zunehmende 
Paraparese  entwickelt,  seit  Anfang  Juni  Harnverhaltung  und  hartnäckige 
Obstipation.  Pat.  klagte  Ueblichkeit,  wenn  man  sie  im  Bett  aufrichtete. 
Die  Temperatur  schwankte  zwischen  37  und  37,5.  Am  11.  6.  zum 
Consilium  gerufen,  fand  ich  Pat.,  eine  grosse,  stattliche  Frau,  sehr  auf- 
geregt. Sie  erklärte  sich  schwer  rückenmarkskrank,  sie  schaue  faul  aus, 
ihre  Füsse  seien  ganz  blau,  sie  könne  so  nicht  weiter  leben,  müsse  sich 
umbringen. 

Die  Inspection  der  UE.  bot  nichts  Abnormes.  Mit  Ausnahme  der 
Zehengelenke  und  des  Fussgelenkes  der  1.  UE.  waren  alle  Articulationen 
frei  beweglich  und  nirgends  druckschmerzhaft.  Sehr  schmerzhaft  auf 
Druck  waren  beide  Nn.  crurales,  ferner  sämmtliche  Muskelgruppen,  aus- 
genommen die  Muskulatur  der  r.  "Wade. 

Der  Muskeltonus  war  nicht  gesunken,  die  grobe  Muskelkraft  war 
allenthalben  erhalten,  jedoch  vermied  Pat.  aus  Schmerz  Bewegungen 
vorzunehmen.  Die  wiederholt  und  mit  allen  Cautelen  geprüften  Patellar- 
reflexe  waren  nicht  hervorzurufen.  Dieses  an  Meningitis  spinalis  und 
theilweise  an  Polyneuritis  erinnernde  Krankheitsbild  erschien  aber  eigen- 
tümlich durch  die  sehr  wandelbaren  Befunde  der  Sensibilität.  Pat. 
klagte,  neben  Schmerzen,  über  massenhafte  Paralgien  und  subjective 
Gefühle,  z.  B.  in  der  Beckengegend,  wie  wenn  Nägel  eingeschlagen 
seien.    Ihre  Klagen  waren  ganz  ungeheuerlich.     Trotz  heftiger  cutaner 


Paraplegia  hysterica.  85 

Hyperästhesie  war  derbes  Anfassen  der  UE.  vielfach  schmerzlos.  Gelang 
es,  die  Aufmerksamkeit  abzulenken,  so  waren  Stellen,  die  kurz  vorher 
selbst  bei  leiser  Berührung  sehr  schmerzhaft  reagirten,  temporär  schmerzlos. 

Die  Berührung  mit  Faden  wurde  im  Bereich  der  UE.  überall 
percipirt,  für  Nadelstiche  bestand  Hyperalgesie.  Kältereiz  wurde  allent- 
halben empfunden,  warm  als  kalt  percipirt.  Die  tiefe  Sensibilität  war 
ungeschädigt.     Der  Plantarreflex  vollzog  sich  prompt. 

Die  Wirbelsäule  war  nirgends  empfindlich  und  frei  beweglich.  Die 
Symphysis  sacroiliaca  war  beiderseits  höchst  druckschmerzhaft.  Vaso- 
motorische und  trophische  Störungen  bestanden  nicht.  Die  elektrische 
Reaction  war  allenthalben  normal.  Von  Seiten  der  OE.  und  der  Hirn- 
nerven war  keine  Functionsstörung  zu  ermitteln.  Die  Diagnose  wurde 
auf  eine  functionelle  Erkrankung  gestellt.  Es  gelang,  Pat.  einigermaassen 
über  ihre  Zukunft  zu  beruhigen  und  sie  zum  Eintritt  in  ein  Sanatorium 
zu  bestimmen. 

Anfang  Juli  trat  Pat.  in  meine  Behandlung  ein.  Unter  Anwendung  von 
Codeinsuppositorien  hatten  die  Schmerzen  etwas  nachgelassen  und  waren 
die  Nächte  besser  geworden.  Sonst  differirte  der  Befund  gegen  den  erst- 
maligen nur  insofern,  als  Pat.  entschieden  paraparetisch  war,  auch  im 
Bett  ihre  Beine  nur  mühsam  und  unvollkommen  bewegte.  Sie  stand 
noch  immer  unter  dem  Gedanken,  gelähmt  zu  sein,  aber  es  war  schwer 
zu  sagen,  ob  es  sich  um  eine  psychische  Lähmung  durch  Autosuggestion, 
anknüpfend  an  die  initialen  Schmerzen,  oder  um  eine  Art  Akinesia 
algera  handle.  Die  Harnverhaltung  Hess  sich  bestimmt  auf  Sphincter- 
krampf  zurückführen,  da  der  Katheter  schwer  eindrang  und  beim  Aus- 
ziehen festgehalten  war. 

Pat.  fasste  Vertrauen  zur  Behandlung,  der  Hausarzt  war  sympathisch 
und  aufopfernd,  der  Aufenthaltsort  angenehm.  Die  Schmerzen  wurden 
milder,  die  Hyperästhesien  schwanden,  bis  auf  die  hartnäckig  druck- 
empfindlichen Nn.  crurales.  Die  Behandlung  bestand  in  Wachsuggestion, 
Massage  (Effleurage),  dipolaren  faradoelektrischen  Bädern,  die  sehr  wohl- 
thätig  empfunden  wurden.  Vorübergehend  lästiger  Cystospasmus.  Ende 
Juli  kehrte  die  volle  Muskelkraft  und  Beweglichkeit  in  allen  Gelenken 
wieder,  sodass  Pat.  wieder  zu  stehen  und  zu  gehen  vermochte.  Vom  3.  8. 
ab  konnte  der  Harn  wieder  spontan  entleert  werden.  Nun  zeigten  sich 
spurweise  wieder  die  Patellarreflexe,  zugleich  mit  abnehmender  Empfind- 
lichkeit der  Nn.  crurales.  Als  Pat.  genesen  Ende  August  entlassen 
wurde,  waren  die   Patellarreflexe  immer  noch  schwer  hervorzurufen. 

In  der  Epikrise  wurde  angenommen,  dass  eine  ursprüngliche  leichte 
Polyneuritis,  wesentlich  der  sensiblen  Nerven,  der  Agent  provocateur 
für  eine  hysterische  Neurose  geworden  war,  die  zu  einer  psychischen  (auto- 


86     II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

suggestiven)  Parese  der  UE.  geführt  hatte.  Der  temporäre  Verlust  der 
Patellarreflexe  dürfte  wohl  mit  einer  Neuritis  cruralis  in  Zusammen- 
hang gebracht  werden.  Weder  anamnestisch  noch  im  Verlauf  der 
Beobachtung  waren  Stigmata  hysteriae  zu  ermitteln  gewesen.  Die  Ge- 
nesung hat  sich  erhalten. 

Beob.  3. 

Frl.  N.,  24  J.,  Vater  mit  Asthma  behaftet,  Schwester  hysterisch. 
Pat.  als  Kind  gesund,  bis  auf  Variola,  begabt,  normale  Entwicklung, 
Menses  ohne  Beschwerden  mit  15  J.  Im  Anschluss  Chlorose.  Mit  18  J. 
heftige  Contusion  der  Gesässgegend.  Seither  Schmerzen  daselbst  bei 
längerem  Gehen.  Zunehmend  rasche  Ermüdung,  in  den  letzten  Jahren 
oft  Einknicken  beim  Gehen,  bald  mit  r.,  bald  1.  Fuss.  Zunehmende 
Functionsschwäche  der  UE.,  wahrscheinlich  unter  der  Autosuggestion 
beginnenden  Rückenmarksleidens.  Anfang  Februar  1897  wechselnde 
Incontinentia  vesicae  und  Dysuria,  dazu  Unempfindlichkeit  der  UE.  bis 
zur  Beckenhöhe  (Pat.  will  vom  Stuhl  herabgerutscht  sein,  ohne  es  zu 
bemerken). 

Stat.  22.  3.  97.  Pat.  kräftig,  intelligent,  gut  genährt,  ohne  Zeichen 
ron  Chlorose,  ohne  Stigmata  hysteriae.  Hirnnerven,  OE.,  Stamm  ohne  Be- 
fund. An  Stelle  des  früheren  Trauma  (Os  sacrum)  handgrosse  hyper- 
ästhetische  Stelle.  Haut  und  tiefe  Gebilde  auf  Druck  daselbst  sehr 
empfindlich.  UE.  normale  Haltung,  grosse  Amyosthenie,  Hebung  nur 
bis  30°  möglich,  auch  sonst  Bewegungen  nicht  bis  zum  physiologischen 
Ausmaass  gelingend.  Sehr  geringe,  active  Innervation,  bei  passiver  Be- 
wegung auffälliger  (unbewusster)  Widerstand,  der  Rigor  vortäuscht. 
Gang  nur  mit  Unterstützung,  sehr  wandelbar,  zeitweise,  besonders  1.  Stepper- 
gang. Bei  geschlossenen  Augen  starkes  Schwanken,  das  aber  auf  Zu- 
spruch schwindet.  Cutane  Sensibilität  intact,  tiefe  nur  in  den  Zehen- 
gelenken fehlend.  Tiefe  Reflexe  sehr  gesteigert,  beiderseits  Fussklonus. 
Bauchreflex  nicht  hervorzurufen,  ebensowenig  Plantarreflex.  Unter 
Faradisation  rasche,  bedeutende  Besserung.  Bei  der  Entlassung  am 
29.  3.  nur  noch  geringe  Amyosthenie,  ausdauerndes,  freies  Gehen.  Tiefe 
Sensibilität  in  den  Zehen  wiedergekehrt. 

Beob.  4. 

L..  47  J.,  Verkäuferin,  angeblich  unbelastet,  von  jeher  nervös,  früher 
nie  erheblich  krank,  war  Zeugin  im  Winter  1888/89,  als  Jemand  unter 
die  Räder  eines  Wagens  gerieth  und  diese  ihm  über  die  Füsse  gingen.  So- 
fort fuhr  ihr  der  Schreck  in  die  Beine.  Sie  befand  sich  gerade  auf  einem 
Wagen,  und  als  sie  nach  einer  halben  Stunde  am  Ziel  war,  bemerkte  sie, 
dass  ihr  r.  Bein  steif,  gefühllos  war  und  ihrem  Willen  nicht  gehorchte. 
Man  musste  sie  vom  Wagen  herunterheben.    Nach  einer  Stunde  schwand 


Paraplegia  hysterica.  87 

die  Steifigkeit,  Pat.  kormte  auch  etwas  ihr  r.  Bein  wieder  bewegen,  aber 
es  blieb  schwach,  versteifte  sich  bei  geringster  Emotion  und  war  nicht 
mehr  recht  gebrauchsfähig.  Seit  jenem  Shok  war  die  im  Klimacterium 
befindliche  Pat.  sehr  emotiv  geworden,  war  von  häufigem  Kopfschmerz, 
Schlaflosigkeit  und  Verstimmung  gequält. 

Daneben  bot  sie  die  gewöhnlichen  Beschwerden  des  Klimacterium 
(Fluxionen,  Schwindelgefiihl  u.  s.  w.),  aber  nie  ausgesprochene  hyste- 
rische Erscheinungen. 

Anfang  1890,  nach  einer  Emotion,  stellte  sich  eine  Lähmung  beider 
UE.  ein.  Pat.  will  3  Monate  ohne  Einfluss  auf  ihre  Beine  gewesen 
sein  und  die  geringste  psychische  Erregung,  z.  ß.  durch  ein  Klopfen  an 
der  Thüre,  habe  genügt,  temporär  die  Beine  zu  versteifen.  Blasen- 
beschwerden hatte  sie  nicht.  Nach  3  Monaten  sei  plötzlich  die  Be- 
wegung in  den  1.  UE.  wiedergekehrt,  jedoch  sei  das  1.  Bein  immer 
schwach  geblieben. 

Am  3.  6.  92  begab  sich  Pat.  eines  Heilversuches  wegen  ins  Spital. 
Pat.  kräftig,,  ohne  Zeichen  von  Senium,  bietet  1.  Ovarie,  mit  auf  Druck 
eintretenden  ascendirenden  Sensationen  bis  zum  Halse  herauf,  wo  sie 
dann  Globus  empfindet.  Puncta  dolorosa  unterhalb  der  1.  Mamma.  Pat. 
vermag  nur  mit  zwei  Begleitern  zu  stehen  und  zu  gehen.  Es  besteht 
grosse  Muskelschwäche,  rechts  mehr  als  links.  Alle  Bewegungen  sind 
fast  bis  zum  physiologischen  Ausmaass  möglich,  bis  auf  solche  im  r. 
Fussgelenk  und  den  Zehen  am  r.  Fuss,  die  ganz  unbeweglich  sind.  Bei 
passiver  Bewegung  zeigt  sich  leichter  Widerstand  in  den  Streckern  beider 
Kniee.  Der  Muskeltonus  ist  sehr  herabgesetzt.  Patellarreflex  r.  und  1. 
sehr  gesteigert.  Fussklonus  besteht  nicht.  Die  cutane  Sensibilität  ist 
intact,  die  tiefe,  ausgenommen  an  den  Zehen  des  r.  Fusses,  ebenfalls. 
Plantarreflex  nicht  auszulösen.  Klagen  über  zeitweise  Parästhesien  in 
beiden  UE.  Pat.  behauptet,  das  r.  Kniegelenk  nicht  bewegen  zu  können, 
erweist  sich  aber  recht  suggestibel  und  beugt  und  streckt  es  auf  be- 
zügliche Suggestion.  Faradisation  und  Wachsuggestion  stellen  bei  ambu- 
latorischer Behandlung  Bewegung  und  Gefühl  in  Zehen  und  Fussgelenk 
r.  wieder  her.    Die  Dysbasie  bessert  sich  bedeutend. 

Beob.  5. 

T.,  28  J.,  ledig,  Näherin,  aus  schwächlicher,  neuropathischer  Familie, 
mit  Spuren  von  Rachitis  an  Schädel  und  Skelet,  von  jeher  kränklich, 
neuropathisch,  erkrankte,  nach  relativen  Ueberanstrengungen  und  an- 
geblicher Erkältung,  um  Weihnachten  1S94  an  Schmerzen  in  den  Beinen, 
die  beim  Gehen  sich  so  steigerten,  dass  Pat.  auf  Gehversuche  verzichtete 
und  sich  ins  Bett  legte.  Sie  lag  nun  herum,  las  und  dachte  viel  nach 
über  ihr  Leiden,  hielt  sich  für  rückenmarkskrank,  da  die  Schmerzen  und 


88    II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Schwäche  auch  im  Bett  fortdauerten,  wurde  verstimmt,  empfand  Heim- 
weh und  Hess  sich  endlich  ins  Spital  aufnehmen. 

Stat.  27.  4.  95.  Pat.  gross,  schwächlich,  mager,  anämisch,  vegetativ 
ohne  Befund.  Massenhaft  Druckschmerzpunkte  an  Wirbelsäule,  Thorax, 
Sternum.  Pat.  ganz  von  ihrer  Krankheit  präoccupirt,  ohne  rechtes  Ver- 
trauen in  die  Kunst  der  Aerzte,  klagsam,  emotiv,  leicht  verletzlich,  bietet 
von  Seiten  der  Hirnnerven  und  OE.  keine  Störungen.  An  den  UE.  ist 
sie  paraplegisch  bis  auf  erhaltene  Zehenbewegung.  Der  Muskeltonus  ist 
sehr  herabgesetzt.  Passive  Bewegungen  sind  vollkommen  frei.  In  den 
grossen  Gelenken  der  UE.  werden  sie  als  schmerzhaft  angegeben.  Die 
Patellarreflexe  sind  gesteigert,  der  Fussreflex  ist  es  nicht  und  gerade 
hervorzurufen.  Die  Beine  sind  kühl,  feucht  durch  profuse  Schweiss- 
secretion,  nicht  cyanotisch.  Nirgends  besteht  Atrophie.  Die  cutane 
Sensibilität  ist  unversehrt.  Ausfall  der  tiefen  Sensibilität  findet  sich  nur 
in  den  Zehen  der  1.  UE.  Der  PlantarrefLex  ist  nur  sehr  schwach  auslösbar. 
Pat.  verlässt  das  ihr  unsympathische  Spital  schon  nach  wenig  Tagen, 
weil  sie  nur  in  der  Waldluft  ihrer  Heimath  genesen  könne. 

Beob.  6. 

H.,  32  J.,  Büglerin,  stammt  angeblich  von  gesunden  Eltern,  hat 
eine  neuropathische  Schwester,  war  selbst,  bis  auf  leichte  Kinderkrank- 
heiten, bis  zum  24.  Jahr  immer  gesund.  Damals  erkrankte  sie  an 
Puerperalfieber.  Mit  27  J.  angeblich  Peritonitis  und  Neuritis  nach 
Abortus.  In  den  letzten  Jahren  viel  Anstrengungen,  Gernüthsbewegungen 
(Tod  eines  Kindes  u.  s.  w).  Mit  31  J.  begann  ihre  gegenwärtige  Krank- 
heit, im  Anschluss  an  eine  Gemüthsbewegung.  Sie  bekam  Schwindel- 
anfälle  mit  Ueblichkeit,  Palpitationen,  Globus,  Schmerz  am  Sternum, 
irradiirend  in  1.  Brusthälfte  und  Epigastrium,  Formicationsgefühle  in  1. 
OE.  und  UE.,  wurde  sehr  emotiv,  schlief  schlecht,  hatte  wiederholt  An- 
fälle von  tonischer  Starre  in  beiden  OE.,  die  aber  vom  Arzt  jeweils 
leicht  gelöst  wurde,  und  Hess  sich,  da  Nacken-,  Bückenschmerz  und 
allgemeine  zunehmende  Schwäche  sie  arbeitsunfähig  machten,  Anfang 
November  1891  im  Spital  aufnehmen. 

Pat.  schlecht  genährt,  blutarm,  vegetative  Functionen  ungestört. 
Hitzegefühl  und  Hyperidrosis  am  ganzen  Körper.  Leidende  Miene. 
Bewusstsein  schwerer  Krankheit.  L.  Hemianaesthesia  inclus.  Sinnes- 
organe, concentr.  Sehfeldeinschränkung  für  Licht  und  Farben,  1.  be- 
deutender als  r.  Innerhalb  der  Hemianästhesie  eine  hyperästhetische 
Zone  in  der  Ausdehnung  des  1.  Deltoides,  eine  zweite  submammar. 
Diese  ist  spasmogen.  Mit  Einsetzen  von  Schmerzen  daselbst  entstehen 
Lethargusanfälle.  L.  Ovarie.  Pat.  ist  hypnotisabel,  aber  nicht  suggesübel, 
weshalb  hypnotische  Behandlung  unterlassen  wird.   Elektrische  Pinselung 


Paraplegia  hysterica.  89 

hat  auf  die  Hemianästhesie  keinen  bessernden  Einfluss.  Motorisch  bietet 
Pat.  allgemeine  Amyosthenie  und  gesteigerte  tiefe  Reflexe.  Anlässlieh 
Erkrankung  eines  Kindes  drei  Lethargusanfälle.  Seither  Meteorismus, 
Globus,  Gefühl,  dass  die  Beine  immer  schwächer  werden,  Spinalirritation. 
Unter  der  Autosuggestion  beginnender  Rücken markserkrankung,  rasch 
zunehmende  schlaffe  Paraparese.  Pat.  bleibt  zu  Bett,  behauptet,  ihre 
Beine  nicht  bewegen  zu  können  und  bedient  sich  der  Hände,  um  sie 
umzulegen.  Suggestiver  Einfluss  vermag  gegen  diese  Paraplegie  durch 
Vorstellung  nur  wenig.  Bedeutendes  Absinken  des  Muskeltonus,  enorme 
Steigerung  der  tiefen  Reflexe,  1.  Fussklonus. 

Die  Störungen  der  Sensibilität  sind  gleichzeitig  im  Januar  1892 
folgende: 

Von  den  Zehen  bis  handbreit  über  den  Knieen,  ringförmig  ab- 
schliessend, findet  sich  eine  Zone  fehlender  cutaner  und  tiefer  Sensibilität, 
wobei  aber  im  2.  Zehen  jederseits  die  letztere  erhalten  ist. 

Von  der  erwähnten  Zone  bis  zur  oberen  Beckenapertur  findet  sich 
eine  zweite,  in  welcher  bloss  die  Tastempfindung  fehlt.  Von  der 
Beckenapertur  aufwärts  bis  zur  Höhe  der  Brustwarze  fehlt  r.  bloss  die 
tactile  Empfindung,  von  da  bis  zum  Scheitel  die  tactile  und  die  Schmerz- 
empfindung. 

Auf  der  1.  Körperhälfte,  ausgenommen  Hals  und  Gesicht,  wo  alle 
Empfindungsqualitäten  fehlen,  besteht  cutane  Hyperästhesie,  bei  Verlust 
der  tiefen  Sensibilität. 

Diese  Sensibilitätsstörungen  schwanken  in  der  folgeuden  mehr- 
wöchentlichen Beobachtungszeit  sehr.  Unter  Elektrisation  und  Wach- 
suggestionen stellt  sich  die  Gehfähigkeit  allmälig  wieder  her.  Pat. 
erklärt  sich  für  genügend  hergestellt,  um  ihren  häuslichen  Pflichten 
wieder  nachkommen  zu  können  und  verlässt  das  Spital. 

2.  Fälle  von  spastischer  Lähmung. 

Beob.  7.  Frau  Z.,  27  J.,  Grosskaufmannsgattin,  wurde  mir  am 
27.  9.  91  anlässlich  einer  Consultation  vorgestellt.  Aus  neuropathischer 
Familie,  von  jeher  nervösen,  lebhaften  Temperamentes,  seit  8  J.  verhei- 
rathet,  Mutter  eines  7jährigen,  gesunden  Kindes,  früher  nie  erheblich 
krank  gewesen,  hat  sich  die  Dame  im  letzten  Jahr  sehr  darüber  ge- 
kränkt, dass  sie,  der  Berufsverhältnisse  ihres  Mannes  halber,  die  "Welt- 
stadt, in  welcher  sie  bisher  gelebt  hatte,  meiden  musste.  Sie  wurde 
verstimmt,  bekam  Weinkrämpfe,  Globus,  ass,  schlief  schlecht,  magerte 
ab,  ermüdete  rasch,  ging  nach  Franzensbad,  langweilte  sich  dort,  über- 
müdete   sich    mit    Spazierengehen,    empfand    Schwere-,    Schmerz-    und 


90    II-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  dee  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Schwächegefühl  zuerst  in  der  r.,  dann  auch  der  1.  UE.,  knickte  oft 
ein  mit  dem  Fuss,  stolperte.  Schmerzen  und  Schwäche  nahmen  immer 
mehr  zu,  Pat.  machte  sich  mit  dem  Gedanken  vertraut,  von  einer 
Rückenmarkslähmung  heimgesucht  zu  sein. 

Im  Laufe  des  Juli  kamen  rheumatoide  Schmerzen  in  den  OE.,  fast 
gleichzeitig  Erscheinungen  von  Spinalirritation. 

Anfang  August  wurde  die  r.  OE.  schwach  und  fing  an  abzumagern. 
Die  UE.  wurden  ganz   gelähmt  und  hoten  episodisch  Streckcontractur. 

Die  hervorragendsten  Aerzte  wurden  zu  Rathe  gezogen.  Zwei 
stellten  die  Diagnose  auf  hysterische  Lähmung,  ein  anderer  Hess  die 
Frage  offen,  ob  es  sich  um  Myelitis  oder  Polyneuritis  handle,  ein  vierter 
sprach  gar  von  der  Möglichkeit  einer  Pacchymeningitis  cervicalis. 
Pat.  bekam  Jodkali  und  wurde  an  der  Wirbelsäule  galvanisirt.  Später 
versuchte  man  Magnetotherapie,  Hydrotherapie,  als  dies  nichts  half, 
Hypnose,  jedoch  war  Pat.  nicht  in  Schlaf  zu  bringen. 

Slat.  praes.  27.  9.  91:  Zarte,  etwas  magere,  sehr  intelligente  Frau. 
Keine  Stigmata  hysteriae.  Cerebralnerven  ohne  Befund,  Augenspiegel 
ergiebt  normalen  Augenhintergrund.  Die  r.  OE.  ist  um  1,5—2  cm 
gegen  die  linke  im  Volumen  reducirt.  Besonders  auffällig  ist  die  Muskel- 
atrophie in  den  Muskeln  des  Daumenballens  und  in  den  Interossei.  Die 
r.  Vola  manus  etwas  abgeplattet.  Die  Kraft  der  Interossei  ist  sehr,  in 
allen  übrigen  Muskelgebieten  etwas  herabgesetzt,  jedoch  sind  alle  Einzel- 
bewegungen erhalten.  Der  Druck  der  Hand  r.  kraftlos,  1.  normal.  In 
der  Muskulatur  der  r.  OE.  finden  sich  da  und  dort  fibrilläre  Zuckungen. 
Die  elektrische  Untersuchung  ergiebt  normale  Reactionen.  Die  tiefen 
Reflexe  sind  vorhanden. 

Cutane  trophische  oder  vasomotorische  Störungen  bestehen  nicht 
Die  Sensibilität  im  Bereich  der  r.  OE.  normal.  Nirgends  Druckschmerz- 
haftigkeit  der  NN.  oder  MM.  Die  1.  OE.  ist  in  allen  ihren  Functionen 
normal,  Pat.  kann  sich  ohne  Unterstützung  im  Bett  nicht  aufrichten. 
Die  Wirbelsäule  ist  anatomisch  unverändert.  Interscapular  und  dorsal 
besteht  Druckempfindlichkeit  einiger  Wirbeldornfortsätze. 

An  den  UE.  findet  sich  das  Bild  völliger  Paraplegie.  Die  Lähmung 
ist  eine  schlaffe,  der  Muskeltonus  ist  gesunken.  Das  Volumen  der 
Muskeln  ist  allgemein  etwas  reducirt,  aber  beiderseits  in  gleichem  Maasse, 
und  offenbar  handelt  es  sich  um  blosse  Inactivitätsatrophie.  Die  elek- 
trische Erregbarkeit  ist  normal,  die  elektromuskuläre  Sensibilität  herab- 
gesetzt, aber  erhalten.  Beiderseits  Patellarreflex  sehr  gesteigert  und 
Fussklonus.  Plantarreflex  fehlt.  Die  cutane  Sensibilität  ist  für  alle 
Qualitäten  bis  zur  Beckenapertur  herauf  bedeutend  reducirt,  im  Bereich 
der  Genitalien  und  des  Perineum  jedoch  erhalten.    Die  tiefe  Sensibilität 


Paraplegia  hysterica.  91 

fehlt  in  den  UE.  Pat.  wird  sich  der  Lage  ihrer  Beine  und  passiver 
Bewegungen  derselben  nicht  bewusst.  Plantarreflex  erhalten.  Die 
Functionen  von  Blase  und  Rectum  ungestört. 

Meine  Diagnose  lautete:  (Hysterische)  functionelle  Paraplegie  der 
Unterextremitäten,  möglicherweise  Residuen  von  Neuritis  in  r.  OE. 

13.  10.  91.  In  r.  OE.  keine  Aenderung.  Häufig  paralgisches 
Brennen  am  condyl.  ext.  des  EHbogengelenks. 

In  UE.  Klagen  über  Versteifung  und  minutenlange  Contractionen 
in  den  Streckern  des  Kniegelenks  und  den  Volarflexoren  des  Fuss- 
gelenks.  R.  Andeutung  von  Varoequinus.  Cutane  Anästhesie  r.  bis 
zur  Höhe  des  Umbilicus,  1.  bis  zur  Beckenapertur,  aber  inselförmiges 
Erhaltensein  der  Sensibilität  im  Bereich  der  Genitalien  und  des  Dammes. 
Eine  Zone  cutaner  Hypästhesie  reicht  r.  bis  zur  Mammarlinie  herauf,  1.  bis 
3  Querfinger  unterhalb.  Diese  Grenzen  sind  nach  oben  sehr  schwankende. 
Massage,  faradische  Pinselung,  Faradisation  der  Muskeln  im  Lähmungs- 
gebiet. 

Im  Verlaufe  des  Winters  1891/92  bot  Pat.  ein  recht  Wechsel  volles 
Krankheitsbild. 

Die  Beweglichkeit  des  Rumpfes  stellte  sich  im  December  1891  wieder 
ein,  sodass.  Pat.  frei  sich  aufsetzen  konnte,  die  Paraplegie  der  UE.  be- 
stand trotz  aller  Heilbestrebungen  fort.  Es  entwickelten  sich  fast  per- 
manente Streckcontracturen  allenthalben,  so  dass  die  muskuläre  Faradisa- 
tion eingestellt  werden  musste.  Vorübergehend  bestand  deutliche  Diathese 
de  contracture.  Pat.  war  von  massenhaften  paralgischen  Sensationen 
(qualvolles  Brennen  u.  s.  w)  in  den  UE.  (besonders  r.)  und  am  Ab- 
domen, von  heftigen  neuralgischen  Beschwerden  an  Nacken,  in  r.  Schulter, 
ausstrahlend  bis  in  die  Fingerspitzen,  gequält.  Die  Schmerzen  in  der 
r.  OE.  wurden  als  identisch  den  ursprünglichen,  mit  Muskelatrophie  ver- 
bundenen, bezeichnet. 

Die  Neuralgien  und  Paralgien  waren  jeweils  von  Contracturen  be- 
gleitet und  schienen  diese  hervorzurufen. 

Die  Atrophie  in  der  r.  OE.  schwand  bis  zum  December  1891  voll- 
ständig, sodass  Pat.  die  feinsten  Leistungen  (Schreiben,  Handarbeiten) 
wieder  verrichten  konnte. 

Die  Sensibilitätsverhältnisse  waren  sehr  wechselnde.  Auf  der  r. 
Seite  entwickelte  sich  die  Anästhesie  bis  zum  Januar  1892  bis  zur  Höhe 
der  2.  Rippe,  links  änderte  sich  nichts  bis  zum  Februar.  Von  da  ab 
bestand  durch  2  Wochen  1.  an  Brust  und  Abdomen  Hyperalgesie.  Sie 
leitete  eine  nahezu  vollständige  Wiederherstellung  der  cutanen  Sensi- 
bilität 1.  ein.  Eines  Tages  erschien  Transfert  der  Sensibilität  von  1. 
nach   r.     Dazu   entwickelte  sich  1.  Hyperalgesie.     Diese  Aenderung  der 


92     II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Sensibilität  erhielt  sich.  Trophische  und  vasomotorische  Störungen  be- 
standen nicht  im  Lähmungsgebiet.  Die  tiefen  Reflexe  blieben  andauernd 
hochgradig  gesteigert.  Die  Blasenfunction  war  sehr  gestört.  Sphincter- 
krampf  und  Parese  wechselten  ganz  regellos,  die  Krampferscheinungen 
überwogen.  Vorübergehend  kam  es  zu  Anaesthesia  vaginae,  vesicae, 
recti.     Gelegentlich  wurden  Globus  und  Weinkrampf  beobachtet. 

Der  Augenspiegel  bot  negativen  Befund.  Das  Gesichtsfeld  war  für 
Weiss   nie    eingeschränkt,  vorübergehend    für  Farben  (roth,  gelb,  blau). 

Die  Behandlung  bestand  in  elektrischen  Bädern,  faradischer  Pinselung, 
später  Einpackungen  mit  folgendem  Halbbad. 

Nach  einer  Unterbrechung  von  einigen  Monaten  begab  sich  Pat. 
wieder  in  meine  Behandlung.  Bei  der  Wiederaufnahme  derselben  An- 
fang September  1892  bot  sie  folgenden  Befund: 

Hirnnerven  ohne  Befund.  Stimmung  gedrückt,  Hoffnung  auf  Ge- 
nesung sehr  herabgesetzt.  Oefters  Weinkrämpfe.  In  r.  OE.  ab  und  zu 
Schmerzen,  anlässlich  Manipulationen  gelegentlich  krampfhafte  Streckung 
einzelner  Finger.  Noch  öfter  fibrilläre  Zuckungen  im  Gebiet  der 
Ulnarismuskeln. 

L.  OE.  in  allen  ihren  Functionen  intact.  Rumpfbewegung  ungehindert. 
Häufig  r.  Ovarie  mit  Irradiation  der  Schmerzen  in  die  r.  UE.  Dysurie, 
wechselnd  mit  Incontinentia. 

An  den  TJE.  nach  wie  vor  Paraplegie.  Contracturen  selten,  nur 
mehr  auf  Adductoren  und  Muskeln  der  Sprunggelenke  beschränkt. 
Deutliche  locale  Diatbese  de  contracture.  Beim  Stellen  der  Pat.  auf  die 
Füsse  tritt  allgemeine  Versteifung  der  UE.  ein.  Die  Contracturen  je- 
weils mit  Spinalirritation,  Paralgien  in  der  Kreuzgegend  und  brennenden 
Schmerzen  in  r.  UE.  erscheinend,  ruenstrual  besonders  intensiv. 

Die  Sensibilität  der  r.  UE.  ist  quoad  Tastsensibilität  und  Localisation 
sowie  tiefer  Sensibilität  wieder  hergestellt,  es  besteht  aber  Analgesie 
und  Thermoanästhesie.  An  der  1.  UE.  wird  Wiederkehr  der  tiefen  und 
der  tactilen  Sensibilität  constatirt;  dabei  thermische  Anästhesie  und 
Hyperalgesie.  Der  Plantarreflex  ist  beiderseits  leicht  zu  erzielen.  Die 
tiefen  Reflexe  sind  gesteigert,  r.  bis  zu  Fussclonus,  der  1.  nicht  mehr 
hervorzurufen  ist.  Vasomotorische  und  trophische  Störungen  bestehen 
nicht.  Unter  1.  Pinseihehandlung  und  Faradisation  der  Gelenke  erfolgt 
weitere  Aufbesserung  der  gestörten  Sensibilität,  aber  die  Paraplegie 
ändert  sich  nicht.  Man  gewinnt  den  Eindruck,  dass  unbewusst  bleibende 
Hemmungseinflüsse  die  Bethätigung  des  Willens  verhindern.  Die  Stö- 
rungen der  Blase  schwinden  im  Laufe  des  Octobers. 

Ende  November  trat  Pat.  aus  meiner  Behandlung  aus,  um  den 
Winter  im  Süden  zuzubringen. 


Paraplegia  hysterica.  93 

Die  letzten  Nachrichten  über  die  bedauernswerthe  Kranke  reichen 
bis  zum  April  1893. 

Keine  wesentliche  Aenderung  im  Lähmungsgebiet.  Episodisch  war 
die  1.  UE.  willkürlich  etwas  beweglich.  Seit  März  1893,  unter  brennenden 
Schmerzen  in  der  1.  OE.,  Schwäche  und  fortschreitende  Atrophie,  ganz 
besonders  in  den  Muskeln  des  Daumenballens  und  der  Lumbricales, 
ganz  ähnlich,  wie  seiner  Zeit  die  trophische  Störung  in  der  r.  OE.  be- 
gonnen hatte  (hysterische  Muskelatrophie?). 

Beob.  8. 

K.,  25  J.,  ledig,  Bedienstete,  aufgenommen  28.  10.  90,  stammt  an- 
geblich aus  gesunder  Familie,  wurde  mit  12  J.  menstruirt,  litt  in  der 
Folge  an  Menstrualkoliken ,  war  von  jeher  nervös,  emotiv,  hatte  nie 
schwere  Krankheiten  durchgemacht.  Pat.  hatte  vor  5  J.  heftige  Gemüths- 
bewegungen  erfahren.  Als  sie  bald  darauf  Nachts  auf  den  Corridor 
ihrer  Wohnung  ging,  empfand  sie  plötzlich  einen  heftigen  Schmerz  in 
Rücken  und  Kreuz,  fiel,  einen  Schrei  ausstossend,  bewusstlos  zu  Boden. 
Sie  bekam  nun  angeblich  Fieber,  delirirte  und  die  Aerzte  diagnosticirten 
„Nervenfieber".  Es  dürfte  sich  jedoch  um  ein  Delir.  hystericum  ge- 
handelt haben,  denn  Pat.  hatte  dabei  häufige  Anfälle  von  etwa  3  Stunden 
Dauer,  mit  Verlust  des  Bewusstseins ,  allgemeiner  Starre  und  Trismus 
(Katochus?).  Auch  nach  Ablauf  dieser  etwa  5  Wochen  währenden 
deliranten  Periode  kehrten  solche  Erstarrungsanfälle,  besonders  nach 
Emotionen,  häufig  wieder  und  verloren  sich  erst  1889. 

Als  Pat.  in  der  6.  Woche  ihrer  Krankheit  aufstehen  wollte,  empfand 
sie  Schwere,  Schwäche,  Vertaubung  in  den  UE.  Aerztlicherseits  wurde 
der  Verdacht  einer  sich  entwickelnden  Rückenmarkskrankheit  geäussert. 
Es  entwickelte  sich  nun  eine  Lähmung  der  UE.  mit  Versteifung  der- 
selben und  Contracturen ,  gegen  welche  Tenotomie  in  Aussicht  gestellt 
wurde.  Pat.  war  präoccupirt  vom  Gedanken  eines  schweren  Rückenmarks- 
leidens. 

Nach  2  Monaten  war  sie  unfähig,  ihre  Beine  zu  bewegen,  auch  sich 
aus  der  horizontalen  Lage  zu  erheben.  Zugleich  entwickelte  sich  Incon- 
tinentia urinae. 

Nach  3/4  Jahren  kam  wieder  etwas  Gefühl  in  die  Füsse,  die  Steif- 
heit liess  nach.  Pat.  konnte  wieder  aufsitzen,  etwas  gehen,  aber  der 
Gang  blieb  schleppend,  schwerfällig. 

Ein  ärztlicher  Befund  vom  28.  10.  90  lautet:  Paraparese,  Muskel- 
tonus sehr  gesunken,  besonders  links.  Nirgends  Rigidität,  Patellar-  und 
Achillesreflex  bis  nahe  an  Klonus  gesteigert.  Keine  trophische,  keine 
vasomotorische  Erscheinungen.  Elektrische  Erregbarkeit  normal,  aber 
fehlende  elektrocutane  Sensibilität.     Verlust  der  cutanen  Sensibilität  in 


94     II-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

allen  ihren  Qualitäten  an  UE.  aufwärts  bis  dicht  über  dem  Kniegelenk 
Der  Sensibilitätsausfall  schneidet  hier  ringförmig  ab  und  macht  einer 
Zone  nur  leicht  herabgesetzter  Empfindung  Platz,  die  in  der  Höhe  des 
Beckens  normaler  Sensibilität  weicht. 

Die  riefe  Sensibilität  fehlt  in  Zehen-,  Fuss-,  Kniegelenken,  ist  sehr 
herabgesetzt  im  Hüftgelenk.  Die  ganze  Wirbelsäule  wie  auch  das  Kreuz- 
bein sind  höchst  druckempfindlich. 

Am  Stamm,  OE.  und  im  Gebiet  der  Hirnnerven  absolut  keine 
Functionsstörungen.     Vergebens  wird  nach  Stigmata  hysteriae  gefahndet. 

Pat.  wird  in  ambulatorische  Behandlung  genommen,  am  Rücken 
galvanisirt,  an  den  Extremitäten  faradisirt. 

Diese  Behandlung  hat  wenig  Erfolg  und  Pat.  bleibt  geraume  Zeit  weg. 

Am  17.  11.  91  kommt  sie  wieder.  Sie  geht  mit  r.  Krücke  und  1. 
Eegenschirm.  Der  Gang  ist  langsam,  Pat.  rollt  beim  Gehen  förmlich 
die  Füsse  bis  zur  Spitze  auf,  ohne  jedoch  am  Boden  anzustreifen.  Sie 
geht  vorsichtig,  unbeholfen,  leicht  schwankend,  die  r.  UE.  versagt  mehr 
als  die  1. 

Alle  Einzelbewegungen  sind  möglich,  aber  die  Innervation  der  ver- 
schiedenen Muskelgruppen  erfolgt  auffällig  ungeschickt,  unter  Innerva- 
tion nicht  zugehöriger  Muskeln,  gleichwie  wenn  Pat.  defect  in  ihren 
Bewegungsanschauungen  wäre.  Die  Innervationsenergie  ist  eine  geringe, 
Pat.  ermüdet  rasch.  Das  Gehen  ist  psychisch  sehr  beeinflusst,  durch 
Suggestion  und  indem  Pat.  sich  einhängt,  sehr  beeinflnssbar,  im  All- 
gemeinen sehr  wechselnd.  Pat.  ist  sich  dieses  Umstandes  selbst  bewusst. 
Sie  gesteht,  dass  sie  den  ihr  ärztlich  suggerirten  Gedanken  einer 
Rückenmarkslähmung  nicht  los  werde,  der  zudem  in  der  Schwäche, 
Insufficienz,  Schwere  und  Gefühllosigkeit  der  Beine  beständig  Nah- 
rung finde. 

Der  Befund  ist  wesentlich  der  gleiche  wie  Ende  1890  —  sehr  ge- 
sunkener Muskeltonus,  keine  Bigidität,  keine  Ataxie,  sehr  gesteigerte 
tiefe  Reflexe,  fehlende  tiefe  Sensibilität,  Romberg.  Die  ringförmige  cutane 
Anästhesie  ist  tiefer  gerückt,  bis  unter  das  Knie.    Der  Plantarreflex  fehlt. 

Wachsuggestionen  sind  gegen  die  Autosuggestion  erfolglos.  Man 
entschliesst  sich  zu  Hypnose.  Sie  gelingt  nach  der  Wetterstrand'schen 
Methode  (Chloroform).  Pat.  kommt  in  tiefes  Engourdissement.  Man 
versucht  die  Idee,  rückenmarkskrank  zu  sein,  abzusuggeriren  und  ver- 
spricht völlige  Genesung.  Faradische  Pinselbehandlung  der  anästheti- 
schen Gebiete,  faradische  Durchströmung  der  anästhetischen  Gelenke 
unterstützt  die  psychische  Behandlung. 

Als  Pat.  am  1.  6.  12  aus  der  Behandlung  austrat,  waren  alle  Be- 


Paraplegia  hysterica.  95 

schwerden,  bis  auf  geringfügige  Amyosthenie  und  etwas  gesteigerte  tiefe 
Eeflexe  der  UE.,  geschwunden. 

Beob.  9. 

P.,  29  J.,  Beamtensgattin,  angeblich  unbelastet,  als  Kind  an  Rachitis 
leidend  gewesen,  mit  20  J.  menstruirt,  in  der  Folge  immer  dysmenorrhoisch, 
hatte  im  März  1890  ihre  erste  Geburt  (Frühgeburt)  ohne  Beschwerden 
überstanden.  Auch  das  "Wochenbett  war  normal  verlaufen.  Pat.  hatte 
schon  vor  der  Entbindung  heftige  Gemüthsbewegungen  gehabt,  war 
immer  eine  zarte,  nervöse  Persönlichkeit  gewesen.  Als  sie  am  11.  Tage 
post  partum,  sich  ganz  wohl  fühlend,  aufstand,  bemerkte  sie  Ameisen- 
laufen in  den  Füssen,  das  etwa  14  Tage  anhielt.  Im  Juli  1890,  nach 
neuerlichen  Gemüthsbewegungen,  Herzklopfen,  Angstgefühle,  Athemnoth. 
Anfang  1891  begann  Brennen  in  den  Fusssohlen,  Vertaubung  daselbst, 
„als  ob  kein  Fleisch,  sondern  "Watte  an  den  Beinen  wäre",  die  sich  all- 
mählich bis  zur  Höhe  des  Nabels  herauf  erstreckte. 

Um  den  20.  2.  91  entwickelte  sich  ein  lästiges  Gürtelgefühl  um  die 
Taille,  Paraparese  der  UE.,  Gefühl,  als  ob  Pat.  auf  Bürsten  ginge,  Steif- 
heit, Spannung  der  UE.,  Obstipation. 

Stat.  praes.  März  1891:  Schwächliche,  anämische,  nervöse,  kleine 
Persönlichkeit.  Spuren  von  Rachitis  am  Schädel.  Keine  Stigmata 
hysteriae.  Klagen  über  nagenden,  stechenden  Schmerz  im  Dorsaltheil 
der  Wirbelsäule,  starke  Druckempfindlichkeit  sämmtlicher  Dorsalwirbel, 
aber  keine  anatomischen  Veränderungen.  Von  Seiten  der  Hirnnerven 
kein  Befund.  Leichter  Tremor  der  OE.  Ameisenlaufen  in  den  Fingern 
beider  Hände,  Gefühl  von  Gespanntsein  in  der  I.  OE.  In  den  OE.  aber 
kein  objectiver  pathologischer  Befund. 

Giirtelgefühl  in  der  Höhe  des  Nabels. 

In  den  UE.  grosse  Muskelschwäche,  Einzelbewegungen  erhalten. 
Paraparetischer  spastischer  Gang,  nicht  schwankend,  nicht  atactisch, 
Romberg  negativ.  Patellarreflex  hochgesteigert,  r.  Fussclonus,  1.  an- 
gedeutet.    Sensibilität  ungestört,  Plantarreflex  prompt. 

Die  Diagnose  wurde  auf  Myelitis  transversa  gestellt,  Pat.  mit 
Galvanisation  der  Wirbelsäule,  Extr.  Seealis  cornut.  0,5,  extr.  Bella- 
donn  0,05  pro  die  behandelt.  Es  zeigte  sich  eine  auffallende  Besserung 
und  Anfang  Juni  1891  waren  alle  Störungen  geschwunden. 

Mitte  März  1893  Recidive,  angeblich  nach  Gemüthsbewegungen. 
Pat.  will  in  der  Zwischenzeit,  bis  auf  zeitweilige  Spinalirritation  im 
Dorsaltheil  der  Wirbelsäule,  ganz  wohl  und  leistungsfähig  gewesen  sein. 

Um  den  15.  3.  hatte  sich  wieder  Vertaubung  der  Füsse  gezeigt, 
einige  Tage  darauf  Gürtelgefühl  in  der  Nabelhöhe,  Anfangs  zeitweilig, 


96     II-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

dann   continuirlich,   zugleich  mit  Schwere,  Schwäche,  und  rascher  Er- 
müdung der  UE. 

Mitte  April  litt  Pat.  durch  8  Tage  an  Amblyopie  des  1.  Auges. 
Der  ophthalmoskopische  Befund  war  ein  negativer  gewesen.  Ende  April 
begann  die  r.  UE.  beim  Gehact  am  Boden  zu  streifen. 

Der  Stat.  praes.  vom  1.  5.  93  ergab  einen  eigentümlichen,  mit 
einer  Myelitis  transversa  nicht  vereinbaren,  eher  an  M.  disseminata  er- 
innernden Befund. 

Pat.  anämisch,  schlecht  genährt.  Lues  nach  wie  vor  negirt  und 
Spuren  dieser  Krankheit  nicht  aufzuweisen.  Eieber,  überhaupt  Symp- 
tome, die  auf  eine  Infectionskrankheit  bezogen  werden  konnten,  waren 
der  diesmaligen  Erkrankung  nicht  vorausgegangen.  Stigmata  hysteriae 
sind  nicht  auffindbar. 

Von  Seiten  der  Hirnnerven  kein  Befund,  ausser  Intentionszittern 
der  Bulbi  und  fibrilläres  Zucken  der  Zunge.  Die  OE.  zeigen  leichten 
Tremor,  der  aber  auch  in  der  Ruhe  besteht,  und  gesteigerte  tiefe  Reflexe. 

Am  Stamm  finden  sich  keine  Functionsstörungen. 

Der  Gang  ist  spastisch  und  anstreifend.  In  der  1.  UE.  ist  die 
active  Beweglichkeit  im  Ileopsoas  und  in  den  Plantarflexoren  des 
Fusses  herabgesetzt.  In  der  r.  UE.  ist  die  grobe  Muskelkraft  minimal 
im  Ileopsoas,  etwas  herabgesetzt  im  Qudriceps,  sehr  bedeutend  reducirt 
im  Peroneus-  und  Tibialisgebiet.  Patellar-  und  Achillesreflex  sind  beider- 
seits sehr  gesteigert.  Rigor  bei  passiven  Bewegungen  besteht  nicht.  Die 
ausgestreckten  UE.  zeigen  Intentionstremor. 

An  beiden  Oberschenkeln  und  an  der  Innenseite  des  1.  Unter- 
schenkels scharf  abgegrenztes  Gebiet  thermischer  Hypästhesie,  an  der 
Vorderfläche  der  Oberschenkel  bedeutende  tactile  Hypästhesie.  Sonst 
allenthalben  cutane  Sensibilität  intact.  Auch  die  tiefe  Sensibilität  er- 
weist sich  in  allen  Gelenken  der  UE.  ungeschädigt. 

Bis  zum  10.  5.  Stat.  idem,  bis  auf  leichten  Fussklonus  und  Rigidität 
in  r.  UE. 

Am  10.  5.,  unter  Zunahme  des  Gürtelgefühls  in  der  Höhe  des 
Epigastriums  und  Hyperästhesie  in  der  handbreiten  Gürtelgefühlszone, 
plötzlich  Paraplegie  und  Detrusorlähmung,  sodass  der  Urin  nur  mittelst 
Katheter  entleert  werden  kann.  Dabei  heftiges,  schmerzhaftes  Spannungs- 
gefühl im  Kreuz  und  Unfähigkeit,  sich  aufzurichten.  Obstipation.  In 
der  Gürtelzone  heftiges  Brennen.     Sensibilität  unverändert. 

Am  24.  5.  plötzliche  AViederkehr  der  Motilität  und  der  Blasen- 
function.  Schwinden  der  Obstipation  und  des  Gürtelgefühls.  Die  grobe 
Muskelkraft  ist  allenthalben  vorhanden;  passiv  besteht  kein  Rigor,  aber  beim 
Gehen  Spasmus  und  Spannungsgefühl.    Ablenkung  der  Aufmerksamkeit 


Paraplegia  hysterica.  97 

bessert  auffällig  den  Gang.  Tiefe  Keflexe  sehr  gesteigert,  beiderseits 
Fussklonus.  Hochgradige  Druckempfindlicbkeit  des  7.  üorsalwirbels  und 
des  ganzen  Kreuzbeins. 

Fortschreitende  Besserung. 

Beim  Stat.  retrospectivus  am  6.  7.  93  noch  etwas  Druckempfindlich- 
keit des  6.  Dorsalwirbels  und  der  Bahn  der  6.  Intercostalnerven.  Gefühl 
von  Druck  bei  Inspiration  und  bei  Streckung  der  Wirbelsäule  in  diesen 
Nervenbahnen.    Palpitation  und  leichte  Tachycardie. 

An  den  UE.  nur  noch  Steigerung  der  Patellarreflexe  und  r.  An- 
deutung von  Fussklonus.    Sonst  alle  Störungen  geschwunden,  u.  A.  auch 
das  Intentionszittern  der  Bulbi.     Pat.   fühlt  sich  gesund   und   tritt  aus 
der  Behandlung  aus. 
Beob.  10. 

L.,  52  J.,  Wittwe,  Handarbeiterin,  stammt  aus  einer  Familie,  in 
welcher  mehrfach  Erkrankungen  an  Tuberculose  und  an  üarcinom  vor- 
gekommen sind.  Sie  selbst  war  gesund,  bis  auf  Parametritis  und  In- 
fluenza, hat  3 mal  geboren  und  das  Klimacterium  vor  einigen  Jahren 
gut  überstanden. 

Am  4.  4.  91  erfuhr  sie  einen  heftigen  Schreck,  indem  sie  gewahr 
wurde,  dass  ein  Miether  sie  um  50  fl.,  ihre  ganze  Baarschaft,  bestohlen 
hatte.  Bei  dieser  Entdeckung  fiel  sie  bewusstlos  um,  kam  nach  einer 
halben  Stunde  zu  sich,  konnte  aber  eine  Stunde  lang  kein  Wort  sprechen. 
Dann  erholte  sie  sich  und  machte  die  Anzeige  bei  der  Polizei. 

Seit  diesem  Shok  erschrak  Pat.  sehr  leicht  und  fand  dann  nicht 
gleich  die  Worte  (Aphasie).  Ueber  den  Verlust  ihres  Geldes  vermochte 
sie  sich  nicht  zu  trösten  und  wurde  immer  emotiver  und  nervöser.  Im 
März  1892,  nach  einem  Sturz,  bekam  sie  Beschwerden,  die  auf  eine  r. 
Wanderniere  zurückgeführt  und  durch  eine  Ceinture  ziemlich  behoben 
wurden.  Am  10.  7.  92  wurde  sie  aus  dem  Schlaf  aufgeschreckt.  Sie 
war  vorübergehend  aphasisch,  zitterte  am  ganzen  Körper,  konnte  sich 
nicht  beruhigen,  schlief  kaum  in  der  Nacht  zum  11.,  und  als  sie  Morgens 
aufstehen  wollte,  stellten  sich  solches  Zittern  und  Schmerzen  in  den 
Beinen  ein,  dass  sie  darauf  verzichten  musste.  Bis  Mitte  September 
1892  entwickelte  sich  eine  schlaffe  Paraplegie,  um  deren  willen  Pat. 
am  18.  9.  92  sich  im  Spital  aufnehmen  Hess. 

Stat.:  Gracile,  abgemagerte,  blasse  Frau;  ausser  chron.  Bronchial- 
katarrh und  r.  Wanderniere  vegetativ  kein  Befund.  Pat.  klagt  über 
allgemeine  Schmerzhaftigkeit.  Thatsächlich  sind  alle  tastbaren  Nerven 
auf  Druck  höchst  empfindlich,  desgleichen  die  Wirbelsäule.  Allgemeiner 
continuirlicher  Tremor,  r.  stärker  als  1.,  intentionell  sehr  gesteigert. 
Cutane  Hypästhesie  im  Bereich  der  UE.     Anscheinend  Paraplegie  mit 

Krafft-Ebinfr,  Arbeiten  II.  7 


98       II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Streckcontractur  der  UE.,  beiderseits  Pes  varoeqninus-Stellung.  Activ  ist 
die  r.  UE.  bewegungslos,  passiv  hindert  die  Contractur  die  Bewegung. 
An  der  1.  UE.  geringer  Bewegungseffect,  der  aber  sofort,  gleichwie 
passive  Bewegung,  die  Contractur  auslöst.  Continuirlicher  Klonus  im 
r.  Quadrineps,  der  bei  activer  oder  passiver  Bewegung  gelegentlich  auch 
1.  beobachtet  wird.     Patellarreflex  sehr  gesteigert. 

Am  29.  9.  liess  sich  Pat.  auf  die  Klinik  transferiren.  Die  Hyp- 
ästhesie  hatte  sich  auf  die  ganze  r.  Körperhälfte  ausgebreitet.  An  der 
r.  UE.  bestand  auch  in  der  Ruhe  ein  permanenter  Schütteltremor.  Alle 
Nervenstämme  waren  sehr  druckschmerzhaft.  Pat.  war  unerschöpflich 
in  Klagen  über  reissende  Schmerzen  im  Gebiet  des  ganzen  r.  N.  ischia- 
dicus,  über  Ameisenkriechen  und  cutane  Schmerzen  am  ganzen  Körper, 
als  ob  1000  Nadeln  eingestochen  würden. 

Magnetotherapie  und  Wachsuggestionen  waren  wirkungslos.  Pat. 
verweilte  an  der  Klinik  nur  kurze  Zeit.  Bei  der  Entlassung,  Ende  No- 
vember 1892,  war  sie  leidlich  gehfähig,  aber  r.  spastisch,  1-  sehr  aniy- 
osthenisch.  Der  Schüttelkrampf  hatte  auch  die  r.  OE.  ergriffen.  Die 
spontane  und  auf  Druck  entstehende  Schmerzhaftigkeit  hatte  sich  ver- 
mindert. Die  r.  Hemianästhesie  war  weiter  vorgeschritten,  insofern  zur 
tactilen  Hypästhesie  Analgesie  getreten  war  und,  ringförmig  unter  dem 
Knie  beginnend  und  bis  zu  den  Zehen  reichend,  Anästhesie  für  alle 
Qualitäten  bestand.  Die  tiefe  Sensibilität  war  in  den  r.  2.  und  3.  Zehen- 
gelenken Null,  im  1.  Gelenk  dumpf,  im  Fussgelenk  gering  herabgesetzt, 
in  den  höheren  Gelenken  intact.  Die  1.  Körperhälfte  bot  nirgends 
Sensibilitätsstörungen.  Die  Sinnesorgane  waren  r.  und  1.  unbetheiligt 
Pat.  wurde  mit  Magnet  und  Elektricität  behandelt. 

Beob.  11.  Souques  (op.  cit.  p.  105),  Paraplegia  hyster.  mit 
Incontinentia  urinae. 

J.,  21  J.,  Arbeiterin,  aufg.  9.  3.  90,  erblich  belastet,  hatte  Convulsionen  als  Kind, 
Enuresis,  später  nach  Schreck  mehnnonatliche  Chorea.  Mit  15  J.  begannen  Hysteria 
gravis-Anfälle,  die  von  der  Heirath  (mit  18  J.)  an  seltener  werden. 

Am  9.  2.  90,  Schreck'über  den  betrunkenen,  sie  mit  einem  Messer  bedrohenden 
Ehemann.  Hysterieanfall  mit  retroactiver  Amnesie.  Am  folgenden  Morgen  beginnt 
Schwäche  der  UE.,  die  in  wenigen  Tagen  zur  Paraplegie  wird.  Aus  Verzweiflung  über 
die  vermeintlich  unheilbare  Erkrankung  Selbstmordversuch. 

Im  Spital  Paraplegie  mit  Contractur,  heftige  Schmerzen  in  der  Kniegegend, 
cutane  Hyperästhesie  von  Schenkelmitte  bis  zum  Fuss,  schmerzhafte  hyperästhetische 
Plaques  an  Sternum,  Vertex,  Armen  und  Rücken.  Eine  Keine  von  hyster.  Stigmata, 
Sphincterenlähmung.  Unter  Hydrotherapie  bedeutende  Besserung,  aber  episodisch 
Chorea  rhythmica  der  1.  OE.  und  Aphonie. 

Im  August  90  hyperästhet.  Plaques  an  den  Kniescheiben,  anästhetische  Plaques 
da  und  dort,  Spinalirritation,  1.  Ovarie  und  spasmogene  Zone.  Sonstige  Stigmata  hyst. 
Chorea  rhythmica.     Paraparese.    Incontinentia  urinae.    Hysterischer  Charakter. 


Paraplegia  hysterica.  99 

Beob.  12.     Souques  (op.  cit.  p.  109). 

M.,  13  J.,  aufg.  19. 3.  90,  aus  nervös  unbelasteter  aber  tuberculöser  Familie,  früher 
nie  bemerkenswerth  krank  gewesen,  litt  seit  seiner  Uebersiedlung  nach  Paris  vor  l*/2  J- 
an  häufiger  Cephalaea  mit  Erbrechen,  sodass  mau  an  tuberculöse  Erkrankung  im  Ge- 
hirn dachte.  Am  22.  12.  89  begann  zunehmendes  Kopfweh,  am  28.  Starrkrampfanfall. 
Seither  zunehmende  Schwäche  der  UE.,  enorme  Steigerung  der  tiefen  Reflexe,  Rigor, 
Streckcontracturen.  Pat.  wurde  mit  Diagnose:  piimäre  Sclerose  der  Seitenstränge  zu 
Charcot  gesandt. 

Stat.:  Keine  Stigmata  hysteriae,  nirgends  Sensibilitätsstörungen.  Keine  Störungen 
der  Sphincteren.  Gehirnnerven,  OE.  ohne  Befund.  UE.  in  completer  Streckcontractur  mit 
maximaler  Dorsalflexion  im  Fussgelenk.  Willkürlich  beweglich  nur  die  Zehen.  Tiefe  Reflexe 
enorm  gesteigert.  Pat.  steht  ganz  unter  der  Suggestion,  dass  ihm  in  Paris  geholfen 
werde.  Während  man  noch  an  die  Möglichkeit  einer  Compressionslähmung  oder  eines 
medullären  Tuberculoms  denkt,  fängt  Pat.  unter  der  Autosuggestion,  die  Function  der 
Beine  kehre  wieder,  zu  gehen  an,  Anfangs  rasch  ermüdend. 

Am  folgenden  Tage  ist  er  gesund  bis  auf  Steigerung  der  Reflexe,  die  aber  im 
Laufe  der  nächsten  Monate  sich  ebenfalls  verliert. 

Beob.  13.     Souques  (op.  cit.  p.  94). 

Fräulein  B.,  20  J.,  aufg.  29.  1.  81,  gross,  kräftig,  aus  belasteter  Familie,  früher 
nicht  nervös,  erleidet  Mai  79,  anlässlich  Sturz  mildem  Wagen,  eine  leichte  Hirnerschüt- 
terung und  Wunde  über  1.  Augenbraue.  Seither  kränkelnd.  December  Ovarie,  Meteo- 
rismus, Constipation,  später  hysterische  Krisen,  Charakteränderung,  bellender  Husten. 
Anfang  März  beginnt  1.  dorsale  Hyperästhesie  und  Schmerz  mit  1.  Hemiamyosthenie. 
Unter  Ausbreitung  der  Hyperästhesie  über  den  ganzen  1.  Stamm.  Entwicklung  von 
Paraplegie. 

Stat.  29.  1.  81.  Paraplegie  mit  Strecket ntractur,  episodisch  sich  lösend,  mit 
Freiheit  willkürlicher  Bewegung.  Patellarreflexe  gesteigert.  Fussclonus.  L.  Ovarie  mit 
ascendirender  Aura,  1.  cutane  Hemih) perästhesie  für  alle  Qualitäten.  Gang  möglich 
mit  r.  Krücke,  scharrend,  aber  ohne  Rückstoss,  wie  bei  spast.  Spinalparalyse.  Schmerz 
und  Rigor  scheinen  die  Gangstörung  zu  bedingen.  Kautschukgefühl  in  den  Beinen, 
Schwanken  bei  geschlossenen  Augen,  fehlender  Plantarreflex. 

Ende  1881  nach  Traum,  Cbarcot  drohe  ihr,  wenn  sie  nicht  bald  gehe,  werde  sie 
von  den  geliebten  Angehörigen  getrennt,  vermag  Pat.  plötzlich  zu  gehen,  schleift  aber 
das  1.  Bein,  hat  gesteigerte  1.  Hemibyperiisthesie,  die  aber  bald  durch  eine  Analgesie 
ersetzt  wird.  Pat.  hatte  nach  jenem  schrecklichen  Traum  die  Hülfe  der  Mutter  Gottes 
angerufen  und  plötzlich  zu  gehen  begonnen. 

1882  noch  leichter  Rigor,  1.  Hyperästhesie,  Spinalschmerz,  1.  Parese,  gesteigerte 
tiefe  Reflexe.  Allmählich  auch  Schwinden  dieser  Krankheitsreste.  Heirath,  Geburten, 
dauernde  Genesung. 

Bemerkenswerthe  weitere  Casuistik: 

Huchard  (These  de  Paris  1881).  Hysterische  Lähmung,  eine  syphilitische 
Paraplegie  vortäuschend:  Ch.,  40  J.,  Schneiderin,  aufg.  10.  4.  80.  Hysteribche  Antece- 
dentien,  Lues  mit  18  J.  Mit  31  J.,  nach  Streit  mit  dem  Mann,  plötzlich  schlaffe  und 
schlaff  bleibende  Paraplegie.  Keine  Sensibilitätsstörung.  Nach  15  Monaten  spontan 
plötzlich  Genesung.  Später  Aphonie.  Neuerlich  Recidive  der  schlaffen  Paraplegie. 
Auch  diesmal  Sensibilität  intact.  Tiefe  Reflexe  minimal.  Dorsolumbale  und  epigastrale 
Schmerzpunkte  hysterischen  Charakters.  Keine  Stigmata  hysteriae.  Sphincteren  intact. 
Allmälige  und  dauernde  Genesung. 

7* 


100      n.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Sperling,  Neurolog.  Centralhlatt  1888.  E.,  14  J.,  zunehmende  Schwäche 
der  UE.  Nachschleifen  der  Beine.  Lumbarwirbel  schmerzhaft.  Sphincteren  intact, 
tiefe  Kenexe  gesteigert,  Fussclonus.  Sensibilität  intact.  Wahrscheinliche  Diagnose: 
„myelitis  tubcl."-    Nach  2  Monaten  Genesung. 

Pontoppidan,  Centralbl.  f.  Nervenkrankh.  1886.  Mann,  36  J.,  von  hy- 
sterischer Mutter,  erkrankt  plötzlich  nach  Emotion  an  Paraplegie.  Sensibilität  intact. 
Schmerzhafte  Zone  vom  5.-7.  Dorsalwirbel.  Genesung  nach  3  Monaten.  Nach  8  Tagen 
Kecidive,  diesmal  mit  Hyperästhesie  der  UE.     Genesung  mit  Paquelin. 

Zeni,  Gazzetta  degli  Ospitali.  Eavenna  1888,  35.  Frau,  nach  Abor- 
tus vor  19  J.  allmalig  Paraplegie,  zugleich  einseitige  Amaurose  mit  negativem  oph- 
thalmoscopischem  Befund.  Blutbrechen,  Harnverhaltung.  In  den  letzten  Jahren  Con- 
tractur  der  Flexores  und  Adductores  cruris.  Unter  Galvanisation,  kalten  Bädern  und 
Massage  Genesung  nach  19  Jahren. 

Brieger,  Charite  Annalen  1887,  p.  140.  Anstreicher,  21  J.,  wiederholte 
Bleikoliken.  1881  plötzlich  Paraplegie  mit  Streckcontractur,  die  ersten  5  Tage  Anästhesie 
im  Lähmungsgebiet.  Vermuthete  spastische  Bleilähmung.  Nach  25  Tagen  wieder 
gehfähig. 

Marina,  lo  Sperimentale  1883,  p.  399.  Junger  Mann,  keine  Lues.  1870 
nach  Durchnässung  und  Ueberanstrengung  als  Pompier  Nackenschmerz,  etwas  Fieber, 
nach  12  Tagen  Paraparese.  1878  Paraplegie,  mit  Anästhesie  der  UE.  Gelegentlich 
clonische  Krämpfe  in  denselben,  lligor  bei  passiver  Bewegung.  Diagnose:  Myelitis 
der  Seitenstränge  a  frigore.    Nach  240  elektrischen  Sitzungen  genesen  1883. 

Die  vorausgehende  Casuistik,  soweit  sie  meinem  Beobachtungs- 
material entnommen  ist,  besteht  aus  ausgewählten  Fällen  von  theils 
schlaffer,  theils  spastischer,  sicher  hysterischer  Paraplegie,  geeignet,  die 
verschiedensten  spinalen  Erkrankungen  vorzutäuschen,  zumal  da  es  sich 
fast  ausschliesslich  um  monosymptomatische  Lähmungen  handelt. 

Dieses  Vorkommen  ist  in  meinem  Erfahrungskreise  das  entschieden 
häufigere;  aber  auch  da,  wo  hysterische  Stigmata  vorhanden  sind,  kann 
dies  nur  zur  Vorsicht  in  der  Diagnosestellung  mahnen,  niemals  aber 
diese  entscheiden,  da  Hysterie  keineswegs  vor  organischer  Rückenmarks- 
erkrankung schützt. 

Die  Diagnose  kann  nur  aus  Aetiologie,  Pathogenese,  Verlauf  und 
Symptomencombination  gemacht  werden. 

Organischer  Erkrankung  verdächtig  mag  immer  eine  Paraplegie 
in  luetico  erscheinen.  Dass  sie  gleichwohl  rein  functionell  sein  kann, 
lehrt  Beob.  1. 

Eine  Paraplegie  durch  psychischen  Shok  (wozu  auch  die  meisten 
traumatischen  Fälle  gehören  mögen)  überhaupt  im  Anschluss  an  eine  Ge- 
müthsbewegung,  ist  mindestens  als  functionelle  verdächtig,  zumal  wenn 
sie  sich  binnen  Tagen  und  Wochen  entwickelt  (im  Gegensatz  zur 
Haematomyelie  u.  s.  w.). 

Ganz  besonders  wichtig  ist  es  in  solchen  Fällen,  die  psychische 
Genese  der  Lähmung  zu  verfolgen  und  sie  auf  imitatorischen  Einfluss 


Paraplegia  hysterica.  101 

(Beob.  4)  oder  auf  Fremd-  oder  Autosuggestion  (Beob.  5,  6)  drohender 
Rückenmarkslähmung  zurückführen  zu  können. 

Nicht  minder  bedeutsam  ist  die  deutliche  Beeinflussbarkeit  der 
Intensität  und  des  Wechsels  der  Symptome  durch  psychische  derartige 
Factoren,  wobei  die  Aufmerksamkeit  des  Patienten  auf  seinen  Leidens- 
zustand mit  verschlechternder  Wirkung,  und  die  Ablenkung  jener  mit 
dem  umgekehrten  Erfolg,  eine  hervorragende  Rolle  spielt. 

Gewinnt  mau  den  wünschenswerthen  Einfluss  auf  die  Psyche  des 
Kranken,  so  vermag  man  oft  temporär  die  Paraplegie  in  eine  blosse  Dys- 
basie  zu  verwandeln,  das  scheinbar  vorhandene  Roruberg'sche  Symptom 
zu  eliminiren  u.  dergl.  mehr. 

Unter  allen  Umständen  ist  die  psychologische  Signatur  des  Falles  wich- 
tiger, als  das  klinische  Detail  der  Symptome  und  ist  die  minutiöse  Feststel- 
lung des  bisherigen  Verlaufs  mit  seinen  oft  ganz  paradoxen  Schwankungen 
und  Complicationen  diagnostisch  viel  bedeutsamer  als  der  Stat.  praesens. 
Aus  diesem  Grunde  (verschleierte  Aetiologie  des  Falles,  unvollständige 
Anamnese)  erklärt  es  sich,  warum  so  oft  bei  Consilien,  selbst  von  Cory- 
phäen,  diagnostische  Irrthümer,  d.  h.  Verwechseln  functioneller  mit 
organischer  Paraplegie  begangen  werden. 

Erst  das  eingehende  Studium  des  Falles  —  meist  ist  hierzu  Spitals- 
beobachtung erforderlich  —  pflegt  ihn  in  das  richtige  Licht  zu  stellen. 
Man  muss  zur  Klarheit  darüber  gelangen,  wie  das  Verhältniss  von  Psyche 
und  Lähmung  ist. 

In  seltenen  Fällen  mag  erst  der  Ausgang  der  Krankheit  die  Ent- 
scheidung vermitteln.  Gleichwie  Myelitis  durch  emotionellen  Einfluss 
eine  bedenkliche,  durch  nichts  erwiesene  ätiologische  Annahme  ist,  so 
muss  das  grösste  Misstrauen  einer  angeblichen  Myelitis  entgegengebracht 
werden,  die  noch  nach  Monaten  zur  völligen  Ausheilung  gelangt,  ausser 
es  handelte  sich  um  eine  luetische  und  die  Heilung  wäre  durch  eine 
antiluetische  Behandlung  zu  Stande  gebracht  worden.  Lehrreich  in  dieser 
Hinsicht  ist  Beob.  9,  die  erst  anlässlich  einer  Recidive  als  Das,  was  sie 
schon  das  erste  Mal  gewesen  war,  erkannt  wurde.  Wahrscheinlich  steht 
es  mit  den  anderen  geheilten  Myelitisfällen  gerade  so. 

Versucht  man  die  Symptomatik  zur  Gewinnung  der  differentiellen 
Diagnose  zwischen  functioneller  und  organischer  Paraplegie  heranzuziehen, 
so  ergiebt  sich  aus  der  voranstehenden  Casuistik  deutlich,  wie  nahe  das 
functionelle  Bild  dem  organisch  bedingteu  stehen,  ja  symptomatologisch 
und  im  Stat  praesens  geradezu  sich  mit  demselben  decken  kann.  Strenge 
genommen  giebt  es  in  der  Erfahrung  kein  einziges  Symptom  des  para- 
plegischen  Erscheinungsbildes,  das  nicht  auch  als  functionelles  mög- 
lich wäre. 


102     H.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Eine  Ausnahme  machen  blos  Cystitis  und  Decubitus,  aber  diese 
erscheinen  oft  erst  spät  im  Bilde  einer  Myelitis,  ausser  es  handelt  sich 
um  eine  centrale  Localisation  derselben. 

Ebensowenig  sind  der  Nachweis  von  Muskelatrophie  und  quanti- 
tativer und  qualitativer  Aenderung  der  elektrischen  Erregbarkeit  als 
sichere  Zeichen  für  organische  Paraplegie  zu  betrachten,  da  sie  auf 
Grund  neuerer  Erfahrungen  auch  bei  Hysterie  (wahrscheinlich  auf  Grund 
blos  functioneller  Störung  in  den  Ganglienzellen  der  Vorderhörner  des 
Eückenmarks)  möglich  sind. 

Beim  Versuch,  die  Einzelsymptome  für  die  Diagnose  heranzuziehen, 
scheint  es  geboten,  ganz  besonderes  Augenmerk  dem  Verhalten  der  Sen- 
sibilität und  ihren  Störungen  zuzuwenden. 

Souques,  in  seiner  werthvollen  Monographie,  stellt  diese  in  den 
Vordergrund  seiner  differentiell  diagnostischen  Erwägungen. 

Er  verweist  darauf,  dass  Parästhesien  und  andere  subjective  Sen- 
sationen, Hyperästhesien  und  Schmerzen  bei  functioneller  Paraplegie 
selten,  bei  organischer  ganz  gewöhnlich  seien,  was  aber  bei  Beob.  2,  7, 
9,  10  keineswegs  zutrifft. 

Wichtiger  ist  Souques'  Hinweis  darauf,  dass  bei  organischer  Para- 
plegie die  Anästhesie,  je  nach  dem  Sitze  der  Läsion,  in  verschiedener 
Höhe  ringförmig  abschliesse  und  dass  oft  dicht  oberhalb  der  Grenze 
der  Anästhesie  eine  schmale  hyperästhetische  Zone  sich  vorfinde,  während 
in  klassischen  Fällen  von  functioneller  Paraplegie  segmentäre  Anästhesie 
bestehe,  mit  \J  förmiger  Begrenzung  nach  oben,  Genitalien  und  Regio 
sacralis  freilassend.  Diesen  Typus  repräsentirt  z.  B.  Beob.  7,  aber  dass 
dieses  Criterium  der  ringförmigen  Anästhesie  nicht  blos  organischer 
Lähmung  zukommt,  lehrt  Beob.  9,  bei  welcher  jene  in  2  Krankheits- 
anfällen zu  constatiren  war. 

Immerhin  wird  die  segmentäre  Anästhesie  mit  Freibleiben  der 
Pudendal-  und  der  Sacralgegend  diagnostisch  alle  Beachtung  verdienen. 
Das  Gleiche  gilt  für  paradoxe  und  namentlich  hemianästhetische  Sen- 
sibilitätsstörungen, die  mit  organischer  Paraplegie  nicht  verträg- 
lich sind. 

Dissociirte  Störung  der  Empfindungsqualität  wäre  aber  auch  bei 
einer  lumbal  localisirten  Syringomyelie  möglich. 

Die  Intactheit  der  cutanen  Sensibilität  schliesst  eine  hysterische 
Paraplegie  nicht  aus  (Huchard,  de  la  parapl.  hyst.  sans  anesthesie.  These 
de  Paris  1881).  Dass  auch  Gürtelgefühl,  ganz  wie  bei  einer  organisch 
vermittelten  Paraplegie,  möglich  ist,  lehrt  Beob.  9. 

Bedeutungsvoller  als  das  Verhalten  der  cutanen  Sensibilität,  ist  das 
der  tiefen.     Schon  Duchenne  hatte  darauf  hingewiesen,  dass  die  elektro- 


l'araplegia  hysterira.  103 

muskuläre  Sensibilität  bei  hysterischen  Lähmungen  zu  fehlen  pflegt. 
Das  häufige  Fehlen  der  tiefen  Sensibilität  wird  auch  durch  meine 
Casuistik  ausgewiesen.  Besonders  bemerkenswerth  erscheint  der  regionäre 
Ausfall  jener,  und  zwar  an  dem  distalen  Ende  der  TJE. 

Von  Wichtigkeit  erscheint  das  Verhalten  der  Reflexe-  Was  die 
tiefen  Reflexe  betrifft,  so  fand  sie  Richer  immer  gesteigert,  unbeschadet 
seltener  unerklärter  Fälle,  wo  sie  fehlten.  In  meiner  Casuistik  er- 
schienen sie  immer  gesteigert,  ausgenommen  in  Beob.  2,  wo  ihr  Fehlen 
auf  eine  Neuritis  bezogen  werden  konnte.  Ganz  besonders  bemerkens- 
werth ist  das  dauernde  Fortbestehen  schlaffer  Lähmung  mit  gesteigerten 
tiefen  Reflexen,  während  bei  organisch  bedingter  Lähmung  doch  das 
Eintreten  spastischer  Erscheinungen  zu  gewärtigen  wäre.  Die  plantareu 
Reflexe  fand  Richer  meist  fehlend,  auch  dann,  wenn  keine  Anästhesie 
bestand.  Auch  Buzzard  hält  ihr  Erhaltensein  für  einen  Hinweis  auf 
organische  Bedeutung  des  Falles.  In  meinen  Fällen  waren  sie  schwach 
erhalten  (1,  5),  fehlend  (3,  4,  7,  8),  erhalten  (2,  9).  In  2  Fällen  (6,  10) 
wurde  über  ihr  Verhalten  leider  nichts  notirt.  Das  Verhalten  der  plan- 
taren Reflexe  bei  functioneller  Paraplegie  verdient  weitere  Unter- 
suchungen. 

Ganz  gewöhnliche,  auch  bei  hysterischer  Paraplegie  aufzufindende 
Symptome  sind  solche  von  Seiten  der  Blase.  Sie  können  zur  Stellung 
der  Diagnose  beitragen,  insofern  sie  oft  eine  Wandelbarkeit  zeigen,  die 
den  organisch  bedingten  Blasenstörungen  nicht  zukommt,  ferner,  indem 
etwaige  Harnverhaltung  häufig  auf  Spasmus  des  Sphincter  vesicae  zurück- 
geführt werden  kann.  Jedenfalls  muss  man  bei  dem  Vorkommen  jener 
zunächst  an  diese  Wahrscheinlichkeit  denken.  Der  Widerstand,  welchen 
man  beim  Eindringen  und  Entfernen  des  Katheters  findet,  spricht  jeden- 
falls für  Spasmus.  Dass  Harnverhaltung  aber  auch  gelegentlich  durch 
Detrusorlähmung  eintreten  kann,  lehrt  Beob.  9. 

Auch  relative  und  selbst  absolute  Incontinenz  ist  der  hysterischen 
Lähmung  nicht  fremd  (Beob.  1,  3,  7,  8).  Wenn  sie  mit  Spasmus  des 
Sphincter  wechselt,  ist  die  Annahme  einer  hysterischen  Bedeutung  dieser 
Symptome  jedenfalls  berechtigt. 

Wenden  wir  uns  zu  den  Erscheinungen  gestörter  Motilität  an  den 
Extremitäten,  so  finden  sich  alle  Gradunterschiede  von  Paraparese  bis 
zu  völliger  Paraplegie  vor.  Diese  entwickelt  sich  nicht  selten  aus  Abasie 
und  zeigt  auch  episodisch  das  Bild  dieser.  Jedenfalls  bestehen  fliessende 
Uebergänge  zur  Abasie. 

Die  Lähmung  ist  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  eine  schlaffe.  Sie 
kann  dieses  Gepräge  durch  den  ganzen  Verlauf  der  Krankheit  hindurch 
bewahren,  jederzeit  aber  sich  mit  spastischen  Erscheinungen  combiniren. 


1 04      II-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Zuweilen  sind  diese  nur  bei  passiver  Bewegung  vorhanden  und  als 
Pseudospasmus,  auf  Grund  unbewusster  Innervation  von  Seiten  des 
Kranken,  zu  bezeichnen.  "Wirkliche  Spasmen  beruhen  auf  Diathese  de 
contracture  und  sind  dann  auch  ohne  Hyperästhesie,  selbst  bei  regionärer 
Anästhesie  möglich;  oder  aber  es  handelt  sich  um  Reflexspannungen 
durch  Arthralgien,  Neuralgien,  regionäre  Hyperalgesien,  bei  mangelhafter 
Leistungsfähigkeit  der  reflexhemmenden  Mechanismen. 

Diese  spastischen  Erscheinungen  sind  somit  als  Complicationen  zu 
betrachten.  Der  Typus  der  hysterischen  Lähmung  scheint  die  schlaffe. 
Die  schlaffe  Lähmung  ist  prognostisch  günstiger  als  die  spastische.  Auf 
ihre  psychische,  speciell  autosuggestive  Bedeutung  wurde  oben  hin- 
gewiesen. Man  gewinnt  vielfach  den  Eindruck,  dass  sie  als  rein  psychisch 
corticale  Lähmung  anzusprechen  ist,  d.  h.  als  Monoplegia  corticalis  duplex. 
Die  Aehnlichkeit  mit  solcher  aus  organischer  Ursache  im  Sinne  von  Un- 
vollständigkeit  der  Lähmung,  vorwiegend  distaler  Ausprägung  derselben, 
regionärer  Störung  der  Sensibilität,  besonders  der  tiefen,  ist  oft  unver- 
kennbar. 

Ein  bemerkenswerthes  Moment  in  solchen  Fällen  ist  die  eigen- 
thümliche,  dem  Bild  organischer  Erkrankung  an  und  für  sich  nicht  zu- 
kommende Combination  und  Vertheilung  der  Symptome.  Dies  tritt  in 
der  von  mir  mitgetheilten  Casuistik  auffällig  oft  zu  Tage. 

In  Beob.  1  erscheint  bei  dem  paraparetischen  Kranken  im  Gebiet 
der  Lähmung  bald  Spasmus,  bald  Ataxie,  welche  letztere  durch  Wach- 
suggestion jederzeit  sich  temporär  beseitigen  lässt.  Auch  in  Beob.  3  ist 
die  Gehstörung  sehr  wandelbar.  In  Beob.  5  sind  die  Zehen  frei  von 
Lähmung.  In  Beob.  9  erinnert  die  Recidive  vorübergehend  an  Myelitis 
disseminata,  insofern  Intentionszittern  der  Bulbi,  der  Extremitäten,  re- 
gionäre Muskelparesen,  spastischer  Gang  auftreten.  Dazu  gesellt  sich 
eines  Tages  ganz  unvermittelt  und  episodisch  eine  Paraplegie  mit 
Detrusorlähmung ! 

In  Beob.  10  begleitet  längere  Zeit  ein  (hysterischer)  Klonus  im 
Gebiet  der  Quadricipites  das  Bild  der  schlaffen  Paraplegie! 

Die  Prognose  dieser  Lähmungen  ist  immer  eine  zweifelhafte 
Schwer  versündigt  sich  der  unwissende  Arzt,  wenn  er  die  impressio- 
nablen,  autosuggestiblen  Kranken  in  ihren  Befürchtungen  organischer 
Begründung  ihres  Falles  bestärkt,  indem  er  von  der  Möglichkeiteiner  Rücken- 
marksentzündung spricht.  Solche  Fremdsuggestion,  wenn  sie  von  einem 
Arzt,  der  das  Vertrauen  des  Patienten  geniesst,  ausgeht,  kann  fast  un- 
überwindlich sein.  Aber  auch  der  Einfluss  des  Milieu  (allzu  besorgte 
oder  auch  lieblose  Angehörige)  ist  nicht  zu  unterschätzen.  Am  schlimmsten 
sind  jedenfalls  (meist  traumatische)  Fälle  mit  Anästhesie,  bei  welchen  die 


Paraplegia  hysterica.  105 

kranken  Glieder  aus  dem  Bewusstsein  ausgeschaltet  sind,  ferner  Fälle, 
wo  Arthralgien,  traumatische  Hyperästhesien  u.  dergl.  beständig  das  Be- 
wusstsein des  Kranken  auf  seine  Infirmität  hinlenken.  Kürzlich  sah 
ich  eine  Kranke  mit  hysterischer  Paraplegie,  die  sich  in  die  Einsamkeit 
einer  Pension  geflüchtet  hatte,  weil  ihr  die  Existenz  daheim  bei  dem 
von  ihr  verabscheuten  Gatten  unerträglich  war.  Ihre  Lähmung  war  ihr 
ein  nicht  unwillkommener  Grund,  isolirt  leben  zu  können.  In  diesem 
Fall  hatte  natürlich  die  psychische  Therapie  kein  Terrain.  Unter  ähn- 
lichen Verhältnissen  habe  ich  eine  seit  über  20  Jahren  bestehende  Para- 
plegie gesehen,  die  allen  ärztlichen  Bestrebungen  trotzte. 

Spontanheilungen  kommen  vor  durch  den  Einfluss  der  Zeit,  mit 
welcher  der  Functionswerth  autosuggestiv  geschaffener  Hemmungsvorstel- 
lungen nachlässt,  etwaige  sie  im  Bewusstsein  fixirende  Affecte  und 
locale  Schmerzen  schwinden,  der  impressionable  Zustand  des  im  Sinne 
einer  (traumatischen)  Neurose  afficirten  Nervensystems  sich  verliert. 
Meist  bedarf  es  aber  der  unterstützenden  Mitwirkung  von  Gemüth  und 
Verstand  anderweitig  in  Anspruch  nehmenden  (ablenkenden)  Vorstellungen, 
oder  auch  —  ein  Affect  übt  eine  lösende  Wirkung  oder  lässt  (in  Lebens- 
gefahr) auf  die  Autosuggestion  vergessen,  sodass  der  Kranke,  indem 
er  seine  Beine  wiedergefunden  hat,  sich  selbst  eine  Contrasuggestion  ad 
oculos  schuf.  In  anderen  Fällen  wirkt  der  contrasuggestive  Einfluss  von 
für  heilkräftig  geltenden  Bädern,  Volksmedicinen,  Reliquien,  Gnadenorten. 
Die  ärztliche  Kunst  hat  die  schwere  Aufgabe,  den  Autosuggestionen  der 
Kranken  entgegenzuwirken.  Zuweilen  gelingt  es  der  autoritativen  Wach- 
suggestion, dies  zu  erreichen,  unterstützt  durch  zielbewusste  moralische 
Behandlung,  eventuell  unter  Zuhülfenahme  von  Magnetotherapie,  der 
bei  complicirender  Anästhesie  ein  gewisser  Werth  nicht  abgesprochen 
werden  kann. 

Werthvoll  kann  es  sein,  weiter  einzugreifen  durch  Weckung 
optischer  Erinnerungsbilder  (passive  Bewegung,  manuell  oder  durch 
Elektricität)  sowie  sensibler  (Massage,  elektrischer  Pinsel).  Gewöhnlich 
kommt  man  mit  Wachsuggestion  nur  zum  Ziele  in  einem  Krankenhause 
oder  mindestens  unter  Entfernung  aus  den  krankmachenden  familiären 
und  localen  Verhältnissen.  Unerlässlich  erscheint  in  schweren  Fällen 
die  Trennung  von  den  Angehörigen.  Was  man  mühsam  und  des  Er- 
folges nicht  sicher  durch  Wachsuggestion  erzielt,  erreicht  man  hier  und 
da  unverhältnissmässig  rasch  durch  Suggestion  in  Hypnose. 


Vortäuschung  von  multipler  Sklerose. 

Beob.  1. 

Fräulein  K.,  29  J.,  gew.  Schauspielerin,  stammt  von  einer  Mutter, 
die  an  Asthma  litt  und  gelähmt  starb,  wahrscheinlich  in  Folge  einer 
Hirnkrankheit. 

Pat.  wurde  mit  12  J.  menstruirt,  hat  bis  zum  15.  Jahr  masturbirt. 
Vom  16.  bis  19.  J.  litt  sie  an  einem  nervösen  Magenleiden. 

Von  da  ab  zeigte  sich  Müdigkeit  beim  Gehen,  später  auch  rasche 
Erschöpfung  bei  Leistungen  der  OE.,  beim  Kauen  und  bei  Bewegungen 
des  Stammes. 

Allmälig  gesellten  sich  dazu  Steifigkeit  der  Beine,  des  Eückens  und 
Nackens,  zeitweises  Nachschleppen  des  1.  Beines. 

Der  Gang  wurde  schwankend,  wie  „betrunken".  Pat.  konnte  beim 
Gehen  die  Richtung  nicht  einhalten,  es  „riss  sie  nach  der  einen  oder 
andern  Seite." 

Beim  Liegen,  besonders  im  Bett,  fühlte  und  sah  sie  Zuckungen  an 
den  Beinen. 

Gelegentlich  Gürtelgefühl  in  der  Höhe  des  Epigastriums. 
Schon  vom  Beginn  des  Leidens  an  zeigte  sich  zeitweise  Cystospasmus, 
einige  Mal  auch  Incontinentia  urinae. 

Seit  Jahren  grosse  Emotivität,  psychische  Erregbarkeit,  Nosophobie, 
Zerstreutheit,  Klagen  über  Gedächtnissschwäche,  gelegentlich  Kopfdruck. 
Daneben  Parästhesien  bis  zum  Knie  herauf,  neuerlich  auch  in  1.  Hand, 
mit  grosser  Ungeschicklichkeit  derselben,  ferner  Gefühl  des  Wankens,  mit 
Schwindel. 

Pat.  fand  selbst,  dass  ihre  Gehstörung  sehr  wechselnd  war,  viel 
besser,  wenn  sie  auf  häuslichen  Kummer  und  Sorgen  vergass  und  in 
heiterer  Gesellschaft  verweilte.  Wenn  sie  lange  ging,  wurden  ihr  die 
Beine  steif. 

Eine  erstmalige  flüchtige  Consultation  am  12.  10.  95  stellte  Fol- 
gendes fest: 

Das  Leiden  war  acut  nach  heftigen  Gemüthsbewegungen  aufgetreten, 
die  seither  fortdauern  und  durch  die  Erwerbsunfähigkeit  der  Pat.  seit 
4  Jahren  gesteigert  werden. 


Vortäuschung  von  multipler  Sklerose.  107 

Ausser  gelegentlichen  Lachkrämpfen  ermittelte  die  Anamnese  keine 
hysterischen  Antecedentien.  Auch  Stigmata  hysteriae  sind  nicht  auf- 
zufinden. Pat.  ist  mittelgross,  gracil,  der  Schädel  leicht  rachitisch  ver- 
bildet. Von  Seiten  der  Hirnnerven  besteht  keine  Anomalie,  bis  auf  In- 
tentionszittern  bei  forcirtem  Seitwärtssehen. 

Nirgends  Störung  der  Sensibilität.  An  allen  Extremitäten,  beson- 
ders den  unteren,  bedeutende  Herabsetzung  der  groben  Muskelkraft. 
Es  besteht  locomotorische  und  statische  Ataxie.  Pat.  bedarf  eines  Stockes 
zum  Gehen.  Dann  bessert  sich  ihr  Gang  auffällig.  Weder  an  OE.  noch 
UE.  Intentionstremor.  An  den  OE.  ist  bei  geschlossenen  Augen  leichte 
Ataxie  nachweisbar.  Das  Komberg'sche  Symptom  ist  angedeutet.  Pat. 
ermüdet  rasch  beim  Gehen  und  scharrt  dann  mit  den  Füssen  am  Boden. 
Bei  passiven  Bewegungen  tritt  Versteifung  im  Hüft-  und  Kniegelenk 
ein.  Die  tiefen  Reflexe  sind  an  den  UE.  sehr  gesteigert,  jederzeit  ist 
beiderseits  Fussclonus  erzielbar.  Pat.  klagt  über  Versteifung  und  Er- 
müdung in  den  Knieen  und  Unsicherheit  des  Gehens.  Im  Dunklen  ver- 
mag sie  kaum  sich  auf  den  Beinen  zu  erhalten. 

Die  Diagnose  schwankte  zwischen  Hysterie  und  multipler  Sklerose. 
Pat.  erhielt  Halbbäder  und  Sol.  Fowler.  verordnet 

Anlässlich  neuer  Consultation  am  25.  11.  95  berichtete  Pat.,  eine 
Zeitlang  sei  es  besser  gegangen,  seit  einem  kürzlichen  Todesfall  in  der 
Familie  schlechter.  Der  Zustand  wechsle  sehr,  Emotionen  wirkten  jeweils 
verschlimmernd. 

Nur  dann  seien  die  Beine  steif.  Neuestens  Gefühl  von  Unsicher- 
heit und  Vertaubung  in  der  1.  OE.  Der  Stat.  objectiv  derselbe  wie  am 
12.  10. 

Am   13.  1.  96  eutschloss  sich  Pat.  zur  Aufnahme  auf  der  Klinik. 

Keine  Zeichen  von  Hysterie.  Beiderseits  5  D.  Hypermetropie, 
Asthenopie.  Fundus  normal,  desgleichen  Sehfeld.  Nirgends  Sensibilitäts- 
ausfall. 

An  den  OE.  kleiner,  feinwelliger.  7  Oscillationen  per  Secunde  über- 
steigender, inconstanter,  in  der  Intensität  sehr  wechselnder  Tremor,  der 
intentionell  gesteigert  wird,  aber  auch  in  der  Ruhe  zu  bemerken  ist. 
Die  1.  Hand  ist  etwas  ungeschickt  in  ihren  Bewegungen.  Amyosthenie 
tiefe  Reflexe  gesteigert.     Nirgends  Rigor. 

An  den  UE.  keine  Amyosthenie.  Die  tiefen  Reflexe  hochgesteigert, 
beiderseits  Fussclonus. 

Ueberaus  rasche  Ermüdung,  dann  leichtes  Schleifen  der  1.  UE.  Bei 
Augenschluss  geräth  Pat.  ins  Schwanken,  das  aber  suggestiv  und  durch 
Markirung  einer  Unterstützung  schwindet,  offenbar  rein  psychisch  bedingt 
ist  (Pseudo-Romberg). 


108      II-  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Die  Störung  des  Ganges  ist  eine  überaus  wechselnde.  In  voller  Ruhe 
des  Gemiiths  zeigt  sieh  nur  eine  Spur  von  Ataxie.  In  Emotion,  ferner 
nach  relativer  Ermüdung  wird  der  Gang  zunehmend  unsicher.  Pat.  setzt 
dann  die  Beine  nicht  voreinander,  sondern  innen  oder  aussen  von  der 
Gangrichtung  auf,  kommt  dadurch  von  dieser  ab  und  ins  Schwanken. 

Alle  diese  Beschwerden  zeigen  einen  sehr  grossen  Wechsel  der 
Intensität,  sowohl  während  desselben  Tages,  als  auch  in  längeren  Zeit- 
abständen. Basselbe  gilt  für  das  Intentionszittern  der  Bulbi.  Pat.  ist 
sehr  emotiv,  steht  unter  der  von  anderer  ärztlicher  Seite  erfolgten 
Suggestion  eines  ßückenmarksleidens  und  ist  wegen  ihrer  Zukunft  sehr 
besorgt. 

Unter  Wachsuggestionen  und  Gymnastik  bedeutende  Besserung  des 
Leidens,  dessen  Beeinflusstsein  von  der  Stimmung  überaus  deutlich  ist. 
Pat.  ist  andauernd  sehr  emotiv  und  psychisch  nicht  zu  voller  Ruhe  ge- 
langend.   Am  22.  2.  96  gebessert  entlassen. 

An  der  hysterischen  Bedeutung  des  vorstehenden  Falles  kann  kein 
Zweifel  bestehen.  Wenn  auch  statische  und  locomotorische  Ataxie,  In- 
tentionszittern der  Augenmuskeln,  Amyosthenie,  zeitweiser  Rigor,  hoch- 
gradige Steigerung  der  tiefen  Reflexe  der  UE.  bis  zu  Fussklonus  an 
multiple  Sklerose  denken  Hessen,  so  musste  doch  die  plötzliche  Ent- 
stehung des  Leidens  nach  einer  Gemüthsbewegung,  die  jeweils  auf 
Emotion  zurückführbaren  Schwankungen  der  Intensität  und  Extensität 
der  Symptome,  die  rein  psychisch  vermittelten  Erscheinungen  der  Dys- 
basie  und  des  Romberg'schen  Symptoms,  der  blos  emotionell  auftretende 
Rigor  u.  s.  w.,  dasselbe  rein  im  Sinne  von  Hysterie  deuten.  Dazu  kam 
der  auch  in  der  Ruhe  bestehende,  intentionell  nur  gesteigerte,  7  Oscilla- 
tionen  in  der  Secunde  übersteigende  Tremor. 

Beob.  2. 

Fräulein  L.  M.,  20  J.,  wurde  am  19.  3.  96  auf  der  Klinik  auf- 
genommen. Sie  stammt  von  gesunden  Eltern.  Eine  Schwester  der 
Kranken  ist  höchst  nervös  und  mit  Stottern  behaftet. 

Pat.  hat,  ausser  Diphtheritis  als  kleines  Kind  und  Scarlatina  mit 
10  Jahren,  keine  Infectionskrankheiten  durchgemacht. 

Menses  mit  12  J.,  anfangs  unregelmässig.  Vom  16.  bis  18.  Jahr 
Chlorose. 

Mitten  in  vollem  Wohlsein  erlitt  Pat.  am  16.  5.  91  einen  heftigen 
Shok  durch  plötzlichen  Tod  des  geliebten  Vaters.  Sie  war  halb  bewusst- 
los,  zitterte  stundenlang  am  ganzen  Körper,  war  von  nun  an  nervös, 
erregbar. 

Im  Winter  1891/92  litt  sie  3  Monate  lang  an  Parästhesie  der 
Hände,  sodass  sie  zu  jeder  feineren  Verrichtung  (Nähen,  Knüpfen  u.  s  w.) 


Vortäuschung  von  multipler  Sklerose.  109 

unfähig  war,  während  Berührungs-,  Temperatur-  und  Schmerzempfindung 
angeblich  ganz  normal  waren. 

Während  dieser  Zeit  geschah  es  einige  Male,  dass,  unter  heftigen 
Schmerzen  an  der  Ulnarseite  des  Vorderarms,  der  Kleinfinger  der  1.  Hand 
in  Contractur  gerieth. 

Mit  der  r.  Hand  richtete  Pat.  dann  den  Finger  wieder  gerade, 
womit  zugleich  der  Schmerz  schwand. 

Vom  September  92  ab  war  Pat.  als  Verkäuferin  in  einem  feuchten 
Räume  beschäftigt. 

Anfang  1893  hatte  Pat.  anlässlich  Emotionen,  die  ihr  häufig  zu 
Theil  wurden,  heftiges  Zittern. 

Eines   Tages,    anlässlich  Niesen,   heftiger  Schwindelanfall,  so  dass 
sie  zur  Seite  taumelte. 

Am  24.  2.  93  scherzte  Pat.  mit  einer  Freundin  und  lief  ihr  nach. 
Plötzlich  knickte  ihr  dabei  das  linke  Bein  ein.  Die  Umgebung  lachte, 
Pat.  selbst  hielt  den  Vorfall  für  belanglos,  allein  die  Schwäche  des 
1.  Beins  bestand  fort  und  dazu  gesellte  sich  eine  Parästhesie  in  der 
1.  Oberextremität. 

Pat.  wurde  nun  besorgt,  consultirte  verschiedene  Aerzte.  Anläss- 
lich einer  Consultation  bei  mir  am  13.  3.  93  constatirte  ich: 

Spastische  Parese  der  r.  UE.,  zeitweiser  Schüttelkrampf  in  der- 
selben, 1.  Patellarreflex  sehr  gesteigert,  Fussclonus.  In  1.  OE.  bedeutende 
Herabsetzung  der  groben  Muskelkraft,  hochgesteigerte  tiefe  Reflexe, 
Mangel  der  Stereognose  in  der  1.  Hand,  sonst  Sensibilität  intact. 

Classisches  Intentionszittern  der  Bulbi,  r.  Pupille  weiter  als  linke, 
prompte  Reaction. 

Hirnnerven  im  Uebrigen  intact.  Rechte  OE.  und  UE.  normal  in 
ihren  Functionen.     Keine  Stigmata  hysteriae. 

Bis  Anfang  95  keine  Aenderung.  Neue  heftige  Schmerzen  in  der 
r.  UE.,  die  mit  Zahnschmerz  verglichen  wurden.  Der  Schmerz  sass  bald 
im  Hüftgelenk,  bald  im  Oberschenkel,  Knie,  oberhalb  des  Sprunggelenks, 
häufig  an  mehreren  Stellen  zugleich;  er  wurde  in  der  Tiefe  empfunden 
und  hielt  viele  Stunden  in  gleicher  Intensität  an  derselben  Stelle  an. 

Im  Anschluss  an  kräftige  Faradisation  trat  in  der  Nacht  vom  19. 
zum  20.  2.  96  ein  heftiger  Angstzustand  mit  Oppressionsgefühl  und 
stundenlangem  Herzklopfen  auf.  Seither  vermehrte  Schwäche  im  1.  Bein 
und  Klagen  über  Amblyopie. 

Nach  fruchtlosen  mehrjährigen  Kurversuchen  zahlreicher  Aerzte 
( Faradisation,  Galvanisation,  Massage,  Thermen,  Kneippkur,  Strychnin- 
injectionen,  Jodbehandlung,  Versuchen  auf  hypnotisch-suggestivem  Weg 


1 10      II.  Vortäusi  hung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

eine  psychische  Genese  der  Symptome  festzustellen)  entschloss  sich  Pat. 
auf  der  Nervenabtheilung  der  psychiatr.  Klinik  Hilfe  zu  suchen. 

Im  Stat.  praes.  vom  19.  3.  96  erscheint  Pat.  in  psychischer  Be- 
ziehung wenig  auffällig. 

Mit  einer  ihrer  Gesellschaftsklasse  entsprechenden  Bildung  ver- 
bindet sie  einen  ungewöhnlich  hohen  Grad  von  Intelligenz.  In  ihren 
Gedanken  meist  mit  ihrer  Krankheit  beschäftigt,  verschmäht  sie  es  spontan 
Klagen  vorzubringen,  ist  jedoch  dankbar  für  ihr  bewiesene  Theilnahme. 
Sie  ist  von  sanguinischer  Hoffnung  gleichweit  entfernt  wie  von  muth- 
loser  Resignation. 

Pat.  ist  mittelgross,  von  kräftiger  Constitution,  etwas  abgemagert, 
vegetativ  ohne  Befund. 

Cranium  regelmässig,  bis  auf  leichte  Hinterhauptstufe,  Umfang 
55  cm. 

Pat.  ermüdet  rasch  geistig  und  klagt  dann  über  Zerstreutheit  und 
eingenommenen  Kopf.  Visus  normal,  Augenspiegel  und  Perimeterauf- 
nahme ohne  pathologischen  Befund.  Sowohl  bei  forcirtem  Seitenblick, 
als  auch  anfänglich  beim  Fixiren,  lebhaftes  Intentionszittern  der  im 
Uebrigen  normal  functionirenden  Augenmuskeln.  Pat.  giebt  an,  dass 
bei  längerem  Lesen  ihr  die  Buchstaben  verschwimmen  und  tanzen.  Die 
r.  Pupille  viel  weiter  als  die  linke,  beide  prompt  auf  alle  Reize  reagirend. 
Der  Skleral-,  Würge-  und  Schluckreflex  fehlen,  der  Nasen-  und  Ohren- 
reflex  sehr  herabgesetzt.  Sonst  keine  auf  Hysterie  hindeutende  Erschei- 
nungen.    Die  Hirnnerven  im  Uebrigen  normal  in  ihren  Functionen. 

Die  r.  OE.  ist  intact  in  allen  ihren  Leistungen.  An  der  1.  OE.  ist 
•das  Volumen  um  1.5  cm  allenthalben  geringer  als  r.  (Pat.  ist  Rechts- 
händerin.) Die  Eigenwärme  ist  in  der  1.  Axilla  constant  um  0.15—0.95° 
geringer,  als  rechts.  Alle  Einzelbewegungen  sind  in  der  1.  OE.  möglich. 
Sie  erfolgen  aber  kraftlos. 

Ganz  besonders  deutlich  ist  eine  Insufficienz  im  1.  Cucullaris,  der 
auch  etwas  atrophisch  ist. 

Index  und  Kleinfinger  sind  in  der  Grundphalanx  meist  in  Hyper- 
extension  und  gerathen  bei  Intention  in  Extensionscontractur.  Diathese 
de  contracture,  gesteigerte  mechanische  Erregbarkeit  der  motorischen 
Nerven  sind  nicht  vorhanden. 

Der  Muskeltonus  ist  im  Bereich  der  1.  OE.  sehr  herabgesetzt,  die 
tiefen  Reflexe  sind  sehr  gesteigert,  oft  gelingt  Handklonus.  Rigor  bei 
passiven  Bewegungen  besteht  nicht. 

Die  1.  Hand  ist  ungeschickt  in  ihren  Bewegungen,  greift  neben  das 
Ziel  (Ataxie).  Diese  Störung  nimmt  bei  verschlossenen  Augen  erheb- 
lich zu.     Die  cutane  Sensibilität  ist  in  allen  ihren  Qualitäten  intact,  die 


Vortäuschung  von  multipler  Sklerose.  111 

tiefe  Sensibilität  ist  im  1.  Schultergelenk  herabgesetzt,  in  den  anderen  Ge- 
lenken aufgehoben.  Das  Bewusstsein  passiver  Bewegung  und  die  Lage- 
vorstellung fehlen  im  Bereich  des  1.  OE.  Die  Stereognose  ist  sehr 
gestört. 

An  der  1.  UE.  ist  der  Muskeltonus  herabgesetzt,  die  grobe  Muskel- 
kraft allenthalben  erheblich  vermindert.  Patellar-  und  Fussclonus  ist 
jederzeit  leicht  zu  erzielen. 

Es  besteht  eine  Volumsabnahme  im  Gebiet  der  Mm.  glutaei  und 
der  Oberschenkelmuskeln.  Der  Umfang  ist  15  cm  unter  dem  oberen 
Patellarrande  1.  43,  r.  47  cm.  Der  grösste  Unterschenkelumfang  ist  r. 
und  1.  35  cm.  Die  electrische  Untersuchung  ergiebt  sowohl  in  den  UE. 
als  auch  OE.  durchaus  normale  Verhältnisse.  Fibrilläre  Contractionen 
kommen  nicht  zur  Beobachtung. 

Es  besteht  eine  leichte  Parese  im  Peroneusgebiet.  Beim  Gehen, 
wie  auch  bei  Zielbewegungen  in  liegender  Position  zeigt  sich  Ataxie. 

Die  cutane  Sensibilität  ist  intact,  der  Plantarreflex  erhalten.  Die 
tiefe  Sensibilität  ist  herabgesetzt  im  Hüft-  und  Kniegelenk,  aufgehoben 
in  Fuss-  und  Zehengelenken. 

Die  r.  UE.  ist  motorisch  intact,  jedoch  Patellar-  und  Fussklonus 
angedeutet. 

Die  cutane  Sensibiltät  ist  erheblich  gestört.  Es  findet  sich  überall 
im  Bereich  der  r.  UE.  Hypästhesie,  Hypalgesie,  thermische  Anästhesie 
und  zwar  über  r.  Bauch-  und  Thoraxhälfte  herauf,  in  der  Mittellinie 
genau  abschneidend,  bis  zur  Mammahöhe. 

Dabei  bestehen  continuirlich  dumpfe,  ziemlich  heftige  Schmerzen 
in  der  r.  UE.  und  ist  die  Gegend  des  Trochanter  major  druckempfind- 
lich.   Die  tiefe  Sensibilität  ist  unversehrt. 

Pat  verweilte  an  der  Klinik  bis  zum  26.  6.  96.  Gymnastik, 
Suggestivbehandlung  versagte.  Die  Schmerzen  in  der  r.  UE.  schwanden 
auf  Suspensionsbehandlung.  Am  Stat.  änderte  sich  nichts,  bis  auf  eine 
vom  Mai  ab  an  der  Volarfläche  der  Finger  und  der  Hände  beiderseits 
aufgetretene  und  ringförmig  4  cm  über  den  Handgelenken  abschliessende 
tactile  Hypästhesie.  Desgleichen  fand  sich  eine  von  den  Zehen  beginnende, 
bis  zum  unteren  Drittel  des  Unterschenkels  am  r.  Fuss  heraufreichende 
ringförmig  abschliessende  Herabsetzung  der  Tastempfindung. 

Am  13.  10.  96  liess  sich  Pat.  zum  zweiten  Mal  aufnehmen.  Im 
Stat.  ist  keine  Veränderung  aufgetreten,  bis  auf  Hinzukommen  algetischer 
Hypästhesie  und  von  Störungen  der  Thermästhesie  zur  tactilen  Hypästhe- 
sie am  r.  Fuss  und  am  unteren  Drittel  des  Unterschenkels,  wo  „warm"  nur 
als  Berührung,  „kalt"  schmerzhaft  empfunden  wird.  Von  da  aufwärts, 
in  abnehmender  Intensität,  erstreckt  sich  über  r.  Bein  und  r.  Rumpf- 


112      n>  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

hälfte  bis  zur  Mammarhöhe  eine  Zone  leicht  gestörter  Tast-,  Schmerz- 
und  Temperaturempfindlichkeit. 

Die  1.  Dystrophie  ist  unverändert,  die  elektrische  Eeaction  nach 
■wie  vor  normal.  Sprachstörung  und  Intentionszittern  der  Extremitäten 
fehlen  nach  wie  vor. 

Bei  der  klinischen  Vorstellung  der  Kranken  wurde  die  functionelle 
(hysterische)  Bedeutung  des  Falles  erörtert,  die  Wahrscheinlichkeit  be- 
tont, dass  alle  von  der  Pat.  gebotenen  Störungen  nicht  organischer  Natur 
seien,  gleichwohl  aber  die  Möglichkeit  offen  gelassen,  dass  es  sich  hier 
um  eine  Complication  von  hysterischer  Neurose  mit  organischer  Er- 
krankung handle.  Im  Sinne  einer  solchen  konnte  nur  an  multiple  Skle- 
rose und  an  Syringomyehe  gedacht  werden. 

Zu  Gunsten  der  ersteren  Krankheit  sprach  nur  der  Nystagmus. 
Gegen  Syringomyelie  die  Steigerung  der  tiefen  Reflexe  in  der  1.  OE., 
die  auf  die  1.  OE.  beschränkte,  stationäre,  nur  proximal  vorhandene, 
distal  sich  verlierende  Muskelatrophie  mit  Fehlen  fibrillärer  Zuckungen 
und  normalem  elektrischem  Befund. 

Diese  Atrophie  liess  sich  im  Sinne  neuerer  Forschungen  auch  als 
hysterisch  bedingte  ansprechen    Bestimmt  musste  Hysterie  für  die  eigen- 
artigen Sensibilitätsstörungen,  speciell  die  der  tiefen  Sensibilität  ange-. 
nommen  werden. 

Pat.  verweilte  den  "Winter  über  auf  der  Klinik.  Subjectiv  keine 
Aenderung  des  Befindens,  zeitweise  Klagen  über  diffusen  Kopfschmerz, 
unangenehme  Sensationen  im  r.  Hüft-  und  Kniegelenk. 

Ein  Ende  Februar  97  aufgenommener  Stat.  praes.  ergiebt  Folgendes: 

Augenspiegel,  Perimeter,  Sehschärfe  normal.  Nystagmus  bei  for- 
cirter  Seitwärtsbewegung  fast  ausschliesslich  in  verticaler  Richtung,  bei 
Bewegungen  nach  oben  und  unten  bedeutend  abnehmend.  Alle  Augen- 
muskelleistungen vollkommen  sufficient,  auch  bei  Convergenz  bis  in  die 
allergrösste  Nähe.     Nie  Diplopie. 

Der  beim  Blick  in  die  Ferne  stets  vorhandene  Nystagmus  schwindet 
bei  Annäherung  des  Fixatiousobjects  auf  30  cm  und  darunter,  jedoch 
nur  bei  Fixation  eines  Punktes  in  der  Mittellinie.  Pupillen  wie  früher, 
normale  Reaction. 

Andeutung  von  Hippus.  Farbensinn  ungestört.  Gaumen-  und 
Rachenreflex  schwach,  aber  vorhanden. 

Im  Uebrigen  alle  Hirnnerven- Functionen  normal.  Wirbelsäule  nicht 
deformirt,  auch  nicht  druckempfindlich. 

OE.  Das  Volumen  des  1.  Oberarms  nur  um  0.5,  am  1.  Vorderarm 
nur  um  1  cm  geringer  als  r.,  somit  bei  Pat.  (Rechtshänderin)  noch  als 
physiologisch  zu  betrachten.     Muskulatur  von  gutem  Tonus. 


Vortäuschung  von  multipler  Sklerose.  113 

In  r.  OE.  volle  Muskelkraft,  in  1.  OE.  Amyosthenie  (r.  Dynamometer 
12.5,  1.  9—10  beim  Händedruck). 

Active  Streckung  im  1.  Ellbogen-  und  1.  Handgelenk  ist  erschwert 
durch  eine  dabei  auftretende  Spannung  in  den  Antagonisten,  die  aber 
vollkommen  überwunden  wird.  Auch  das  Spreizen  der  Finger  und  die 
Opposition  von  Daumen  und  Kleinfinger  ist  durch  hemmende  Spannungen 
erschwert.  Bei  passiver  Bewegung  finden  sich  im  1.  Ellbogengelenk  flüch- 
tige und  wechselnde  Spannungswiderstände  bald  in  den  Streckern,  bald 
in  den  Beugern.  Constant  findet  sich  eine  Spannung  in  den  Fingerbeugern 
bei  Dorsalflexion  der  Hand.  Wird  dieser  Versuch  rasch  ausgeführt,  so 
entsteht  kurzer  Klonus  des  2. — 5.  Fingers  unter  begleitendem  Klonus 
des  gar  nicht  berührten  Daumens.  Alle  Spannungen  sind  leicht  und 
schmerzlos  zu  überwinden.  Sämmtliche  tiefe  Reflexe  sind  in  der  l.  OE. 
sehr  gesteigert. 

Intentionstremor  besteht  nicht.  Bei  offenen  Augen  erreicht  der 
1.  Zeigefinger,  unter  groben  Schwankungen  und  sichtlich  gestört  durch 
Spannungsvorgänge  der  Muskeln,  langsam  die  Nasenspitze.  Bei  geschlosse- 
nen Augen  wird  das  Ziel  grob  verfehlt. 

UE.  Das  Volumen  der  1.  UE.  ist  gegenüber  der  r.  am  Oberschenkel 
um  2,  am  Unterschenkel  um  1.5  cm  allseitig  reducirt.  Der  Gang  ist 
breitspurig,  stark  schwankend,  mit  unregelmässigen  kleinen  Schritten. 
Mit  geschlossenen  Füssen,  aufwärts  gerichtetem  Blick  oder  gar  geschlosse- 
nen Augen  wird  das  statische  Gleichgewicht  nicht  behauptet  Schleudernde 
Ataxie  besteht  nicht. 

Auch  an  der  1.  UE.  ist  der  Muskeltonus  ein  guter,  aber  es  besteht 
Amyosthenie,  besonders  in  den  Hüft-  und  Kniebeugern,  sowie  in  den 
Dorsalflexoren  des  Fusses. 

Alle  activen  Bewegungen  sind  auch  links  in  vollem  Ausmaass  möglich, 
aber  Zielbewegungen  finden  stark  schwankend  und  unter  Verfehlen  des 
Ziels  statt.  Diese  letzteren  Erscheinungen  sind  auch  rechts  angedeutet 
(Ataxie);  beiderseits  besteht  Andeutung  von  Patellarklonus  und  constant 
Fussklonus.  Fusssohlenreflex  beiderseits  vorhanden.  Beim  Sitzen  ist  das 
Aequilibrium  nicht  gestört.  Rumpfmuskulatur  ohne  Befund.  Störungen 
der  cutanen  Sensibilität  finden  sich  nur  mehr  in  r.  UE.  und  r.  Stamm- 
hälfte. 

Tactile  und  algetische  Hypästhesie  besteht  von  den  Zehen  der  r. 
UE.  ausgesprochen  bis  zur  Beckenhöhe  streng  halbseitig,  reicht  von  da, 
immer  mehr  abnehmend  und  sich  unmerklich  verlierend,  vorne  bis  zur 
Höhe  der  6.  Rippe,  hinten  bis  zum  Angulus  scapulae. 

Bezüglich  der  Wärmeempfindung  wird  constatirt,  dass  auf  der 
r.  Körperhälfte  aufwärts  bis  zur  7.  Rippe  Eprouvetten,  mit  60°  C  warmem 

Krafft- Ebinf»,  Arbeiten  II.  ° 


1 14    II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

"Wasser  gefüllt,  nur  Berührungsempfindung  vermitteln;    hinten  ist   die 
Grenze  der  Angulus  scapulae. 

Von  da  aufwärts  bis  zum  Nacken,  vorne  bis  zur  Höhe  der  Clavicula 
besteht  einfach  Hypästhesie  für  Wärmereiz. 

Das  Gebiet  gestörter  Kälteempfindung  deckt  sich  wesentlich  mit 
dem  obigen  Gebiet,  jedoch  findet  sich  insofern  eine  Nuance,  als  Eprouvette 
mit  Eis  r.  vorne  bis  zur  Mitte  des  Oberschenkels,  hinten  bis  zur  Gluteal- 
falte  aufwärts  nur  als  Berührung,  von  da  ab  vorne  bis  zum  Nabel,  hinten 
bis  zum  Darmbeinkamm  aufwärts  nur  als  heftiger  Schmerz  empfunden 
wird.  "Weiter  aufwärts  im  Rayon  der  tactilen  und  algetischen  Hypästhesie 
besteht  auch  thermische  für  beide  Reize. 

An  allen  übrigen  Körperstellen  erweist  sich  die  cutane  Sensibilität 
vollkommen  normal. 

"Was  die  tiefe  Sensibilität  betrifft,  so  werden  passive  Gelenkbeweg- 
ungen von  geringer  Excursion,  die  aber  physiologisch  noch  sicher  er- 
kennbar sind,  an  der  r.  OE.  nicht  percipirt. 

Dasselbe  gilt  für  feine  Gelenkbewegungen  der  r.  Zehen.  Im 
Uebrigen  werden  solche  feine  Bewegungen  rechts  allenthalben  wahr- 
genommen. 

An  1.  OE.  werden  nur  im  Schultergelenk  grobe  Bewegungen 
wahrgenommen,  aber  nicht  unterschieden.  An  1.  UE.  fehlt  jegliche 
Perception  passiver  Bewegung. 

Die  Lage  Vorstellung  der  1.  Extremitäten  ist  schwer  gestört,  rechts  intact. 

Ein  Schwanken  der  Symptome  durch  psychische  Beeinflussung  tritt 
im  Laufe  der  Beobachtung  nie  zu  Tage. 

Die  Sphincteren  sind  ungestört.  Fibrilläre  Muskelzuckungen  sind 
nie  zu  bemerken.  Psychisch  bietet  Pat.  nicht  das  geringste  Auffällige. 
Sie  ist  ruhig,  gleichmüthig,  resignirt,  fern  von  jeder  Tendenz  zur  TJeber- 
treibung  oder  zur  Klaghaftigkeit.  Somatische  Stigmata  Hysteriae  werden 
andauernd  vermisst 

Eine  energische  tägliche  faradische  Durchströmung  der  ihrer  tiefen 
Sensibilität  verlustigen  Gelenke  der  1.  UE.  hatte  einigen  Erfolg,  insofern 
gröbere  passive  Bewegungen  wieder  zur  Perception  gelangten  und  das 
Gehen  sicherer  wurde.  Pat.  begnügte  sich  mit  dieser  Besserung  und 
verliess,  im  Uebrigen  im  Status  quo  ante,  am  18.  Mai  97  die  Klinik 

Beob.  3. 

B.,  28  J.,  Tischler,  aufg.  11.  3.  95,  Ascendenz  nicht  zu  eruiren, 
war  gesund  bis  auf  Typhus  und  Erysipel  mit  16  J.,  hatte  nie  Lues,  soll 
Potator  gewesen  sein. 

1887  als  Militär,  Splitterfractur  an  r.  Tibia.  Protrahirte  Heilung. 
Seit  der  Heilung  von  der  Narbe  zeitweise  zum  r.  Knie  ausstrahlende 


Vortäuschung  von  multipler  Sklerose.  115 

Schmerzen.  1890,  unter  Zunahme  solcher  Schmerzen,  Parese,  Anästhesie 
und  Versteifung  in  r.  UE.    Temporäre  Besserung  in  einer  Therme. 

Seit  1892,  anlässlich  Schmerzen  in  r.  UE.,  auch  solche  in  r.  OE. 
und  Parästhesien,  die  Pat.  mit  dem  Gefühl  des  Elektrisirtwerdens 
verglich. 

Seit  1894  zeitweise  secundenlange  Schwindelanfälle  mit  Schwarz- 
werden vor  den  Augen,  auraartig  eingeleitet  mit  einem  von  der  Narbe 
am  r.  Fuss  bis  zum  Occiput  ausstrahlenden  Schwarz.  1892  will  Pat.  längere 
Zeit  an  Diplopie  gelitten  haben.  Seit  dem  Auftreten  der  Schwindel- 
anfälle ist  er  psychisch  sehr  erregbar  geworden. 

Stat.  Mitte  März  1895:  Pat.  mittelgross,  kräftig,  Schädel  normal. 
Vegetative  Organe  ohne  Befund. 

Concentrische  Einengung  des  Sehfelds  beiderseits.  Abblassung 
beider  Papillen,  die  auf  Alkoholmissbrauch  zurückgeführt  wird.  An 
beiden  Augen  Insufficienz  des  M.  externus. 

Insufficienz  des  M.  int.  dexter  und  des  Ext.  sin.  beim  Blick 
nach  links  (associative  Insufficienz).  Beim  Sehen  nach  r.  und  1. 
Nystagmus.  Amyosthenie  der  r.  OE.,  tiefe  Reflexe  in  dieser  Extremität 
gesteigert.  Ameisenlaufen  in  der  ganzen  r.  OE.,  in  der  1.  bis  zum  Ell- 
bogen hinauf. 

In  beiden  OE.  bis  zur  Höhe  des  Ellbogengelenks  herauf  cutane 
Hypästhesie  und  Hypalgesie  bei  intacter  Temperaturempfindung  und  tiefer 
Sensibilität.     Die  gleiche  Störung  auf  der  r.  Thoraxhälfte. 

In  r.  UE.  Amyosthenie,  Andeutung  von  Ataxie,  Hypästhesie,  Hyp- 
algesie, thermische  Anästhesie,  gestörtes  Muskelgefühl  und  Lagebewusst- 
sein.  Patellarreflex  gesteigert,  r.  mehr  als  1.,  1.  UE.  im  Uebrigen  ohne 
Befund.     Nirgends  Atrophie. 

Gang  taumelnd.  Die  r.  UE.  wird  langsam  und  steif  mit  supinirtem 
Fuss  aufgesetzt.  Bei  geschlossenen  Augen  droht  Pat.  nach  rechts  um- 
zusinken. 

Pat.  verweilte  2  Monate  im  Spital,  wurde  elektrisirt,  erfuhr  eine 
massige  Besserung,  die  in  Trenczin  sich  noch  weiter  steigerte. 

Im  November  95,  unter  allgemeinem  Unwohlsein,  Schmerz  in  der 
r.  UE.,  Globus,  bedeutende  Verschlechterung  des  Gehens  bis  zu  tempo- 
rärer Paraparese,  mit  Gefühl  von  Vertaubung  in  der  UE.,  die  Pat.  am 
18.  3.  96  der  Spitalsbehandlung  zuführte. 

Stat.:  geringe  conc.  Einschränkung  des  Gesichtsfelds  auf  beiden 
Augen  (nach  aussen  um  20°,  nach  innen  um  10°,  nach  oben  und  unten 
um  10  resp.  20°). 

Sehschärfe  etwas  herabgesetzt  (Jäger  beiderseits  5 — 6,  Finger  werden 
auf  6  m  Entfernung  ziemlich  gut  gezählt).     Beiderseits  Abblassung  der 


116    II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

temporalen  Papillenhälften.  Der  1.  m.  rect.  int.  ist  bei  Convergenz  in- 
sufficient,  nicht  aber  bei  associirter  Bewegung  mit  dem  r.  ext.  Beider- 
seits Nystagmus  horizontalis.  Basche  Ermüdung  beim  Sehen,  unter 
Eintritt  von  Nebel  und  Mouches  volantes.  Hirnnervengebiet  sonst  frei, 
bis  auf  leicht  behinderte,  aber  nicht  skandirende  Sprache. 

In  den  OE.  bei  Greifbewegungen  ein  dem  Intentionszittem  ähn- 
licher Tremor,  aber  in  Auftreten  und  Intensität  sehr  wandelbar  und 
zeitweise  auch  in  Buhe  bemerklich.  In  r.  OE.  tiefe  Beflexe  gesteigert. 
Sonst  kein  Befund. 

In  den  UE.  nirgends  trophische  oder  vasomotorische  Störungen. 
Amyosthenie,  auffallend  geringe  und  ungeschickte  Innervation. 

Tiefe  Beflexe  gesteigert,  kein  Fussclonus.  Muskeltonus  etwas  herab- 
gesetzt. Gang  schwankend,  vorsichtig,  deutlich  psychisch  beeinflusst 
durch  beständige  Angst  zu  fallen. 

Beim  Augenschluss  Umfallen  nach  rückwärts.  Sensibilität  intact, 
bis  auf  Herabsetzung  der  tiefen  Sensibilität  in  den  Zehengelenken, 
Klagen  über  Schmerzen  in  allen  Gelenken,  die  auch  als  Ursache  der 
Gehstörung  angegeben  werden.  An  der  r.  Patella  (oberer  und  innerer 
Band)  Druckschmerzpunkte. 

Zu  Gunsten  von  multipler  Sclerose  sprach  die  frühere  Diplopie, 
der  Nystagmus,  die  temporale  Abblassung  der  Papillen,  die  Amblyopie,  die 
Andeutung  von  Intentionszittem  im  Stat.  praesens. 

Die  nicht  zu  Atrophie  fortschreitende  Abblassung  konnte  mit  Potus 
in  Beziehung  stehen,  desgleichen  die  Amblyopie. 

Für  Hysterie  sprachen  die  traumatische  Genese  (traumatische  Neur- 
ose), die  conc.  Sehfeldeinschränkung,  die  associative  Augenmuskelparese, 
die  segmentären  und  dissociirten  Empfindungsstörungen,  die  Art  des 
Tremor,  die  Arthralgien  mit  Schmerzpunkten,  die  äusserst  wechselnde 
und  deutlich  psychisch  bedingte  Gangstörung  u.  s.  w.,  sodass,  trotz  des 
Fehlens  von  weiteren  Stigmata  hysteriae  und  monosymptomatischer  Be- 
deutung des  Falles,  die  Diagnose  auf  Hysterie  (traumatische  Neurose)  ge- 
stellt werden  musste. 

Das  Krankheitsbild  änderte  sich  nicht  in  mehrwöchentlicher  Spitals- 
beobachtung. 

Beob.  4. 

B.,  27  J.,  Fleischhauer,  stammt  angeblich  von  geistes-  und  nerven- 
gesunden Eltern.  Er  hat  eine  krampfkranke,  wahrscheinlich  hysterische 
Schwester  und  leidet  seit  der  Kindheit  an  Migräne. 

Mit  2  J.  machte  er  Diphtheritis,  mit  17  J.  Varicellen  durch.  Nie 
Lues.  Seit  dem  14.  J.  Potator  strenuus,  in  den  letzten  Jahren  Consum 
von  bis  10  Liter  Bier  und  Wein  täglich,  auch  reichlich  Thee  mit  Rum 


Vortäuschung  von  multipler  Sklerose.  117 

In  der  Militärzeit  viel  Strapazen,  im  Beruf  später  viel  Erkältungen  (Eis- 
keller). 

Beginn  jetziger  Krankheit,  angeblich  nach  heftiger  Erkältung,  im 
August  1892. 

Pat.  erwachte  Nachts  mit  einem  Schüttelfrost  und  Sprachunfähig- 
keit. Der  Mund  soll  schief  nach  1.  verzogen  gewesen  sein,  er  habe  ihn 
nur  auf  der  r.  Seite  öfi'neu  können.  Die  Zunge  sei  nach  1.  abgewichen 
(gekreuzter  Zungenlippenkrampf?)  Pat.  liess  sich  in  ein  Spital  auf- 
nehmen, sah  dort  andere  Patienten  mit  Lähmungen,  emotionirte  sich 
darüber  und  bekam  am  6.  Tage  seines  Spitalsaufenthaltes  eine  binnen  drei 
Tagen  sich  entwickelnde  schlaffe  Lähmung  der  r.  OE.  und  UE.,  die  nach 
14  Tagen  vollkommen  schwand.  Er  verliess  das  Spital,  bekam  bei  einem 
Zechgelage  im  Wirthshaus  plötzlich  die  Sprache  wieder  und  befand  sich 
wieder  wohl. 

Zwei  Monate  später  bekam  er  Schmerzen  in  der  r.  Schulter,  zu- 
gleich mit  Parese  in  den  Muskeln  dieses  Gelenks,  die  nach  einigen  Tagen 
wieder  geschwunden  war. 

Vom  28.  12.  93  bis  9.  1.  94  lag  Pat.  auf  einer  Augenabtheilung 
wegen  Neuritis  retrobulbaris  oculi  dextri.  Er  war  acut  erkrankt  mit 
Schmerzhaftigkeit  des  r.  Bulbus,  Stirn-,  Kopfschmerz,  Nebel  vor  dem 
Auge,  Mouches  volantes.  Die  Papille  erschien  nasal  verwaschen.  Bei 
der  Entlassung  war  das  Sehvermögen  wieder  normal. 

Seither  häufig  Schwindel,  Kopfweh,  gestörter  Schlaf,  Tremores,  im 
Frühjahr  95  r.  Amblyopie,  im  Herbst  des  gleichen  Jahres  auch  1., 
Erscheinungen,  die  auf  Alkoholismus  bezogen  wurden. 

Im  Juni  95  begann  Zittern  in  beiden  UE.  und  Schwäche  in  der  r. 

Wegen  Zunahme  dieser  Beschwerden  liess  sich  Pat.  im  Januar  96 
auf  der  Nervenklinik  aufnehmen. 

Stat.:  Cranium  rachiticum,  Cf.  59  cm. 

Pupillen  normal,  Abblassung  der  Papillen,  mit  leichter  Ver- 
schleierung ihrer  Grenzen,  1.  nur  an  der  äusseren  Papillenhälfte.  Visus 
Snellen  r.  ^  1.  -j^.  Bei  extremer  Seitenbewegung  Andeutung  von 
Nystagmus,  aber  nur  zeitweise.     Sonst  Hirnnerven  intact. 

An  den  OE.  Motilität  normal,  bis  auf  temporal-  auftretendes,  nur 
nahe  dem  Ziel  bemerkbares,  grob  welliges,  äusserst  unregelmässiges  In- 
ten tionszittern.    Tiefe  Keflexe  lebhaft.    Sensibilität  normal. 

An  den  UE.  minimale  Amyosthenie,  bedeutende  Steigerung  der 
tiefen  Reflexe,  r.  und  1.  Fussklonus,  Sensibilität  normal,  Romberg  ange- 
deutet. Gang  weder  spastisch  noch  paretisch,  aber  Andeutung  von 
Fersengang  und  leichte  Ataxie,  die  aber  in  Bettlage  nicht  nachweise 
bar  ist. 


118     H.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Pat.  erfuhr  unter  Hydro-  und  Electrotherapie  eine  Besserung  seines 
Befindens. 

Stigmata  hysteriae  waren  in  mehrwöchentlicher  Beobachtung  nicht 
nachweisbar.  Die  Diagnose  wurde  auf  Hysterie  und  Alkoholismus  chron. 
gestellt  und  der  an  Sclerosis  multiplex  erinnernde  ophthalmoscopische  Be- 
fund im  Sinne  von  Residuen  einer  Neuritis  retrobulbaris  ex  abusu  alkohol. 
gedeutet. 

Beob.  5.    (Souques  etude  des  Syndromes  hysteriques,  p.  16.) 

D.,  49  J.,  Schmied,  aufg.  27.  7.  90,  aus  schwer  belasteter  Familie,  als  Kind 
schwächlich,  aber  gesund,  nie  luetisch  gewesen,  kein  Trinker,  war  durch  den  Verlust 
seiner  Frau,  sonstigen  Kummer  und  berufliche  üeberanstrengung  seit  Jahren  hystero- 
neurasthenisch  geworden. 

Im  März  87  bei  der  Arbeit  apoplectiformer  Anfall.  Nach  40  Minuten  zu  sich  ge- 
kommen, r.  Hemiplegie  mit  Aphasie.  Nach  5  Monaten  wieder  arbeitsfähig,  aber  r. 
amyosthenisch  und  Sprache  noch  leicht  gestört. 

Anfang  89  Kopfweh,  Verstimmung,  Schwindelanfälle,  Zittern,  allmälige  r.  Amaurose. 

Stat.  Juli  90:  Bradyphasische,  skandirend  stotternde  Sprachstörung.  Seim  Auf- 
stehen allgemeiner  Tremor,  Schwanken,  mit  Steigerung  dieser  zwei  Symptome  beim 
Augenschluss.  In  der  Kühe  kein  Zittern.  Das  Intentionszittern  der  Hände,  nahe  dem 
Ziele  gesteigert,  durch  Anstrengung  und  Emotion  vermehrt,  rhythmisch,  6 — 7  Mal  per 
Secunde,  ist  klassisch.  R.  Hemiplegie  exclus.  Facialis.  Contractur  der  i:  Zunge  mit 
Abweichen  nach  1.,  Intentionszittern  von  Zunge  und  Unterkiefer.  Patellarreflex  r.  ver- 
mindert. Anlässlich  Emotion  Schwindelanfälle  mit  Globus,  Sprechunfähigkeit,  zuweilen 
solche  Anfälle  mit  Bewusstlosigkeit.  K.  Hemianästhesie  mit  Betheiligung  von  Sinnes- 
organen. B.  Amaurose,  1.  concentr.  Sehfeldeinschränkung,  Dyschromatopsie.  Fundus 
ophthalmoscopisch  normal.  Kein  Nystagmus.  Hysterogene  Zonen  an  1.  Hoden  und 
1.  Hüfte. 

Besserung  im  Spital.  Das  durch  vorwiegende  Localisation  im  Lähmungsgebiet, 
rhythmischen  Character,  die  Frequenz  der  bei  Sklerose  beobachteten  Oscillationen  über- 
steigende, wandelbare  Intentionszittern  schwand  gänzlich. 

Beob.  6.     (Souques  op.  cit.  p.  31.) 

D.,  88  J„  Dachdecker,  aufg.  14.  6.  90,  hat  1869  au  Sumpffieber  gelitten,  vor 
3  J.  Lues  acquirirt.  Vor  1  J.  apoplectischer  Insult  mit  1.  Hemiplegie,  Sprachstörung, 
Trübsehen,  angeblich  Nystagmus.  Besserung.  Am  1. 6.  beim  Erwachen  Zittern,  Schwindel, 
Betäubung,  Kopfweh,  vermehrte  Sprachstörung.  Bei  der  Aufnahme  Gang  schwankend 
wie  der  eines  Betrunkenen,  klassisches  Intentionszittern,  1.  schlaffe  Hemiparese,  Patellar- 
reflex r.  schwach,  1.  erloschen. 

L.  sensitivo6ensorielle  Hemianästhesie,  skandirende  Sprache,  tremulirende  Stimme. 
Kopfweh,  Betäubung,  ^ehstörung.  Dieulafoy  (Hospital  Necker)  stellte  die  hysterische 
Bedeutung  des  Falles  fest.  In  zwei  anderen  Spitälern  hatte  man  multiple  Sklerose 
diagnosticirt. 

Weitere  Fälle:  Souques,  op.  cit.  p.  26,  31,  43;  Charcot,  Progres  medical  1890, 
Sept.;  Bristowe,  Diseases  of  the'nervous  System,  London  1888;  Eendu,  Gaz.  des  böpit. 
1890.  Nr.  56;  Westphal,  Archiv  f.  Psych.  XIV,  1;  Rendu,  Bullet,  et  mem.  de  la 
societe  med.  des  höp.  1889,  p.  181;  Edge,  The  lancet,  1885,  Sept.;  Maguire,  Brain  1888, 
p.  71;  Wagner,  Berlin,  klin.  Wochenschr.  1880,  p.  519;  Kolland,  Journal  de  med.  de 
Bordeaux,  1889;    Langer,  Wien,  med.  Presse,  1884;    Babinski,  These  inaugurale,  Paris 


VortäuBchung  von  multipler  Sklerose.  119 

1885;   Killian,  Dissertat.     Strassburg  1878.    Francotte,  Annal.   de  la  boc.  med.  chirur. 
de  Liege  1887. 

Die  klinische  Erfahrung  lehrt,  dass  Verwechslung  von  Hysterie 
mit  multipler  Sklerose  kein  seltenes  Vorkommen  ist.  Nur  eine  genaue 
Beobachtung  und  Anamnese  vermag  nach  Umständen  zur  richtigen 
Diagnose  gelangen.  Anamnestisch  wäre  auf  Ausbruch  der  Krankheit 
vor  dem  40.  Lebensjahre,  im  Anschluss  an  refrigeratorische  Schädlich- 
keiten und  acute  Infectionskrankheiten  Gewicht  im  Sinne  einer  Sklerose 
zu  legen.  Erkrankung  nach  einer  Gemüthsbewegung  muss  Präsump- 
tionen  zu  Gunsten  hysterischer  Bedeutung  des  Falles  erwecken. 

Apoplectiformes  Einsetzen  der  Krankheit  mit  oder  ohne  Mono-  oder 
Hemiplegie,  Erbrechen,  Kopfweh,  Schwindel  kommt  in  beiden  Krank- 
heiten vor. 

Die  Kriterien,  welche  für  eine  hysterische  „Apoplexie"  sprechen, 
habe  ich  p.  58,  die  Unterschiede  von  functioneller  und  organischer  Hemi- 
plegie p.  57  besprochen. 

Auch  der  jähe  Wechsel  der  Symptome,  das  plötzliche  Einsetzen 
und  Zurücktreten  von  Krankheitserscheinungen  findet  sich  bei  Sklerose 
und  bei  Hysterie,  bei  letzterer  aber  bei  genauem  Zusehen  in  Abhängig- 
keit von  psychischen  Einflüssen. 

Aber  auch  eine  Reihe  von  Einzelsymptomen  findet  sich  bei  beiden 
Krankheiten  vor,  jedoch  ergaben  sich  bei  genauerem  Eingehen  Nuancen, 
die  zur  Differenzirung  führen  können. 

Mit  Recht  macht  die  Schule  der  Salpetriere  geltend,  dass  das 
hysterische  Intentionszittern  auch  im  Zustand  der  Ruhe  erkennbar  ist, 
dass  Intention  nur  seine  Oscillationsamplitude,  nicht  aber  seine  Frequenz 
vermehrt.  Ueberdies  ist  es  in  Intensität  und  Extensität  sehr  wechselnd, 
oft  intermittirend ,  rhythmisch  und  von  seelischen  Einflüssen  noch  viel 
stärker  beeinflusst,  als  bei  der  Sklerose. 

Die  hysterische  Sprachstörung  ist  viel  mehr  Stottern,  als  Skandiren, 
sehr  wandelbar,  emotionell  hochgesteigert,  bis  zum  temporären  Versagen 
der  Sprache. 

Der  vielfach  bei  Hysterie  geläugnete  Nystagmus  kommt  bei  dieser 
Krankheit  vor.  Auch  hier  können  sich  Paradoxien  zeigen,  wie  z.  B.  in 
meinem  Fall  2,  wo  es  sich  um  Nystagmus  verticalis  handelte. 

Dauernde  Störungen  der  cutanen  Sensibilität  fand  ich  nie  bei 
Sklerose  vor,  nur  flüchtige,  gering  ausgeprägte  und  meist  im  Anschluss 
an  neue  Insulte  und  Vorstösse  der  Krankheit.  Dauernde  Störungen  der 
tiefen  Sensibilität  werden  beobachtet  (Freund),  aber  ich  fand  sie  immer 
nur  an  den  distalen  Enden  der  Extremitäten. 

Paradoxes  Fussphänomen  (Westphal)  habe  ich  nur  bei  Hysterischen 


120     n.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

vorgefunden,  nie  bei  Sklerose.  Differentiell  diagnostisch  entscheidend  zu 
Gunsten  von  Sklerose  sind  positive  Augenspiegel  (Uhthoff  u.  A.),  beson- 
ders die  temporale  Abblassung  der  Papille  bis  zur  partiellen  Atrophie. 
Dieser  Befund  kommt  aber  der  Sklerose  nicht  ausschliesslich  zu  und  be- 
darf reiflicher  Erwägung,  um  Verwerthung  zu  finden.  In  Beob.  3  und 
4,  die  wohl  Jedermann  der  Hysterie  zuzählen  wird,  findet  er  sich  als 
Complication  des  neurotischen  Bildes,  in  3  wahrscheinlich,  in  4  sicher 
auf  Alkoholmissbrauch  zurückführbar.  Es  muss  aber  noch  daran  erinnert 
werden,  dass  Jäger  immer  darauf  hingewiesen  hat,  dass  die  Hysterischen 
sehr  blasse  Papillen  haben,  was  er  auf  einen  Gefässkrampf  in  der  Retina 
deutete.  Jedenfalls  kann  blosse  Abblassung  der  Papillen  nicht  auf 
einen  organischen  Process  zurückgeführt  werden,  sondern  nur  Atrophie 
derselben. 

Die  Sehstörungen  bei  Sklerose  zeigen  zwar  auch  ein  wechselndes 
Bild,  aber  nicht  so  wie  bei  Hysterie,  die  brüsk  Amaurose  herbeiführen 
kann.  Centrales  Skotom  scheint  nur  der  Sklerose  zuzukommen.  Ein- 
engung des  Sehfelds  ist  bei  Hysterie  immer  concentrisch,  bei  Sklerose 
in  unregelmässiger  Form.  Nicht  selten  geschieht  es,  dass  Sklerose  für 
Hysterie  gehalten  wird.  Charcot  und  Marie  haben  nachgewiesen,  dass 
beide  Krankheiten  sich  oft  combiniren,  was  bei  der  grossen  Häufigkeit 
beider  nicht  auffallen  kann.  Leicht  geschieht  es  dann,  dass  bei  der 
grossen  Eülle  von  hysterischen  Symptomen  auch  der  durch  Sklerose 
vermittelte  Rest  der  Hysterie  zugeschrieben  wird.  Hier  ist  grosse  Vor- 
sicht geboten.  Es  mag  Fälle  geben,  wo  nur  die  Untersuchung  mit 
dem  Augenspiegel  die  verschleierte  organische  Krankheit  enthüllt,  indem 
er  Atrophie  nachweist. 


Vortäuschung  von  Tabes  dorsalis. 

Beob.  1. 

J.,  Marie,  Näherin,  24  J.,  ledig,  wurde  am  5.  1.  95  auf  der 
Klinik  aufgenommen. 

Hereditäre  und  acquirirte  Lues  können  bestimmt  ausgeschlossen 
werden.  Die  Mutter  leidet  an  constitutioneller  simpler  Migräne,  Pat. 
desgleichen  seit  ihrem  13.  Lebensjahr. 

Erste  Menses  mit  16  J.  Nach  halbjährigem  Bestehen  setzten 
dieselben  Jahre  lang  aus. 

Mit  15  J.  begann  Pat.  an  zeitweise  wiederkehrendem  Cystospasmus, 
sowie  an  temporärer  relativer  Incontinentia  urinae  et  alvi  zu  leiden. 

Seit  der  Pubertät  grosse  Erregbarkeit,  Emotivität,  oft  grundloses 
Weinen,  im  Affect  Globus. 

Seit  dem  16.  Jahre  bemerkte  Pat,  dass,  wenn  sie  die  Füsse  herab- 
hängen Hess,  sodass  die  Fussspitze  den  Boden  berührte,  Zittern  der 
Beine  (Trepidation  spinale)  eintrat,  auch  fühlte  sie  Unsicherheit  im 
Gehen,  besonders  auf  schlüpfrigem  Boden. 

Im  19.  Jahr  (Januar  1890),  während  eines  Migräneanfalles  und  im 
Anschluss  an  eine  heftige  Gemüthsbewegung,  bemerkte  Pat.,  als  sie  sich 
aus  dem  Bett  erheben  wollte,  Ameisenkriechen,  Zittern,  Schwäche, 
Gebrauchsunfähigkeit  der  UE.  Sie  lag  nun  8  Tage  angeblich  para- 
plegisch  zu  Bett.  Dann  war  sie  wieder  leidlich  gehfähig,  aber  schwach, 
unsicher  auf  den  Beinen,  in  den  Knieen  einknickend,  überaus  rasch 
ermüdend.  Dabei  Kriebeln  in  den  Beinen  von  den  Knieen  abwärts. 
Besonders  schwer  fiel  ihr  das  Gehen  Nachts  im  dunklen  Zimmer. 

Nach  zweimonatlicher  elektrischer  Behandlung  vermochte  Pat. 
wieder  ohne  Stütze  zu  gehen,  jedoch  fiel  sie  öfter. 

Im  Juli,  1894  nach  Gemüthsbewegung,  bedeutende  Verschlechterung 
des  Gehens,  d.  h.  Zunahme  von  Ataxie,  Amyosthenie  und  anfänglich 
beim  Gehact  Versteifung  im  Hüft-  und  Kniegelenk. 

Seit  October  1894  bemerkte  Pat.  auch  Ungeschicklichkeit  bei 
feineren  Manipulationen.    Die  Nadel  fiel  ihr  öfters  aus  der  Hand,  wenn 


122     H.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Pat.  nach  der  Seite  blickte;  sie  musste  beständig  Acht  geben  und  kam 
mit  der  Arbeit  nicht  so  flink  vorwärts. 

Vorübergehend  leichter  Schmerz  in  der  oberen  Wirbelsäule.  Cessatio 
mensium  seit  September  1894. 

Neuerlich  wurde  das  Gehen  so  schlecht,  dass  Pat.  beständig  an 
Thürstöcke  und  Möbel  anstiess,  sodass  sie  blaue  Flecke  davontrug. 

Stat.  praes.  7.  1.  95. 

Pat.  mittelkräftig,  gut  genährt,  ohne  vegetative  Störungen.  Schädel 
mit  querer  Einsattelung.  Cf.  54  cm. 

Bei  extremer  Seitwärtsbewegung  Intentionstremor  der  Bulbi.  Die 
Pupillen  reagiren  normal  und  zeigen  continuirlich  Hippus.  Gesichtsfeld 
beiderseits  leicht  concentrisch  eingeschränkt,  keine  Dychromatopsie,  ge- 
ringe Amblyopie  auf  1.  Auge,  Fundus  normal.  Im  Uebrigen  von  Seiten 
der  Hirnnerven  keine  Störung. 

An  den  OE.  keine  Amyosthenie,  kein  Rigor,  Spur  von  Intentions- 
zittern;  in  der  Ruhe  kein  Tremor,  keine  Ataxie,  auch  nicht  bei  ver- 
bundenen Augen.    Tiefe  Reflexe  erheblich  gesteigert. 

UE.  unsicherer  schwankender,  oft  nach  r.  übertaumelnder  Gang. 
Grosse  statische  Ataxie,  verstärkt  durch  Augenschluss  bis  zum  Umfallen. 
Auch  beim  Stehen  mit  geschlossenen  Augen  starkes  Schwanken. 

Grobe  Muskelkraft,  bis  auf  geringe  Amyosthenie  in  den  Muskeln 
der  Fussgelenke,  gut. 

Sowohl  locomotorisch  als  bei  Bewegungen  im  Bett  zeigt  sich 
Ataxie  in  den  UE. 

Rigor  besteht  weder  bei  passiver  noch  activer  Bewegung.  Die 
tiefen  Reflexe  sind  hochgesteigert  bis  zu  Fussklonus,  der  Plantarreflex 
ist  lebhaft,  die  cutane  und  tiefe  Sensibilität  intact,  gleichwie  auch  an 
den  übrigen  Körpertheileu.  Die  ganze  Wirbelsäule,  das  Sternum  und 
die  untere  Hälfte  des  Abdomen  sind  sehr  druckempfindlich. 

Die  Störung  der  Statik  und  der  Lokomotion  wechselt  in  der  folgenden 
Beobachtungszeit  überaus.  An  manchen  Tagen  repräsentirt  Pat.  mehr 
das  Bild  einer  Tabes,  an  anderen  das  einer  Friedreichschen  Ataxie.  Sie 
schwankt  dann  hochgradig  beim  Gehen,  kann  ohne  auf  die  Füsse  zu 
sehen  überhaupt  nicht  gehen,  nicht  einmal  mit  geschlossenen  Füssen 
stehen  und  fällt  dann  regelmässig  nach  r.  über.  Auch  in  liegender 
oder  sitzender  Position,  z.  B.  beim  Nachfahren  einer  geometrischen  Figur, 
besteht  erhebliche  Ataxie.  Gleichwohl  ist  Pat.  im  Stande,  ziemlich 
sicher  Springbewegungen  zu  leisten.  An  manchen  Tagen  findet  der  r. 
Zeigefinger  bei  geschlossenen  Augen  den  1.  nicht. 

Am  18.  1.  ergänzt  Pat.  ihre  anarr. nestischen  Mittheilungen  dahin, 
dass  ihr  Leiden  durch   getäuschte  Liebeshofinungen  entstanden  sei  und 


Vortäuschung  von  Tabes  dorsalis.  123 

dass  dazu  viel  ein  an  ihr  gegen  ihren  Willen  vollzogener  Coitus  bei- 
getragen habe.  Die  Erinnerung  an  diese  Vergewaltigung  sei  eine  sehr 
lebhafte  und  mit  Ekel  verbundene. 

Nach  diesen  der  Abgleichung  eines  lange  bestehenden  Affectes 
entsprechenden  Mittheilungen  und  unter  bezüglichen  Wachsuggestionen 
ist  am  19.  1.  die  Ataxie  verschwunden,  aber  auch  Fussklonus  nicht 
mehr  hervorzurufen.  Der  am  28.  1.  erfolgte  Tod  einer  Schwester  ruft 
die  Ataxie  wieder  hervor.  Seither  wechselndes  Verhalten.  Auch  in 
Stunden,  wo  Pat,  sich  selbst  überlassen,  starke,  besonders  statische 
Ataxie  zeigt,  lässt  sich  dieselbe  durch  entsprechende  Wachsuggestionen 
unterdrücken. 

Am  15.  2.  95  rudimentärer  hysterischer  Insult  (Streckkrampf  der 
OE.  und  UE.  mit  leichter  Bewusstseinstr Übung), 

Unter  Gymnastik  und  Wachsuggestionen  allmäliges  Schwinden 
aller  motorischen  Störungen.     Genesen  entlassen  am  9.  3.  95. 

Eine  neuerliche  Untersuchung  im  August  1896  constatirt  Fehlen 
aller  objectiven  Symptome.  Pat.  klagt  aber,  dass  sie  nach  längerem 
Gehen  sich  unsicher  fühle. 

ßeob.  2. 

K.,  31  J.,  Hilfsarbeiter,  stammt  aus  unbelasteter  Familie,  war  bis 
zum  21.  Jahr  ganz  gesund,  machte  mit  21  J.  zuerst  Variola,  dann 
Diphtheritis  durch. 

Er  war  massiger  Weinpotator,  starker  Kaucher,  hatte  viel  in  Venere 
excedirt,  war,  bis  auf  Gonorrhoe  (1887),  von  venerischen  Erkrankungen 
bisher  verschont  geblieben. 

Im  Juni  1889,  mit  26  J.,  erkrankte  Pat.  ohne  auffindbare  Ursache 
an  Schmerzen  beiderseits  im  Cruralisgebiet,  die  in  Intervallen  von  1 — 5 
Tagen  auftraten,  bis  zu  2  Tagen  andauerten  und  der  Beschreibung  nach 
ein  durchaus  lancinirendes  Gepräge  hatten.  Während  dieser  Schmerz- 
anfälle bestand  Harnverhaltung,  die  jeweils  die  Anwendung  des  Katheters 
nötbig  machte.    In  schmerzfreier  Zeit  war  die  Function  der  Blase  normal. 

Anfang  1890  stellte  sich  unsicherer  Gang  ein.  Er  schwankte,  war 
oft  in  Gefahr  zu  stürzen,  getraute  sich  ohne  Stock  nicht  mehr  aus- 
zugehen, war  sehr  unsicher  beim  Treppensteigen;  diese  Beschwerden 
waren  sehr  vermehrt  im  Dunkeln.  Im  Juli  kam  es  zu  asthenopischen 
Erscheinungen  —  die  Buchstaben  wurden  beim  Lesen  undeutlich,  ver- 
schwommen. 

Vom  3. 10.  90 — 5.  3.  91  verweilte  Pat.  wegen  einer  Pleuritis  im  Spital. 

Aus  dem  damaligen  Protocoll  ergiebt  sich  Folgendes:  R.  Ab- 
ducens  paretisch,  im  äusseren  Sehfeld  Doppelbilder,  Lichtreaction  der 
Pupillen  träge. 


124    n.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Eine  anästhetische  Stelle  (s.  u.)  auf  der  Mitte  der  Stirne;  r.  Facialis 
etwas  paretisch,  die  Zunge  beim  Vorstrecken  nach  links  abweichend. 
Der  Proc.  spinosus  des  11.,  12.  Dorsal-  und  1.  Lumbarwirbels  druck- 
empfindlich. Blitzartiges  Zucken  der  Muskulatur  der  Oberschenkel.  Die 
motorische  Kraft  in  den  UE.  herabgesetzt,  r.  stärker  als  links. 

Ataxie  der  OE.  und  UE.,  im  Dunklen  bedeutend  vermehrt.  Eom- 
berg  positiv.  Am  äusseren  Rande  der  r.  "Wade  unterhalb  dem  Knie- 
gelenk eine  10  cm  lange,  5  cm  breite,  scharf  abgegrenzte  anästhetische 
Stelle.  Der  Muskelsinn  in  den  UE.  aufgehoben  (fehlendes  Lagebewusst- 
sein,  mangelndes  Gefühl  passiver  Bewegung  in  allen  Gelenken.  Patellar- 
reflex  sehr  prompt;  bei  Prüfung  des  Fussreflexes  tritt  das  "Westphal'sche 
paradoxe  Phänomen  ein.  Der  Plantarreflex  hoch  gesteigert.  Gürtel- 
gefühl in  der  Höhe  des  Epigastriums,  Gang  breitspurig,  schwankend. 

In  der  Spitalbehandlung  bedeutende  Besserung  all  dieser  Er- 
scheinungen. Die  Abducensparese  schwand  im  Februar  1891.  Zu  gleicher 
Zeit    Schwinden     der    Facialisungleichheit     und     der    Zungendeviation. 

Von  1891 — October  1894  war  Pat.  leidlich  berufsfähig,  jedoch 
kehrten  ab  und  zu  die  Schmerzen  im  Cruralisgebiet  wieder.  Wegen 
bedeutender  Exacerbation  dieser  suchte  Pat.  am  13.  12.  94  neuerdings 
Hilfe  im  Spital. 

In  der  letzten  Zeit,  im  Anschluss  an  Gemüthsbewegungen  und 
daran  sich  anschliessenden  Potus  war  Pat  unlustig  zur  Arbeit,  reizbar 
geworden,  hatte  Kopfdruckbesch werden,  unsicheren  Gang  und  Gefühl 
von  Eingeschlafensein  der  UE.  beim  Erwachen  gehabt. 

Stat.  vom  27.  12.  94:  Pat.  gross,  kräftig  gebaut,  gut  genährt, 
ohne  pathologischen  Befund  Seitens  der  vegetativen  Organe,  frei  von 
Spuren  einer  Lues,  bietet  negativen  Befund  im  Gebiet  der  Hirnnerven 
bis  auf  Hypästhesie  für  alle  Qualitäten  in  einem  umschriebenen  Haupt- 
gebiet auf  der  Stirne,  das  von  der  Nasenwurzel  bis  zur  Haargrenze 
reicht  und  die  Mittellinie  rechts  um  0.5,  links  um  1  cm.  überragt. 

Von  Seiten  der  OE.  findet  sich  kein  pathologischer  Befund,  iuf 
der  r.  Bauchseite  findet  sich  eine  kleinere,  auf  der  1.  eine  grössere 
scharfumschriebene  beckenförmige  Stelle,  an  welcher  die  Empfindlichkeit 
für  alle  Hautreize  bedeutend  herabgesetzt  ist.  Eine  gleiche  Zone  er- 
streckt sich  dorsal  vom  10.  Dorsalwübel  bis  zur  Mitte  des  Kreuzbeins. 

In  diesem  Gebiet  ist  jedoch  die  Perception  von  Kältereiz  erhalten. 
Die  Wirbelsäule  ist  vom  11.  Dorsal-  bis  3.  Lumbarwirbel  druck- 
empfindlich. 

Pat.  steht  mit  breiter  Unterstützungsbasis  und  geräth  in  Schwanken, 
sobald  diese  durch  Annäherung  der  Beine  verschmälert  wird.  Beim 
Aufwärtsblicken  verstärkt  sich  dieses  Schwanken  bedeutend  und  bei  ge- 


Vortäuschung  von  Tabes  dorsalis.  125 

schlossenen  Augen  droht  er  umzustürzen.  Der  Gang  ist  breitspurig 
classischer  Fersengang,  strampfend,  schleudernd,  von  der  Gehweise  eines 
vorgeschrittenen  Tabikers  kaum  differirend. 

Die  motorische  Kraft  in  den  UE.  ist  allenthalben,  besonders  aber 
im  Gebiet  der  Nn.  peronei,  herabgesetzt,  der  Muskeltonus  jedoch  ein  guter. 

Bei  Intention  von  Bewegungen  stellt  sich  Tremor  ein,  der  bei 
Widerstandsbewegungen  von  Seiten  des  Arztes  sich  verstärkt,  vorüber- 
gehend bis  zum  Klonismus  im  Quadriceps  cruris  und  in  den  Gastro- 
cnemii  sich  steigert.  Solcher  Klonismus  tritt  auch  bei  beliebigen  Haut- 
reizen im  Gebiet  der  UE.  auf. 

Rigor  besteht  weder  activ  noch  passiv,  jedoch  stellen  sich  bei 
passiven  Bewegungen  in  den  Kniegelenken  active,  wenn  auch  un- 
gewollte Contractionen  in  den  Streckern  entgegen. 

Der  Patellarreflex  ist  bis  zu  Klonus  gesteigert;  beim  Yersuch,  den 
Fussreflex  auszulösen,  tritt  paradoxe  Contractur  auf. 

In  der  Nabelhöhe,  etwa  10  cm  breit,  besteht  ein  gürtelartiges 
Oppressionsgefühl. 

Etwa  alle  3  Tage  hat  Pat.  seine  Anfälle  von  lancinirenden 
Schmerzen  im  Gebiet  beider  Nn.  crurales.  Auch  intervallär  ist  dieses 
Gebiet  druckempfindlich.  Trophische  Störungen,  Aenderungen  der 
elektrischen  Erregbarkeit  bestehen  daselbst  nicht. 

Die  cutane  und  tiefe  Sensibilität  erweisen  sich  im  Bereich  der 
UE.  intact,  bis  auf  Hyperalgesie  an  Dorsum  und  Planta  pedis,  sowie 
thermische  Hypästhesie  von  den  Knieen  abwärts  bis  zu  den  Zehen, 
ferner  die  schon  oben  erwähnte  Stelle  am  äusseren  Rande  der  r.  "Wade. 
Diese  etwa  handgrosse  Stelle  ist  tactil  hypästhetisch.  Innerhalb  dieser 
geometrischen  Figur  findet  sich  ein  kleinerer  Bezirk  von  Analgesie.  In 
diesem  Bezirke  wird  überall  Kältereiz  richtig  empfunden,  nirgends  aber 
Wärmereiz,  der  jedoch  ab  und  zu  als  „kalt"  percipirt  wird.  Plantar- 
reflex hochgradig  gesteigert,  Bauch-  und  Cremasterreflex  normal.  Die 
Functionen  der  Blase  ungestört,  auch  zur  Zeit  der  Schmerzanfälle. 

Cutane  Reizung  im  hyperästhetischen  Fussgebiet  ruft  jeweils 
maximale  Peroneuscontractur  hervor. 

Druck  auf  den^N.  peroneus  am  Capitul.  fibulae  ruft  r.  prompte 
Peroneuscontractur,  I.  nur  eine  Contractur  des  M.  tibialis  anticus  hervor, 
die  dann  von  einer  solchen  in  dem  Extensor  hallucis  und  den  übrigen 
Zehenstreckern  abgelöst  wird. 

Das  Krankheitsbild  erfährt  bei  längerer  Beobachtung  Ergänzungen 
im  Sinne  von  zeitweisem  Globus,  beiderseitiger  Myodynie  („Ovarie")  in 
der  Unterbauchgegend,  concentrischer  Sehfeldeinschränkung,  gelegent- 
lichen Ructus.     Auffällig  ist  auch  die  Emotivität,  Impressionabilität  und 


126     n.  VortäuBchung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

der  grosse  Stimmungswechsel  des  Kranken.    Die  Gaumen-  und  Rachen- 
reflexe  erweisen  sich  im  Verlauf  herabgesetzt. 

Die  Nn.  supraorbitales,  sämnitliche  Nerven  der  UE.  sind  andauernd 
sehr  druckempfindlich,  ab  und  zu  kommt  es  zu  Wadenkrämpfen. 

Unter  Bädern  (24—20°  R)  Elektrisation ,  Tonica  bessert  sich  die 
Motilität  im  Laufe  des  Frühjahrs  1895  bedeutend,  die  lancinirenden 
Schmerzanfälle  werden  seltener. 

Aus  einem  Stat.  praes.  vom  19.  5.  95  kurz  vor  der  Entlassung 
des  Pat.  geht  hervor,  dass  die  locomotorische  Ataxie  geschwunden  ist 
die  grobe  Muskelkraft  sich  der  Norm  nähert.  Auffällig  bleibt  die 
statische  „Ataxie."  Stehen  ist  nur  bei  breiter  Basis  und  offenen  Augen 
gut  möglich.  Bei  geschlossenen  Augen  tritt  Zittern,  Schwanken  und 
Tendenz  rückwärts  umzustürzen  auf,  jedoch  gewinnt  man  den  Eindruck 
dass  an  diesem  Phänomen  ein  guter  Theil  psychisch  vermittelt  ist  und 
lässt  sich  das  Schwanken  durch  suggestiven  Einfluss  erheblich  aufbessern. 
Die  hyperalgetischen  Stellen  an  den  Füssen  sind  geschwunden  und  mit 
ihnen  die  Möglichkeit,  Reflexcontracturen  hervorzurufen.  Die  hyp- 
ästhetischen  Stellen  an  Stirn,  Abdomen  und  r.  Unterschenkel  bestehen 
unverändert  fort.  Sonst  ist  allenthalben  die  Sensibilität  normal.  Die 
hyster.  Stigmata  sind  geschwunden. 

Bei  der  klinischen  Vorstellung  des  Pat.  im  Januar  1895  war  die 
Diagnose  auf  Hysterie,  wahrscheinlich  combinirt  mit  Neuritis  alkoholica 
der  sensiblen  Nerven  im  Gebiet  der  Nn.  crurales,  gestellt  worden. 

Trotz  grosser  Aehnlichkeit  des  Krankheitsbildes  mit  einer  Tabes 
musste  diese  Möglichkeit,  wenn  auch  nur  als  Complication,  abgelehnt 
werden,  denn  die  Pupillenreaction  blieb  intact,  die  Patellarreflexe  waren 
gesteigert,  desgleichen  die  plantaren.  Dazu  die  tiefen  Remissionen,  der 
psychisch  suggestive  Einfluss  auf  die  gestörte  Motilität,  der  intacte 
Muskeltonus  trotz  mehrjähriger  Dauer  der  Krankheit,  die  auffallende 
Kürze  des  präatactischen  Stadiums,  die  ausschliessbare  hereditäre  und 
acquirirte  Lues  in  der  Vorgeschichte  des  Kranken,  der  frühe  Beginn 
der  Krankheit  mit  26  Jahren. 

Für  Hysterie  sprach  Alles,  speciell  die  temporäre  Hyperästhesie 
der  Füsse,  genau  in  der  Höhe  der  Fussgelenke  abschneidend,  die 
temporäre  Diathese  de  contracture  im  hyperästhetischen  Gebiet,  die 
paradoxe  Contractur  (Westphal)  u.  s.  w. 

Beob.  3.  Souques,  etude  des  Syndromes  hysteriques 
simulateurs.     Observ.  53.  p.  133. 

P.,  37  J.,  Büglerin,  aufgen.  29.  11.  88,  anscheinend  erblich  nicht  belastet,  von 
Kindesbeinen  an  schwächlich,  kränklich,  verliess  ihren  Mann,  einen  Trinker,  mit  dem  sie 
in  unglücklicher  Ehe  gelebt  hatte,   nachdem   sie  von  ihm  am  25.  12.  78  ins  Wasser 


Vortäuschung  von  Tabes  dorsalis.  127 

geworfen  worden  war.  Drei  Monate  später  beginnt  zunehmende  Schwäche  der  ÜE. 
1880  setzen  laneinirende  Schmerzen  ein,  zugleich  mit  Rückenwirbelschmerz  und  Zu- 
ständen ähnlich  gastrischen  Krisen.  Zunehmende  Erschwerung  des  Gehens,  Unsicherheit, 
zeitweises   Einknicken.    Nach   den   Schmerzkrisen   oft   Stellen   cutaner  Hyperästhesie. 

1889  Sehschwäche,  zeitweise  Diplopie,  erschwertes  Harnen. 

1890.  Seit  2  Jahren  Paraplegie  der  ÜE.  Pat.  an's  Bett  gefesselt.  Varoequinus- 
stellung.  Grobe  Muskelkraft  r.  mehr  herabgesetzt  als  1.  Tiefe  Reflexe  gesteigert.  In 
OE.  Amyosthenie,  r.  mehr  als  1.  Fortdauer  der  Anfälle  von  lancinirenden  Schmerzen, 
gastrische  Krisen,  Verlust  der  cutanen  und  tiefen  Sensibilität  in  den  DE.,  der  tiefen 
in  den  OE.  Am  übrigen  Körper  cutane  Hypästhesie.  Druckschmerzhaftigkeit  der 
Dorsal-  und  Lumbarwirbelsäule. 

Pupillenreaction  normal,  Augenspiegelbefund  negativ,  Sehfeld  nicht  eingeschränkt, 
geringe  Micromegalopsie.  Beiderseits  Amblyopia  yV-  Homonyme  Diplopie  von  1  m 
Distanz  ab.  Leichte  Detrusorschwäche.  Allgemeinbefinden  gut.  Vegetative  Organe 
ohne  Befund.  Keine  Syphilis.  Anaesthesia  pharyngis.  Nie  convulsive  Anfälle.  Launen- 
haftes hysterisches  Wesen. 

Beob.  4.     Souques  (ebenda,  Obs.  54.  p.  137). 

P.,  42  J.,  Taglöhner,  keine  sichere  hereditäre  Belastung,  irrelevante  Krankheiten, 
keine  Lues.  Im  Anscbluss  an  Typhus  abdom.  1890  Paraplegie  der  UE.  mit  Anfällen 
von  lancinirenden  Schmerzen  in  denselben,  zugleich  mit  Gürtel-  und  Wirbelschmerz. 
Allmälig  Anfälle  von  Hysteria  gravis  mit  halluc.  Delir.  Nach  einem  derselben  setzt 
Harnverhaltung  ein.    Pat.  wird  launisch,  unverträglich,  zieht  von  Spital  zu  Spital. 

Stat.  August  1890:  Schwieriger  Gang,  einknickend,  mit  vorgeneigtem  Körper, 
kleinen  Schritten,  atactisch,  die  Füsse  sich  überkreuzend,  bei  Augenschluss  Umstürzen. 
Schmerzanfälle,  Gürtel-  und  Wirbelschmerz  unverändert.  Grobe  Muskelkraft  in  UE.  und 
OE.  sehr  vermindert.  Tiefe  Reflexe  normal.  Retentio  urinae.  Cutane  Anästhesie  für 
alle  Qualitäten  allenthalben,  bis  auf  8  sensible  Inseln  auf  r.  Gesichtshälfte.  Anaesthesia 
pharyngis.  Hysterogene  Zonen  an  r.  Hüfte  und  an  der  Wirbelsäule  (Lumbodorsal- 
region),  beiderseits  concentr.,  Sehfeldeinschränkung.  Achromatopsie.  Fundus  normal 
Pupillen  mittelweit,  träge  auf  Licht  und  bei  Accomodation  reagirend. 

Ageusie,  Anosmie,  Hypacusie.     Keine  vegetativen  Störungen. 

Beob.  5.     Souques  (ebenda.     Obs.  55). 

A.,  36  J.,  Typograph,  aufg.  Juli  1890  unbelastet,  frei  von  Lues  und  Alkoholismus, 
gesund  bis  auf  Sumpffleber  und  Typhus  vor  vielen  Jahren,  erkrankte  Ende  1889  nach 
heftiger  Gemüthsbewegung  an  Morb.  Basedow.,  trieb  abus.  Morphii,  bekam  seit 
3  Monaten  lancin.  Schmerzen  in  den  UE.,  Gürtelgefühl  und  gastrische  Krisen. 

Bei  der  Aufnahme  keine  Ataxie,  aber  Unsicherheit  und  Schwanken  beim  Um- 
wenden.   Romberg  positiv. 

Patellar-,  Triceps-  und  Plantarreflex  fehlt,  desgleichen  der  Pharynxreflex.  Teppich- 
gefühl unter  den  Füssen.  Schmerzhafte,  hyperästhetische  Zonen  an  Abdomen  und 
Wirbelsäule.  Cutane  Anästhesie  für  alle  Qualitäten  sonst  überall,  Anästhesie  von 
Conjunctiva  und  Mundhöhle.  Gefühl  passiver  Bewegung  und  Lagevorstellung  allent- 
halben erloschen.  Druckempfindlicbkeit  der  Schenkelmuskeln.  Anosmie,  Ageusie, 
Hypacusie,  concentr.  Sehfeldeinschränkung,  Dyschromatopsie,  ausser  für  Grün  und  Roth. 
L.  Amblyopie,'  monoculäre  Diplopie  und  Micromegalopsie.  Möbiussymptom.  Aus- 
gesprochener Morb.  Basedowii.     Grosse  Emotivität  und  Reizbarkeit. 

Beob.  6.   Leval  Piquechef  (des  Pseudotabes, These  de  Paris  1885). 

0.,  39  J.,  Schneiderin,  aufg.  Mai  1885,  Belastet,  emotiv,  mit  Migräne  behaftet. 
Vor   4   J.    Beginn    mit    Wirbelschmerz,    lancin.    Gürtelschmerz,    Schwäche    der    UE., 


128    II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

gastrischen  Krisen.  Später  Diplopie,  Amblyopie,  Schwindel.  Bei  der  Aufnahme: 
Spinalirritation,  lancin.  Schmerzen,  r.  herabgesetzter  Patellarreflex ,  Pupillen  normal 
schwankender,  unsicherer,  leicht  atactischer,  bei  geschlossenen  Augen  sehr  er- 
schwerter Gang. 

Allgemein  verlangsamte  Apperception  für  cutane  Reize,  leichte  Analgesie, 
Pharynxanästhesie,  Ameisenkriechen  in  den  Fingern,  tiefe  Sensibilität  intact,  keine 
Sphincterbeschwerden.  Leval  diagnosticirt  Tabes,  Huchard,  Hysterie.  Easche  Genesung 
unter  Wachsuggestionen. 

Beob.  7.  Lecorche  und  Talamon  (etudes  medicales  1881, 
p.  550). 

M.,  23  J.,  Kammerfrau,  aufg.  Februar  1879.  Nach  heftigen  Gemüthsbewegungen 
Schmerzen  im  Epigastrium  und  r.  OE.,  Vertaubung  in  r.  OE.,  dann  solche,  nebst 
Formieation  und  Verkrampfung  in  beiden  UE.,  Gürtelgefühl  um  Abdomen  und  Ataxie 
der  UE. 

Globus,  Emotivität,  Lachen  und  Weinen  ohne  Anlass,  Ovarie;  Druck  daselbst 
provocirt  Globus.  Anästhesie  der  Conjunctiva.  Vertaubung,  Versteifung,  Ungeschick- 
lichkeit der  r.  Hand.  Schleudernde  Ataxie  der  UE.,  Andeutung  von  Romberg.  Sensi- 
bilität intact,  dito  grobe  Muskelkraft  und  Sphincteren.  Tiefe  Reflexe  gesteigert.  Keine 
lancin.  Schmerzen. 

Beob.  8.  Michaut  (contribution  ä  l'etude  des  manifestatkms  de 
l'hysterie  chez  l'homme,  These  de  Paris  1890). 

P.,  33  J.,  Kaufmann,  aus  belasteter  Familie,  keine  Lues,  kein  Alkohohsmus.  Vor 
2  J.  Beginn  mit  Formicatio  pedum,  Teppichgefühl  unter  den  Füssen,  schwankendem, 
unsicherem  Gang.  Allmälig  Schwäche  der  Beine,  Anästhesie,  Verlust  der  1  age- 
vorstellung,  schwere  Coordinationsstörung. 

Bei  der  Aufnahme  classische  Erscheinung  schwerer  tabischer  Ataxie.  Rom- 
berg  positiv. 

Verlust  der  Lage  Vorstellung  und  des  Gefühls  passiver  Bewegung  in  den  UE.  Knie- 
reflexe gesteigert.  Complete  Anästhesie  derUE.  in  der  Höhe  der  Kniescheibe  ringförmig  ab- 
schneidend. Von  da  aufwärts  überall  Hypästhesie,  besonders  algetische,  ausgenommen 
hyperästhetische  Zonen  an  Hüften,  drei  obersten  Dorsalwirbeln  und  unter  1.  Mamma. 
Fehlender  Pharynxreflex.  L.  Hyposmie,  Herabsetzung  der  Sehschärfe.  Keine  lancin. 
Schmerzen,  keine  Krisen,  keine  Augensymptome.  Leichte  Detrusorschwäche.  Pat. 
wurde  anfänglich  für  einen  Tabiker  gehalten. 

Beob.  9.     Pitres  (Archives  de  Neurologie,  1888  Mai). 

Mann,  40  J.,  unbelastet,  frei  von  Lues  und  Alkoholismus.  1877  beginnen  lancin. 
Schmerzen,  1880  Gürtelschmerz,  unsicherer  Gang,  Gefühl  von  Geschwollensein  der 
Füsse,  sexuelle  Erregung,  gefolgt  von  Frigidität.  Romberg'sches  Symptom.  Bis  1886 
Blasenstörung,  Tenesmus  recti,  gastrische  Krisen,  klonische  lancin.  Schmerzen,  locomo- 
torische  Ataxie.  Tiefe  Reflexe  erhalten,  keine  Augensymptome.  Diagnose:  Tabes. 
Tod  an  Pleuritis.  Bei  der  Autopsie  macro-  und  microscopisch  Hinterstränge,  hintere 
Wurzeln  und  periphere  Nerven  intact. 

Beob.   10.     Higier  (Wiener  Min.  Wochenschrift  1895.     1.  2.  3.) 

R.,  15  J.,  aufgen.  17.  10.  92,  anscheinend  unbelastet,  war  schon  vor  einem  Jahr 
9  Wochen  hindurch  in  derselben  Weise  krank  gewesen. 

Seit  6  Wochen  Schwäche,  Taubheit  der  Beine,  erschwertes  Stehen,  Unfähigkeit 
zu  gehen  (Astasie  und  Abasie)  mit  Ueberkreuzen  und  Zusammenknicken  der  Beine 
bei  Varoequinusstellung.    Romberg.     In  liegender  Position  Muskelkraft  gut,  alle  Einzel- 


Vortäuschung  von  Tabes  dorsalis.  129 

bewegungen  erhalten,  etwas  Ataxie.  Verlangsamte  Schmerzleitung.  Plantarreflex  er- 
halten, Patellarreflex  fehlend.  Hirnnerven  und  OE.  intact.  Hypalgesie  nnd  thermische 
Hypästhesie  in  UE.,  lancinirende  Schmerzen,  Gürtelgefühl  in  Nabelhöhe.  Verminderte 
und  retardirte  faradocutane  Sensibilität.  Nach  einigen  Tagen  verlangsamte  Empfindung 
und  Spur  von  Ataxie  auch  in  OE.    Lagegefühl  in  Zehen  und  Pussgelenken  gestört. 

Vom  30.  11.  ab  Besserung  —  Schwinden  von  Schmerzen,  Ataxie,  Sensibilitäts- 
störung,  Wiederkehr  der  Gehfähigkeit.  „Ovaria"  duplex.  Concentr.  Einengung  des 
Sehfelds.    Am  17.  1.  93  genesen  entlassen,  bei  jedoch  fehlendem  Patellarreflex. 

Analoge  Fälle  von  Pitres  (Gaz.  med.  de  Paris  1890,  20.  Sept.,  Mann  betreffend), 
von  Mader  (Wien.  med.  Presse  1885,  p.  143,  Weib,  Diagnose:  Myelitis,  spontane 
Heilung)  v.  Grasset  und  Apollinaris  (Gaz.  hebdomad.  1878,  Nr.  8),  Mann,  für  Tabes 
irrthümlich  gehalten  v.  Eaymond  und  Vulpian  (These  de  Michaut,  Paris,  Mann 
betreffend). 

Die  folgenden  vier  Beobachtungen  sind  von  mir  im  Deutschen 
Archiv  für  klinische  Medicin  IX,  1871,  als  Fälle  von  durch  galvanische 
Behandlung  geheilter  oder  gebesserter  Tabes  veröffentlicht  worden.  Ich 
bringe  sie  hier  zum  Abdruck,  theils  um  meinen  damaligen  Irrthum  — 
handelt  es  sich  doch  um  nicht  tabische,  sicher  functionelle,  in  1  und  3 
bestimmt  um  hysterische  Fälle  —  zu  corrigiren,  theils  um  den  damaligen 
unsicheren  Standpunkt  der  Diagnostik  zu  charakterisiren,  da  Argyll 
Robertsons's  Zeichen  in  seiner  Bedeutung  noch  nicht  klar,  Westphal's 
Zeichen  noch  unbekannt  und  das  Ophthalmoscop  noch  ungewohnt  war. 

Eine  analoge  Beurtheilung  verdienen  wohl  alle  Fälle  von  angeblich 
geheilter  Tabes,  bezüglich  welcher  Romberg's  triste  Prognose  nur  zu 
wahr  sein  dürfte. 

Beob.  11. 

Frau  F.,  24  J.,  ohne  erbliche  Anlage  zu  Neurosen,  von  Kindheit  auf  schwächlich, 
mit  16  J.  menstruirt,  seit  ihrer  ersten  Schwangerschaft  vor  3  Jahren  dysmenorrhoisch, 
wurde  am  19.  April  1868  zum  zweiten  Mal  entbunden.  Etwa  am  8.  Tage  des  Puer- 
perium traten  bohrende  nagende  Schmerzen  in  den  unteren  Extremitäten,  namentlich  im 
rechten  Unterschenkel  auf,  die  bald  im  rechten  Arm,  im  Nacken  und  den  Eücken  herab 
sich  zeigten,  die  Nachtruhe  störten,  nach  einigen  Tagen  später  sich  verloren,  aber  in 
der  Folge  alle  3 — i  Wochen  in  gleicher  Heftigkeit  wiederkehrten.  Dazu  gesellten  sich 
lästige  Gürtelgefühle  um  die  ganze  Taille  herum,  Ameisenkriechen  und  pelziges  Gefühl 
in  den  Extremitäten.  Die  Hände  wurden  schwach,  zitterig  und  etwas  unsicher.  Zeit- 
weise sah  Pat.  wie  durch  einen  trüben  Schleier,  hie  und  da  auch  die  Gegenstände 
doppelt.  Seit  etwa  '/a  Jaar  gesellten  sich  locomotorische  Störungen  hinzu  —  das  Gehen 
wurde  unsicher,  wenig  ausdauernd,  sie  strauchelte  selbst  auf  ebenem  Boden,  klagte  über 
ein  lästiges  spannendes  Gefühl  um  die  Kniee  herum,  schwankte  stark  beim  Umdrehen 
und  war  im  Dunkeln  fast  ausser  Stand,  im  Hause  umherzugehen. 

Stat.  praes.  am  13.  Mai  1870:  mittelgrosser,  graciler  Körper.  Bei  angestrengtem 
Sehen  nach  links  und  aussen  treten  Doppelbilder  auf,  nach  allen  übrigen  Eichtungen 
werden  die  Gegenstände  einfach  gesehen.  Das  linke  Auge  amblyopisch  und  nur  Finger 
zählend.  Dornfortsätze  der  Brust-  und  Lendenwirbel  auf  Druck  empfindlich.  Die  Be- 
wegungen   der    rechten    oberen    Extremität    etwas    unsicher,    von    geringer    Ausdauer. 

Krafft-Ebi  ng,  Arbeiten  II.  " 


1 30    H.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

Schmerz-,  Temperatur-  und  Tastempfindung  rechts  vermindert,  hei  guter  Localisation, 
links  sowohl  ad  motum  als  ad  sensum  normale  Verhältnisse. 

Dieselben  Differenzen  bezüglich  der  Sensibilität  finden  sich  zwischen  rechts  und 
links  an  den  unteren  Extremitäten.  Während  sie  links  nahezu  normal  ist,  besteht 
Analgesie  und  Verlust  der  tactilen  Empfindung  rechts  bis  zu  dem  Mittelfuss;  in  der  Mitte 
der  Planta  pedis  findet  sich  Analgesie,  aber  tactile  Empfindung  und  gegen  die  Ferse 
zu  nehmen  Schmerz-  und  Tastempfindung  gleichmässig  ab.  Reflexbewegungen  werden 
von  der  rechten  Fusssohle  aus  nicht  erzeugt,  während  sie  links  normal  sind.  Kechts 
werden  passive  Bewegungen  im  Fussgelenke  nicht  empfunden,  auch  active  Bewegungen 
sind  bei  verbundenen  Augen  erschwert  und  gelangen  nicht  deutlich  zum  Bewusstsein. 

Der  Gang  ist  breitspurig,  schwerfällig,  unsicher.  Beim  Umdrehen  und  Stehen 
mit  geschlossenen  Fersen  tritt  starkes  Schwanken  ein.  Verbindet  man  die  Augen,  so 
droht  Pat.  sofort  umzufallen.  Sie  ermüdet  bald  beim  Gehen,  kann  aber  noch  Gänge 
von  Vs  Stunde  machen.  Vermag  nicht  frei  auf  einen  Stuhl  zu  steigen,  Stiegensteigen 
sehr  mühsam. 

Die  Exploration  der  Genitalien  ergab  negativen  Befund.  Pat,  die  Anfangs  zu 
warm  gebadet  und  dadurch  sich  viel  unsicherer  und  schwächer  befunden  hatte,  bekam 
nun  täglich  Thermalbäder  von  25  °B.  und  wurde  mit  stabilen  Eückenmarksströmen  und 
labilen  Rückenm.-Feronäusströmen  behandelt. 

Schon  nach  wenigen  Tagen  zeigte  sich  subjectiv  und  objectiv  erfreuliche 
Besserung.  Am  22.  Mai,  nach  der  7.  Sitzung,  fand  ich  den  Gang  sicherer,  aus- 
dauernder; sie  konnte  mit  verbundenen  Augen  bereits  stehen  und  auch  ein  paar 
Schritte  machen.  Die  Schmerz-  und  Tastempfindlichkeit  war  auf  der  r.  oberen  und 
unteren  Extremität  überall  wiedergekehrt,  aber  noch  sehr  herabgesetzt,  Reflexe  von 
der  rechten  Fusssohle  aus  noch  nicht  zu  erzielen.  Die  Abducensparese  war  ohne 
directe  Behandlung  gewichen,  so  dass  selbst  bei  Accommodation  für  ganz  nahe  Gegen- 
stände keine  Doppelbilder  mehr  auftraten.  Auch  die  Amblyopie  des  1.  Auges  gebessert, 
so  dass  Pat.  grosse  Druckschrift  lesen  konnte. 

Nach  13  weiteren  Sitzungen  (13.  Juni)  war  es  weder  mir,  noch  Hrn.  Dr.  Wil- 
helmi,  der  mit  mir  Pat.  behandelte,  möglich,  irgend  welche  Symptome  des  früheren 
Leidens  wahrzunehmen.  Pat.  hatte  ohne  unspr  Vorwissen  Tags  zuvor  einen  2000' 
hohen  Berg  erstiegen,  ohne  durch  diesen  Excess  besonders  ermüdet  zu  sein,  stieg  frei 
auf  Stühle,  ging  vollkommen  sicher  mit  verbundenen  Augen  und  zeigte  nicht  mehr  die 
geringste  Coordinationsstörung  ihrer  Bewegungen.  Auch  die  Sensibilität  war  rechts 
nach  allen  Qualitäten  zur  Norm  zurückgekehrt,  die  Reflexerregbarkeit  auch  im  rechten 
Bein  vollkommen  vorhanden.     Die  Genesung  hat  sich  seit  6/4  J.  ungetrübt  erhalten. 

Beob.  12. 

Hr.  J.,  Hauptmann,  40  J.,  ohne  erbliche  Anlage,  von  kräftigem  Körperbau  und 
solidem  Lebenswandel,  hatte  die  Strapazen  des  Krieges  gegen  Frankreich  erfahren,  viele 
Erkältungen  und  Durchnässungen  auf  Märschen  und  in  Bivouaks  zu  bestehen  gehabt  und 
im  Gefecht  bei  Nuits  am  18.  Dec.  1870  eine  schwere  Verwundung  im  linken  Ellbogengelenk 
erlitten.  Während  des  nun  folgenden  Krankenlagers  trat  quälende  Schlaflosigkeit  und 
hartnäckige  Stuhlverstopfung  auf.  Als  er  Mitte  März  1871  das  Bett  verlassen  konnte, 
bemerkte  er  pelzige  Gefühle  in  den  unteren  Extremitäten  und  der  rechten  Haml, 
Ameisenkriechen,  Unsicherheit  beim  Gehen  und  flüchtige,  zuckende  Bewegungen  in  ein- 
zelnen Muskelgruppen  der  Beine,  bei  gleichzeitig  erheblieh  gesteigerter  spinaler  Keflex- 
erregbarkeit,  sodass  Pat.  bei  geringem  Anlass  oft  heftig  zusammenfuhr.  Nach  einigen 
Wochen    gesellte    sich  Parese    des  Detrusor   urinae   auf   zeitweise  lästigen  Harndrang 


Vortäuschung  von  Tabes  dorsalis.  131 

hinzu.    Vor  2  Monaten  wurden  die  Bewegungen  der  Hände  unsicher  und  zitterig,  seit 
14  Tagen  stellte  sich  Amblyopie  und  zeitweises  Doppelsehen  ein. 

Stat.    praes.    am    16.    Mai    1871:    Linksseitige   Abducensparese;    beide    Opticus- 
scheiben  stark  gerötbet,  der  innere  Rand  der  linken  etwas  verwischt.   Das  rechte  Auge 
in  geringerem,  das  linke  in  bedeutendem  Grad  amblyopisch.     Schon  beim  Sehen  in  die 
Ferne  tritt  ab  und  zu  Doppelsehen  ein,  das  bei  Accommodation  für  die  Nähe  beständig 
vorhanden  ist.    Die  Doppelbilder  entfernen  sich  in  dem  Maasse,  als   die  Objecte  nach 
der  Seite  des  kranken  Auges  verschoben  werden,  jenseits  der  Mittellinie  sieht  Pat.  ein- 
fach.    Geringer  Grad  von  Ataxie  in  den  Händen  nebst  lästigem  Gefühl  von  Pelzigsein 
in  denselben,  ohne  wirklich  nachweisbare  Sensibilitätsstörungen.    In   den  unteren  Ex- 
tremitäten, bei  erhaltener  Muskelkraft,  ausgesprochene  Coordinationsstörungen ,  breit- 
spuriger, unsicherer  Gang  mit  Hahnentritt,  starkes  Schwanken  beim  Umdrehen.     Der 
Eomberg'sche  Versuch  fällt  negativ  aus,  Anomalien    der  Sensibilität  sind  nicht   nach- 
weisbar.    Pat.  steigt  nur  mühsam  und  unter  starkem  Schwanken  frei  auf  einen  Stuhl, 
ermüdet  rasch  beim   Gehen.    Auf  seit   einigen   Tagen  genommene  Thermalbäder  von 
29°  R.  fühlte  er  sich  jedes  Mal  sehr  ermattet  und  viel  unsicherer,  weshalb  diese  aus- 
gesetzt wurden.     Ich  bebandelte  nun  Pat.  mit  möglichst  starken  galvanischen  Strömen, 
stabil,  ohne  Rücksicht  auf  die  Stromesrichtung,  täglich  5  Min.  lang  längs  dem  Rücken- 
mark, wobei  die  eine  Elektrode  möglichst  hoch  am  Nacken  wegen  der  Augensymptome 
applicirt  wurde.     Damit  wurde  örtliche  galvanische  Reizung  des  paretischen  M.  rectus 
extern,  verbunden.     Schon  nach  der  2.  Sitzung  fand  ich  zu  meiner  Freude  und  Ueber- 
raschung  Gang   und  Sehen  gebessert.     Das   Doppelsehen    trat  nur  mehr  bei   Accom- 
modation   für  ganz   nahe  Gegenstände  und  bei  forcirtem  Sehen  nach  links  ein,  auch 
näherten  sich  die  vor  der  Sitzung  um  2 — 3"  entfernten  Doppelbilder  jedes  Mal  nach 
derselben  bis  auf  7a"-    Nach  etwa  5  Sitzungen  konnte  Pat.  wieder  die   feinste  Schrift 
lesen.     Während  aber  in   der  Folge   sowohl  die  Gefühle   von  Pelzigsein,  als   auch  die 
locomotorischen  Störungen  vollständig  verschwanden,  gelang  eine  vollständige  Beseitigung 
der  Augenmuskellähmung  in  keiner  Weise.   Als  Pat.  am  11.  Juni  nach  der  21.  Sitzung 
entlassen  werden  musste,  bestand  noch  ein  geringer  Grad  von  Amblyopie  und  Parese 
des  Rect.  ext.  auf  dem  linken  Auge  fort.     Die  spinale  Reflexerregbarkeit  war  noch  ge- 
steigert, die  locomotorischen  Functionen  waren  ganz  zur  Norm  zurückgekehrt.    Die  Be- 
handlung wurde  ganz  in  derselben  Weise  noch  4  Wochen  von  Hrn.  Dr.  Maier  in  Karlsruhe 
fortgesetzt,  ohne  dass  aber  eine  weitere  Besserung  des  Augenleidens  zu  erzielen  war. 
Auch  stellte  sich  Ende  Juni   vorübergehend  wieder  einmal  unsicherer  Gang  ein.     Pat- 
ging  nun  zur  Erholung  in  die  Schweiz.   Anfang  October  sah  ich  ihn  wieder,  vollkommen 
genesen,  im  Stande,  die  grössten  Bergtouren  zu  machen  und  seit  einigen  Wochen  voll- 
ständig befreit  von  den  letzten  Spuren  seiner  Abducensparese. 

Beob.  13. 

Justine  L.,  26  J.,  ledig,  ohne  erbliche  Anlage  zu  Neurosen,  früher  gesund,  bekam 
mit  etwa  13  J.  eine  schwere  fieberhafte  Krankheit,  von  der  an  sie  sich  nicht  mehr 
recht  erholte.  Sie  litt  in  den  2  folgenden  Jahren  an  mannigfachen  hysterischen  Be- 
schwerden, brachte  den  grössten  Theil  dieser  Zeit  im  Bett  zu  und  kam  durch  nervöses 
Erbrechen  sehr  von  Kräften.  Etwa  mit  16  J.  (feuchte,  ungesunde  Wohnung  als  Ur- 
sache?) entwickelte  sieh  die  gegenwärtig  noch  bestehende  Krankheit.  Sie  habe  einen 
schwankenden,  unsicheren  Gang  bekommen,  im  Dunkeln  gar  nicht  mehr  gehen  können 
und  ab  und  zu  einen  trüben  Schein  vor  den  Augen  gehabt.  Mit  17  Jahren  traten  dif> 
Menses  ein,  ohne  Aenderung  des  Befindens.  In  den  folgenden  Jahren  langsame  Zu- 
nahme der  Gehstörungen,  häufig  Gefühle  von  Kälte  und  Taubsein  in  den  Beinen.    Vom 


132     II.  Vortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

20. — 25.  Jahre  blieb  sich  der  Zustand  wesentlich  gleich.  Sie  konnte  zur  Notb  allein 
durch  die  Strassen  gehen,  fiel  aber  oft  zu  Boden;  besonders  schwer  war  das  Stiegen- 
steigen. Beim  Gehen  kam  sie  oft  zwangsmässig  in  immer  schnellere  Bewegung  hinein. 
Auf  eine  Badekur  in  Baden  (33  Wannenbäder)  im  Sommer  1868  Besserung. 

Stat.  praes.  am  26.  Juni  1869:  kräftig  gebaute,  gut  genährte  Person  von  unter- 
setztem Körperbau.  Ausser  hartnäckiger  Verstopfung  alle  vegetativen  Functionen  un- 
gestört. Massiger  Grad  von  Nystagmus  beider  Bulbi,  Insufficienz  des  M.  rectus  ext. 
ocul.  sin.;  Amblyopie  auf  dem  linken  Auge.  Bewegungen  der  Finger  verrathen  einen 
geringen  Grad  von  Ataxie.  Der  Gang  ist  sehr  unsicher;  kleine  trippelnde  Schritte, 
kommt  oft  zwangsmässig  auf  die  Ferse  zu  stehen,  kann  nicht  in  gerader  Linie  gehen, 
beim  Umdrehen  starkes  Schwanken.  Bei  verbundenen  Augen  sinkt  Put.  sofort  zu 
Boden.  Treppensteigen  sehr  mühsam,  Gehen  bis  zu  l/a  St.  Dauer  möglieh,  aber  sehr 
ermüdend.  Die  Sensibilität  erweist  sich  nach  allen  Richtungen  unversehrt.  Unter 
Fortgehrauch  der  Thermalbäder  Versuch  einer  Behandlung  mit  dem  galvan.  Strom 
längs  der  Wirbelsäule.  Schon  nach  wenig  Sitzungen  war  Pat.  im  Stande,  bei  ver- 
bundenen Augen  zu  stehen  und  einige  Schritte  zu  machen.  Auch  die  Sicherheit  und 
Ausdauer  im  Gehen  gewannen  ersichtlich.  Jede  Sitzung  markirte  einen  weiteren  Fort, 
schritt;  musste  die  Behandlung  wegen  der  Menses  einige  Tage  ausgesetzt  werden,  so 
zeigte  sich  sofort  wieder  Verschlimmerung.  Nach  32  Sitzungen  musste  die  Behandlung 
abgebrochen  werden.  Die  Augenstörungen  waren  wenig,  die  locomotorischen  Beschwerden 
erheblich  gebessert.  Pat.  konnte  mit  verbundenen  Augen  durchs  Zimmer  gehen  und 
bei  unverschlossenen  Wege  von  l]/2 — 2  Stunden,  ohne  besonders  müde  zu  werden,  machen, 
frei  auf  einen  Stuhl  steigen  und  ziemlich  gut  treppauf-  und  abgehen. 

Am  23.  Mai  1870  kam  Pat.  wieder  zur  Behandlung.  Der  gebesserte  Zustand 
hatte  sich,  geringe  Schwankungen  abgerechnet,  erhalten;  Pat.  war  im  Stande  gewesen, 
die  verschiedensten  Hausgescbäfte  zu  besorgen.  25  weitere  Sitzungen  im  Sommer  1870 
erzielten  keine  fernere  Besserung. 

Der  Winter  1870/71  verlief  gut,  Pat.  konnte  selbst  auf  eisigem  Boden  sicher 
gehen.  Im  Mai  fand  ich  sie  in  demselben  gebesserten  Zustande,  in  dem  sie  entlassen 
worden  war;  der  Gang  war  sicher,  ausdauernd,  nur  hier  und  da  hatte  sie  das  Tempo 
desselben  nicht  in  der  Gewalt;  schwankte  etwas  beim  Umdrehen  mit  geschlossenen 
Füssen  und  kam  zuweilen  auf  die  Fersen  zu  stehen.  Entziehung  des  Lichts  durch 
Verschluss  der  Augen  hatte  durchaus  keinen  verschlimmernden  EinSuss  mehr  aufs 
Gehen.  Die  früher  vorhandenen  Parästhesien  in  den  Beinen  und  die  Augensymptome 
waren  sämmtlich  verschwunden.  Auch  bei  einer  weiteren  Serie  von  21  Sitzungen  ge- 
lang es  nicht,  die  letzten  Spuren  des  Leidens  zu  tilgen,  doch  war  Pat.  bei  der  Ent- 
lassung vollkommen  arbeits-  und  erwerbsfähig. 

Beob.  14. 

Leopold  M.,  26  J.,  Metzger,  früher  gesund,  von  solider  Lebensweise,  ohne  erbliche 
Anlage,  kam  im  Juli  1871  in  meine  Behandlung  wegen  fortschreitender  Bewegungs- 
störungen in  den  unteren  Extremitäten,  die  seit  einem  Jahr  sich  eingestellt  hatten.  Als 
Ursache  des  Leidens  ergab  sich  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  die  äusserst  feuchte 
und  ungesunde  Wohnung  zu  ebener  Erde,  die  Pat.  bisher  inne  gehabt  hatte. 

Das  Leiden  hatte  mit  zunehmender  Unsicherheit,  Schwächegefühl,  Ameisen- 
kriechen, Pelzig-  und  Taubsein  in  den  Beinen,  namentlich  dem  linken,  begonnen.  Oft 
hatten  sich  im  Verlauf  blitzende,  bohrende  Schmerzen  in  den  unteren  Extremitäten 
eingestellt.  Im  Dunkeln  war  Pat.  öfters  hingefallen,  Treppensteigen  und  Umdrehen 
wurden  immer  schwieriger,  das  Gehen  so  ermüdend  und  unsicher,  dass  Pat.  sich 
genöthigt  sah,  zu  Hause  zu  bleiben,  wo  er  mit  einem  Stock  im  Zimmer  umherwankte.  A:s 


Vortäuschung  von  Tabes  dorsalis.  133 

ich  ihu  zum  ersten  Mal  im  Januar  1871  sah,  bot  er  das  Bild  einer  vorgeschrittenen, 
aber  auf  die  unteren  Extremitäten  beschränkten  Bewegungsatasie  mit  exquisiter  Ver- 
schlimmerung der  Störung,  sobald  die  Augen  geschlossen  wurden.  Blase  und  Mast- 
darm waren  intact,  desgleichen  fehlten  Complicationen  von  Seiten  der  Hirnnerven.  Da 
eine  Behandlung  mit  dem  constanten  Strom  nicht  ausführbar  war,  rieth  ich  zu  kalten 
Abreibungen,  auf  die  auch  eine  geringe  Besserung  sich  einstellte;  Argent.  nitric,  von 
dem  Pat.  während  der  letzten  4  Monate  5,2  gr  erhalten  hatte,  erzielte  keinen 
weiteren  Erfolg. 

Am  26.  Juli  fand  sich  Pat.  wieder  bei  mir  ein,  um  „einen  letzten  Versuch  mit 
der  Elektricität"  zu  machen. 

Pat.  ist  schlank  gewachsen,  kräftig  gebaut,  etwas  anämisch.  Die  Ataxie  ist  auf 
die  unteren  Extremitäten  beschränkt,  aber  hochgradig;  Locomotion  schwierig,  kaum  5' 
lang  und  nur  mittelst  Stock  möglich.  Bei  geschlossenen  Augen  tritt  sofort  starkes 
Schwanken  ein.  Das  Gehen  erfolgt  langsam,  schleudernd,  Pat.  vermag  keine  gerade 
Linie  einzuhalten. 

Dabei  Gefühle  von  lästiger  Muskelspannung  in  den  Waden,  als  ob  die  Sehnen 
zu  kurz  wären,  zeitweise  blitzende,  bohrende  Schmerzen  im  Verlauf  der  Nn.  ischiadici, 
namentlich  bei  Witterungswechsel;  Gefühle  von  Kälte,  Pelzigsein  und  Ameisenkriechen. 
Im  ganzen  Gebiet  des  äusseren  Astes  des  N.  peronaeus  dext.  ist  bei  erhaltener 
Schmerzempfindlichkeit  die  Tastempfindlichkeit  aufgehoben ;  im  Bereich  des  N.  plantaris 
externus  findet  sich  Tast-  und  Schmerzempfindlichkeit  sehr  herabgesetzt,  die  Localisation 
der  Eindrücke  sehr  gestört;  im  Uebrigen  sind  die  sensiblen  Functionen  intact.  Während 
von  der  rechten  Fusssohle  aus  Reflexbewegungen  nicht  ausgelöst  werden  können,  zeigt 
sich  die  Reflexerregbarkeit  linkerseits  entschieden  gesteigert,  sodass  Hautreizung  der 
1.  Fu8Ssohle  bis  zu  l/a  Min.  andauernde,  clonische  Krämpfe  im  betr.  Bein  hervorruft. 
Die  Einzelbewegungen  in  den  unteren  Extremitäten  geben  ungestört  von  Statten; 
nirgends  bestehen  Paresen,  die  volle  Muskelkraft  ist  allenthalben  vorhanden. 

Die  Behandlung  bestand  in  täglichen  Applicationen  möglichst  kräftiger  constanter 
Ströme  längs  der  Rückenwirbelsäule  und  in  labiler  Ka-Reizung  des  rechten  N.  pero- 
neus. Ein  günstiger  Erfolg  bezüglich  grösserer  Sicherheit  und  Ausdauer  in  den  loco- 
motorischen  Functionen  gab  sich  schon  nach  der  4.  Sitzung  objectiv  zu  erkennen. 
Deutlich  zeigte  sich  auch  hier,  dass  die  Stromesrichtung  völlig  gleichgültig  für  den 
Heilerfolg  war.  Bis  zu  Anfang  September  unterzog  sich  Pat.  täglich  der  angegebenen 
Behandlung,  aus  der  er  leider  dann,  Familienverhältnisse  halber,  austreten  musste.  Das 
Resultat  der  Behandlung  war  bei  der  Entlassung  folgendes:  Die  Parästhesieen  und 
Anästhesieen  sind  vollkommen  beseitigt,  die  Schmerzanfälle  seit  4  Wochen  nicht 
wiedergekehrt.  Pat.  schwankt  nicht  mehr  bei  verbundenen  Augen,  geht  vielmehr 
sicher  in  der  Stube  umher.  Das  Gefühl  voller  Kraft,  Sicherheit  und  Ausdauer  ist  in 
den  Beinen  wiedergekehrt.  Spaziergänge  von  1—2  Stunden  Dauer  sind  möglich  und 
nicht  ermüdend.  Nur  auf  unebenem  Boden  und  beim  Treppensteigen  zeigt  sich  noch 
eine  Spur  von  Unsicherheit,  die  aber  nur  einem  geübten  Auge  bemerklich  wird. 

Ende  October  eingezogene  Erkundigungen  ergaben,  dass  der  an  Genesung 
grenzende  Zustand  von  Besserung  sich  erhalten  hat,  Pat.  sich  ganz  gesund  fühlt  und 
vollkommen  im  Stande  ist,  seinem  beschwerlichen  Beruf  als  Metzger  obzuliegen. 

Die  Verwechslung  der  hysterischen  Imitation  der  Tabes  mit  wirk- 
licher ist  heutzutage  bei  reiflicher  Prüfung  des  Falles  nicht  mehr  gut  mög- 
lich. Dass  aber  der  Stat.  praesens  nicht  immer  vollen  Aufschluss  gewähren 
kann,  lehrt  ein  von  Petit  berichteter  Fall  eines  Mannes,  der  seit  6  J. 


134    H.  Yortäuschung  organischer  Erkrankungen  des  Nervensystems  durch  Hysterie. 

mit  Ataxie  und  anderen  tabesartigen  Zeichen  behaftet,  von  sechs  Pariser 
Sommitäten  als  Tabes  diagnosticirt  wurde,  gleichwohl  eines  Tages  im 
brünstigen  Gebet  in  Lourdes  plötzliche  Genesung  fand.  Man  muss  zu- 
geben, dass  die  Hysterie  fast  alle  Functionsstörungen  der  Tabes  imitiren 
kann,  sogar  lancinirende  Schmerzen,  Augenmuskellähmungen,  Blasen- 
störung, gastrische  Krisen  und  classische  Ataxie  locomotrice.  Aber 
Opticus- Atrophie,  reflectorische  Pupillenstarre,  gewisse  trophische  Störungen 
der  Tabes  (Arthropathien,  Mal.  perforant  u.  dergl.)  hat  sie  nicht  aufzu- 
weisen. Es  scheint  mir  auch  unwahrscheinlich,  dass  sie  den  Verlust 
des  Patellarreflexes  bieten  kann,  obwohl  zugegeben  werden  muss, 
dass  er  von  ausgezeichneten  Beobachtern  (vgl.  Beob.  5,  6,  10)  constatirt 
wurde. 

In  solchen  Fällen  bleibt  immerhin  die  Möglichkeit  eines  Irrthums 
oder  einer  Complication.  Erst  weitere  Beobachtungen  können  diese 
wichtige  diagnostische  Frage  klären. 

Verlegenheiten  werden  sich  nur  da  für  die  Diagnose  ergeben, 
wenn  die  Anamnese  unklar  ist,  im  Stat.  praesens  der  Fall  entschieden 
werden  soll  und  die  erwähnten  classischen  Tabessymptome  zur  Zeit  oder 
überhaupt  nicht  nachweisbar  sind.  Unter  allen  Umständen  sind  laDci- 
nirende  Schmerzen,  gastrische  Krisen,  Blasenstörungen  und  Ataxie  für 
die  Diagnose  nicht  ausreichend. 

Der  weniger  erfahrene  Praktiker  sollte  nie  vergessen,  dass  Ataxie 
locomotrice  nicht  =  Tabes  ist.  Dagegen  wird  oft  gefehlt  und  polyneuri- 
tische  (besonders  postdiphtheritische  und  alkoholische)  Ataxie  mit  der 
fatalen  Rückenmarkskrankheit  verwechselt. 

In  zweifelhaften  Fällen  berücksichtige  man  die  Aetiologie  des 
Falles!  Eine  acut  nach  psychischem  Trauma  bei  einem  jugendlichen 
weiblichen  Individuum  aufgetretene  Ataxie  weist  bestimmt  auf  hysterische 
Pseudotabes  hin.  Wenn  auch  der  Streit  bezüglich  der  luetischen  Be- 
gründung der  Tabes  noch  nicht  ausgetragen  ist,  so  muss  doch  die  Aus- 
schliessbarkeit  von  hereditärer  oder  acquirirter  Syphilis  in  der  Annahme 
einer  Tabes  höchst  vorsichtig  machen,  bei  positivem  Nachweis  der  Lues 
den  Verdacht  auf  Tabes  bestärken. 

In  einer  Reihe  von  Fällen  der  hysterischen  Pseudotabes  war  der 
Ausbruch  der  Krankheit  ein  acuter.  Die  wirkliche  Tabes  zeigt  immer 
einen  schleichenden  Beginn. 

Versucht  man  einzelne  der  Tabes  wie  der  Hysterie  gemeinsame 
Symptome  auf  feinere  Unterschiede  zu  prüfen,  so  kommen  die  regionären 
Anästhesieen  in  erster  Linie  in  Betracht.  Oulmont  (Soc.  de  biologie  1877, 
17.  Febr.)  findet  diese  bei  Tabes  meist  symmetrisch,  an  gewissen  Prädi- 
lectionsstellen  (Wangen,   Sternuni,    Nabel,  Ulnarisgebiet,  Finger,  Knie, 


Vortäuschung  von  Tabes  dorsalis.  135 

Malleolen,  Fersen,  Fusssohlen,  Zehen)  und  von  ganz  unregelmässiger 
Ausbreitung,  während  die  hysterischen  asymmetrisch  und  geometrische 
Figuren  repräsentirend  seien.  Diese  Angaben  treffen  vielfach  zu,  be- 
dürfen aber  weiterer  Untersuchungen,  um  diagnostische  Sicherheit  bieten 
zu  können. 

Dass  die  Schmerzanfälle  bei  Hysterie  das  Ulnarisgebiet  verschonen, 
wie  Souques  findet,  kann  ich  aus  eigener  Erfahrung  nicht  bestätigen. 

Die  Dysurie  dürfte  bei  Pseudotabes  wohl  immer  durch  Spasmus 
sphincteris  bedingt  sein  (der  Katheter  dringt  schwer  ein  und  wird  bei 
Versuchen,  ihn  zu  entfernen,  festgehalten),  während  die  der  Tabiker  auf 
Detrusorschwäche  beruht. 

Die  Ataxie  der  Hysterischen  ist  eine  äusserst  wandelbare,  ganz  be- 
sonders durch  psychischen  Einfluss.  Dies  gilt  auch  für  das  Eomberg'sche 
Symptom,  soweit  es  nicht  durch  Verlust  der  tiefen  Sensibilität  ver- 
mittelt ist. 

Ein  beiden  Krankheiten  gemeinsames  Symptom  ist  das  plötzliche 
Versagen  der  Beine,  bis  zur  nach  Umständen  länger  dauernder  Para- 
plegie.  Auch  dieses  Symptom  bedarf  einer  vergleichenden  Studie.  Bei 
Hysterischen  schien  es  mir  immer  im  Sinn  einer  temporären  Astasie 
aufzufassen,  während  es  bei  Tabes  eine  wirkliche  und  totale  Insufficienz 
der  UE.  darstellte. 

Was  die  Augensymptome  betrifft,  so  handelt  es  sich  bei  Tabes  um 
durch  Kern-  oder  periphere  Nervenaffection  vermittelte  Lähmungen  isolirter 
Muskel,  die  allerdings  mehrfach  an  demselben  Auge  auftreten  können, 
bei  Hysterie  dagegen  meist  um  associirte  Lähmungen  oder  auch  um  Vor- 
täuschung von  Lähmung  durch  Spasmus  von  Antagonisten;  die  Ein- 
engung des  Sehfeldes  ist  beim  Tabiker  eine  mehr  unregelmässige,  bei 
Hysterie  eine  streng  concentrische.  Die  Achromatopsie  erfolgt  bei  dieser 
genau  nach  Maassgabe  der  Einengung  des  Sehfeldes  und  als  Folge  dieser, 
wobei  bekanntlich  die  Perception  der  rothen  Farbe  am  längsten  fort- 
besteht, während  Grün-  und  Kothblindheit  zu  den  frühesten  Symptomen 
der  tabischen  Amaurose  gehört. 


III. 

ZUR  ATHETOSIS  BILATERALIS. 


Ein  Beitrag  zur  Athetosis  idiopathica 
bilateralis.*) 

Die  Seltenheit  des  Vorkommens  doppelseitiger  idiopathischer  Athe- 
tose  gegenüber  Fällen  von  halbseitiger  symptomatischer  (posthemi- 
plegischer),  das  Dunkel,  das  über  Pathogenese  und  Localisation  dieser 
merkwürdigen,  von  Hammond  1871  zuerst  beschriebenen  motorischen 
Neurose  schwebt,  rechtfertigen  wohl  ohne  Weiteres  die  Mittheilung  des 
folgenden  Falles.  Er  ist  geeignet,  die  Bedeutung  des  ursächlichen 
Momentes  einer  Erkältung,  selbst  ohne  gleichzeitige  Endocarditis  (Fall 
von  Leube)  plausibel  zu  machen,  und  ist  ein  um  so  reinerer  Fall,  als 
er  bei  einem  bisher  psychischer  und  physischer  Gesundheit  sich  er- 
freuenden Individuum  zum  Ausbruche  kam. 

Andererseits  zeigt  er,  dass  (in  Uebereinstimmung  mit  einem  von 
Gnauck  veröffentlichten  und  in  gleicher  Weise  behandelten  Fall)  die 
Therapie  (Brom,  Galvanismus)  hier  nicht  ohne  Werth  ist,  und  auch  im 
meinigen  hätte,  bei  längerer  Ausdauer  des  Patienten,  voraussichtlich  eine 
dauernde  Genesung  sich  erzielen  lassen. 

Der  Hauptwerth  des  Falles  dürfte  aber  darin  liegen,  dass  er  neben 
dem  Symptomencomplexe  der  Athetose  eine  Reihe  anderweitiger,  jeden- 
falls central  bedingter  und  den  athetotischen  Erscheinungen  coordinirter, 
den  Ablauf  jener  begleitender  nervöser  Functionsstörungen  aufzeigt. 
Von  hervorragendem  Interesse  unter  diesen  sind  ein  wesentlich  auf  das 
Gebiet  der  Athetose  beschränktes  Kältegefühl  und  ein  Sensibilitätsausfall, 
eine  Steigerung  der  tiefen  Reflexe,  fibrilläres  Muskelzittern  im  Krampf- 
gebiete und  Herabsetzung  der  groben  Muskelkraft 

Dieser  motorische  Ausfall  zeigt  sich  überdies  in  wesentlich  herni- 
plegischer  Weise,  während  andererseits  die  Athetose  ebenfalls  auf  einer 
Seite  intensiver  ist. 

Schlüsse  auf  die  Art  der  Veränderungen  im  Centralorgan  aus  diesem 
Befunde  zu  ziehen,  dürfte  kaum  gestattet  sein,  aber  er  weist  jedenfalls 


*)  Wiener  klin.  Wochenschrift  1889,  Nr.  16. 


140  HI   Zur  Athetosis  bilateralis. 

auf  die  Hirnrinde  als  Entstehungsort  der  idiopathischen  Athetose  hin 
und  ist  geeignet,  die  Hypothese  von  Eulenburg  zu  stützen,  wonach  die 
motorischen  Rindenfelder  des  Grosshirns  bei  der  Athetose  afficirt  sein 
dürften.  Auch  Koranyi  neigt  sich  dieser  Anschauung  (motorische  Rinden- 
neurose analog  der  Chorea?)  zu,  vermuthet  jedoch  organische  Verände- 
rungen (chronische  Entzündung,  die  zur  Sclerose  führt?). 

Am  1.  December  1888  liess  sich  Anton  Hebar,  42  J.  alt,  aus 
Ungarn,  verheirathet,  Maurer,  auf  der  Grazer  Nervenklinik  aufnehmen. 
Patient  ist  aus  gesunder  Familie,  kein  Potator ;  war  nie  luetisch,  hat  nie 
ein  Trauma  capitis,  auch  nie  eine  Apoplexie  erlitten. 

Bis  zum  29.  September  1888  hatte  sich  Pat.  ganz  wohl  gefühlt. 
Am  genannten  Tage  fuhr  er  drei  Stunden  lang  auf  offenem  Wagen  in 
strömendem  Regen,  wurde  ganz  durchnässt,  fror  heftig  und  vermochte, 
selbst  heimgekehrt  und  im  Bette,  nicht  warm  zu  werden. 

Am  30.  September  begab  sich  Pat.  in  den  Gottesdienst,  hielt  es 
daselbst  vor  heftigem  Frieren  nicht  aus  und  begab  sich  wieder  zu  Bett. 
Das  Kältegefühl  bestand  besonders  intensiv  in  den  UE.,  war  aber  auch 
über  Rumpf  und  OE.  ausgebreitet.  Am  1.  October  schwand  es  in 
Beinen  und  Rumpf,  bestand  aber  seither  continuirlich  in  den  OE.  fort. 
Am  1.  October  bemerkte  Pat.,  dass  er  den  Löffel  nicht  in  der  Hand  zu 
halten  vermochte,  da  die  Finger  sich  versteiften  und  dem  Willen  nicht 
mehr  gehorchten. 

Die  Finger  beider  Hände  bewegten  sich  spontan,  langsam,  rhythmisch, 
spreizten,  näherten,  reckten  und  streckten  sich.  Diese  Bewegungen 
spielten  sich  fast  ausschliesslich  in  den  Metacarpophalangealgelenken  ab. 
Energische  Willensanstrengung  vermochte  momentan  diese  spontanen 
krampfhaften  Bewegungen  zu  bemeistern.  Wenn  aber  Pat.  z.  B.  die 
Hand  zur  Faust  geballt  hatte,  war  er  nicht  im  Stande,  sie  sofort  wieder 
zu  öffnen.  In  der  Ruhe  waren  diese  Bewegungen  schwächer,  durch 
Emotionen  wurden  sie  angeblich  nicht  gesteigert.  Ob  sie  im  Schlafe 
cessirten,  wusste  Pat.  nicht  anzugeben.  Nur  im  Gebiete  der  Finger- 
muskeln zeigten  sich  diese  Bewegungen.  Das  Fassen,  Festhalten  von 
Gegenständen  war  nicht  mehr  möglich,  sodass  Pat.  kaum  mehr  die  ein- 
fachsten Hantirungen  des  Ankleidens,  Essens  ausführen  konnte  und 
seinem  Berufe  entsagen  musste. 

Stat.  praes.  bei  der  Aufnahme :  Pat.  klagt  über  Kältegefühl  in  beiden 
OE.,  von  den  Fingern  bis  zu  den  Ellbogen  herauf,  und  über  Steifigkeit 
der  Finger,  die  jedoch  activ  und  passiv  frei  beweglich  sind.  Ernährung, 
Hautcirculation,  Puls,  Temperatur  sind  ganz  normal.  Die  Finger  beider 
Hände  sind  in  beständiger  beugender,  streckender,  sich  anpressender 
und  spreizender  Bewegung.     Dieses  krampfhafte  Spiel  beschränkt  sich 


Athetosis  bilateralis.  141 

auf  die  Finger,  lässt  die  übrigen  Muskeln  der  oberen  Extremitäten  sowie 
die  der  unteren  und  die  Gesichtsmuskeln  ganz  intact. 

Entschieden  mehr  afficirt  sind  die  linksseitigen  Fingermuskeln. 

Ausgenommen  seltene  Beugungen  der  zweiten  Phalanx  des  vierten 
und  fünften  Fingers  finden  die  krampfhaften  Bewegungen  nur  in  den 
Metacarpophalangealgelenken  statt  und  bestehen  in  rhythmisch  wieder- 
kehrender und  langsam  ablaufender  Flexion  mit  Adduction  des  Daumens. 
Episodisch  wird  auch  Ab-  und  Adduction  (Spreizung  und  Pressung) 
sowie  leichte  Dorsalflexion  beobachtet.  In  der  r.  Hand  kommt  es  zu 
leichter  Beugung,  Spreizung  und  Adduction  der  Finger  im  ersten  Ge- 
lenke; Dorsalflexion  kommt  bloss  im  Mittelfinger  vor.  Schreiben  ist 
durch  die  Krampfbewegungen  kaum  ausführbar.  Pat.  schreibt  mit 
äusserster  Anstrengung,  kaum  leserlich,  obwohl  er  die  Buchstaben  mög- 
lichst gross  macht  und  thunlichst  momentane  Buhepausen  zu  verwerthen 
sucht.    Er  vermag  nothdürftig  zu  essen,  ein  Glas  zum  Munde  zu  führen. 

Keine  Spuren  von  Ataxie  oder  Intentionszittern.  Der  Händedruck 
ist  r.  sehr  schwach  (Pat.  ist  Bechtshänder),  1.  ausgiebiger.  Ausser  einer 
geringen  Herabsetzung  der  groben  Muskelkraft  im  r.  Biceps  und  in  der 
gesammten  Musculatur  der  r.  UE.  ist  diese  nirgends  anderswo  geschädigt. 
Sowohl  während  krampfhafter  Bewegung,  als  auch  intervallär  zeigt  sich 
leichtes  fibrilläres  Zucken  der  Muskeln  der  Daumenballen. 

Die  Prüfung  der  Musculatur  der  oberen  und  unteren  Extremitäten 
ergiebt  sowohl  mit  dem  faradischen  als  galvanischen  Strome  normale 
Beaction. 

Die  tiefen  Beflexe  sind  an  den  oberen  Extremitäten,  besonders  r., 
gesteigert.  Der  Patellarreflex  ist  beiderseits  gesteigert.  Selbst  Beklopfen 
der  nach  abwärts  gedrängten  Patella  bei  gestrecktem  Beine  macht  die- 
selbe emporschnellen.  Dabei  entsteht  ein  intensiver,  aber  rasch  wieder 
verschwindender  Schütteltremor  in  beiden  Beinen.  Auch  der  Achilles- 
reflex ist  gesteigert,  jedoch  lässt  sich  kein  Fussclonus  erzielen. 

An  beiden  Händen  ist  die  Sensibilität  erheblich  gestört.  Die  Stö- 
rung der  Sensibilität  ist  am  stärksten  1.  und  erstreckt  sich  beiderseits 
abnehmend  von  den  Fingern  zur  Handwurzel.  Hier  ist  die  Grenze  der 
Sensibilitätsstörung.  Diese  ist  auf  der  Streckseite  viel  intensiver  als  auf 
der  Beugeseite. 

Auf  dem  üorsum  manus  et  digitorum  werden  Tast-,  Temperatur- 
und  Schmerzeindrücke  kaum  wahrgenommen,  jedoch  richtig  localisirt. 
Geldstücke,  Schlüssel  u.  dgl.,  welche  dem  Pat.  in  die  Hand  gegeben 
werden,  vermag  er  nicht  zu  erkennen.  Er  bemerkt  nicht  ihre  Escamo- 
tirung  aus  der  geschlossenen  Hand  bei  verbundenen  Augen.  Passiver 
Bewegung  der  Finger  wird  sich  Pat.  bewusst. 


142  HI.  Zur  Athetosis  bilateralis. 

Er  klagt  über  ein  Gefühl,  als  ob  die  Finger  an  beiden  Händen  mit 
Leder  überzogen  wären.  An  den  unteren  Extremitäten  keine  Sensibilitäts- 
störungen. Allgemeinbefinden  vorzüglich.  "Von  Seiten  des  Gehirns  und 
der  Hirnnerven  kein  Befund,  ebensowenig  im  Gebiete  der  vegetativen 
Organe.     Temperatur  normal. 

Ord.  5,0  Kai.  bromat.  pro  die.  Galvanische  Behandlung  täglich, 
stabil  3',  2  M.  A.     Anode  plex.  brachialis,  Kathode  im  Nacken. 

10.  December.  Im  Schlafe  nie  krampfhafte  Bewegungen.  Das 
Kältegefühl  in  den  OE.  verliert  sich;  in  der  r.  Hand  Besserung  der 
Sensibilität  für  alle  Qualitäten,  desgleichen  L,  jedoch  hier  Daumen, 
2.  und  5.  Finger  noch  ganz  anästhetisch. 

14.  December.  Krampfbewegungen  nehmen  intensiv  und  extensiv 
ab.  Pat.  kann  bereits  ein  grösseres  Geldstück  vom  Tische  aufheben. 
Klagen  über  stechenden  Schmerz  im  1.  Daumen  und  Zeigefinger. 

18.  December.  Zunehmende  Gebrauchsfähigkeit  der  Finger  bei  ab- 
nehmenden Krampfbewegungen.  Pat.  kann  ein  Kreuzerstück  aufheben. 
Schreiben  und  feinere  Bewegungen  noch  erschwert.  Die  Vertaubung 
der  Finger  reicht  nur  mehr  bis  zur  zweiten  Articulation  herauf.  Ord.  6,0 
Bromkali  täglich. 

24.  December.  Grobe  Muskelkraft  in  beiden  Händen  und  im  r. 
Biceps  und  in  r.  UE.  wiederhergestellt. 

4.  Januar  1 889.  Sensibilität  nur  noch  in  dritter  und  zweiter  Phalanx 
herabgesetzt;  7  mm  Zirkelspitzenabstand  wird  an  sämmtlichen  Finger- 
beeren wahrgenommen. 

Fingerkrampf  minimal,  auf  zeitweise  Volar-  und  Dorsalflexion  des 
gestreckten  5.  Fingers  r.  und  auf  Volarflexion  des  gestreckten  2.,  3., 
4.  Fingers  der  r.  uud  1.  Hand  beschränkt,  sowie  auf  gelegentliche  leichte 
Adduction  beider  Pollices. 

15.  Januar  Sensibilität  hergestellt.  Noch  hie  und  da  leichtes  Ameisen- 
kriechen in  den  Fingern.  Pat.  differenzirt  bei  verbundenen  Augen 
Gegenstände.  Gebrauch  der  Finger  nur  noch  durch  leichte  Dorsalflexion 
im  3.  Finger  der  r.  und  im  3.  und  4.  Finger  der  1.  Hand  gestört.  Die 
tiefen  Reflexe  in  beiden  Ober-  und  TJnterextremitäten  noch  bedeutend 
gesteigert. 

27.  Januar.  Krampfbewegungen  nur  noch  nach  längerer  An- 
strengung und  vorübergehend  in  Form  von  Beugebewegung  des  ge- 
streckten 2.  und  3.  Fingers  und  des  Daumens  der  r.  Hand.  Normale 
Verhältnisse,  bis  auf  immer  noch  bestehende,  aber  ermässigte  Steigerung 
der  tiefen  Reflexe  in  Ober-  und  Unterextremitäten. 

In  diesem  Zustande  wird  Pat,  der  schon  längst  nach  Hause  ge- 
drängt hatte,    am  28.  Januar  entlassen.     Auf  eine  bezügliche  Anfrage 


Athetosis  bilateralis.  143 

theilt  Pat.  leider  am  24.  Februar  1889  mit:  „Meine  Krankheit  ist  bereits 
zurückgekehrt.  Meine  r.  Hand  ist  viel  schlechter  als  die  1.  Die  Finger 
bewegen  sich  immer  und  in  den  Armen  fühle  ich  immerfort  Schmerzen. 
Was  ich  mit  den  Händen  fasse,  halte  ich  wohl  fest,  aber  ich  kann  nur 
leichte  Arbeit  verrichten.    Schreiben  kann  ich  nicht." 

1897. 

Die  Athetosis  duplex  ist  zweifellos  eine  seltene  Erscheinung.  Während 
die  Hemiathetosis  posthemiplegica ,  gewöhnüch  auf  eine  Encephalitis 
infantilis  zurückführbar,  überaus  häufig  in  meinem  Ambulatorium  vor- 
kommt, habe  ich  seit  der  Publication  des  vorstehenden  Falles  unter 
circa  8000  Nerven-  und  Psychischkranken  pro  anno  nur  die  folgenden 
2  Fälle  von  doppelseitiger  Athetose  zu  beobachten  Gelegenheit  gehabt. 
Die  Annahme,  dass  sie  symptomatische  Bedeutung  haben,  Residuum  einer 
infantilen  Gehirnkrankheit  sind,  lässt  sich  nicht  von  der  Hand  weisen. 

Beob.  1. 

Del  .  .  .,  34  J.,  Pfründner,  wurde  am  20.  8.  96  auf  meiner  Klinik 
aufgenommen.  Er  stammt  von  einem  angeblich  gesunden  Vater  und 
einer  mit  ophthalmischer  Migräne  belasteten  Mutter,  hatte  18  Geschwister, 
von  welchen  8  früh  starben,  einige  unter  Convulsionen;  die  lebenden 
sollen  gesund  sein.  Eine  der  des  Pat.  ähnliche  Krankheit  kommt  in 
der  Familie  nicht  vor. 

D.  kam  normal  zur  Welt,  erkrankte  mit  3  Monaten  an  Convulsionen 
und  litt  daran  9  Monate  lang.  Während  dieser  Zeit  entwickelten  sich 
die  nachstehend  zu  berichtenden  Athetoseerscheinungen  an  den  Ober- 
extremitäten. Mit  7  J.  zeigte  sich  eine  seither  bestehende  Struma.  Pat. 
war  ein  geistig  schwach  veranlagter  Knabe,  ein  schlechter  Schüler,  der 
jedoch  trotz  seiner  Handkrämpfe  ganz  gut  schreiben  konnte.  Im  Gehen 
und  Sprechen  hatte  er  sich  zur  normalen  Zeit  entwickelt. 

Mit  28  J.  bekam  er  r.  Blepharospasmus,  der  mit  31  J.  auch  auf 
dem  1.  Auge  auftrat,  zugleich  mit  krampfhaften  Verziehungen  im  Gesicht, 
zuerst  r.,  dann  aber  auch  und  vornehmlich  1. 

Im  Schlaf  cessirten  diese  Krämpfe. 

Stat.  praes.:  Kräftig  gebautes,  ziemlich  gut  genährtes  Individuum, 
ohne  vegetative  Störungen. 

Struma  parenchymatosa  massigen  Grades. 

Keine  Oedeme,  keine  Kachexie. 

Schädel  leicht  blasig,  Tubera  prominent,  Cf.  57,5  cm. 

Geringe  Intelligenz.  Hirnnerven  intact,  bis  auf  das  Gebiet  des 
Facialis.  Im  Gesicht  laufen  sehr  häufig  wiederkehrende  Krämpfe  ab- 
Sie  sind  meist  tonisch,  selten  clonisch  und  dann  träge  sich  vollziehend. 


144  ni.  Zur  Atbetosis  bilateralis. 

Sie  bestehen  in  Corrugation,  Stirnrunzeln,  Augenschluss,  seitlichem  "Ver- 
ziehen und  Heben  eines  Mundwinkels,  Aufziehen  des  Kinns  und  sind 
r.  stärker  ausgeprägt  als  1. 

Auch  in  der  Kühe  sind  die  Lidspalten  enger  als  normal,  desgleichen 
verharren  Corrugatores  und  Mm.  frontales  in  einem  gewissen  Contractions- 
zustand.  Die  willkürliche  und  mimische  Bewegung  ist  im  Zustand  der 
Ruhe  ungestört,  jedoch  bewirkt  der  Versuch,  die  Stirne  zu  runzeln,  so- 
fort krampfhaften  Verschluss  der  Augen. 

Pat.  klagt  fortwährend  Stechen  und  Brennen  im  Bindehautsack, 
welche  Sensationen  sich  beim  Eintreten  der  Krämpfe  jeweils  steigern. 
Dabei  hat  er  ein  Gefühl  von  Starre  der  Lider,  das  ihn  veranlasst,  die- 
selben zu  reiben.     Ein  Bindehautkatarrh  besteht  nicht. 

Die  Sprache  ist  leicht  verwaschen,  die  Articulation  unrein.  Beim 
Sprechen  kommt  es  öfters  zu  einer  krampfhaften  Verziehung  der  Mund- 
winkel.   Die  mechanische  Erregbarkeit  im  Facialisgebiet  ist  nicht  erhöht. 

An  Stamm  und  Wirbelsäule  normale  Verhältnisse.  Die  r.  Scapula 
steht  höher  als  die  1.,  die  r.  Schulter  mehr  vorwärts  als  die  andere. 

Die  OE.  sind  in  einem  fast  continuirlichen  Zustand  der  Ver- 
krampfung mit  gebeugten  und  pronirten  Ellbogen-  und  leicht  volar- 
flectirten  Handgelenken,  die  aber  unschwer  passiv  streckbar  sind. 

An  den  Fingern  laufen  athetoseartige  Bewegungen  ab  im  Sinne  der 
Flexion,  Abduction,  Streckung,  vorwiegend  in  den  Metacarpophalangeal- 
gelenken.  Diese,  aber  auch  sämmtliche  anderen  Fiugergelenke  sind 
schlaff  und  abnorm  überdehnbar  bei  passiver  Bewegung.  Mit  den 
Athetosebewegungen  der  Finger  sind  häufig  leichte  Krampferscheinungen 
in  den  Handgelenken  verbunden.  Die  Willkürbewegung  ist  durch  diese 
krampfhaften  Erscheinungen  sehr  beeinträchtigt. 

Nirgends  an  den  OE.  finden  sich  sichere  Residuen  einer  Herd- 
erkrankung, weder  Ausfälle  der  Sensibilität,  noch  der  Motilität  oder 
Atrophien.  Die  grobe  Muskelkraft  ist  aber  allenthalben  gering.  Dynamo- 
meter r.  nur  6,  1.  8  Ko. 

An  den  UE.  findet  sich  keine  Störung,  jedoch  sind  die  tiefen  Reflexe 
gesteigert.  An  den  OE.  ist  diese  Steigerung  noch  mehr  ausgesprochen; 
auch  die  directe  Muskelerregbarkeit  ist  gesteigert. 

Pat.  verweilte  nur  kurze  Zeit  an  der  Klinik  und  wurde  erfolglos 
mit  Thyreoideatabletten  behandelt. 

Beob.  2. 

B.,  46  J.,  Privat.,  aufgenommen  20.  4.  97,  stammt  von  einem  Vater, 
der  an  Apoplexia  cerebri  starb.  Auch  dessen  Vater  soll  an  Haemorrhagia 
cerebri  zu  Grunde  gegangen  sein.  Die  Mutter  und  eine  Schwester  des 
Pat.    leiden   an   Cephaläa.     Fünf  weitere   Geschwister  sind  gesund  und 


Athetosis  bilateralig.  145 

rechtzeitig  geboren.  Pat.  ist  Siebenmonatkind,  wurde  mühsam  am  Leben 
erhalten.     Lues  lässt  sich  bestimmt  ausschliessen. 

Sechs  Monate  alt,  bekam  B.  einen  cerebralen  Insult  (Bewusstlosig- 
keit,  Daliegen  wie  „todt"  durch  eine  Stunde).  Ob  Convulsionen  damit 
verbunden  waren,  ob  Folgeerscheinungen,  daran  weiss  sich  die  Mutter 
nicht  mehr  zu  erinnern.  Sie  weiss  nur,  dass  das  jetzt  noch  bestehende 
Leiden  schon  im  1.  Lebensjahre  aufgetreten  ist. 

Sprech-  und  Gehversuche  fanden  zur  rechten  Zeit  statt.  Pat.  ge- 
langte aber  nur  zu  mühsamem  Gehen  im  Gehkorb  und  seine  Sprache 
sei  gleich  von  Anfang  an  gestört  gewesen.  Eine  Lähmung  sei  nie  be- 
merkt worden.  Intensität  und  Extensität  der  jetzigen  motorischen 
Störungen  bestehe  unverändert  seit  mindestens  20  Jahren. 

Pat.  überstand  mehrere  Kinderkrankheiten  ohne  bemerkbare  Folgen. 
Eine  Psoriasis  vulgaris  besteht  bei  ihm  seit  dem  7.  Jahr.  Er  war  von  jeher 
erregbar,  jähzornig,  fühlte  sich  grundlos  gegenüber  den  Geschwistern 
zurückgesetzt.  Die  geistige  Begabung  sei  nicht  schlecht  gewesen.  Er 
lernte  die  Muttersprache  und  Französisch  ziemlich  leicht,  auch  Rechnen. 
Zum  Schreiben  gelangte  er  vermöge  seiner  motorischen  Störungen  nicht. 
Seit  einem  Sturz  beim  Gehen,  ohne  Verletzung,  mit  15  J.  machte  Pat. 
keine  Gehversuche  mehr.  Er  verweilte  seither  im  Bett  oder  im  Lehn- 
stuhl. Er  konnte  sich  nicht  selbst  aufrichten,  musste  gefüttert  werden. 
Unreinlichkeit  kam  nie  vor. 

Stat.  praes.:  Pat.  klein,  gracil,  Schädelumfang  56  cm,  Supraorbital- 
bogen  wulstig  vorspringend.  Zähne  grösstenteils  ausgefallen,  Kiefer 
atrophisch,  Spuren  von  Rachitis  am  Thorax. 

Vegetative  Functionen  ungestört.  Volle  Virilität.  An  dem  Pat. 
fällt  auch  in  der  Ruhe  und  in  Bettlage  ein  continuirliches  krampfhaftes 
Muskelspiel  auf,  das  nur  im  Schlaf,  bis  auf  minimale  Erscheinungen  an 
Fingern  und  Zehen,  aufhört  und  durch  Intention  und  namentlich  Emotion 
bedeutend  gesteigert  wird,  sodass  Pat.  als  ein  grimassirendes,  sich  win- 
dendes, reckendes,  streckendes,  regionär  zuckendes,  zappelndes  Wesen 
sich  darstellt. 

Am  intensivsten  und  constant  sind  Hände  und  Füsse  von  ganz 
ziellosen,  uncoordinirten,  äusserst  träge  ablaufenden  Krampf bewegungen 
befallen.  Die  Finger  und  Zehen  werden  in  der  rücksichtslosesten  Weise 
bis  zu  den  extremsten  Stellungen  gebeugt,  gestreckt,  gedreht,  gespreizt 
und  lösen  fortwährend  die  verschiedenen  Phasen  einander  ganz  regellos 
ab.  Eine  abnorme  Schlaffheit  und  Ueberdehnbarkeit  der  Fingergelenke 
leistet  diesen  extremen  Bewegungen  Vorschub. 

An  den  grossen  Gelenken  der  Extremitäten  laufen  ebenso  langsam 

Krafft-Ebing,  Arbeiten  II.  10 


146  HI.  Zur  Athetosis  bilateralis. 

Bewegungen  ab,  wobei  einzelne  Phasen  bis  zu  Minutenlänge  unabgelöst 
bleiben. 

So  findet  man  Phasen,  in  welchen  die  Oberarme  fest  an  den  Thorax 
gepresst  und  nach  aussen  rotirt,  Vorderarm  und  Hand  in  extremer 
Beugestellung,  letztere  sehr  stark  pronirt  und  ulnarflectirt  erscheinen. 
Darauf  folgt  Streckung  des  Armes  in  allen  Gelenken,  zugleich  mit  Er- 
hebung nach  vorne.  In  den  UE.  laufen  analoge  Krampfbewegungen  ab, 
indem  Ober-  und  Unterschenkel  bald  stark  gebeugt,  bald  tetanisch  ge- 
streckt werden.  Weniger  als  die  Extremitäten  sind  die  Eumpfmuskeln 
betheiligt.  Der  Stamm  wird  im  Bett  hin-  und  hergewälzt,  schlangen- 
artig gedreht,  nach  rückwärts  gebeugt;  der  Bauch  erscheint  bald  ein- 
gezogen, bald  aufgebläht,  das  Becken  nach  allen  Seiten  gedreht.  Auch 
der  Kopf  wird  geneigt,  rückwärts  in   die  Kissen  gebohrt  und  gedreht. 

Sehr  bedeutend  ist  die  Betheiligung  der  Gesichtsmuskeln.  Das 
Gesicht  wird  durch  beständige  Grimassiren  entstellt  und  zum  Ausdruck 
der  wirklichen  Stimmung  des  Pat.  ganz  unfähig. 

Bei  jedem  Versuch  dazu  steigern  sich  die  Krämpfe  und  gehen  auch 
auf  die  Sprachmusculatur  über.  Versucht  Pat.  z.  B.  für  eine  kleine 
Dienstleistung  zu  danken,  so  wird  das  Gesicht  durch  die  heftigsten 
Grimassen  verzerrt,  die  Unruhe  des  ganzen  Körpers  steigert  sich,  Pat. 
bringt  Anfangs  statt  Worte  nur  ein  wieherndes  oder  grunzendes  Lachen 
hervor,  bis  er  endlich,  nach  vielfachen  und  vergeblichen  Anstrengungen, 
mühsam  und  abgehackt  ein  „Dan — ke"  hervorpresst.  Aber  auch  in  der 
Ruhe  sind  Gesichtsmuskeln  und  Sprache  von  beständigen  Krampferschei- 
nungen gestört.  Der  Mund  wird  gespitzt,  die  Lippen  umgestülpt,  rüssel- 
artig vorgestreckt  oder  auch  zurückgezogen,  die  Mundwinkel  weit  nach 
einer  oder  beiden  Seiten  verzogen,  wobei  häufig  auch  das  Platysma  sich 
anspannt;  die  Stirne  wird  gerunzelt,  in  Querfalten  gelegt,  die  Augen 
werden  krampfhaft  geschlossen  oder  weit  aufgerissen. 

Die  Sprache  ist  abgehackt,  scandirend.  Die  einzelnen  Silben  werden 
mühsam,  explosiv  hervorgestossen ,  oft  überlaut,  fast  schreiend,  voll- 
ständig von  einander  getrennt,  ohne  Modulation,  öfters  mit  ganz  un- 
articulirten  und  gurgelnden  Tönen  untermischt. 

Selten  sind  die  Kiefer  betheiligt  und  zwar  in  Gestalt  unwillkürlicher 
Oeffnung  oder  Schliessung  derselben.  Die  Gaumenbögen  werden  nach 
oben  gezogen  oder  nach  einer  Seite  gezerrt.  Auch  das  Kauen  und 
Schlingen  ist  oft  durch  Krämpfe  gestört.  Pat.  behauptet,  dass  ihm 
häufig  flüssige  Nahrung  per  nasum  regurgitire,  was  aber  in  der  Klinik 
nicht  zu  beobachten  ist.  Gelegentlich  werden  auch  wiederholte  krampf- 
hafte In-  oder  Exspirationen  mit  schnarchendem  oder  röchelndem  Ge- 
räusch constatirt.    Dyspnoe  oder  Cyanose  kommt  nicht  vor. 


Athetosis  bilateralis.  J[47 

Alle  die  erwähnten  Bewegungen  erscheinen  als  athetotische,  ver- 
möge ihres  äusserst  langsamen  Ablaufes. 

Anders  ist  es  mit  der  Zunge,  die  auch  in  der  Mundhöhle  in  per- 
manenter Bewegungsunruhe  ist,  sich  wölbt,  bäumt,  hin-  und  hergewälzt 
wird,  gelegentlich  herausgestreckt  oder  auch  zurückgezogen  wird.  Diese 
Krämpfe  laufen  mit  bemerkenswerther  Raschheit  ab  und  erinnern  viel- 
mehr an  Chorea,  als  an  Athetose.  Auch  einzelne  grimassirende ,  tik- 
artige  Gesichtsbewegungen  machen  diesen  Eindruck,  gleichwie  an  den 
Extremitäten  gelegentlich  auftretende  ruck-  und  schleuderartige,  überaus 
rasch  einsetzende  und  ablaufende  Krampfbewegungen.  All'  dies  macht 
bei  längerer  Beobachtung  den  Eindruck,  als  bestehe  neben  der  Athetose 
eine  Chorea,  die  aber  vor  lauter  Athetosekrämpfen  nicht  oder  nur  un- 
vollkommen zur  Entäusserung  gelange. 

Ganz   frei  von  Krampferscheinungen  sind  nur  die  Augenmuskeln. 

Eine  sichere  Prüfung  auf  Residuen  von  Herderkrankungen  im 
Gehirn  in  Gestalt  von  Lähmungen  u.  s.  w.  ist  bei  dem  Pat.  nicht 
möglich.  Das  Bestehen  solcher  ist  aber  nicht  wahrscheinlich.  Localisirte 
Atrophien  bestehen  nirgends.  Auffallenderweise  sind  aber  auch  die  be- 
treffenden Muskelgebiete  trotz  vieljähriger  luxuriirender  Bewegungsaction 
nicht  hypertrophisch.     Die  Patellarreflexe  sind  gesteigert. 

Von  Seiten  der  Sinnesorgane  besteht  keine  Functionsstörung.  Die 
cutane  Sensibilität  ist  normal,  die  tiefe  nicht  untersuchbar.  Pat.  klagt 
über  häufige  Gelenkschmerzen.  Psychisch  bietet  Pat.  nichts  Auffälliges, 
bis  auf  eine  mit  seiner  Lage  nicht  im  Einklang  stehende  Heiterkeit. 
Die  Psyche  scheint  ungestört,  jedoch  ist  eine  genaue  Prüfung  wegen 
der  Schwierigkeit  der  Verständigung  nicht  möglich.  Pat.  rechnet  gut, 
spricht  Deutsch  und  etwas  Französisch  und  ist  in  seinem  äusseren  Ver- 
halten vollkommen  geordnet. 

Der  Zustand  des  Kranken  hat  sich  in  der  mehrwöchentlichen  Beob- 
achtung in  der  Klinik  nicht  geändert.  Amylenhydrat,  Hyoscin.  muria- 
ticum  zu  0,001  pro  die  erwiesen  sich  wirkungslos  gegen  die  motorische 
Neurose.  Eine  Herabsetzung  der  groben  Muskelkraft  war  nirgends  und 
niemals  nachzuweisen. 

Der  Unterschied  der  beiden  letzten  Fälle  von  dem  ersten,  im  reifen 
Alter  und  idiopathisch  aufgetretenen,  ist  nicht  zu  verkennen.  Dieser 
lässt  keine  andere  Deutung  als  im  Sinne  einer  corticalen  Neurose,  analog 
einer  idiopathischen  Chorea  zu,  und  gewinnt  durch  seine  eigenthümliche 
Aetiologie,  durch  die  Störungen  der  cutanen  und  tiefen  Sensibilität  im 
Rayon  der  Athetose,  sowie  durch  den  temporären  Erfolg  der  Behandlung, 
ein  eigenartiges  Relief. 

Die  beiden  letzten  Fälle  haben  vielfache  Analogien  und  lassen  sich 

10* 


148  III.  Zur  Athetosis  bilateralis. 

bestimmt  als  solche  von  symptomatischer  Athetose,  im  Anschluss  an 
eine  infantile  Hirnerkrankurig,  die  als  eine  doppelseitige  gedacht  werden 
nrass,  ansprechen. 

Im  Falle  D.,  in  welchem  ursprünglich  die  Athetose  auf  die  OE. 
beschränkt  ist  und  bemerkenswerther  Weise  erst  nach  ca.  30  Jahren 
als  athetotische  anzusprechende  Krampferscheinungen  im  Facialisgebiet 
hinzutreten,  finden  sich  Hinweise  auf  die  ursächlichen  Herderkrankungen,  in- 
sofern beiderseits  im  Athetosegebiet  die  grobe  Muskelkraft  herabgesetzt  ist 
und  die  tiefen  Reflexe  gesteigert  erscheinen.  Im  Falle  B.  gelingt  ein  solcher 
Nachweis  nicht,  aber  die  auch  hier  offenbar  an  einen  cerebralen  Insult 
sich  anschliessende  Entstehung  der  Krankheit  spricht  zu  Gunsten  ihrer 
Auffassung  als  einer  symptomatischen.  Bekanntlich  entwickelt  sich 
Athetose  am  leichtesten  da,  wo  das  Gebiet  der  betreffenden  cortico- 
musculären  Bahnen  nur  gestreift,  nicht  aber  zerstört  wird.  Damit  er- 
klärt sich  die  Thatsache,  dass  ausgesprochene  Lähmung,  spastischer 
Charakter  derselben  u.  s.  w.  nur  ausnahmsweise  mit  Athetose  ver- 
bunden sind. 

Die  Analogie  der  Hemiathetose  mit  der  schon  früher  bekannten 
Hemichorea  posthemiplegica  hat  schon  Oulmont  (1878)  auf  den  richtigen 
Weg  gewiesen,  die  erstere  auf  eine  Herderkrankung  (infantile  Cerebral- 
lähmung,  wohl  durch  Polioencephalitis)  zu  beziehen  und  die  bilaterale 
Athetose  auf  eine  doppelseitige  Localisation  zurückzuführen,  welcher 
Anschauung  Richardiere,  Gowers,  Gitotteau,  Osler,  Simpson,  Massalongo, 
Freud  u.  A.  beigetreten  sind.  Mit  Recht  hält  aber  Audry  (1892)  diese 
Anschauung  nicht  für  alle  Fälle  von  bilateraler  Athetose  zutreffend. 
Er  verweist  in  dieser  Hinsicht  auf  Fälle  bei  Erwachsenen  und  Kindern, 
bei  denen  eine  Beziehbarkeit  auf  eine  Herderkrankung  nicht  ausweisbar 
war.  Ein  solcher  Fall  dürfte  auch  der  obige  von  mir  1889  mitgetheilte  sein. 
Gerade  wie  es  eine  posthemiplegische,  organisch  bedingte  und  eine  idio- 
pathische, neurotische  Chorea  giebt,  ebenso  ist  es  denkbar,  dass  dies 
auch  bei  der  verwandten  Athetose  der  Fall  sei,  nur  muss  aus  der  Er- 
fahrung zugegeben  werden,  dass  Fälle  idiopathischer  Athetose  zu  den 
grössten  Seltenheiten  gehören. 

Literatur  der  Athetosis  duplex.  Abhandlungen:  Michailowsky,  etude  clinique 
sur  l'athetose  double,  nouvelle  Iconographie  de  la  Salpetriere  V,  p.  57.  251;  Audry, 
l'athetose  double  et  les  chorees  chroniques  de  l'enfance  Paris,  1892  (Sammlung  von 
79  Fällen  der  Krankheit);  Sharkey,  spasm  in  chronic  nerve  disease  1886;  Brissaud  et 
Hallion,  revue  neurolog.  1893,  12.  15. 

Casuistik  (über  Ath.  duplex  symptomat.  im  Anschluss  an  Herderkrankungen  defl 
Gehirns):  Ross,  on  the  spasmodic  paralyses  of  infancy,  Brain  1882;  Delhomme,  contribut. 
ä  l'etude  de  l'atrophie  cerebrale  infantile,  These  de  Paris  1882;  Greidenberg,  Vratch, 
St.   Petersburg  1882.    HI,  p.  657;   Pollak,   Berlin,  klin.  Wochenschr.   1880;  Adsersen, 


Athetosis  bilateralis.  149 

Hospitale  Tidende  1886;  Beach,  Brit.  med.  Journal  1879,  p.  815;  Blocq  et  Blin,  Revue 
de  medecine  1888;  Hall  White,  Brain  1887,  p.  237;  Kurella,  Centralbl.  I  N.  Heilkde. 
1887;  Massalongo,  collez.  ital.  di  letture  sulla  medicina.  Serie  V,  Nr.  3;  Dejerine  et 
Sollier,  Bull,  de  la  soc.  anatom.  1888;  Brousse,  Gaz.  hebdom.  des  sciences  med.  de 
Montpellier  1888;  Chavanis,  Loire  med.  1891,  15  März;  Bourneville  et  Pilliet,  Archiv, 
de  neurol.  1887,  Nr.  42  u.  1888,  p.  386;  Greenless,  Brain  1887;  Hughes,  weekly  med. 
Kev.  St.  Louis  1887.  XV,  p.  561;  Olli  vier,  lecons  clin.  sur  les  malad,  des  enfants  1889, 
p.  165;  Barrs,  med.  Times  and  Gaz.  1885,  p.  144;  Hughes,  Alienist  and  Neurol. 
1887,  VIH;  Kinicutt,  Boston  med.  Journ.  1878;  Massalongo,  rivista  veneta  di  scienze 
med.  1890;  Osler,  americ.  neurolog.  assoc.  of  Washington  1891;  Putnam,  Journal  of 
nerv.  and.  mental  discase  1891,  1892,  Febr.;  Michailowsky,  op.  cit.  p.  60,  72,85,  296, 
297,  302,  304;  Spehl,  Journal  de  neurolog.  et  d'hypnot.  I,  p.  156;  Clifford  Albutt, 
med.  Times  and  Gazette  1892,  Jan.  27;  Pennato,  Archiv,  ital.  di  clin.  med.  1893; 
Hugh  Hagan,  New  York  med.  Journ.  1892,  16.  Jan.;  Lannois,  Bull.  med.  1893,  31; 
Massalongo,  Gaz.  degli  oapedali  1894,  No.  128;  Papinio,  Arch.  itaL  di  clin.  med. 
1894,  XXXH. 


IV. 
VARIA. 


Gutachten  des  k.  k.  Obersten  Sanitätsrathes 

bezüglich  der  gesetzlichen  Regelung  des  Hypnotismns  in  Oesterreich.*) 

(Referent:  Hofrath  Professor  Dr.  R.  Freiherr  y.  Krafft-Ebing.) 


Die  früher  auf  eine  eigene  Naturkraft,  genannt  animalischer  Magne- 
tismus, irrthümlich  zurückgeführte  Erscheinung  der  Beeinflussbarkeit  von 
Individuen  in  ihren  leiblichen  und  geistigen  Functionen  durch  Dritte, 
vermittelst  besonderer  auf  Einschläferung  gerichteter  Manipulationen,  hat 
eine  in  neuerer  Zeit  wissenschaftliche  Klärung  erfahren,  nach  welcher 
es  sich  hier  wesentlich  um  psychische  Einwirkungen  (sogenannte  Sug- 
gestionen) von  einer  Person  auf  die  andere,  künstlich  durch  Hervorrufung 
von  schlafähnlichen  Zuständen,  besonders  empfänglich  (suggestibel)  ge- 
machte Persönlichkeit  handelt. 

Dieser  Erkenntniss  entspricht  die  Verdrängung  des  Ausdruckes 
„animalischer  Magnetismus"  und  seine  Ersetzung  durch  das  Wort 
„Hypnotismus'1  als  Bezeichnung  für  alle  durch  jene  psychischen  Ein- 
wirkungen sich  ergebenden  Thatsachen  und  Erfahrungen. 

Da  diese  für  die  Physiologie  und  Pathologie  des  Nervensystems 
höchst  bedeutsam  sind,  da  die  Anwendung  hypnotischer  Proceduren  zu 
Heilzwecken  nicht  selten  unerwartete  Erfolge  bietet,  welche  ohne  jene 
medicinisch  nicht  erzielbar  wären,  erscheint  es  Aufgabe  der  Wissenschaft 
und  Therapie,  die  Thatsachen  des  sogenannten  Hypnotismus  zu  erforschen 
und  therapeutisch  zu  benützen. 

Die  bisherige  Forschung  hat  aber  zugleich  ergeben,  dass  diese 
subtile  Art  der  Psychotherapie  in  unberufener  ungeschickter  Hand  er- 
heblichen Schaden  für  die  Nerven-  und  geistige  Gesundheit  stiften  kann. 

Damit  erwächst  der  Staatsverwaltung  Recht  und  Pflicht,  darüber 
zu  wachen  und  dafür  zu  sorgen,  dass  nicht  etwa  durch  missbräuchliche 


*)  Wochenschrift  „Das  österreichische  Sanitätswesen"  1896,  30. 


154  IV.  Varia. 

Anwendung   des  Hypnotismus  eine  solche  Schädigung  wirklich  herbei- 
geführt werde. 

Durch  das  Auftreten  eines  medicinischen  Hochstaplers  Messmer, 
des  Begründers  der  vermeintlichen  "Wissenschaft  vom  animalischen  Mag- 
netismus in  Wien,  Anfangs  der  Siebziger-Jahre  des  18.  Jahrhunderts  und 
durch  die  schädlichen  Folgen  seiner  roh  empirischen,  rücksichtslosen 
mercantilen  Verwerthung  der  von  ihm  entdeckten  Kunst,  war  die  öster- 
reichische Staatsverwaltung  schon  sehr  früh  in  der  Lage,  zu  solchen 
Fragen  Stellung  nehmen  zu  müssen.  Anlass  dazu  bot  nach  der  Landes- 
verweisung Messmers,  der  1778  nach  Paris  verzog,  das  Ersuchen  eines 
praktischen  Arztes  Scherr  in  Wien,  magnetische  Curen  verrichten  zu 
dürfen. 

Die  bezüglichen  Acten  reichen  bis  1794  zurück. 

In  diesem  Jahre,  im  October,  berichtete  die  medicinische  Facultät, 
welche  über  Auftrag  der  Regierung  die  Behandlungsweise  Scherr's 
untersucht  hatte,  dass  diese  neue  Heilart  in  die  Classe  des  thierischen 
Magnetismus  gehöre,  folglich  zu  den  von  Schwärmern  vertheidigten,  von 
Aufgeklärten  verlachten  und  wegen  des  durch  sie  herbeigeführten  mora- 
lischen und  politischen  Unfuges  an  mehreren  Orten  landesverwiesenen 
Messmeriaden. 

Scherr  behaupte,  dass  seine  Somnambule  auch  mit  geschlossenen 
Augen  sehe  und  in  diesem  Zustande  die  Krankheiten  der  Menschen  er- 
kenne. Aber  die  Facultäts-Commission  habe  bei  der  Probe,  welche  sie 
anstellte,  sich  davon  nicht  überzeugen  können. 

Scherr  habe  sich  dabei  auffallend  verlegen  und  befangen  gezeigt, 
seine  Manipulationen  mit  dem  Baquet,  wohin  der  Lebensäther  aus  der 
Atmosphäre  mittelst  eisernen  Drahtes  gezogen  werde,  für  ein  Ge- 
heimniss  erklärt,  das  er  nicht  verrathen  könne  und  dadurch  das  grösste 
Misstrauen  hervorgerufen. 

Daraufhin  verbot  die  Regierung  dem  Scherr  das  Einschläfern,  als 
eine  Gaukelei.  Bezüglich  des  Baquets  war  sie  zwar  der  Ansicht,  dass 
dies  auch  eine  Gaukelei  sei,  hielt  aber  dafür,  Scherr  zu  ermahnen,  er 
solle  der  Facultät  die  Kräfte  seines  Baquets  enthüllen  und  sicherte  ihm 
zu,  dass,  wenn  diese  sich  von  dessen  Kräften  überzeugen  sollte,  Scherr 
ein  Privilegium  zum  ferneren  Gebrauche  des  Baquets  erhalten  werde. 

Unterm  20.  Februar  1795  erschien  Folgendes 

Hofkanzlei-  Decret: 
„An  dem  an  Scherr  erlassenen  Verbot  alles  ferneren  Einschläferns 
und  dergl.  Gaukeleien,  ist  ganz  recht  geschehen;  so  viel  es  aber  das 
sogenannte  Aetherisiren  betrifft,  so  glaubt  man  gerne,  dass,  wenn  da- 


Gesetzliche  Regelung  des  Hypnotismus  in  Oesterreich.  155 

mit  doch  eine  gute  Wirkung  geschieht,  dies  nicht  dem  Baquet,  son- 
dern lediglich  der  exaltirtenEinbüdungskraft  der  Patienten  zuzuschreiben 
und  die  Sache  ebenfalls  nichts  als  Gaukelei  sei;  da  jedoch  die  medic. 
Facultät  diese  Operation  der  menschlichen  Gesundheit  nicht  schädlich 
findet,  so  ist  zwar  diese  Curart  nicht  zu  autorisiren,  aber  auch  nicht 
zu  verbieten,  dass,  wenn  Jemand  das  Vertrauen  darauf  setzt,  er  solche 
gebrauchen  und  zu  Scherr  als  einem  geprüften  Arzt  und  seinem  ver- 
mutlich eingebildeten  Heilmittel  seine  Zuflucht  nehmen  möge. 

Es  ist  sich  also  diesfalls  lediglich  connivendo  zu  verhalten  und 
weder  auf  die  Eröffnung  des  sogenannten  Arcani  zu  dringen,  noch 
weniger  aber  von  einer  Ablösung  desselben  oder  Zusicherung  eines 
Privilegii  Meldung  zu  thun. 

Nur  ist  Scherr  alle  diesfällige  Publicität,  die  Bestimmung  ge- 
wisser Tage  und  Stunden,   die  Offenhaltung  eines  eigenen   Zimmers 
für  Jedermann  zu  dieser  Operation  zu  verbieten  und  besonders  scharf 
dieses  vorzuschreiben,  dass  sie  nur  an  Einzelnen,   die  dies  verlangen 
imd  nicht  bei  und  an  ganzer  Gesellschaft  vorgenommen  und  Gelegen- 
heit zu  einem  Zusammenfluss  von  Menschen  gegeben  werde,  worauf, 
dass  es  geschehe,  Regierung  ein  wachsames  Auge  zu  tragen  hat." 
1815  resolvirte  die  Regierung  anlässlich  Schwierigkeiten,  die  sich 
hinsichtlich  der  Anwendung  magnetischer  Curen  durch  die  Aerzte:  Mal- 
fatti,  Röhrich,  Göllis  ergeben  hatten,  man  habe  sich  nach  der  Verord- 
nung vom  20.  Februar  1795  zu  benehmen. 

Eine  ähnliche  Resolution  erfolgte  am  8.  Juli  1824,  wonach  das 
Verbot  der  Anwendung  des  sogenannten  Biomagnetismus  dahin  abgeändert 
wird,  dass  es  den  Doctoren  der  Heil-  und  Wundarzneikunde  gestattet 
wird,  den  Biomagnetismus  unter  gewissen  Bedingungen,  wie  sie  1795 
bestimmt  wurden,  auszuüben,  jedoch  ausschliesslich  zu  Heilzwecken. 

1845  erfolgte  über  ein  Gesuch  des  Prof.  Lippich,  den  Lebens- 
magnetismus als  Heilmittel  anwenden  zu  dürfen,  eine  letzte  Allerhöchste 
Entscheidung  (Hofkanzlei-Decret  vom  26.  October  1845,  Z.  36098), 
deren  Bestimmungen  folgende  sind: 

1.  Nur  an  inländischen  Universitäten  promovirten  Med.  und  Chir. 
Doctoren  und  zur  Praxis  berechtigten,  ist  die  Ausübung  des  thierischen 
Magnetismus  gestattet; 

2.  Nichtärzten,  sowie  insbesondere  Patronen  und  Magistern  der 
Chirurgie  bleibt  die  selbständige  Ausübung  magnetischer  Curen  unbe- 
dingt verboten. 

3.  Jeder  berechtigte  Arzt,  der  eine  magnetische  Cur  unternimmt, 
hat  in  Wien  dem  betreffenden  Polizei -Bezirks-  oder  Stadtarzte  die  An- 


156  IV.  Varia. 

zeige  zu  erstatten,  auf  dem  flachen  Lande  aber  dem  betreffenden  Districts- 
oder  Kreisarzte. 

4.  Ueber  den  Verlauf  der  Cur  selbst  ist  ein  vollständiges,  den  Be- 
hörden auf  Verlangen  vorzulegendes  Tagebuch  zu  führen  und  den- 
selben auch  sonst  jede  zur  gehörigen  Beurtheilung  des  Falles  in  medi- 
cinisch-polizeilicher  Hinsicht  erforderliche  Auskunft  zu  ertheilen. 

5.  Die  betreffenden  Polizei-  u.  s.  w.  Aerzte  haben  die  Anzeige  der 
betreffenden  Polizei -Directum,  Polizei -Commissariaten,  Kreisämtern  zu 
überreichen  und  in  den  jährlichen  zu  erstattenden  Hauptsanitätsberichten 
diejenigen  Aerzte  zu  bezeichnen,  welche  sich  mit  magnetischen  Curen 
befassen,  sowie  ihre  Wahrnehmungen  und  Bemerkungen  über  die  Erfolge 
derselben  beizusetzen. 

6.  Ordinationen  von  Somnambulen  für  andere  Kranke  können  nur 
unter  specieller  Vermittlung  des  dabei  zu  Rathe  zu  ziehenden  Arztes 
geschehen  und  sind  ohne  eine  solche  Vermittlung,  wie  oben  sub  2,  zu 
bestrafen. 

7.  Die  Besuche  der  Somnambule  von  Seiten  der  Aerzte  zu  ihrer 
eigenen  Belehrung,  sowie  die  Vornahme  von  Versuchen  an  ihr,  die  mit 
derlei  Versuchen  etwa  verbunden  werden  wollen,  sind  nur  dann  gestattet, 
wenn  die  Somnambule  Besuche  von  fremden,  ausserhalb  des  Kreises  ihrer 
Verwandten  und  Bekannten  stehenden  Personen  annimmt. 

Ist  Letzteres  nicht  der  Fall,  so  sind  diese  Besuche  nur , den  von 
dem  ordinirenden  Hausarzte  eingeführten  oder  zur  Consultation  verlangten 
Aerzten  erlaubt. 

8.  Das  Heranziehen  von  Somnambulen  aus  dem  gesunden  Zustande, 
ohne  irgend  einen  Heilzweck  dabei  zu  verfolgen,  ist,  ebenso  wie  das 
Steigern  des  Somnambulismus  auf  einen  höheren  Grad  als  eben  die  vor- 
genommene ärztliche  Cur  nach  den  ärztlichen  Grundsätzen  erfordert,  auf 
das  Strengste  untersagt. 

9.  Magnetische  Behandlungen  in  ganzen  Versammlungen,  mögen 
sie  mit  oder  ohne  Baquet  geschehen,  sind  im  Allgemeinen  untersagt  und 
dürfen  nur  ausnahmsweise  über  eingeholte  Bewilligung  der  Landesstelle 
statthaben. 

10.  Gegen  jede  den  obigen  Bestimmungen  zuwiderlaufende  An- 
wendung des  Biomagnetismus,  entweder  durch  unbefugte  Personen  oder 
zu  unerlaubten  und  strafbaren  Zwecken,  ist  von  der  Polizeibehörde  ein- 
zuschreiten und  gegen  die  Uebertreter  entweder  unmittelbar,  oder  nach 
Befund,  durch  ihre  Ueberweisung  an  die  competente  Strafbehörde  das 
Geeignete  zu  verfügen. 

Insbesondere  sind  etwaige  Verbindungen  des  Magnetiseurs  mit 
Personen,  die  sich  im  wirklichen  oder  vorgespiegelten  somnambulen  Zu- 


Gesetzliche  Regelung  des  Hypnotismus  in  Oesteweich.  157 

Stande  befinden,  sorgfältig  zu  überwachen  und  gegen  Vergehungen,  die 
von  Somnambulen  durch  unbefugtes  Ordiniren  von  Arzneimitteln  oder 
durch  sonstige  Ertheilung  von  ärztlichen  Rathschlägen  für  andere  Kranke 
verübt  werden,  die  festgesetzten  Strafen  in  Anwendung  zu  bringen. 

Unter  dem  Eindrucke  dieses  Hofkanzlei-Decretes  entstand  der 
§  343  des  Str.-G.  vom  Jahre  1852,  welcher  u.  A.  den  Umstand,  dass  Jemand 
ohne  gesetzliche  Berechtigung  zur  Behandlung  von  Kranken  als  Heil- 
oder Wundarzt,  sich  mit  der  Anwendung  von  animalischem  oder  Lebens- 
magnetismus befasst,  als  Uebertretung  erklärt. 

Seither  sind  keine  legislatorischen  Acte  zur  Regelung  des  Hypno- 
tismus in  Oesterreich  mehr  erfolgt.  Es  geht  dies  aus  einer  Antwort  des 
österreichischen  Ministeriums  vom  26.  März  1891,  auf  eine  Anfrage  der 
kgl.  grossbritannischen  Regierung  nach  Gesetzen  bezüglich  der  Anwen- 
dung des  Hypnotismus  hervor,  wonach  auf  das  obige  Hofkanzlei-Decret 
verwiesen  wird. 

Zugleich  heisst  es  in  der  erwähnten  Antwort:  „Obwohl  diese  Ver- 
ordnung den  gegenwärtigen  Verhältnissen  nicht  mehr  vollkommen  ent- 
spricht, hat  sich  hinsichtlich  der  Ausübung  des  Hypnotismus  bisher  keine 
genügende  Veranlassung  ergeben,  besondere  Bestimmungen  zu  treffen.« 
Diese  Bemerkung  bezieht  sich  offenbar  nur  auf  die  therapeutische  An- 
wendung des  Hypnotismus,  denn  es  ist  bekannt,  dass  wiederholt  dem 
Unfuge  öffentlicher  hypnotischer  Vorstellungen  durch  reisende  Hypno- 
tiseure polizeilich  entgegengetreten  werden  musste. 

Um  der  Gesetzgebung  und  Polizeiverwaltung  entsprechende  wissen- 
schaftliche Grundlagen  und  Aufschlüsse  bezüglich  der  Regelung  des  Hyp- 
notismus geben  zu  können,  erscheint  es  vor  Allem  nothwendig,  die  Um- 
stände, unter  welchen  der  Hypnotismus  zur  Anwendung  gelangt,  zu 
erörtern  und  dabei  scharf  seine  Anwendung  Seitens  gesetzlich  autorisirter, 
d.  i.  ärztlicher  Personen  und  Seitens  Profaner,  Unberechtigter,  zu  unter- 
scheiden. 

Was  die  heilärztliche  Anwendung  des  Hypnotismus  betrifft,  so 
ist  dieselbe  seit  Decennien  von  der  österreichischen  Gesetzgebung  an- 
erkannt und  durch  §  343  des  Str.-G.  ausschliesslich  der  Domäne  des 
ärztlichen  Wirkens  zugewiesen.  Diese  Bestimmung  ist  eine  höchst  werth- 
volle,  und,  Angesichts  der  Gefahren,  welche  nicht  sachverständige  An- 
wendung des  Hypnotismus  herbeiführen  kann,  unter  allen  Umständen 
beizubehalten.  Jedoch  erscheint  es  wünschenswerth,  dass  in  einer  künf- 
tigen Strafgesetzgebung,  entsprechend  der  wissenschaftlichen  geänderten 
und  fortschrittlichen  Auffassung  Dessen,  was  man  früher  animalischer 
Magnetismus  nannte,  der  Terminus  „Hypnotismus"  eingeführt  werde. 


158  IV-  vana. 

Beim  gegenwärtigen  Stande  der  Studien-  und  Rigorosenordnung, 
in  welcher  Psychiatrie  weder  obligates  Studium  noch  Examenfach  ist, 
muss  allerdings  angenommen  werden,  dass  mancher  Arzt  wohl  de  jure, 
nicht  aber  de  facto  das  Gebiet  der  Hypnose  beherrscht;  da  aber  das  ge- 
nannte Fach  bald  obligat  werden  dürfte,  kann  von  diesem  Mangel  ab- 
gesehen werden. 

Eine  andere  Frage  ist  es,  ob  die  hypnotische  Behandlung  durch 
Aerzte  einer  staatlichen  Controle,  etwa  im  Sinne  des  Hofkanzlei-Decretes 
vom  Jahre  1845,  auch  künftig  unterstehen  soll. 

Ueberblickt  man  die  Bestimmungen  jenes  Hofkanzlei-Decrets,  so 
kann  man  sich  dem  Eindruck  nicht  verschliessen ,  dass  sie  unter  Vor- 
stellungen einer  geheimnissvollen,  geradezu  mystischen  und  damit  un- 
absehbare Tragweite  und  Gefahr  involvirenden  Anwendungsweise  unbe- 
kannter Naturkräfte  entstanden  sind,  welcher  Bedeutung  die  hypnotische 
Heilmethode  von  der  vorgeschrittenen  Wissenschaft,  die  sie  nur  als  eine 
besondere  Art  psychischer,  speciell  suggestiver  Therapie  erkennen  lehrte, 
gründlich  entkleidet  wurde.  Angesichts  der  Thatsache,  dass  heutzutage 
allenthalben  hypnotische  Therapie  geübt  wird,  sogar  per  nefas  von  Laien, 
mit  Berücksichtigung  ferner  der  Erklärung  des  Ministeriums  vom  Jahre 
1891,  dass  hinsichtlich  der  Ausübung  des  Hypnotismus  bisher  kein  ge- 
nügender Anlass  sich  ergab,  besondere  Bestimmungen  zu  treffen,  obwohl 
diejenigen  des  Hofkanzlei-Decretes  vom  Jahre  1845  schon  längst  in  Ver- 
gessenheit gerathen  waren,  kann  nicht  eingerathen  werden,  die  Bestim- 
mungen jenes  Decretes  sub  3,  4,  5  aufrecht  zu  erhalten,  da  sie  eine 
ganz  zwecklose  Belästigung  der  Aerzte,  Sanitäts-  und  Polizeibehörden, 
endlose  Vielschreibereien  bedeuten  und  an  Orten,  wie  Wien  z.  B.,  die 
Creirung  eines  eigenen  sanitätspolizeilichen  Bureaus  ad  hoc  nöthig  machen 
würden. 

In  den  Bestimmungen  des  Hofkanzlei-Decretes  vom  Jahre  1845 
fehlt  eine,  die  in  verschiedenen  Rechtsgebieten,  u.  A.  neuestens  in 
Ungarn,  getroffen  wurde,  nämlich  die  staatliche  Verfügung,  dass  eine 
hypnotische  Behandlung  nur  in  Gegenwart  eines  Zeugen  zulässig  sei. 
Diese  Verfügung  entspringt  offenbar  der  durch  Laboratoriumsexperimente 
und  durch  Sensationsromane  in  Laienkreisen  geweckten  Furcht  vor  der 
Möglichkeit  der  Bestimmung  von  hypnotisirten  Individuen  zu  posthypno- 
tischen Suggestionen  in  Gestalt  unmoralischer  oder  verbrecherischer 
Handlungen,  sowie  aus  thatsächlicher  Gefahr,  dass  ein  ehrvergessener, 
verbrecherischer  Arzt  ein  hypnotisirtes  weibliches  Individuum  zur  Er- 
duldung  von  Beischlaf  und  zu  anderen  sexuellen  Delicten  missbrauchen 
könnte. 

Die  erstere  Befürchtung  ist  in  der  Erfahrung  nicht  begründet,  denn 


Gesetzliche  Regelung  des  Hypnotismus  in  Oesterreich.  159 

obwohl  alle  Welt  und  damit  auch  der  Verbrecher  diese  angebliche  Ge- 
fahr kennt,  sind  solche  Fälle  bisher  nicht  zur  Kenntniss  der  Gerichte 
gekommen  und  da,  wo  man  sie  als  vorhanden  glaubte  (Process  Bompard- 
Eyraud  in  Paris,  Process  Cynski  in  München),  erwies  die  Gerichts- 
verhandlung ihr  Nichtvorhandensein.  Zudem  handelte  es  sich  um  an- 
gebliche Hypnose  durch  Nichtärzte. 

Die  zweite  Gefahr  hat  sich  als  eine  thatsächliche  erwiesen,  insofern 
als  bezügliche  Verbrechen,  an  Hypnotisirten  von  Aerzten  begangen,  in 
den  Annalen  der  Justiz  verzeichnet  sind.  Aber  diese  Gefahr  besteht 
auch  anlasslich  der  Chloroformirung,  Ohnmächtigwerden,  Verfallen  in 
Bewusstlosigkeitszustände,  Seitens  nervenkranker  weiblicher  Individuen. 
Bedenkt  man,  dass  ein  anständiger  Arzt,  wenn  eine  Clientin  bewusstlos 
wird,  sofort  Zeugen  herbeirufen  wird,  dass  Aufhebung  des  Bewusstseins 
(Lethargie,  Somnambulismus)  nur  ausahmsweise  durch  hypnotische  Be- 
einflussung erzielt  wird,  dass  die  obigen  Verbrechen  durch  §§  125  bis 
128  des  Str.-G.  ihre  Ahndung  finden,  so  erscheint  es  überflüssig,  dem 
Arzte  Hypnose  nur  in  Gegenwart  eines  Zeugen  zu  gestatten,  zumal,  da 
der  Fall  Levy  in  Frankreich  lehrt,  dass  derlei  Verbrechen  sogar  in 
Gegenwart  eines  Zeugen  möglich  sind. 

Eine  solche  Forderung  verstösst  aber  auch  gegen  das  vertrauliche 
Verhältniss,  in  welchem  der  Arzt  einem  Clienten  gegenüber  sich  befindet, 
ein  Verhältniss,  das  vielfach  dem  eines  Beichtvaters  einem  Beichtkinde 
gegenüber  gleichkommt. 

Gerade  der  hypnotischen  Behandlung  fallen  sehr  delicate  Angelegen- 
heiten der  Clienten  zu,  z.  B.  die  Befreiung  eines  jungen  Mädchens  von 
Onanie  durch  Suggestivbehandlung,  die  gleichwohl  der  einzige  Weg  zur 
Erlösung  von  solchem  Uebel  sein  kann. 

In  solchen  und  gar  vielen  anderen  Fällen  wäre  nur  eine  taube 
Person  als  Zeuge  zu  verwerthen. 

Eine  solche  Verordnung  könnte  nicht  gutgeheissen  werden,  denn  sie 
wäre  ein  zu  bedenklicher  Eingriff  in  die  ärztliche  Discretionssphäre  und 
würde  die  hypnotische  Suggestionsbehandlung  gerade  da  oft  unmöglich 
machen,  wo  sie  allein  Hilfe  gewähren  kann. 

Solche  Angelegenheiten  sollten  dem  Tacte  des  Arztes  überlassen 
bleiben. 

Was  die  Anwendung  der  Hypnose  in  profanen  Händen  betrifft, 
so  kommen  in  Betracht: 

1.  Hypnose  als  Sport  oder  als  Heilversuch  Seitens  Laien.  Dagegen 
richtet  sich  §  343  des  Str.-G.  (gleichwie  Bestimmung  des  Hofkanzlei- 
Decretes  vom  Jahre  1845). 


160  IV.  Varia. 

2.  Hypnose  als  Gewerbe  durch  sogenannte  Somnambulen,  und  zwar 
wirklich  in  solchen  Zustand  versetzte  oder  (häufiger)  ihn  nur  vor- 
täuschende. Die  Clairvoyance  solcher  Personen  hat  sich  als  Irrthum, 
beziehungsweise  Schwindel  erwiesen,  und  Z.  6,  8  des  Hofkanzlei-Decretes 
thut  ihnen  zu  viel  Ehre  an,  indem  sie  Modalitäten,  unter  welchen  solche 
therapeutische  Hellseherinnen  geduldet  werden  sollten,  fixiren. 

Diese  Annahmen  des  Hofkanzlei-Decretes  fussen  auf  irrigen  Vor- 
aussetzungen und  können  legislativ  künftig  keine  Berücksichtigung  finden. 

Wissenschaftlich  kann  nur  die  Forderung  erhoben  werden,  dass, 
wo  immer  solche  Somnambule  auftreten  und  Clienten  anlocken,  die 
Polizei  ihnen  das  Handwerk  legt. 

Sucht  ein  Arzt  Erwerb  im  Verband  mit  einer  solchen  Somnambule 
(Process  Dr.  Gratzinger-Schaffarik,  "Wien  1894),  so  ist  es  Sache  der 
Aerztekammer,  ihm  derlei  Schwindel  und  unlauteren  Erwerb  unmöglich 
zu  machen. 

3.  Zu  den  gefährlichen  Anwendungen  des  Hypnotismus  gehören 
öffentliche  Schaustellungen  durch  ambulante  Hypnotiseure  (Hansen,  Wien 
und  a.  0.),  da  sie,  um  Erfolge  zu  erzielen,  rücksichtslos,  ja  gefährlich  gegen 
ihre  Medien  vorgehen  und  massenhaft  Imitation  und  Sport  züchten. 

Die  gleiche  Gefahr  erwächst  durch  Amateure  in  Privatcirkeln. 

Dagegen  sind  im  Sinne  der  Z.  9  und  10  des  Hofkanzlei-Decretes 
neuerlich  polizeiliche  Weisungen  zu  erlassen  und  hätte  der  Grundsatz 
zu  gelten,  dass  unter  allen  Umständen  derartige  hypnotische  Versamm- 
lungen oder  gar  Schaustellungen  nicht  zu  gestatten,  beziehungsweise  zu 
inhibiren  sind. 

Da  wissenschaftliche  Untersuchungen  auf  dem  Gebiete  des  Hypno- 
tismus, nur  wenn  von  Fachmännern  und  in  Kliniken  angestellt,  gefahr- 
los und  von  Nutzen  sein  können,  wäre  ausserhalb  dieser  Bedingungen 
keine  Möglichkeit  denkbar,  unter  welcher  jene  ausnahmsweise  über  ein- 
geholte Bewilligung  der  Landesstelle  statthaben  könnten,  womit  die  be- 
zügliche Möglichkeit  in  Z.  9  des  Hofkanzlei-Decretes  entfallen  dürfte. 


Gutachten  des  k.  k.  Obersten  Sanitätsrathes 

über  die  Berechtigung  des  spiritistischen  Vereines  .     .  .  in  .        zur 
Anwendung  des  Hypnotismus. 

(Eeferent:  Hofrath  Professor  Dr.  R.  Freiherr  t.  Krafft-Ebing.) 

Frau  A.  P.  in  .  .  .  .  wurde  wegen  Schlaflosigkeit,  über  ihr  Bitten 
und  in  Gegenwart  ihres  Mannes,  von  dem  Präsidenten  des  Vereines  .... 
K.  durch  etwa  6  Monate  wöchentlich  drei  Mal  in  den  Sitzungen  des 
Vereins  „magnetisch"  behandelt,  indem  K.  sie  zuerst  nach  der  Bernheim- 
schen  Suggestionsmethode  einschläferte  und  in  diesem  so  erzielten  Schlaf- 
zustande die  Bestreichungen  leidender  Körpertheile  vornahm. 

Die  P.,  welche  übrigens  schon  lange  vorher  Zeichen  von  Geistes- 
störung im  Sinne  einer  Paranoia  bot,  reagirte  übel  auf  diese  „magne- 
tischen" Einwirkungen. 

Sie  klagte  am  2.  September  1895,  sie  sei  nun  dem  Magnet  voll- 
ständig verfallen,  ihr  Körper  werde  vom  Magnet  beherrscht.  Es  plagten 
sie  überdies  Quälgeister,  die  beständig  zu  ihr  reden,  sie  weder  schlafen 
noch  essen  lassen  und  nur  auf  ihren  Ruin  ausgehen.  Sie  wurde  so  auf- 
geregt, dass  sie  vorübergehend  in  der  Beobachtungsabtheilung  des 
Krankenhauses  aufgenommen  werden  musste. 

Da  der  Amtsarzt  am  17.  October  1895  fand,  dass  der  P.  durch 
diese  Behandlungsweise  Schaden  zugefügt  worden  sei,  wurde  dem  K. 
einstweilen  das  Hypnotisiren  polizeilich  untersagt,  gegen  ihn  das  Straf- 
verfahren im  Sinne  des  §  335  und  §  431  österreichischen  Strafgesetzbuches 
eingeleitet  und  der  Antrag  auf  Auflösung  des  spiritistischen  Vereines  ge- 
stellt. Unterm  9.  November  1895  recurrirte  der  Präsident  des  genannten 
Vereines  zunächst  gegen  das  Verbot  des  Hypnotisirens,  „weil  dadurch 
die  Thätigkeit  des  Vereines,  nämlich  die  im  Gebiete  der  spiritistischen 
Erscheinungen  liegenden  Kundgebungen  zu  erforschen  und  deren  An- 
wendung auf  die  moralischen,  historischen,  psychologischen  und  physi- 

Krafft-Ebint;,  Arbeiten  II.  11 


162  IV.  Varia. 

kaiischen  Wissenschaften  zu  untersuchen,  vollständig  lahm  gelegt  und 
unmöglich  gemacht  würde,  denn  ohne  Anwendung  des  Magnetismus,  be- 
ziehungsweise Hypnotismus  wäre  dies  unmöglich." 

Das  solche  Anwendung  nur  den  Aerzten  gestattende  Hofkanzlei- 
Decret  vom  26.  October  1845  ist  nach  Ansicht  des  Recurrenten  veraltet 
und  nicht  mehr  gütig,  da  dasselbe  durch  den  §  343  des  Str.-G.  derogirt 
wurde. 

Er  macht  die  Thatsache  geltend,  dass  der  Däne  Hansen  Anfangs 
der  80  er  Jahre  im  Ringtheater  in  Wien  hypnotische  Vorstellungen  geben 
konnte,  dass  im  Deutschen  Reiche,  wo  das  Heilgewerbe  nicht  an  gra- 
duirte  Aerzte  gebunden  ist,  das  magnetische  Heüverfahren  freigegeben 
ist  und  gesetzlich  ungehindert  ausgeübt  wird.  K.  polemisirt  ferner  gegen 
den  Amtsarzt,  der  behaupte,  dass  das  Hypnotisiren  schädüch  wirke,  es 
jedoch  nicht  aus  eigener  Erfahrung  wisse,  da  in  Oesterreich  noch  heute 
keine  Lehrkanzel  für  animalischen  Magnetismus,  Hypnotismus,  Spiritis- 
mus bestehe! 

Oesterreichische  Aerzte,  die  nicht  beweisen,  dass  sie  jahrelang  dem 
theoretischen  und  praktischen  Studium  des  Hypnotismus  oblagen,  können 
kein  Urtheil  über  diese  Behandlungsmethode  abgeben.  Gegen  die  Be- 
hauptung, dass  der  Hypnotismus  gefährlich  sei,  führt  Recurrent  an,  dass 
er  ja  überall  als  Heilpotenz  anerkannt  sei,  wobei  K.  eine  ziemliche  Be- 
lesenheit in  der  wissenschaftlichen  Literatur  des  Hypnotismus  bekundet. 

Dem  spiritistischen  Vereine  das  Hypnotisiren  zu  verbieten,  hiesse 
ihn  lahmlegen,  dessen  Zweck  doch  ist,  „die  Beweisführung  des  indivi- 
duellen Fortlebens  nach  dem  Tode  des  Leibes,  dessen  Ziel  ist  Vervoll- 
kommnung des  Menschen". 

Die  Statthalterei  beantragt  gleichwohl  beim  Ministerium  des  Innern 
die  Auflösung  des  Vereins,  da  er  durch  nach  §  343  des  Str.-G.  verpönte 
Experimente  seinen  Wirkungskreis  überschritten  habe. 

Der  Verein  petitionirte  darauf  um  Ausserkraftsetzung  des  Hof- 
kanzlei-Decretes  vom  26.  October  1845,  Z.  36098,  respective  um  die  Ver- 
fügung, dass  dem  Vereine,  in  Abänderung  des  Verbotes  (Hypnose  zu 
treiben)  gestattet  werde,  die  Erforschung  des  spiritistischen  Gebietes 
unter  Anwendung  des  Magnetismus  und  Hypnotismus  unbehelligt  fort- 
setzen zu  können. 

Zur  Entscheidung  dieser  Frage  wird  vom  k.  k.  Obersten  Sanitäts- 
rathe  ein  Gutachten  eingefordert. 

Ueber  Seancen  des  Vereines  .  .  .  finden  sich  in  den  Acten  be- 
merkenswerte Mittheilungen  des  Herrn  P.,  der  häufig  bei  den  Hypno- 
tisirungen  seiner  Frau  anwesend  war.  Die  Sitzungen  dauerten  2  bis 
3  Stunden,  beiläufig  50  Personen  waren  regelmässig  anwesend.    Zuerst 


Berechtigung  zur  Anwendung  des  Hypnotismus.  163 

betete  man,  dann  wurde  das  Erscheinen  eines  guten  Geistes  erfleht. 
Darauf  wurde  der  „Ring"  geschlossen,  indem  Einer  dem  Anderen  die 
Hände  auf  die  Knie  legte.  Nach  etwa  5  Minuten  schläft  gewöhnlich 
Jemand  ein.  Dieser  erhebt  sich  dann  unter  Zuckungen  und  Zittern  und 
spricht  über  die  im  „Traum"  sich  bietenden  Erscheinungen  Herr  S., 
noch  öfter  dessen  Frau,  sind  meist  Medien. 

Frau  S.  sprach  oft  über  eine  Stunde  und  war  dabei  oft  ganz  steif. 
Auch  Schneider  M.  war  oft  Sprecher. 

Zum  Schlüsse  meldeten  sich  gewöhnlich  Kranke  zum  Einschläfern. 

Herr  P.  glaubt  mit  Recht,  dass  seiner  Frau  diese  Proceduren 
schadeten,  weil  sie  so  viel  betete  und  sich  abmühte,  ein  gutes  Medium 
zu  werden. 

Gutachten. 

Aus  den  Depositionen  des  Zeugen  P.  geht  mit  Sicherheit  hervor, 
dass  unter  einer  Anzahl  gleichgesinnter  und  gleichgestimmter  Mitglieder 
des  Spiritisten -Vereines  ....  unter  dem  Einflüsse  von  künstlicher  Er- 
regung und  Erwartungsaffecten  einzelne  nervös  krankhafte  Individuen 
quasi  durch  Autohypnose  und  Autosuggestion  in  einen  psychischen  Aus- 
nahmszustand  gerathen,  in  welchem  sie  sich  in  der  Rolle  von  Geister- 
sehern fühlen  und  die  Delirien  ihrer  auf's  Höchste  gesteigerten  Ein- 
bildungskraft den  im  minderen  Grade  exaltirten  und  jedenfalls  höchst 
suggestiblen  Mitgliedern  als  vermeintliche  Enthüllungen  aus  dem  Jenseits 
verkünden.  Dass  damit  keine  wissenschaftliche  Leistung  vollbracht 
wird  und  das  ein  Verein,  der  derlei  treibt,  keine  wissenschaftliche  oder 
ethische  Berechtigung  zu  existiren  hat,  bedarf  keines  Beweises. 

Solche  autohypnotische  Experimente  sind  aber  eine  schwere  Ge- 
fahr für  die  körperliche  und  geistige  Gesundheit  der  an  ihnen  Theil- 
nehmenden. 

Aus  den  Schilderungen  der  Details,  wie  es  in  dem  Vereine  zugeht, 
ergiebt  sich  klar,  dass  die  spiritistisch  Inspirirten  und  das  Wort  Er- 
greifenden Nervenkranke  sind,  die  in  einer  Art  von  hysterischer  Extase, 
welcher  oft  Zuckungen  und  Zittern  vorausgehen,  in  delirirender  Weise, 
vermeintliche  Enthüllungen  aus  dem  Geisterreiche  machen,  wobei  in 
einzelnen  Fällen  (Frau  S.)  sogar  kataleptische  Erscheinungen  den  psychi- 
schen Ausnahmszustand  begleiten. 

Dass  der  Verein  seinen  Wirkungskreis  überschritten  hat,  insofern 
daselbst  Hypnotisirungen  zu  Heilzwecken  ausgeführt  werden,  ist  acten- 
mässig  festgestellt  und  wird  auch  von  dem  Präsidenten  des  gedachten 
Vereines  nicht  bestritten. 

Damit  ist  der  Thatbestand  des  §  335  des  Str.-G.  erwiesen. 

11* 


164  IV.  Varia. 

Die  der  Frau  P.  zugefügte  Schädigung  an  der  leiblichen  und 
geistigen  Gesundheit  durch  solche  Hypnotisirungen  kann  aber  nur  als 
eine  Verschlimmerung  eines  schon  lange  vorher  bestandenen  körperlich 
und  geistig  krankhaften  Zustandes  bezeichnet  werden  und  entzieht  sich 
einer  sicheren  Schätzung. 

Der  Oberste  Sanitätsrath  kann  nicht  umhin,  anlässlich  dieses  con- 
creten  Falles  das  hohe  Ministerium  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass 
das  Treiben  spiritistischer  Vereine  ein  gesundheitsgefährliches  an  und 
für  sich  ist,  auch  wenn  sie  den  Hypnotismus  nicht  in  den  Bereich  ihrer 
Proceduren  ziehen.    Zur  Motivirung  dieses  Ausspruches  genügt  es,  auf 

die  Vorgänge  im  spiritistischen  Vereine in  ....  zu  verweisen, 

sowie  auf  das  umfassende  Gutachten,  welches  in  Sachen  des  Spiritismus 
vom  Obersten  Sanitätsrathe  am  22.  December  1883  anlässlich  eines  Ke- 

curses  des  P.  in  B.  gegen  eine  Entscheidung  der  k.  k.  Statthalterei  in , 

welche  die  Bildung  eines  spiritistischen  Vereins  in  B.  untersagte,  er- 
stattet wurde. 

Der  einhellige  Beschluss  auf  Grund  des  vom  Prof.  Schlager  er- 
statteten Referates  lautete  damals  dahin,  dass  durch  das  Lesen  spiritisti- 
scher Schriften  und  durch  die  Vornahme  sogenannter  spiritistischer  Ex- 
perimente bei  manchen  Personen,  besonders  bei  solchen,  welche  zu 
neuropathischen  Zuständen  disponirt  sind,  gesundheitsschädliche  Wir- 
kungen herbeigeführt  werden  können,  speciell  in  Rücksicht  ihres  Geistes- 
zustandes und  dass  daher  die  Motivirung,  welche  der  k.  k.  Statthalterei 
in  ...  .  bei  der  Abweisung  des  Gesuches  des  P.  zur  Grundlage  diente, 
vom  psychiatrischen  Standpunkte  als  vollkommen  begründet  und  be- 
rechtigt erklärt  werden  muss. 

Es  ist  im  concreten  Falle  eine  vollkommene  identische  Situation 
wie  im  Jahre  1883  vorhanden,  insofern  neuerlich  eine  von  einem  ge- 
wissen Josef  K.  in  C.  gebildete  spiritistische  Vereinigung  durch  Erlass 
der  hohen  k.  k.  Statthalterei  in  ...  .  vom  10.  September  1895  inhibirt 
wurde,  und  das  Gutachten  des  Obersten  Sanitätsrathes  könnte  auch  in 
diesem  Falle  nur  identisch  mit  dem  von  ihm  im  Jahre  1883  abgegebenen 
lauten. 


Zur  Verwerthung  der  Suggestionstherapie 
(Hypnose)  bei  Psychosen  und  Neurosen.*) 

Mit  Recht  hat  von  jeher  psychische  Therapie  bei  psychisch  Kranken 
Verwerthung  gefunden.  Schon  im  Alterthum,  sicher  zu  biblischer  Zeit, 
hat  Suggestion  z.  B.  in  Gestalt  von  Händeauflegung,  Gebet,  Beschwörung 
u.  dergl.  bei  Geisteskranken  (speciell  Hysteropathischen ,  Dämonomani- 
schen) Erfolge  erzielt. 

Der  Einfluss  der  psychischen  Therapie  auf  die  den  psychischen 
Anomalien  zu  Grunde  liegenden  leiblichen  Vorgänge  kann  ein  in- 
directer  und  ein  directer  sein. —  Ein  indirecter  Einfluss  wird  da- 
mit gewonnen,  dass  Stimmungen,  Gefühle,  Vorstellungen,  Strebungen 
gewünschter  Art  hervorgerufen  und  dadurch  auf  leibliche  Functionen 
der  Circulation  (Herz),  der  Verdauung,  des  Schlafes  u.  s.  w.  eine  Wir- 
kung erzielt  wird.  Eine  directe  Beeinflussung  der  Leiblichkeit  durch 
Hervorrufung  von  psychischen  Factoren  (Vorstellungen)  ergiebt  sich  aus 
der  empirischen  Thatsache,  dass  man  durch  Vorstellungen  auf  die  Leib- 
lichkeit einwirken,  bezügliche  Empfindungen  hervorrufen,  ja  selbst  leib- 
liche Veränderungen  bewirken  kann.  Unzählige  psychisch  Kranke 
(Hysterische,  Neurastheniker,  Hypochonder  u.  s.  w.)  besitzen  diese  Fähig- 
keit der  autosuggestiven  Beeinflussung  ihres  Nervensystems  durch  Vor- 
stellungen, und  eine  Hauptaufgabe  der  Psychotherapie  erscheint  die  Be- 
kämpfung dieser  autosuggestiven  Vorgänge  durch  die  indirecte  oder 
directe  zielbewusste  Gegenwirkung  des  Arztes  (Fremdsuggestion).  Be- 
kannt ist  die  Mangelhaftigkeit  der  Wirkung  der  Fremd  Suggestion,  sowohl 
per  directen,  als  der  indirecten  bei  solchen  Kranken  im  wachen  Zustand,  in 
welchem  ihre  Autosuggestionen  meist  mächtiger  sich  erweisen,  als  die 
Contrasuggestion  des  Arztes. 

Von  grösstem  Werth  muss  daher  theoretisch  ein  Verfahren  sein, 
mit  Hülfe  dessen  die  Macht  der  Autosuggestion  verringert,  bis  auf  Null 


*)  Wiener  klin.  Wochenschrift  1891,  43. 


166  IV.  Varia. 

reducirt  werden  und  zugleich  die  der  Fremdsuggestion  gesteigert 
-werden  kann. 

Darauf  beruht  der  eventuelle  Sieg  der  Fremdsuggestion  über  die 
Autosuggestion  und  möglicherweise  die  Genesung  des  Kranken. 

Es  handelt  sich  hierbei  aber  nicht  um  einfaches  Ausreden  von 
Einbildungen,  wie  der  Laie  meint,  nicht  um  Leistungen  der  Logik  und 
Dialectik,  sondern  um  complicirte  psycho -physiologische  Vorgänge,  die 
nur  der  psychiatrisch  gebildete  Arzt  verstehen  und  mit  Aussicht  auf  Er- 
folg beeinflussen  kann. 

An  einem  häufig  sich  darbietenden  Beispiele  lässt  sich  dies  er- 
weisen. Ein  Individuum  leidet  an  einer  psychischen  Lähmung.  Es 
bildet  sich  ein,  seinen  durch  einen  Eisenbahnunfall  leicht  contusionirten 
Arm  nicht  gebrauchen  zu  können.  Es  handelt  sich  also  um  eine  Läh- 
mung durch  „Einbildung"-  Jedenfalls  entspricht  der  chirurgische  Befund 
nicht  dem  Grad  der  Functionsstörung. 

Zweifellos  hat  die  Vorstellung  der  Lähmung  die  eingetretene  Läh- 
mung bewirkt,  aber  dieser  ungewöhnliche  Erfolg  einer  Vorstellung  ins 
Leibliche  beruht  auf  einer  geistig-leiblichen  Modifikation,  einer  mole- 
cularen  Veränderung  im  Central-Nervensystem  in  Folge  veranlagter  und 
durch  den  ursächlichen  Shok  geschaffener  gelegentlicher  Bedingungen. 
Die  eingetretene  „psychische"  Lähmung  ist  nur  Theilerscheinung  einer 
allgemeinen  („traumatischen")  Neurose.  Diese  Lähmung  ist  aber  über- 
dies nicht  blos  ein  undefinirbares  psychisches  Etwas,  sondern  ein  klini- 
scher, auch  somatisch  sich  manifestirender  Symptomencomplex. 

Abgesehen  von  traumatischem,  eventuell  durch  Richtung  der  Auf- 
merksamkeit auf  den  leidenden  Theil  unterhaltenem  und  gesteigertem 
Schmerz  und  dadurch  im  Bewusstsein  angeregter  und  wach  erhaltener 
Vorstellung  der  Unfähigkeit  zur  Bewegung,  hat  die,  gleichgiltig  wie, 
psychisch  entstandene  Lähmung  einen  Hemmungseinfluss  auf  das  betr. 
Armcentrum  in  der  Hirnrinde  gewonnen,  der  sich  in  Aufhebung  der 
cutanen  Empfindung  im  Lähmungsgebiet,  nach  Umständen  auch  der 
Muskeln,  Gelenke  u.  s.  w.  kundgiebt.  Damit  ist  das  Individuum  der  Inner- 
vationsgefühle  und  der  Anregung  derselben  durch  passive  Bewegung 
verlustig.  Zu  diesem  traumatischen  Torpor  des  betr.  Hirnrindencentrums 
kann  sich  Hemmung  der  Geltendmachung  früherer  Bewegungsanschau- 
ungen bis  zu  förmlicher  Seelenlähmung  gesellen  —  das  Individuum,  im 
Bannkreis  seines  Lähmungsgedankens,  bekommt  weder  centripetale  noch 
centrifugale  Anstösse  zur  Bewegung  mitgetheilt. 

Damit  erscheint  seine  Lähmungsidee  psycho-physisch  fundirt,  leih- 
lich gefestigt. 


Suggestionstherapie  bei  Psychosen  und  Neurosen.  167 

Aber  auch  Störungen  der  Circulation  (Anämie)  im  Lähmungsgebiet, 
gesunkener  Muskeltonus,  Steigerung  der  tiefen  Reflexe,  als  leibliche  Er- 
scheinungen der  functionellen  Störung,  können  das  Bild  der  sogenannten 
psychischen  Lähmung  vervollständigen. 

Es  wäre  thöricht,  zu  erwarten,  dass  man  durch  einfache,  wenn 
auch  noch  so  autoritative  ärztliche  Suggestion  diese  Lähmungen  ohne 
Weiteres  beheben  könnte.  Spontanheilung  ist  möglich  unter  dem  Ein- 
flüsse der  Zeit,  mit  welcher  der  Functionswerth  der  autosuggestiven  Vor- 
stellung nachlässt  und  der  impressionable  Zustand  des  im  Sinne  einer 
(traumatischen)  Neurose  afficirten  Nervensystems  zurückgeht. 

Unterstützend  können  wirken :  der  ablenkende  Einfluss  von  lebhaft 
Gemüth  und  Verstand  inAnspruch  nehmenden  anderweitigen  Vorstellungen, 
zuweilen  auch  ein  plötzlich  die  suggestive  Hemmung  im  Rindengebiet 
lösender  Affect,  z.  B.  eine  Lebensgefahr,  welche  auf  die  Lähmung  ver- 
gessen, den  gelähmten  Arm  gebrauchen  lässt,  sodass  der  Kranke  in  der- 
artiger Leistung  eine  Contrasuggestion  sich  selbst  ad  oculos  liefert;  in 
anderen  Fällen  wirkt  der  suggestive  Einfluss  für  heilkräftig  geltender 
Bäder,  Reliquien,  Gnadenbilder  u.  s.  w.  Nicht  selten  gelingt  es  all- 
mälig  auch  der  ärztlichen  Suggestion,  den  Hemmungseinfluss  der  Auto- 
suggestion auf  das  Rindencentrum  zu  lockern  und  durch  gleichzeitige 
Gymnastik,  Massage,  Elektrisirung  jetzt  wieder  mögliche  Muskel-  und  In- 
nervationsgefühle  zu  schaffen  und  die  Wiederkehr  von  Bewegungs-An- 
schauungen und  willkürlicher  Innervation  anzubahnen. 

Besitzt  die  medicinische  Wissenschaft  ein  Mittel,  um  in  solchem 
Falle  die  Autosuggestion  und  ihre  Wirkung  zu  eliminiren  und  gleich- 
zeitig suggestiv  Innervationsgefühle  und  Bewegungs-Anschauungen  her- 
vorzurufen, so  wird  die  Genesung  eine  unverhältnissmässig  raschere  sein. 

Dieses  Mittel  ist  die  Hypnose,  d.  h.  ein  wesentlich  durch  psychi- 
schen (suggestiven)  Einfluss  erzeugter,  dem  normalen  Schlafe  nahestehen- 
der, leiblich  -seelisch  er  Zustand,  in  welchem  es  nicht  blos  möglich  ist, 
Autosuggestionen  durch  Auslöschen  aus  dem  Gedächtniss,  sondern  auch 
durch  Fremdsuggestionen  unwirksam  zu  machen. 

In  diesem  Zustand  besteht  überdies  der  Vortheil,  dass  der  in  seinem 
Willen  und  seiner  Kritik  sehr  reducirte  Patient  nicht  blos  psychisch 
sehr  empfänglich  für  Fremdsuggestionen  ist,  sondern  auch,  dass  —  wenig- 
stens in  tieferer  Hypnose  —  suggestive  Einflüsse  auch  auf  die  Leiblich- 
keit (Schlaf,  Menstruation,  Esslust  u.  s.  w.)  durch  Vermittlung  des 
Nervensystems  möglich  sind,  die  im  wachen  Zustand  einfach  sich  nicht 
erreichen  lassen. 

Im  Allgemeinen  kommt  es  therapeutisch  darauf  an,  dauernd 
krankhafte  Functionen  zur  Norm  zurückzuführen,  also  auf  posthypnotische 


168  IV.  Varia. 

Suggestion,  wie  der  Terminus  lautet.  Die  Hypnose  ist  Mittel  zur  Er- 
möglichung wirksamer  Suggestion.  Die  "Wirksamkeit  dieser  ist 
zwar  zum  nicht  geringen  Theil  abhängig  von  der  Tiefe  des  hypnotischen 
Zustandes,  aber  Hypnotisirbarkeit  und  Suggestibilität  sind  einander  nicht 
parallel  gehende  Erscheinungen.  Viel  kommt  auch  an  auf  die  Persön- 
lichkeit des  Patienten  (unbeständige,  haltlose,  schwankende,  oberflächliche 
Menschen  sind  schwer  suggestibel),  sowie  auf  den  autoritativen  Eindruck 
des!Arztes  und  ganz  besonders  auf  die  richtige  Redaction  der  betreffen- 
den Suggestion.  Schon  dadurch  wird  für  diese  Behandlungsweise  ein 
feines  psychiatrisches  und  neurologisches  Verständniss  des  concreten 
Falles  erforderlich.  Praktisch  wichtig  ist  die  Dauerwirkung  der  Suggestion. 

Sie  ist  individuell  sehr  verschieden  und  abhängig  von  Persönlich- 
keit des  Patienten  und  Arztes,  Tiefe  der  Hypnose,  in  welcher  die  Sug- 
gestion gegeben  wurde,  störenden  äusseren  Momenten,  welche  ihr  ent- 
gegenwirken, inneren  Umständen,  z.  B.  Krampfanfällen,  welche  die 
Suggestion  im  Gedächtniss  der  unbewussten  geistigen  Persönlichkeit  aus- 
löschen u.  s.  w. 

Auffrischung  der  Suggestion  vermag  die  ursprüngliche  Wirkung 
dann  jederzeit  herzustellen. 

Im  Allgemeinen  lässt  sich  sagen,  dass  suggestive  Heilwirkung  — 
Hypnotisirbarkeit  vorausgesetzt  —  überall  da  möglich  ist,  wo  es  sich  um 
blose  functionelle  Erkrankung  handelt. 

Hypnotisch  suggestive  Behandlung  muss  ich  nach  meinen  Er- 
fahrungen für  unschädlich  erklären,  sobald  sie  sachverständig  und  den 
Umständen  des  individuellen  Falles  angepasst  geübt  wird. 

Es  lag  nahe,  sich  eines  so  ausgezeichneten  Mittels  zur  Ermöghchung 
wirksamer  Suggestionen,  wie  es  die  Hypnose  darbietet,  auch  bei  psychisch 
Kranken  versuchsweise  zu  bedienen. 

Welche  Aenderung  des  therapeutischen  Könnens  müsste  damit  ge- 
geben sein,  wenn  man  die  Gefühle,  Vorstellungen,  Strebungen  derartiger 
Kranker  bestimmen,  gefährliche  Symptome,  wie  z.  B.  Hallucinationen, 
Wahnideen  suggestiv  beseitigen  könnte!  Für  den  auf  dem  Gebiete 
des  Hypnotismus  und  der  Psychiatrie  Erfahrenen  müssen  sich  vorweg 
Bedenken  bezüglich  des  Erfolges  dieser  therapeuthischen  Methode  ergeben: 

1.  weil  psychisch  Kranke  nur  ausnahmsweise  in  jener  geistigen 
Verfassung  der  Aufmerksamkeit,  Unbefangenheit,  Gemüthsruhe  und  Be- 
thätigung  der  Willenskraft  sind,  die  zum  Gelingen  der  Hypnose  über- 
haupt erforderlich  ist; 

2.  weil  viele  psychische  Erkrankungen  auf  organischen  Verände- 
rungen im  Gehirn  beruhen  und  die  Suggestivbehandlung  doch  nur  func- 
tionelle Störungen  beheben  kann; 


Suggestionstherapie  bei  Psychosen  und  Neurosen.  169 

3.  weil  gewisse  Symptome,  wie  z.  B.  viele  Wahnideen  und  auch 
Hallucinationen,  wenn  auch  nicht  gerade  nachweisbar  die  Folge  organi- 
scher Veränderungen,  doch  so  complicirte,  im  psychischen  Mechanismus 
so  fest  fundirte  Phänomene  sind,  dass  sie  suggestiv  kaum  angreifbar  er- 
scheinen und  die  Redaction  der  gegen  sie  gerichteten  Suggestion  über- 
dies schwierig  wäre. 

Theoretisch  ergiebt  sich  somit  die  Vermuthung,  dass  Aussicht  auf 
Erfolg  hypnotisch -suggestiver  Behandlung  nur  bestehen  kann  bei  so- 
genannten functionellen  Psychosen,  und  zwar:  bei  Kranken,  bei  welchen 
Krankheitsbewusstsein  vorhanden  und  die  psychologische  Eignung  zu 
Hypnose  im  Allgemeinen  besteht. 

Im  Allgemeinen  würden  demnach  für  hypnotisch -suggestive  Be- 
handlung geeignet  erscheinen: 

Blosse  Störungen  im  Gemüthsleben ,  formale  Störungen  im  Vor- 
stellen, speciell  Zwangsvorstellungen;  Wahnideen,  insofern  sie  blos 
autosuggestiv  fundirte  falsche  Ideen,  nicht  aber  Primordialdelirien  oder 
erklärende  Ideen  Melancholischer  sind;  endlich  erworbene  krankhafte 
Triebrichtungen. 

Der  herrschenden  psychiatrischen  Terminologie  entsprechend  wären 
es  also  die  Melancholia  sine  delirio,  das  Heer  der  Neuropsychosen,  spe- 
ciell Hysterie,  Hypochondrie,  Neurasthenie,  Psychose  in  Form  von 
Zwangsvorstellungen,  der  Alkoholismus,  der  Morphinismus,  Cocainismus, 
Masturbation,  erworbene  conträre  Sexualempfindung. 

Wenden  wir  uns  an  die  Erfahrung,  soweit  sie  bis  jetzt  vorliegt, 
so  decken  sich  die  Eesultate  zum  Theil  mit  der  theoretischen  Vor- 
annahme, theilweise  erscheinen  sie  aber  günstiger  als  das  Raisonnement 
a  priori. 

In  geschichtlicher  Hinsicht  ist  zu  erwähnen,  dass  die  ersten  wissen- 
schaftlichen Versuche  zur  Heilung  von  Psychosen  von  Braid  unter- 
nommen sein  dürften.  Braid  berichtet  von  einigen  Heilungen  von  Wahn- 
sinn. Ihm  reiht  sich  Liebault  an  mit  einer  seit  acht  Tagen  bestandenen, 
durch  zweimalige  Hypnose  und  Suggestion  geheilten  Manie.  Seit  Mitte 
der  80  er  Jahre  hat  Voisin  sich  mit  der  hypnotischen  Behandlung 
Geisteskranker,  vorwiegend  hysterischer  Formen,  beschäftigt.  Auch  von 
Flechsig  liegen  analoge  Beobachtungen  vor. 

1886  stand  zum  ersten  Male  auf  der  Tagesordnung  eines  psychiatri- 
schen Congresses  (Siena)  die  Frage  der  therapeutischen  Verwendung  des 
Hypnotismus  bei  Geisteskranken. 

Funajoli,  Seppilli  und  Bianchi  wurden  als  Berichterstatter  erwählt. 
Auf    dem    Congress    der   italienischen  Psychiater    in  Novara  1889    er- 


170  IV.  Varia. 

stattete   Seppilli    einen    bezüglichen   Bericht.      (Vgl.   Archivio   italiano, 
Sept.  1890.) 

Seppilli  fand,  dass  Geisteskranke  in  grosser  Anzahl  hypnotisirbar 
sind,  aber  nie  bis  zu  höheren  Graden,  d.  h.  bis  zum  Verlust  des  Be- 
wusstseins,  sodass  Suggestionen  wenig  haften,  viel  weniger  als  bei 
Hysterischen,  Dipsomanen,  Melancholischen  sine  delirio.  Bei  Paranoia 
war  der  Erfolg  ein  negativer. 

Auf  dem  Congress  für  Hypnotismus  in  Paris  1889  wurden  von 
v.  Reuterghem,  van  Eoden,  Voisin,  Sanchez  Herrero,  De  Jong,  Bourdon 
u.  A.  Erfolge  bei  Neurasthenie  mit  Zwangsvorstellungen,  Agoraphobie, 
functionellen  Psychosen,  Folie  du  doute,  Hypochondrie,  Impulsen  zu 
Suicidium,  Vesania  puerperalis  mitgetheilt.  Eine  Klärung  der  Ansichten 
pro  und  contra  ist  seither  nicht  erfolgt,  die  wissenschaftliche  Leistung 
wesentlich  auf  Casuistik  beschränkt  geblieben.  Die  grosse  Mehrzahl  der 
Forscher,  namentlich  in  Deutschland,  verhielt  sich  skeptisch,  wenn  nicht 
geradezu  ablehnend. 

Beachtenswerth  und  so  ziemlich  Alles  resumirend,  was  von  den 
Gegnern  des  Hypnotismus  vorgebracht  wurde,  sind  die  „Bemerkungen" 
von  Binswanger  über  „die  Suggestionstherapie"  in  den  Therapeutischen 
Monatsheften  1889,  1—4. 

Mit  Recht  weist  Binswanger  darauf  hin,  dass  ein  grosser  Unter- 
schied darin  bestehe,  ob  eine  physikalische  (Braidismus)  oder  eine  rein 
psychische  Methode  (Nancy'er  Verfahren)  zur  Erzielung  der  Hypnose 
angewendet  werde.  Die  erstere  scheine  sicherer,  wirke  tiefer,  erscheine 
aber  gefährlicher. 

Binswanger  berichtet  von  Gefahren  der  Hypnose,  die  aber  m.  E. 
vermeidbar  sind,  zeigt,  dass  der  hypnotische  Schlaf  doch  nicht  identisch 
dem  physiologischen  ist,  nennt  die  Verwerthung  von  Vorstellungsreizen 
zur  Erzeugung  bestimmter  körperlicher  (hypnotischer)  Veränderungen 
künstliche  Züchtung  von  Hysterie,  findet  in  der  hypnotischen 
Therapie  wesentlich  doch  nur  eine  Beseitigung  von  Symptomen,  nicht 
eine  Heilung  von  Krankheiten,  und  zwar  auf  oft  recht  kurze  Frist. 
Ueberdies  werden  nicht  alle  Suggestionen  wirksam.  In  den  höheren 
Graden  der  Hypnose  werden  die  Individuen  willenlose  Automaten. 

Aus  allen  diesen  Gründen  zieht  Binswanger  die  Wachsuggestion 
vor,  denn  hier  ist  die  Induction  von  Vorstellungen  Selbstzweck,  bei  der 
Hypnose  aber  Mittel  zum  Zweck.  Dort  wird  das  Urtheilsvermögen,  die 
logische  Denkfähigkeit  des  Kranken,   vermehrt,  hier  geradezu  eliminirt. 

Binswanger  erkennt  therapeutische  Erfolge  des  Hypnotismus  im 
Gebiet  der  functionellen  Neurose,  besonders  der  hysterischen  an,  aber 
er  verlangt  mit  Recht,  dass  man  den  doch  nicht  ganz  beherrsch-  und 


Suggestionstherapie  bei  Psychosen  und  Neurosen.  171 

dosirbaren  Hypnotismus  nur  da  anwende,  wo  er  indicirt  sei  durch  die 
Schwere  des  Falles,  also  bei  Hysteria  gravis,  bei  Hysteria  mitis  nur  dann, 
wenn  keine  schwereren  Symptome  als  Folge  der  Behandlung  zu  besorgen  sind, 
endlich  bei  anderen  Neurosen,  wenn  alle  anderweitigen  Mittel  erschöpft  sind. 
Binswanger  erkennt  an,  dass  willenschwache,  verkommene  Säufer  (gleich- 
wie Morphinisten,  Cocainisten)  für  hypnotische  Behandlung  sich  eignen 
mögen,  aber  dasselbe  lasse  sich  vom  Einfluss  der  Trinkerasyle  erwarten. 

Vor  dem  Hypnotismus  als  Erziehungsmittel  für  böse  Buben,  vor 
der  Hereinziehung  der  Hypnose  in  die  Pädagogik  glaubt  er  entschieden 
warnen  zu  müssen. 

Viel  günstiger  lauten  die  Erfahrungen  anderer  Forscher,  wie  sich 
aus  folgender  Zusammenstellung  ergiebt. 

I.   Melancholie. 

1.  Br6maud,  Revue  de  l'hypnotisme.  II.  Juli,  p.  16.  Heilung  von 
puerperaler  Melancholie. 

2.  Voisin,  ebenda,  IL  p.  242. 

3.,  4.,  5.,  6.  Forel,  Corr.-Blatt  für  Schweizer  Aerzte  1887.  Besse- 
rung einzelner  Symptome  (Angst,  Heimweh). 

7.  Voisin,  Revue  de  l'hypnotisme  vom  1.  Juni  1889.  Melancholie 
mit  Selbstmorddrang,  seit  8  Jahren  bestehend,  neben  Erscheinungen  von 
Chorea  (hysterica).  Heilung  durch  hypnotische  Suggestion.  Frau  X., 
30  J.,  Chorea  durch  Schreck  1870.  Seit  1887  dazu  Mel.  sine  delirio  und 
Taed.  vitae.  Seit  1888  hyster.  Anfälle.  Absuggerirung  der  Verstimmung, 
der  trüben  Ideen  und  körperlichen  Beschwerden.  Genesung  nach  neun 
Tagen. 

8.  Wetterstrand,  Der  Hypnotismus,  1891.  Acute  ängstliche  Psy- 
chose, tiefer  Schlaf  durch  Hypnose.     Genesung  nach  wenig  Sitzungen. 

9.  Idem.  Weib,  65  J.,  Nostalgie,  hyster.  Grundlage,  tiefe  Hypnose, 
rasche  Genesung. 

10.  Idem.  Weib,  40  J.,  Mel.  sine  delirio.  Nach  24  Sitzungen  (An- 
fangs nur  leichte  Hypnose  möglich,  selbst  unter  Benützung  von  Chloro- 
form) Genesung. 

11.  Idem.  Dysthymie.  Heftiges  Taed.  vitae  bei  einem  36  J.  alten 
Capitän.    Nach  24  Tagen  dauernde  Genesung. 

12.  Idem.  Fräulein,  23  J.,  nach  Gemüthsbewegungen  Mel.  sine 
delirio.     Genesung  nach  16  Sitzungen. 

13.  Burkhardt  (Prefargier)  Revue  de  l'hypnot.,  1.  August  1888. 
Frau,  67  J.,  dritter  Anfall  von  Mel.  passiva.  Beruhigung,  Besserung  des 
Allgemeinbefindens,  sonst  aber  kein  Erfolg. 


172  IV.  Varia. 

14.  Voisin,  Revue  de  l'hypnot.  1.  Mai  1888.  Weib,  31  J.,  Mel. 
mit  Taed.  vitae,  rasche,  auffallende  Besserung. 

15.  "Weib,  35  J.,  Mel.  mit  Hailuc.  Genesung  durch  Hypnose. 

16.  Idem.  Revue  de  l'hypnotisme.  1.  Januar  1890.  Mel.  anxia. 
Misserfolg  von  Morphium -Behandlung.  Heiluug  in  zwei  hypnotischen 
Sitzungen. 

(D.,  22  J.,  Näherin,  aufg.  26.  Februar  1889.  Seit  mindestens  Monaten 
krank.  Beständiges  Heulen  und  Klagen.  Keine  Hallucinationen.  Mittelst 
Fixiren  der  Augen,  Aufforderung  zum  Schlafen,  Stirnstreichen  gelingt 
nach  10  Minuten  lethargisches  Stadium  des  Hypnotismus.  Am  11.  April 
Absuggerirung  von  Angst,  Traurigkeit,  Schlaflosigkeit.  Nach  zweiter 
Sitzung  (14.  April)  schwindet  Psychose.  Unter  kurzer  Fortdauer  dieser 
Behandlung  volle  Genesung.  Heirath  im  September.  Im  December  noch 
ganz  gesund.) 

17.  Roubinovitsch,  ebenda,  Februar  1890.  P.  Bauersfrau,  39  J., 
schwer  belastet,  Zwangsvorstellung,  sie  müsse  sich  verheirathen.  Nach 
der  Heirath  tiefe  Melancholie,  Nahrungsverweigerung,  Taed.  vitae.  Pat. 
kommt  im  zweiten  Monat  schwanger  zur  Behandlung.  Hypnose  gelingt 
leicht.  Schon  nach  erster  Sitzung  Nachlass  der  Verstimmung,  Aufnahme 
von  Nahrung.  Ende  October  genesen  bei  42  kg  Gewicht.  Ende  De- 
cember 55  kg  und  völliges  Wohlsein. 

H.   Manie. 

1.  Voisin,  Revue  de  l'hypnot.  1.  Mai  1888.  Weib,  20  J.,  Mania 
menstrualis.  Erfolgreicher  hypnotischer  Schlaf  während  der  ganzen  Dauer 
der  Menses  zur  Verhütung  eines  befürchteten  Anfalles. 

2.  Idem.    Analoger  Fall. 

III.   Wahnsinn. 

1.  Voisin,  Revue  de  l'hypnot.    I.  p.  41.    Heilung  von  Wahnsinn. 

2.  Lojacono,  Annali  di  nevrologia  IX.  Jahrg.  Fascicol.  1.  Chro- 
nisch sich  gestaltender  Wahnsinn,  mit  Ansätzen  zu  systematischem  De- 
lirium, bei  einem  27  J.  alten  Manne.  Absuggerirung  der  Wahnideen. 
Grosse  Hypnotisirbarkeit  und  Suggestibilität.  Dauernde  Genesung  nach 
wenigen  Sitzungen;  gut  beobachteter  Fall. 

IV.  Hysterisches  Irresein. 

Am  reichhaltigsten  ist  die  bisherige  Casuistik  beim  hysterischen 
Irresein,  wohl  aus  dem  Grunde,  weil  man,  in  der  Annahme,  dass  bei 
Hysterie  die  Hypnose  besonders  leicht  gelinge,  ganz  besonders  bei  der- 
artiger Grundlage  zu  Versuchen  sich  veranlasst  sah. 


Suggestionstherapie  bei  Psychosen  und  Neurosen.  173 

1.  Seglas,  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  43,  Nr.  1  und  2,  p.  5.  Heilung 
von  hyster.  Psychose. 

2.  Voisin,  Annal.  med.  psychol.  1886.  Hysteriu  gravis,  erotischer, 
halluc.  Wahnsinn,  gestützt  auf  Gesichts-  und  Gehörs-Hallucinationen.  Ab- 
suggerirung  des  vermeintlichen  Geliebten,  Verbot  seine  Stimme  zu  hören, 
ihn  anzusehen,  Genesung. 

3.  Idem.  Ebenda.  Hyster.  halluc.  Irresein.  Heilung  durch 
Suggestion. 

4.  Idem.  Ebenda.  Hyster.  Irresein.  Verbot  weiter  zu  halluci- 
niren,  rasche  Genesung. 

5.  Idem.    Hysteromanie.     Genesung. 

6.  Idem.  Furibundes  halluc.  Delir.  Hypnose  gelingt  nach  l1^ 
bis  3  Stunden  bei  der  von  6  Wärterinnen  festgehaltenen  Kranken.  Pat. 
wird  bis  zu  18  Stunden  zumeist  in  Hypnose  erhalten.  Genesung  nach 
4  Monaten. 

7.  Voisin,  Revue  de  l'hypnot.  I.  p.  30.  Hysteroepilepsie.  Erfolgreiche 
Absuggerirung  von  Anfällen,  Taed.  vitae,  schreckhaften  Hallucinationen, 
Entweichungsgelüsten. 

8.  Idem.  Ebenda.  I.  p.  46.  Heilung  einer  seit  6  J.  bestehenden 
Hystero-Melancholie  in  3  Sitzungen. 

9.  Burot,  ebenda.  1.  Mai  1889.  »Manie  hysterique  avec  impuisions 
et  hallucinations' ,  geheilt  mit  Suggestion  (krankhafte  Ideen  zu  über- 
winden und  gesund  zu  werden)  in  tiefem  Engourdissement  nach  3  Mo- 
naten und  zweijähriger  Dauer  der  Krankheit. 

Paranoia. 

Vereinzelte  Eälle  von  Paranoia  haben  Forel  u.  A.  suggestiv-hypno- 
tisch zu  beeinflussen  versucht,  aber  mit  negativem  Resultat,  wie  dies 
zu  erwarten  war. 

Auch  Burkhardt  (1.  c.)  konnte  in  einem  Falle  bei  einer  Frau  nur 
somatische  Symptome  (Schlafstörung)  beseitigen. 

Alcoholismus  chronicus. 

1.,  2.,  3.,  4.  Fälle  von  Forel,  Corr.-Blatt  für  Schweizer  Aerzte, 
1887.    Beseitigung  der  Trunksucht  bei  vier  inveterirten  Alkoholisten. 

5.  Forel,  ebenda.  Temporärer  sehr  befriedigender  Erfolg  gegen 
die  Hallucinationen  eines  Alkoholisten. 

6.  Bremaud,  Revue  de  l'hypnot.  IL  Juiliet,  p.  19.  Sofortige  Hei- 
lung von  länger  bestehendem  Delir.  alcohol. 

7.  Ladame,  ebenda.     II.  5.  und  6. 


174  IV.  Varia. 

Frau  N.,  37  J.,  seit  6  Jahren  trunksüchtig,  unter  Anderem  Absynth- 
missbrauch,  chronisch  delirant.  Allmälig  gelingt  Hypnose  bei  Pat.,  die 
davor  Furcht  hat.  Sie  wird  anständig,  trinkt  nicht  mehr.  Allmälig 
genesen. 

8.  Idem.  Frau  X.,  47  J.,  Geschäftsfrau.  Seit  15  Jahren  Potatrix 
maxima.  Allmälig  gelingt  Hypnose,  aber  Suggestionen  werden  nicht  an- 
genommen und  Patientin,  eine  Wirthsfrau,  bleibt  im  Geschäft.  Verf. 
hofft  bei  Fortsetzung  der  Hypnose  in  Anstaltsbehandlung  auf  Heilung. 

9.  Berillon,  ebenda.  1890,  1.  August  und  1.  September.  Mann. 
Seit  15  Jahren  Alkoholismus.  Nach  13  Tagen  Genesung  trotz  freier  Be- 
handlung.    Rückfall  nach  8  Monaten.     Neuerlich  genesen. 

10.  Idem.  Frl.  X.,  26  J.,  schwer  belastet,  wird  trunksüchtig,  hy- 
sterisch, verkommt  ganz.  Erzielung  von  Somnambulismus.  Drei  Rück- 
fälle.   Endlich  Genesung. 

11.  Burkhardt,  Revue  de  l'hypnot.  1.  August  1888.  Frau,  28  J, 
hysterischer  und  alcohol.  Eifersuchtswahn.  Erfolgreiche  Absuggerirung 
von  Wahn  und  Alkoholbedürfniss.     Daheim  bald  wieder  Rückfall. 

12.  Voisin,  ebenda.  1.  Mai  1888.  Weib,  31  J.,  Alcohol.  chron. 
seit  12  Jahren.     Genesung. 

Diese  guten  Resultate  bestätigt  auch  Wetterstrand  (op.  cit.  p.  58 
bis  62). 

Dipsomanie. 

1.  Voisin,  Revue  de  l'hypnot.  II.,  2,  p.  48.  Mann,  35  J.,  seit  10  J. 
alle  15  Tage  dipsom.  Anfall.  Hypnose  leicht  und  tief.  Seit  zweiter 
Sitzung  Schwinden  der  Dipsomanie  und  diese  seit  zwei  Jahren  nicht 
wiedergekehrt. 

2.  Idem.  Frau  X.,  42  J.  Seit  5  J.  Dipsom.  menstrualis.  Trinkt 
dann  bis  zu  6  Liter  Wein  täglich.  Erzielung  von  Somnambulismus. 
Entsprechende  Suggestionen.  Genesung  Ende  April.  Im  September  noch 
ganz  gesund. 

3.  Idem.  Frau  T.,  34  J.,  seit  6  Jahren  alle  8—10  Tage  dipsoman. 
Anfall.    Tiefe  Hypnose.     Voller  Erfolg. 

4.  Idem.  Frau  X.  Seit  dem  Tode  des  Mannes  vor  12  J.  Dipso- 
manie-Anfälle etwa  viermal  monatlich.  Chron.  Alkoholismus.  Volle 
Genesung. 

5.  Ladame,  ebenda.  IL,  5.  Mann.  Seit  15  Jahren  Potator.  Seit 
Jahren  Dipsomanie.     Nach  einer  Reihe  von  Sitzungen  volle  Genesung. 

Moralische  Verkehrtheit. 
Ueber  hypnotische  Suggestion  zu  correctiv-pädagogischen  Zwecken 
finden  sich  Berichte  in  der  Revue  de  l'hypnotisme,  L,  pp.  85,  97,  129 


Suggestionstherapie  bei  Psychosen  und  Neurosen.  175 

332,  359.  II.,  p.  169  von  Berillon,  Voisin,  Bernheim,  Ladarne.  Voisin 
will  einen  moralisch  Irren  curirt  und  zu  einem  braven  Spitaldiener  ge- 
macht haben,  Liebault  aus  einem  faulen  Schlingel  einen  fleissigen 
Schüler.  Einen  Idioten  will  er  aufmerksam  und  damit  bildungsfähig  ge- 
macht haben.  Es  wird  geltend  gemacht,  dass  im  wachen  Leben  die 
Suggestion  erzieherisch  ja  beständig  verwerthet  werde,  dass  die  Hypnose 
die  Suggestion  erleichtere  und  verstärke,  dass  das  böse  Beispiel  als  Auto- 
suggestion wirke.  Schon  1860  schlug  Dr.  Durand  den  Braidismus  zu 
pädagogischen  Zwecken  vor.  Diese  Idee  fand  Beifall  auf  dem  Congress 
zu  Nancy  1886.  Kinder  sind  leicht  zu  hypnotisiren.  In  ihrem  Schlaf 
sind  nicht  selten  wirksame  Suggestionen  beizubringen.  Ein  bemerkens- 
werther  Fall  ist  der  60.  in  Wetterstrands  „Hypnotismus"  Schüler,  14  J. 
Im  Anschlüsse  an  Chorea  Aenderung  des  ganzen  "Wesens  im  Sinne  der 
moral  insanity,  Stehlsucht;  völlige  Genesung  nach  15  Sitzungen. 


Ein  Rückblick  auf  die  bisherige  Literatur  bezüglich  des  Werthes 
der  hypnotischen  Behandlung  bei  Geisteskranken  lässt  grosse  Divergenz 
der  Anschauungen  erkennen.  Voisin  ist  mehr  optimistisch  und  weist 
auf  Fälle  von  jahrelanger  Psychose  hin,  die  er  zuweilen  durch  zwei  bis 
drei  Sitzungen  suggestiv  geheilt  habe.  (Revue  de  Thypnotisme.  I.  p.  48.) 

Jedenfalls  hat  er  den  Beweis  erbracht,  dass  Geisteskranke  mit  Ge- 
duld und  Geschick  in  Hypnose  versetzt  werden  können. 

In  der  Revue  de  l'hypnot.  vom  1.  Juni  1889  spricht  er  sich  auch 
günstig  bezüglich  der  Haltbarkeit  der  Genesung  aus.  Von  22  Geistes- 
kranken, die  er  hypnotisch  behandelt  hat  (moral.  Irresein,  Alkoholis- 
mus, Melancholie,  Manie),  hat  sich  bei  19  die  Genesung  seit  Jahren  er- 
halten, 3  sind  recidiv  geworden. 

Forel  (Corr.- Blatt  für  Schweizer  Aerzte,  1887)  ist  weniger  opti- 
mistisch. Er  findet  Hypnotismus  bei  Geisteskranken  (zu  Hypnose  ge- 
eigneten, nicht  veralteten  Fällen)  nicht  erfolglos.  In  einer  späteren 
Arbeit  (Münchener  med.  Wochenschrift  1888,  Nr.  5)  erklärt  er  das  Feld 
der  Psychosen  für  die  Suggestivbehandlung  sehr  ungünstig.  Einzelne 
Symptome,  Schlaf,  Arbeit,  Besserung  von  Hallucinationen,  Heimweh) 
lassen  sich  für  einige  Zeit  und  bei  milderen  Psychosen  beeinflussen. 

Wetterstrand  hatte  Erfolg  bei  leichteren  Psychosen.  Seine  Casuistik 
(„Der  Hypnotismus"  1891)  Beob.  51  —  59  umfasst  milde  Fälle  von  Me- 
lancholia  sine  delirio. 

Meine  eigene  Erfahrung  bezüglich  der  hypnotischen  Behandlung 
der  Psychosen  ist  eine  bescheidene,  da  ich  bisher  ohne  rechtes  Vertrauen 
zu  derselben  sie  wenig  und  nur  im  Nothfallle  anwendete.    In  mehreren 


176  IV.  Varia. 

Fällen  von  Melancholia  simplex,  von  alkoholischem  und  hysterischem 
Irresein,  von  Folie  du  doute,  von  Morphinismus,  endlich  bei  conträrer 
Sexualempfindung  und  zwar  angeborenen  und  erworbenen  Fällen  habe 
ich  theils  Heilung,  theils  erhebliche  Besserung  erzielt.  Eine  Kritik  der 
bisherigen  Casuistik  lässt  sie  als  zu  dürftig  und  vielfach  nicht  einwand- 
frei erscheinen.  Immerhin  kann  man  sich  des  Eindruckes  nicht  er- 
wehren, dass  hypnotische  Suggestivbehandlung  bei  manchen  Psychosen 
nicht  werthlos  ist  und  zuweilen  ganz  unerwartete  und  auch  dauernde  Re- 
sultate liefert. 

Im  Allgemeinen  entspricht  der  Erfolg  den  theoretischen  Voraus- 
setzungen und  Bedigungen,  insoferne  im  Grossen  und  Ganzen  doch  nur 
lucide,  willfährige,  mit  natürlicher  Begabung  zu  hypnotischer  Beeinflussung 
versehene,  relativ  frische  und  leichtere  Fälle  sich  für  diese  Behandlungs- 
weise  eignen.  Eine  Hauptsache  ist  die  richtige  Bedaction  der  Sug- 
gestionen, bei  der  mangelhaften  wissenschaftlichen  Erkenntniss  der  Patho- 
genese und  des  Zusammenhanges  der  Krankheitserscheinungen,  eine  recht 
schwierige  Aufgabe. 

Es  erscheint  nach  eigener  und  fremder  Erfahrung  möglich,  krank- 
hafte Stimmungen,  Affecte,  Gefühle,  Triebe,  Vorstellungen,  selbst  Sinnes- 
täuschungen abzusuggeriren  oder  wenigstens  günstig  zu  beeinflussen, 
nicht  minder  körperliche  Störungen,  wie  z.  B.  Agrypnie,  Anorexie,  Ob- 
stipation, Neuralgie.  Die  Hypnose  verdient  daher  weiteres  Studium  und 
Anwendung  bei  Psychosen.  Möglicherweise  erleichtert  ihre  Anwendung 
die  Zuhilfenahme  von  Chloroform  nach  "Wetterstrand. 

Als  der  Behandlung  zugänglich  sind  zu  bezeichnen:  Melancholia 
sine  delirio,  Wahnsinn,  besonders  alkoholischer  und  hysterischer,  hyste- 
rische Psychosen  überhaupt,  chronische  Intoxicationen,  besonders  Alko- 
holismus und  Morphinismus.  Besonders  bemerkenswerth  sind  die  Er- 
folge bei  Dipsomanie,  conträrer  Sexualempfindung.  Auch  die  Folie  du 
doute  lässt  sich  günstig  beeinflussen.  Symptomatisch  sind  krankhafte 
Stimmungen,  Affecte,  Angstgefühle,  krankhafte  Triebrichtungen,  besonders 
sexuelle,  alkoholische,  Morphium-  und  Cocainhunger  Angriffspunkte  für 
Suggestivbehancllung. 

Auch  die  Vorstellungs-  und  Willensrichtung  lässt  sich  oft  günstig 
beeinflussen,  schädlichen  Gewohnheiten,  wie  z.  B.  Onanie,  begegnen. 

Die  Möglichkeit  einer  hypnotisch-suggestiven  Bekämpfung  von  Wahn 
und  Sinnestäuschungen  muss  zugegeben  werden,  aber  jedenfalls  nur  bei 
den  oberflächlich  sich  abspielenden  Delirien  des  toxischen  und  hysteri- 
schen Wahnsinnes.  Für  die  tief  fundirten  primordialen  Wahnideen  der 
Paranoia  und  der  Melancholie  erscheint  die  Suggestivbehandlung  aus- 
sichtslos. 


Suggestionstherapie  bei  Psychosen  und  Neurosen.  177 

Zur  hypnotischen  Suggestivbehandlung  der  Neurosen. 

Ein  dankbareres  Feld  für  diese  Art  der  Behandlung  bietet  jedenfalls 
das  der  Neurosen  dar. 

Theoretisch  ergeben  sich  keine  Schranken  auf  diesem  Gebiet  der 
functionellen  Krankheit. 

Hysteria  gravis. 

Ueberaus  zahlreich  sind  die  Beobachtungen  und  Erfahrungen  be- 
züglich dieser  Neurose.  Im  Allgemeinen  lauten  sie  günstig  bezüglich 
des  Erfolges  und  seiner  Dauer. 

So  leicht  hypnotisirbar ,  als  man  vielfach  meinte,  sind  Hysterische 
aber  keineswegs. 

Die  leichte  Hypnotisirbarkeit  verbürgt  zudem  nicht  die  Suggesti- 
bilität.  Diese  lässt  ebenfalls  vielfach  zu  wünschen  übrig.  Gleich  Voisin 
finde  ich,  dass  hysteroepileptische  Anfälle  die  Fortdauer  der  Suggestion 
aufheben,  sodass  diese  neuerlich  ertheilt  werden  muss. 

Ich  kenne  zur  Zeit  kein  besseres  Mittel  zur  Bekämpfung  hysterischer 
Insulte,  als  Hypnose.  Bei  individuell  richtiger  Methode  hört  die  Geneigtheit 
derartiger  Kranken,  anlässlich  hypnotischer  Sitzung  Krämpfe  zu  bekom- 
men, bald  auf.  Lästig  ist  öfters  bei  solchen  Kranken  die  Entstehung 
von  autohypnotischen  Zuständen.  Sie  weichen  energischer  inhibitorischer 
Suggestion,  bei  temporärem  Aussetzen  der  Behandlung. 

Der  Erfolg  dieser  gegen  Krampfhysterie  ist  ein  sehr  verschieden- 
artiger. Ich  kenne  zahlreiche  Fälle  von  rascher  und  dauernder  Genesung 
in  eigener  Erfahrung.  Häufiger  ist  die  Dauer  des  Erfolges  eine  recht 
kurze.  Dann  sind  vielfach  ungünstige  Aussenverhältnisse,  die  beständige 
Fortwirkung  von  ursächlichen  Momenten  im  Spiele. 

Alle  möglichen  sonstigen  Beschwerden  der  Hysterie  sind  der 
Suggestivbehandlung  zugänglich. 

Die  ärztlichen  Journale  wimmeln  von  der  erfolgreichen  Beseitigung 
hysterischer  Lähmungen,  Neuralgien  u.  s.  w.  MaDche  Enttäuschungen 
bezüglich  des  erwarteten  Erfolges  oder  seiner  Dauer,  bleiben  aber  nicht 
erspart.  Nur  die  positiven  Fälle  pflegeu  erwähnt  zu  werden.  Von  nicht 
geringei-,  zuweilen  geradezu  pädagogischer  Wirkung  kann  die  hypnotische 
Suggestion  auf  Stimmung,  Vorstellen  und  Streben  bei  dieser  so  vielfach 
von  Autosuggestionen  abhängigen  Neuropsychose  sein.  Wenn  man  nicht 
Alles,  was  beim  weiblichen  Geschlecht  von  Neurose  vorkommt,  Hysterie 
nennt,  kann  ich  den  Hysterischen  bezüglich  Hypnotisirbarkeit  und  Sug- 
gestibilität  keine  Vorzugsstellung  einräumen. 

Krafft-Ebing,  Arbeiten  II.  12 


178  IV.  Varia. 

Neurasthenie  und  Hypochondrie. 

Noch  woniger  beizukommen  ist  den  Neurasthenikern,  obwohl  gerade 
hier,  wo  an  jedem  Symptome  der  vielgestaltigen  Krankheit  Autosugge- 
stionen sich  entwickeln,  eine  kräftige  Contrasuggestion  ein  grosser  Segen 
für  Arzt  und  Patient  wäre. 

Gleich  Wetterstrand  (April  1891)  finde  ich  Neurastheniker  schwer 
hypnotisirbar,  da  sie  nur  selten  in  ruhige  Gemüthsstimmung  und  zur 
Fixirung  ihrer  Aufmerksamkeit  zu  bringen  sind,  wie  dies  zum  Gelingen 
der  Hypnose  erforderlich  ist.  Nachhilfe  mit  Chloroform  erleichtert  nicht 
selten  sehr  die  Aufgabe.  Ueber  tiefes  Engourdissement  kommt  man 
meist  nicht  hinaus.  Für  leichtere  Fälle  ist  es  ausreichend.  Die  Bernheini- 
sche  Methode  erscheint  die  beste.  Braid  verbietet  sich  meist  wegen  neur- 
asthenischer  Asthenopia  und  Zunahme  von  Kopfbeschwerden.  Zu  allen 
Schwierigkeiten  kommt  noch  die  mangelhafte  Suggestibilität  dieser  Kranken, 
bezw.  das  Uebergewicht  ihrer  Autosuggestionen,  besonders  die,  incurabel 
zu  sein. 

Unter  37  bezüglichen  Fällen  vermochte  Wetterstrand  9  gar  nicht 
in  Hypnose  zu  bringen,  4  boten  therapeutisch  werthlosen,  leichten 
Schlummer.  Die  übrigen  24  eigneten  sich  zur  Behandlung  und  von 
denselben  wurden  10  sehr  gebessert,  14  geheilt. 

Meine  Erfahrungen  stimmen  wesentlich  mit  denen  von  Wetter- 
strand überein.  Auf  glänzende  Erfolge  kann  man  hier  nicht  rechnen, 
aber  einzelne  Symptome  (Stimmung,  Schlaf  u.  s.  w.)  werden  oft  rasch 
gebessert  und  die  psychische  Therapie,  die  bei  diesen  Patienten  die 
Hauptsache  ist,  wird  meist  mächtig  gefördert. 

Im  Allgemeinen  handelt  es  sich  hier  um  Suggestion  von  Muth, 
Selbstvertrauen,  ablenkender  Beschäftigung,  Beseitigung  autosuggestiver 
Ideen  organischen  Leidens  (Herz,  Hirn,  Kückenmark),  Absuggerirung 
peinlicher  Empfindungen,  die  jene  autosuggestiven  Ideen  unterhalten, 
Beseitigung  ätiologisch  wichtiger  Masturbation,  Bekämpfung  krankhafter 
Furcht  („Agoraphobie")  und  lästiger  Zwangsvorstellungen. 

Bemerkenswerthe  Beispiele  aus  der  Literatur: 

1.  Voisin,  Revue  de  l'hypnot.,  1.  Februar  1888.  Frl.  N,  24  J, 
Neurasthenie,  sexuelle  Zwangsvorstellungen.  Dysthymie.  Pat.  ist  nur 
mit  Braid  und  nur  oberflächlich  hypnotisirbar,  aber  sehr  suggestibel. 
Suggestionen  contra  Zwangsvorstellungen  und  genitalen  Eeiz.  Ver- 
heissung  der  Genesung,  die  vollkommen  und  dauernd  eintritt. 

2.  Bernheim,  Hypnotisme,  nouvelles  observations,  1891.  Schwere, 
erworbene,  nicht  constitutionelle  Neurasthenie. 

3.  Idem.    Seit  zwei  Jahren  Neurasthenia  cerebralis  und  Dysthymie. 


Suggestionstherapie  bei  Psychosen  und  Neurosen.  179 

Nosophobische  Ideen,  nicht  mehr  gesund  zu  werden,  geistig  zu  ver- 
sumpfen. Pat.  ist  schwer  hypnotisirbar  und  nur  schwach  suggestibel. 
Trotz  nur  leichter  Hypnose  triumphirt  von  der  achten  Sitzung  ab  die 
Fremdsuggestion  über  die  Autosuggestion.    Dauernde  Besserung. 

4.  Idem.  Schwere  Belastung.  Seit  vier  Jahren  Onanie.  Schwere 
allgemeine  Neurasthenie.  Nur  tiefes  Engourdissement  erzielbar.  Nach 
sechs  Wochen  Genesung. 

5.  Berillon,  Revue  de  l'hypnotisme,  1.  Mai  1890.  Stabsofficier, 
40  J.,  durch  geistige  Ueberanstrengung  schwer  neurasthenisch  seit  zwei 
Jahren,  an  seiner  Zukunft  verzweifelnd,  mit  Taed.  vitae.  Seine  letzte 
Hoffnung  ist  Hypnose.  Pat.  kommt  in  tiefen  Schlaf.  Absuggerirung 
der  Beschwerden.  Nach  drei  Wochen  (künstlicher  Ruhe  des  Gemüthes 
durch  Befreitsein  von  Beschwerden  und  Autosuggestion)  dauernde  Ge- 
nesung. 

6.  Burkhardt,  Revue  de  l'hypnot.  vom  1.  August  1888.  Frau, 
43  J.,  schwere  Hypochondrie.  Anfangs  bloss  leichter  hypnotischer  Schlaf 
erzielbar,  später  tieferer.  Absuggerirung  der  krankhaften  Beschwerden. 
Rasche  Genesung. 

Morphinismus. 

Von  Bedeutung  für  die  Behandlung  der  Morphinisten  ist  zweifellos 
auch  die  Suggestivtherapie.  Sie  kann  Nützliches  leisten,  um  diesen 
Kranken  die  Abstinenzbeschwerden  zu  erleichtern,  besonders  ihren 
Morphiumhunger  zu  bannen,  überdies  auch,  um,  gleichwie  bei  Dipso- 
manen,  neuem  Gelüste  zu  Morphiumgebrauch  in  Form  von  verbietenden, 
besser  Abscheu  einpflanzenden  Suggestionen  wirksam  zu  begegnen.  In 
einem  bezüglichen  Fall,  wo  die  Pat.  Morphiumrecepte  fingirte,  gelang 
es  mir  auch  suggestiv,  ihr  das  Schreiben  des  Wortes  Morphium  un- 
möglich zu  machen. 

Ueber  grössere  Erfahrung  verfügt  Westerstrand  (op.  cit.),  der 
22  Fälle  von  Morphinismus  mit  hypnotischer  Suggestion  behandelt  hat. 
19  genasen,  2  stellten  der  Behandlung  Widerstand  entgegen,  von  einem 
Fall  fehlen  Nachrichten.  Seine  Leistungen  sind  umso  beachtenswerther, 
als  sie  im  Privathause  zu  Stande  kamen.  Verfasser  giebt  drei  inter- 
essante Beobachtungen  in  seiner  Schrift.  Seine  Erfahrungen  gehen  da- 
hin, dass  Morphinisten  schwer  sich  zu  Hypnose  und  Suggestion  bequemen. 
Mit  Geduld  und  der  Zeit  gelinge  es  aber  doch  meistens. 

Auch  Voisin  (Revue  de  l'hypnot.  I.  p.  161)  und  Forel  (Corr. -Blatt 
für  Schweizer  Aerzte  1887)  berichten  günstige  Erfahrungen;  ferner  Burk- 

12* 


180  IV.  Varia. 

hardt  (Kevue  de  l'hypnot.  1.  August  1888,  Fall  6,  Frau  von  44  Jahren, 
Hysteria  gravis,  Morphinismus). 

Analog  wie  beim  Morphinismus  hat  Wetterstrand  (op.  cit.)  auch 
bei  einem  Fall  von  Chloralismus,  sowie  bei  3  Fällen  von  Nicotinisnius 
(Absuggerirung  des  Tabakbedürfnisses)  volle  und  dauernde  Genesung 
erzielt.  Schon  in  der  Eevue  de  l'hypnotisme,  II,  p.  220,  finden  sich  von 
Yoisin  günstige  Erfahrungen  bei  dem  Tabakmissbrauch  Ergebenen  mit- 
getheilt. 


Zur  Suggestivbehandlung  der  Hysteria  gravis.*) 

Zu  den  schwierigsten  Aufgaben  ärztlicher  Kunst  gehört  die  Be- 
seitigung der  oft  so  störenden  und  Gefahren  für  den  Kranken  und  die 
Umgebung  bietenden  Anfälle  von  Hysteria  gravis.  Die  auf  Arzneimittel 
(Antispasmodica,  Tonica,  Narcotica)  beschränkte  Therapie  ist  eine  sehr 
unsichere,  wenn  auch  nicht  zu  leugnenj  ist,  dass  Zinc.  valerianicum, 
Valerianapräparate  überhaupt,  besonders  aber  Arsenbehandlung  etwas 
zum  Heilerfolg  beitragen  können. 

Inhalationen  von  Bromäthyl,  Chloroform,  energische  Reize  auf  die 
individuellen  spasmogenen  Zonen  applicirt,  Morphiuminjectionen,  sind  doch 
wesentlich  nur  palliative  symptomatische,  dem  einzelnen  Anfall  gerecht 
werdende  therapeutische  Eingriffe,  in  letzterem  Sinne  zudem  nicht  harm- 
los wegen  der  Gefahr  einer  Züchtung  von  Morphinismus. 

Viel  mächtiger  sind  Hydrotherapie,  Psychotherapie  und  zwar  in 
Form  von  Isolirung  von  dem  Milieu,  in  welchem  der  Patient  erkrankte 
und  positiv  —  im  Sinne  von  zielbewusster  methodischer  ärztlicher 
Psychagogie,  wobei  Wachsuggestionen  eine'  hervorrragende  Rolle  spielen 
dürften. 

Aber  auch  mit  allen  diesen  Hülfen  gelingt  es  häufig  überhaupt 
nicht,  die  fatalen  Krankheitsanfälle  zu  bannen,  im  besten  Palle  erst  nach 
langer,  selbst  Monate  umfassender  Behandlungsdauer  und  auf  Recidive 
muss  man  auch  hier  immer  gefasst  sein. 

Ueberraschend  sind  dagegen  in  zahlreichen  Fällen  die  Resultate 
einer  hypnotischen  Behandlung,  namentlich  wenn  sie  unter  den  gün- 
stigen Verhältnissen  einer  Isolirung  von  der  Familie  und  den  krank- 
machenden Einflüssen  geübt  werden  kann.  Ich  habe,  gleich  anderen 
Beobachtern,  auf  diesem  "Wege  Heilerfolge  erzielt,  welche  an  Raschheit 
und  Dauerhaftigkeit  nichts  zu  wünschen  übrig  Messen  und  diese  Behand- 
lungsmethode allen  übrigen  weit  überlegen  zeigten. 

Es  wäre  aber  ein  grosser  Irrthum,  zu  glauben,  dass  diese  eine 
Methode  sich  für  alle  Fälle  schickt  und  dass  die  Paradefälle,  welche  der 


*)  Zeitschrift  für  Hypnotismus.    Jahrgang  IV,  Heft  I. 


jg2  IV.  Varia. 

über  seinen  Erfolg  erfreute  Beobachter  mittheilt,  der  Maassstab  für  das 
■wirkliche  Können  und  Leisten  so  schweren  Krankheitszuständen  gegen- 
über 'wären. 

Neben  solchen  Treffern  erscheinen  viele  Nieten  und  es  kann  dies 
auch  nicht  anders  sein,  wenn  man  bedenkt,  wie  complicirt  die  Bedin- 
gungen für  einen  Erfolg  —  genügende  Hypnotisirbarkeit,  Ueberwerthig- 
keit  der  Fremdsuggestion  über  die  Autosuggestionen  des  Kranken,  die 
oft  durch  Bornirtheit,  Eigensinn,  Vorurtheile  u.  s.  w.  fast  unüberwind- 
lich erscheinen,  sich  erweisen. 

Dazu  kommt  nach  Umständen  ein  psychisches  Hinderniss  —  die  ver- 
schleierte psychische  Aetiologie  des  Falles,  -wodurch  die  psychische 
Analyse  desselben  und  damit  die  richtige  Redaction  der  zu  ertheilenden 
Suggestionen  nothleiden. 

Aber  selbst  wenn  die  psychische  Genese  des  Falles  klar  zu  Tage 
liegt,  sind  die  wirksamen  psychischen  Momente  (peinliche  Erlebnisse, 
Vorstellungen)  oft  so  fest  wurzelnd,  dass  selbst  die  sinnreiche,  von 
Freud  und  Breuer  ersonnene  Methode  zu  ihrer  Eliminirung  versagt, 
zumal  wenn  es  nicht  gelingt,  den  Kranken  in  Zustände  von  tieferer 
Hypnose  (Somnambulismus)  zu  versenken. 

Daran  reihen  sich  den  Erfolg  oft  sehr  störend  beeinflussende  Inter- 
ferenzwirkungen im  Sinne  äusserer,  das  Gemüth  schädigender  zufälliger 
Vorkommnisse  oder  neuer  Manifestationen  der  an  Syndromen  unerschöpf- 
lichen Krankheit. 

Am  allerfatalsten  ist  es,  wenn  der  hypnotische  Eingriff  absolut 
wirkungslos  bleibt  —  die  besonders  leichte  und  jeweils  zu  gewärtigende 
Hynotisirbarkeit  hysterisch  Kranker  trifft  nach  meinen  Erfahrungen 
keineswegs  zu  —  womit  der  Arzt  nothwendig  empfindlich  an  seinem 
Prestige  dem  Kranken  gegenüber  einbüsst,  oder  wenn  bei  jedem  hyp- 
notischen Versuch  der  Kranken  darauf  mit  neuerlichen  Anfällen  seiner 
Krankheit  reagirt  und  innerhalb  solcher  hypnotischer  Beeinflussung  gegen- 
über erst  recht  sich  refractär  zeigt. 

Solche  Erfahrungen  sind  in  den  letzten  Jahren  in  meiner  Klinik 
geradezu  die  Regel.  Zum  Theil  lassen  sie  sich  auf  durch  vermeintlich 
autoritative,  den  Unwerth  und  selbst  die  Gefahr  hypnotischer  Behand- 
lung behauptende  Suggestionen,  welche  dem  Wiener  Publikum  zu  Theil 
wurden,  zurückführen.  Jedenfalls  besteht  in  dieser  Hinsicht  ein  grosser 
Unterschied  zwischen  Wien  und  Nancy! 

In  manchen  Fällen  gelingt  es  durch  Aenderung  der  Methode  zum 
Ziel  zu  gelangen,  aber  der  Misserfolg  ist  Regel  und  es  bedarf  glänzen- 
der Ausnahmsfälle,  um  den  Werth  der  hypnotischen  Behandlung  nicht 
aus  dem  Auge  zu  verlieren. 


Suggestivbehandlung  der  Hysteria  gravis.  183 

Die  im  Anschluss  mitgetheilten  Fälle  sind  recht  geeignet  zu  diesem 
Zweck.  In  beiden  Fällen  wurde  schwere  hysterische  Krampfkrankheit 
in  kurzer  Frist  und  durch  wenige  Sitzungen  anscheinend  dauernd  be- 
seitigt. 

Dass  hier  hypnotische  Behandlung  ausschlaggebend  war,  indem 
krankhafte  Bedingungen  zur  Auslösung  von  Krankheiten  eliminirt  und 
die  Widerstandskraft  der  Patienten  gestärkt  wurden,  geht  mit  voller  Be- 
stimmtheit aus  diesen  Beobachtungen  hervor. 

Dieser  hypnotische  Einfluss  muss  um  so  mehr  gewürdigt  werden, 
als  das  Milieu  kein  vortheilhaftes  war,  denn  die  Nervenabtheilung  für 
Männer  an  der  Wiener  psychiatrischen  Klinik  besteht  nur  aus  einem 
Saal,  in  welchem  ein  beständiges  Zu-  und  Abgehen  von  Schwerkranken 
stattfindet  und  die  für  hypnotische  Behandlung  wünschenswerte  Ruhe 
und  Isolirung  nicht  zu  erzielen  sind. 

Die  folgenden  Fälle  zeigen  auch,  dass  schon  leichtere  Grade  von 
Hypnose  genügen,  um  Anfälle  von  Hysteria  gravis  wirksam  zu  be- 
kämpfen und  dass  es  wesentlich  auf  die  Stärke  der  Suggestibilität  der 
Kranken  dabei  ankommt. 

Der  sich  psychischer  Mittel  zur  Einschläferung  bedienenden  Me- 
thode möchte  ich  durchaus  den  Vorzug  geben.  Zuweilen  (psychisch  er- 
regte, zur  Concentration  schwer  gelangende  Kranke)  ebnet  ihr  die  Ein- 
athmung  von  ein  wenig  Chloroform  (Wetterstrand)  den  Weg. 

Beob.  1.  Herr  A.,  Kunstgärtner,  stammt  aus  scbwerbelasteter  Familie.  Der 
Vater  der  Mutter  starb  irrsinnig.  Der  Vater  des  Kranken,  gleichwie  dessen  Bruder, 
sind  Constitutionen  neuropatbiscb,  zwei  derselben  an  Hysteria  gravis  leidend. 

A.  war  von  Kindesbeinen  an  reizbar,  emotiv,  Stotterer,  ehrgeizig.  Bei  Gemüths- 
bewegungen  stellte  sich  jeweils  Globus  ein. 

1886  in  Italien  erfuhr  er  heftige  Gemüthsbewegungen,  indem  er  bei  einer  Garten- 
bauausstellung nicht  mit  dem  gehofften  Preise  bedacht  wurde  und  indem  er  am  19.  Juni 
seine  Verlobte,  die  er  in  voller  Gesundheit  glaubte,  als  er  sie  besuchen  wollte,  todt 
antraf.  Er  war  ganz  verzweifelt,  machte  einen  Suicidversuch ,  bekam  am  2.  12.  86 
einen  ersten  Anfall  von  Hysteria  gravis,  dem  rasch  mehrere  folgten.  Man  brachte  ihn 
ihn  ein  Spital,  wo  man  r.  Hemibypästbesie  und  beiderseitige  concentrische  Sehfeldein- 
schränkung constatirte.  Pat.  verliess  das  Spital  schon  am  12.  7.,  litt  neuerlich  an 
AnfälleD  (epileptoide  Phase,  grands  mouvements),  blieb  nervös,  reizbar,  emotiv,  über 
Kleinigkeiten  verstimmt,  bekam  1887  im  Anschluss  an  einen  Anfall  durch  einen  Monat 
Contractur  in  1.  Ober-  und  Unterextremität ,  die  sich  in  der  Folge  noch  öfter  im  An- 
schluss an  Anfälle,  aber  von  kürzerer  Dauer  zeigte. 

Seit  1888  kehrten  die  Anfälle  alle  2—3  Monate  wieder. 

r.  Hemihypästhesie,  Amyosthenie  und  concentrische  Gesichtsfeldeinschränkung 
blieben  als  Dauersymptome.     1892,  nach  Emotionen  Häufung  der  Anfälle. 

Seit  12.  1.  93  traten  diese  besonders  gehäuft  auf  und  hinterliessen  bis  zu  vier 
Tage  dauernde  Beugecontractur  der  1.  OE.  und  Streckcontractur  der  1.  UE.  Dazu  je- 
weils nach  Anfällen  Kopf-Nackenschmerz,  grosse  Mattigkeit. 


184  IV.  Varia. 

Intervallär  erschien  Patient  schreckhaft,  emotiv,  klagte  Schwindel,  Schmerz  und 
Leere  im  Kopfe.  Nach  einem  Anfall  am  18.  1.  93  war  hysterisches  Stottern  auf- 
getreten. 

Stat.  praes.  bei  der  Aufnahme  auf  der  Klinik  am  3.  2.  93. 

Pat.,  29  J.,  mittelgross,  ziemlich  kräftig,  hlass,  ohne  Sensibilitäts-  oder  Sinnes- 
störungen. Keine  spasmogenen  Punkte  auffindbar.  Amyosthenie  in  1.  Ober-  und  Unter- 
extremität,  mit  Nachschleifen  des  1.  Beines  beim  Gehen. 

16.  2.  Bisher  fast  täglich  2  —  3  Anfälle  (epileptoide  Phase  mit  Are  de  cercle),  be- 
ginnend mit  Kopfschmerz,  Blässe.  Bewusstsein  aufgehoben.  Dauer  3—5  Minuten. 
Darnach  jeweils  Kopf- Nackenschmerz ,  stärkeres  Stottern,  Trübsehen  auf  dem  1.  Auge 
ohne  Gesichtsfeldeinschränkung. 

22.  2.  Bisher  vier  Mal  Hypnose,  die  nach  Bernheim's  Methode,  unterstützt  durch 
Stirnstreichen,  leicht  gelingt,  jedoch  nur  bis  zu  tiefem  Engourdissement  sich  erstreckt. 
Dafür  ist  Pat.  höchst  suggestibel. 

Die  ertheilten  Suggestionen  lauten: 

1.  Sie  dürfen  keine  Gemüthsbewegungen  mehr  dulden,  müssen  volles  Vertrauen 
in  Ihre  Genesung  haben,  die  binnen  wenigen  Tagen  eintreten  wird. 

2.  Ihre  Krämpfe  werden  von  nun  an  ausbleiben,  denn  Sie  sind  stärker  als  die 
Krankheit  und  können  sie  beherrschen. 

3.  Ihre  linke  Seite  wird  wieder  stark,  Ihre  Sprache  frei  (Bestreichen  der  1.  Seite 
und  der  Zunge). 

Schon  nach  der  ersten  Sitzung  schwanden  Stottern  und  Amyosthenie.  Pat.  em- 
pfand noch  Mahnungen  im  Sinne  der  früheren  Krämpfe,  vermochte  sie  aber  leicht  zu 
unterdrücken.  Pat.  fühlte  sich  genesen,  verliess  das  Spital  Anfang  März  93,  blieb  ge- 
sund, berufsfähig,  heirathete  Ende  94  und  befand  sich  bis  zum  Abschluss  dieser  Be- 
obachtung (December  95)  ganz  wohl. 

Beob.  2.  Herr  E.,  Juwelier,  Bruder  des  Vorigen,  von  jeher  neuropathisch,  an- 
lässlich Emotionen  an  Globus  leidend,  als  Kind  mit  Convulsionen  behaftet,  wurde  nach 
bilateraler  radicaler  Bruchoperation  (13.  6.  94)  hysterisch  (1.  Amyosthenie,  partielle  Hyjj- 
ästhesie  des  vierten  und  fünften  Pingers  bis  zum  Metacarpus).  Nach  heftiger  Gemüths- 
bewegung  am  15.  8.  94  erster  Hysteria  gravis- in sult  (epileptoide  Phase  und  grands 
mouvements). 

Seither  1.  schwere  Amyosthenie  und  1.  Hemianästhesie. 

Jacksonanfälle  in  Gestalt  von  1.  Facialiskrampf  und  assoeiirtem  Krampf  der  Mm. 
rect.  int.  ocul.  sin.  und  rect.  ext.  oculi  sin.,  in  kurzen  Intervallen  wiederkehrend,  je- 
weils von  heftigem  Kopfschmerz  begleitet  und  etwa  5  Minuten  dauernd,  zuweilen  auch 
auf  die  1.  OE.  übergehend. 

Die  Anfälle  von  Hysteria  gravis  kehrten  alle  2—3  Tage  wieder,  bis  zu  drei  in 
einem  Tage. 

Als  Aura  dieser  Anfälle  heftiger  Kopfschmerz,  Ziehen  gegen  den  Nacken,  dann 
bewusstloses  Zusammenstürzen.  Der  Anfall  bestand  in  der  epileptoiden  Phase,  darauf 
Elexionscontractur  in  1.  OE,  Streckcontractur  in  1.  UE.,  Masseterenkrampf,  Andeutung 
von  Are  de  cercle.  Dauer  selten  unter  5  Minuten.  Während  der  Lösung  des  Anfalls 
zuweilen  noch  clonischer  Kinnbackenkrampf.  Hie  und  da  reihte  sich  noch  eine  periode 
do  delire  an. 

Am  21.  8.  94  auf  die  Klinik  aufgenommen,  erschien  Pat.  mittelgross,  gracil,  Schädel 
normal,  r.  Hoden  steckt  noch  im  Leistencanal.  L.  Hemianästhesie  für  alle  Qualitäten, 
dabei  1.  Anosmie,  Ageusie,  Akousie,  1.  fehlende  Gaumen-  und  Rachenreflexe,  Visus 
normal,  keine  Sehfeldeinschrünkung,  1.  Amyosthenie. 


Suggestivbehandlung  der  Hysteria  gravis.  185 

Pat.  wird  gewöhnlicher  antihysterischer  Behandlung  unterworfen.  Die  Jackson- 
anialle  schwinden  Ende  September,  die  1.  Hemianästhesie  reducirt  sich  auf  das  Gebiet 
des  vierten  und  fünften  Fingers  bis  zum  Metarcarpophalangealgelenk  herauf,  wo  sie 
hartnäckig  bleibt. 

Die  Anfälle  von  Hysteria  gravis  ändern  sich  nicht  und  da  die  gewöhnliche  Be- 
handlung sich  machtlos  gegen  sie  erweist  und  Pat.  schon  wegen  des  Heilerfolgs  bei 
seinem  Bruder  zu  hypnotischer  Therapie  das  grösste  Vertrauen  hat,  wird  unter  derart 
günstigen  Umständen  mit  solcher  am  26.  10.  94  begonnen. 

Durch  einfache  Verbalsuggestion  gelingt  es,  Pat.  in  tiefes  Engourdissement  zu 
versetzen.  Die  Sitzungen  am  26.  und  28.  2.  beschränken  sich  darauf,  Pat.  zu  erklären, 
dasB  sein  Leiden  identisch  mit  dem  seines  genesenen  Bruders  sei  und  dass  an  seiner 
Heilung  nicht  zu  zweifeln  sei.  Er  möge  Emotionen  bekämpfen  und  Vertrauen  zu  seiner 
Zukunft  haben.  Der  jeweiligen  Suggestion,  eine  Stunde  post  hypnosin  zu  schlafen,  wird 
entsprochen,  aber  nicht  pünktlich. 

Am  29.  10.  zwei  gewöhnliche  Anfälle. 

30.  Hypnose,  Suggestion.  Emotionen  zu  meiden  und  Anfälle  zu  unterdrücken. 

1.  11.  unvorhergesehene  heftige  Gemüthsbewegung;  Pat.  kämpft  sichtlich  gegen 
drohenden  Anfall  an,  aber  dieser  bricht  endlich  doch  aus,  verläuft  aber  auffallend  mild. 

Vierte  Hypnose  2.  11.  =  30.  10.  Pat.  wird  präcise  in  der  Leistung  der  Schlat- 
suggestion. 

6.  11.  Da  Pat.  keine  Anfälle  mehr  bekommt,  aber  noch  in  der  Klinik  nicht  vor- 
gestellt wurde,  heute  in  V.  Hypnose  Suggestion  am  7.  in  den  Hörsal  um  430  zu  kommen 
und  dort  um  4"  einen  Anfall  zu  bekommen.  Dieser  werde  mild  und  sicher  der 
letzte  sein. 

7.  11.  Pat.  vollzieht  pünktlich  den  suggestiven  Auftrag.  Der  bestellte  Anfall 
ist  überaus  mild  und  kurz,  beschränkt  sich  auf  die  Markirung  des  tonischen  Abschnittes 
der  epileptoiden  Phase.  Am  8.  11.  VI.  und  letzte  Hypnose  mit  der  Erklärung,  dass  die 
Krankheit  geschwunden  sei  und  kein  Anfall  mehr  kommen  könne. 

17.  11.  inzwischen,  bis  auf  leichte  Cephaläa,  völliges  Wohlbefinden. 

27.  11.  94.  Pat.  hält  sich  für  genesen.  Auch  die  restirende  Amnästhesie  an  der 
1.  Hand  ist  geschwunden. 

18.  12.  95.     Seither  gesund  und  arbeitstüchtig. 


Ueber  Paraldehyd- Gebrauch  und  Missbrauch, 
nebst   einem    Falle   von  Paraldehyd- Delirium.*) 

In  unserem  nervösen  Zeitalter,  in  welchem  Schlaflosigkeit  eine 
überaus  häufig  gehörte  und  ärztliches  Können  in  Anspruch  nehmende 
Klage  ist,  erscheint  das  fortgesetzte  Streben  der  Wissenschaft,  neue 
Schlafmittel  dem  Arzneischatze  einzuverleiben,  nur  zu  sehr  begründet. 

Bedenkt  man,  dass  selbst  unsere  heroischsten  Hypnotica,  wie  z.  B. 
Chloralhydrat,  nicht  in  allen  Fällen  als  zuverlässig  sich  erweisen,  dass 
jedes  Schlafmittel,  auch  das  beste,  mit  der  Zeit  in  seiner  Wirkung  nach- 
lässt,  dass  gar  manches  —  und  darunter  in  erster  Linie  wieder  das 
Chloralhydrat  —  bei  anhaltendem  Gebrauche  schädliche  und  selbst  be- 
denkliche Nebenwirkungen  entfaltet,  so  begreift  sich  das  Interesse, 
welches  der  ärztliche  Praktiker  neuen  Hypnoticis  entgegenbringt,  hoffend, 
dass  das  neue  Mittel  gerade  in  den  Fällen  sich  wirksam  erweise,  die 
den  bisherigen  trotzten. 

In  der  stattlichen  Reihe  der  Hypnotica,  vom  Opium  und  seinen 
Alkaloiden  zum  Brom,  Chloralhydrat,  der  Piscidia,  dem  Urethan, 
Hypnon  u.  s.  w.,  nimmt  das  von  Weidenbusch  1829  entdeckte  Paral- 
dehyd (C12  H12  03)  eine  hervorragende  Stelle  ein,  insofern  es  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  in  einer  Dosis  von  4 — 6,0  (am  besten  mit  6—0,0  Tr. 
Aurant.  simpl.  als  Corrigens  in  einem  Glase  Zuckerwasser  genommen) 
prompt  und  sicher  wirkt,  einen  mehrstündigen,  dem  physiologischen  sehr 
nahestehenden  Schlaf  hervorruft,  erst  nach  Wochen  seine  Wirkung  ver- 
sagt, nach  kurzer  Pause  neuerdings  wirkt,  keine  unangenehmen  oder 
schädlichen  Nebenwirkungen  selbst  bei  längerem  Gebrauche  bei  obiger 
Dosis  entfaltet.  Ueberdies  bilden  selbst  geschwächte  Herzaction  und 
Kreislaufstörungen  (Herzfehler),  sowie  febrile  Zustände  keine  Contra- 
indication  und  ist  es  per  anum  applicirbar,  womit  selbst  bei  besonders 
sensiblen  Individuen,  denen  der  allerdings  sehr  penetrante  Geruch  des 
Mittels  widerlich  ist,  die  Anwendung  möglich  wird. 


*)  Zeitschrift  für  Therapie  1887,  7. 


Paraldehyd-Gebrauch  und  Missbrauch.  187 

Berücksichtigt  man  noch  die  Erfahrungsthatsache,  dass  das  Paral- 
dehyd  gerade  bei  Neurasthenischen  und  Hysterischen,  wo  gegen  ander- 
weitige Schlafmittel  vielfach  Idiosynkrasien  bestehen  und  der  Erfolg 
fraglich  ist,  die  hypnotische  Wirkung  selten  versagt,  so  muss  das  Paral- 
dehyd  als  eine  der  werthvollsten  Errungenschaften  unseres  hypnotischen 
Arzneischatzes  bezeichnet  werden. 

Da  Nervenleiden  und  die  darauf  basirende  Schlaflosigkeit  in  der 
Kegel  chronische  Uebel  sind,  erscheint  das  Paraldehyd  doppelt  berufen, 
Nützliches  zu  leisten,  insofern  sich  die  Erfahrung  bestätigt,  dass  es  auf 
lange  Zeit  hinaus  prompt  und  sicher  wirkt,  vor  Allem  aber,  dass  es 
bei  anhaltendem  Gebrauch  keine  Gefahren  für  den  Organismus  bietet. 

Beides  kann  ich  nach  mehrjähriger  und  reicher  Erfahrung  ver- 
bürgen, die  Unschädlichkeit  allerdings  nur,  so  lange  innerhalb  medi- 
cinischer  Dosen  geblieben  wird.  Die  obere  Grenze  der  Tagesdosis  des 
Mittels  zu  bestimmen,  dürfte  vorläufig  schwer  sein.  Ich  habe  eine 
Reihe  von  Fällen  beobachtet,  in  welchen  nun  schon  seit  über  zwei 
Jahren  fast  allnächtlich  4 — 6,0  zur  Anwendung  gelangten,  ohne  dass  irgend- 
welche Störungen  in  den  ersten  Wegen,  geschweige  alkoholismusähnliche 
Erscheinungen  von  Seiten  des  Centralnervensystems  zu  beobachten  ge- 
wesen wären. 

In  einem  Falle  von  höchst  peinlichem  Krampf  des  Accessorius 
Willisii  nahm  der  Kranke  Monate  lang  um  12,0  täglich  ohne  irgend 
welche  schädliche  Nebenwirkung.  In  diesem  Falle  erprobte  sich  nicht 
nur  die  hypnotische,  sondern  auch  die  allgemein  sedative  und  krampf- 
stillende Wirkung  des  Mittels. 

In  einem  Falle  von  Delirium  tremens  habe  ich  bis  20,0  in  24  Stunden 
ohne  Nachtheil,  mit  endlichem  hypnotischem  und  curativem  Erfolge  ge- 
geben. 

Anders  ist  die  Sachlage,  wenn  —  analog  dem  Morphium-  und 
Chloralmissbrauch  —  das  Paraldehyd  anhaltend  und  in  den  medicini- 
schen  Gebrauch  weit  übersteigenden  Dosen  incorporirt  wird.  Schon 
Dujardin-Beaumetz,  ein  entschiedener  Lobredner  des  Mittels,  wirft  im 
„Bulletin  genöral  de  Therapeutique"  vom  30.  Januar  1884  die  Frage  auf, 
ob  das  Paraldehyd  nicht,  analog  dem  Alkohol,  mit  der  Zeit  dem  Organismus 
Schaden  bringen  möge. 

Diese  Frage  kann  ich  für  entschieden  missbräuchliche  und  abnorm 
hohe  Dosen  aus  meiner  Erfahrung  bejahen,  insofern  vor  nicht  langer 
Zeit  ein  Pat.  sich  mir  vorstellte,  der  über  Jahresfrist  wegen  neur- 
asthenischer  Beschwerden  und  Schlaflosigkeit  täglich  35,0  Paraldehyd 
zu  verzehren  pflegte  und  von  dessen  Gebrauch  befreit  zu  werden 
wünschte,  weil  er  Tremor  der  Hände,  Abnahme  des  Gedächtnisses  und 


188  IV-  Varia. 

der  geistigen  Frische  bemerkte,  welche  Symptome  auch  thatsächlich  vor- 
handen waren.  Ueberhaupt  machte  der  blasse,  aufgedunsene,  anämische, 
aber  zugleich  fettreiche,  geistig  abgestumpfte,  in  seinem  Muskeltonus 
herabgesetzte  Mann  den  Eindruck  eines  in  chronischer  Intoxication  be- 
findlichen, dem  Alkoholismus  nahestehenden  Patienten. 

Noch  deutlicher  ist  die  schädliche  Wirkung  des  Paraldebydabusus 
in  folgendem,  auf  der  mir  unterstehenden  Nervenklinik  beobachteten 
Falle  von  Paraldehyddelirium. 

Beob. 

Sophie  S.,  27  J.,  angeblich  aus  unbelasteter  Familie,  von  Kindes- 
beinen auf  nervös,  von  sehr  labiler  Vasomotorius-Innervation,  auch  ge- 
müthlich  reizbar,  wurde  mit  16  J.  ohne  Beschwerden  menstruirt,  strengte 
sich  in  den  Entwicklungsjahren  geistig  sehr  an,  da  sie  sich  dem  Beruf 
einer  Lehrerin  widmen  wollte.  Die  Menses  wurden  unregelmässig.  Es 
entwickelten  sich  Symptome  von  cerebraler  Asthenie  und  hysterische, 
klonische  Krampfanfälle.  Im  Anschluss  an  ein  von  der  Familie  nicht 
gebilligtes  Heirathsproject  litt  sie  vom  19.  J.  ab  U/a  J.  lang  an  Melancholie 
und  hysteroneurasthenischen  Beschwerden  (allgemeine  Mattigkeit,  Spinal- 
irritation, Globus,  Furcht  vor  geschlossenen  Räumen  u.  s.  w.),  sowie 
an  ungenügendem,  schwer  eintretendem  und  unerquicklichem  Schlaf.  Ein 
vor  6  J.  consultirter  Arzt  ordinirte  Chloralhydrat.  Pat.  hatte  damit 
Ruhe  vor  ihren  nervösen  Beschwerden  und  ausgiebigen  Schlaf.  Sie 
gewöhnte  sich  an  das  Mittel,  glaubte  dasselbe  nicht  mehr  entbehren  zu 
können,  consumirte  nun  jahrelang  täglich  etwa  5,0  Chloral.  Sie  wurde 
im  Laufe  des  J.  1884  davon  muskelschwach ,  geistig  stumpf,  anämisch, 
bekam  Tremor  und  fühlte  selbst  das  Bedürfniss,  dieser  Medication  sich 
zu  entziehen,  versuchte  es  wiederholt,  konnte  aber  vor  Angst,  Unruhe 
und  vermehrtem  Globus  die  Abstinenz  nicht  ertragen,  musste  immer 
wieder  zum  Chloral  greifen,  bis  sie  am  30.  Januar  1885  auf  Rath  der 
Aerzte  und  Angehörigen  sich  entschloss,  zur  Entziehungscur  und  um 
von  ihrem  Nervenleiden  befreit  zu  werden,  die  Grazer  Nervenklinik 
aufzusuchen. 

Der  Stat.  praes.  ergab  eine  mittelgrosse,  bleiche,  anämische,  auf- 
gedunsene Persönlichkeit.  Der  Puls  war  weich,  tard,  die  Herztöne  etwas 
dumpf,  aber  rein.  Keine  Albuminurie.  Vegetative  Organe  ohne  Befund. 
Die  neurotischen  Beschwerden  beschränkten  sich  auf  Globus,  Dyspnoe- 
gefühl,  jedoch  ohne  Beschleunigung  der  Respiration,  leichten  Tremor, 
Muskelschwäche,  Anorexie,  zeitweise  Bulimie.  Keine  Ovarie.  Keine 
Erscheinungen  von  vasomotorischem  Rash,  keine  Oedeme. 

Am  3.  Februar  wurde  Chloral,  von  welchem  Pat.  bisher  5,0  täglich 
genommen  hatte,  plötzlich  entzogen,  unter  Substitution  von  4,0  Paral- 


Paraldehyd-Gebrauch  und  Missbrauch.  189 

dehyd.  Da  dieses  nicht  ausgiebig  hypnotisch  wirkte  und  die  nervösen 
Beschwerden,  speciell  Athemnoth  und  Globus,  verstärkt  auftraten,  wurde 
mit  Paraldehyd  auf  8,0  täglich  gestiegen.  Bei  dieser  Dosis  stellte  sich 
Euphorie  ein.  Pat.  verlor  ihr  aufgedunsenes  Aussehen,  wurde  geistig 
frischer,  der  Puls  gewann  seine  normale  Spannung  wieder  und  am 
20.  April  1885  wurde  die  inzwischen  auf  5,0  Paraldehyd  zurückgeführte 
Pat.  aus  der  Behandlung  entlassen,  mit  der  Weisung,  diese  nicht  zu 
überschreitende  Dosis  anlässlich  neuerlicher  nervöser  Beschwerden  fort- 
zugebrauchen. 

Am  8.  Januar  1887  wurde  Pat.  der  Klinik  wegen  Paraldehydmiss- 
brauch  wieder  zugeführt.  Sie  geht,  stark  nach  Paraldehyd  riechend  zu, 
bleich,  aufgedunsen,  mit  starkem  Tremor  der  Zunge  und  Hände,  Klagen 
über  zeitweises  Hitzegefühl  im  Kopfe,  Globus,  Beengungs-  und  Angst- 
gefühl in  den  oberen  Partien  des  Brustkorbes.  Pat.  ist  fieberlos,  Puls  90. 
Die  vegetativen  Organe  ohne  Befund.  Sensibilität  normal,  ausgenommen 
die  Beugeseite  beider  Kniegelenke  und  die  Gegend  der  Ovarien,  wo 
cutane  Hyperästhesie  besteht.  Beide  Ovarien  druckempfindlich.  Die 
tiefen  Reflexe  an  den  unteren  UE.  sind  normal. 

Pat.  giebt  an,  dass  sie  seit  der  Entlassung,  wegen  fortdauernden 
Globus-  und  Athembeschwerden,  andauernd  Paraldehyd  brauchte  und 
seit  Jahresfrist  auf  die  Dosis  von  30,0  pro  die  gekommen  sei. 

Die  Yerwandten  berichten,  dass  Pat.  über  ärztliche  Verordnung 
täglich  10,0  nahm,  ausserdem  aber  heimlich  en  gros  das  Mittel  vom 
Droguisten  bezog.  Sichergestellt  wurde,  dass  das  heimlich  bezogene 
Quantum  etwa  1  kg  im  Monat  betrug.  Sie  nahm  in  der  letzten  Zeit 
das  Paraldehyd  sogar  unverdünnt  in  den  Mund  und  schluckte  es  unter 
Nachtrinken  von  Wasser.  Man  habe  sie  fast  andauernd  in  einem  duseligen 
oder  rauschartigen  Zustande  gesehen. 

Pat.  gab  beim  Eintritt  geringe  Mengen  von  mit  Wasser  verdünnten 
Paraldehyd  ab,  versicherte  hoch  und  theuer,  nichts  von  dem  Mittel  mehr 
zu  besitzen.  Da  sie  aber  bis  zum  11.  Februar  fortfuhr,  penetrant  nach 
Paral.  zu  riechen,  wurde  eine  Durchsuchung  ihrer  sämmtlichen  Effecten 
vorgenommen  und  ein  Quantum  von  350,0  reinem  Paral.  bei  ihr  ge- 
funden. 

Gering  gerechnet,  hat  Pat.  per  Tag  40,0  Paraldehyd  bisher  ge- 
nommen. Da  die  Wirkungen  einer  plötzlichen  Entziehung  des  in  so 
hohen  Dosen  gebrauchten  Mittels  wissenschaftlich  nicht  bekannt  sind 
und  die  Möglichkeit  eines  Delir.  tremensartigen  Zu  Standes  a  potu  inter- 
misso,  nach  Analogie  der  plötzlichen  Alkoholabstinenz,  nicht  ausgeschlossen 
war,  wurde,  nach  Rückgehen  auf  die  medicinisch  zulässige  Dosis  von  10,0, 
eine  allmälige  Entziehung,  unter  Verminderung  der  Dosis  um  1,0  täglich 


190  IV.  Varia. 

angeordnet  und  der  Kranken  reichlich  Wein  und  Bier  gewährt.  Zu- 
gleich wurde  sie  isolirt  und  Bettruhe  verfügt.  Am  11.  Abends  hatte 
Pat.  ihre  bis  zum  12.  früh  gewährte  Dosis  von  10,0  schon  verbraucht. 
Sie  wurde  nun  ängstlich,  unruhig,  äusserte  Furcht  vor  der  Nacht,  die 
sie  ohne  Paraldehyd  nicht  verbringen  werde,  nahm  von  den  Medica- 
menten anderer  Patienten,  in  der  Hoffnung,  dadurch  Beruhigung  zu 
finden  und  trank  den  "Wein  einer  Anderen  aus.  Die  Nacht  verlief 
schlaflos.     Sie  lag  im  Bette,  jammernd  und  ächzend. 

Am  12.  früh  5  Uhr  wurde  Pat.  delirant.  Sie  sprang  mit  dem 
Ausrufe:  „Jetzt  sterbe  ich"  zum  Bett  heraus,  lief  verzweifelt  im  Zimmer 
herum,  hörte  die  Stimme  ihrer  Mutter,  die  weinte  und  der  Tochter  die 
bevorstehende  Ueberführung  nach  der  Irrenanstalt  verkündete.  Pat.  ist 
nicht  zu  beruhigen,  hört  beständig  die  Mutter  vor  der  Thüre  weinen  und 
schreien,  sieht  Kinder,  einen  Mann,  der  ihr  droht.  Starker  Tremor 
linguae  et  manuum. 

Nachmittags  IVa  Uhr  epileptiformer  Anfall  von  3'  Dauer  (Starre 
der  OE.,  clonische  Krämpfe  in  der  Gesichtsmusculatur ,  Starre  der 
Nackenmuskeln,  Zähneknirschen,  Zungenbiss,  blutiger  Schaum  vor  dem 
Mund,  Cyanose),  darnach  ruhig,  aber  getrübtes  Bewusstsein. 

Am  13.  schlaflose,  aber  ruhige  Nacht.  Pat.  hat  kaum  die  Hälfte 
der  ihr  bewilligten  Paraldosis  (9,0)  verbraucht.  Bewusstsein  etwas  freier. 
Tremores  fortdauernd.  Klagen  über  Zusammenzucken  in  den  Knie- 
kehlen. Erinnerung  nur  ganz  summarisch  für  die  Erlebnisse  vom  11. 
Nachmittags,  wieder  tiefere  Störung  des  Bewusstseins.  Hört  Stimmen, 
dass  sie  schwanger  sei,  dass  ihr  das  Kind  aus  dem  Leib  gerissen  werde. . 
Sie  hört  ihre  Eltern  auf  dem  Corridor,  sieht  massenhaft  kleine  Kinder, 
ferner  einen  Mann  mit  einer  Narrenmaske,  weiss,  dass  sie  im  Narren- 
thurm  sei,  macht  mit  den  Händen  Kreuzbewegungen  und  verlangt,  dass 
man  ihr  Blut  einpumpe,  sonst  werde  sie  sterben.  Pat.  bemerkt  das 
neben  ihrem  Bette  stehende  Paraldehyd  (7,0)  nicht.  Abends  wird  es 
ihr  gereicht.     Sie  trinkt  es  gierig  aus. 

14  Schlaflose  Nacht.  Glaubt  sich  daheim.  Verwirrte,  verstörte 
Miene.    Tremores,  dick  belegte  Zunge.    P.  108.    Temp.  M.  37,5. 

Nachmittags  Temp.  38,3.  P.  108.  Ideenflüchtiger,  deliranter  Zu- 
stand. Faselt  von  ihren  Eltern,  Kindern,  bittet,  ihr  das  eine  Auge  zu 
lassen,  das  andere  sei  schon  verloren.  Glaubt  sich  im  Kapuzinerkloster  in  C 

Abends  P.  120—130,  Herztöne  rein,  kräftig.  Temp.  38,6.  Im  Harn 
Spuren  von  Albumin. 

Delirirt  von  Entbindung,  es  riesele  das  Blut  an  ihr  herab,  geht 
nackt  im  Zimmer  herum,  massenhaft  Gehör-  und  Gesichtshallucinationen, 


Paraldehyd-Gebrauch  und  Missbrauch.  191 

faselt  von  Elektricität.     Seit  heute  früh  4stündlich  Injection  von  0,04 
ext.  Opii  aquosum  und  2  mal  täglich  0,001  Strychnin  nitr.  subcutan. 

15.  Von  1 — 4  Uhr  geschlafen.  Darauf  componirter,  örtlich  orientirt, 
Bewusstsein  freier.  Giebt  an,  massenhaft  Kinder,  phantastische  Figuren 
und  männliche  Gestalten  gesehen  zu  haben,  die  sich  wild  durcheinander 
bewegten,  sodass  dadurch  ein  „Gesumse"  entstand.  In  letzter  Nacht 
habe  sie  sich  auf  der  Eisenbahn  geglaubt  und  deshalb  beständig  „ein- 
steigen" gerufen. 

Im  Ganzen  heute  5  h.  Schlaf.  Temp.  37—38. 
•  16.  Von  1  Uhr  früh  an  delirant.  Sieht  beständig  Kaminfeger  im 
Zimmer,  spricht  mit  einer  „Leopoldine",  sucht  ihre  Eltern,  hört  den 
Schwager  und  die  Schwägerin  sprechen.  „Die  Eltern  führen  Kampf  auf 
Leben  und  Tod."  Sie  selbst  ist  3  mal  gestorben.  Dr.  G.  liegt  ihr  zu 
Füssen.    Temp.  38,4—38,1,  P.  92. 

17.  Unter  Fortgebrauch  der  Injectionen  4  h.  geschlafen.  Bewusst- 
sein klärt  sich;  frischeres  Aussehen.  Tremores  schwinden.  Temp.  37,4 
bis  37,5.  Harn  eiweissfrei.  Klagen  über  erschwerte  Orientirungsfähigkeit, 
enorme  Mattigkeit.     Eintritt  der  Menses. 

18.  Ganze  Nacht  geschlafen.  Temp.  36,8—37,4,  R  78.  Anästhesie 
auf  r.  Fussrücken,  Analgesie  auf  r.  Planta  pedis.  Patellarreflex  r.  nicht 
auslösbar. 

Von  heute  an  noch  3  mal  täglich  0,03  extr.  Opii  subcutan. 

19.  Stundenweise  geschlafen.  Klagen  über  Funkensehen  und  Ohren- 
sausen, hörte  ab  und  zu  ihren  Namen  rufen.  Unter  Tags  ruhig,  er- 
schöpft.   Temp.  37,5—37,8. 

20.  Wenig  Schlaf,  Globus.  Spinalirritation,  wechselnde  Hitze-  und 
Kältegefühle.  Sensible  Störungen  an  r.  UE.  schwinden.  Abends  noch 
0,05  extr.  Op. 

21.  Ziemlich  geschlafen.  Delirium  geschwunden.  Bewusstsein  frei. 
Status  quo  ante. 

Pat.  bleibt  ihrer  hysterischen  Neurose  wegen  bis  Anfangs  März  auf 
der  Klinik.  Delirium  und  epileptische  Insulte  treten  nicht  mehr  auf.  Die 
Ernährung  hebt  sich,  die  neurotischen  Erscheinungen  schwinden  bis  auf 
zeitweise  Schlaflosigkeit  und  neuralgische  Beschwerden  im  r.  Fuss. 
Paraldehyd  wurde  keines  mehr  gegeben  und  Pat.  mit  einem  Bromrecept 
entlassen. 


Ein  Fall  von  Paraplegia  brachialis. 

Franz  M.,  Landmann,  38  J.,  stellte  sich  am  11.  November  1892  im 
klinischen  Ambulatorium  für  Nervenkranke  des  allgemeinen  Kranken- 
hauses vor  und  bat  um  Rath  wegen  einer  Lähmung  seiner  OE., 
von  der  er  seit  Anfang  Juli  1892  befallen  sei. 

M.  ist  ein  grosser,  kräftig  gebauter  Mann  aus  angeblich  ganz  un- 
belasteter Familie,  kein  Trinker,  war  nie  syphilitisch  und,  mit  Ausnahme 
eines  Typhus  mit  19  Jahren  und  einer  Pneumonie  mit  35  Jahren,  nie 
krank  gewesen. 

Am  25.  Juni  1892  war  er  unter  Fieber  und  Stechen  in  der  1. 
Thoraxhälfte  erkrankt.  Der  Arzt  erklärte  die  Erkrankung  für  eine 
Lungenentzündung,  setzte  Blutegel,  worauf  grosse  Erleichterung  eintrat 
Pat.  konnte  schon  am  27.  Juni  das  Bett  verlassen  und  am  1.  Juli  wieder 
an  die  Arbeit  gehen. 

Am  2.  Juli  fühlte  er  sich  neuerlich  unwohl,  hatte  heftigen  Kopf- 
schmerz, blieb  am  3.  Juli  zu  Bett  und  war,  als  er  am  4.  Juli  Morgens 
erwachte,  an  den  OE.  gelähmt. 

Die  Arme  hingen  schlaff  herab  und  nur  die  Finger  waren  etwas 
beweglich.  Am  1.  Oberarm  spürte  er  keine  Berührung,  vom  Ell- 
bogengelenk abwärts  war  die  Sensibilität  herabgesetzt,  desgleichen  an 
der  ganzen  r.  OE.  Nach  etwa  zehn  Tagen  kehrte  die  Sensibilität 
wieder,  auch  die  Beweglichkeit  besserte  sich  etwas  in  den  Fingern 
und  Handgelenken,  aber  nun  stellten  sich  Dysphagie,  Dyspnoe  und 
Schwerhörigkeit  ein,  zugleich  mit  heftigen,  reissenden  Schmerzen  im 
Nacken,  oberen  Rücken,  Schultern,  1.  Vorderarm  und  r.  Ulnaris- 
gebiet.  Bei  Druck  oder  passiver  Bewegung  steigerten  sich  diese 
Schmerzen  bis  zur  Unerträglichkeit.  Dieselben  dauerten  etwa  14  Tage 
und  verloren  sich  dann  gänzlich.  Die  Athemnoth  (ohne  Katarrh)  hielt 
14  Tage  an,  die  Dysphagie  (Pat.  konnte  nur  flüssige  Kost  gemessen)  und 
Schwerhörigkeit  dauerten  sechs  Wochen. 


*)  Wiener  klinische  Wochenschrift  1893,  10. 


Fall  von  Paraplegia  brachialis.  193 

Im  September  kehrte  etwas  Beweglichkeit  in  den  Schulter-,  im 
Laufe  des  October  in  den  Ellbogengelenken  wieder. 

Schon  seit  den  ersten  Wochen  hatte  sich  Abmagerung  der  Muskeln 
des  Schultergürtels  bemerklich  gemacht,  die  in  der  Folge  immer  weiter 
vorwärts  schritt. 

Am  11.  November  1892  constatirte  man  intacte  Function  sämmt- 
licher  Hirnnerven  und  beider  UE. 

An  den  Schultergelenken  war  die  Abduction  nur  minimal  möglich, 
die  Supination  und  Pronation  des  gestreckten  Armes  aufgehoben. 

Im  r.  Ellbogengelenk  waren  alle  Bewegungen  möglich,  aber  sehr 
behindert,  im  1.  wurde  nur  schwache  Beugung  erreicht. 

Im  r.  Handgelenk  erschienen  ausser  Palmarflexion  alle  Be- 
wegungen sehr  behindert,  im  linken  gut  ausführbar. 

In  den  Fingergelenken  der  r.  Hand  alle  Bewegungen  sehr  be- 
schränkt, 1.  kein  Ausfall,  bis  auf  mangelnde  Streckung  des  Mittelfingers. 

Passive  Bewegung  im  r.  und  1.  Schultergelenk  schmerzhaft. 

Auf  Druck  schmerzhaft  beide  Tricipites  und  Cucullares,  desgleichen 
die  Nervi  radiales  und  mediani. 

Die  tiefen  Keflexe  in  der  1.  OE.  etwas  gesteigert,  die  Sensibilität 
intact,  keine  vasomatorischen  Störungen,  bedeutende  Atrophie  beider 
Mm.  deltoidei,  supra-  und  infraspinat. ,  namentlich  1.  Atrophisch  sind 
überdies  1.  Triceps  und  Biceps. 

Anfang  Januar  1893  lässt  sich  Pat.  auf  die  Klinik  aufnehmen. 

Status  praesens  vom  12.  Januar  1893. 

Höherstehen  des  r.  Schulterblattes,  Vorspringen  der  Cucullarisränder. 
Im  oberen  Dorsaltheil  dextroconvexe  Skoliose.  Auffallendes  Hervor- 
treten von  Akromion,  Proc.  coracoid.  und  Crista  scapulae.  Abflachung 
des  Spatium  interscapulare.  Grubige  Vertiefung  der  Fossa  supraspinata, 
Abflachung  der  Fossa  infraspinata,  geringes  Abstehen  des  inneren 
Scapularrandes  von  der  Unterlage.  Der  1.  Angulus  scapulae  steht  höher 
und  ist  etwas  nach  vorn  rotirt.  Bei  passiver  Erhebung  des  1.  Armes 
rückt  jener  nach  vorne  fast  bis  zur  hinteren  Axillarlinie,  und  die  Er- 
hebung des  Armes  über  die  Horizontale  stösst  auf  Widerstand.  Die 
passive  Bewegung  in  allen  Gelenken  frei  und  schmerzlos. 

Bedeutende  Atrophie  der  Mm.  der  Fossa  supra-  und  infraspinata, 
der  Deltoidei  und  Tricipites.  Latissimi  dorsi,  Pectorales  ohne  auffälligen 
Schwund,  aber  sehr  schlaff,  ohne  Tonus. 

Active  Beweglichkeit  der  Heber  des  Schulterblattes  intact,  der 
Senker  desselben  herabgesetzt. 

Krafft-Ebintr,  Arbeiten  U.  ±u 


194  IV.  Varia. 

Einwärtsroller  der  r.  OE.  sufficient,  der  1.  in  vermindertem  Maasse. 

Auswärtsroller  der  r.  OE.  leidlich  sufficient,  der  1.  insufficient. 

Die  Pectorales  in  ihrer  Function  als  Adductoren  herabgesetzt,  1. 
mehr  als  r. 

Hebung  der  OE.  sowohl  r.  als  1.  nur  bis  etwa  30°  möglich. 

Greifen  der  1.  Hand  nach  der  r.  Schulter  gelingt  nicht,  die  r. 
Hand  erreicht  die  1.  Schulter. 

Auf  den  Rücken  vermag  Pat.  nur  die  r.  Hand  zu  bringen,  nicht 
aber  die  1. 

Im  Gebiet  des  r.  Musculocutaneus  ist  die  Leistung  eine  be- 
friedigende, aber  die  grobe  Muskelkraft  sehr  gering;  die  1.  Biceps- 
gruppo  ist  ganz  functionsuntüchtig. 

Pronation  und  Supination  im  r.  gebeugten  Arme  ausführbar,  im 
1.  unmöglich. 

Der  r.  Triceps  ist  sehr  muskelschwach,  der  1.  besser. 

Bei  Dorsalflexion  der  r.  Hand  und  Finger  ist  bloss  der  Extensor 
carpi  ulnaris  und  der  5.,  4.,  3.  Finger  insufficient. 

An  der  1.  Hand  vollzieht  sich  die  Streckung  befriedigend,  mit  Aus- 
nahme des  Mittelfingers.  Auch  der  Interosseus  4.  und  der  Abductor 
digiti  minimi  ist  hier  insufficient. 

Sonst  besteht  kein  Ausfall  der  Leistung  im  Ulnarisgebiet,  auch 
nicht  r.,  ebenso  wenig  im  Gebiet  der  Nn.  mediani. 

Sensibilität  allenthalben  intact,  tiefe  Reflexe  sehr  herabgesetzt. 
Keine  Kälte,  Cyanose  oder  Oedeme  oder  cutane  trophische  Störungen 
im  Lähmungsgebiet. 

Faradisch  unerregbar  sind  beiderseits  M.  supraspinatus,  infra- 
spinatus,  hintere  Portion  des  Deltoides  und  Triceps.  Diese  Muskeln  sind 
auch  mit  statischer  Elektricität  nicht  erregbar. 

Herabgesetzt  ist  die  faradische  Erregbarkeit  im  1.  Triceps  (dabei 
träge  Zuckung),  im  Biceps,  Serratus  major,  latissimus  dorsi  beiderseits, 
ferner  1.  im  Extensor  digiti  comm.  und  Antithenar. 

Für  den  galvanischen  Strom  unerregbar  sind  M.  supra-  und 
infraspinatus. 

Die  übrigen  Muskeln  und  Nerven  bieten  folgende  Werthe: 
Rechts  Links 

N.  radialis  (ümschlagstelle)  KSZ  6     M.-A.     5 

ASZ  9        »       10 
H.  ulnaris  KSZ  1-5      »         2-0 

ASZ  7-0      »        8-0 
N.  medianus  KSZ  6-0      »        7-5 

ASZ  6-0      »        7-5  (ASZ  überwiegt) 


Fall  von  Paraplegia  brachialis.  195 


Rechts 

Links 

M.  cucullaris 

KSZ 

1-0  1 

L-A. 

2-0 

ASZ 

4-0 

» 

5-5 

M.  deltoides 

vordere  Portion 

KSZ 

8 

» 

5-0 

ASZ 

5-5 

» 

7-0 

hintere  Portion 

KSZ 

4-0 

» 

3.5 

ASZ 

5-0 

> 

5-0 

M.  biceps 

KSZ 

6-0 

» 

4-5  (träge  Zuckung) 

ASZ 

5-5 

y> 

4-0 

M.  triceps 

KSZ 

7-5 

•» 

6-0 

ASZ 

5-0 

» 

5-5 

M.  supinator  longus 

KSZ 

6-0 

» 

5-0 

ASZ 

9-0 

4-5 

In  den  atrophischen  Muskeln  sind  häufige  und  intensive  fibrilläre 
Zuckungen  zu  bemerken. 

Epikrise:  Paraplegia  brachialis  in  Folge  doppelseitiger  multipler 
Neuritis  im  Gebiet  des  Plexus  brachialis. 

Ausgeschlossen  kann  werden  eine  Poliomyelitis  anterior  subacuta 
vom  5. — 7.  Cervicalnervensegment,  da  sensible  Störungen,  Anfangs 
Anästhesie,  später  Schmerzen  im  Krankheitsbild  auftreten. 

Auch  der  relativ  gutartige  Verlauf,  das  Ausbleiben  vasomotorischer 
Störungen  sprechen  für  Neuritis. 

Die  vorübergehende  Dysphagie,  Dyspnoe  und  Schwerhörigkeit  sind 
im  Sinne  einer  neuritischen  Mitaffection  von  Vagus-,  Glossopharyngeus- 
und  Acusticusbahnen  gelegentlich  eines  Nachschubes  der  Neuritis  deutbar. 

Die  Polyneuritis  ist  möglicherweise  als  eine  postpneumonische,  in- 
fectiöse,  durch  Toxine  vermittelte  aufzufassen. 

Schwer  geschädigt  erscheinen  im  Sinne  einer  Neuritis  die  Nn.  sub- 
und  suprascapularis,  axillaris,  radialis,  musculocutaneus,  leicht  getroffen 
Nn.  thoracici  anteriores,  N.  thoracicus  longus,  medianus,  ulnaris. 

Der  Fall,  im  Rahmen  der  sogenannten  Erb'schen  Lähmung,  ist  ein 
überaus  seltener,  da  in  der  Literatur  ausser  einem  von  Bernhardt  mit- 
getheilten,  durch  Trauma  entstandenen  nur  ein  kürzlich  von  Heyse 
(Berl.  kl.  Wochenschrift  1892  Nr.  52)  bei  einem  Phthisiker  beobachteter 
ihm  zur  Seite  steht. 


13* 


Ueber  Drucklähmung  von  Armnerven 
durch  Krückengebrauch*.) 

Während  meiner  elektro-therapeutischen  Thätigkeit  im  Sommer  1871 
an  der  Heilstation  Baden  hatte  ich  Gelegenheit,  nachstehende  5  Fälle 
von  Krückendrucklähmung  zu  beobachten  und  zu  behandeln.  Nur  das 
besondere  ätiologische  Moment  verleiht  denselben  eine  klinische  Bedeutung, 
da  sie  im  Symptomenbild  und  Verlauf  ganz  mit  den  durch  irgend  eine 
andere  traumatische  Ursache  herbeigeführten  peripherischen  Lähmungen 
übereinstimmen.  Wie  aus  den  bekannten  Untersuchungen  von  Erb 
(Deutsch.  Archiv  V.  H.  1;  Centralblatt  1868  Nr.  8)  und  Hertz  (Virchow's 
Archiv  1869  H.  3)  hervorgeht,  sind  auch  die  durch  Quetschung  herbei- 
geführten Veränderungen  der  insulitrten  Nerven  die  gleichen  wie  bei 
durchschnittenen,  nämlich  eine  von  der  Quetschungsstelle  bis  zur 
äussersten  Peripherie  fortschreitende  Degeneration,  die,  an  der  Mark- 
scheide beginnend,  endlich  auch  den  Axencylinder  ergreift,  consecutive 
trophische  Störungen  der  vom  betr.  Nerven  versorgten  Muskeln  herbei- 
führt und  die  anatomische  Ursache  des  bekannten  Decursus  der 
elektrischen  Erregbarkeitsveränderungen  an  Nerv  und  Muskel  ist. 

Bei  leichter  Quetschung  degenerirt  und  regenerirt  sich  wahrschein- 
lich nur  der  Theil  der  Nerven,  der  direct  vom  Trauma  betroffen  wurde, 
nicht  die  ganze  periphere  Ausbreitung,  woraus  sich  der  bald  leichtere 
(Beob.  4  und  5),  bald  schwerere  Charakter  dieser  Drucklähmungen  erklären 
dürfte,  der  sich  dann  bei  ersterem  durch  fehlende  oder  nur  geringfügige 
Aenderungen  der  elektrischen  Erregbarkeit  und  Ausbleiben  von  trophi- 
schen  Störungen  im  Muskelgebiete  der  Lähmung  klinisch  und  prognostisch 
auszeichnet.  Besonders  häufig  und  schwer  sind  die  Insulte,  welche  der 
N.  radialis  bei  diesen  Krückendrucklähmungen  erleidet,  wohl  wegen 
seiner  anatomischen  Lage,  indem  er  da,  wo  er  sich  um  den  Humerus 
herumwindet,  zwischen  Knochen  und  Querstütze  der  Krücke  besonders 
leicht  eine  Quetschung  erfährt. 


*)  Deutsches  Archiv  für  klinische  Medicin  1871. 


Drucklähmung  von  Arninerven  durch  Krückengebrauch.  197 

Therapeutisch  empfehlen  sich  alternirende  Behandlungsweisen  mit 
Inductions-  und  galvanischen  Strömen,  wobei  die  kräftiger  erregende 
Polwirkung  der  Ka  vorzugsweise  als  stabiler  und  labiler  Muskel-  und 
Nervenstrom  zu  verwerthen  ist.  Für  leichtere  Fälle  dürfte  der  inducirte 
Strom  allein  zur  Herstellung  genügen. 

Prophylaktisch  empfehlen  sich  möglichst  gut  gepolsterte  Krücken, 
bei  denen  die  Achselstütze  nicht  einfach  mit  Tuch  gepolstert,  sondern 
mit  einem  mittelst  Kautschuck  überzogenen  Rosshaarkeilkissen  bedeckt 
ist.  Gut  ist  es  auch,  jede  Krücke  mit  einer  Handstütze  zu  versehen, 
die  den  Druck  auf  die  Achsel  vermindert  und  eine  zeitweilige  Benutzung 
der  Krücke  als  Krückstock  gestattet. 

Beob.  1.  Drucklähmung  des  N.  radialis,  medianus, 
ulnaris,  musculocutaneus,  cutan.  brachii  int.  major  et  minor. 

Bontemps,  22*/a  J.,  am  18.  Dec.  1870  am  Bein  verwundet,  begann 
Anfang  März  71  auf  schlechtgepolsterten  Krücken  zu  gehen.  Gleich  in 
der  ersten  halben  Stunde  trat  Taubheit  des  ganzen  1.  Arms,  Prickeln, 
Ameisenkriechen,  lästiges  Gefühl  von  Schwere  und  Bewegungslähmung 
sämmtlicher  Muskeln,  ausgenommen  des  M.  deltoides  ein.  Pat.  ver- 
zichtete aufs  Gehen,  gebrauchte  erfolglos  spirituöse  Einreibungen ;  die 
gelähmten  Muskeln  magerten  ab. 

Stat.  praes.  am  24.  April:  Bedeutende  Abmagerung  des  gelähmten 
Armes,  am  Oberarm  um  2  cm,  am  Vorderarm  um  3  cm.  Haut  leicht 
cyanotisch,  Temperatur  vermindert;  lästiges  Gefühl  von  Formication. 
Ausgenommen  auf  der  vom  N.  axillaris  versorgten  hinteren  Fläche  des 
Oberarms  cutane  Schmerz-  und  Tastempfindung  im  ganzen  Arm  er- 
loschen, Reflexerregbarkeit  aufgehoben.  M.  deltoides  von  normalem 
Volumen  und  intacter  Leistungsfähigkeit;  alle  übrigen  Muskeln,  aus- 
genommen interossei  und  lumbricales  gelähmt  und  ohne  allen  Tonus, 
Hand  schlaff  herabhängend.  Sowohl  die  directe  als  indirecte  galvanische 
und  faradische  Reizung  ergiebt  normale  Erregbarkeit.  Auf  mechanische 
Reize  reagiren  die  Muskeln  nicht.  Elektromusculäre  Sensibilität  herab- 
gesetzt. 

Die  Behandlung  bestand  in  alternirender  Reizung  der  Muskeln  und 
Nervenstämme  mittelst  galvanischer  und  farad.  Inductionsströme,  in  täg- 
lichen Sitzungen  von  5'  Dauer. 

Nach  10  Sitzungen  kehrte  die  willkürliche  Beweglichkeit  im  Gebiet 
des  Medianus,  nach  der  13.  im  Ulnaris  zurück,  gleichzeitig  mit  der  der 
Beuger  des  Vorderarms.  Aeusserst  hartnäckig  blieb  die  Anästhesie  des 
Vorderarms,  der  Hand  und  der  Finger,  sowie  die  Lähmung  der  vom  N. 
radialis  versorgten  Muskeln,  welche  Functionsstörungen  erst  am  9.  Juni 


198  IV.  Varia. 

nach  34  Sitzungen  vollständig  beseitigt  waren,  sodass  Pat.  genesen  ent- 
lassen werden  konnte. 

Beob.  2.  Drucklähmung  des  N.  axillaris,  muscnlocu- 
taneus,  radialis,  ulnaris,  medianus. 

Jacobi,  25  J.,  am  22  Oct.  70  am  Bein  verwundet.  Vom  24—28. 
Februar  71  erste  Gehversuche  an  Krücken.  Am  28.  Februar  beginnendes 
taubes  Gefühl  und  Ameisenkriechen  im  Bezirk  des  rechten  N.  ulnaris, 
das  sich  centripetal  fortschreitend  auf  die  ganze  Extremität  verbreitete. 
Zunehmende  Schwerbeweglichkeit  sämmtlicher  Muskeln,  bis  zu  völliger 
Lähmung  sich  rasch  steigernd.  In  der  Folge  Gefühl  von  Schwere,  Taub- 
heit, Ameisenkriechen,  Kalte.  Der  Arm  magerte  ab,  die  Lähmung  blieb 
complet  und  unverändert  bis  auf  die  letzten  3  "Wochen,  wo  sich  fort- 
schreitend Besserung  zeigte. 

Stat.  praes.  am  24.  April  71:  Ober-  und  Vorderarm  um  2  cm  ab- 
gemagert. Erhebung  des  Arms  bis  zur  Horizontalen  nicht  möglich 
(Parese  des  M.  deltoides),  Parese  der  Strecker  und  Beuger  des  Vorder- 
arms, der  Flexores  manus  et  digitorum,  der  Pronatoren  und  Supinatoren; 
complete  Lähmung  der  Mm.  interossei,  lumbricales,  der  Extensores  manus 
et  digitorum.  Hand  schlaff  herabhängend  und  etwas  nach  der  Ulnarseite 
gewendet,  durch  vorwiegende  Lähmung  des  M.  extens.  und  flexor  carp. 
radialis.  Faradische  und  galvanische  Erregbarkeit  von  Muskeln  und 
Nerven  normal,  ausgenommen  im  N.  radialis,  wo  sowohl  für  den  galvan. 
als  faradischen  Reiz  die  indirecte  Erregbarkeit  fast  aufgehoben,  die 
directe  erheblich  vermindert  und  im  N.  extensor  carp.  radial.  =  0  ist. 
Die  elektromusculäre  Sensibilität  allenthalben  intact,  desgleichen  die 
cutane,  ausgenommen  im  ganzen  Radialisgebiet,  wo  sie  sehr  ver- 
mindert ist. 

Die  Behandlung  bestand  in  täglicher  Reizung  der  Nervenstämme 
und  Muskeln  mittelst  der  Ka  labil.  Während  nach  14  Sitzungen  die 
Lähmung  aller  übrigen  Muskeln  beseitigt  war,  erwies  sich  die  im  Gebiet 
des  N.  radialis  äusserst  hartnäckig,  ja  sogar  die  indir.  farad.  Erregbar- 
keit sank  temporär  auf  Null  und  die  Farado-  und  Galvanocontractilitat 
nahmen  noch  weiter  ab. 

Ziemlich  plötzlich  kehrte  um  die  25.  Sitzung  die  cutane  Sensibilität 
im  Radialgebiet  wieder.  Damit  coincidirten  eine  erhebliche  Besserung 
der  Erregbarkeit  für  indir.  und  directe  faradische  Ströme  und  beginnende 
Wiederkehr  der  Motilität  der  vom  Radialis  versorgten  Muskeln.  Die 
Besserung  schritt  von  da  ab  rasch  fort.  Als  Pat.  am  4  Juni  fast  völlig 
hergestellt  nach  37  Sitzungen  entlassen  werden  musste,  war  jede  Be- 
wegung ausführbar,  die  Muskelkraft  jedoch  noch  gering;  die  indir. 
galvan.  und  farad.  Erregbarkeit  zur  Norm   zurückgekehrt,  die  Farado- 


Drucklähmung  von  Armnerven  durch  Krückengebrauch.  199 

contractilität  normal,  die  galvanische  Muskelerregbarkeit  noch  etwas 
vermindert. 

Beob.  3.  Drucklähmung  des  N.  musculocutaneus  und  von 
Radialis-  und  Medianusästen. 

Leonhard,  24.  J.,  am  22.  Oct.  verwundet.  Mitte  Februar  erster 
Gebrauch  von  Krücken.  Schon  nach  wenigen  Tagen  stellte  sich  Prickeln 
und  Pelzigsein  in  den  2  letzten  Pingern  der  linken  Hand  ein,  das  sich 
auf  die  ganze  Hand  verbreitete.  Pat.  fuhr  fort  an  Krücken  zu  gehen. 
Nach  weiteren  2  Tagen  trat  Parese  in  den  Beugern  und  Streckern  der 
Hand  und  den  Fingern,  sowie  der  Beuger  des  Vorderarms  ein.  Die 
Hand  hing  schlaff  und  kraftlos  herab  und  wurde  unbrauchbar. 

Stat.  praes.  am  25.  April:  Linker  Oberarm  um  3,  1.  Vorderarm  um 
2  cm  abgemagert.  M.  biceps  und  brachial,  int.  paretisch,  Vorderarm  in 
Pronationsstellung  (Lähmung  des  M.  supinator  brevis),  Dorsal-  und 
Volarflexion  der  Hand  nur  unvollkommen  möglich;  Hand  nach  der 
Ulnarseite  abgewichen  (Lähmung  des  M.  flexor  carp.  radialis),  Finger- 
bewegung intact.  Cutane  Sensibilität  unversehrt.  Normale  elektrische 
Reaction  auf  alle  Stromesarten. 

Die  Therapie  bestand  in  labiler  Ka-Reizung  der  Nn.  perforans, 
medianus,  radialis.  Schon  nach  wenigen  Sitzungen  gelang  die  volle 
Flexionswirkung  der  Beuger  des  Vorderarms,  dann  kehrte  die  Function 
des  Flexor.  carp.  radialis,  endlich  die  der  Extensores  manus  und  des 
Supinator  brevis  zurück.  Am  13.  Mai,  nach  12  Sitzungen,  konnte  Pat. 
genesen  entlassen  werden. 

Beob.  4.     Drucklähmung  von  Radialiszweigen. 

Schütze,  28  J.  Seit  März  Gebrauch  von  gut  gepolsterten  Krücken 
wegen  Beinschuss.  Seit  Anfang  Mai  beginnende  Parese  des  Extensor 
carp.  rad.  et  ulnar.,  Extensor.  digit.  communis.  Hand  hängt  schlaff 
herab,  Finger  nicht  streckbar.  Extensores  pollicis  intact.  Normale  in- 
directe,  verminderte  directe  faradische  und  galvanische  Erregbarkeit. 
Cutane  Sensibilität  intact.  Keine  Muskelatrophie.  Behandlung  mittelst 
indirecter  galvan.  und  faradischer  Reizung.  Am  20.  musste  Pat.  evacuirt 
werden.  Auf  6  Sitzungen  hatte  sich  die  willkürliche  Bewegung  ge- 
bessert, sodass  die  Dorsalflexion  der  Hand  möglich  war.  Die  normale 
elektrische  Reaction  bestand  fort. 

Beob.  5.  Drucklähmung  von  Radialis-  und  Medianus- 
zweigen. 

Reuter,  26  J.  Krückengebrauch  wegen  Paraplegie  nach  Meningitis 
spinalis.  Seit  einigen  Wochen  zunehmende  Parese  und  taubes  Gefühl 
in  Vorderarm,  Hand  und  3  ersten  Fingern. 

Stat.  praes.   am    16.  Mai:  Parese  der  Strecker  der  r.  Hand   und 


200  IV.  Varia. 

Finger,  der  Beuger  der  2.  und  3.  Phalanx  des  1. — 3.  Fingers.  Hand 
kann  nur  bis  zur  Horizontalen  gestreckt  und  nicht  zur  Faust  ge- 
ballt werden.  Händedruck  kraftlos.  Interossei  und  Lumbricales  nicht 
gelähmt.  Cutane  Sensibilität  intact.  Normale  elektrische  Reaktion,  aus- 
genommen im  Radialgebiet,  wo  die  indirecte  Erregbarkeit  auf  faradische 
und  galvanische  Ströme  vermindert  ist,  bei  verminderter  Farado- 
contractilität  und  intacter  Galvanocontractilität  der  paretischen  Muskeln. 
Behandlung :  indirecte  und  directe  faradische  Reizung  nebst  labilen 
galvan.  Muskelströmen.  Nach  wenigen  Sitzungen  normale  Reaction  und 
Motilität  im  Medianusgebiet,  die  nach  11  Sitzungen  auch  im  Bezirk  des 
Radialis  wiedergekehrt  sind. 


Eine  Diagnose  auf  Tumor 
in  der  Grosshirnschenkel-Haubenbahn.*) 

Mit  Eecht  hebt  Prof.  Heubner  (Archiv  f.  Psychiatrie  XII,  p.  586) 
die  Wichtigkeit  hervor,  welche  Gehirntuberkel,  speciell  solitäre,  falls 
ihre  Symptome  gut  beobachtet  wurden,  für  das  Studium  der  Function 
bestimmter  Hirntheile  haben  können,  da  sie  bei  ihrem  Umschriebensein 
und  bei  der  geringen  Schädigung  der  umgebenden  Hirnsubstanz  den 
Werth  eines  physiologischen  Experimentes  am  Menschen  haben,  ja  dieses 
sogar  noch  übertreffen.  Der  folgende  Fall  erfüllt  diese  Voraussetzungen 
und  dürfte  um  so  beachtenswerther  sein,  als  er  nicht  ein  Kind  betraf, 
bei  dem  die  Ausbeutung  der  klinischen  Phänomene  immer  erschwert 
ist,  sondern  ein  erwachsenes  Individuum. 

Am  10.  December  1888  gelangte  auf  der  Grazer  Nervenklinik  die 
41  J.  alte  Taglöhnersfrau  Anna  W.  zur  Aufnahme.  Sie  stammt  an- 
geblich aus  gesunder  Familie ,  hat  nie  concipirt,  will  nie  luetisch  afficirt 
gewesen  sein,  seit  zwei  J.  in  Folge  chronischen  Schnupfens  das  Geruchs- 
vermögen verloren  haben.  Sie  war  nie  schwer  krank,  verlor  1886  die 
Menses  ohne  Beschwerden.  Im  Herbst  1887  schwollen  unter  Schmerzen 
die  r.  Halsdrüsen  stark  an  und  blieben  geschwellt.  Im  Sommer  1888 
litt  Pat.  an  rechtsseitigem  heftigem  Kopfschmerz  mit  Erbrechen,  das  aber 
nach  Herausbeförderung  von  Ascariden  nicht  wiederkehrte. 

Am  1.  November  1888  bekam  Pat.  plötzlich  ein  Gefühl  von  Schwere 
in  den  Beinen,  sodass  sie  sich  heimführen  lassen  musste.  Der  habituelle 
Kopfschmerz  steigerte  sich.  Pat.  hatte  ein  Gefühl  in  der  Stirngegend, 
als  ob  siedendes  Wasser  herumlaufe,  Sausen  und  Läuten  im  r.  Ohr, 
empfand  Schwindel,  Schwäche  in  der  r.  OE.,  reissende  Schmerzen  in 
dieser  und  im  r.  Bein,  Schütteltremor  in  r.  OE.  und  UE.  bei  kaltem 
Luftzug  und  bei  Bewegungen,  Doppelsehen  und  beiderseitige  Ptosis,  jedoch 
schwand  die  des  1.  Auges  schon  am  folgenden  Tage.  Bei  der  Aufnahme 
erschien  Pat.  mittelgross,  in  der  Ernährung  reducirt.     Die  r.  Schädel- 


*)  Wiener  klinische  Wochenschrift  1889,  47. 


202  VI.  Varia. 

hälfte  war  auf  Percussion  sehr  empfindlich.  Auf  dem  r.  Auge  bestand 
Lähmung  sämmthcher  innerer  und  äusserer  Zweige  des  N.  oculomotorius 
bei  Unversehrtheit  der  Leistungen   des  Abducens  und  des  Trochlearis. 

Pupillenweite  4,5  mm.  Einschränkung  des  Gesichtsfeldes  auf  der 
r.  nasalen  Hälfte. 

Pupille  des  1.  Auges  eng,  auf  Licht  accommodativ  reagirend.  Seh- 
vermögen intact.  Gesichtsfeld  nach  keiner  Richtung  hin  eingeschränkt. 
Mit  dem  Augenspiegel  constatirte  man  auf  beiden  Augen  eine  leichte 
Verschleierung  der  Papille. 

Gehör,  Geschmack  intact,  Geruchsvermögen  erloschen.  Alle  übrigen 
Hirnnerven  normal  functionirend.  Kopf-  und  Rumpfbewegungen  un- 
gestört.   "Wirbelsäule  normal. 

Rechte  Oberextremität:  Grobe  Muskelkraft  etwas  vermindert. 
Einzelbewegungen  normal. 

Hyperalgesie.  Auch  die  Nervenstämme  auf  Druck  empfindlich. 
Tiefe  Reflexe  enorm  gesteigert  bis  zu  Schüttelkrampf. 

Nirgends  Sensibilitätsausfall. 

Linke  Oberextremität:  Normale  Muskelkraft,  ausgesprochene 
Ataxie,  kein  Intentionszittern,  tiefe  Reflexe  schwach. 

Sensibilität  normal. 

Rechte  Unterextremität:  Grobe  Muskelkraft  etwas  herabgesetzt. 
Einzelbewegungen  erhalten.  Das  Bein  wird  beim  Gehen  etwas  nach- 
gezogen. 

Enorme  Steigerung  der  tiefen  Reflexe,  sodass  nicht  bloss  Beklopfen 
der  Sehnen,  sondern  auch  solches  der  Knochen  allgemeinen  Schiittel- 
krampf hervorruft,  der  zuweilen  auch  sich  auf  die  r.  OE.  fortsetzt. 

Durch  Beklopfen  des  Condyl.  int.  femoris  kann  man  Adductoren 
und  Quadriceps  in  Contractur  versetzen;  bei  Beklopfen  des  Schienbeines 
entsteht  eine  Contractur  im  M.  tibialis  ant. 

Hyperalgesie.  Sensibilität  überall  erhalten.  Muskeltonus  gesteigert, 
Muskelbewusstsein  intact. 

Linke  Unterextremität:  Bei  normaler  Muskelkraft  und  Einzel- 
bewegung besteht  hochgradige  Ataxie.  Sensibilität  normal,  desgleichen 
Muskelbewusstsein ;  P.  S.  R.  normal,  Achillesreflex  fehlt  (r.  hochgradiger 
Fussklonus).  Beklopfen  der  1.  Tibia  ruft  Schütteltremor  im  r.  Bein  hervor. 
Bauchdeckenreflex  beiderseits  vorhanden,  r.  gesteigert.  Die  rechtsseitigen 
Halsdrüsen  bis  bohnengross  geschwellt,  nicht  hart.  Lues  nirgends  nach- 
weisbar. Harn  eiweiss-  und  zuckerfrei.  Puls  constant  über  100.  Abend- 
liche subfebrile  Temperaturen.  Zeichen  von  tuberculöser  Erkrankung 
nirgends  auffindbar. 

19.  December.     Beständiger   Drehschwindel,   auch  im  Bette.    D'e 


Tumor  in  der  Grosshimschenkel-Haubenbahn.  203 

motorische  Schwäche  und  die  Steigerung  der  tiefen  Reflexe  ist  in  r.  OE. 
und  UE.  nicht  mehr  so  ausgespochen.  Die  Hyperalgesie  erstreckt  sich 
auch  auf  die  r.  Gesichtshälfte. 

Sonst  Stat.  idem. 

Papillen  verschleiert,  ihre  Grenze  undeutlich,  ebenso  die  der  Ge- 
fässe,  die  nur  als  schmale  Streifen  sichtbar  sind. 

Quellung  und  Trübung  der  Papillensubstanz  (beginnende  Stauungs- 
papille). 

Bei  der  heutigen  klinischen  Demonstration  wird  die  Diagnose  auf 
Tumor  im  r.  Grosshirnschenkel,  mit  vorwiegendem  Sitz  in  der 
Haubenregion,  gestellt.  Die  Natur  des  Tumors  bleibt  unbestimmt. 
Natr.  jodat.  bis  zu  3,0  täglich. 

28.  December.  Beginnende  Ptosis  links.  Parese  des  M.  rectus  superior 
und  inferior  oculi  sin.    Deutlich  ausgesprochene  Papillitis. 

In  r.  OE.  und  UE.  ist  die  motorische  Schwäche  ganz  geschwunden; 
die  tiefen  Reflexe  sind  neuerlich  und  andauernd  enorm  gesteigert  (u.  A. 
Patellarklonus),  die  rechtsseitige  Hyperalgesie  besteht  unverändert  fort. 

Auf  der  1.  OE.  und  UE.,  ausser  bedeutender  Ataxie,  keine  Functions- 
störung  wahrnehmbar. 

Da  der  Tumor  malign  und  jedenfalls  nicht  luetisch  zu  sein  scheint, 
wird  Jodbehandlung  sistirt. 

3.  Januar  1889.  Verfall  der  Kräfte.  Fieber  continuirlich,  mit 
Morgentemperaturen  bis  38,0,  abendlichen  bis  39,5.  Psychischer  Torpor; 
Pat.  ab  und  zu  verwirrt  und  subdelirant 

12.  Januar.  L.  Schenkel  wird  ödematös,  schmerzhaft  (marantische 
Yenenthrombose).     Bronchialkatarrh. 

In  r.  OE.  und  UE.  Hyperalgesie  geschwunden.  Grobe  Muskelkraft 
unversehrt.    Tiefe  Reflexe  nach  wie  vor  sehr  gesteigert. 

In  1.  OE.  und  UE.  andauernd  Ataxie  bei  ungeschwächter  Muskel- 
kraft, erhaltenem  Muskelbewusstsein,  intacter  Sensibilität  und  nicht  ge- 
steigerten tiefen  Reflexen.     Bauchdeckenreflex  1.  erloschen. 

R.  totale  Oculomotoriuslähmung  bei  maximal  erweiterter  starrer 
Pupille.     Abducens  und  Trochlearis  intact. 

L.  überhandnehmende  totale  Oculomotoriuslähmung.  Abducens  und 
Trochlearis  unbetheiligt.     Mundzweige  des  1.  Facialis  paretisch. 

Zunehmender  Verfall  bis  Ende  Januar.  Continuirliches  Fieber 
bis  39,5. 

Ueberhandnehmende  Venenthrombose  der  1.  UE.  Somnolenz, 
Euphorie. 

Am  5.  Februar  1889  stellt  sich  Tracheairasseln  ein  und  gegen 
Mitternacht  erfolgt  der  Exitus  letalis. 


204  IV.  Varia. 

Section  (Prof.  Eppinger)  6.  Februar  1889. 

„Körper  rnittelgross,  zart  gebaut,  sehr  mager,  blass,  die  r.  Hals- 
seite geschwollen. 

Schädeldach  gross,  rund,  compact,  hyperostotisch.  Hirnhäute  schlaff, 
verdickt,  blutreich,  Pia  stark  durchfeuchtet,  an  der  Hirnbasis  ganz  zart. 
Die  Gefässe  sind  hier  auffallend  eng,  zartwandig,  nur  massig  gefüllt. 

Die  Gehirnrinde  ist  etwas  dünner,  graubraun.  Die  Marksubstanz 
zäh,  von  reichlichen  dunklen  Blutpunkten  durchsetzt.  Die  Ventrikel 
sind  massig  weit,  die  Plexus  blass,  das  Ependym  ist  zart. 

Der  r.  Grosshirnschenkel  erscheint,  nach  Entfaltung  der  Ausdehnung 
beider  Grosshirnschenkel  und  bei  Vergleichung  beider  untereinander,  von 
der  Gehirnbasis  aus  betrachtet,  vorzüglich  in  seiner  hinteren  und  medialen 
Partie  etwas  geschwollen,  wobei  der  hintere  Winkel  des  Trigonum  inter- 
crurale  von  r.  her  verkleinert  und  das  Eoramen  coecum  posterius  ver- 
engt erscheint.  Der  Sulcus  oculomotorius  dexter  ist  durch  die  Wölbung 
der  medialen  Fläche  des  r.  Hirnschenkels  fast  verstrichen,  und  indem 
die  Wölbung  in  die  mediale  Fläche  des  anderen  Hirnschenkels  sich  vor- 
drängt und  sie  etwas  einbuchtet,  ist  der  Sulc.  oculomot.  sinister  gänzlich 
verstrichen. 

Der  N.  oculomot.  dexter  ist  platter,  dünner  und  mattweiss  gefärbt; 
der  N.  oculomot.  sinister  hinter  ihm  vortretend.  Das  vordere  Drittel 
des  r.  Grosshirnschenkels  bietet  in  Form  und  Volumen  keine  Abweichung. 

Von  dem  mittleren  Ventrikel  aus  betrachtet,  fällt  sofort  die  Ver- 
breiterung und  Abplattung  des  r.  hinteren  Vierhügels  nebst  Ablenkung 
des  weiten  Eingangs  zum  Aquaeduct.  Sylv.  nach  links  auf,  ausserdem 
das  Vorspringen  des  überdies  grösseren  und  härter  sich  anfühlenden 
vorderen  r.  Vierhügels.  Statt  der  r.  horizontalen  Furche  der  Vierhügel 
findet  sich  die  abschüssige  hintere  Fläche  des  r.  vorderen  Vierhügels 
und  die  longitudinale  Furche  ist  breit  und  flach. 

Beim  Durchschneiden  des  r.  Grosshirnschenkels,  knapp 
vor  seiner  hinteren  Grenze  am  vorderen  Rande  des  Pons 
Varol.  im  Bereich  des  hinteren  Vierhügels,  erkennt  man, 
dass  die  ganze  Haubenportion  bis  auf  ein  schmales,  1,2  mm 
breites  Feld  nächst  der  Substantia  nigra  ersetzt  wird  durch 
einen  Knoten  von  13  mm  Breite  und  11  mm  Höhe.  Derselbe 
erstreckt  sich  bis  dicht  an  die  Mittellinie  zwischen  den  beiden 
Hauben. 

Die  r.  hintere  Vierhügelplatte  ist  gehoben,  abgeplattet,  verbreitert, 
verdünnt  und  lässt  sich  in  Form  einer  weisslichen  Platte  abheben,  da 
ihre  dem  Knoten  zugekehrte  Gewebsschicht  erweicht  ist. 

Der  Hirnschenkelfuss  ist  hier  etwas  breiter,  aber  frei. 


Tumor  in  der  Grosshirnschenkel-Haubenbahn.  205 

In  der  Gegend  des  r.  vorderen  Vierhügels  ist  dagegen  die  Haube 
bis  auf  ein  etwas  breiteres  Feld  an  der  Grenze  gegen  die  Substantia 
nigra  und  überdies  der  ganze  r.  Vorderhügel  von  demselben  Knoten 
eingenommen,  sodass  dieser,  nur  bedeckt  von  der  Ependymschicbte,  gegen 
den  Aquaeduct.  Sylv.  heranrückt,  an  Stelle  des  r.  Vorderhügels  zu  Tage 
tritt  und  so  jenen  Vorsprung  bildet,  dessen  man  beim  Anblick  des 
Mittelhirns  von  dem  mittleren  Ventrikel  aus  ansichtig  wurde. 

Der  Hirnschenkelfuss  ist  auch  hier  vollständig  frei. 

Indem  der  Knoten  auch  hier  eine  Höhe  von  11  mm  behält,  mit 
seinem  hinteren  Pole  bis  an  die  hintere  Grenze  des  r.  Grosshirnschenkels 
am  vorderen  Rande  des  Pons  (dessen  dem  Knoten  zugewendete  Gewebs- 
portion stärker  durchfeuchtet  und  homogen  röthlich  gefärbt  erscheint) 
reicht  und  mit  seinem  vorderen  Pole  den  ganzen  rechten  Vorderhügel 
in  sich  fasst,  so  ist  (wie  es  auch  die  weiteren  Schnitte  nach  vorne  zu 
lehren)  die  vorderste ,  5  mm  lange  Partie  des  r.  Grosshirnschenkels  (bis 
zum  medialen  Rand  des  Tract.  optic.  dexter  gemessen)  von  dem  Knoten 
vollständig  frei. 

Der  Knoten  hat  somit  eine  länglich  ovale  Gestalt,  liegt 
schräg  von  hinten  und  unten  nach  vorne  und  oben  im  r.  Mittel- 
hirne und  hat,  bis  auf  eine  dünne  Grenzschichte  hart  an  der 
Substantia  nigra,  die  Haubenportion  der  hinteren  Dreiviert- 
theile  des  r.  Grosshirnschenkels  und  den  ganzen  r.  Vorder- 
hügel in  sich  aufgenommen. 

Er  besteht  peripher  aus  grauvioletter  zäher,  sonst  aus  harter, 
morscher,  gelbkäsiger  Substanz  und  erweist  sich  bei  histologischer  Unter- 
suchung als  echter  Tuberkel  mit  einzelnen  aber  sehr  deutlichen  Tuberkel- 
bacillen.  Der  Befund  der  übrigen  Organe  ergiebt  sich  aus  folgender 
anatomischer  Diagnose:  „Tuberculosis  chronica  glandularum  lymphatic; 
Tuberculosis  recens  pulmonum.  Pneumothorax  dexter  accedente  pleu- 
ritide;  Thrombosis  ven.  cavae  infer.  et  ven.  iliacae  communis  later.  sin." 
(Prof.  Eppinger.) 

Herr  Dr.  Elschnig,  Assistent  der  Augenklinik,  untersuchte  mikro- 
skopisch die  Sehnerven  und  hatte  die  Güte,  mir  nachstehenden  Befund 
mitzutheilen:  „Am  r.  Auge  wurde  der  Sehnervenkopf  in  horizontale 
Meridionalschnitte  zerlegt:  vom  angrenzenden  Stück  des  N.  opticus  wurden 
Querschnitte  angefertigt.  Beträchtliche  Schwellung  des  Papillengewebes 
in  Höhe  und  Breite,  Nervenfaserbündel  auseinander  gedrängt,  einzelne 
Nervenfasern,  besonders  in  den  oberflächlichen  Schichten,  verdickt  und 
sklerosirt.  Das  Stützgewebe  vermehrt,  kernreich,  die  grossen  Gefässe 
weit  klaffend,  Venen  strotzend  mit  Blutkörperchen  gefüllt;  die  kleinen 


206  VI.  Varia. 

an   Zahl   vermehrt,    ein   ungemein  reiches  Netzwerk  bildend,  ebenfalls 
reichüchst  Blutkörperchen  enthaltend. 

Das  die  Lücken  der  Lamina  erfüllende  Gewebe  ist  sehr  kernreich; 
hinter  der  Lamina  reichliche  herd weise  Ansammlung  rundlicher  Zellen, 
die  Septa  verdickt,  sehr  gefässreich. 

Oben  aussen  am  Sehnerv,  5  mm  hinter  der  Lamina  ein  keilförmiger 
Bezirk,  ungemein  reichliches  Bindegewebe  mit  viel  zelligen  Elementen 
enthaltend.  Die  Nervenbündel  sind  daselbst  fast  vollständig  atrophirt, 
das  Gliagewebe  gewuchert.  Kein  Oedem  des  Sehnerven,  auch  kein 
Scheidenhydrops;  die  Scheiden  dem  Sehnerven  dicht  anliegend,  etwas 
verdickt,  die  mittlere  stellenweise  aus  einem  zellreichen,  mannigfaltig 
geformten  Balkenwerk,  von  ebenfalls  verdicktem  Endothel  überkleidet, 
bestehend.  Diagnose:  Stauungspapille,  interstitielle  Neuritis  hinter  der 
Lamina.« 

Epikrise.  Bezüglich  der  Diagnose  eines  Tumor  cerebri  überhaupt 
konnte  nach  den  Symptomen  (Kopfweh,  Schwindel  Stauungspapille  u.  s.  w.) 
kein  Zweifel  bestehen. 

Für  eine  basale  Localisation  des  Tumor  sprach  eine  totale  r.  Oculo- 
motoriuslähmung nebst  vorübergehender  im  Gebiete  des  1.  (Ptosis), 
umsomehr  als  kein  Grund  vorlag,  diese  Lähmung  für  eine  durch  Fern- 
wirkung bedingte,  indirecte  zu  halten  und  auch  dieselbe  aus  einer 
Kernlähmung  nicht  herzuleiten  war. 

Es  lag  somit  nahe,  für  die  dauernde  r.  Oculomotoriuslähmung  eine 
Zerstörung  der  die  Haube  durchziehenden  Nervenfasern  durch  den 
Tumor  anzunehmen  und  einer  (indirecten)  Druckwirkung  dieses  rechts- 
seitigen Tumor  auf  Fasern  des  1.  Oculomotorius  die  temporäre  Ptosis 
zuzuschreiben. 

Zu  Gunsten  eines  Tumor  in  Grosshirnschenkelbahnen  sprach  weiter 
der  Befund  einer  rechtsseitigen  Parese  der  OE.  und  UE.  mit  enormer 
Steigerung  der  tiefen  Reflexe  in  diesen  Extremitäten  (Schädigung  der 
willkür-  und  reflexhemmenden  Bahnen  des  1.  Hirnschenkelfusses)  und 
der  einer  rechtsseitigen  Hemihyperalgesie  (Schädigung  beziehungsweise 
Reizung  der  1.  Haubenbahn). 

Da  diese  Symptome  nur  episodisch  waren  (ausgenommen  die 
Steigerung  der  tiefen  Reflexe)  und  in  ihrer  Intensität  wechselten,  Hessen 
sie  sich  nur  als  indirecte  Symptome,  etwa  durch  Druck  eines  rechts- 
seitigen Tumor  medialwärts  nach  dem  1.  Hirnschenkel  deuten. 

Der  Befund  entsprach  nicht  dem  gewöhnlichen  der  Grosshim- 
schenkeltumoren,  insofern  zwar  eine  dauernde  gleichseitige  Oculomotorius- 
lähmung bestand,  aber  die  contralaterale  (1.  Hemiplegie)  vermisst  wurde. 


Tumor  in  der  Gro8sbirnschenkel-Haubenbab.ii.  207 

Dieses  Symptom  war  ersetzt  durch  eine  linksseitige  Henii- 
ataxie  als  dauernde  Erscheinung. 

Mit  dem  Fehlen  einer  linksseitigen  Hemiplegie  war  eine  erhebliche 
Schädigung  der  Bahn  des  r.  Hirnschenkelfusses  ausgeschlossen.  Für  die 
klinische  Deutung  der  Hemiataxie  liessen  sich  Fälle  von  Buss  (Deutsch. 
Archiv  f.  kirn.  Med.  Bd.  41,  S.  241)  und  von  Kahler  und  Pick  (Prager 
Viertel] ahrsschrift  Bd.  162)  verwerthen. 

Buss  fand  einen  erbsengrossen  alten  encephalitischen  Herd  in  der 
Haube  des  hinteren  Abschnittes  des  1.  Grosshirnschenkels  (und  der 
vorderen  Hälfte  der  Brücke).  Der  Herd  hatte  solchen  Sitz,  dass  er  die 
Schleifenbahn  intact  liess. 

Während  des  Lebens  hatte  dauernde  Ataxie  aller  E.,  besonders 
aber  der  r.  OE.  bestanden. 

Kahler  und  Pick  haben  bei  hämorrhagischem  Herd  in  der  Formatio 
reticularis  der  Haubenbahn  der  1.  Ponshälfte  rechtsseitige  Ataxie  be- 
obachtet. 

Auf  Grund  aller  für  einen  Tumor  im  rechten  Hirnschenkel  mit 
Schonung  der  Fussbahnen  sprechenden  Thatsachen  musste  die  Diagnose 
im  obigen  Sinne  gestellt  werden  und  die  Nekropsie  hat  erwiesen,  dass 
jene  richtig,  die  Haubenbahn  sogar  ausschliesslich  afficirt  war. 

Dieser  klinisch-nekroskopische  Befund  scheint  mir  wichtig  für  die 
künftige  Diagnose  von  Hirnstielherderkrankungen  und  lässt  sich  wohl  dahin 
verwerthen,  dass  mit  Hemiataxie  gekreuzte  Oculomotoriuslähmung  auf 
eine  Herderkrankung  der  Haubenbahn  auf  der  Seite  der  Oculomotorius- 
lähmung im  Grosshirn  schenkelgebiet  künftig  zu  beziehen  sein  dürfte. 
Der  vorliegende  Fall,  in  seiner  Localisation  klar  und  sicher  gestellt, 
dürfte  aber  auch  für  die  Physiologie  nicht  ohne  Werth  sein,  insofern  er 
coordinatorische  Functionen  der  Haubenbahn  erweist,  wie  dies  schon 
Kahler  und  Pick  in  ihrer  obenerwähnten  Arbeit  vermutheten. 

Diese  Ataxie  im  vorliegenden  Falle  muss  als  eine  rein  motorische 
aufgefasst  werden,  da  sensorische  Störungen  im  Gebiete  der  Ataxie 
durchaus  fehlten. 

Jedenfalls  erscheint  sie  als  directes  Symptom  der  Läsion  der 
r.  Haubenbahn.  Leider  ist  in  anderen  Fällen  von  Hirnschenkel- 
erkrankungen, die  in  der  Literatur  verzeichnet  sind,  die  Ausdehnung  des 
Herdes  nicht  so  präcis  angegeben,  dass  das  ausschliessliche  Getroffensein 
bestimmter  Bahnen  ersichtlich  wäre.  Damit  entfällt  die  Möglichkeit 
einer  Vergleichung  mit  dem  vorliegenden  Falle. 

Bekanntlich  haben  Budge  a.  a.  0.,  sowie  Afanasieff  (Wien.  med. 
Wochenschrift  1870,  Nr.  9 — 12)  nachgewiesen,  dass  die  motorische  Bahn 
für  die   Blasennerven    im    Hirnschenkel    verläuft.     Die   Intactheit   der 


208  IV.  Varia. 

Blasenfunction  in  unserem  Falle  spricht  dafür,  dass  ihre  Bahnen  im 
Fusse  laufen,  desgleichen  die  der  vasomotorischen  Nerven.  Wenigstens 
bestanden  keine  vasomotorischen  Störungen,  wie  sie  Weber  (Med.- 
chirurg.  Transactions  46.  Bd.,  1883)  bei  einem  Fall  von  Extravasat  in 
der  unteren  und  inneren  Hälfte  des  1.  Hirnschenkels  in  der  r.  hemi- 
plegischen  Körperhälfte  constatiren  konnte. 

Bemerkenswert  ist  noch  in  unserem  Falle  die  Hartnäckigkeit  der 
Steigerung  der  tiefen  Reflexe  auf  der  r.  Körperhälfte  gegenüber  dem 
Ausgleich  des  Ausfalles  motorischer  Leistung  daselbst,  obwohl  beide 
Störungen  doch  nur  indirect  bedingt  waren.  Dieses  Fortbestehen  der 
Functionsstörung  reflexhemmender  Bahnen  findet  sich  übrigens  auch  im 
Verlaufe  bei  Apoplexien  und  zeigt,  dass  die  Hemmungsbahnen  für  die 
tiefen  Reflexe  weniger  widerstandsfähig  sind  als  die  Bahnen  für  den 
Willensimpuls. 

Der  Ausfall  der  Function  der  ungekreuzten  Opticusfasern  des 
r.  Auges  (nasaler  Gesichtsfelddefect)  erklärt  sich  wohl  aus  dem  Befund 
einer  interstitiellen  Neuritis  optica,  und  nicht  aus  dem  Zugrundegehen  des 
r.  vorderen  Vierhügels,  dessen  Bedeutung  für  den  Sebact  sehr  fraglich 
sein  dürfte. 


Zur  Kenntniss  der  primären  Rückenmarksblutung 
(Hämatomyelie).  *) 

Professor  Leyden  hat  in  der  Zeitschrift  f.  klin.  Mediän,  Bd.  XIII, 
Nr.  3  und  4  darauf  hingewiesen,  dass  die  Blutung  in  die  Rückenmarks- 
substanz (Apoplexia  medullae  spinalis)  höchst  selten  ist,  dass  die  medi- 
cinische  Literatur  nur  eine  kleine  Zahl  bezüglicher  Beobachtungen  auf- 
weist und  dass  eine  Vervollständigung  unserer  Kenntnisse  hinsichtlich 
der  Pathologie  und  Klinik  dieser  Fälle  von  primärer  Hämatomyelie 
wünschenswerth  sei.  Die  Angabe  des  hervorragenden  Forschers  bezüg- 
lich der  Seltenheit  der  Apoplexia  medullae  spinalis  finde  ich  in  meinem 
Beobachtungskreise  bestätigt,  insoferne  unter  245  Fällen  organischer 
Rückenmarkskrankheit  nur  drei  waren,  in  welchen  die  Diagnose  auf 
Blutung  gestellt  werden  konnte  oder  durch  den  Sectionsbefund  erwiesen 
wurde. 

Die  treffliche  Arbeit  Lcyden's  macht  es  unnöthig,  an  dieser  Stelle 
auf  Wesen  und  klinische  Erscheinungen  der  Hämatomyelie  einzugehen. 
Ich  beschränke  mich  auf  die  Mittheilung  zweier  der  von  mir  beobach- 
teten Fälle,  welche  geeignet  sein  dürften,  klinisch  interessante  Ausgangs- 
möglichkeiten der  Rückenmarksapoplexie  in  Form  der  Heilung  mit  De- 
fecten  und  ohne  solche  zu  illustriren.  Die  Mittheilung  des  dritten  Falles 
dürfte  an  dieser  Stelle  nicht  opportun  sein,  weil  die  allerdings  klinisch 
ausschlaggebende  und  tödtlich  endigende  Apoplexia  in  dem  Beginne 
einer  Myelitis  auftrat,  somit  als  Hämatomyelitis  zu  bezeichnen  wäre. 

I.  Johann  N.,  64  J.,  verheirathet,  Taglöhner  aus  Steiermark,  aus 
gesunder  Familie,  früher  gesund,  bemerkte  vier  Jahre  vor  der  am  4.  De- 
cember  1887  auf  die  Grazer  Nervenklinik  erfolgten  Aufnahme,  mitten  in 
vollem  Wohlsein,  eines  Morgens  Ameisenkriechen  im  1.  Bein,  zu  dem 
sich  heftiger,  stechender,  vom  Fuss  ausgehender  und  sich  bis  zur  Hüfte 
erstreckender  Schmerz  gesellte.  Nach  einer  Viertelstunde  fiel  Pat.  um. 
Der  Schmerz  war  nun  weg,  aber  das  1.  Bein,   bis  auf  schwache  Beuge- 


*)  Wiener  klinische  Wochenschrift  1889.  49. 

Krafft-Ebini,',  Arbeiten  II.  14 


210  IV.  Varia. 

und  Streckbarkeit  im  Knie,  gelähmt.  Auch  die  Sensibilität  war  sehr 
herabgesetzt  und  es  bestand  Incontinentia  urinae  et  alvi. 

Nach  14  Tagen  besserte  sich  die  Lähmung  so  weit,  dass  Patient 
wieder  nothdürftig  gehen  konnte.  Gleichzeitig  bemerkte  er  fortschreitende 
Abmagerung  im  1.  Bein. 

Nach  der  Versicherung  des  Pat.  blieb  der  Zustand  die  letzten  Jahre 
ziemlich  stationär,  jedoch  functionirten  die  Sphincteren  wieder  leidlich 
und  besserte  sich  die  Gehfähigkeit  soweit,  dass  Pat.  mit  einem  Stock 
ziemlich  weit  gehen  konnte. 

Stat.  praes. :  5.  December  1887.  Pat.  gross,  kräftig  gebaut,  gut  ge- 
nährt. Die  Function  der  Gehirnnerven,  der  OE.  und  der  r.  UE.  ist  gauz 
normal.  Der  Sphincter  ani  ist  sufficient,  der  der  Blase  nicht  vollkommen. 
Seit  der  Erkrankung  will  Pat.  auch  an  Erectionsschwäche  leiden. 

Der  Befund  an  der  1.  UE.  ist  folgender:  Die  Muskulatur  der  Hinter- 
backe ist  sehr  abgemagert,  bietet  fibrilläre  Zuckungen  und  sehr  herab- 
gesetzten Muskeltonus.  Die  Streckung,  Abduction  und  Auswärtsrollung 
im  1.  Hüftgelenk  ist  sehr  ungenügend.  Im  Kniegelenk  sind  alle  Be- 
wegungen gut  ausführbar.    Fussgelenk  und  Zehen  sind  unbeweglich. 

Patellarreflex  beiderseits  gleich,  nicht  gesteigert;  kein  Achillesreflex; 
der  plantare  Eeflex  fehlt  1. 

Das  1.  Bein  ist  im  Umfang  reducirt.  (Oberschenkelraitte  1.  40,  r, 
42.5  cm,  Unterschenkelmitte  1.  30,  r.  32.)  Einfache  tactile  Eeize  werden 
allenthalben  in  der  1.  UE.  richtig  empfunden  und  localisirt.  Für  ther- 
mische Reize,  sowie  für  Schmerz  ist  die  Sensibilität  im  Bereiche  des 
Unterschenkels,  der  Beugeseite  des  Oberschenkels  und  der  Glutäalgegend 
herabgesetzt.  Bei  Prüfung  mit  dem  Tastercirkel  tritt  Empfindung  von 
zwei  Spitzen  ein  bei  Spitzendistanz  von 

Unterschenkel  Vorderfläche 

oberes   Drittel    aussen  rechts  40  mm,  links  50  mm 

innen        „      48  „        „  55  „ 

mittleres  Drittel  aussen    „      44  „        „  53  „ 

„                „         innen      „      45  „         „  47  ,. 

unteres  Drittel  aussen       „     30  „        „  43  „ 

„        innen         „      27  „        „  39  „ 

Unterschenkel  Hinterfläche 
Mitte  rechts  30  mm,  links  30  mm 
Dorsum  pedis  rechts  41  mm,  links  55  mm 
Planta  pedis         „        39      „         „      56     „ 


Zur  Kenntniss  der  primären  Kückenmarksblutung.  211 

Die  faradiscbe  und  galvanische  Erregbarkeit  der  Glutaei  ist  minimal, 
und  werden  selbst  bei  stärksten  Strömen  nur  Contractionen  einzelner 
Faserbündel  erzielt. 

Das  Muskelgebiet  des  Obturatorius  und  Cruralis  bietet  leichte 
Herabsetzung  der  faradischen  und  galvanischen  Erregbarkeit;  das  Gebiet 
des  Tibialis  und  Peroneus  ist  indirect  weder  durch  faradische  noch  durch 
galvanische  Ströme  erregbar;  bei  directer  faradischer  Prüfung  erzielt  man 
mit  maximalen  Strömen  nur  schwache  und  partielle  Zuckung,  und  bei 
galvanischer,  nur  schwache  KaSz.  Es  besteht  somit  nur  quantitative, 
nicht  qualitative  Aenderung  der  Erregbarkeit. 

Die  Haut  im  Bereiche  der  1.  Hinterbacke  ist  kühl  und  livid  ver- 
färbt. Dasselbe  ist  noch  im  vermehrten  Maasse  im  Bereich  des  Unter- 
schenkels und  Fusses  der  Fall.  Hier  ist  die  Haut  überdies  verdickt  und 
glänzend. 

Pat.  wurde  einige  Zeit  galvanisirt  und  faradisirt  ohne  besonderen 
Erfolg  und  am  16.  Januar  1888  entlassen. 

Anfangs  Februar  1889  Hess  er  sich  neuerlich  aufnehmen.  Der 
Befund  war  wesentlich  der  gleiche  wie  das  erste  Mal.  Die  Tastercirkel- 
maasse  waren  annähernd  dieselben  wie  früher.  Auch  diesmal  wurde  con- 
statirt,  dass  die  Herabsetzung  der  Sensibiliät  für  thermische  und  Schmerz- 
eindrücke viel  beträchtlicher  war,  als  die  der  tactilen.  Die  Sphincteren 
erwiesen  sich  leidlich  sufficient,  jedoch  muss  Pat.  bei  Wahrnehmung  eines 
Bedürfnisses  rasch  den  Abort  aufsuchen,  da  sonst  ein  unfreiwilliger  Ab- 
gang erfolgt.  Patient  wurde  nach  14  Tagen  ohne  weitere  Besserung 
entlassen. 

Epikrise:  Die  Diagnose  einer  primären  Hämatomyelie  erscheint 
berechtigt,  insoferne  spontan  bei  einem  bisher  Gesunden,  unter  intialem 
heftigem  Schmerz,  äusserst  rasch  eine  schlaffe  Lähmung  auftritt,  die  als 
spinale  im  weiteren  Verlaufe  durch  Functionsstörung  spinaler  Centren 
(Schliessmuskeln  von  Blase,  Rectum)  und  Muskelatrophie  sich  erweist. 
Der  Entstehungsort  der  Blutung  mag  ungefähr  die  Höhe  des  ersten  Lum- 
barnervensegments  gewesen  sein.  Der  initiale  Schmerz  erklärt  sich  wohl 
aus  dem  traumatischen  Reiz  des  Extravasats  auf  sensible  Wurzelbahnen. 
Mit  der  Ausbreitung  der  Blutung  auf  dem  Querschnitt  und  der  Länge 
nach  (Röhrenblutung?)  entwickelt  sich  eine  Monoplegia  cruralis,  zugleich 
mit  Sphincterenlähmung  und  Anästhesie. 

Diese  motorischen  und  sensiblen  Symptome  sind  grösstentheils 
Shokerscheinungen.  Ein  Theil  derselben  ist  jedoch  dauernde  Ausfalls- 
erscheinung. Dies  gilt  für  die  Lähmung  im  Bereich  der  Gesässmuskeln 
(Lendennerv  1 — S)  und  der  Muskeln  des  Fusses  und  der  Zehen  (Sacral. 

14* 


212  IV.  Varia. 

1 — 2)  einschliesslich  des  M.  tibialis  (L.  3)  und  für  die  Störung  der  Sensi- 
bilität. 

Die  schlaffe  Lähmung,  die  Muskelatrophie,  der  elektrische  Befund 
sprechen  für  eine  organische  dauernde  Veränderung  der  betreffenden 
Nervenkerne  im  Vorderhorn  der  linken  Kückenmarkshälfte,  mit  theil- 
weiser  Schonung  der  für  Ileopsoas,  Adductoren,  Extensores  et  Flexores 
cruris  bestimmten  Centren  und  Bahnen. 

Daraus  erklärt  sich  auch  die  Störung  in  den  in  gleicher  Höhe 
liegenden  spinalen  Centren  (Blase,  Rectum)  und  das  Fehlen  des  Achilles- 
reflexes, während  der  patellare  erhalten  ist.  Die  sensible  Bahn  (wahr- 
scheinlich Hinterhorn,  wegen  der  vorwaltenden  Schädigung  der  Schmerz- 
empfindlichkeit  und  cutaner  trophischer  Störungen)  ist  nur  in  geringem 
Masse  geschädigt. 

II.  Elise  B.,  28  J.,  ledig,  Fabrikarbeiterin,  wurde  am  28.  Januar 
1889  in  der  Grazer  Nervenklinik  aufgenommen. 

Aus  gesunder  Familie,  früher  gesund,  nie  hysterisch  gewesen,  mit 
15  Jahren  menstruirt,  hatte  sie  in  der  Folge  die  Menses  immer  regel- 
mässig und  ohne  Beschwerden  gehabt  und  drei  normale  Geburten  über- 
standen, die  letzte  vor  l1^  Jahren.  Am  28.  Januar  Morgens  hob  Pat. 
in  der  Fabrik  einen  schweren  Maschinenbestandtheil  in  die  Höhe.  Sie 
strengte  sich  dabei  sehr  an  und  fühlte  noch  während  des  Hebens  plötzlich 
einen  sehr  heftigen,  gürtelartigen  Schmerz  in  der  Höhe  des  Epigastriums. 
Bald  darauf  stellte  sich  intensiver,  brennender  Schmerz  im  unteren 
Drittel  des  1.  Unterschenkels  ein,  der  sich  aufwärts  bis  zur  Hüfte  er- 
streckte. 

Sofort  hatte  sie  ein  Gefühl  von  Schwäche  und  Eiseskälte  im  1. 
Bein  und  fiel  zu  Boden.  Man  kam  ihr  zu  Hilfe,  rieb  ihr  das  1.  Bein, 
wobei  sie  bemerkte,  dass  sie  in  diesem  kein  Gefühl  mehr  hatte. 

Vom  Momente  des  Hebens  der  Last  bis  zum  Hinstürzen  sollen 
etwa  vier  Minuten  vergangen  sein. 

Pat.  hatte  sich  die  letzten  Tage  ganz  wohl  gefühlt,  obwohl  sie  ge- 
rade die  Menses  hatte.  Am  28.  war  der  vierte  Tag  der  Menses.  Diese 
waren  nur  mehr  schwach  und  am  Abend  des  28.  beendigt.  Pat.  ver- 
mochte tagsüber  das  1.  Bein  nicht  zu  bewegen,  konnte  erst  Abends  wieder 
Urin  lassen  und  empfand  Ameisenlaufen  am  1.  Bein. 

Stat.  praes. :  Pat.  mittelgross,  mittelkräftig,  massig  genährt,  anämisch. 
Von  Seiten  der  Gehirnnerven  kein  Befund.  Pupillen  mittelweit,  gleich, 
prompt  reagirend.  Temperatur  normal,  Puls  72.  Die  vegetativen  Or- 
gane ohne  Störung.  Die  Wirbelsäule  ist  weder  anatomisch  verändert 
noch  druckempfindlich.    Die  OE.  lassen  keine  Functionsstörung  erkennen., 


Zur  Kenntniss  der  primären  Rückenmarksblutung.  213 

Die  1.  UE.  zeigt  herabgesetzte  grobe  Muskelkraft  und  verlangsamte 
Bewegungen,  jedoch  sind  alle  Einzelbewegungen  ausführbar.  Der 
Muskeltonus  ist  nicht  herabgesetzt.  Der  Patellarsehnenreflex  ist  sehr 
deutlich  vorhanden.  Kein  Achillesreflex.  Der  epigastrische  und  der 
Bauchdeckenreflex  fehlen  rechterseits  (1.  prompt  auslösbar).  Der 
Plantarreflex  fehlt.  Keine  vasomotorischen  Störungen.  Temperatur  r. 
und  1.  gleich. 

Die  cutane  Sensibilität  ist  in  der  ganzen  1.  UE.  mit  Einschluss  der 
Glutäalgegend  und  mit  Ausschluss  der  Innenseite  des  Oberschenkels,  wo- 
selbst nur  Herabsetzung  besteht,  für  alle  Qualitäten  der  Empfindung 
aufgehoben.  Die  Muskulatur,  sowie  die  Nervenstämme  sind  bei  Druck 
schmerzhaft.  Im  ganzen  Gebiet  der  Sensibilitätsstörung  besteht  Parästhe- 
sie  im  Sinne  von  Kriebeln.  Passive  Bewegungen  werden  in  allen  Ge- 
lenken, mit  Ausnahme  der  Zehengelenke,  wahrgenommen.  Das  Bewusst- 
sein  der  Lage  der  Extremität  ist  nicht  gestört. 

An  der  r.  UE.  lassen  sich  keine  Functionsstörungen  nachweisen. 
Der  Plantarreflex  ist  hier  vorhanden,  jedoch  schwach. 

30.  Januar.  Stat.  idem  bis  auf  Steigerung  des  Patellarreflexes 
beiderseits,  so  dass  selbst  Percussion  der  nach  abwärts  gedrängten  Pa- 
tella den  Reflex  auslöst.  Die  Grenze  der  Anästhesie  der  1.  UE.  ist  vorn 
und  hinten  die  Höhe  des  Beckenrings.    Sphincteren  functioniren  gut. 

Gestern  durch  zwei  Stunden  schmerzhaftes  Druckgefühl  in  der 
Höhe  des  Epigastriums. 

31.  Januar.  Allgemeinbefinden  gut.  Keine  Fieberbewegungen.  Die 
grobe  Muskelkraft  in  1.  UE.  nur  noch  minimal  herabgesetzt.  Die  Sensi- 
bilität an  der  inneren  Oberschenkelfläche  ist  wiederhergestellt,  sonst 
überall  noch  tief  gestört. 

Heute  zweimal  sehr  schmerzhafte  Waden-  und  Zehenkrämpfe  in 
1.  UE.  (Morphiuminjection  0.01). 

1.  Februar.  Die  Sensibilität  kehrt  in  der  1.  UE.  wieder,  aber  alle 
Reize  werden  viel  schwächer  empfunden  als  r. 

2.  Februar.  Heute  ausstrahlende  Schmerzen  in  der  1.  UE.  und 
dreimal  Wadenkrampf,  der  auch  in  der  r.  UE.,  und  daselbst  sogar 
stärker  als  links,  auftritt.  Die  grobe  Muskelkraft  in  der  1.  UE.  ist  nahezu 
hergestellt.  Die  Anästhesie  beschränkt  sich  nur  mehr  auf  die  Aussen- 
seite  der  Planta  pedis.  Der  Bauchdeckenreflex  ist  r.  wieder  vorhanden, 
jedoch  schwächer  als  1.,  der  epigastrische  fehlt,  ebenso  der  Achillesreflex 
beiderseits  und  der  plantare  links.  Der  Patellarreflex  ist  beiderseits 
gleich  und  noch  gesteigert. 


214  IV.  Varia. 

4.  Februar.  Unter  Morphiuminjection  (0.01  täglich)  keine  Schmerzen 
und  Krämpfe  mehr.  Die  Sensibilität  nur  mehr  im  Gebiete  des  1.  Plan- 
taris ext.  herabgesetzt  und  zwar  für  alle  Qualitäten.  Wiederkehr  des 
plantaren  Reflexes  links. 

10.  Februar.  Ungestörte  Reconvalescenz.  Pat.  fühlt  sich  gesund 
und  dringt  auf  Entlassung,  die  mit  Rücksicht  auf  die  Gefahr  einer  mög- 
lichen reactiven  Myelitis  nicht  bewilligt  werden  kann. 

14.  Februar.  Sensibilitätsausfall  an  der  1.  Planta  nur  noch  minimal. 
Patellarreflex  beiderseits  noch  etwas  gesteigert,  1.  mehr  als  r.  Pat.  geht 
ohne  Beschwerde  herum. 

18.  Februar.  Menses.  Dieselben  verlaufen  ohne  alle  Beschwerde. 
Keine  Sensibilitätsstörung  mehr.  Normale  Motilität,  Farado-  und  Gal- 
vanocontractilität  an  beiden  UE.  Patellarreflex  nähert  sich  der  Norm. 
Keine  vasomotorischen  Störungen  der  UE. 

Pat.  wird  am  27.  Februar  1889  genesen  entlassen.  Als  einzige 
Abnormität  ist  bei  der  Entlassung  das  Fehlen  des  rechten  epigastrischen 
Reflexes  zu  verzeichnen.  Die  Behandlung  bestand  in  0.5  extr.  Secal. 
cornut.  aquos.  und  0.05  extr.  Belladonn.  pro  die,  schwacher  Galvani- 
sation der  Wirbelsäule  vom  2.  Februar  ab  und  Bettruhe  bis  zum 
10.  Februar. 

Epikrise:  Die  vorstehende  Beobachtung  bildet  eine  Analogie  zu 
der  vorhergehenden,  insofern  ebenfalls  unter  initialem  Schmerz  sofort 
Lähmung  und  Anästhesie  des  linken  Beines  auftreten  und  zwar  bei  einer 
bisher  ganz  gesunden  Persönlichkeit.  Sie  liefert  aber  im  weiteren  Ver- 
laufe ein  anderes  klinisches  Bild,  insofern,  offenbar  auf  Grund  ver- 
schiedener Localisation ,  die  Symptome  grösstentheils  Shokwirkung 
sind  und  indirect  ausgelöst,  sich  rasch  wieder  ausgleichen.  Dies 
gilt  speciell  für  die  Lähmung  der  Extremität  und  für  die  des  Detrusor 
vesicae. 

Der  initiale  Gürtelschmerz  deutet  als  excentrische  Erscheinung 
den  Entstehungsort  der  Blutung  in  der  Höhe  des  fünften  bis  siebenten 
Dorsalnervenursprungs  an.  Mit  überhandnehmender  und  nach  unten 
sich  senkender  Blutung  kommt  es  zur  Lähmung,  Anästhesie  und  (durch 
Reizung  vasomotorischer  Bahnen?)  zu  paralgiscbem  Gefühl  von  Eises- 
kälte. 

Die  sensible  Störung  wurde  bei  der  klinischen  Demonstration 
(30.  1.)  als  möglicherweise  directe  (Röhrenblutung  in  an  das  linke 
Hinterhorn  angrenzenden  Partien  der  Hinterseitenstränge  oder  beim 
Hinterhorn  selbst)  angesprochen.  Die  letztere  Möglichkeit  musste  ent- 
fallen, da  trophische  Störungen  der  Haut  im  Verlauf  ausblieben. 
Schmerzen  und  Wadenkrampf,    die  später  auftraten,  wurden  als  Reiz- 


Zur  Kenntniss  der  primären  Rückenmarksblutung.  215 

Symptome  angesprochen,  der  Krampf  als  wahrscheinlich  reflectorisch  be- 
dingt, da  er  zugleich  mit  dem  Schmerz  einsetzte  und  verschwand. 

Der  Ausfall  der  allmählich  wiederkehrenden  cutanen  Reflexe  konnte 
nur  als  Shokerscheinung  gedeutet  werden.  Die  ziemlich  rasche  und  voll- 
ständige Ausgleichung  der  sensiblen  Ausfallserscheinungen  sprach  zu 
Gunsten  einer  nicht  bedeutenden  und  auf  den  linken  Hinterseitenstrang 
beschränkten  Blutung.  Damit  erklärt  es  sich  auch  zum  Theile,  dass 
Pat.  der  Gefahr  einer  reactiven  Myelitis  entging. 


Errata. 

Seite  8,  Zeile  13  v.  oben  lies:  71  statt  91. 
„    19,     „       5  v.  unten  lies:  „wäre  es  denkbar"   statt  „würde  es  sieh  erklären"- 


Druck  von  C.  Grambach  in  Leipzig. 


ARBEITEN  AUS  DEM  GESAMMTGEBIET 
DER  PSYCHIATRIE  UND  NEUROPATHOLOGIE. 

III.  Heft. 


ARBEITEN  AUS  DEM  GESAMMTGEBIET 


DER 


PSYCHIATRIE  UND  NEUROPATHOLOGIE 


VON 


R.  v.  KRAFFT-EBING. 


III.  HEFT. 


LEIPZIG 
JOHANN   AMBROSIUS   BARTH 

1898. 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Uebersetzung.  vorbehalten. 


Inhalt. 


Seite 

1.  Zur  Aetiologie  der  Paralysis  agitans  .             .         .             ...  3 

Anhang:     Die  vorzeitige  Paralysis  agitans .  12 

2.  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände 20 

Erster  Aufsatz  (1875)                 .                               .    .                      ....  23 

Zweiter  Aufsatz  (1877)            ...                  47 

Dritter  Aufsatz  (1898) .     .  69 

a)  Einleitung    .    .                      .         .             .             69 

bl  epileptische  Dämmer-  und  Traumzustände      .                                ...  71 

c)  neurasthenische  Dämmer-  und  Traumzustände    ...              .  80 

d)  hysterische  Dämmer-  und  Traumzustände  ....         ....  85 

e)  alkoholische  Dämmer-  und  Traumzustände              .     .         ...  93 

3.  Ueber  typische  Delirien  bei  Epileptikern.     .    .         .         .  99 

4.  Ueber   idiopathisches   periodisch  wiederkehrendes  Irresein 

in  Form  von  Delirium            .             ...                                   .    .  119 

5.  Epileptische  Psychosen.             .,         .             141 

6.  Zur  chirurgischen  Behandlung  der  Epilepsie              .         ...  177 

7.  Ueber  Ecmnesie  .     .              .                            .  193 

8.  Ueber  retrograde  allgemeine  Amnesie      .    .    .  215 

9.  Meineid.    Hysterismus.    Behauptete  Amnesie  und  Unzurech- 
nungsfähigkeit       ,    .    .                          ...                      .             .    .  227 

10.  Hysteria  gravis.     Castration.    Dauernde  Genesung                   .  237 


I. 
ZUR  AETIOLOGIE  DER  PARALYSIS  AGITANS. 


K rafft- Eb ing,  Arbeiten  III. 


Zur  Aetiologie  der  Paralysis  agitans. 

Zu  den  rätselhaftesten  Erscheinungsbildern  gestörter  Nerven- 
function gehört  jedenfalls  die  von  Parkinson  als  „shaking  palsy"  zuerst 
beschriebene  und  nach  ihm  benannte  Erkrankung  des  centralen  Nerven- 
systems. 

Trotz  häufiger  Gelegenheit  zur  Beobachtung  des  Leidens,  lässt 
seine  Aetiologie,  seine  Lokalisation,  die  Deutung  gewonnener  patholo- 
gisch-anatomischer Befunde  und  die  Erklärung  der  Symptome  noch 
ausserordentlich  viel  zu  wünschen  übrig. 

Man  hat  die  Paralysis  agitans  bisher  für  ein  Nervenleiden  ohne 
pathologisch-anatomischen  Befund  (Neurose)  gehalten. 

Die  neueste  microscopische  Forschung  (Borgherini,  Koller,  Ketscher, 
Redlich  u.  A.)  hat  bei  einer  grösseren  Zahl  von  in  P.  a.  Verstorbenen 
Befunde  im  Rückenmark  erwiesen,  denen  eine  klinische  Bedeutung 
nicht  abgesprochen  werden  kann  und  die  jedenfalls  geeignet  sind,  zur 
Klarstellung  des  Sitzes  der  Erkrankung  und  zur  Erklärung  ihrer 
Symptome  den  Weg  zu  ebnen. 

Es  handelt  sich  um  den  Nachweis  perivasculärer  Sklerose  in  ver- 
schiedenen Abschnitten  und  Systemen  des  Rückenmarks,  ganz  be- 
sonders in  der  Cervical-  und  Lumbalanschwellung  und  zwar  vorwiegend 
in  den  HS  und  der  PySSbahn,  stellenweise  auch  in  den  K1HSS  und 
dem  Gowers'schen  Bündel.  Ausserdem  findet  man  massige  Pigment- 
atrophie der  Ganglienzellen  der  VH  und  der  Clarke'schen  Säulen. 

Es  ist  von  den  genannten  Forschern  erwiesen,  dass  die  sklero- 
tischen Veränderungen  von  den  Gefässwändeu  ausgehen  und  dass  den 
Anstoss  dazu  atheromatöse  (senile)  Erkrankung  der  Gefässe  giebt. 

Damit  ergeben  sich  Analogien  und  Beziehungen  zu  einer  zweifellos 

l* 


4  Zur  Aetiologie  der 

in  sklerotischen  Veränderungen  in  den  SS,  speciell  den  PySS  begrün- 
deten senilen  Rückenmarkserkrankuug,  die  Demange  1885  zuerst  unter 
dem  jedenfalls  nicht  glücklich  gewählten  Namen  einer  „Contracture 
tabetique  progressive"  beschrieben  hat. 

Dieses  Leiden  äussert  sich  in  einem  eigenthümlichen  Rigor  bis  zur 
Contractur  der  Muskeln,  zugleich  mit  Schwäche  derselben,  ganz  be- 
sonders in  den  UE.,  sodass  ein  paraparetischer ,  mehr  oder  weniger 
spastischer,  in  den  Knieen  einsinkender  Gang  resultirt. 

Diese  Symptome  finden  sich  auch  in  dem  Erscheinungsbild  vor- 
geschrittener Paralysis  agitans  und  sind  wohl  auf  die  anatomischen 
Veränderungen  in  den  PySS  beziehbar. 

Die  bisher  bei  P.  agitans  gewonnenen  anatomischen  Befunde  sind 
schon  deshalb  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  weil  sie  insofern  sich 
mit  den  klinischen  Symptomen  decken,  als  dieselben  qua  Rigor  und 
Muskelschwäche  —  der  eigentümliche  Tremor  kann  hier  ja  fehlen 
und  scheint  functionelles  Symptom  zu  sein  —  eine  directe  oder  in- 
directe  Affection  der  PySS  bahn  andeuten.  Diese  Annahme  findet  eine 
gewichtige  Stütze  in  der  von  mir  regelmässig  bei  P.  agitans  gefundenen 
erheblichen  Steigerung  der  tiefen  Reflexe  im  Gebiet  der  von  P.  a. 
heimgesuchten  Extremitäten. 

Der  Werth  der  anatomischen  Befunde  im  Sinne  einer  perivascu- 
lären  Sklerose  wird  aber  andererseits  dadurch  geschmälert,  dass,  soweit 
diese  auf  (senile)  atheromatöse  Erkrankung  der  Gefässe  zurückgeiührt 
wird,  allerdings  seltene  Fälle  von  P.  agitans  in  jugendlichem  Alter 
vorkommen,  dass  auch  bei  alten  von  dieser  Krankheit  heimgesuchten 
Individuen  Erscheinungen  von  Atherose  nicht  immer  und  jedenfalls 
nicht  in  correlatem  Verhältniss  zur  Krankheit  nachweisbar  sind,  dass 
die  P.  agitans  im  höheren  Greisenalter,  etwa  vom  65.  Lebensjahr  ab, 
immer  seltener  wird  und  dass  die  gefundenen  Veränderungen  im  Sinne 
einer  perivasculären  Sklerose  im  senilen  Rückenmark,  auch  ohne  be- 
gleitende P.  agitans,  ganz  gewöhnliche  Befunde  sind. 

Aus  diesen  Gründen  wird  man  die  Krankheit  nicht  mit  einer 
perivasculären  spinalen  Sklerose  identificiren  dürfen,  sondern  den 
anatomischen  Veränderungen  nur  die  Bedeutung  einer  erworbenen 
Disposition  zuerkennen  können,  die,  auf  Grund  einer  besonderen  biolo- 
gischen Phase  und  durch  das  Hinzutreten  von  Gelegenheitsursachen, 
die  Entstehung  der  Krankheit  vermittelt. 

Wie  aus  den  folgenden  Untersuchungen  hervorgehen  wird,  spielen 
als  veranlassende  Ursachen  psychisches  und  mechanisches  Trauma  eine 
hervorragende  Rolle.  Daran  schliessen  sich  durch  eine  schwere  körper- 
liche   Erkrankung    vermittelte    allgemeine    Ernährungsstörungen    an. 


Paralysis  agitans.  5 

Wahrscheinlich  kann  der  klimacterische  Process  die  gleiche  Bedeu- 
tung gewinnen. 

Die  Entstehung  der  P.  agitans  liesse  sich  somit  in  der  Weise  er- 
klären, dass  man  annimmt,  bei  einem  durch  perivasculäre  sklerotische 
Rückenmarksveränderungen  anatomisch  nicht  integren,  dadurch  dispo- 
nirten,  zudem  in  einer  besonderen  biologischen  Phase  befindlichen  In- 
dividuum wird  durch  eine  accessorische  Schädlichkeit  eine  Störung  der 
Function  gewisser  Rückenmarksgebiete  hervorgerufen,  die  durch  Fort- 
dauer der  Noxe,  anatomische  Läsion  des  getroffenen  Nervengebiets 
u.  a.  in  ihrem  Wesen  noch  dunkle  Factoren  nicht  mehr  zur  Aus- 
gleichung gelangen  kann. 

Die  Annahme,  dass  die  Symptome  der  P.  a.  wesentlich  functionelle 
sind  und  dass  diese  Krankheit  als  eine  Neurose  zu  betrachten  ist, 
scheint  mir  vorläufig  noch  als  eine  berechtigte. 

Bevor  das  Studium  der  Aetiologie  derselben  unternommen  wird, 
möge  die  Frage  nach  dem  Vorkommen  und  der  Häufigkeit 
dieser  Krankheit  eine  Erörterung  finden. 

Charcot  (lecons  I  p.  186)  machte  die  Mittheilung,  dass  unter  den 
in  der  Salpetriere  behandelten  Krankheiten  die  P.  a.  an  5.  Stelle  be- 
züglich ihrer  Häufigkeit  erscheine  und  neben  der  Tabes  rangire. 

Er  berichtet  Mittheilungen  Brown-Sequard's,  dass  die  Krankheit 
in  England  und  Nordamerika  besonders  häufig  vorkomme.  Aus  einem 
statistischen  Bericht  von  Sander  geht  hervor,  dass  von  1855—63  durch- 
schnittlich jährlich  14  Männer  und  8  Weiber  in  England  der  P.  a. 
erlagen.    Berger  zählte  unter  6000  Nervenkranken  37  mit  P.  agitans. 

Besser  illustrirt  die  Häufigkeit  dieser  Krankheit  eine  Berechnung 
von  Eulenburg  (Realencyclop.  2.  Aufl.  XV.  p.  176),  der  von  8900  in 
der  Nervenpoliklinik  behandelten  Kranken  32  (0,36%),  von  1524  in 
der  Privatpraxis  behandelten  14  (0,9  %  )j  m  Summa  unter  10424  Nerven- 
kranken 46  Fälle  von  P.  a.  (0,44%)  fand.  Er  hält  diese  Krankheit 
für  3— 4  mal  seltener  als  Tabes,  für  5  mal  seltener  als  Chorea. 

Ich  selbst  habe  in  Wien  in  den  letzten  6  Jahren  im  Nerven- 
ambulatorium unter  27000  Fällen  53,  in  der  Privatpraxis  unter  7000 
Fällen  24  mit  Par.  ag.  gefunden,  also  unter  34000  77  Fälle  (0,227). 
Diese  Ziffern  sind  erheblich  niedriger  als  die  von  Eulenburg  und  lassen 
vermuthen,  dass  Morbiditätsunterschiede  in  den  verschiedenen  Ländern 
bestehen. 


6  Zur  Aetiologie  der 

Die  folgenden  Untersuchungen  über  die  Aetiologie  der  P.  agitans 
stützen  sich  auf  eine  Centurie  von  Fällen,  die  ich  im  Laufe  der  letzten 
9  Jahre  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte  und  bei  denen  das  Haupt- 
augenmerk auf  die  Ursachen  der  Erkrankung  gerichtet  war.  Es  Hess 
sich  hoifen,  dass  eine  so  grosse  Zahl  von  Fällen  zur  Klärung  ätiolo- 
gischer Fragen  Erhebliches  werde  beitragen  können.  Diese  Erwartung 
hat  sich  aber  nicht  in  vollem  Umfang  bestätigt.  In  einer  Eeihe  von 
Fällen  blieben  die  jedenfalls  endogenen  Ursachen  der  Krankheit  ver- 
schleiert. Im  Grossen  und  Ganzen  bestätigen  meine  Erfahrungen  die 
von  Anderen  bereits  gewonnenen.  Am  nächsten  kommen  meine  Re- 
sultate denen  von  Gowers. 

Von  meinen  100  Fällen  von  P.  agitans  betrafen  60  Männer, 
40  Weiber. 

Den  gebildeten  Ständen  gehörten  an  unter  den  Männern  29,  dem 
Handwerkerstand  31.  Die  entsprechenden  Zahlen  für  die  weiblichen 
Fälle  waren  9  und  31.  Die  Gesammtzahl  der  Patienten  aus  höherem 
Stand  war  somit  38,  aus  niederem  62. 

Höchst  auffällig  war  die  Morbidität  je  nach  dem  Religionsbe- 
kenntniss.  Von  den  100  Fällen  waren  97  österr.-ungarische  Landesange- 
hörige. Der  christlichen  Confession  gehörten  an  65,  der  mosaischen 
32.  Zur  Zeit  der  Aufnahme  meiner  Fälle  betrug  die  Anzahl  der 
Israeliten  in  der  österr.-ungar.  Monarchie  4°/0  der  Bevölkerung.  Die 
Morbidität  der  letzteren  überragte  somit  die  der  christlichen  Be- 
wohner um  etwa  das  8  fache,  ein  weiterer  Beweis  zu  dem  von  Minor 
erbrachten  bezüglich  der  viel  grösseren  Morbidität  der  Israeliten  im 
Gebiet  der  Nervenkrankheiten. 

Bezüglich  des  Alters  zur  Zeit  der  Erkrankung  ergeben  sich  fol- 
gende Zahlenverhältnisse : 

Alter  bei  der  Erkrankung. 
Männer    Weiber 


27-30 

Jahre 

1 

1 

31-35 

n 

— 

1 

36-40 

» 

2 

2 

41-45 

n 

6 

6 

46-50 

» 

8 

6 

51-55 

V 

13 

9 

56-60 

?! 

14 

8 

61-65 

?; 

9 

5 

66-70 

n 

6 

1 

71-75 

n 

1 

1 

60  40. 


Paralysis  agitans.  7 

Die  vorstehende  Tabelle  bestätigt  die  grosse  Seltenheit  der  Krank- 
heit in  jüngeren  Jahren  sowie  im  Greisenalter,  endlich  die  grosse 
relative  Morbidität  vom  41.  bis  zum  65.  Lebensjahr.  Der  grösste 
Procentsatz  fällt  in  das  5.  Decennium  bei  beiden  Geschlechtern.  Es 
mag  dies  damit  zusammenhängen,  dass  diese  Lebenszeit  die  biologische 
Phase  des  Change  of  life,  der  sich  geltend  machenden  Involutionsvor- 
gänge im  Organismus  ist.  Bei  den  weiblichen  Fällen  setzt  die  Krank- 
heit früher  ein  und  sinkt  die  Morbidität  früher  ab  als  bei  den  männ- 
lichen. Es  lässt  sich  dies  wohl  dahin  deuten,  dass  die  P.  a.  eine 
mächtige  Disposition  in  den  In volutions Vorgängen  des  Organismus 
findet  und  dass  diese  früher  und  eingreifender  beim  Weibe  als  beim 
Manne  sich  zu  vollziehen  pflegen.  Ganz  besonders  ergeben  sich  solche 
Gesichtspunkte,  wenn  man  die  in  meiner  Statistik  verwertheten,  nach 
dem  60.  Lebensjahr  aufgetretenen  quasi  tardiven  Fälle  auf  ihre  bio- 
logischen Besonderheiten  untersucht.  Da  zeigt  sich  bei  beiden  Ge- 
schlechtern auch  tardives  Eintreten  der  Involution,  was  sich  bei  den 
weiblichen  Fällen  deutlich  in  einer  Hinausschiebung  der  Menopause 
ausspricht. 

Auch  Eulenburg  findet  die  Zeit  der  grössten  Morbidität  vom 
45. — 65.,  Ordenstein  vom  40. — 50.,  Gowers  vom  50. — 60.  Jahr,  unter 
ausdrücklicher  Betonung  der  Thatsache,  dass  die  Krankheit  wesentlich 
eine  solche  der  regressiven  Lebensperiode,  nicht  aber  des  hohen  Greisen- 
alters ist. 

Veranlagende  Ursachen. 

Hereditäre  oder  familiale  Belastung.  Von  meinen 
40  weiblichen  Fällen  war  bei  35,  von  den  60  Männern  bei  56  die 
Ascendenz  ermittelbar. 

Unter  den  35  Weibern  fanden  sich  nur  bei  5  Nerven-  oder  Hirn- 
krankheiten in  der  Ascendenz  oder  Blutsverwandtschaft,  unter  den 
60  Männern  nur  bei  4  Fällen  und  darunter  nur  bei  einem  gleich- 
förmige familiale  hereditäre  Beziehungen  (P.  agitans  bei  der  Mutters- 
schwester). 

Eulenburg  fand  unter  seinen  46  Fällen  mindestens  3  von  fami- 
lialer  Belastung.  Berger  hat  den  Nachweis  erbracht,  dass  es  Fälle 
von  familialem  Vorkommen  der  Krankheit  gibt.  Er,  gleichwie  Gowers 
nahmen  hereditäre  Beziehungen  bei  15  "/„  ihrer  Fälle  an.  Noch 
grösseren  Einfluss  räumen  der  erblichen  Belastung  Leroux  (contribut. 
ä  letude  des  causes  de  la  p.  a.  These  de  Paris  1886)  und  L'hirondel 
(antecedents  et  causes  de  la  maladie  de  Parkinson,  These  de  Paris 
1883)  ein. 


8  Zur  Aetiologie  der 

Angeborene  nicht  hereditäre  Belastung.  Eine  solche 
in  Gestalt  neuropathischer  Constitution  fand  sich  bei  meinen  Fällen 
nur  bei  2  Männern,  dagegen  bei  8  Frauen.  Diese  Ziffern  differiren 
erheblich  von  Eulen  bürg,  der  circa  200/ü  neuropathische  Belastung 
berechnet  und  von  Berger,  der  diesen  Factor  auf  11,5%  beziffert. 

Selbst  diese  Procentsätze  sind  nicht  erheblich  und  dürften  dem 
Procentsatz  der  Nervosität  in  Culturländern,  insbesondere  Grossstädten 
entsprechen.  Jedenfalls  ist  die  Annahme  gerechtfertigt,  dass  erbliche 
Belastung  und  neuropathische  Constitution  bei  der  in  Bede  stehenden 
Krankheit  eine  geringfügige  Bolle  spielen,  diese  vielmehr  in  der 
Häufung  erworbener  Schädigungen  des  Nervensystems  und  dem  Hin- 
zutreten von  zufälligen  Noxen  in  einer  bestimmten  biologischen  Phase 
ihre  Begründung  findet. 

Erworbene  Schädigungen  des  Nervensystems.  Lues 
war  in  meinen  Fällen  nur  bei  2  Männern  anamnestisch  nachweisbar, 
in  keinem  weiblichen  Falle. 

Potus  nimius  war  bei  5  Männern  zu  verzeichnen.  An  chro- 
nischem Muskelrheumatismus  durch  refrigeratorische  Schädlich- 
keiten hatten  4  Männer  gelitten. 

Surmenage,  theils  geistig,  theils  körperlich  hatten  verfrühtes 
Altern  bei  5  Männern  und  4  Frauen  hervorgebracht.  Jahrelange 
Kränkungen  und  Emotionen  waren  bei  2  Männern  und  5  Weibern 
vorausgegangen.  Ausgesprochene  Atherose  zur  Zeit  der  Erkrankung 
fand  sich  bei  7  Männern  und  2  Weibern,  bei  den  letzteren  zugleich 
mit  Senium  praecox. 

Im  directen  Anschluss  an  das  Klimacterium  erkrankten 
7  Frauen. 


Veranlassende  Ursachen. 

Männer 

Weiber 

Psychisches  Trauma                      13 

9 

Mechanisches  äusseres  Trauma      4 

1 

Durchnässung                                  6 

1 

Apoplec tisch  er  Insult                      2 

0 

Acute  Krankheiten                          6 

4 

Change  of  life  (Klimacterium)      10 

7 

unbekannt                                      19 

18. 

Eine  hervorragende  Bolle  spielt  in  der  obigen  Tabelle  das 
psychische  Trauma.  In  den  einzelnen  Fällen  handelte  es  sich 
um  heftige   psychische  Erschütterungen   durch  plötzliche  Todesgefahr, 


Paralysis  agitans.  9 

unvorhergesehenen  Tod  nahestehender  Personen.  Schreck  durch  Feuers- 
hrunst,  Diebstahl,  jähen  Verlust  des  Vermögens  und  dgl.  In  der 
grossen  Mehrzahl  der  Fälle  begann  die  P.  a.  binnen  Tagen  bis  Wochen 
nach  dem  Shok.  Die  Bedeutung  des  psychischen  Trauma's  für  die 
Entstehung  der  Krankheit  ist  längst  erkannt.  Schon  van  Swieten 
erwähnte  eines  Mannes,  der,  durch  einen  Donnerschlag  erweckt,  P.  a. 
bekam.  Oppolzer  beobachtete  einen  gleichen  Fall  bei  einem  Manne  aus 
Schreck  über  eine  neben  diesem  platzende  Bombe.  Drei  analoge 
Fälle,  die  sich  auf  die  Schrecken  des  Bombardements  von  Strassburg 
zurückführen  Hessen,  berichtete  Kohts.  Hillairet  konnte  bei  einem 
Mann  die  Entstehung  des  Leidens  auf  den  Schreck  zurückführen,  den 
dieser  als  Augenzeuge  der  Ermordung  seines  Sohnes  erfuhr. 

Weitere  derartige  Fälle  haben  Hardy,  Rabot,  Charcot  beigebracht. 
Der  letztere  Forscher  stellte  psychisches  Trauma  ätiologisch  in  erste 
Linie  und  machte  darauf  aufmerksam,  dass  die  Krankheit  fast  der 
psychischen  Commotion  auf  dem  Fusse  folgen  kann. 

Physisches  Trauma.  Dasselbe  reiht  sich  in  seiner  Bedeutung 
direct  an  das  psychische. 

Tu  meiner  Statistik  spielt  dasselbe  gegenüber  anderen  eine  wohl 
zufällig  geringere  Rolle,  insofern  es  nur  in  5  Fällen  auslösend  wirkt. 

In  4  derselben  handelte  es  sich  um  Contusionen  oder  Distorsionen 
von  Gelenken.  In  allen  begann  die  Krankheit  von  der  Stelle  des 
Trauma's  aus,  bezw.  in  der  betr.  Extremität.  Besonders  bemerkenswerth 
war  ein  Fall,  wo  der  Ausbruch,  entgegen  der  gewöhnlichen  primären 
Localisation  in  den  Oberextremitäten,  in  der  traumatisch  afficirten 
Unterextremität  erfolgte. 

Sehr  bezeichnend  war  der  Fall  eines  Malers,  der,  beruflich  über- 
angestrengt und  seit  einiger  Zeit  marastisch  geworden,  an  der  Hand, 
mit  welcher  er  die  Palette  zu  halten  pflegte,  die  Krankheit  zuerst 
bemerkte,  nachdem  ihm  schon  längere  Zeit  überaus  rasche  Ermüdung 
an  eben  dieser  Hand  aufgefallen  war. 

Eine  werthvolle  Studie  über  die  Bedeutung  des  physischen  Trauma's 
für  die  Entstehung  der  Krankheit  hat  Dr.  Walz  „Die  traumatische 
Paral.  agitans"  in  der  Vierteljahrschr.  f.  ger.  Med.  3.  Folge  XII.  1896 
veröffentlicht. 

Sie  umfasst  fast  alle  Fälle  der  Literatur,  darunter  5  irrthümlich 
für  P.  a.  gehaltene,  mit  Genesung  endigende  und  wohl  dem  Gebiet 
der  Hysterie  zuzuweisende,  dann  10  mit  nicht  sicherer  Diagnose  oder 
unsicherem  Trauma,  14  sichere  aber  unvollkommen  mitgetheilte,  endlich 
27  genau  referirte,  die  eine  wissenschaftliche  Verwerthung  gestatten. 

Bei  diesen  27  Fällen  war  die  Art  des  Trauma's  allgemeine  Er- 


10  Zur  Aetiologie  der 

schütterung  6  mal,  Verwundung  (Stich,  Schnitt)  7,  Verbrennung  1, 
Erfrierung  1,  Distorsion,  Luxation  oder  Fractur  4,  Contusion  und  dgl. 
8  mal. 

In  8  Fällen  entwickelte  sich  die  Krankheit  sofort,  in  7  nach 
Tagen,  in  7  nach  1—4  Monaten,  in  4  nach  1—4  Jahren.  Der  ätio- 
logische Zusammenhang  in  diesen  letzteren  tardiven  Fällen  war  deutlich 
durch  „Brückensymptome"  d.  h.  Schmerzen,  Schwäche,  Steifigkeit  im 
verletzten  Glied,  ferner  durch  den  Umstand,  dass  die  Krankheit  ihren 
Anfang  in  diesem  nahm. 

Diese  Thatsache  der  localen  Entstehung  an  der  Stelle  des  ur- 
sprünglichen Trauma's  ergab  sich  in  allen  Fällen  von  localisirter  Ver- 
letzung, die  zu  P.  a.  führte.  In  5  Fällen  handelte  es  sich  um  Ver- 
letzung der  Unterextremitäten  und  entsprechendem  Beginne  daselbst, 
während  da  wo  allgemeines  Trauma  (Erschütterung)  wirksam  wurde, 
die  Krankheit  in  klassischer  Weise  immer  in  einer  OE.  begonnen  hatte. 

Prädispositionen  fand  Verf.  nur  ausnahmsweise  (lmal  Heredität, 
zuweilen  Rheuma,  Potus,  Kummer).  Bekanntlich  hat  sich  schon  Charcot 
mit  dem  Studium  der  traumatischen  P.  agitans  beschäftigt.  Er  ver- 
muthete  als  Vermittler  zwischen  Trauma  und  Krankheit  Neuritis 
ascendens,  welche  Annahme  Vandier  u.  A.  nur  bei  besonderer  (heredi- 
tärer) Veranlagung  gelten  lassen.  Walz  betont  mit  Recht,  dass  eine 
solche  nicht  unerlässlich  sei,  aber  immerhin  eine  Disposition  zur  Er- 
krankung darstellen  können.  Jedenfalls  könne  eine  traumatische  P.  a. 
nur  auf  Grund  eines  veränderten  Nervensystems  gedacht  werden. 
Diese  Veränderung  kann  angeboren  (Heredität),  sonstwie  erworben 
(Rheuma,  Potus  u.  s.  w.)  oder  erst  durch  das  Trauma  hervorgerufen  sein. 
Besonderen  Werth  legt  Walz  mit  Recht  auf  gewisse  Altersdispositionen. 

Das  Trauma  ist  erfahrungsgemäss  meist  geringgradig.  Gowers 
hält  den  mit  dem  Trauma  verbundenen  psychischen  Shok  (Schreck) 
für  das  möglicherweise  entscheidende  Moment,  eine  Annahme,  die  aber 
sich  nicht  gut  mit  der  mit  der  Stelle  des  Trauma's  zusammenfallenden 
und  vielfach  ganz  atypischen  ursprünglichen  Localisation  der  Krank- 
heit zusammenreimen  lässt.  Die  Arbeit  von  Walz  enthält,  abgesehen 
vom  thatsächlichen  Material,  erschöpfende  Literaturangaben. 

An  das  physische  Trauma  lassen  sich  wohl  die  (7)  Fälle  meiner 
Statistik  in  Gestalt  von  heftiger  Durchnässung,  die  ja  auch  eine  Art 
mechanisches  Trauma  darstellt,  anreihen,  endlich  die  2  JJälle  von 
Erschütterung  des  Nervensystems  in  Gestalt  eines  apoplectischen  Insults. 

Acute  Krankheiten,  die  schwer  die  Gesammternährung  des 
Körpers    schädigten  und  mehr  weniger   den  Beginn  der  regressiven 


Paralyais  agitans.  11 

Lebensperiode  inaugurirten,  erscheinen  ätiologisch  in  meiner  Statistik 
mit  10  °/0. 

3  mal  handelte  es  sich  um  Rheumatismus  articul.  acut.,  je  1  mal 
um  Erysipel,  Enteritis,  Botulismus,  je  2  mal  um  Pneumonie  und 
Influenza.  Die  Betreffenden  erholten  sich  nicht  recht  von  ihrer  über- 
standenen  Krankheit,  alterten  rasch,  wurden  marastisch  und  verfielen 
binnen  3  Wochen  bis  4  Monaten  der  P.  a. 

Klimacterium.  Bei  7  Frauen  unter  40  entwickelte  sich  die 
Krankeit  ohne  weitere  Gelegenheitsursachen  im  unmittelbaren  An- 
schluss  an  das  Klimacterium,  das  schon  im  38. — 44.  Jahre  sich  ein- 
gestellt hatte.  Nur  in  einem  Falle  bestand  eine  Prädisposition  (Vater 
irrsinnig  gewesen,  Pat.  Constitutionen  neurasthenisch). 

Auch  bei  10  Männern  meiner  Statistik  trat  die  Krankheit  ohne 
alle  Gelegenheitsursachen  unter  Vorausgehen  und  in  Begleitung  von 
Involutionsvorgängen  am  Körper  ein,  die  im  Sinne  eines  „Ohange 
of  life"  sich  deuten  Hessen  und  offenbar  der  Ausdruck  von  das  Senium 
anbahnenden  Veränderungen  waren. 

Jedenfalls  ist  man  berechtigt,  auch  für  den  Mann  eine  klimac- 
terische  biologische  Periode  anzunehmen,  die  den  Uebergang  von  der 
vollen  Rüstigkeit  zum  beginnenden  Senium  darstellt  und  sich  psychisch 
in  Nachlass  der  Spann-  und  Thatkraft,  der  gemüthlichen  Erregbarkeit, 
Neigung  zu  Ruhe  und  Beschaulichkeit,  sexuell  im  Absinken  der 
Libido  sexualis  documentirt,  womit  vielfach  sich  ein  gewisses  Embon- 
point  einstellt. 

Diese  Involutionszeit  des  männlichen  Organismus  ist  zeitlich  nicht 
so  begrenzt,  wie  beim  Weibe  und  geht  nicht  mit  so  prägnanten  körper- 
lichen Erscheinungen  einher,  wie  bei  diesem.  Immerhin  bieten  Neigung 
zu  Fluxionen  zum  Gehirn,  Schwindel,  anfängliche  nervöse  Störungen 
Analogien  mit  Dem  was  beim  Weibe  beobachtet  wird. 

Diese  klimacterische  Zeit  beginnt  bei  den  meisten  Männern  um 
das  55.  Lebensjahr,  bei  besonders  gut  constituirten  und  geschonten 
erst  Anfang  der  60  er  Jahre,  bei  schlecht  constituirten,  durch  geistige 
oder  körperliche  Ueberanstrengung  strapazirten,  durch  Ausschweifungen 
(Alkohol)  oder  Krankheiten  (besonders  Lues)  havarirten  schon  viel 
früher,  etwa  um  das  50.  Lebensjahr  oder  noch  vorher. 

In  diesen  letzteren  Fällen  ist  diese  Involutionszeit  eine  nur  kurze 
Prodromalperiode  eines  Senium  (praecox)  mit  den  entsprechenden 
physischen  (rasch  überhand  nehmende  Atherose  u.  A.)  und  psychischen 
Erscheinungen. 

Die  sich  unter  solchen  Bedingungen  beim  Manne  entwickelnde 
Paralysis  agitans  scheint  mit  den  Involutionsvorgängen  im  centralen 


12  Zur  Aetiologie  der 

Nervensystem  in  ätiologischen  Zusammenhang  gebracht  werden  zu 
müssen.  Es  handelt  sich  hier  offenbar  um  analoge  Bedingungen  wie 
da,  wo  die  Krankheit  beim  Weib  sich  aus  dem  Klimacterium  heraus 
entwickelt  und  um  eine  Bestätigung  der  Ansicht  von  Gowers  u.  A., 
dass  in  der  Phase  der  Involution  oder  Eegression  der  Mensch  am 
meisten  in  Gefahr  steht,  an  P.  agitans  zu  erkranken,  während  das 
eigentliche  Greisenalter  fast  völlige  Immunität  gewährt. 

Meine  10  männlichen  Fälle,  die  ich  mit  Involutionsvorgängen  in 
ursächlichen  Zusammenhang  zu  bringen  mich  berechtigt  glaube,  waren 
sämmtlich  hereditär  und  sonstwie  unbelastet  gewesen,  aber  bei  einigen 
hatten  frühere  Krankheiten,  besonders  chronischer  Rheumatismus,  bei 
fast  allen  geistige  oder  körperliche  Ueberarbeitung  die  Constitution 
untergraben  und  frühes  Altern  bewirkt.  Drei  darunter  waren  jüdische 
Hausierer   gewesen.     In   einem  Fall   war  Lues   im  Spiel,   hatte  mit 

47  Jahren  zum  Ausbruch  von  Tabes  geführt,  zu  welcher   dann  mit 

48  Jahren  sich  P.  agitans  hinzugesellte. 

Auch  in  den  übrigen  Fällen  hatte  diese  Krankheit  auffallend 
früh  eingesetzt  (1  mit  46,  1  mit  48,  1  mit  51,  2  mit  52,  1  mit  53, 
3  mit  58  Jahren).  Dies  spricht  zu  Gunsten  der  Richtigkeit  obiger 
Annahme. 

Anhang:  Die  vorzeitige  Paralysis  agitans. 

Gegenüber  den  vorstehenden  Ermittlungen  über  die  ätiologischen 
Bedingungen  der  P.  agitans  erscheint  die  Thatsache  des  Vorkommens 
dieser  Krankheit  lange  vor  dem  Alter  der  Involution,  jedenfalls  vor 
dem  40.  Lebensjahr,  sehr  bemerkenswert!!  und  zum  Studium  der  Ur- 
sachen herausfordernd.  Hier  kann  nicht  von  prädisponirenden  Be- 
dingungen im  Sinne  perivasculärer  Sklerose  oder  des  Klimacteriums 
die  Rede  sein. 

Versucht  man,  die  in  der  Literatur  und  in  eigener  Erfahrung 
sich  ergebenden  Fälle  zusammenzustellen,  so  ergibt  sich  die  grosse 
Seltenheit  wirklicher  Paral.  agitans,  sobald  man  die  Diagnose  scharf 
ins  Auge  fasst. 

Einer  der  bemerkenswerthesten  Fälle  von  angeblicher  infantiler 
Paralysis  agitans  ist  der  von  Huchard  (Union  medicale  XIX  p.  76)  1875 
veröffentlichte. 

Beob.  Junges  Mädchen  von  18  Jahren.  Seit  dem  3.  Lebensjahr  auf 
den  1.  Arm  beschränktes,  in  Form  schneller,  regelmässiger  Zuckungen  von 
geringer  Excursionsweite,  wodurch  die  Hand  beständig  von  rechts  nach  links 
und  umgekehrt  geführt  wird,  erfolgendes  Zittern,  das  in  der  Ruhe  beob- 
achtet wird,   emotionell  sich  steigert  und  im   Schlafe  cessirt. 


Paralysis  agitans.  13 

Die  in  Rückenlage  ruhigen  TJE.  zeigen,  wenn  erhoben  (1.  >  r.),  kaum 
bemerkliche  Oscillationen.  Das  Zittern  der  1.  TJE.  war  früher  stärker  — 
Pat.  ging  etwas  schwierig  und  leicht  hüpfend.  Auch  an  r.  OE.  minimales 
Zittern,  dito  an  der  vorgestreckten  Zunge.  Kein  Nystagmus ;  Sprache  nicht 
gestört.  Schreiben  erschwert  (unregelmässige  Buchstaben ,  Zitterschrift). 
Beim  Gehen  leicht  vorgebeugte  Haltung.  Zeitweise  maskenartig  starre  Züge. 
Nirgends  Rigor,  keine  charakteristische  Handstellung.  Zeitweise  neuralgi- 
forme  Schmerzen,  besonders  in  1.  OE.  Crampi  in  einzelnen  Gliedern. 
Sensibilität  intact.  Pat.  sehr  emotiv,  von  geringer  Intelligenz  und  wenig 
Gedächtniss.  Keine  hereditäre  Belastung.  Pat.  war  angeblich  nie  krank 
gewesen.  Verf.  lehnt  natürlich  multiple  Sklerose  und  Hysterie  ab  und  hält 
den  Fall  für  einen  echten  von  Paral.  agitans. 

Dass  dieser  Fall  kein  solcher  ist,  bedarf  heutzutage  keines  Be- 
weises mehr.  Man  ist  versucht,  dieses  stationäre  Zittern  als  posthemi- 
plegische  Neurose  im  Anschluss  an  eine  infantile  Heerderkrankung 
(Polioencephalitis),  analog  einer  Hemiathetose  zu  deuten. 

Geht  man  der  Casuistik  der  infantilen  Fälle  in  der  Literatur 
weiter  nach,  so  findet  sich,  soweit  sie  mir  zugänglich  war,  nirgends 
ein  Fall,  welcher  die  gestellte  Diagnose  rechtfertigte.  Offenbar  haben 
früher  choreatische  Bilder,  namentlich  posthemiplegische,  Fälle  von 
multipler  Sklerose  u.s.w.  eine  Paralysis  agitans  vorgetäuscht.  Mit  Be- 
stimmtheit kann  man,  trotz  Charcot,  der  1875  noch  die  Heilbarkeit 
der  P.  a,  behauptete  (vgl.  Denombre,  „Maladie  de  Parkinson"  Paris  1880 
p.  58)  Fälle  von  angeblich  geheilter  P.  a.,  ja  selbst  durch  viele  Jahre 
stationärer,  von  der  Discussion  ausschliessen. 

In  dem  mir  leider  im  Original  nicht  zugänglich  gewesenen  British 
med.  Journal  1873  1.  u.  8.  März  hat  Jones  einen  Fall  angeblicher 
P.  a.  bei  einem  17  jährigen  Mädchen  veröffentlicht.  Die  Beschreibung 
desselben  spricht  durchaus  für  Chorea.  Auch  die  Behauptung  des 
Verf.,  dass  die  Therapie  bei  jungen  Leuten  nicht  hoffnungslos  sei,  muss 
zur  Vorsicht  in  der  Beurtheilung  mahnen.  Der  von  Duchenne  in  der 
These  de  Paris  Fernet's  1872  berichtete  Fall,  ein  Mädchen  von 
16  Jahren  betreffend,  scheint  mir  ebenfalls  nicht  als  P.  a.  zu  deuten, 
ebensowenig-  der  im  Journal  de  med.  et  de  Chirurg,  pratique  1874  Sept. 
mitgetheilte  Fall  von  Erkrankung  eines  Mädchens  durch  Schreck. 

Bemerkenswerth  ist  auch  ein  Fall  von  Meschede  (Virchow's 
Archiv  50  p.  297).  Ein  Junge  erhielt  mit  12  Jahren  einen  Hufschlag 
ins  Gesicht.  Leider  sind  nur  Fragmente  einer  Krankheitsgeschichte 
mitgetheilt.  (Neben  P.  a.  artigen  Erscheinungen  solche  von  Aphasie, 
Zwangsbewegungen  im  Sinue  von  tiiebartigem  Vorwärtslaufen.)  Bei 
der  Section  des  mit  25  Jahren  Gestorbenen  fand  sich  Sklerose  und 
graue  Degeneration  im  Centralnervensysteni ! 


14  Zur  Aetiologie  der 

Unzweifelhaft  werden  auch  manche  Fälle  angeblicher  P.  a.  durch 
Hysterie  vorgetäuscht. 

Neubert,  Jahrb.  f.  Kinderheilkunde,  VIII  p.  378,  XI  p.  435,  be- 
richtet die  Geschichte  eines  11jährigen  Knaben,  der  von  einem  Mit- 
schüler in  den  rechten  Vorderarm  gebissen,  an  rhythmischem  Schüttel- 
tremor  erkrankte  und  davon  nach  14  Monaten  genas. 

In  der  These  von  Laroux  über  P.  a.  findet  sich  p.  19  ein  Fall 
von  Doos.  Er  betrifft  ein  19  Jahre  altes  Mädchen,  das  sich  einen 
Dorn  unter  einen  Zehennagel  einstiess,  localen  Zitterkrampf  dann  bald 
rechts  bald  links  bot  und  nach  10  Tagen  gesund  wurde. 

Auch  bei  den  postpubischen,  noch  jugendliche  Individuen  betreffen- 
den Fällen  ist  die  gestellte  Diagnose  nicht  immer  unanfechtbar,  so  in 
einem  von  Leyden  (Virchow's  Archiv  XXIX  1.  2)  mitgetheilten  Falle 
eines  24jährigen  Soldaten,  bei  dem  ein  Sarcom  im  linken  Thalamus  opt. 
die  Ursache  eines  rechtsseitigen  Zitterkrampfs  gewesen  zu  sein  scheint; 
ferner  bei  Fioupe  (Journal  de  med.  et  de  Chirurg,  pratique  1874  p.  389), 
wo  ein  junges  Mädchen  aus  Schreck  über  eine  platzende  Granate 
erkrankt  sein  soll.  Fälle  von  Buzzard,  einen  21jährigen  Mann,  von 
Berger,  ein  17jähriges  Mädchen  betreffend,  waren  mir  nicht  zugänglich. 

Einen  Fall  von  Oppenheim  (Chariteannalen  XIV  p.  145)  berichtet 
(Mann,  Sturz  auf  den  Kopf,  allgemeines  Zittern,  conc.  Einengung  des 
Gesichtsfelds)  wurde  anfangs  für  P.  a.  gehalten,  aber  vom  Verf. 
später  als  „Pseudoparalysis"  (wohl  hysterische  traumatische  Neurose) 
selbst  erklärt. 

Analog  dürfte  wohl  auch  ein  Fall  von  Ewald  (Monatsschrift  für 
Unfallheilkunde  1894  p.  216)  zu  deuten  sein  (Telephonistin.  Nach 
heftigem  elektrischem  Schlag  bewusstlos,  dann  rechts  Hemiplegie  und 
Entwicklung  von  Zittern,  wie  bei  P.  agitans);  ferner  ein  Fall  von 
Heimann  (Die  Paral.  agit.  Fall  20):  Mann  54  Jahre.  Hat  vor 
20  Jahren  ein  Trauma  capitis  erlitten,  bot  seither  Erscheinungen  sog. 
traumatischer  Neurose  und  ein  P.  agitans  ähnliches  Zittern,  das  aher 
durch  psychischen  Einfluss  sehr  modificirt  und  sogar  zum  Sistiren 
gebracht  werden  konnte. 

Ein  älterer  Fall  von  Volz  (Heidelberger  Annalen  XII  2)  betrifft 
ein  30  jähriges  Fräulein  mit  Schüttelkrampf  des  Kopfes,  der  Genesung 
fand  und  nur  als  hysterisch  gedeutet  werden  kann. 

Es  wäre  jedenfalls  eine  dankenswerthe  Aufgabe,  wenn  Jemand 
sich  der  Mühe  unterziehen  wollte,  alle  Fälle  von  infantiler  und  über- 
haupt vorzeitiger  P.  agitans  auf  ihre  Berechtigung  zu  prüfen.  Wahr- 
scheinlich würde  sich  dann  ergeben,  dass  in  den  2  ersten  Lebens- 
decennien  die  Krankheit  gar  nicht  existirt, 


Paralysis  agitans.  15 

Von  welcher  Lebenszeit  ab  man  auf  ihr  Vorkommen  gefasst  sein 
muss,  dürfte  einstweilen  offene  Frage  bleiben.  In  unanfechtbaren 
Fällen  (z.  B.  von  L'hirondel,  Siotis,  Bechet  u.  A.)  spielen  mechanische 
Traumen  offenbar  eine  hervorragende  Rolle.  Die  betreffenden  Patienten 
erkrankten  mit  37,  38,  37  Jahren.  In  einem  Falle  Westphal's  (Charite- 
annalen  IV  p.  105)  weiterbeobachtet  von  Heimann  (Paralysis  agitans, 
Berlin  1888.  Beob.  12)  erkrankte  ein  Mann  mit  33  Jahren  angeblich 
nach  einer  heftigen  Verkühlung,  in  einem  anderen  Fall,  den  Heimann 
berichtet  (Beob.  15),  war  die  muthmassliche  auslösende  Ursache  der 
Krankheit  bei  dem  33  Jahre  alten  Mann  das  angestrengte  Halten 
einer  Elektrode  in  der  linken  Hand  bei  Selbstfaradisation  wegen 
Facialislähmung.  Diese  beiden  sind  die  einzigen  Fälle  vor  dem  40.  Jahr 
innerhalb  einer  Casuistik  von  19  Fällen.  Ordenstein  fand  1868  unter 
30  Fällen  von  P.  agitans  6,  die  vom  30. — 40.  Jahr  entstanden  waren. 
In  der  Arbeit  von  Walz  über  traumatische  P.  agitans  finden  sich 
unter  27  Beobachtungen  nur  3  als  vor  dem  40.  Jahr  entstandene. 

Gowers  fand  von  seinen  Fällen  nur  den  neunten  Theil  im  Alter 
von  30—40  Jahren  erkrankt.  Die  folgenden  vorzeitigen  7  Fälle  aus 
meinem  Beobachtungskreise  sind  die  einzigen  unter  131  sicheren 
Fällen  von  P.  agitans.  Sie  repräsentiren  die  gewöhnliche  Aetiologie 
der  spätzeitigen  Fälle.  Eine  besondere  Veranlagung  muss  Angesichts 
solcher  Beobachtungen  zugestanden  werden.  Ihr  Wesen  ist  aber  ganz 
dunkel.  Dass  die  Krankheit  vor  dem  40.  Jahr  auftreten  kann,  muss 
ohne  Weiteres  zugegeben  werden,  aber  es  bedarf  jedenfalls  sorgfältiger 
Diagnose  im  Einzelfall,  um  ihn  als  vollwerthig  anzuerkennen. 

Beob.  1.  P.,  32  J.,  verh.,  Geschäftsmann,  israelit.  Confession,  aus 
gesunder  Familie,  von  Krankheiten  verschont,  bis  auf  Typhus  mit 
10  Jahren,  nie  schweren  Erkältungen  oder  Strapazen  ausgesetzt,  er- 
krankte im  Mai  1892  (mit  30  Jahren)  mitten  aus  voller  Gesundheit 
an  Paralysis  agitans. 

Als  einzige  Ursache  sind  schwere  Gemüthsbewegungen  eruirbar. 
Pat.  hatte  in  Folge  verschiedener  Umstände  bis  1891  seiner  Militär- 
pflicht nicht  genügt. 

Im  Herbst  1891  sollte  er  assentirt  werden.  Diese  Aussicht  emotio- 
nirte  ihn  ausserordentlich.  In  grösster  Angst  und  Erregung  brachte 
er  mehrere  Monate  zu.  Dazu  kam  ein  ungerechtfertigter  Verdacht 
eines  versuchten  Betruges  und  die  Gefahr  einer  drohenden  Verhaftung. 

Er  wurde  schuldlos  erkannt,  auch  nicht  assentirt,  aber  der  Schreck 
lag  ihm,  wie  er  sagt,  noch  Monate  lang  in  den  Gliedern. 

Im  Mai  1892  begann  Zittern  und  Schwäche  in  der  r.  Hand.    Dieses 


16  Zur  Aetiologie  der 

Zittern  war  grosswellig,  in  der  Art  des  Pillendrehens,  emotionell  sehr 
gesteigert,  bei  psychischer  Ruhe  kaum  wahrnehmbar,  im  Schlafe 
cessirend.  Er  .konnte  nicht  mehr  schreiben,  auch  wurde  die  r.  Hand 
schwach. 

Im  August  1892  stellten  sich  Zittern  und  Schwäche  auch  im  r. 
Fuss  ein.  Im  März  1894  gesellte  sich  Tremor  capitis  hinzu,  auch  fand 
Pat,  dass  sein  Sprachmechanismus  schwerer  ansprach. 

Stat.  praes.  24.  9.  1894. 

Mittelgrosser,  graciler  Mann,  Vater  von  2  gesunden  Kindern. 
Schädel  normal,  keine  Degenerationszeichen.  Augenbewegungen  frei, 
Visus  normal,  Augenspiegelung  ohne  Befund,  Pupillen  normal,  kein 
Nystagmus,  Psyche  unbetheiligt.  Miene  leicht  starr.  Bei  mimischen 
Bewegungen  wird  die  r.  Gesichtshälfte  weniger  und  später  innervirt 
als  die  linke. 

Auch  in  der  Ruhe  besteht  leichtes  Zittern  des  Kopfes  in  der 
verticalen  Ebene. 

Die  r.  Oberextremität  ist  im  Ellbogengelenk  gebeugt,  die  r. 
Hand  in  klassischer  Stellung,  die  Bewegungen  der  r.  Fingergelenke 
sind  etwas  gehemmt,  schwerfällig.  Tremor  besteht  nur  in  Ruhe,  in- 
tendirte  Bewegungen  machen  ihn  momentan  verschwinden.  Die  tiefen 
Reflexe  sind  in  der  r.  OE.  stark  gesteigert,  die  grobe  Muskelkraft  ist 
etwas  herabgesetzt.  Sensibilität  normal.  An  der  1.  OE.,  ausser  Steige- 
rung der  tiefen  Reflexe  und  beginnender  klassischer  Handstellung,  nichts 
Abnormes.  An  der  r.  UE.  Amyosthenie,  leichter  Tremor  in  Ruhe- 
stellung, beim  Gehen  leichtes  Anstreifen  des  r.  Fusses,  Fussklonus, 
sehr  gesteigerter  Patellarreflex,  kein  Rigor,  normale  Sensibilität. 

An  der  1.  UE.  ist,  ausser  gesteigertem  Patellarreflex,  nichts  Patho- 
logisches nachzuweisen.  Der  Oberkörper  ist  leicht  vorwärts  geneigt. 
Andeutung  von  Retropulsion.  Leichte  Bradyphasie.  Keine  Hitzege- 
fühle, kein  vermehrtes  Schwitzen.  Psyche  unbetheiligt,  vegetative 
Functionen  normal. 

Ein  neuerlicher  Stat.  praes.  vom  18.  6.  1896  ergab  folgenden 
Befund: 

Klassische  Haltung  des  Gesammtkörpers  (Ueberhängen  nach  vorn, 
Kinn  der  Brust  genähert,  OE.  an  den  Thorax  gepresst,  im  Ellbogen- 
gelenk gebeugt,  klassische  Handstellung,  Kniee  eingesunken,  kurze, 
trippelnde  Schritte,  Füsse  am  Boden  scharrend,  Steifigkeit  und  geringe 
Beweglichkeit  in  den  Gelenken]. 

Seit  Ende  1894  Zittern  auch  in  1.  OE.,  bald  darauf  in  1.  UE. 
Seither  auch  bilateraler  Rigor,  rasche  Ermüdung,  allgemeine  Amyo- 
sthenie, abnorme  Hitzegefühle,  profuses  Schwitzen. 


Paralysis  agitans.  17 

Im  Juni  1896  Miene  vollkommen  starr,  schwer  anspruchsfällig.  All- 
gemeiner Tremor,  gelegentlich  auch  in  der  Unterlippe ;  Rigor,  tiefe  Re- 
flexe allenthalben  sehr  gesteigert,  beiderseits  Fussklonus.  Klagen  über 
erschwertes  Ansprechen  der  Zunge,  aber  objectiv  nur  zeitweise  und 
geringfügige  Bradyphasie.  Gefahr,  beständig  den  Schwerpunkt  nach 
vorne  zu  verlieren,  keine  Propulsion,  wohl  aber  deutliche  Retropulsion. 
Grosse  Schwierigkeit  der  Drehung  um  die  Längsaxe  in  liegender 
Position.    Psyche  intact. 

Beob.  2.  Dr.  Z.,  Arzt,  46  J.  alt,  consultirte  mich  im  August  1887 
wegen  eines  Nervenleidens,  das  von  einem  hervorragenden  Arzt  für 
einen  Tumor  cerebri  gehalten  worden  sei. 

Pat.  ist  unbelastet,  hat  keine  schweren  Krankheiten  überstanden, 
aber  viel  mit  Sorgen  zu  kämpfen  gehabt  und  sich  in  seiner  beschei- 
denen Praxis  viel  geplagt. 

Vor  7  Jahren  (im  39.  Lebensjahr)  stellte  sich  ohne  eruirbare  Ur- 
sache ein  Schwächegefühl  in  der  r.  Hand  ein,  wozu  sich  nach  einigen 
Monaten  Rigor  der  r.  OE.  gesellte.  Vor  4  Jahren  trat  ein  gross- 
welliger, vorwiegend  in  der  Ruhe  wahrzunehmender,  langsam  schlägiger 
Tremor  in  dieser  Extremität  hinzu,  während  Schwäche  und  Rigor  sich 
steigerten. 

Seit  3  Monaten,  im  Anschluss  an  Gemüthsbewegungen,  hatten  sich 
Rigor  und  Schwäche  nebst  Zittern  auch  in  der  r.  UE.  und  seit 
2  Monaten  auch  in  der  1.  OE.  hinzugesellt. 

Der  Stat.  praes.  ergab  das  klassische  Bild  einer  P.  agitans- 
Schwäche,  erschwerte  Anspruchsfähigkeit,  Tremor  der  ergriffenen  Ex- 
tremitäten, beginnender  Tremor  capitis,  erschwertes  Umdrehen,  ab- 
norme Hitzegefühle,  gesteigerte  tiefe  Reflexe. 

Beob.  3.  R.,  Marie,  40  J.,  Arbeiterfrau,  aufg.  15.  6.  1892,  stammt 
aus  gesunder  Familie,  behauptet  früher  gesund  gewesen  zu  sein.  Sie 
hat  hydrocephalen  Schädel,  hat  6  gesunde  Kinder  geboren,  Anfang  1889 
einen  uncomplicirten  Abortus  durchgemacht.  Grosser  Blutverlust. 
Einige  Wochen  darnach  begann  Schwäche,  dann  Zittern  in  der  1.  OE., 
bald  darauf  auch  der  1.  UE.  Seit  Anfang  1890  verspürt  sie  auch 
Schwäche  und  Zittern  in  r.  OE. 

Bei  Aufnahme  des  Stat,  praes.  rüstige  Frau,  keine  Spuren  von 
Atherose.  Linksseitige  klassische  Schüttellähmung,  Tremor  bei  Inten- 
tion vorübergehend  ganz  schwindend.  Erhebliche  Herabsetzung  der 
groben  Muskelkraft  in  den  befallenen  Extremitäten.  Keine  Rigidität. 
Anstreifen  der  1.  UE.  beim  Gehen.  Tiefe  Reflexe  an  OE.  und  UE. 
sehr  prompt,    Behandlung  erfolglos. 

Krafft-Ebing,  Arbeiten  III.  * 


18  Zur  Aetiologie  der 

Im  Sommer  1892  stellt  sich  Rigor  ein,  beginnende  typische  Hand- 
stellung und  Vorbeugung  des  Rumpfes.    R.  UE.  noch  intact. 

Beob.  4.  Dr.  V.,  43  J.,  Advokat,  unbelastet,  nie  schwer  krank 
gewesen,  Vater  von  5  gesunden  Kindern,  ist  seit  seinem  40.  Jahre 
nervenleidend.  Die  bezüglichen  Diagnosen  lauten  theils  auf  Neura- 
sthenie, theils  auf  Sklerose  des  Halsmarks. 

Den  Anlass  zur  Erkrankung  gab  die  Wasserkatastrophe  von 
Szegedin,  bei  welcher  Pat.  schweren  Gemüthsbewegungen  und  Ver- 
kühlung ausgesetzt  gewesen  war.  Das  Leiden  begann  mit  Schwäche 
und  Zittern  der  r.  Hand  und  zeitweisem  Versagen  der  Stimme,  anfäng- 
lich nur  anlässlich  Emotion.  Als  ich  Pat.  nach  über  3jähriger  Dauer 
seines  Leidens  consultativ  sah,  constatirte  ich  an  der  r.  Hand  klassische 
Stellung  derselben,  groben,  langsamen  Schütteltremor,  besonders  in 
Ruhestellung,  Abnahme  der  groben  Muskelkraft,  charakteristische 
Schreibstörung,  fehlenden  Rigor.  An  den  anderen  Extremitäten  keine 
Functionsstörungen.     Hirnnerven  intact.    Tiefe  Reflexe   sehr  lebhaft. 

Beob.  5.  S.,  Marie,  39  J.,  ledig,  unbelastet,  hat  keine  schweren 
Krankheiten  durchgemacht.  Als  Ursache  ihres  Leidens  weiss  sie  nur 
Ueberanstrengung  als  Verkäuferin  in  einem  feuchtkalten  Local  anzu- 
geben. 

In  ihrem  36.  Jahre  begann  Schüttellähmung  in  der  1.  Hand;  mit 
38  Jahren  wurde  die  1.  UE.  ergriffen,  vor  3/i  Jahren  stellte  sich  Rigor 
ein.  Der  Stat.  praes.  ergab  charakteristischen  Befund  in  1.  OE.  und 
UE.,  Rigor  nur  zeitweise.  Das  Zittern  schwindet  gänzlich  bei  Inten- 
tion, die  r.  Körperhälfte  und  das  Gesicht  sind  bisher  intact.  Die  tiefen 
Reflexe  sind  erhöht.  Keine  Zeichen  von  Gefässerkrankung.  Pat.  ihrem 
Alter  entsprechend  gut  conservirt. 

Beob.  6.  S.  R.,  Private,  30  J.,  ledig,  stammt  von  schwächlichen 
Eltern  (Mutter  lungenkrank,  Vater  viel  an  Cephalaea  leidend).  Eine 
Schwester  leidet  an  Cephalaea,  eine  zweite  ist  hysterisch,  5  weitere 
Geschwister  sind  neuropathisch.  Pat.  war  bis  zum  20.  Jahre  nicht 
nervös,  ganz  gesund.  Von  da  ab  viel  Familiensorgen  und  Kummer 
und  wohl  damit  in  Zusammenhang,  nervöse  Erregtheit  und  Cephalaea. 
1891  Influenza.  Seither  sehr  matt  und  nervös.  1892  beginnt  Zittern 
und  Schwäche,  zuerst  in  1.  Hand,  dann  1.  Fuss. 

Dazu  nach  einem  halben  Jahre  Rigor  und  Schwäche  der  1.  OE. 
Anfang  1895  beginnt  Schwäche,  Zittern,  Rigor  in  r.  Hand;  im  Sommer 
1895  dasselbe  im  r.  Bein.  Seither  „Ziehen"  nach  vorwärts,  in  Schuss 
geratheii  und  Gefahr  des  Stürzens  nach  vorne,  Hitzegefühl  in  Händen 
und  Rücken. 


Paralysis  agitana.  19 

Stat.  19.  11.  1895.  Kleine,  aber  gut  genährte  Person,  ohne  vege- 
tative Störungen.  Gefässe  zart.  Beginnende  typische  Stellung  der 
Hände  und  Arme.  Verlangsamtes  schwerfälliges  Gehen,  bei  steifem 
und  etwas  am  Boden  scharrendem  1.  Bein.  Basche  Körperbewegungen 
vermag  Pat.  nicht  auszuführen.  Typischer  Schütteltremor  der  Finger 
und  der  Handgelenksmuskeln,  1.  ausgeprägter  als  r.,  bei  Intention  ab- 
nehmend, bei  Emotion  sich  steigernd.  Einzelbewegungen  möglich,  aber 
langsam,  wenig  kräftig,  bes.  links.  Bigor  in  allen  Gelenken,  r.  gering, 
1.  sehr  deutlich.    Die  tiefen  Beflexe  in  den  OE.  sehr  gesteigert. 

In  den  UE.  leichte  Schwäche,  gesteigerte  tiefe  Beflexe,  beginnender 
Schütteltremor  des  1.  Fusses.  Sensibilität  intact.  Keine  Stigmata 
hysteriae. 

B  e  o  b.  7.  Frau  M.,  Kaufmannsfrau,  36  J.,  aus  angeblich  gesunder 
Familie,  von  schwereren  Krankheiten  verschont  gewesen,  gebar  vor 
3  Jahren  Zwillinge,  erholte  sich  nicht  recht  von  dem  übrigens  unconi- 
plicirten  Puerperium  und  erkrankte,  ohne  dass  eine  Ursache  in  Gestalt 
von  Trauma,  Schreck,  Erkältung  u.s.w.  nachgewiesen  werden  konnte, 
etwa  6  Wochen  nach  der  Geburt  an  P.  agitans.  Das  Leiden  begann 
in  der  1.  OE.  mit  Tremor,  Schwäche,  wozu  sich  bald  Bigor  hinzu- 
gesellte. Nach  Jahresfrist  wurde  die  1.  UE.  ergriffen,  vor  8  Monaten 
die  r.  OE.  Pat.  bietet  das  klassische  Bild  der  Krankheit,  typische 
Körperhaltung  und  Handstellung,  anstreifenden,  trippelnden  Gang, 
Propulsion.  gesteigerten  Patellarreflex,  quälende  Hitzegefühle. 


2* 


IL 

ÜEBER  DAEMMER-  UND  TRAÜMZUSTAENDE. 


Erster  Aufsatz ') 
(1875). 

Zu  den  bestgekannten  Neurosen  zählt  ohne  Zweifel  die  Epilepsie. 
Die  neuere  Wissenschaft  hat  als  Substitutionen  und  Aequivalente  des 
klassischen  convulsiven  Anfalls  eine  Reihe  von  theüs  motorischen 
theils  vasomotorischen  und  psychischen  Symptomencomplexen  ermittelt, 
die  Monate,  selbst  viele  Jahre  hindurch,  die  Stelle  des  in  tonisch- 
clonischen  allgemeinen  Krämpfen  mit  Bewusstlosigkeit  sich  äussernden 
gewöhnlichen  epileptischen  Insults  vertreten,  die  Krankheit  larviren 
können. 

Den  Bemühungen  französischer  Collegen,  namentlich  Falret  und 
Morel  verdanken  wir  eine  ziemlich  genaue  Kenntniss  der  „psychischen" 
Epilepsie,  soweit  sie  sich  in  den  Formen  des  petit  und  des  grand 
mal  bewegt.  Dass  damit  die  Reihe  der  psychischen  Syniptomen- 
complexe  im  Gebiet  der  epileptischen  Neurose  nicht  abgeschlossen  ist, 
lehren  die  Erfahrungen,  welche  Griesinger  im  I.  Band  des  Archivs 
f.  Psychiatrie  1868  niedergelegt  hat.  Er  spricht  von  epüeptoiden  Zu- 
ständen, insofern  in  seinen  Beobachtungen  ausgesprochene  epileptische 
Anfälle  zwar  fehlen,  an  deren  Stelle  aber  kürzere  oder  längere 
Schwindel-,  Traumzustände  oder  plötzliche  Augstanfälle  sich  vorfinden. 
„Die  von  solchen  Zuständen  Befallenen  haben  als  Kinder  oft  Krämpfe 
mit  Verlust  des  Bewusstseins  gehabt  oder  einmal  eine  Kopfverletzung 
erlitten." 

Intervalläre  Zustände,  die  psychischerseits  in  Abspannung,  Ve/- 
stimmung,  Befangenheit,  Aengstlichkeit,  oft  bei  ganz  unbedeutenden 
Handlungen,    bestehen,    motorisch   sich   in   leichten   Zuckungen   der 


1)  Allgemeine  Zeitschrift  f.  Psychiatrie  XXXIII.  Heft  2. 


24  lieber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Hände,  um  den  Mund,  in  den  Bulbis,  Nackenstarre  etc.  äussern,  ander- 
weitige nervöse,  wahrscheinlich  vasomotorische  Erscheinungen  wie 
Kälte  der  Füsse,  plötzliche  Eöthe  des  Gesichts,  schnell  ausbrechende 
starke  Schweisse  deuten  nach  Gr.  mit  Bestimmtheit  auf  eine  zu  Grunde 
liegende  centrale,  wahrscheinlich  epileptische  Neurose. 

Beachtenswerthe  weitere  Bestrebungen  das  Gebiet  der  psychischen 
Epilepsie  zu  klären  und  zu  erweitern  sind  in  neuester  Zeit  von  der 
societe  medico-psychologique  (des  transformations  epileptiques  Annal. 
med.  psych.  1873)  und  von  Samt  im  Archiv  f.  Psychiatrie  ausgegangen. 
Sie  legen  die  Vermuthung  nahe,  dass  so  manches  psychische  Krank- 
heitsbild klinisch  unverständlich  ist,  weil  seine  neurotische,  wahr- 
scheinlich epileptische  Basis  noch  nicht  klar  zu  Tage  liegt.  Ich  er- 
laube mir  unter  diesen  Gesichtspunkten  die  Aufmerksamkeit  auf  3  in 
jüngster  Zeit  von  mir  beobachtete  Epileptiker  zu  lenken,  deren 
psychische  transitorische  Störungen  keineswegs  dem  Bild  des  petit 
oder  grand  mal,  der  „niania  epileptica"  entsprechen,  sondern  theils  als 
Dämmerzustände  mit  Zwangsvorstellungen  und  impulsiven  Handlungen, 
theils  als  Traumzustände  bezeichnet  werden  müssen  und  zur  Er- 
weiterung unserer  Kenntnisse  von  den  mannichfachen  psychischen 
Substitutionen,  Aequivalenten  und  Complicationen  der  Epilepsie  bei- 
tragen dürften. 

Beob.  1. 3)  Holl,  22  J.,  Lithograph,  stammt  von  einer  mit  Migräne 
behafteten  Mutter.  Eine  Schwester  ist  epileptisch,  ein  Bruder  durch 
progeneen  Schädel  auffällig. 

Pat.  war  als  Kind  schwächlich,  litt  an  Convulsionen,  entwickelte 
sich  langsam,  lernte  schwer.  Mit  13  J.  Trauma  capitis  mit  Bewusst- 
losigkeit.  Seit  den  Knabenjahren  Hang  zur  Romantik  und  Phan- 
tasterei. Er  las  mit  Vorliebe  Romane,  Rittergeschichten,  konnte  oft 
kaum  mehr  Lektüre  und  Wirklichkeit  auseinanderhalten.  Er  erlebte 
oft  bei  der  Arbeit  plötzlich  romantische  Scenen  wieder,  die  er  gelesen 
oder  auf  dem  Theater  gesehen  hatte,  wurde  dadurch  ganz  zerstreut, 
zu  seinem  Beruf  kaum  mehr  brauchbar.  Mit  dem  Eintritt  in  die 
Pubertätsjahre  ergab  sich  Pat.  der  Onanie,  der  er  bis  auf  die  jüngste 
Zeit  fröhnte.  Von  Kindheit  auf  nervös  sehr  erregbar,  erschrak  er  1869 
heftig  über  einen  Hund,  der  ihn  ins  Bein  biss.  Er  fühlte  sich  noch 
längere  Zeit  nach  diesem  Vorfall  nervös  sehr  aufgeregt.  Auch  den 
Wein  ertrug  er  seitdem  nicht  mehr.  Liess  er  sich  zum  Genuss  von 
nur  2  Seidel  Wein  verführen,  so  bekam  er  heftige  Angst,  tonische 
Krämpfe  in  den  Extremitäten,  Brausen  im  Kopf  und  Athemnoth.    Seit 

1)  Ergänzt  aus  des  Verf.  Lehrbuch  der  Psychiatrie  und  handschriftlichen  Notizen. 


Erster  Aufsatz  (1875).  25 

3  Jahren  zeigten  sich  in  unregelmässigen  Zwischenräumen  von  mehreren 
Monaten  Anfälle  von  Umstürzen,  mit  minutenlanger  Bewusstlosigkeit, 
aus  der  er  mit  einem  heftigen  Weinkrampf  dann  wieder  zu  sich  kam. 
Ein  auraartiges  Kältegefühl,  das  blitzschnell  von  den  Füssen  zum 
Kopf  aufstieg,  leitete  sie  jeweils  ein.  Seit  3  Jahren  zeigten  sich  in 
unregelmässigen  mehrmonatlichen  Intervallen  Zustände,  die  Pat.  als 
„besinnungslose"  beschreibt.  Er  könne  während  derselben  nicht  denken, 
sei  ganz  confus  und  bewahre  für  das  während  ihrer  Dauer  Vorge- 
kommene eine  nur  ganz  summarische  Erinnerung.  Als  Vorläufer  solcher 
Zustände:  Visionen  feindlicher  drohender  Gestalten,  übler  Geruch,  wie 
nach  Schwefel,  und  dumpfes  Getöse  in  den  Ohren. 

In  den  letzten  Jahren  war  Pat.  ausserdem  zeitweise  von  einer 
eigentümlichen  Bewußtseinsstörung  befallen,  in  welcher  er  theils  im 
Sinn  seiner  romanhaften  „hereingeschneiten''  Gedanken  handelte,  theils 
ganz  impulsive,  durch  nichts  motivirte  Handlungen  verrichtete,  deren 
er  erst  mitten  in  der  Ausführung  zu  seinem  Aerger  und  Kummer 
bewusst  wurde.  So  begegnete  es  ihm,  dass  er,  mitten  in  der  Nacht 
vom  Drang  erfasst,  spazieren  zu  gehen,  planlos  umherlief.  Einmal 
kam  ihm,  während  er  eine  Commission  besorgte,  der  ganz  unmotivirte 
Gedanke,  nach  Leoben  zu  fahren.  Er  führte  ihn  sofort  aus,  erwachte 
am  folgenden  Morgen  zu  seinem  Erstaunen  in  L.,  begritf  seinen 
dummen,  ihm  unerklärlichen  Streich  nicht  und  kehrte  beschämt  mit 
erborgtem  Gelde  heim.  Aehnliche  Irrfahrten  machte  er  nach  Marburg, 
Fürstenfeld  etc. 

Einen  tiefen  Eindruck  machte  auf  Pat.  der  deutsch-französische 
Krieg.  Er  schwelgte  in  der  Zeitungslektüre  der  Siegestkaten  des 
deutschen  Heeres,  berauschte  sich  dabei  oft  mit  der  Idee  selbst  ein 
Held  zu  sein,  Soldat  und  dann  Kaiser  zu  werden.  Oft  trug  er  sich 
auch  mit  dem  Gedanken,  Fürst  zu  werden,  ein  Königreich  zu  gründen, 
Schlachten  zu  schlagen,  eine  schöne  Braut  zu  erobern. 

In  den  letzten  Jahren  begegnete  es  ihm  wiederholt,  etwa  1 — 2  mal 
jährlich  und  während  der  Dauer  von  5 — 6  Wochen,  dass  er  ganz  in 
diesen  phantastischen,  von  ihm  selbst  als  „hereingeschneite''  bezeichneten 
Gedanken  aufging,  in  einem  eigenthümlichen,  dämmerhaften  Bewusst- 
seinszustand  all  das  für  wahr  hielt,  was  er  bisher  nur  als  Spiel  der 
Phantasie  betrachtet  hatte.  Hellte  sich  dann  auch  wohl  das  Be- 
wusstsein  auf  Stunden  auf,  so  genügte  das  einfache  Nachdenken  über 
seine  romantischen  Ideen,  um  sofort  wieder  die  Phantasiewelt  zur 
scheinbaren  Wirklichkeit  zu  gestalten.  Er  hielt  sich  dann  für  einen 
König,  für  einen  Feldherrn  und  leitete  Schlachten.  Ganz  plötzlich 
kam  ihm  dann  wieder  die  Einsicht  in  das  Unsinnige  seiner  Projekte, 


26  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

und  dass  er  nur  geträumt  habe.  Nach  solchen  Anfällen  fühlte  er  sich 
längere  Zeit  matt,  geistig  erschöpft.  Die  Erinnerung  für  diese  Traum- 
welt war  nur  eine  ganz  summarische. 

Im  Laufe  des  Herbstes  1874  bemerkte  Pat.  Sehstörungen  auf 
beiden  Augen,  die  sich  unter  Stirnkopfschmerz  und  Brennen  in  den 
Augenhöhlen  steigerten,  ihn  arbeitsunfähig  machten  und  Anfang 
Januar  75  ins  Spital  führten.  Der  Aufenthalt  dort  war  ihm  unsym- 
pathisch, der  Anblick  Kranker  machte  ihn  oft  am  ganzen  Leib  zittern, 
auch  er  sei  von  allerlei  Schreckbildern  Nachts  verfolgt  gewesen. 
Am  18.  3.  75  Abends  fing  der  bisher  psychisch  ganz  freie  Pat.  plötzlich 
an  zu  schreien:  „Ich  bin  der  König  Stuart.  Gebt  mir  ein  Schwert 
und  die  Leiche  meiner  Mutter."  Er  delirirte,  tobte,  bekam  eine 
Morphiuminjection  von  0,04,  wurde  ruhig  und  kam  aus  einem  Dämmer- 
zustand am  19.  Morgens  wieder  zu  sich.  Er  erinnert  sich  nur,  dass 
er,  als  er  am  18.  Abends  sich  zu  Bette  legte,  plötzlich  von  Gestalten 
umwogt  war,  schreckliches  Getöse  hörte  und  schwindlig  wurde.  In 
den  folgenden  Tagen  war  Pat.  ganz  lucid,  aber  leicht  benommen  und 
klagte  über  Kopfweh.  Am  29.  März  wird  Pat.  plötzlich  ängstlich, 
blass,  schwindlich,  stürzt  krampfhaft  nach  Luft  schnappend,  bewusstlos 
zusammen,  bleibt  so,  ohne  dass  Convulsionen  auftreten,  10  Minuten. 
Von  da  ab  bis  zum  Mai  treten  fast  täglich  mehrere  Anfälle  von 
Delirium  auf,  das  ganz  stereotyp  ist.  Gewöhnlich  beginnen  diese 
Anfälle  mit  Schlachtengetümmel.  Pat.  ruft  nach  seinem  Schwert, 
stürzt  sich  als  Feldherr  an  der  Spitze  seiner  Schaaren  auf  den  Feind, 
haut  und  sticht  wüthend  um  sich,  feuert  die  Seinigen  zum  Kampf  an. 
Er  führt  sie  zum  Sieg,  darauf  Te  deum  und  Siegesmarsch,  den  Pat. 
theils  trommelt,  theils  singt.  Dann  folgt  ein  Festbankett  mit  Toasten, 
Proklamirung  als  Herzog,  Vertheilung  der  Kriegsdecorationen,  An- 
sprache an  das  Heer,  Gedenkfeier  der  Gefallenen,  tröstender  Zuspruch 
an  die  Hinterbliebenen,  worauf  Seine  Hoheit  mit  der  fürstlichen  Braut 
sich  ins  Hochzeitsgemach  zurückzieht  und  einschläft.  Zuweilen  folgt 
noch  ein  Nachspiel,  indem  er  die  Reize  und  Tugenden  seiner  Erkorenen 
mit  dithyrambischer  Begeisterung  und  schwülstigem  Pathos  preist. 

Die  sonst  mittelweiten  Pupillen  sind  im  Anfall  ad  maximum  er- 
weitert, Kopf  und  Extremitäten  kühl,  Puls  sonst  60,  auf  100  gesteigert, 
sehr  klein  und  celer.  Schmerz-  und  Tasteindrücke  werden  appercipirt, 
krampfhafte  Erscheinungen  nicht  beobachtet.  Amylnitrit  ergibt  prompte 
Reaction,  hat  aber  auf  den  Verlauf  des  Anfalls  keinen  Einfluss.  Da- 
gegen wirken  Morphiuminjectionen ,  wenn  im  Beginn  gemacht, 
zu  0,01—0,02  coupirend.  Die  Anfälle,  welche  bis  zu  einigen  Stunden 
dauern,   kommen  plötzlich,  unregelmässig.     Veranlassung  sind  Lärm, 


Erster  Aufsatz  (1875).  27 

Schüsse  u.  dg].,  namentlich  aber  Selbsthingabe  des  Pat.  an  seine 
romantischen  Ideen,  die  dann  sofort  sich  zur  Intensität  von  Hallu- 
cinationen  steigern  und  ihn  mit  einem  Schlag  in  die  Traumwelt  ver- 
setzen. Pat.  vermeidet  es  deshalb  thunlichst,  von  seinen  „Ideen"  zu 
sprechen,  da  er  sonst  gleich  wieder  in  seinen  Zustand  hineingerathe. 
Für  das  im  Anfall  Delirirte  und  Geschehene  besteht  zuweilen  gar 
keine,  meist  eine  nur  ganz  summarische  Erinnerung.  Pat.  ist  nach 
demselben  leicht  stuporös,  das  Bewusstsein  etwas  getrübt,  er  ist  sehr 
reizbar,  klagt  über  Schwindel,  Kopfweh,  eingenommenen  Kopf.  Folgt 
der  nächste  Anfall  schon  nach  Stunden,  so  hellt  sich  das  Bewusstsein 
in  der  Zwischenzeit  nicht  völlig  auf. 

In  der  intervallären  Zeit  ist  Pat.  sonst  lucid,  aber  träumerisch 
seinen  romantischen  Gedanken  nachhängend,  reizbar,  von  nächtlichen 
ängstlichen  Träumen  geplagt.  Er  klagt  öfter  über  Kopfweh,  und  dass 
er  sich  von  der  Phantasiewelt  nicht  emancipiren  könne. 

Vom  24.  März  an  wurden  täglich  6  g  Bromkali  gereicht  und  all- 
mählig  auf  14,0  gestiegen.  Ein  deutlicher  Erfolg  war  nicht  zu 
constatiren.  Ende  Mai  wurden  die  deliranten  Anfälle  seltener.  Am 
6.  Juni,  nach  einem  solchen  Anfall  und  nachdem  Pat.  schon  ganz  lucid 
erschien,  wurde  er  plötzlich  sehr  schmerzlich  verstimmt,  drängte 
stürmisch  fort,  drohte  alles  zusammenzuschlagen.  Das  Bewusstsein 
war  tief  gestört,  die  Miene  ganz  entstellt.  Rasch  nach  einander 
erfolgten  zwei  Selbstmordversuche.  Am  11.  Juni  war  dieser  acute 
Depressionszustand  ganz  plötzlich  vorüber.  Pat.  Avusste  von  allem 
Vorgefallenen  nicht  das  Mindeste.  Bis  zum  12.  Juli  blieb  Pat.  frei 
von  seinen  Anfällen  und,  bis  auf  Kopfweh  und  Hingabe  an  seine 
Träumereien,  ziemlich  wohl  und  lucid. 

Am  genannten  Tage  traten  neuralgische  Sensationen  in  der  linken 
Temporalgegend,  zu  denen  sich  schreckhafte  Hallucinationen  (Sehen 
von  Todten,  Ueberfall  durch  Räuber,  Zerdrücktwerden  von  Maschinen) 
gesellten,  auf.  Sie  hatten  die  Bedeutung  der  Aura  eines  Anfalls,  in 
welchem  Pat.  den  Arzt  für  einen  Erzherzog,  sich  selbst  für  einen 
Fürsten  hielt  und  sein  Heer  wieder  commandirte. 

Wiederholt  wurde  dieses  Delirium  von  krampfartig  stossenden 
Bewegungen  mit  den  Armen  und  seitlichen  Zuckungen  des  Kopfes 
unterbrochen.  Nach  einer  halben  Stunde  war  dieser  abortive  Anfall 
vorüber.    Pat,  war  sich  hinterher  desselben  nicht  bewusst. 

Damit  war  der  Anfallscyclus  für  diesmal  abgeschlossen.  Pat.  war 
in  der  Folge  ganz  lucid,  erklärte  zu  seiner  Freude,  dass  er  nun  ganz 
frei  von  dem  lästigen  Kopfweh  und  den  dummen  romantischen  Ideen 
sei.    Bis  Mitte  November  1875  wurde  nichts  Auffälliges  an  H.  mehr 


28  Ueber  Dämiuer-  und  Traumzustände. 

bemerkt.  Am  15.  November  stellte  sich  Kopfweh  und  Störung  des 
Schlafs  ein.  Am  17.  Abends  dachte  er  ans  Theater.  Mit  einem  Mal 
sah  er  die  Bühne  vor  sich,  die  Scene  kam  auf  ihn  zu,  er  fühlte  sich 
plötzlich  als  König-  auf  einem  Pferd  mitten  im  Walde.  Da  feuerte 
man  einen  Schuss  auf  ihn  ab,  er  stürzte  getroffen  vom  Pferd  und  der 
Vorhang  fiel.  Sofort  sah  er  sich  wieder  in  die  reale  AVeit  zurück- 
versetzt. 

In  der  Nacht  vom  17.18.  stand  er  auf,  kroch  längs  der  Wand  des 
Zimmers  fort,  sah  dabei  ganz  verstört  aus,  stürzte  plötzlich  um,  blieb 
%  Stunde  bewusstlos  ohne  krampfhafte  Erscheinungen  und  schlief 
dann  ein.    Amnesie  für  das  Vorgefallene. 

Am  18.  November  Nachmittags  Traumzustand  von  3  Stunden  mit 
Delir  von  Theater,  König  etc.  inhaltlich  ganz  dem  vom  17.  entsprechend. 
Pat.  hat  für  diesen  Anfall  nur  summarische  Erinnerung,  er  weiss,  dass 
derselbe  sich  mit  Sausen  in  den  Ohren  und  Kopfweh  einleitete,  dass 
er  sich  dann  in  Spanien,  Paris  etc.  glaubte. 

Am  23.  November  Nachmittags  blickt  Pat.  plötzlich  starr  vor 
sich  hin.  Das  Gesicht  hat  eine  maskenartige  Starre,  die  Wangen  sind 
rosig  injicirt.  Die  Hyperämie  verbreitet  sich  über  Nacken  und 
Schultern  bis  zur  Höhe  des  8.  Brustwirbels.  Mechanische  Insulte  auf 
der  Haut  im  Bereich  dieser  Hautparthien  rufen,  soweit  der  Insult 
reicht,  eine  lebhafte  Röthe  hervor,  die  erst  nach  längerer  Zeit  wieder 
schwindet.  An  den  Extremitäten  lässt  sich  diese  Hyperämie  nicht 
hervorrufen.  Puls  90,  äusserst  voll,  weich.  Pat.  ist  bewusstlos  und 
fängt  mit  grossem  Pathos  an  zu  peroriren:  „Katharina  von  Schottland 
haben  Sie  Ihre  Reisigen  schon  beisammen  ?  Wir  lassen  sie  ziehen 
Sammeln  Sie  Ihre  Häuflein!  Katharina,  meine  Gemahlin!  Ziehen  wir 
vereint  an  unserem  Vermählungstage,  wenn  auch  wir  am  Tage  grössten 
Glückes  dasselbe  zu  gemessen  verzichten  müssen!  Wer  wagt  das 
Königsblut  zu  vergiessen?  Sammelt  euch!  Es  ist  traurig,  gestört  zu 
werden  am  schönsten  Tage.  Die  Klingen  sollen  klirren,  die  Kanonen 
donnern,  die  Trompeten  sollen  fanfaren,  es  sollen  umfallen  die  Stadt- 
mauern !  Volk !  weiche  nicht,  es  ist  dein  König  hier,  Karl  von  Bourbon 
steht  dir  zur  Seite.  Lassen  Sie  die  Eingänge  besetzen,  sofort!  Dort 
auf  die  Hügel  pflanzen  Sie  die  Kanonen!  Volk!  Alles  soll  Te  deum 
singen  und  sobald  ihr  des  Feindes  ansichtig  werdet,  blickt  gegen 
Himmel!  Liebes  Volk!  Stehe  treu  zu  deinem  König:  Katharina,  um- 
gürte dein  Schwert,  vertheidige  auch  du  das  Recht  deines  Landes, 
Glück  und  Segen  über  unser  Volk!  ....  Lassen  Sie  vorrücken,  die 
Kanonen  donnern  . .  es  steht  schlimm,  er  hat  seinen  Banditenkönig 
von  Castiglione,  Don  Carlos  soll  sich  ergeben,  lebend  oder  todt,  bringt 


Erster  Aufsatz  (1875).  29 

ihn  um! Vorwärts,  vorwärts,  (Pat.  haut  mit  einem  Stuhl  auf  die 

Umgebung  ein),  Katharina  von  Schottland  lebt  für  euch  .  .  .  Habt  ihr 
ihn  noch  nicht  eingeholt  den  Meuchelmörder  ?  Mein  Volk  soll  dir  nicht 
zum  Opfer  fallen !  Wie  sie  kämpfen !  Gottes  Segen  über  euch !  Reichlich 
soll  euch  euer  Blut  vergolten  werden.  Noch  bin  ich  nicht  verwundet. 
Katharina,  dein  Herz  verdient  Lorbeerkränze!"'  An  dieses  Delir  reihte 
sich  ein  stuporöser  Zustand.  Die  Nacht  vom  23. 24.  schlief  Pat.  gut. 
Am  24.  Morgens  noch  dämmerhafte  Existenz.  Amnesie  für  den  Anfall. 
Puls  72.    Arterie  wieder  contrahirt. 

Bis  zum  18.  1.  1876  ist  Pat.  bis  auf  zeitweiliges  Kopfweh  und 
Nasenbluten  wohl. 

Am  18.  Nachmittags  starres  Nachobenschauen.  Zu  Bett  gebracht 
Dämmerzustand  von  1 — 5  Uhr.  Kein  Delir  ausser  die  abgerissene 
Aeusserung:  „Meine  Leiche  kommt  nach  Mailand." 

Am  19.  Abends  stürzt  Pat.  plötzlich  bewusstlos  um,  liegt  dann 
8/4  Stunden  regungslos  da,  mit  starr  nach  oben  gerichteten  Augen  und 
erschlafften  Gliedern.  Puls  kein,  Arterie  contrahirt.  Plötzlich  bricht 
Delirium  aus,  das  sich  um  Tod  der  Feinde,  Sieg,  Vermählung  dreht 
und  etwa  1  Stunde  dauert.  Dabei  ergiesst  sich  wieder  eine  Röthe 
über  Gesicht,  Ohren,  Nacken,  Brust,  Rücken  bis  zur  Höhe  des  8.  Brust- 
wirbels. Der  Puls  wird  voll,  88.  Die  Stirn  ist  mit  Schweiss  bedeckt. 
An  das  Delirium  reiht  sich  ein  Dämmerzustand  mit  Angst  und  Visionen 
schrecklicher  Gestalten.  Darauf  mehrstündiger  Schlaf.  Pat.  erinnert 
sich  nur,  dass  er  bei  Beginn  des  Anfalls  drohende  Gestalten  sah,  die 
seine  Leiche  verlangten.  Er  wehrte  sich,  sagte,  er  sei  ja  nicht  todt. 
Darauf  fingen  sie  an  zusammenzulaufen,  es  schössen  glühende  Kugeln 
aus  der  Mauer.  Nun  kam  man  ihm  zu  Hilfe.  Es  entspann  sich  ein 
Kampf.  Was  weiter  mit  ihm  vorgegangen,  weiss  er  nicht.  Vom 
20.  an  bis  zum  18.  März  frei  von  Anfällen,  bis  auf  zeitweises  Kopf- 
weh wohl. 

Pat.  ist  mittelgross,  kräftig  gebaut,  ziemlich  gut  genährt.  Der 
Schädel  geräumig.  Die  Augenhöhlenbogen  bilden  mächtige  Wülste. 
Nase  nach  rechts  abweichend.  Gaumenmittelnaht  limbös  und  kiel- 
förmig  vorstehend.  Das  linke  Auge  weicht  nach  links  von  der  Seh- 
linie ab.  An  den  unteren  Lidern  finden  sich  häufig  fibrilläre  Zuckungen. 
Kranzförmig  rund  um  die  Papille  an  homologen  Stellen  und  in  gleicher 
Ausdehnung  findet  sich  auf  beiden  Augen  ein  atrophirender  Process 
in  der  Chorioidea.  Der  übrige  Augenhintergrund,  besonders  die  Macula 
lutea  ist  intact.  Häufig  wird  Nystagmus  bemerkt,  Da  die  Anfälle 
nicht  wiederkehrten,  wurde  Pat.  im  Juli  1876  entlassen.  In  der  Folge 
ist   er  reizbar,   nervös,   ab   und  zu    dämmerhaft.    mit    Anfällen    von 


30  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Temporalschmerz ;  gelegentlich  durch  2  Tage  „Zungenlähmung",  d.  h. 
Sprachlosigkeit.  Anfang  Sept.  1876  befielen  ihn  wieder  die  roman- 
tischen expansiven  Ideen.  Es  kam  ihm  vor,  er  müsse  ein  Schriftsteller 
oder  Erfinder  werden.  Bald  war  es  ihm,  er  sei  schon  ein  solcher, 
müsse  seine  Arbeiten  in  Wien  einreichen.  Auf  der  Strasse  sah  er  die 
Leute  in  Festkleidern.  Vorkommende  Festlichkeiten  glaubte  er  auf 
sich  beziehen  zu  müssen.  Er  dämmerte  wieder  herum,  hörte  oft 
„Evviva"  hinter  sich  rufen,  gelegentlich  auch  „weg  mit  ihm".  Oefters 
kamen  Angstgefühle  mit  der  quälenden  Idee,  umgebracht  zu  werden. 
Anfang  October  schickte  ihn  der  Vater  in  Geschäftsangelegenheiten 
mit  40  fl.  Reisegeld  nach  Untersteier.  Unterwegs  gerieth  er  iu  über- 
schwängliche  Politikideen.  Es  kam  ihm  vor,  er  sei  berufen,  am  serbisch- 
türkischen Krieg  theilzunehmen,  die  Conferenz  in  Berlin  zu  besuchen. 
Er  fühlte  sich  nun  in  der  Rolle  eines  Gesandten,  der  die  Länder 
inspicire,  dämmerte  planlos  herum,  verirrte  sich  in  Wäldern,  gerieth 
nach  Ungarn.  Dort  (Ende  November)  kam  ein  episodisches,  schreck- 
haftes Delir,  das  er  in  einem  Gasthaus  durchmachte.  Unter  heftigem 
Kopfschmerz  wurde  er  sehr  ängstlich,  sah  sich  von  Leichen  umgeben, 
hörte  Rufe  und  Sturmläuten.  Nach  drei  Tagen  dämmerte  er  weiter, 
wurde  in  einem  „Ohnmachtsanfall"  an  der  Bahn  betroffen,  bekam  von 
mitleidigen  Fremden  eine  Karte  nach  Graz  gelöst,  fuhr  dorthin,  er- 
kannte aber  bei  der  Ankunft  die  Heimath  nicht,  fuhr  planlos  fort 
nach  Obersteier.  Dort  recrudescirte  das  schreckhafte  Delir.  Es  war 
ihm  2  Tage  ganz  finster  vor  den  Augen,  er  hörte  schrecklichen 
Kanonendonner,  sah  wilde  Thiere,  verstand  die  Sprache  der  Leute 
nicht,  glaubte  sich  in  Australien  oder  sonstwo.  Dann  kamen  Ideen, 
der  Kanonendonner  sei  ihm  zu  Ehren,  er  sei  eine  hochgestellte  Per- 
sönlichkeit und  bereise  das  Land.  Er  fuhr  wieder  mit  der  Bahn  gegen 
Graz.  Als  er  dort  ankam,  donnerten  die  Kanonen,  alle  Glocken 
läuteten.  Er  hörte  Stimmen,  er  solle  nur  aushalten,  es  werde  zum 
Guten  führen.  Einige  Stunden  später,  in  Marburg,  am  28.  12.  kam 
er  aus  dem  seit  Anfang  October  bestandenen  Anfall  zu  sich,  mit 
summarischer  Erinnerung  an  seinen  Dämmerzustand,  mit  wirrem  Kopf, 
leerer  Börse  und  tiefem  Schmerz  über  das  ihm  Begegnete. 

Am  30.  12.  1876  wieder  in  der  Klinik  aufgenommen,  bot  er,  ausser 
schlechtem  Schlaf,  moroser,  reizbarer  Stimmung,  zeitweisen  Geruchs- 
empfindungen nach  gebrannten  Kräutern,  nichts  Besonderes,  so  dass 
seinem  Verlangen  nach  Entlassung  bald  wieder  Folge  gegeben  wurde. 

Am  6.  6.  1879  neue  Aufnahme.  Bis  Dec.  1878  war  nichts  Be- 
sonderes ihm  passirt.  Im  Januar  1879  war  er  in  einem  Dämmerzustand 
nach  Ungarn  gerathen,  hatte  dort  episodisch  ein  schreckhaftes  halluc. 


Erster  Aufsatz  (1875).  31 

Delir  durchgemacht,  war  aber  schon  nach  einigen  Tagen  wieder  heim- 
gekehrt. Einige  Wochen  später,  auf  einer  intendirten  Geschäftsreise, 
neue  Irrfahrt,  wobei  Pat.  fast  im  Schnee  stecken  geblieben  und  er- 
froren wäre,  jedoch  mit  Verlust  seines  Gepäcks  glücklich  wieder 
heimkam. 

Am  2.  3.  1879  verschwand  Pat.  von  Hause  und  kehrte  erst  am  3.  6. 
aus  Wien  zurück.  Pat.  weiss  kein  Motiv  für  seine  Reise  nach  Wien 
und  hat  nur  summarische  Erinnerung  für  seinen  Aufenthalt  dort. 
Er  hat  dort  herumgedämmert  und  geschwindelt,  bald  nach  der  An- 
kunft und  einmal  Ende  April  ein  mehrtägiges,  schreckhaftes,  hallu- 
cinatorisches,  episodisches  Delir  durchgemacht.  Ausserdem  weiss  er, 
dass  er  sich  für  einen  grossen  Herrn  hielt,  gelegentlich  mit  dem  Ge- 
danken trug,  nach  Petersburg  zu  gehen,  um  dort  Ordnung  zu  machen, 
sich  für  einen  bedeutenden  Schriftsteller  hielt  und  Romane  schrieb. 
In  seinem  schreckhaften  Delir  sah  er  blutende  Leichen,  den  Plafond 
zusammenstürzen.  Er  hörte  furchtbares  Getöse,  Geprassel  von  Flinten- 
schüssen; Kanonenkugeln  prallten  an  den  Mauern  auf.  Dann  hörte 
er  das  Anschlagen  der  Wogen,  glaubte  sich  auf  einem  Schiff,  man 
schoss  auf  ihn,  Flammen  leckten  um  ihn  u.  s.  w. 

Am  6.  6.  1879  sollte  Pat.  wegen  einer  Betrugsaffaire  verhaftet 
werden.  Er  gerieth  in  heftigen  Atfect,  ergriif  ein  Messer,  das  auf 
dem  Tisch  lag,  wollte  sich  den  Hals  abschneiden,  den  Sicherheits- 
beamten erstechen.  Man  entrang  ihm  das  Messer,  er  gerieth  in  Wuth, 
dann  in  Delir,  rief  seine  Husaren  herbei,  lieferte  eine  Schlacht  gegen 
seine  Feinde  und  wurde  noch  in  vollem  Schlachtendelir  im  Spital  auf- 
genommen. Am  7.  6.  war  er  ausser  Delir,  aber  noch  dämmerhaft, 
klagte  über  heftigen  Kopfschmerz,  hatte  summarische  Erinnerung, 
behauptete,  es  sei  eine  ganze  Schwadron  auf  ihn  eingestürmt.  Wie 
er  hierher  gekommen,  wisse  er  nicht.  Er  steht  noch  unter  dem 
Eindruck,  eine  bedeutende  Persönlichkeit,  eine  Art  Feldherr  zu  sein, 
vergleicht  sich  mit  dem  König  Philipp  von  Macedonien,  der  auch  klein 
angefangen  habe. 

Am  11.  6.  löst  sich  der  Dämmerzustand.  Pat.  hat  in  der  Folge 
schwere  Träume  von  Feuer,  Zerdrücktwerden  zwischen  Maschinen  u.  s.  w., 
ist  nach  wie  vor  nervös,  reizbar,  aber  andauernd  lucid,  und  wird  nach 
mehrmonatlicher  Beobachtung  wieder  einmal  entlassen. 

Am  18.  4.  1881  neue  Aufnahme  auf  der  Klinik.  Pat,  war  in 
Brück  ausweislos,  in  dämmerhafter  Verfassung  aufgegriffen,  und  im 
Gemeindearrest  ,.tobend"  geworden.  Er  ging  erschöpft,  dämmerhaft 
zu,  blieb  so  bis  Anfang  Mai  und  gab  im  Stat.  retropectivus  an,  er 
sei  am  12.  4.  1881  von  Graz  fort,  habe  zur  Vermählung  des  Krön- 


32  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

prinzen  nach  Wien  gewollt,  sei  nach  Kreuz-  und  Querzügen  nach 
Brück  gerathen,  wo  er  einen  „Ohnmachtsanfall"  erlitten  habe.  Amnesie 
für  den  Dämmerzustand.    Entlassen  am  31.  5.  1881. 

In  der  Folge  reiste  Pat.  für  das  Geschäft  seines  Vaters.  Er  kam 
wiederholt  wieder  in  seinen  expansiven  Ideenkreis  hinein.  Einfache 
Zeitungslektüre  genügte  dazu.  Als  er  eines  Tages  las,  der  Kronprinz  von 
Portugal  werbe  um  die  Hand  der  Prinzessin  V.,  erblickte  er  in  ihm  einen 
Rivaleu,  meinte  ihn  durch  Heldenthaten  aus  dem  Feld  schlagen  zu 
müssen.  Sofort  fühlte  er  sich  als  Heerführer,  glaubte  sich  in  China, 
befehligte  im  Feldzug  von  Tonking.  Diese  Phantasie  dauerte  bis  zur 
Ankunft  des  Königs  von  Spanien  in  Wien,  der  eine  neue  Situation 
herbeiführte.  Pat.  wurde  Retter  des  Königs  aus  einer  Lebensgefahr, 
von  diesem  in  Gegenwart  einer  grossen  Volksmenge  decorirt.  In 
solchem  romantischem  Gedankenkreise  bewegte  er  sich  wochenlang, 
zeitweise  ganz  dämmerhaft,  aber  doch  leidlich  im  Stande,  in  der  realen 
Welt  sich  zurechtzufinden  und  seine  Geschäfte  zu  besorgen. 

Episodisch,  wahrscheinlich  im  Zusammenhang  mit  im  Sommer  1883 
wieder  häufiger  auftretenden  „Ohnmachtszuständen"  und  Schwindel- 
anfällen mit  Angst,  kamen  auch  Gedanken  an  Gift,  Lebensbedrohung, 
im  Zusammenhang  mit  Geschmacks-  und  Geruchshallucinationen.  Er 
dachte  sich,  man  wolle  ihn  wegen  seiner  Krankheit  aus  der  Welt 
schaffen,  jedoch  corrigirte  er  immer  wieder  diese  Verfolgungsideen. 
Masturbation  hatte  er  angeblich  seit  geraumer  Zeit  nach  Lektine 
eines  populären  Buches  aufgegeben  und  in  natürlicher  Weise  seine 
sexuellen  Bedürfnisse  befriedigt. 

Unmotivirte  Reisen  im  Dämmerzustand  waren  im  Lauf  von  1882 
und  1883  öfter  vorgekommen,  besonders  solche  nach  Ungarn.  Einige 
Male,  das  letzte  Mal  im  Sommer  1883  war  er  unter  ascendirendem 
Hitzegefühl  von  den  Beinen  herauf  bewusstlos  zusammengestürzt.  Er- 
schrecken vor  Hunden  genügte,  um  solche  Anfälle  zu  provociren.  Nachts 
war  er  häufig  ängstlich  und  sah  sich  im  Halbtraume  unter  Leichen. 

Am  25.  10.  1883,  nach  einem  Aerger,  bekam  Pat.  einen  Anfall 
von  1.  temporaler  Neuralgie,  der  einen  deliranten  Zustand  auslöste. 
Auf  die  Klinik  gebracht,  predigte  er  wie  ein  Priester,  sprach  von  der 
Erlösung  der  Welt  durch  ihn,  von  Macedoniens  schönen  Gefilden.  Er 
■gerieth  immer  mehr  in  Ekstase,  hielt  sich  für  Philipp  von  Macedonien 
„ich  ziehe  mein  blutendes  Schwert  als  PL  v.  M.  Gott  gebe  meinem 
Volke  den  Frieden !  Mein  Leichnam  ruhe  im  Dom !"  Pat.  führt  noch 
eine  Weile  Schlachten  auf,  wird  ruhig,  schläft  ein,  erwacht  am  26.  10. 
früh  lucid,  amnestisch  für  alles  Vorgefallene  und  klagt  noch  neu- 
ralgische Beschwerden. 


Erster  Aufsatz  (1875).  33 

In  der  Folge  ist  Pat.  geordnet,  schläft  schlecht,  hat  Halbträume 
von  Verirrung  im  Walde,  Duellen,  Friedhofsituationen.  "Wenn  er  dann 
zu  sich  kommt,  sieht  er  öfter  eine  Gestalt  dahinhuschen.  Bei  Tag 
versichert  Pat.,  dass  er  Widerstandskraft  genug  habe,  um  seine  aus- 
schweifende Phantasie  einzudämmen.  Er  vertreibt  sich  die  Zeit  mit 
Niederschreiben  seiner  Autobiographie. 

Am  26.  11.  soll  Pat.  in  einer  gerichtlichen  Angelegenheit  vom 
Untersuchungsrichter  einvernommen  werden.  Kaum,  dass  er  diesem 
vorgeführt  ist,  wird  er  blass,  aufgeregt,  verwirrt,  aggressiv,  bekommt 
einen  epileptischen  Anfall  (tonisch-klonischer  Krampf  von  sehr  kurzer 
Dauer)  an  den  sich  ein  deliranter  Zustand  sofort  anreiht,  in  welchem 
er  sich  als  Napoleon  I.  gerirt. 

„Helena  ist  die  Losung,  der  Held  von  St.  Helena  lebt"  etc. 

In  diesem  deliranten  Traumzustand,  der  mehrere  Stunden  dauert, 
reagirt  Pat.  auf  keine  Reize  der  Aussenwelt.  Endlich  wird  er  ruhig, 
schläft  ein  und  erwacht  am  anderen  Morgen  lucid,  amnestisch  für  Alles, 
auch  für  die  Gegenwart  des  Untersuchungsrichters. 

Pat.  bietet  in  der  Folge  nichts  Bemerkenswertlies  und  wird  am 
25.  2.  1884  neuerdings  entlassen. 

Am  10.  6.  1884  neue  Aufnahme.  H.  war  wegen  Betrug  verhaftet 
worden,  hatte  einen  Selbstmordversuch  durch  Erhängen  gemacht  und 
ging  einige  Stunden  nach  diesem  in  einem  stuporartigen  Zustand  auf 
der  Klinik  zu. 

Nach  einigen  Stunden  kam  er  zu  sich,  wusste  nichts  von  allem 
Vorgefallenen.  Er  erzählte,  dass  ihm  in  den  letzten  Monaten  wieder 
allerlei  Unliebsames  durch  seine  romantischen  Ideen  passirt  sei,  so 
habe  er  z.  B.  als  imaginärer  Fürst  seine  Börse  im  Stadtpark  ver- 
schenkt, um  vermeintlich  ihm  gehörende  Güter  zu  besichtigen,  ganz 
unsinnige  Fiakerfahrten  in  der  Umgebung  von  Graz  gemacht.  Dabei 
hatte  er  auch  anfallsartige  Zustände  mit  Amnesie,  förmliche  Ge- 
dächtnisslücken, in  deren  Raum  ganz  unbewusste  Handlungen  fielen. 

Unter  seinen  traumhaften  Ideen  habe  sich  neulich  oft  die  einge- 
stellt, schon  vor  1000  Jahren  gelebt  zu  haben. 

In  der  Beobachtung  bleibt  er  lucid,  aber  moros,  reizbar,  anspruchs- 
voll, von  grossem  Selbstgefühl. 

Am  12.  1.  1885  wird  H.  wieder  aus  der  Irrenanstalt  entlassen 
und  im  Siechenhause  aufgenommen.  Eine  Betrugsaffaire  (s.  u.)  brachte 
ihn  vor  das  Strafgericht,  wo  ich  im  Januar  1886  ihn  zu  beobachten  und 
zu  begutachten  hatte. 


Krafft-Ebing,  Arbeiten  III. 


34  lieber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Der  Inhalt  des  Gutachtens  ist  folgender : 

Ergebnisse  der  Acten. 

Karl  EL,  32  J.  alt,  ledig,  ist  seit  dem  Jahre  1874  gerichtsbekannt. 
Er  hatte  damals  Landboten  geprellt,  indem  er  ihnen  Schachteln  mit  werth- 
losem  Inhalt  zur  Bestellung  übergab  und  sich  dafür  Vorschüsse  geben  Hess. 
Er  wurde  damals  (30.  12.  1874)  wegen  dieser  betrügerischen  Handlungen 
mit  2  Monaten  Kerker  bestraft. 

Analoge  Gaunereien  mit  werthlosen  Paketen,  auf  die  er  sich  Geld  aus- 
zahlen liess,  fielen  1874  H.  zur  Last,  der  sie  auch  eingestand. 

Anfang  1875  wurde  H.  zum  erstenmal  im  allgemeinen  Krankenhause 
in  Graz  aufgenommen.  Die  Beobachtung  ergab  die  bestimmten  Symptome 
einer  schon  3  Jahre  früher  aufgetretenen  epileptischen  Geistesstörung  neben 
Erscheinungen  einer  bis  auf  die  Kinderjahre  zurückreichenden  wohl  erblichen 
Belastung. 

Das  epilejitische  Irresein  äusserte  sich  in  unregelmässig  wiederkehrenden, 
kaum  von  der  luciden  Zeit  abgränzbaren  Traum-  und  Dämmerzuständen,  in 
welchen  der  Kranke  im  Sinne  romanhafter  Ideen  traumhaft  handelt,  der 
"Wirklichkeit  grossentheils  entrückt  ist,  gleichwohl  aber  noch  im  Stande  ist, 
sehr  combinirte  Handlungen,  z.   B.   Reisen  auszuführen. 

Nur  selten  zeigen  sich  epileptische  Anfälle,  noch  seltener  impulsive 
Acte,  z.  B.   zu  Selbstmord,  postepileptische  Delirien  u.   dgl. 

Am  25.  4.  1876  wurde  H.  zum  erstenmal  gerichtsärztlich  explorirt,  nach- 
dem die  Direction  der  Landesirrenanstalt  seine  Vernehmungsfähigkeit  er- 
klärt hatte. 

Die  gerichtsärztliche  Exploration  ergab  eiDÜeptisches  Irresein.  Das 
Gutachten  (vom  17.  5.  1876)  konnte  die  Krankheit  schon  zur  Zeit  der  incrim. 
Handlungen  erweisen  und  ein  Lucid.  intervallum  nicht  nachweisen.  Damit 
ging  H.  straflos  aus. 

Im  Juli  1876  aus  der  Irrenanstalt  gebessert  entlassen,  wurde  H. 
1879  neuerdings  criminell  durch  betrügerische  Handlungen.  Er  hatte  näm- 
lich werthlose  Colli  versendet  und  in  der  Zeit  vom  23.  1.  bis  Ende  Februar 
1879  einem  gew.  H.  die  über  diese  Colli  entstandenen  23  Recepisse  im  an- 
geblichen Nachnahmewerth  von  990  fl.  um  378  fl.  verkauft.  Als  H.  wegen 
dieses  Betrugs  verhaftet  werden  sollte,  war  er  nicht  aufzufinden.  Er  war 
ohne  rechtes  Motiv ,  vermuthlich  in  einem  neuen  epileptischen  Dämmer- 
zustand nach  "Wien  gefahren  und  erst  am  3.  6.  1879  wieder  nach  Graz 
zurückgekehrt.  Als  er  am  6.  6.  verhaftet  werden  sollte,  gerieth  er  in  einen 
psychischen  Ausnahmszustand,  versuchte  sich  den  Hals  abzuschneiden  und 
den  verhaftenden  Wachmann  zu  erstechen.  Da  dieser  Affectzustand  un- 
mittelbar in  einen  epileptisch  deliranten  überging,  wurde  H.  auf  das  Beob- 
achtungszimmer gesendet  und  da  seine  geistige  Störung  fortdauerte,  am  16.  6. 
nach  der  Irrenanstalt  transferirt. 

Am  6.  9.  1879  gaben  die  Gerichtsärzte  ihr  Gutachten  dahin  ab,  dass 
H.  an  epileptischem  Irrsinn  leide,  keine  sicheren  Lucida  intervalla  biete  und 
einer  dauernden  Internirung  in   einer  Irrenanstalt  bedürfe. 

Am  10.  9.  1879  wurde  das  Verfahren  gegen  H.  eingestellt  und  am 
26.  9.   1879  über  denselben  die  Curatel  verhängt. 


Erster  Aufsatz  (1875).  35 

Am  17.  1.  1880  wurde  H.  in  gebessertem  Zustand  aus  der  Irrenanstalt 
entnommen,  am  28.  4.  1881  neuerdings  derselben  zugeführt,  da  er  in  epi- 
leptischem Dämmerzustand  von  der  Sicherheitsbehörde  aufgefunden  worden  war. 
Am  31.  5.  1881  wurde  H.  aus  der  Irrenanstalt  genesen  entlassen. 
Er  betrog  nun  einen  gewissen  Seh.  mit  gefälschten  Pfandbriefen.  Als 
diese  Affaire  aufkam  und  man  auf  H.  fahndete  (Juli  1881)  bekam  er  epi- 
leptische Anfälle,  erschien,  als  er  am  20.  8.  1881  vernommen  werden  sollte, 
geistig  gestört,  so  dass  von  der  Vernehmung  Abstand  genommen  werden 
musste. 

1883  sendet  H.  einer  Frau  E.  in  Graz  eine  angebliche  Nachnahme- 
sendung Pretiosen  zu.  Bei  der  Oeffnung  des  Kistchens  finden  sich  statt 
Pretiosen  Ziegelsteine  vor.  H.  hatte  die  Sendung  unter  dem  fingirten 
Namen  „Josef  Stemmer"   gemacht. 

Am  25.  10.  1883  wurde  H.  neuerdings  der  Beobachtungsabtheilung 
übergeben.  Er  bot  epileptische  Dämmer-  und  Traumzustände,  war  auch  in 
der  Zwischenzeit  von  gelegentlichen  Grössen-  und  Verfolgungsideen ,  Ge- 
schmacks-, Geruchshallucinationen  und  Gesichtsillusionen  heimgesucht. 

Gelegentlich  eines  Besuchs  des  Untersuchungsrichters  wird  er  blass, 
aufgeregt,  will  auf  den  Richter  losgehen,  sodass  dieser  sich  zurückziehen 
muss.  Gleich  darauf  bekommt  H.  einen  epileptischen  Anfall  mit  postepil. 
Delir,  in  welchem  er,  ganz  wie  in  früheren  Zuständen,  in  tiefem  Traum- 
zustand ist,  sich  für  eine  berühmte  Persönlichkeit  (diesmal  Napoleon  I.)  hält, 
Schlachten  schlägt,  auf  St.  Helena  trauert,  u.  s.  w.,  bis  er  nach  mehreren 
Stunden,  mit  mangelnder  Erinnerung  für  alles  Vorgefallene,  selbst  für  den 
Besuch  des  Untersuchungsrichters,    wieder  zu  sich  kommt. 

Da  H.  auch  intervallär  entschieden  geistig  gestört  ist,  u.  A.  Ideen  hat, 
seine  Mutter  sei  eiue  Andere,  er  habe  schon  vor  1000  Jahren  als  ausge- 
zeichnete Persönlichkeit  existirt,  wird  er  am  6.  12.  1883  der  Irrenanstalt 
übergeben  und  dort  von   den  Gerichtsärzten  explorirt. 

Das  Gutachten  dieser  vom  23.  12.  1883  geht  dahin,  dass  es  nicht 
möglich  sei,  Lucida  intervalla  und  Dämmerzustände  bei  dem  epileptischen 
H.  scharf  von  einander  zu  unterscheiden.  H.  ist  zudem  ethisch  und  in- 
tellectuell  geschwächt  (psych.  Degeneration).  Es  ist  ein  höchst  gemein- 
gefährlicher Kranker,  unheilbar  und  dauernder  Internirung  in  der  Irren- 
anstalt bedürftig. 

Laut  Note  der  Direction  der  Irrenanstalt  ist  H.  am  25.  2.  1884  ge- 
heilt entlassen  worden. 

Bald  darauf  beschwindelte  H.  einen  Kaufmann  G.  in  Graz,  indem  er  Be- 
stellung von  Waaren  fingirte  und  die  Waare  ins  Haus  beorderte,  um  sie 
dort  sich  anzueignen.  H.,  neuerdings  für  dieses  Delict  in  Untersuchung  ge- 
zogen, wird  wegen  Irrsinns  freigesprochen,  zumal  da  er  bei  der  Verhandlung 
den  Eindruck  eines  offenbar  Geistesgestörten  machte. 

In  der  Haft  hatte  H.  einen  Selbstmordversuch  durch  Erhängen  ausge- 
führt. Deshalb  wurde  er  am  9.  5.  1884  wieder  der  Beobachtungsabtheilung 
und  da  seine  geistige  Störung  evident  und  andauernd  war,  am  10.  6.  1884 
der  Irrenanstalt  zugeführt.  Aus  dieser  wurde  er,  da  man  an  ihm  nichts 
psychisch  Abnormes  wahrnehmen  konnte,  was  seine  Detention  in  einer  An- 
statt motiviren  konnte,  am   12.   1.   1885  geheilt  entlassen. 

3* 


36  lieber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Seit  seiner  neuerlichen  „Heilung"  in  der  Landesirrenanstalt  ist  H. 
schon  wieder  2  mal  gerichtlich  beanstandet  worden. 

Er  hatte  am  19.  8.  1885  einen  gew.  TL  in  raffinirter  Weise  um 
9  fl.  60  kr.  beschwindelt,  indem  H.  für  eine  angebliche  Commissionswaare, 
die  er  zu  12  fl.  gekauft,  sich  21  fl.  60  kr.  von  dem  Landboten  U.  hatte 
auszahlen  lassen.  Bezüglich  dieser  Betrugsaffaire  wurde  H.,  dessen  epilep- 
tische Geistesstörung  und  deshalb  fortbestehende  Curatel  gerichtsbekannt 
waren,   am   15.   9.    1885   wegen  Irrsinn  freigesprochen. 

Seither  hat  H.,  zum  Theil  unterstützt  von  seinem  Bruder  Franz,  eine 
ganze  Reihe  von  betrügerischen  Handlungen  begangen.  So  gab  er,  theils 
fingirte ,  theils  an  wirklich  existirende  Adressaten  gerichtete  Nachnahme- 
frachten  auf,  die  statt  der  deklarirten  Sattler-,  Nadler-  und  sonstigen  Waare, 
Holzstücke  enthielten.  Mit  den  Nachnahmescheinen  wusste  er  sich  zunächst 
Credit  bei  Kaufleuten  zu  verschaffen,  entlockte  ihnen  Waaren  und  ver- 
schleuderte sie  auf  dem  Land. 

Als  H.  am  1.  12.  1885  auf  der  Bahn  wegen  der  Behebung  der  Nach- 
nahme von  Frachten  Nachfrage  hielt,   wurde  er  verhaftet. 

Im  Verhör  vom  3.  12.  legt  er  ein  umfassendes  Geständniss  bezüglich 
seiner  Gaunereien  ab.  Als  intellectuellen  Urheber  dieser  jedenfalls  raffinirten 
Gaunereien  bezeichnet  er  einen  gewissen   G. 

Am  17.  1.  1886  wurde  H.  eingehend  von  den  Gerichtsärzten  auf 
seinen  Geisteszustand  explorirt. 

Ergebnisse    der   gerichtsärztlichen  Exploration  am  17.  1.  1886. 

Explorat  befindet  sich  gerade  in  einem  relativ  luciden,  d.  h.  nicht  traum- 
haften deliranten  Zustand.  Er  giebt  bereitwillig  Auskunft  über  seine  früheren 
Lebensumstände. 

In  Fortsetzung  der  mit  dem  12.  1.  1885  abschliessenden  Krankkeits- 
geschichte  der  Landesirrenanstalt,  verdient  Erwähnung,  dass  H.  sich  nach 
der  Entlassung  anfangs  wohl  gefühlt,  Ende  April  1885  aber  wieder  in  einen 
seiner  Traumzustände  gerathen  sein  will. 

Er  sei  planlos  fort  nach  Ungarn,  sei  in  Könnend  vorübergehend  zur 
Besinnung  gekommen,  habe  gemerkt,  dass  es  ihm  wieder  rappele,  sich  aber 
nicht  heimgetraut  aus  Angst,  dass  man  ihn  wieder  in  die  Irrenanstalt  stecke. 
Da  sei  er  weiter  und  nach  manchen  Irrfahrten  nach  Pest  gerathen.  Dort 
sei  er  wieder  lucid  geworden,  habe  seine  Lage  klar  erkannt,  eingesehen, 
dass  er  ganz  zwecklos  dahin  gekommen,  ohne  Geld  und  Documente  sich  in 
der  fremden  Stadt  auch  nicht  aufhalten  könne.  Da  sei  er  zu  Fuss  fort 
nach  Wien,  habe  unterwegs  in  Gran  einen  heftigen  epileptischen  Anfall  be- 
kommen, sodass  man  ihn  ins  Spital  brachte.  Da  er  sich  aber  bald  wieder 
wohl  fühlte,  habe  man  ihn  auf  sein  Bitten  nach  2  Tagen  wieder  entlassen. 
Um  Pfingsten  sei  er  nach  Wien  gekommen,  von  da  zu  Fuss  nach  Graz  ge- 
gangen, wo  es  ihm  eine  Zeitlang  wieder  ganz  wohl  gewesen  sei.  Vor  Aller- 
heiligen 1885  sei  er  auf  einer  Reise  nach  Fürstenfeld  (offenbar  in  einem 
neuen  Dämmerzustand)  nach  Fehring  gerathen  und  habe  dort  beim  Essen 
im  Gasthaus  einen  heftigen  epileptischen  Anfall  erlitten.  Auf  dieser  Tour 
habe  er  sein  Geld  verloren,  sei  in  Folge  dessen  deprimirt  geworden, 
wieder  in  seine  Phantasien  hineingerathen,  sei  planlos  nach  Wien  und  wieder 


Erster  Aufsatz  (1875).  37 

zurückgefahren.  Er  sei  wieder  ganz  zerstreut  und  traumhaft  geworden,  habe 
sinnlose  Fiakerfahrten  in  der  Umgebung  von  Graz  gemacht  in  der  Idee,  er 
sei  ein  hoher  Herr  und  besichtige  seine  Landgüter ;  er  habe  die  ihm  doch 
sonst  wohlbekannten  Ortschaften  dabei  für  ganz  fremde  angesehen,  örtlich 
sich  gar  nicht  zu  orientiren  vermocht.  Auch  die  Menschen  kamen  ihm  wie 
wildfremd,  einer  anderen  Zeit  und  Nation  angehörig  vor.  Oft  habe  ihn  der 
Gedanke  ganz  beherrscht,  er  habe  schon  vor  1000  Jahren  in  grosser  Herr- 
lichkeit als  mächtiger  Herrscher  existirt.  Zwischendurch  in  diesen  Dämmer- 
zuständen und  regelmässig  von  linksseitigem  Kopfweh  begleitet,  habe  er 
sonderbare  Phantasien  gehabt,  sich  als  Feldherr  gefühlt,  seinen  Leichenzug 
gesehen  u.  dgl.     (Alles  Bruchstücke  früherer  Traurnzustandsdelirien.) 

In  diesen  dämmerhaften  Zuständen  habe  er  die  Continuität  seines  Be- 
wusstseins  nicht  besessen,  nicht  gewusst,  wo  er  am  Vortag  gewesen,  was  er 
da  und  dort  gemacht. 

Auch  in  seinen  luciden  Zeiten  seien  ihm  ganz  plötzlich  seine  herein- 
geschneiten Gedanken  gekommen,  sei  er  plötzlich  von  ganz  romantischen 
Ideen  und  Situationen ,  wenn  auch  nur  momentan  beherrscht  gewesen. 
Zu  Zeiten  habe  er  sich  dann  wieder  ganz  stumpf  und  blöd  gefühlt  und 
kaum  einen  Brief  concipiren  können. 

An  seine  Gaunereien  vermöge  er  sich  nur  summarisch  zu  erinnern. 
Er  giebt  zu,  dass  er  wusste  er  thue  Unrecht,  aber  in  der  Regel  sei  ihm 
sein  Gebahren  nur  als  Lappalie  erschienen  und  der  Gedanke,  er  werde  ja 
doch  nächstens  ein  grosser  Herr,  Millionär,  könne  dann  Alles  zurückzahlen 
und  überdies  grosse  Stiftungen  für  die  Armen  machen,  habe  etwaige  Be- 
denken beschwichtigt.  Uebrigens  habe  ihm  auch  nichts  an  den  Folgen 
seiner  Handlungen  gelegen,  da  er  oft  schon  nahe  daran  war  sich  zu  er- 
schiessen.  An  der  Ausführung  des  Selbstmords  habe  ihn  gehindert  der  Ge- 
danke sich  nicht  gut  zu  treffen  und  die  Anschauung,  dass  er  schon  vor 
1000  Jahren  gelebt  habe. 

Eine  Reue  für  sein  unredliches  Gebahren,  eine  Einsicht  für  die  schimpf- 
liche Situation,  in  die  er  sich  gebracht,  ein  wirkliches  Ehrgefühl  sucht  man 
bei  Explorat  vergebens.  Jedenfalls  ist  er  ein  intellectuell  und  ethisch  de- 
fecter,  mehr  in  der  Phantasie  als  in  der  Wirklichkeit  lebender,  geistig  zer- 
fahrener Mensch.  Dieser  Eindruck  wird  aus  seiner  ganzen  Haltung,  seiner 
verwitterten  Miene  und  seinem  wirren  Auge  sofort  gewonnen. 

Die  körperlichen  Abnormitäten  sind  unverändert  die  gleichen  wie  sie 
in  der  Krankengeschichte  und  den  verschiedenen  gerichtsärztlichen  Gutachten 
erhoben  sind. 

Gutachten. 

Karl  H.  ist  seit  dem  Anfang  der  70  er  Jahre  mit  epileptischer  Geistes- 
störung behaftet.  Er  bietet  alle  erdenklichen  und  in  der  Erfahrung  vor- 
kommenden Erscheinungsformen  epileptischer  Insulte  und  äquivalenter 
psychischer  Ausnahmezustände,  speciell  solche  von  Somnambulismus, 
d.  h.  Traumwandeln  und   Traumhandeln   auf  epileptischer  Grundlage. 

Diese  als  „Sinnesverwirrung"  anzusprechenden  Zustände  setzen  so  un- 
vermerkt ein  und  gehen  so  unversehens  in  den  Zustand  relativer  Lucidität 
über,    dass  es  unmöglich  ist,   dieselben  zeitlich  scharf  zu  umgrenzen,    ausser 


38  TJeber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

der  Explorat  wäre  tagtäglich  Objeot  einer  sachverständigen  Beobachtung  und 
Beurtheilung. 

Aber  auch  da,  wo  er  vorübergehend  frei  von  Sinnesverwirrung  er- 
scheint, zeigen  sich  Spuren  von  Delirien,  Zwangsideen,  Illusionen,  überhaupt 
elementare  Störungen  im  Bereich  der  geistigen  Functionen  und  gestatten 
es  nicht,  diese  Intervalle  als  vollkommen  lucide  anzuerkennen. 

TJeberdies  hat  die  seit  mindestens  14  Jahren  bestehende  Krankheit  die 
intellectuellen  und  ethischen  Leistungen'  des  Exploraten  in  dauernder  und 
wohl  unheilbarer  Weise  geschädigt. 

Auf  Grund  dieser  theils  temporären,  theils  dauernden  Störungen  und 
Defecte  im  geistigen  Leben  muss  Explorat  als  ein  der  freien  Willensbestim- 
mung und  der  klaren  Einsicht  in  die  Bedeutung  und  Folgen  seiner  Hand- 
lungen verlustiges  Individuum  erklärt  werden. 

Bei  der  hohen  G-emeingefährlichkeit  dieses  verbrecherischen  Irren  er- 
scheint es  geboten,  dass  die  bürgerliche  Gesellschaft  dauernd  vor  ihm  ge- 
schützt werde  durch  Anhaltung  in  einer  Humanitätsanstalt,  als  welche,  bei 
dem  Mangel  einer  Detentionsanstalt  für  geistessieche  Verbrecher,  nur  eine 
Irrenanstalt  in  Betracht  kommen  kann.  Eine  Entlassung  aus  derselben  in 
dem  unwahrscheinlichen  Fall  einer  Heilung  des  Exploraten  dürfte  nur  unter 
Zustimmung  der  Sicherheitsbehörde  denkbar  sein. 

Am  11.  4.  1887  sah  ich  meinen  Pat.  zum  letztenmal.  Er  hatte 
kurz  vorher  eine  Contusion  am  1.  Os  parietale  durch  einen  Mitpatienten 
erlitten,  bot  im  Anschluss  daran  Aphasie,  r.  Parese  in  Facialis  (2.  und 
3.  Ast),  Ober-  und  Unterextremität  mit  Beugecontractur  im  r.  Ellbogen- 
gelenk und  eingekrallten  Fingern.  Keine  Sensibilitätsstörung,  enorme 
Steigerung  der  tiefen  Reflexe  in  r.  OE.,  r.  Fussklonus,  beiderseits  hoch- 
gesteigerter  Patellarreflex.  Es  kann  kein  Zweifel  darüber  obwalten, 
dass  alle  diese  Störungen  einer  hysterischen  Neurose  zugesprochen 
werden  müssen,  die  sich  ja  seit  Jahren  schon  durch  gelegentlichen 
Weinkrampf  und  einmal  durch  Mutismus  verrathen  hatte.  Auch  die 
Ekstasen  und  postparoxysmellen  deliranten  Zustände  erinnerten  an  auf 
dem  Boden  der  Hysterie  Vorkommendes.  Gleichwohl  muss  ich  die 
eigenthümlichen  Alkoholreactions-  und  die  Dämmerzustände,  die  „be- 
sinnungslosen" und  die  mit  Umstürzen  verbundenen  Anfälle  als  zur 
Epilepsie  gehörig  ansprechen. 

Das  Vorkommen  beider  Neurosen  neben  einander  ist  jedenfalls 
ein  in  der  Erfahrung  begründetes. 

Beob.  2.  Tgl.,  25  J.,  Bäcker  aus  Südsteier,  stammt  von  einem 
Vater,  der  sehr  dem  Potus  ergeben  war.  Von  Convulsionen,  Kopfver- 
letzungen in  der  Kindheit,  von  geschlechtlichen  Ausschweifungen  in 
der  Jugend  des  Pat.  ist  nichts  bekannt.  Von  Kindheit  auf  soll  er  ein 
jähzorniges  aufbrausendes  Temperament  geboten  haben.  Erhebliche 
Krankheiten  kamen  nicht  vor,  ein  bei  Pat.  vorfindlicher,  namentlich 


Erster  Aufsatz  (1875).  39 

im  Affect  sehr  lebhafter  Nystagmus  auf  beiden  Augen  scheint  ange- 
boren zu  sein.  Seine  Begabung  war  eine  gute.  Die  Ursache  seiner 
Krankheit  findet  Pat.  in  habituellen  Excessen  in  potu,  denen  er  seit 
seinem  14.  Lebensjahr  ergeben  war. 

Die  ersten  Erscheinungen  seines  Leidens  datiren  aus  dieser  Zeit. 
Es  begegnete  Pat.  ab  und  zu,  dass  er,  ohne  zu  wissen  warum  und  in 
ganz  dämmerhaftem  Zustand  verkehrte  Handlungen  ausführte.  So 
erinnert  er  sich  einmal  durch  einen  Fluss  geschwommen  und  erst  nach 
der  Ausführung  dieser  ihm  ganz  unerklärlichen  Handlung  sich  der- 
selben bewusst  geworden  zu  sein.  Im  16.  Jahre  geschah  es  ihm,  dass 
ganz  sonderbare  Ideen,  z.  B.  Fürst  von  Serbien  zu  sein,  ihn  oft  ur- 
sprünglich überkamen  und  dann  wochenlang  beherrschten,  sodass  er 
Mühe  hatte,  sich  von  ihnen  nicht  überwältigen  zu  lassen. 

1866,  während  seiner  Lehrzeit  in  Graz,  wurde  Pat.  irrsinnig  und 
brachte  3  Monate  im  Irrenhause  zu.  Die  damalige  Diagnose  lautete 
auf  „allgemeine  Verwirrtheit"  Aerztliche  Aufzeichnungen  fehlen.  Pat. 
giebt  an,  er  wisse  nur,  dass  er  damals  im  Wahn  lebte,  Fürst  von 
Serbien  zu  sein  und  dass  diese  Idee  ihn  in  der  Folge  noch  oft  heim- 
suchte. 

1867  lief  er  einmal  ohne  Motiv  aus  dem  Dienst,  warf  seine  Habe 
weg,  vertrank  all  sein  Geld,  lief  3  Tage  planlos  im  Dämmerzustand 
herum,  bis  er  inne  wurde,  was  er  für  eine  Dummheit  gemacht  habe 
und  sich  dessen  schämte. 

1868  wurde  Pat.  zum  zweiten  Mal  mit  der  Diagnose  „allgemeine 
Verwirrtheit"  im  Irrenhause  aufgenommen.  Man  erfuhr  nur,  dass  er 
auch  diesmal  sich  für  den  Fürst  von  Serbien  gehalten  habe. 

1869,  nach  der  Entlassung,  litt  Pat.  zeitweise  an  Angstzufällen  uud 
schreckhaften  Träumen.  Zuweilen  erwachte  er  aus  solchen  mit  Bangig- 
keit und  einem  Beugekrampf  der  Zehen  des  1.  Fusses.  Allmälig, 
besonders  nach  Alkoholexcesseu,  stellten  sich  wieder  Dämmerzustände 
mit  planlosem  Umherirren  ein. 

1871  trat  der  erste  Anfall  von  klassischer  Epilepsie  (allgemeine 
Convulsionen  mit  erloschenem  Bewusstsein)  ein  unter  vorausgehendem 
Gefühl  von  Bangigkeit  und  krampfhaftem  Zusammenziehen  der  Hände. 
Pat.  war  gerade  am  Backofen  beschäftigt,  rief  noch  um  Hülfe  und 
wurde  dann  bewusstlos.  Er  enthielt  sich  in  der  Folge  vom  Trinken 
und  blieb  frei  von  solchen  Anfällen  bis  zum  24.  November  1874,  wo 
wiederholt  epileptische  Krämpfe  auftraten  und  seinen  Herrn  nöthigten 
ihm  zu  künden.  Pat.  wandte  sich  subsistenzlos  zu  seinem  Bruder  nach 
Pettau,  trank  wieder  stark  und  gerieth  in  einen  psychischen  Dämmer- 
zustand.   Seine  Erinnerung  beginnt  da  wieder,  wo  er  sich  im  Arrest 


40  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

befand.  Man  sagte  ihm,  er  habe  eine  Majestätsbeleidigung  begangen. 
Er  sass  nun  2  Monate  im  Gefängniss  und  wurde  wegen  „Wahnsinns" 
zum  dritten  Mal  der  Irrenanstalt  am  19.  März  1875  übergeben.  Nach 
den  Angaben  des  Gefangenwärters  hielt  er  sich  für  den  Fürst  von 
Serbien,  verlangte  nach  Belgrad,  30  000  Mann  erwarteten  ihn  dort  u.s.w. 
Bei  der  Ankunft  in  der  Anstalt  war  Pat.  lucid,  hatte,  wie  auch  die 
früheren  Male  eine  nur  ganz  summarische  Erinnerung  für  die  über- 
standene  Krankheitsperiode.  Seinen  Wahn  Fürst  von  Serbien  zu  sein, 
corrigirte  und  belachte  er.  Die  folgende  Beobachtung  bot  psychische 
Integrität,  den  oben  erwähnten  Nystagmus,  Parese  des  linken  Mund- 
winkels. Im  Laufe  des  Monat  Juni  erwachte  Pat.  einmal  mit  bangem 
Gefühl  und  Krampf  der  Zehen  des  linken  Fusses.  Von  weiteren  epi- 
leptischen Erscheinungen  wurde  nichts  bemerkt. 

Am  19.  Sept.  1875  entwich  I.  Nachts  aus  der  Irrenanstalt  unter 
Entwendung  der  Baarschaft  eines  Wärters.  Nach  8  Tagen,  während 
welcher  er  herumvagabundirt  und  das  gestohlene  Geld  vergeudet  hatte, 
stellte  er  sich  selbst  den  Gerichten,  legte  ein  reumüthiges  Bekenntniss 
seines  Vergehens  ab  und  gab  so  detaillirt  über  die  Umstände  seiner 
Entweich ung  und  seinen  Verbleib  in  der  Folge  Rechenschaft,  dass 
wenigstens  ein  neuer  Traum-  und  Dämmerzustand  zur  Zeit  der  That 
und  bis  zur  Arretirung  ausgeschlossen  und  I.  mit  aller  Beruhigung  in 
den  Händen  des  Untersuchungsrichters  belassen  werden  konnte. 

Beob.  3.  A.,  19  J.,  Schusterlehrling,  aufgenommen  am  1.  Juli 
1875,  stammt  aus  einer  sehr  belasteten  Familie.  Muttersvater  und 
Muttersmutter  starben  apoplectisch ,  Muttersschwester,  von  Hause 
aus  schwachsinnig,  wurde  später  irrsinnig,  eine  weitere  Schwester  der 
Mutter  ist  epileptisch,  ein  Schwesterkind  der  Mutter  ist  irrsinnig. 
Die  Mutter  ist  nervös,  mit  häufigem  Kopfschmerz  behaftet,  von  eigen- 
thümlich  unstetem  Blick. 

Pat.  hat  eine  Schwester  an  Convulsionen  verloren.  2  Brüder  sind 
gesund. 

Die  Kindheit  verlief  ohne  bemerkenswerthe  Erscheinungen.  Ein 
Sturz  auf  der  Eisbahn  im  10.  Jahre  mit  folgender  Bewusstlosigkeit 
scheint  ohne  weitere  Folgen  geblieben  zu  sein.  Pat.  lernte  sehr  leicht, 
zeigte  schon  als  kleiner  Junge  ein  anspruchsvolles  selbstgefälliges 
Wesen,  mied  die  Gesellschaft  gewöhnlicher  Knaben,  bot  von  früher 
Jugend  an  einen  stark  ausgesprochenen  Hang  zur  Romantik,  der  sich 
in  der  Leetüre  von  Räubergeschichten,  Heldenroinanen  und  grosser 
Vorliebe  fürs  Theater  deutlich  kundgab.  Das  Bäckergewerbe,  das  er 
später  mit  dem  des  Schusters  vertauschte,  befriedigte  ihn  nicht,  er 
strebte  nach  Höherem. 


Erster  Aufsatz  (1875).  41 

Im  Alter  von  14  Jahren  traf  ihn  sein  Vater  am  Backofen,  wie  er 
mit  aller  Kraft  denselben  nach  oben  zu  stützen  bemüht  war.  Pat.  war 
dabei  vor  Angst  ganz  starr,  konnte  nur  mittheilen,  es  sei  ihm  fürchter- 
lich ängstlich  zu  Muth,  es  komme  ihm  vor,  als  ob  Alles  auf  ihn  ein- 
stürze. Nach  einigen  Minuten  löste  sich  diese  ängstliche  Starre,  Pat. 
brachte  müde  und  abgeschlagen  einige  Tage  im  Bett  zu,  klagte  über 
Kopfweh  und  hatte  eine  nur  summarische  Erinnerung  für  den  über- 
standenen  Anfall. 

Pat.  war  in  der  Folge  arbeitsam,  frei  von  nervösen  Beschwerden, 
bis  auf  leichte  zeitweise  auftretende  Schwindelanfälle. 

Vor  3  Jahren  beklagte  sich  Pat.  über  zeitweise  Anfälle  von 
stunden-  bis  tagelanger  Störung  im  Denken.  Der  Umgebung  war  er 
in  diesen  Zeiten  nur  durch  sein  träumerisches  Wesen  und  Vorsichhin- 
starren  auffällig,  da  er  durch  diese  Gedankenstörung  in  der  Arbeit 
nicht  gehindert  war. 

Von  der  Zeit  der  Pubertät  an  ergab  sich  Pat.  der  Masturbation, 
der  er  eingestandenermassen  bis  auf  die  neueste  Zeit  fröhnte. 

Mitte  April  1875  machte  sich  Pat.  dadurch  bemerkbar,  dass  er 
die  Arbeit  vernachlässigte,  herumdämmerte,  ganz  in  Gedanken  ver- 
sunken schien,  seine  Absicht,  ein  Dichter  zu  werden,  zu  erkennen  gab 
und  einen  Brief  au  den  heimathlichen  Dichter  Eosegger  schrieb,  worin 
er  bat,  ihn  als  Collegen  zu  betrachten  und  ihm  seine  Freundschaft 
anbot. 

Anfang  Mai  wurden  kurz  hintereinander  3  epilepsieartige  Anfälle 
beobachtet,  deren  erster  durch  einen  Aerger  provocirt  war,  und  in 
Umfallen  mit  folgender  längerer  Bewusstlosigkeit  bestand.  Bei  den 
folgenden  Anfällen  sollen  partielle  krampfhafte  Zuckungen  sich  gezeigt 
haben. 

Auf  den  letzten  dieser  Anfälle  folgte  am  nächsten  Tage  ein  Zu- 
stand von  Delirium,  in  welchem  Pat.  aufgeregt  hin-  und  herlief,  Alles 
zu  zertrümmern  anfing,  sich  für  den  Papst,  den  deutschen  Kaiser, 
einen  König,  seinen  Bruder  für  einen  Feldherrn  hielt,  Schlachten 
schlug,  Heere  anführte.  Auf  dieses  Schlachtendelirium  folgte  eine 
Situation,  in  welcher  sich  Pat.  als  Träger  einer  Rolle  im  Lumpaci- 
vagabundus  fühlte  und  Scenen  aus  diesem  Stück  aufführte.  Das  De- 
lirium, welches  3  Tage  und  3  Nächte  andauerte,  schloss  mit  einer 
Liebesscene,  deren  Personen  Pat.  und  ein  Mädchen  seiner  Bekannt- 
schaft waren. 

Seit  diesem  Anfall,  für  welchen  Pat.  nur  eine  ganz  traumhafte 
Erinnerung  bewahrte,  war  er  nicht  mehr  wie  früher.  Er  schlief  wenig, 
war  sehr  reizbar,  klagte  über  Kopfweh,  Schwere  im  Kopf,  brachte  in 


42  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

seinem  Beruf  nichts  mehr  zu  Stand,  trieb  sich  planlos  in  den  Wäldern 
umher  oder  sass  träumerisch  zu  Hause  da,  romantischen  Ideen,  Dichter 
zu  werden,  Grosses,  dessen  er  sich  aber  nicht  klar  war,  zu  beginnen, 
nachhängend.  In  diesem  eigenthümlichen  Dämmerzustand  erfolgte  seine 
Aufnahme.  Er  zog  sich  in  die  Zimmerecken  zurück,  starrte  tagelang 
träumerisch  vor  sich  hin,  beantwortete  Fragen  nicht  oder  abweichend, 
nahm  eine  stolze  oder  trotzige  Haltung  dem  Fragenden  gegenüber  an, 
Hess  nur  einmal  durchblicken,  er  wolle  Offizier  werden,  eine  Schärpe 
anlegen,  um  den  Leuten,  die  ihn  so  geringschätzig  anblickten,  zu  im- 
poniren.  Aus  seiner  träumerischen  weltverachtenden  Ruhe  aufge- 
stört oder  zur  Arbeit  aufgefordert,  wurde  er  sehr  gereizt  und  unge- 
halten. 

Körperliche  Functionsstörungen,  epileptoide  Erscheinungen,  so  sehr 
darauf  geachtet  wurde,  waren  nicht  zu  bemerken.  Seit  Mitte  Juli 
1875  freier  in  Haltung,  Miene  und  Benehmen.  Er  zeigte  nun  Lust 
zu  Beschäftigung,  gab  befriedigende  Auskunft  über  seine  Vergangen- 
heit, wobei  sich  herausstellte,  dass  seine  Erinnerung  bis  Ende  Juni 
nur  eine  ganz  summarische  war.  Pat,  blieb  in  der  Folge  ganz  ge- 
ordnet, bot  aber  ein  träumerisch  schlaffes,  unstetes  Wesen,  unsicheren 
Blick  und  einen  gewissen  Zwang  iii  der  Mimik,  der  auch  seinen  An- 
gehörigen gelegentlich  eines  Besuches  auffiel.  Ausser  einem  relativ 
grossen  Schädel  und  einem  wohl  angeborenen  kleinen  pigmentirten 
Exsudatstreifen  in  der  Chorioidea  des  linken  Auges  fanden  sich  keine 
Anomalien  bei  der  körperlichen  Untersuchung  vor. 

Resumiren  wir  die  vorstehenden  Beobachtungen,  so  finden  wir: 

1.  im  Fall  H.  Erbliche  Anlage.  Schwächliche  Constitution.  Con- 
vulsionen  in  der  Kindheit.  Nervöses  Temperament.  Retardirte 
Entwickelung.  Hang  zum  Romantischen,  .Phantastischen,  patho- 
logische Reaction  auf  Alkohol.  Mit  19  Jahren  Einsetzen  der 
Krankheit  mit  Anfällen  von  bewusstlosem  Umstürzen  mit  folgendem 
Weinkrampf  und  vorausgehender  vasomotorischer  Aura.  Dazu 
treten  Anfälle  von  Denkstörung  mit  prodromalen  schreckhaften 
Hallucinationen  und  nur  summarischer  Erinnerung.  Später  Dämmer- 
zustände mit  phantastischen  expansiven  Zwangsvorstellungen  und 
impulsiven  Acten,  für  deren  Dauer  nur  eine  ganz  summarische  Er- 
innerung besteht,  Mit  22  Jahren  mehrmonatlicher  Anfallscyclus 
von  ganz  stereotypem,  bewusstlosem,  expansivem  Delirium.  Die 
einzelnen  Anfälle  von  stunden-  bis  tagelanger  Dauer,  hier  und  da 
eingeleitet  von  Neuralgien  und  schreckhaften  Hallucinationen,  ge- 
folgt regelmässig  von  Stupor,  Kopfweh,  Reizbarkeit.    Einmal  com- 


Erster  Aufsatz  (1875).  43 

pliciren  das  Delirium  Zuckungen  der  oberen  Extremitäten  und 
des  Kopfes. 

Intercurrent  tritt  ein  Anfall  von  bewusstlosem  Zusammen- 
stürzen auf,  unter  vorausgehendem  Schwindel  und  Aengstlichkeit, 
ferner  ein  Anfall  von  petit  mal  (acuter  psychischer  Depressions- 
zustand mit  Suicidium versuchen ,  Umneblung  des  Bewusstseins) 
mit  fehlender  Erinnerung.  Intervallär  Kopfweh,  Reizbarkeit,  ängst- 
liche Träume,  ausserdem  Atrophia  chorioideae  und  Strabismus. 

2.  im  Fall  Igl.  Vater  Potator.  Angeborenes  jähzorniges  Tempera- 
ment, Nystagmus,  Parese  des  linken  Mundwinkels.  Excesse  in 
baccho.  Mit  14  Jahren  Dämmerzustände  mit  impulsiven  Hand- 
lungen. Mit  16  Jahren  expansive  Zwangsvorstellungen.  Später 
mehrmonatliches  expansives  Delirium.  Mit  17  Jahren  wieder 
Dämmerzustände  mit  impulsiven  Acten.  Mit  18  Jahren  neuer 
Anfall  von  expansivem  Delirium.  Darauf  Angstzufälle  und  schreck- 
hafte Träume  mit  partiellen  tonischen  Krämpfen;  später  wieder 
Dämmerzustände.  Mit  21  Jahren  epileptischer  Anfall.  Mit 
24  Jahren  wiederholte  epileptische  Anfälle.  Darauf  Dämmerzu- 
stand, endlich  3.  Anfall  von  ganz  stereotypem  expansivem  Delirium 
mit  nur  summarischer  Erinnerung.  Intervallär  partielle  tonische 
Krämpfe. 

3.  im  Fall  A.  Starke  erbliche  Belastung.  Gute  Begabung,  früh 
grosses  Selbstgefühl  und  Hang  zur  Romantik.  Mit  14  Jahren 
Angstanfall  mit  tetanischer  Starre  und  nur  summarischer  Erinne- 
rung. Später  Schwindelanfälle.  Mit  16  Jahren  Anfälle  psychischer 
Umdämmerung  und  Denkstörung.  Mit  19  Jahren  Dämmerzustand 
mit  expansiven  überwältigenden  Ideen.  Darauf  3  epileptische 
Anfälle.  Später  expansives  Delirium  mit  summarischer  Erinnerung. 
Endlich  mehrmonatlicher  Dämmerzustand  mit  expansiven  Ideen 
und  lückenhafter  Erinnerung.     Intervallär  Reizbarkeit.    Kopfweh. 

TJeber  die  Schädelmasse  der  3  Patienten,  von  denen  Igl.  u.  A. 
etwas  in  der  allgemeinen  körperlichen  Entwickelung  zurückgeblieben 
erscheint,  A.  zudem  einen  relativ  grossen,  an  hydrocephalische  Formen 
erinnernden  Kopf,  Igl.  einen  rechterseits  in  der  Entwickelung  ver- 
kümmerten Gesichtsschädel  besitzt,  giebt  nachstehende  Tabelle  Aus- 
kunft. 


44 


lieber  Dämmer-  und  Traumzustände. 


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34 

18 

15 

12 

16,5 

11 

4 

2.  Igl. 

25 

53 

31 

37,5 

26 

36 

17 

15,25 

11,5 

rechts  16,5 
links  17 

9,75 

4,75 

3.  A. 

19 

55 

31 

37 

23 

36 

18 

15,25 

12,75 

15,5 

11 

4,75 

Die  mitgetheilten  Fälle  bedürfen  keines  weiteren  Commentars. 
Trotz  individueller  Besonderheiten  sind  sie  wahre  Parallelfälle,  die  an 
der  empirisch  wahren  Natur  des  Krankheitshildes  nicht  zweifeln  lassen. 

Die  bisherige  Literatur  bietet  wenig  Ausbeute  über  diese  epilep- 
tischen Dämmer-  und  Traumzustände. 

Von  Flechner  (Oesterr.  Zeitschr.  f.  pract.  Heilkunde  XVII.  24) 
ist  eine  interessante  hierhergehörige  Beobachtung  mitgetheilt. 

Ein  Schustergeselle,  28  Jahre  alt,  versucht  einen  Kameraden  zum 
Raubmord  zu  verleiten.  Als  Knabe  Trauma  capitis.  Darauf  epilep- 
tische Anfälle  und  solche  von  „Mania  epileptica".  Diese  verschwinden. 
An  die  Stelle  treten  traumartige  Dämmerzustände  mit  Kopfschmerz, 
verkehrten  Reden  und  Amnesie.  In  einem  solchen  Anfall  Verleitung 
zum  Raubmord. 

In  einer  zweiten  vom  gleichen  Autor  (Psychiatr.  Centralblatt  1874, 
No.  10,  11)  mitgetheilten  Beobachtung  ist  eine  Handarbeiterin,  38  Jahre, 
verschiedener  Diebstähle  und  Schwindeleien  angeklagt.  Als  Kind  Con- 
vulsionen.  Vom  17.  Jahre  an  epileptische  Anfälle,  dann  Dämmerzu- 
stände mit  ganz  verkehrten  Handlungen,  später  „Mania  epileptica" 
im  Anschluss  an  convulsive  Anfälle.  Statt  solcher  in  der  Folge  zeit- 
weise Anfälle  von  Schwindel,  momentaner  Bewusstlosigkeit,  Angst  und 
Herzklopfen.  1870  Dämmerzustand  von  längerer  Dauer  mit  roman- 
haften Ideen,  die  zu  Schwindeleien  führen.  1871  analoger  Zustand 
mit  ganz  summarischer  Erinnerung.    Später  acute  Depressionszustände 


Erster  Aufsatz  (1875).  45 

mit  Taed.  vitae  und  Dämmerzustände  mit  expansiven  Ideen  hoher  Ab- 
stammung u.s.w. 

Einen  werthvollen  Beitrag  hat  Hecker  (Tierteljahrschr.  f.  gerichtl. 
u.  öffentl.  Med.  N.  F.  XX.  K.  1,  1874)  geliefert.  Ein  Soldat,  24  Jahre, 
wird  im  letzten  Feldzug  als  Deserteur  aufgegriffen.  Keine  Erblich- 
keit. Als  Kind  von  10  Wochen  Convulsionen.  Normale  Entwickelung, 
gute  Erziehung,  geistige  Beschränktheit.  Mit  12  J.  Anfälle  psychischer 
Umdämmerung  und  Bewusstseinsstörung  mit  impulsiven  Handlungen, 
z.  B.  Weglaufen  von  der  Arbeit,  Herumirren,  Desertionen.  Später 
Schwindelanfälle,  Angstanfälle,  z.  B.  wenn  er  das  Gewehr  losschiessen 
oder  zur  Schwimmschule  sollte.  Vom  August  1870  bis  Januar  1871 
Dämmerzustände,  in  welchen  er  desertirt,  herumschwindelt,  sich  für 
einen  Lieutenant  u.  s.  w.  ausgiebt,  hinterher  nur  eine  ganz  summarische 
Erinnerung  besitzt.  Intervallär  Kopfweh,  zeitweises  Zittern,  Frieren, 
ab  und  zu  Waden-  und  Schreiberkrampf,  Zufälle  ganz  momentaner, 
wohl  als  Vertigo  zu  deutender  Bewusstlosigkeit. 

Hieran  reiht  sich  endlich  ein  Fall  von  Leidesdorf  (Med.  Jahr- 
bücher 1875  H.  2).  Ein  Mensch  wird  in  Wien  auf  der  Strasse  ge- 
funden, der  anfangs  gar  nicht,  später  ganz  incohärent  antwortet,  allmälig 
zum  Bewusstsein  zurückkehrt.  Mit  18  Jahren  Stirnverletzung  durch 
einen  Mastbaumsplitter.  Seitdem  Anfälle,  in  welchen  er  unbewusst 
von  Hause  oder  Amt  sich  entfernt,  tagelang  dämmerhaft  umherirrt, 
Gestalten  aus  der  Mythologie  sieht,  mit  denen  er  spricht,  fühlt,  wie 
Cyclopen  seinen  Kopf  als  Ambos  benutzen.  Nur  traumhafte  Erinnerung 
für  diese  Anfälle.  Nach  denselben  geistig  und  körperlich  matt,  ge- 
dächtnissschwach und  nur  allmälige  Rückkehr  zur  Lucidität. 

Ueberblicken  wir  das  ganze  uns  bisher  wissenschaftlich  gebotene 
Material,  so  dürfte  es  nicht  schwer  sein,  das  Bild  der  Krankheit  zu 
zeichnen.  Das  Schema  stimmt  vielfach  mit  dem  der  epileptoiden  von 
Griesinger  aufgestellten  Zustände  überein. 

In  einigen  Fällen  verräth  sich  eine  neuropathische  Constitution 
schon  durch  Convulsionen  in  der  Kindheit.  Gewöhnlich  zeigen  sich 
die  ersten  Spuren  der  Neurose  in  der  Pubertätszeit.  Genuine  epileptisch 
convulsive  Anfälle  finden  sich  gar  nicht  oder  nur  ganz  vereinzelt. 
Statt  ihrer  vertigoartige  oder  Angstzufälle.  Intervallär  mehr  oder 
weniger  deutliche  Zeichen  einer  dauernden  Störung  im  centralen 
Nervensystem,  die  sich  theils  durch  Kopfweh,  Reizbarkeit,  ängstliche 
Träume,  theils  durch  motorische  Symptome  (Neigung  zu  partiellen 
tonischen  Krämpfen,  Zittern,  in  einem  Falle  auch  Nystagmus)  zu  er- 
kennen giebt. 

Als  Aequivalente  der  psychischen  Symptomencomplexe  des  petit 


46  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

mal  und  grand  mal  erscheinen  in  unseren  Fällen  eigentümliche  Zu- 
stände Stunden  bis  Wochen  währender  tiefer  Störung  des  Bewusst- 
seins,  die  sich  theils  als  protrahirte  Analoga  jener  Bewusstseinspausen 
(absences)  und  interparoxysmellen  Dämmerzustände,  deren  epileptische 
Natur  schon  längst  erkannt  ist,  ansprechen  lassen,  theils  den  Charakter 
des  Delirium  an  sich  tragen.  Interessant  bleibt  die  Thatsache,  dass, 
entgegen  dem  in  der  ungeheueren  Mehrzahl  bei  Epilepsie  beobachteten 
depressiven  Delirium  der  Inhalt  desselben  ein  expansiver  ist. 

Jene  Dämmerzustände  sind  ausgezeichnet  durch  ganz  planlose 
unmotivirte,  bewusstlose  Handlungen  und  in  einigen  Fällen  durch 
regelmässig  wiederkehrende,  expansive,  zu  Zeiten  überwältigende  krank- 
hafte Vorstellungen.  In  den  Zuständen  von  Delirium  nähern  sich  die 
Kranken  ekstatischen  und  somnambulen  Krankheitsbildern.  Ihr  Be- 
wusstsein  ist  tief  gestört,  gestattet  jedoch  ein  scheinbar  bewusstes 
Handeln  und  Sprechen. 

An  der  epileptischen  Natur  dieser  Zustände  ist  im  Zusammenhalt 
mit  der  Anamnese,  den  intervallären  Erscheinungen  nicht  zu  zweifeln. 
Am  Deutlichsten  giebt  sich  jene  im  Fall  Holl.  zu  erkennen,  wo  schreck- 
hafte Hallucinationen  die  Bedeutung  einer  Aura  für  den  Anfall  ge- 
winnen, dieser  auch  einmal  mit  convulsiven  Erscheinungen  complicirt 
ist  und  Stupor,  Beizbarkeit,  Kopfweh  jeweils  ihm  folgen. 

Die  stereotype  Wiederkehr  derselben  deliranten  Vorstellungen 
das  brüske  Eintreten  und  Aufhören  der  Symptome,  die  höchst 
summarische  Erinnerung  haben  diese  Dämmer-  und  Traumzustände 
ebenfalls  mit  den  bekannten  Zuständen  des  petit  und  des  grand  mal 
gemein. 

Es  erübrigt  mir  schliesslich  auf  die  forensische  Bedeutung  dieser 
noch  wenig  gekannten  Dämmer-  und  Traumzustände  zu  verweisen. 
Mehrere  der  angeführten  Kranken  sind  mit  den  Gerichten  in  Conflict 
gekommen  wegen  impulsiver  strafbarer  Handlungen,  die  in  die  Zeit 
ihrer  Dämmer-  und  Traumzustände  fielen.  Ohne  die  Kenntniss  der 
Anamnese  und  der  neurotischen  Basis  dieser  Krankheitszustände  dürfte 
es  schwer  sein,  dem  Eichter  Klarheit  in  der  Situation  zu  geben.  Un- 
willkürlich drängt  sich  die  Frage  auf,  ob  jener  denkwürdige  Holz- 
apfel'sche  Mordprocess,  über  den  das  Archiv  der  Psychiatrie  (V.  H.  1) 
jüngst  berichtete  und  über  den  die  Stimmen  der  Sachverständigen  so 
getheilt  waren,  nicht  der  Gruppe  jener  epileptoiden  Dämmer-  und 
Traumzustände  angehört  und  vor  dem  Forum  der  Wissenschaft 
wenigstens  eine  Revision  fordert. 


Zweiter  Aufsatz1) 
(1877). 

Beob.  4.    Der  Fall  Holtzapfel  nach  den  Gutachten  der  Sachver- 
ständigen und  den  Verhandlungen  der  Berliner  med.  psycholo- 
gischen Gesellschaft. 

(Vgl.  Archiv  f.  Psychiatrie  V.  S.  235.  307.  311.;   VI.  862;  Casper,  Lehrbuch  der 
gerichtl.  Med.  bes.  v.  Liman,  6.  Aufl.,  1876.  S.  609.) 

Im  einstöckigen  Nebengebäude  eines  Hauses  in  Charlottenburg, 
in  welchem  Wittwe  L.  ein  Conditoreigeschäft  betrieb,  war  die  Schlaf- 
stelle des  männlichen  Personals  der  Conditorei.  In  dem  Schlafzimmer 
standen  4  Betten  längs  der  Wände  und  unter  dem  einzigen  Fenster 
ein  runder  Tisch.  Aus  dem  Schlafzimmer  gelangte  man  in  ein  Vor- 
zimmer. Neben  der  Zwischenthür  befand  sich  in  letzterem  ein 
weiterer  Tisch.  Aus  dem  Vorzimmer  führte  eine  Treppe  direct  in 
den  Hofraum. 

In  den  4  Betten  des  Schlafzimmers  schliefen  in  der  Nacht 
vom  8/9.  April  1873  der  27jährige  Conditorgehilfe  Fleischer,  der 
21  Jahre  alte  Gehilfe  Schulz,  der  25  jähr.  Hausdiener  Sutor  und  der  18  jähr. 
Conditor  Holtzapfel. 

Es  mochte  gegen  3  Uhr  Morgens  sein,  als  Seh.  über  einer 
Detonation  erwachte.  Er  sah  Holtzapfel,  mit  Hose  und  Weste  be- 
kleidet, ein  brennendes  Licht  in  der  einen,  einen  Bevolver  in  der 
anderen  Hand  haltend,  an  der  Thüre  stehen.  Auf  seinen  Ruf:  „Franz, 
Franz,  Sie  erschiessen  uns  Alle"  feuert  H.  zwei  Schüsse  auf  Seh.  ab, 
die  diesen  verwunden  und  wendet  sich  dann  gegen  FL,  der  vom  ersten 
Schuss  getroffen,  im  Bett  sich  aufgerichtet  hatte  und  nun  durch  einen 
•zweiten  hingestreckt  wird.  Darauf  jagt  H.  dem  gegenüberliegenden  S. 
eine  Kugel  in  den  Kopf  und  geht  ins  Vorzimmer.    Dort  wird  er  von 

1)  Friedreich's  Blätter  für  gerichtl.  Median  1877.  2. 


48  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

dem  entsetzten  Seh.  betroffen,  wie  er  den  Revolver  von  Neuem  ladet. 
Seh.  bittet  H.,  er  möge  ihm  Wasser  holen,  damit  er  seine  Wunden 
auswaschen  könne.  H.  weigert  dies  mit  den  Worten:  wenn  er  hin- 
untergehe, wäre  es  sein  Unglück,  denn  unten  ständen  2  Männer. 
Seh.  meint  vorwurfsvoll:  „Siehe  nur,  Franz,  hättest  du  etwas  höher 
gezielt,  so  hättest  du  mich  in  die  Schläfe  getroffen."  „Wo  sind  die 
Schläfe",  fragt  Holtzapfel  und  hält  an  die  bezeichnete  Stelle  seinem 
Freund  die  Pistole,  ohne  jedoch  loszudrücken.  Während  Seh.  sich 
mit  den  Verwundeten  zu  thun  macht,  nähert  sich  ihm  H.  und  schiesst 
nochmals  nach  ihm.  Der  Schuss  streift  das  Nasenbein.  Nun  entsteht 
ein  verzweifeltes  Eingen  zwischen  Seh.  und  H.,  wobei  der  Revolver 
nochmals  losgeht,  Seh.  am  Schenkel  verwundet  und  das  Licht  erlischt. 
Der  verwundete  S.  hat  sich  mittlerweile  aufgerafft  und  dem  Mörder 
die  Waffe  entrissen.  Als  Seh.  den  S.  ersucht,  das  Licht  wieder  anzu- 
zünden, so  thut  dies  H.  selbst,  während  Seh.  den  Leuchter  hält. 
H.  bittet  um  Rückgabe  des  Revolvers,  er  wolle  sich  selbst  erschiessen. 
Er  äussert  zu  Seh.,  er  habe  nur  gespasst,  Seh.  möge  sich  nur  zu  Bett 
legen,  er  werde  Alles  bezahlen,  man  möge  ihn  nicht  unglücklich 
machen.    Seh.  und  S.  fliehen,  um  die  Hausbewohner  zu  wecken. 

H.  erscheint  bald  darauf  ohne  Hut  mit  brennender  Cigarre  auf 
dem  Hof,  geht  dort  einige  Male  horchend  auf  und  ab  und  kehrt  wieder 
nach  dem  Bodenraum  zurück.  Er  macht  Licht,  geht  im  Zimmer  hin 
und  her,  kehrt  rauchend,  im  Sonntagsanzug,  einen  Cylinderhut  auf 
dem  Kopf,  aber  in  Morgenschuhen,  auf  den  Hof  zurück,  geht  wieder 
horchend  einige  Male  auf  und  ab  und  verschwindet  dann  nach  dem 
Garten  hin.  Er  nahm  seinen  Weg  über  einige  Grundstücke  nach  der 
Strasse,  erschien  Morgens  zwischen  5  und  6  Uhr  in  einem  Frühstücks- 
keller am  Molkenmarkt  in  Berlin,  forcierte  Waschwasser  und  Kaffee, 
erzählte,  die  ganze  Nacht  nicht  geschlafen  zu  haben,  es  seien  Diebe 
in  Charlottenburg  eingebrochen  und  2  seiner  Freunde  dabei  erschossen 
worden.  Der  Wirthin  graute  es  vor  dem  Gast,  sie  weigerte  das  Ver- 
langte, worauf  er  mit  den  Worten  fortging:  „Sie  denken  wohl,  ich 
bin  auch  einer  davon." 

H.  kehrte  nun  bei  einem  Barbier  ein,  Hess  sich  den  Vollbart  ab- 
nehmen und  die  Haare  stutzen,  fragte  nach  dem  nächsten  Bahnhof, 
erzählte,  er  sei  mit  2  seiner  Freunde  von  4  Spitzbuben  überfallen 
worden.  Die  Collegen  seien  wahrscheinlich  erschossen,  ihm  sei  es 
gelungen  zu  entwischen. 

Er  begab  sich  nach  dem  bezeichneten  Bahnhof,  reiste  in  der 
Richtung  nach  Frankfurt  a.  0.  ab,  verdingte  sich  am  10.  in  Lebus, 
wo  nichts  Auffälliges-  an   ihm  bemerkt  wurde.     Bei  der  Verhaftung 


Zweiter  Aufsatz  (1877).  49 

am   11.  wunderte  er  sich   über   seine  schnelle  Auffindung,   läugnete 

jegliches  Wissen  seiner  That,  es  wäre  ihm  allerdings,  als  ihm  der 

Revolver  entrissen  wurde,  gesagt  worden,  dass  er  geschossen  habe. 

In  diesem  Moment  sei  er  aus  einem  Zustand  von  Schlaftrunkenheit  zu 

sich  gekommen  und  von  da  an  nur  auf  seine  Flucht  bedacht  gewesen. 

Er  schlafe  seit  seiner  Kindheit  unruhig,  habe  kürzlich  geträumt,  er 

gehe  mit  seinen  Freunden  spazieren  und  es  kämen  wilde  Thiere  auf 

sie  zu,  da  habe  Fl.  ihm  zugerufen:    „Schiessen  Sie  doch"!   Nun  habe 

er  nach  dem  über  seinem  Bett  hängenden  Revolver  gegriffen.    Dieser 

sei  aufs  Bett  gefallen   und  darüber   sei  er  erwacht.    Diesen  Traum 

hatte  er  thatsächlich   vor   Kurzem    erzählt.     Der  Revolver,   den   er 

angeblich   gemeinsam   mit  Fl.   aus  Furcht   vor  Einbrechern  gekauft 

hatte,   hing  gewöhnlich  über  seinem  Bette.    Er  war   zuletzt  von  Fl. 

geladen  worden. 

Die  Anklage  des  Staatsanwalts  ging  auf  Raubmord  und  unter- 
stellte H.  die  Absicht  seine  Schlafkameraden  zu  ermorden,  um  dann 
seine  Herrin  berauben  zu  können.  Es  wurde  constatirt,  dass  die  von 
dem  Zimmer  der  Herrin  zu  dem  der  Bediensteten  führende  Klingel- 
sclmur  ausgehackt  und  damit  gebrauchsunfähig  war.  Der  üble 
Leumund  des  H.,  mehrere  in  letzter  Zeit  vorgekommene  Hausdieb- 
stähle,  deren  H.  dringend  verdächtig  war  und  wegen  derer  eine 
gerichtliche  Untersuchung  ihm  drohte,  schienen  Stützen  der  Anklage. 
Die  vermissten  Gegenstände  wurden  wirklich  im  Besitz  des  H. 
gefunden.  Er  läugnete  deren  Diebstahl,  wollte  sie  theils  gefunden, 
theils  gekauft  haben. 

Die  von  der  Vertheidigung  während  der  Voruntersuchung  bean- 
tragte ärztliche  Untersuchung  des  Geisteszustandes  wurde  nicht  be- 
willigt (!).  Erst  zu  der  öffentlichen  Verhandlung  am  16.  October 
wurden  Sachverständige  (fünf)  geladen.  Da  diese  erklärten,  im  Termine 
nicht  ihr  Gutachten  abgeben  zu  können  und  eine  Exploration  ver- 
langten, so  wurde  über  Antrag  der  Vertheidigung  der  Termin  ver- 
tagt und  die  Verhandlung  gegen  H.  am  12.  Januar  1874  wieder  auf- 
genommen. 

Aus  den  Verhörsprotokollen  und  Ermittelungen  der  Sachver- 
ständigen ergibt  sich  über  H.'s  Vorleben,  Persönlichkeit  und  That- 
umstände  folgendes: 

H.  gehört  einer  Familie  an,  in  welcher  mehrfach  Hirnkrankheiten 
vorgekommen  sind.  Die  Tante  seines  Vaters  war  nicht  richtig  im 
Kopf,  Vaters  Bruder  und  Mutter  Schwester  litten  an  Epilepsie.  Ein 
Sohn  des  erstereu  hatte  seine  5  Sinne  nicht  beisammen,  eine  Tochter 
dieses  Mannes  ist  epileptisch. 

Krafft-Ebing.  Arbeiten  III.  * 


50  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Ueber  die  ersten  Lebensjahre  H.'s  enthalten  die  Berichte  nichts. 
Vom  7. — 14.  Jahre  an  litt  er  etwa  4 — 5  mal  jährlich  an  Anfällen,  in 
welchen  er  aus  dem  Schlaf  aufsprang,  im  Hemd  in  der  Stube  herum- 
lief, ab  und  zu  auch  wohl  die  Hände  zusammenballte  oder  ängstlich 
schrie:  „sie  wollen  mir  kriegen",  auf  Anrufen  dann  wieder  zu  sich 
kam  und  hinterher  von  dem  Vorgefallenen  nicht  das  Mindeste  wusste. 
Auch  seine  10jährige  Schwester  leidet  an  ähnlichen  Anfällen.  Ohn- 
mächten, Schwindelanfälle,  Krämpfe  und  dgl.  waren  dagegen  nie  an 
ihm  beobachtet  worden.  Auch  die  Anfälle  von  Aufschrecken  im  Schlaf 
kamen  nach  dem  14.  Jahr  nicht  mehr  zur  Beobachtung.  Nur  sein 
Brodherr  berichtet  aus  späterer  Zeit  (v.  Archiv  f.  Psych.  V.  p.  311), 
dass  H.  bei  Gelegenheit  wie  ein  Wüthender  sich  auf  ihn  gestürzt  habe, 
wie  wenn  er  ihn  zu  Boden  schlagen  wollte  und  ein  andermal  (ebenda 
pag.  312),  dass  er  den  H.,  der  ihm  immer  unerklärlich  gewesen  sei, 
in  einem  andern  Zustand  von  Wuth  gesehen  habe,  in  welchem  dieser 
auf  der  Gartenbank  gesessen  und  in  einer  AVeise  „gezappelt" 
habe,  dass  es  ihm  ganz  räthselhaft  vorgekommen  sei. 

Bis  zum  14.  Jahre  finden  H.'s  Lehrer  ihn  zwar  wenig  begabt, 
körperlich  schwach,  schlaff,  von  schweigsamem,  zurückhaltendem  Be- 
nehmen, aber  als  einen  guten  folgsamen  Menschen.  Von  da  ab 
(Pubertät,  Aufhören  der  Anfälle)  muss  eine  Aenderung  des  Charakters 
sich  bei  H.  vollzogen  haben,  wenigstens  wird  er  in  der  Folge  als  ein 
widerspenstiger,  heimtückischer,  boshafter,  mitunter  excentrischer 
Mensch  geschildert,  der  kleine  Diebstähle  beging  und  der  Urheber- 
schaft eines  nach  einem  erhaltenen  Verweis  ausgebrochenen  Brandes 
dringend  verdächtig  war. 

Von  körperlichen  Krankheiten  scheint  H.  bis  auf  die  jüngste  Zeit 
verschont  gewesen  zu  sein,  nur  ab  und  zu  litt  er  an  Kopfweh.  Auch 
sein  Schlaf  war  trotz  seiner  gegentheiligen  Versicherung  ein  ruhiger, 
wie  dies  Zeuge  Schulz,  der  über  ein  Jahr  mit  ihm  zusammenschlief, 
bezeugte.  Niemals  wurden  an  ihm  weder  vor  der  That  noch  nach 
derselben  in  der  Haft  epileptische  oder  epileptoide  Erscheinungen 
beobachtet.  Ueber  H.'s  geistige  Begabung  lauten  die  Ansichten  der 
Beobachter  divergent.  Von  einigen  wird  er  als  vollsinnig  bezeichnet, 
andere  halten  ihn  für  geistig  beschränkt,  was  allerdings  mit  Bezug 
auf  die  Angaben  seiner  Lehrer,  sein  unsinniges  Läugnen  der  Dieb- 
stähle, deren  er  doch  überführt  ist,  sein  theilweise  läppisches  Be- 
nehmen in  den  Verhören  und  Aussprüche  in  seinen  Briefen  an  die 
Geschwister  „vergesst  nie,  was  Ihr  eurem  dankbaren  Vater  schuldig 
seid"  —  „die  christliche  Kirche  stammt  von  der  katholischen  Keligion" 
glaubhaft  erscheint. 


Zweiter  Aufsatz  (1877).  5J 

In  körperlicher  Beziehung  erscheint  H.  in  seinem  Wachsthum  und 
in  der  Entwickelung  zurückgeblieben,  von  knabenhaften  Zügen,  kleinem 
Schädel. 

Was  H.'s  Verhalten  in  den  der  That  vorausgehenden  Stunden 
betrifft,  so  erschien  er  seiner  Braut  etwas  angetrunken.  Er  fühlte 
etwas  Kopfweh  und  Ermüdung.  Einen  Alkoholexcess  hatte  er  that- 
sächlich  nicht  begangen.  Er  bot  bei  der  Heimkehr  nichts  Auffälliges, 
legte  sich  mit  den  Anderen  etwa  um  10  Uhr  zu  Bett.  Auch  während 
der  Katastrophe  erschien  er  dem  einzigen  überlebenden  Zeugen  der- 
selben (Schulz)  nicht  anders  als  sonst,  nur  etwas  ängstlich.  Die 
Insinuation,  dass  er  zur  Zeit  der  That  irrsinnig  gewesen  sei,  weist  H. 
zurück.  Er  entschuldigt  sie  mit  Schlaftrunkenheit.  Wichtig  ist  noch 
das  Verhalten  seiner  Erinnerung  für  die  Zeit  der  That. 

Er  erinnert  sich,  dass  er  nach  dem  Zubettgehen  sofort  einschlief 
und  datirt  seine  Besinnung  erst  von  dem  Zeitpunkt  an,  wo  ihm  der 
Eevolver  aus  der  Hand  gewunden  wurde.  Den  Revolver  habe  er  nicht 
knallen  hören.  Er  weiss,  dass  Seh.  zu  ihm  sagte:  „Sie  erschiessen 
uns  Alle",  er  erinnert  sich,  dass  er  seine  Opfer  bluten  sah.  Weitere 
Erinnerungsdetails  ergeben  sich,  ob  vorhanden  oder  nicht,  aus  dem 
Kreuzverhör  nicht.  Ueber  die  Details  seiner  Flucht  gibt  H.  keine 
befriedigende  Auskunft  —  er  weiss  es  nicht  —  indessen  scheint  er 
dafür  doch  eine  Erinnerung,  wenigstens  eine  summarische  zu  besitzen. 

Die  Gutachten  von  3  Sachverständigen  gehen  dahin,  dass  sie  an 
H.  nichts  Krankhaftes  wahrgenommen  haben,  auch  erscheint  ihnen 
sein  Gtisteszustand  zur  Zeit  der  That  nicht  pathologisch;  ein  vierter 
hält  seine  That  für  das  Product  eines  Krankheitszustandes  auf  epi- 
leptischer Grundlage,  der  fünfte  erkennt  in  H.  zwar  den  Verbrecher, 
findet  aber  in  seiner  erblich-nervösen  constitutionellen  Belastung  und 
seinem  infantilen  Nervenleiden  Momente,  die  eine  verminderte  "Wider- 
standsfähigkeit gegen  sträfliche  Versuchungen  (verminderte  Zurech- 
nungsfähigkeit annehmen  lassen. 

Die  von  der  Vertheidigung  beantragte  Einholung  eines  Obergut- 
achtens wurde  vom  Gerichtshof  abgelehnt,  „weil  nach  den  gesetzlichen 
Vorschriften  keine  Nöthigung  hierzu  vorliege,  im  vorliegenden  Falle 
(die  Referenten  der  med.  Oberbehörden  hatten  hier  als  Sachverständige 
fungirt)  auch  kein  Nutzen  zu  erwarten  sei". 

Die  Geschworenen  bejahten  die  Schuldfrage,  der  Gerichtshof  fällte 
ein  Todesurtheil.    H.  wurde  zur  Zuchthausstrafe  begnadigt, 


4* 


52  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Existirte  auch  mit  diesem  Verdict  Holtzapfel  für  das  Strafgericht 
nicht  mehr,  so  blieb  er  doch  ein  Problem  für  die  Wissenschaft.  Blieben 
doch  so  manche  Zweifel  ungelöst,  waren  doch  in  diesem  Criminalfall 
bezüglich  der  Motive  und  des  Mechanismus  der  Handlung  so  manche 
Widersprüche,  während  die  medicinische  Wissenschaft,  obwohl  sie  in 
mehrfacher  Hinsicht  pathologische  Erscheinungen  an  H.  fand,  doch 
nicht  im  Stande  war,  dieselben  zu  einer  diagnostischen  Formel  zu- 
sammen zu  fassen. 

Die  Berliner  med.  psychologische  Gesellschaft  unterzog  sich  in 
ihren  Sitzungen  vom  4.  Mai  und  1.  Juni  1874  der  dankenswerthen 
Aufgabe,  den  Fall  Holtzapfel  zum  Gegenstand  einer  Discussion  vor 
dem  Forum  der  Wissenschaft  zu  machen. 

Die  Ansichten  der  Mitglieder  waren  ebenso  getheilt  wie  die  der 
Experten.  Während  Liman,  Skrzeczka,  Westphal,  Falk  Holtzapfel 
für  einen  Verbrecher  erklärten,  erkannten  Wolff,  Ideler,  Mendel,  Sander 
in  ihm  einen  Kranken. 

Die  Discussion  drehte  sich  in  ihren  Hauptpunkten: 

1.  um  die  Gesammtpersönlichkeit  des  Holtzapfel. 

Wolff  und  Sander  betonten  die  erbliche  Disposition,  den  Schwach- 
sinn, gewisse  Anomalien  der  Körperentwickelung  und  die  auffällige 
Charakteränderung  zur  Pubertätszeit,  wozu  nach  W.'s  Ansicht  noch 
der  instinktive  Charakter  seiner  früheren  Verbrechen,  für  die  ein 
rechtes  Motiv  fehle,  seine  Zornmüthigkeit  kommen.  Nach  ihm  und 
Ideler  ist  H.  ein  epileptisch  Irrer,  nach  Sander  ein  auf  hereditärer 
Basis  disponirtes  Individuum,  ein  moralischer  Idiot,  während  Westphal 
Liman,  Skrzeczka  H.  nicht  schwachsinnig  finden  können  und  für  eine 
Verbrechernatur,  wobei  allerdings  organische  Momente  nicht  ganz 
auszuschliessen  sind,  halten  müssen.  Die  ersteren  Anschauungen  sind 
auf  synthetischem,  die  letzteren  auf  vorwiegend  analytischem  Wege 
gewonnen. 

2.  Die  Feststellung  der  Natur  der  Anfälle  in  der  Kindheit. 

Liman  kann  dieselben  nicht  als  epileptische  ansehen,  denn  eine 
Sistirung  solcher  durch  Aufrütteln  sei  nicht  beobachtet.  Wenn  sie 
epileptische  wären,  so  wäre  auch  auffällig,  dass  sie  keine  schädliche 
Wirkung  auf  die  psychischen  Functionen  hatten.  Sie  lassen  sich  noch 
am  ehesten  als  Zufälle  von  Schlaftrunkenheit  deuten,  wozu  überhaupt 
das  sog.  Aufschrecken  der  Kinder  zu  rechneu  sein  dürfte.  Keineswegs 
lassen  sie  sich  auf  ein  tieferes  Leiden  des  Nervensystems  beziehen, 
sind  zudem  seit  Jahren  nicht  mehr  vorgekommen,  somit  für  die  Beur- 


Zweiter  Aufsatz  (1877).  53 

theilung  des  Zustandes  zur  Zeit  der  That  belanglos.  Aelmlicli  Skrzeczka. 
Wolff  sieht  sich  genöthigt,  diese  Anfälle  von  Aufschrecken  bei  ihrer 
langen  Dauer  und  der  fehlenden  Erinnerung  dafür  für  epileptoide  zu 
erklären,  desgleichen  Ideler,  der  darauf  hinweist,  dass  sie  mit  Bewusst- 
losigkeit  einhergingen  und  bei  einem  Individuum  vorkamen,  in  dessen 
Blutsverwandtschaft  Epilepsie  zu  Hause  ist.  Auch  die  Möglichkeit, 
aus  epileptischen  Zuständen  Leute  zu  erwecken,  sei  nicht  ganz  aus- 
zuschliessen.  Mendel  verweist  auf  die  Erfahrung  von  Romberg,  der 
solche  Anfälle  von  Aufschrecken  der  Kinder  als  Vorläufer  der  Epilepsie 
beobachtete,  Wolff  auf  Henoch  und  Hess,  wonach  diese  Anfälle  auf 
epileptoider  Basis  beruhen  dürften.  Der  Hauptbeweis  für  seine  Ansicht 
liege  in  der  Congruenz  der  Erscheinungen. 

3.  Der  Zustand  H.'s  zur  Zeit  seiner  That, 

Liman  beweist,  dass  kein  Zustand  der  Schlaftrunkenheit  vor- 
handen war,  das  Verhalten  nach  der  That  wäre  dann  ein  ganz  anderes 
gewesen. 

Auch  um  einen  Zustand  sog.  psychischer  Epilepsie  könne  es  sich 
nicht  handeln,  denn  weder  prodromale  noch  postparoxysmale  Erschei- 
nungen fänden  sich,  die  dafür  sprächen,  es  fehle  aber  auch  der  für 
solche  Zustände  charakteristische  aifectvolle  Aufregungszustand,  der 
durch  schreckhafte  Wahnvorstellungen  oder  durch  einen  Wuthausbruch 
gekennzeichnet  ist.  H.'s  Aeusserung  „drunten  stehen  2  Männer"  im- 
ponirt  ihm  nicht  als  eine  pathologische  Erscheinung. 

Einen  anderweitigen  Zustand  von  Bewusstlosigkeit  anzunehmen, 
gehe  auch  nicht  an,  denn  das  Kriterium  derselben  sei  die  fehlende 
Erinnerung.  H.  behaupte  sie  zwar,  besitze  sie  aber  doch,  wie  seine 
Handlungen  und  widerspruchsvollen  Aeusserungen  erweisen.  Gravirend 
in  dieser  Hinsicht  sind  seine  Erzählungen  des  Vorfalls  (2  Freunde  er- 
schossen, 4  Spitzbuben)  im  Frühstückskeller  und  beim  Barbier  u.  s.  w., 
und  wenn  er  sich  später  dessen  nicht  mehr  erinnern  will,  so  sagt  er 
die  Unwahrheit.  Ideler  steht  nicht  an,  aus  H's  ganzer  Handlungs- 
weise in  jener  Nacht  auf  einen  Anfall  von  Sinnesverwirrung  zu 
schliessen,  auf  einen  transformirten ,  epileptischen  Insult  bei  einem 
Individuum,  das  an  Epilepsie  litt  und  schwachsinnig  wurde.  H.  hat 
offenbar  hallucinirt,  hat  planlos,  rücksichtslos,  automatisch  gehandelt, 
ebenso  unsinnig  und  verworren  benimmt  er  sich  auf  der  Flucht, 

Mit  der  Annahme  von  Epilepsie  erkläre  sich  die  von  der  Pubertät 
an  erfolgte  Charakteränderung,  sein  Wuth- Anfall  gegen  den  Brotherrn, 
sein  prodromaler  ängstlicher  Traum  vor  der  Katastrophe. 

Auch  Wolff  sieht  in  dem  vorausgehenden  ängstlichen  Traum  H.'s, 


54  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

seinem  ängstlichen  Wesen  zur  Zeit  der  That,  der  Amnesie  für  die- 
selbe, Anhaltspunkte  für  eine  transitorische  (epilept.)  Störung. 

Sander  hält  dafür,  dass  der  organisch  belastete  H.  in  einem  Zu- 
stand von  Sinnesverwirrung  gehandelt  habe,  ohne  sichere  Beweise  für 
die  epileptische  Natur  jener  finden  zu  können. 


So  blieb  also  auch  vor  dem  Forum  der  Wissenschaft  der  Fall 
Holtzapfel  ein  unaufgeklärter,  streitiger.  H.  wurde  am  14.  Juli  1874 
in  die  Strafanstalt  Halle  eingeliefert,  in  welcher  er  sich  seither  be- 
findet. Wir  verdanken  dem  Leiter  dieser  Anstalt,  Herrn  Geh.-Eath 
Dr.  Delbrück,  einen  interessanten  Bericht  (v.  Archiv  für  Psychiatrie 
VI.  H.  3)  über  den  seitherigen  körperlichen  und  geistigen  Gesundheits- 
zustand H.'s. 

In  diesem  Bericht  wird  H.  als  ein  im  Allgemeinen  gesunder  aber 
schwächlicher  Mensch  von  blasser  Gesichtsfarbe  bezeichnet.  Er  be- 
hauptet, häufig  an  Kopfschmerzen  und  Schmerzen  in  den  Unterschenkeln 
zu  leiden.    Sonst  ist  er  ohne  körperliche  Gebrechen. 

Im  Januar  1875  stand  er  einmal  Nachts  auf,  kleidete  sich  an. 
Man  nahm  ihm  die  Kleider  weg.  Als  man  sie  ihm  des  andern  Morgens 
wieder  brachte,  that  er  ganz  fremd,  wusste  von  dem  Nachts  Vorge- 
fallenen nichts.  Sein  Benehmen  erschien  nicht  als  ein  verstelltes.  Er 
klagte  u.  a.  über  Kopfschmerzen. 

In  der  Folge  ähnliche  nächtliche  Anfälle  von  „Nachtwandeln". 
Am  31.  Mai  Buhranfall,  der  ihn  während  8  Wochen  unter  sorgfältige 
Aufsicht  ins  Lazareth  brachte.  Während  dieser  Zeit  8  nächtliche 
Anfälle.  H.  schreckte  mitten  in  der  Nacht  aus  dem  Schlafe  auf,  ver- 
liess  das  Bett,  ging  mit  bleichem  Gesicht,  starr  geöffneten  Augen  und 
schnellem,  oft  keuchendem  Athem  im  Kreise  herum.  Kam  er  an  die 
Wand,  so  betastete  er  sie  und  kehrte  dann  wieder  um.  Er  reagirte 
in  diesem  Zustand  nur  auf  Besprengen  des  Gesichts  mit  kaltem  Wasser, 
erwachte  dann  aus  seinem  „schlaftrunkenen"  Zustand,  stürzte  zu  Boden, 
sah  sich  befremdet  um,  wusste  nichts  vom  Vorgefallenen,  blieb  schwer 
athmend  und  keuchend  auf  dem  Boden  liegen,  bis  man  ihn  aufforderte, 
sich  zu  Bett  zu  legen.  Er  triefte  dann  von  Schweiss,  war  durstig,  schlief 
ruhig  ein.  Aufschreien,  Sprechen  kam  in  diesen  Anfällen,  die,  wenn 
sie  schwerer  waren,  eine  halbe  Stunde,  sonst  10—15  Minuten  dauerten, 
nicht  vor.  Nach  denselben  litt  er  jeweils  an  Kopfweh,  war  erschöpft, 
sah  blass,  elend  aus,  hatte  frequenten  Puls.  In  einem  solchen  Anfall 
zerstörte  er  den  Ofen,   auch  in  anderen  Anfällen   wurden  complicirte 


Zweiter  Aufsatz   (1877).  55 

• 
zerstörende  Handlungen  mit  dem  Charakter  der  Bewusstlosigkeit  be- 
obachtet. Intervallär  Perioden  von  Kopfschmerz,  schlechtem  Schlaf. 
Schlaflosigkeit,  bleichem  Aussehen.  H.  leidet  an  häufigen  Pollutionen 
nimmt  in  der  Ernährung  ab.  Nie  epileptoide  Zufälle.  Auffälliger  In- 
differentismus und  Spuren  von  Gedächtnissschwäche.  Moralische  Füh- 
rung tadellos. 

Der  erfahrene  Berichterstatter  steht  nicht  an,  zu  erklären,  dass 
hier  ein  empirisch  wahres  Krankheitsbild  vorliege  —  er  nennt  es 
Nachtwandeln  auf  epileptischer  Basis  —  und  dass  die  Mordthaten  H.'s 
ganz  gut  in  einem  solchen  Anfall  begangen  sein  können. 


Ich  stehe  nicht  an,  H.  für  einen  Epileptiker  zu  erklären,  auch 
ohne  dass  je  in  seinem  Leben  convulsive  oder  vertiginöse  Symptome 
dieser  Krankheit  beobachtet  wären.  Das  Vorkommen  solcher  „psy- 
chischer" Epilepsien  ist  wohl  nie  bezweifelt,  aber  erst  durch  Griesinger, 
Samt  u.  A.  in  neuester  Zeit  dem  Yerständniss  und  der  klinischen 
Diagnose  zugänglicher  gemacht  worden.  Die  Diagnose  des  epileptischen 
(iiundzustands  lässt  sich  in  derartigen  forensisch  wie  klinisch  gleich 
interessanten  Fällen  nur  aus  der  Zusammenfassung  aller  pathologischen 
Thatsachen,  der  Lebensgeschichte  und  gewisser,  der  acuten  psychisch 
epileptischen  Störung  eigenthümlicher  Erscheinungen,  somit  auf  synthe- 
tischem Wege  gewinnen.  Dann  wird  sie  aber  eine  so  sichere,  als  sie 
überhaupt  auf  diesem  von  der  pathologischen  Anatomie  noch  gar  nicht 
beleuchteten  Gebiet  möglich  ist.  Resümirt  man  die  über  H.  vorliegen- 
den anamnestischen  Daten,  so  findet  sich  zunächst  eine  exquisite 
Familiendisposition  zu  Hirnkrankheiten,  speciell  zu  Epilepsie.  Sie  ist 
an  und  für  sich  bedeutungslos  für  H,  wenn  es  nicht  gelingt,  an  ihm 
Erscheinungen  eines  pathologischen  Zustandes  des  Centralnervensystems 
aufzufinden.  Solche  finden  sich  aber  gerade  zahlreich  bei  ihm  und 
schon  in  sehr  frühem  Lebensalter,  zunächst  als  Anfälle  von  schreck- 
haftem Delir  („sie  wollen  mich  kriegen"),  ähnlich  dem  bekannten 
nächtlichen  Aufschrecken  der  Kinder.  Es  mag  dahin  gestellt  bleiben, 
ob  dieses  durchaus  auf  epileptischer  Basis  sich  findet,  unzweifelhaft 
gewinnt  es  aber  eine  eminente  klinische  Bedeutung,  wenn  es  beim 
.  Abkömmling  einer  epileptischen  Familie  sich  findet,  auch  bei  seiner 
Schwester  vorkommt,  die  einzelnen  Anfälle  stereotyp  wiederkehren, 
vollständige  Amnesie  hinterlassen,  und  mit  dem  Aufhören  derselben 
eine  tiefgreifende  Aenderung  des  Charakters  in  pejus  —  Zornmüthig- 
keit,  Zurückbleiben  der  körperlichen  Entwickelung,  geringe  geistige 


56  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Fortenlwickelung,  instinctive  Handlungen,  Anfälle  von  Wuth,  ein- 
mal mit  „Zappeln"  constatirt  werden,  Erscheinungen,  die  in  ihrer 
Gesammtheit  den  Menschen  dem  damaligen  Brodherrn  unerklärlich 
erscheinen  lassen. 

Das  sind  Alles  Symptome,  wie  sie  bei  jugendlichen  Epileptikern 
häufig  genug  vorkommen,  und  gewiss  würde  jeder  erfahrene  Beobachter 
bei  ihrem  Vorhandensein  zunächst  an  latente  Epilepsie  denken.  Die 
Beobachtung  hat  an  H.  weder  convulsive  noch  epileptoide  Zufälle 
nachzuweisen  vermocht.  Wir  müssen  mit  dieser  Thatsache  rechnen, 
ohne  aber  die  Möglichkeit  auszuschliessen,  dass  dennoch  vertiginöse 
oder  epileptoide  Erscheinungen  vorhanden  waren,  ohne  zu  vergessen, 
dass  bei  Epileptikern  Jahrzehnte  lang  (Morel,  Griesinger)  das  klassische 
Bild  der  E.  fehlen  kann.  Eine  beachtenswerthe  Erscheinung  bleibt 
immerhin  Holtzapfel's  Anfall  von  „Zappeln"  auf  der  Gartenbank. 

Ganz  unvermittelt  an  diese  früheren  pathologischen  Vorkommnisse 
in  H.'s  Leben  reiht  sich  die  Katastrophe  in  der  Nacht  vom  8./9.  April  1873 
—  ein  einfacher  Eaubmord,  wie  das  Verdikt  der  Jury  lautete,  aber 
unter  welchen  Umständen!   Der  erste  Eindruck,   den  mir  die  Durch- 
lesung   des   treiflichen  Falk'schen  Gutachtens   machte,  war    der  des 
Unerhörten,  eine  zweite  Lesung  verschaffte  mir  die  Ueberzeugung  des 
Pathologischen  des  Falls.     Die  Voraussetzung,  H.   habe   einen  Kaub 
an  seiner  Herrin  begehen  wollen,  zu  diesem  Zweck  die  Klingelsclmur 
abgehackt  und  seine  Schlafkameraden  zu   erschiessen  versucht,  klang 
doch  gar  unwahrscheinlich.    Die  Gefahr,  nicht  sofort  die  drei  tödtlich 
zu  verwunden,   in  der  Nachbarschaft  gehört  zu  werden,  war  doch  zu 
gross,   der  Umstand,   dass  H.   dem  Seh.   selbst   Licht  anzündete,  statt 
sein  Heil  nach  misslungener  Unthat  in  der  Flucht  zu  suchen,  dass  er 
dem  Seh.  den  Revolver  an  die  Schläfe  hielt,  ohne  zu  schiessen,  deutete 
eher   auf   Handlungen    des    Traum-   als    des   wachen   Lebens.     Aber 
welches   Traumzustauds  ?    Schlaftrunkenheit  konnte   selbstverständlich 
ausgeschlossen  werden,  Epilepsie  lag  nahe,  aber  das  gewöhnliche  Bild 
einer  „Mania"  epileptica  oder  eines   epileptischen  Delirs  war  offenbar 
nicht   vorhanden.     Der  Fall    blieb  mir  ein  räthselhafter,   bis  Samts 
Arbeit  (Archiv  für  Psychiatrie,   V.  H.  2;  VI.  H.  1)  und  eigene  Er- 
fahrungen (Allg.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXXIII.  H.  2)  ihn  aufklärten. 
H.  befand  sich  zur  Zeit  seiner  That  in  einem  psychopathologischen 
Zustand  auf  epileptischer  Basis,  in  einem  Traum-  oder  Dämmerzustand, 
wie  er  eben  nur  bei  gewissen  Epileptikern   vorkommt,   mag  er  nun 
transformirter  epileptischer  Insult,  epileptische  Bewusstlosigkeit,  Sinnes- 
verwirrung   oder    sonstwie    genannt    werden.     Als   prodromale  Er- 
scheinungen   desselben   möchte   ich  H.'s   ängstliches  Träumen,   Kopf- 


Zweiter  Aufsatz  (1877).  57 

schmerz,  Müdigkeit  und  wie  angetrunkenes  Wesen  ohne  vorausgehenden 
Alkoholexcess  auffassen. 

Auch  sein  ganzes  Verhalten  während  der  Katastrophe  deutet  auf 
ein  Traumbewusstsein,  mit  bald  grösserer,  bald  geringerer  Verdunkelung 
desselben.  Eine  partielle  Aufhellung  des  Bewusstseins  repräsentirt  der 
Moment,  wo  er  Seh.  den  Revolver  an  die  Schläfe  hielt,  ohne  zu 
schiessen,  wo  er  sagt,  er  habe  nur  gespasst  und  werde  Alles  bezahlen, 
eine  Wiederverdunkelung  der  Augenblick,  wo  er  nach  Seh.,  ihn  offen- 
bar neuerdings  feindlich  verkennend,  wieder  schiesst,  während  er  doch 
kurz  vorher  dessen  Leben  geschont  hat.  Solche  Schwankungen  des 
Bewusstseins  finden  sich  aber  in  epileptischen  Traumzuständen. 

Auf  ein  Gesammttraumleben  deutet  das  Planlose,  IJnmotivirte, 
unsinnige  der  gesammten  Handlungsweise,  das  Verhalten  auf  dem  Hof, 
die  Rückkehr  ins  Zimmer,  das  Wiedererscheinen  auf  dem  Hof  in 
defecter  Toilette  etc. 

Die  Aeusserung  „drunten  stehen  2  Männer"  kann  ich  nur  für 
eine  delirante  halten,  sie  entspricht  der  Erzählung  beim  Barbier,  dass 
Diebe  eingebrochen  seien  und  der  Wahrnehmung  Sch.'s,  dass  H. 
während  der  Tragödie  ängstlich  war;  ferner  seinem  Herumspähen  auf 
dem  Hof,  bevor  er  sich  zur  Flucht  wandte. 

Dem  wechselnden  Zustand  des  Traumbewusstseins  entspricht  die 
Erinnerung,  die,  wie  bei  allen  epileptischen  Traumzuständen,  eine 
mindestens  summarische  ist,  nur  Bruchstücke  aus  dem  Traumleben  in 
sich  begreift  (Diebe  eingebrochen,  zwei  Freunde  erschossen)  auch  für 
die  Erlebnisse  der  Flucht  eine  höchst  summarische  ist  und  auch  bei 
der  Ergreifung  als  eine  coufuse,  dämmerhafte  erscheint.  Sein  ganzes 
Benehmen  in  Berlin,  der  Umstand,  dass  er  unaufgefordert  dem  Barbier 
seine  hallucinatorische  Räubergeschichte  erzählt  und  sich  damit 
mindestens  verdächtig  macht,  beweisen,  dass  er  damals  noch  nicht 
wieder  lucid  war. 

Ueber  H.'s  Anfälle  in  der  Strafanstalt  kann  kein  Zweifel  sein, 
dass  sie  epileptoide  sind.  Ich  theile  in  dieser  Beziehung  ganz  die 
Ueberzeugung  des  erfahrenen  Berichterstatters  derselben  und  verweise 
auf  analoge  Vorkommnisse  bei  den  von  mir  beobachteten  Kranken. 

Weitere  Reflexionen  gestattet  vorläufig  der  denkwürdige  Fall  H. 
nicht,  aber  er  fordert  dringend  zu  einem  genauen  Studium  der  noch 
gar  nicht  erforschten  oder  unter  anderem  Namen  cursirenden,  als 
epileptische  verkannten  eigentümlichen  Traum-  und  Dämmerzustände 
auf,  wie  sie  eben  nur  bei  Epileptischen,  freilich  mit  oft  fehlenden  oder 
mindestens  seltenen  Krampfanfällen  vorkommen,  auf.  Die  klinisch- 
forensische  Wichtigkeit   ergibt   sich   aus   dem   Ausgang  vorstehenden 


58  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Processes,  der  ein  anderer  gewesen  wäre,  wenn  unsere  Kenntniss  der 
im  Verlauf  der  epileptischen  Neurose  möglichen  psychopathischen  Zu- 
stände sich  nicht  auf  die  Schablonen  der  „mania  epileptica",  des  „grand" 
und  des  „petit  mal"  beschränkte. 


Beob.  5.     Epileptisches  Irresein.    Dämmerzustand,   in   welchem 
Patient  ohne  Motiv  und  bewnsste  Absicht  eine  Eeise  unternimmt. 

Am  23.  Februar  1876  Abends  10  Uhr  wurde  der  22  Jahre  alte 
Martin  Seh.  aus  Wien  von  der  Sicherheitsbehörde  dem  allgemeinen 
Krankenhaus  in  Graz  übergeben.  Er  hatte  sich  auf  der  Strasse 
herumgetrieben,  einem  Wachmann,  der  ihm  begegnete,  den  Wunsch 
ausgesprochen,  dieser  möge  ihn  umbringen.  Bei  der  Ankunft  im 
Spital  war  er  anscheinend  lucid,  ohne  Fieber,  der  Kopf  congestionirt, 
der  Puls  sehr  voll  und  weich,  der  Gesichtsausdruck  eigentümlich 
befangen  und  verstört.  Patient  schlief  einige  Stunden  und  gab  am 
andern  Morgen  mimisch  frei  und  vollkommen  lucid  folgende  Anamnese. 

Die  Mutter  lebt  im  Armenhause.  Sie  ist  ohne  psychische  Ab- 
normitäten. Der  Vater  war  ein  Säufer,  litt  einmal  an  einem  psychischen 
Aufregungszustand,  in  welchem  er  meinte,  es  werfe  Jemand  nach  ihm 
mit  Messern.  Ein  Vetter  des  Vaters  ist  geisteskrank,  ein  Bruder  des 
Vaters  apoplectisch.  Der  Sohn  einer  Schwester  des  Vaters  ist  im 
Irrenhaus  gestorben.  Von  19  Kindern  ist  Pat.  das  letztgeborne 
12  Geschwister  sind  im  Kindesalter  an  unbekannten  Krankheiten  ge- 
storben, 7  leben.  Ein  Bruder  litt  mit  12  Jahren  an  Convulsionen, 
eine  Schwester  an  Krampfanfällen  mit  Bewusstlosigkeit.  Als  kleines 
Kind  litt  er  an  Convulsionen.  die  später  sich  nicht  wiederholten. 

Entwickelung  war  normal.  Begabung  eine  gute.  Seit  seiner 
Kindheit  habe  er  alle  paar  Wochen  Anfälle  von  halbseitigem  Kopfweh. 
Schon  als  kleiner  Junge  habe  er  oft  bei  geringfügiger  Veranlassung 
an  Angst  gelitten.  Diese  unmotivirten  Aengstlichkeiten  befielen  ihn 
noch  bis  in  die  jüngste  Zeit  —  er  komme  dann  ins  Nachdenken  hin- 
ein und  sei  erst  nach  einigen  Stunden  wieder  frei  davon.  Ebenso 
kämen  oft  über  ihn  schmerzliche  Stimmungen,  in  welchen  ihn  der 
Gedanke  plage,  dass  er  nie  glücklich  werden  könne.  Von  jeher  sei 
er  intolerant  gegen  Alkoholica;  wenn  er  nur  0,6  Liter  Bier  trinke,  so 
fange  gleich  der  Kopfschmerz  an,  sodass  er  sich  vom  Trinken  ent- 
halte. Kopfverletzungen,  schwerer  Krankheiten  weiss  er  sich  nicht 
zu  erinnern,  ebensowenig  weiss  er  von  Schwindelan  fällen,  nächtlichem 
Bettnässen.  Patient  wandte  sich  nach  absolvirter  Schule  dem  Schuster- 
handwerk im  11.  Jahr  zu.  hatte  aber  keine  Freude  daran,   ging  nach 


Zweiter  Aufsatz  (1877).  59 

München,  diente  dort  einige  Monate  als  Krankenwärter  (1870),  wandte 
sich  dann  nach  Wien,  diente  dort  in  verschiedenen  Häusern.  1873  er- 
wies er  dem  Sohn  seines  Hausherrn,  der  ein  Paederast  war,  Liebes- 
dienste, wurde  von  diesem  reich  beschenkt,  später  aber  desavouirt. 

1874  Ende  Juli  diente  er  in  einem  Cafe.  Er  fühlte  sich  eines 
Tages  sehr  unwohl,  litt  an  heftigem  Kopfweh.  Er  sah  eine  unheim- 
liche Gestalt  mit  einem  langen  Messer  auf  ihn  zukommen,  gerieth  in 
heftige  Angst,  fing  an  zu  zerstören,  fiel  plötzlich  bewusstlos  um,  blieb 
so  eine  halbe  Stunde,  kam  auf  das  Beobachtungszimmer,  wo  er  vom 
30.  Juli  bis  7.  Aug.  verpflegt  wurde,  noch  einige  Zeit  delirirte.  Er 
wurde  von  da  am  7.  Aug.  nach  der  Irrenanstalt  gebracht,  kam  in  dieser 
nach  einigen  Tagen  wieder  zum  Bewusstsein,  hatte  aber  vollständige 
Amnesie  für  Alles,  was  seit  dem  Zeitpunkt,  wo  er  das  Phantasma  er- 
blickte, vorgefallen  war. 

Pat.  blieb  bis  zum  2.  März  1875  in  der  Irrenanstalt.  Er  will 
mit  Arbeit  beschäftigt  und  von  neuen  Krankheitsanfällen  verschont 
gewesen  sein. 

Anfangs  April  1875  kam  es  zu  einem  ängstlichen  Aufregungs- 
zustand. Er  meinte,  er  werde  eingesperrt,  bekannte  in  seiner  Angst 
einem  Arzt,  der  ihn  zu  untersuchen  hatte,  dass  er  sich  zu  paede- 
rastischen  Zwecken  habe  missbrauchen  lassen. 

Ende  April  lief  er  in  die  "Wohnung  des  Baron  Sa.  Er  meinte  8. 
habe  ihm  Geld  versprochen  —  er  habe  es  sich  eben  so  eingebildet  — 
schon  früher  seien  ihm  so  ungereimte  Gedanken  gekommen.  Wegen 
dieser  Affaire  sei  er  von  Neuem  in  die  Irrenanstalt  gekommen  und 
dort  vom  28.  April  bis  10.  Sept.  verpflegt  worden.  Er  sei  während 
dieser  ganzen  Zeit  gesund  gewesen,  habe  immer  arbeiten  können 
und  sei  dann  von  dem  obenerwähnten  Hausherrnsohn  gegen  Revers 
aus  der  Anstalt  entnommen  worden.  Dieser  schaffte  ihn  nach  München. 
Von  seinen  dortigen  Verwandten  schlecht  aufgenommen,  ging  er  wieder 
nach  Wien. 

Gelegentlich  eines  Streites  mit  dem  Hausherrnsohn  sei  er  aus  ihm 
unbewussten  Ursachen  am  12.  December  1875  neuerdings  auf  das 
Beobachtungszimmer  gekommen,  habe  dort  dem  Chefarzt  Grobheiten 
gesagt,  sei  in  die  Irrenanstalt  versetzt  worden,  habe  dort  aber  keine 
Krankheitserscheinungen  mehr  geboten  und  sei  deshalb  am  6.  Februar 
gesund  entlassen  worden.  Die  in  diesen  Anstalten  eingezogenen  Er- 
kundigungen ergeben,  dass  Seh.  seit  1874  mehrere,  wenn  auch  nicht 
ernste  Selbstmordversuche  machte,  diverse  epileptische,  bald  convulsive. 
bald  Tobanfälle  hatte  und  unendlich  reizbar  war.  Die  Ursache  seinei 
Aufnahme  im  December  1875  war  ein  Versuch  gewesen,  sich  mit  Laugen- 


ßO  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

essenz  zu  vergiften.  Er  trieb  sich  nun  vacirend  herum,  fand  endlich 
am  23.  Februar  einen  Dienst  in  einem  Caffehaus,  wo  er  Morgens  ein- 
trat. Schon  beim  Eintritt  habe  er  sich  unwohl  gefühlt,  stechenden 
Schmerz  in  den  Schläfen  gehabt,  der  sich  fortwährend  gesteigert  und 
mit  einer  eigenthümlichen  inneren  Angst  complicirt  habe.  Das  Mittag- 
essen habe  ihm  nicht  geschmeckt,  er  sei  —  er  wisse  selbst  nicht 
warum,  von  Hause  fort,  auf  den  Südbahnhof  gelaufen,  habe  dort  gefragt, 
wann  ein  Zug  nach  Graz  abgehe,  und  da  gerade  einer  bereit  stand, 
habe  er  mit  dem  Eest  seines  Geldes  ein  Billet  gelöst  und  sei  einge- 
sessen. Unterwegs  habe  er  heftigen  Kopfschmerz  gehabt,  ein  ihm 
gegenübersitzender  Herr  habe  ihn  gefragt,  warum  er  so  trübsinnig 
dasitze.  Während  der  Fahrt  sei  ihm  plötzlich  ein  Licht  gekommen, 
was  er  gethan,  diese  Anschauung  sei  ihm  unterwegs  immer  deutlicher 
geworden.  Bei  der  Ankunft  in  Graz  sei  er  erst  zur  vollen  Einsicht 
gekommen,  was  er  für  eine  Dummheit  gemacht.  Ohne  Geld  und 
Bekannte  dastehend  sei  er  sehr  deprimirt  gewesen,  habe  sich  an  einen 
-Wachmann  gewendet.  Er  glaubt  sich  zu  erinnern,  dass  er  diesem 
gesagt,  er  fühle  sich  so  unglücklich,  dass  dieser  ihn  umbringen  solle, 
weiss  er  sich  nicht  zu  erinnern.  Ueberhaupt  hat  Patient  von  den 
Erlebnissen  seit  Eintritt  in  das  Caffehaus  Morgens  bis  zu  diesem  Zeit- 
punkt nach  der  Ankunft  in  Graz  nur  eine  summarische  Erinnerung. 
Aller  weiteren  Vorkommnisse  erinnert  er  sich  klar,  wie  er  sich  auch 
seiner  Lage  vollkommen  bewusst  ist.  Er  besinnt  sich  vergebens  auf 
ein  Motiv,  nach  Graz  zu  reisen.  Er  weiss  nur,  dass  ein  früherer 
Irrenwärter  in  Wien,  der  aus  Graz  gebürtig  ist,  ihm  viel  von  dieser 
Stadt  erzählt  hat.  Von  seinem  Kopfweh  sei  er  erst  am  24.  Morgens 
frei  geworden. 

Pat.  bietet  in  der  folgenden  Beobachtungszeit  wenig  Auffälliges, 
ausser  eine  grosse  Gemüthsreizbarkeit  und  Neigung  zu  Kopfconges- 
tionen.  Seine  vasomotorischen  Nerven  sind  jedenfalls  sehr  erregbar 
er  erröthet  bei  geringfügiger  Veranlassung.  Intelligenz  lässt  nichts 
zu  wünschen  übrig,  Bewusstsein  nach  keiner  Bichtung  getrübt.  Der 
Ausdruck  der  Augen  hat  etwas  Unstetes,  Neuropathisches  an  sich. 
Die  Kopfbildung  regelmässig. 

Längsdurchmesser  des  Schädels  17,5  Ctm.,  parietaler  15,0,  bitem- 
poraler 10,0,  Mastoidalbreite  13,5.  Entfernung  zwischen  den  Joch- 
bögen 14,5 ;  Entfernung  von  der  Vereinigung  der  Lambdanaht  bis  zum 
Kinn  23,6.  Gesichtshälften  vollkommen  symmetrisch.  Der  linke  Eck- 
zahn ist  abnorm  breit  und  steht  V"  höher  als  die  andern  Zähne.  Das 
rechte  Ohr  ist  um  0,5  Ctm.  länger  als  das  linke.  Von  perversem  Ge- 
schlechtstrieb keine  Spuren.     Pat,  ist  den  Weibern  hold  und  hat  sich 


Zweiter  Aufsatz  (1877).  61 

nur  um  Geld  zu  Paederastie  hergegeben.  Die  vegetativen  Organe 
fnnctioniren  normal,  die  Ernährung  ist  eine  gute.  Nach  lOtägiger 
Beobachtung,  die  ausser  grosser  nervöser  Erregbarkeit  und  Gemüths- 
reizbarkeit  nichts  Weiteres  bot,  wurde  Pat.  entlassen. 

Epicrise.  Auch  hier  handelt  es  sich  um  einen  Menschen,  in 
dessen  Familie  Hirnkrankheiten  häufig  vorkommen,  und  bei  dem,  wohl 
als  Ausdruck  einer  hereditären  Belastung,  theils  functionelle  (Migräne- 
anfälle seit  der  Kindheit ;  Intoleranz  gegen  Alkohol),  theils  anatomische 
(Zahn,  Ohr)  Degenerationszeichen  sich  vorfinden. 

In  der  Kindheit  bestehen  Convulsionen.  Erst  im  20.  Lebensjahre 
erscheinen  wieder  krampfartige  Zustände.  Sie  sind  selten,  aber  von 
sachverständigen  Beobachtern  constatirt  und  als  epileptische  erkannt. 
Als  Aequivalente  solcher  ab  und  zu  syncopeartige  und  transitorische 
Tobanfälle.  Besonders  deutlich  ein  solcher  1874,  eingeleitet  durch  eine 
Aura  (schreckhafte  Vision),  mit  Amnesie  für  die  ganze  Dauer  des 
epileptischen  Delirs. 

Als  intervallaere,  das  Bild  der  epileptischen  Neurose  ergänzende 
Erscheinungen:  hochgradige  Gemüthsreizbarkeit,  Zustände  schmerz- 
licher Verstimmung  (morositas  epilepticorum )  bis  zu  ganz  impulsiv 
unternommenen  Selbstmordversuchen. 

Ausser  diesen  gewöhnlichen  Zügen  des  epileptischen  Kranheitsbilds 
finden  sich  nun  2  weitere,  vielleicht  als  psychische  Aequivalente  des 
epileptischen  Anfalls  zu  deutende  temporäre  Symptomencomplexe.  Zu- 
nächst Angstanfälle,  die  schon  von  Griesinger  (Archiv  für  Psychiatrie  I) 
in  diesem  Sinne  gedeutet  werden,  dann  Dämmerzustände  mit  ängst- 
licher Färbung,  Traumvorstellungen  (1875  Alfaire  Sa.),  ganz  impulsiven, 
unmotivirten,  unsinnigen  Handlungen  (Reise  nach  Graz)  und  nur  ganz 
summarischer  Erinnerung  für  die  Erlebnisse  dieses  Dämmerzustands. 
Der  letzte  derartige  Anfall  entbehrt  zudem  nicht  einer  Art  Aura  — 
Unwohlsein,  stechender  Schmerz  in  den  Schläfen,  Appetitlosigkeit  und 
begleitender  vasomotorischer  (Fluxion  zum  Gehirn,  voller  weicher  Puls) 
und  sensibler  Symptome  (Kopfschmerz). 

Beob.  6.   Epileptisches  Irresein.  Mehrwöchentlicher  stuporartiger 
Dämmerzustand  mit  Delirien.    Discipliuare  Vergehen  im  Krauk- 

heitsanfall. 

Herr  Z.,  Offizier,  24  Jahre,  ist  wegen  Veräusserung  eines  ihm  von 
der  Kriegsverwaltung  zum  Gebrauch  überlassenen  ärarischen  Pferdes 
sowie  wegen  zahlreicher  seit  Anfang  des  Jahres  1875  contrahirter 
Wechselschulden  und  Nachlässigkeiten  im  Dienste  in  eine  Disciplinar- 


62  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Untersuchung  verwickelt  und  mit  Cassirung  bedroht.  Da  sein  Ver- 
halten zur  Zeit  der  angeschuldigten  Handlungen  den  Verdacht  einer 
Geistesstörung  aus  den  unten  erwähnten  Gründen  rege  machte,  wurde 
derselbe  ärztlicher  Beobachtung  und  Untersuchung  unterstellt. 

Anamnese  und  Species  facti:  Explorat  stammt  von  ge- 
sunden Eltern.  Im  3.  Lebensjahre  acute  Hirnerkrankung,  die  ihn 
ca.  14  Tage  des  Gehörs  und  Gesichts  beraubte.  Später  gesund  bis 
1869,  wo  er  mit  dem  Pferd  stürzte  und  mit  dem  Kopf  gegen  eine 
Barriere  geschleudert  wurde.  Eine  äusserliche  Verletzung  fand  sich 
nicht  an  der  Stelle  des  Insults  (Vereinigungswinkel  der  Lambdanähte) 
vor,  jedoch  war  Z.  12  Stunden  bewusstlos,  stand  noch  14  Tage  wegen 
Schwindel,  Kopfweh  an  der  Stelle  des  Trauma  und  Schlaflosigkeit  in 
ärztlicher  Behandlung  und  musste,  da  diese  Beschwerden  fortdauerten, 
vom  Dienste  beurlaubt  werden. 

Der  Kopfschmerz  bestand  hartnäckig  fort,  exacerbirte  jeweils  bei 
kalter  oder  heisser  Temperatur,  sowie  bei  Gemüthsbewegungen  und 
dem  Genuss  geistiger  Getränke.  Die  Stelle  des  Trauma  war  dann 
so  schmerzhaft,  dass  Pat.  nicht  den  leisesten  Druck  daselbst  zu  ertragen 
vermochte.  Dazu  gesellten  sich  nächtliche  Anfälle  von  Somnambulis- 
mus, Irrereden,  krampfhaftem  Zusammenschnüren  der  Kehle  mit  Er- 
stickungsnoth.  Bei  entsprechender  Pflege  im  elterlichen  Hause  mil- 
derten sich  diese  Zufälle.  1870  konnte  Pat.  wieder  zur  Truppe  gehen. 
Er  war  im  Allgemeinen  berufsfähig,  litt  aber  noch  zeitweise  an  hef- 
tigem Kopfschmerz,  wurde  auffallend  reizbar  bis  zur  Stutzigkeit  und 
zog  sich  dadurch  mannigfache  dienstliche  Unannehmlichkeiten  zu.  Auch 
kam  es  zu  häufigen  Congestionen  zum  Gehirn  und  vertrug  Z.  keine  gei- 
stigen Getränke  mehr. 

1872  stürzte  Z.  neuerlich  vom  Pferd.  Als  unmittelbare  Folge 
Schwindel,  Kopftaumel  und  14tägiges  Kranksein.  In  der  Folge  zeit- 
weise Kopfschmerz,  Schwindel,  grosse  Gemüthsreizbarkeit. 

Im  Sommer  1873  trat  bei  grosser  Hitze  nach  dem  Exerciren 
während  des  Mittagsmahls  unter  Kopfschmerz,  Schwindel  und  Uebel- 
keit  ein  mehrstündiges  schreckhaftes  Delirium  ein,  aus  welchem  Z.  mit 
nur  höchst  summarischer  Erinnerung  zu  sich  kam.  In  der  folgenden 
Zeit  viel  Kopfweh,  nächtliche  Beklemmungen,  Wandelbarkeit  der 
Stimmung,  insofern  Heiterkeit  und  Reizbarkeit  mit  Trübsinn  und 
Apathie  wechselten.  Der  krankhafte  Jähzorn  steigerte  sich  bedenk- 
lich. Pat,  konnte  seinen  Diener  aus  geringfügiger  Ursache  prügeln 
und  gleich  darauf  darüber  weinen,  dass  er  sich  so  weit  vergessen  hatte. 

Schon  vor  Jahresfrist  kam  Z.  seiner  Umgebung  durch  unmotivirten 
Stimmungswechsel  sonderbar  vor.    Er  ging  aus  heiterer  Gesellschaft 


Zweiter  Aufsatz  (1877).  63 

plötzlich  fort,  eigenthümlicli  gedrückt,  ohne  sich  zu  verabschieden. 
Er  besuchte  Bekannte  zu  Zeiten  täglich,  dann  kam  er  wieder  Monate 
lang  nicht.  Zuweilen  verlor  er  den  Faden  des  Gesprächs  und  konnte 
sich  gar  nicht  mehr  entsinnen,  was  er  sagen  wollte.  Um  jene  Zeit 
kam  auch  einmal  Bettnässen  im  „Traum"  vor. 

Nach  einem  Manöver  im  Sommer  1874  exacerbirte  der  Kopfschmerz 
so  heftig,  dass  ärztliche  Hilfe  gesucht  werden  musste.  In  den  letzten 
Monaten  dieses  Jahres  traten  wieder  Angstanfälle  mit  schnürendem 
Gefühl  im  Hals  und  Druck  in  den  Präcordien  auf.  Z.  war  unaufge- 
legt zum  Beruf,  trieb  sich  an  öffentlichen  Orten  herum,  contrahirte 
massenhaft  Schulden,  wurde  nachlässig,  vergesslich,  klagte  selbst  über 
Gedächtnissabnahme.  Wegen  unbeachtet  gelassener  Befehle,  Unver- 
lässlichkeit  in  seinen  Rapporten,  Nachlässigkeit  und  Renitenz  im  Dienst 
zog  er  sich  dienstliche  Rügen  zu.  Zu  jener  Zeit  traten  auch  wieder 
Erscheinungen  von  Schlafwandeln  auf.  Pat.  war  oft  Morgens  erstaunt 
über  das  veränderte,  ihm  unerklärliche  Arrangement  seines  Zimmers. 

Im  Januar  1875  stellte  sich  eine  länger  dauernde  Bewusstseins- 
störung  ein,  die  sich  mit  Hallucinationen,  Delirien  und  ganz  impulsiven, 
traumhaften  Handlungen  complicirte  und  nur  eine  ganz  dämmerhafte 
Erinnerung  für  die  in  diesem  Zeitabschnitt  fallenden  Ereignisse 
hinterliess. 

Genau  lässt  sich  der  Beginn  dieser  Krankheitsperiode  nicht  fixiren. 
Schon  einige  Zeit  vorher  war  Pat.  seinen  Eltern  durch  den  religiös- 
schwärmerischen  Inhalt  seiner  Briefe,  durch  eine  mit  Hast  und  gegen 
den  Willen  seiner  Eltern  betriebene  Heirath,  seinen  Hang  zum  Gross- 
thun,  die  vergessene  und  deshalb  unterlassene  Gratulation  zu  einem 
Familienfest  auffällig  geworden. 

Vom  17.  Januar  ab  war  Pat.  auffallend  vergesslich  geworden  und 
hatte  sich  durch  unterlassene  Ausführung  von  Befehlen  Unannehmlich- 
keiten zugezogen. 

Am  26.  meldete  er  sich  krank  wegen  einer  Muskelzerrung.  Der 
Arzt  fand  ihn  geistig  abnorm  und  fürchtete  den  Ausbruch  eines  „De- 
lirium tremens". 

Vom  Januar  und  Februar  liegen  3  Kutscherrechnungen  vor  über 
Fahrten,  die  Pat.  gemacht  hat.  Die  eine  lautet  von  9  Uhr  Abends 
bis  4  Uhr  früh,  die  andere  von  11  Uhr  Abends  bis  3  Uhr  Morgens, 
die  3.  von  11  Uhr  Abends  bis  früh  4  Uhr.  Pat.  erinnert  sich  nur 
ganz  traumhaft  an  eine  dieser  ganz  unmotivirt  unternommenen  nächt- 
lichen Spazierfahrten  —  er  weiss  weder,  wo  er  herumkutschirt  ist, 
noch  ob  er  den  Kutscher  bezahlt  hat. 

Am  28.  Januar  verpfändete  Pat,  seine  Pferde,  darunter  ein  ära- 


ß4  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

risches.  Er  war  damals  arg  von  Gläubigern  bedrängt  wegen  contra- 
hirter  Schulden,  unter  denen  sich  einige  befanden,  von  denen  er  gar 
nicht  wusste,  wie  er  dazu  gekommen  war. 

Auch  der  Umstände  der  Pferdeverpfändung  erinnert  sich  Pat.  nur 

ganz   traumhaft.    Der   Schuldschein   sei   ihm  von  einem  wucherischen 

Wirth,  der  ihm   gegen   hohe  Procente   Geld  geliehen  hatte,  dictirt 

worden.    Er  weiss  nicht,  was  im  Schuldbrief  gestanden,  er  habe  die 

fatale  Geschichte  von  der  Pferdeverpfändung  erst  Ende  Februar  von 

seinem  Vater  erfahren.    Er  weiss  nicht,   wieviel  Geld  er  vom  Wirth 

erhalten,  ob  der  Wirth  zu  ihm  gekommen,  oder  er  zum  Wirth  gegangen 

sei.    Ueberhaupt  hat  er  von  der  ganzen  Zeit  von, Mitte  Januar  bis 

zum   25.  Februar  nur  eine  ganz  confuse  Erinnerung.    Er  sei  allmälig 

ganz  betäubt  worden,  wenn  er  auch  noch  im  Stande  war,  mit  der 

Aussenwelt   zu   verkehren.    Der  Zustand  habe  mit  confusem  Lärm  im 

Zimmer  und  Flimmern  vor  den  Augen  begonnen.    Er  habe  sich  etwa 

eine  Woche  lang  im  Zimmer   eingeschlossen  (Anfang  Februar),  ohne 

dass  er  wusste  warum.    Er  weiss  aus  jener  Zeit  nur,  dass  er  eine 

Menge  Briefe  schrieb,  über  deren  Verbleib,  Adresse,  Versendung  und 

Inhalt  er  keine  Rechenschaft  zu  geben  weiss.    Er  habe  mit  wahrer 

Wuth  oft  bis  tief  in  die  Nacht  hinein  geschrieben.    Es  kam  ihm  vor, 

dass   er  eine   hohe  Persönlichkeit  erwarte,  der  er  seine  Aufwartung 

machen  müsse. 

Dass  er  mit  dem  Säbel  dreinschlagen  wollte,  allerlei  Verkehrt- 
heiten machte,  weiss  er  nur  aus  den  Erzählungen  Anderer. 

Etwa  am  8.  Februar  ist  Z.  einmaL  Nachts  in  ein  Gasthaus  ge- 
rathen  und  erwachte  zu  seinem  nicht  geringen  Erstaunen  am  anderen 
Morgen  in  einem  fremden  Zimmer.  Warum  und  wie  er  dorthin  ge- 
rathen,  bleibt  ihm  ein  Räthsel. 

In  den  letzten  Tagen  vor  seiner  Aufnahme  ins  Hospital  ist  er 
auch  wiederholt  im  Theater  gewesen.  Er  weiss  weder  was  für  ein 
Stück  er  dort  gesehen,  noch  wie  er  dahin  gekommen. 

Bei  der  ärztlichen  Exploration  am  22.  Februar  befindet  sich  Z. 
in  einem  stuporartigen  Dämmerzustand.  Er  ist  kaum  fähig  zu  Mitthei- 
lungen über  sein  Befinden.  Mühsam  erfährt  man,  dass  er  heftigen 
Kopfschmerz  habe,  ängstlich,  appetitlos  sei.  Die  Stelle  des  Vereini- 
gungswinkels der  Lambdanaht  ist  enorm  schmerzhaft,  selbst  auf  den 
leisesten  Druck.  Der  Druckschmerz  irradirt  nach  allen  Seiten.  Eine 
Narbe  oder  Knochenveränderung  ist  an  dieser  Stelle  nicht  constatirbar. 
Der  Gesichtsausdruck  ist  ängstlich,  staunend,  maskenartig  starr. 
Pupillen  mittelweit,  träge  reagirend.  Carotiden-  und  Radialpuls  klein, 
Arterie   contrahirt,   84.     Hände   kühl,    etwas    livid.    Herztöne   matt. 


Zweiter  Aufsatz  (1877).  65 

Zunge  dick  belegt.  Körpergewicht  61  Kilo,  während  Pat.  früher  71 
gewogen  haben  soll. 

Der  Schlaf  schlecht,  durch  ängstliches  Aufschrecken  gestört.  Unter 
Tags  Schlafsucht,  träumerisches  Versunkensein,  grosse  Reizbarkeit  und 
continuirlicher  Kopfschmerz. 

Am  25.  Abends  Anfall  von  klonischen  allgemeinen  Kräm- 
pfen mit  Bewusstlosigkeit.  Die  Nacht  über  ab  und  zu  Streck- 
krämpfe des  Rumpfes,  Zucken  der  Extremitäten  und  Frostschauer. 

Am  26.  Morgens  ist  der  Stupor  gewichen,  Pat,  ziemlich  frei  in 
Sensorium  und  Mimik,  der  Kopfschmerz  gemässigt.  Die  Erinnerung 
für  die  Erlebnisse  des  Dämmerzustandes  von  Mitte  Januar  bis  zum 
25.  Februar  ist  eine  vage,  höchst  summarische. 

Da  die  epileptische  Natur  des  Leidens  klar  zu  Tage  lag,  bekam 
Pat.  6,0  Bromkali  täglich  und  kalte  Abreibungen. 

Bis  zum  31.  März  ist  Pat.  ziemlich  frei  im  Sensorium,  aber  schwer 
nervenleidend. 

Sein  Schlaf  ist  unruhig,  von  lebhaften  schreckhaften  Traumbildern 
durchwebt.  Der  Kopf  schwer,  eingenommen,  schwindlich.  Fast  con- 
tinuirlich  leidet  Pat.  an  einem  dumpfen  Kopfschmerz  auf  der  Scheitel- 
höhe und  in  der  rechten  Schläfengegend.  Er  ist  unfähig  zu  geistiger 
Beschäftigung,  sehr  gemüthsreizbar  und  vergesslich.  Häufig  Bangig- 
keit und  Druckgefühle  in  den  Präcordien.  Bei  jeder  Gemüthsbewegung 
stellen  sich  prickelnde  wuselnde  Gefühle  am  ganzen  Körper  ein.  In 
den  Händen  häufig  Ameisenlaufen.  Gefühl  von  Todtsein.  Die  Reflex- 
erregbarkeit ist  gesteigert,  Pat.  fährt  bei  Geräuschen  zusammen,  ab 
und  zu  Tremor  der  Hände,  zuckende  Stiche  in  den  Extremitäten. 
Häufig  Fluxionen  zum  Gehirn  mit  Flimmern  vor  den  Augen,  er- 
schwertem Denken  bei  Kältegefühl,  Frostschauer  und  Cyanose  an  den 
Extremitäten.  Grosse  Mattigkeit  und  Muskelschwäche  bei  objectiv 
intacter  Muskelkraft,  Zeitweise  Gefühl  von  Schwere  der  Zunge  und 
erschwertem  Sprechen.  Das  Körpergewicht  sinkt  auf  59  Kilo.  Der 
Puls  andauernd  klein,  celer,  contrahirt,  90 — 96. 

Am  31.  März  stellte  sich  ein  rauschartiger  Betäubungszustand 
ein.  Pat.  empfindet  Schwindel,  das  Gesichtsfeld  ist  verschleiert,  Ge- 
ruchs- und  Geschmacksempfindung  bedeutend  herabgesetzt.  Klagen 
über  reifartiges  Gefühl  um  den  Kopf. 

Am  6.  April  wird  Pat.  mimisch  freier,  sicherer  in  den  Bewegungen, 
der  Puls  voll,  die  Arterie  weicher;  die  Beschwerden  sind,  bis  auf  das 
reifartige  Druckgefühl  um  den  Kopf,  geschwunden.  Pat.  besitzt  nur 
eine  ganz  summarische  Erinnerung  für  die  Erlebnisse  der  letzten 
Woche. 

Krafft-Ebing,  Arbeiten  III.  ä 


66  Ueber  Dämmer-  und  Tranmzustände. 

Er  fühlte  sich  ziemlich  wohl  bis  Anfang  Mai,  wo  Pat.  in  einen 
mehrstündigen  Dämmerzustand  verfiel,  in  welchem  er  im  Halbschlummer 
dalag  und  vor  sich  hinmurmelte.  Für  diesen  Zustand  vollständige 
Amnesie.  Seitdem  Hände  wieder  kalt,  leicht  cyanotisch.  Gefühle, 
wie  wenn  der  ganze  Kopf  in  einem  Eisbeutel  stecke.  Morgens  fühlt 
sich  Pat.  jeweils  matt,  betäubt,  schwer  im  Kopf.  Wiederholt  werden 
nächtliche  Anfälle  von  Aufschrecken  mit  Erstickungsnoth  constatirt. 
Der  Schlaf  ist  schlecht,  von  ängstlichen  Träumen  gestört.  Pat.  klagt 
häufiger   über  Kopfweh,   ist  wieder  sehr  reizbar,  gedächtnissschwach. 

Ende  Juni  verlieren  sich  wieder  diese  Erscheinungen.  Der  Juli 
verläuft  gut.  Pat.  erholt  sich  geistig  und  körperlich  bis  zum  29.  Juli, 
an  welchem  Tage  nach  Genuss  von  Bier  und  einer  Gemüthsbewegung 
ein  genuiner  epileptischer  Anfall  mit  postepileptischem,  ängst- 
lichem mehrstündigem  Delirium  und  nachfolgendem  ltägigem  Stupor 
auftritt. 

Pat.  wird  auf's  Land  zur  ferneren  Pflege  geschickt  und  die  Be- 
obachtung geschlossen. 

Gutachten. 

1.  Herr  Z.  leidet  seit  dem  Jahre  1869  an  einer  schweren  Hirn- 
krankheit. 

2.  Dieselbe  ist  die  directe  Folge  einer  gelegentlich  eines  Sturzes  vom 
Pferd  erlittenen  Läsion  des  Gehirns. 

3.  Die  Krankheit  des  Patienten  lässt  sich  als  epileptische  bezeichnen. 

4.  Die  mannichfachen  nervösen  und  psychischen  Störungen,  welche 
seit  1869  an  Herrn  Z.  constatirt  wurden,  gehören  sämmtlich  dem 
Krankheitsbild  der  Epilepsie  an  und  erweisen  sich  durch  Entwicke- 
lung  und  Verlauf  als  empirisch  wahre. 

5.  Die  unmittelbare  Folge  des  Gehirninsults  waren  die  Erscheinungen 
einer  Gehirnerschütterung  (Bewusstlosigkeit,  Schwindel),  die  locale 
ein  auf  die  Stelle  des  Trauma  beschränkter  Kopfschmerz,  der  sich 
bis  zur  Stunde  als  fortbestehend  erweisen  lässt. 

Die  ersten  Zeichen  der  epileptischen  Neurose  bestanden  in 
Anfällen  von  Somnambulismus,  Irrereden  und  Schlundkrämpfen, 
an  deren  Stelle  später  solche  von  Delirium  (1873),  Angst,  momen- 
taner Bewusstlosigkeit,  Stupor  mit  Delirien  und  impulsiven  Hand- 
lungen traten,  bis  endlich  das  paroxysmelle  Bild  der  Krankheit 
durch  am  25.  Februar  1875  aufgetretene  convulsive  Paroxysmen 
sich  vervollständigte. 

Auf  wahrscheinlich  schon  früher  dagewesene  ähnliche  Anfälle 
deutet  das  einmal  1874  vorgekommene  Bettnässen. 


Zweiter  Aufsatz  (1877).  67 

Als  intervalläre  Symptome  der  Krankheit  ergeben  sich  Reiz- 
barkeit bis  zu  Ausbrüchen  von  Jähzorn  (Prügelung  des  Dieners), 
grundloser  Stimmungswechsel,  Congestionen  zum  Gehirn,  Intoleranz 
für  spirituöse  Getränke  und  Kopfweh.  In  neuerer  Zeit  haben  sich 
auch  Gedächtnissschwäche  und  Charakterveränderung  eingestellt. 

6.  Von  Mitte  Januar  bis  25.  Februar  1875  befand  sich  Herr  Z.  in 
einem  Zustand  von  Stupor  mit  zeitweisem  Delirium. 

Die  epileptische  Natur  dieses  Zustandes  von  Sinnes  Verwirrung 
ergiebt  sich  klar  aus  der  theilweise  fehlenden  oder  nur  ganz 
summarischen  Erinnerung  des  Kranken  für  diese  Krankheits- 
periode, den  impulsiven  Handlungen  (nächtliche  Spazierfahrten, 
Hebern  achten  im  Gasthaus  u.  s.w.),  sowie  aus  den  Anfall  aura- 
artig einleitenden  Sinnestäuschungen  (confuser  Lärm,  Flimmern 
vor  den  Augen),  der  stuporartigen  Bewusstseinsstörung,  die  indessen 
noch  einen  traumartigen  Verkehr  mit  der  Aussenwelt  zuliess, 
endlich  aus  dem  Abschluss  des  paroxysmellen  Krankheitsbildes 
durch  einen  epileptischen  Insult. 

7.  Die  Verpfändung  der  Pferde,  welche  am  28.  Januar  stattfand, 
fällt  in  die  Zeit  dieses  stuporartigen  Traumzustandes.  Die  feh- 
lende Erinnerung  für  die  Details  dieses  Geldgeschäftes  beweist  an 
und  für  sich  schon,  dass  es  in  einem  psychisch-krankhaften  Zu- 
stand unternommen  wurde.  Die  vor-  und  nachher  beobachteten 
Erscheinungen  einer  Sinnesverwirrung,  wie  sie  bei  Epileptikern 
ganz  gewöhnlich  ist,  lassen  keinen  Zweifel  zu,  dass  Herr  Z.  damals 
psychisch  krank  war. 

8.  Obwohl  der  Kranke  in  der  Zeit  von  Mitte  Januar  bis  Ende 
Februar  im  Stande  war,  mit  der  Aussenwelt  zu  verkehren,  war 
er  dennoch  des  Selbstbewusstseins  verlustig  und  ausser  Stande, 
die  Bedeutung  seiner  traumartig  vollzogenen  Handlungen  zu  er- 
kennen. 

Er  kann  deshalb  weder  moralisch  noch  rechtlich  für  dieselben 
verantwortlich  gemacht,  noch  kann  etwa  in  diesem  Zustand  von 
ihm  eingegangenen  Verbindlichkeiten  irgend  eine  rechtliche  Gel- 
tung zuerkannt  werden. 

9.  Die  Krankheit  des  Herrn  Z.  muss  als  eine  schwere,  indessen  nicht 
unheilbare  erklärt  werden. 

10.  Es  ist  unerlässlich,  dass  derselbe  für  längere  Zeit  von  seinen  dienst- 
lichen Verpflichtungen  entbunden  wird  und  sich  einer  voraussicht- 
lich mehrmonatlichen  ärztlichen  Behandlung  unterwirft, 


5* 


68  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Auf  Grund  dieses  Gutachtens  wurde  von  disciplinären  Schritten 
gegen  Z.  abgestanden  und  ein  mehrmonatlicher  Urlaub  bewilligt. 

Im  November  präsentirte  sich  Z.  der  explorirenden  Commission 
völlig  wiederhergestellt.  Er  ist  körperlich  vollkommen  wohl,  geistig 
wieder  die  alte  Persönlichkeit,  vollkommen  leistungsfähig.  Seit  Ende 
Juli  waren  keine  Symptome  des  schweren  Nervenleidens  mehr  zu  con- 
statiren.    Z.  wurde  reactivirt  und  blieb  gesund. 


Dritter  Aufsatz 
(1898). 

Die  klinische  Betrachtung  und  Beurtheilung  der  Dämmer-  und 
Traumzustände  hat  von  der  Thatsache  auszugehen,  dass  sie  Beactions- 
erscheinungen  des  Bewusstseinsorgans  auf  unbekannte  Veränderungen 
desselben  darstellen,  die  bei  verschiedenen  functionellen  und  organischen 
Erkrankungen  des  Centralnervensystems  episodisch  vorkommen  können. 

Dämmer-  und  Traumzustand  stellen  offenbar  nur  Gradstufen  ge- 
störten Bewusstseins  dar,  scheinen  qualitativ  nicht  wesentlich  unter- 
schieden und  können  jederzeit  in  einander  übergehen. 

Sie  lassen  sich  phänomenologisch  den  noch  physiologischen  Zu- 
ständen des  Halbschlafes  und  des  Traumes  zur  Seite  stellen. 

Ob  es  je  dazu  kommen  mag  ihre  anatomischen  Grundlagen  zu  er- 
gründen, muss  dahingestellt  bleiben. 

Für  die  klinische  Forschung  erscheint  es  immerhin  erreichbar, 
festzustellen,  unter  welchen  Bedingungen  es  zur  Entstehung  von 
Dämmer-  und  Traumzuständen  kommen  kann,  woraus  sich  dann 
diagnostische  Kückschlüsse  ergeben. 

Als  Griesinger1)  in  seinem  Archiv  I  p.  320  in  einem  Aufsatz 
über  „einige  epileptoide  Zustände"  zuerst  jener  Erwähnung  that, 
kannte  man  solche  Traumzustände  nur  in  einem  noch  zweifelhaften 


I)  Griesinger  erwähnt  das  Vorkommen  „hallucinatorischer  Traumzustände"  und 
spricht  die  Ansicht  aus,  dass  „das  Gebiet  dieser  ganz  unvollständigen  und  daher 
gar  nicht  selten  verkannten  epileptoiden  Zustände  noch  weiter  ausgedehnt  werden 
muss  und  dass  es  bisher  zum  Theil  wenig  gekannte  Krankbeitszustände  in  sich  auf- 
zunehmen hat"  Leider  blieb  durch  des  Meisters  jähen  Tod  die  versprochene  Schilde- 
rung dieser  hallucinatorischen  epileptoiden  Traumzustände  der  Wissenschaft  vorent- 
halten. 


70  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

klinischen  Zusammenhang  mit  Epilepsie.     Daher  ihre  Bezeichnung  als 
epileptoider. 

Die  Bezeichnung  dieser  Zustände  als  epilepsieähnlicher  charak- 
terisirt  die  Unzulänglichkeit  unserer  klinischen  Kenntnisse  hinsichtlich 
ihres  Wesens  und  ihrer  Bedeutung. 

Die  fortgeschrittene  Erfahrung  beweist,  dass  solche  Zustände 
auch  im  Rahmen  der  Neurasthenie,  der  Hysterie,  des  Alkoholismus, 
der  progressiven  Paralyse  und  der  Lues  cerebralis  vorkommen. 

Daraus  erwächst  die  Nöthigung,  die  klinische  Kundgebung  dieser 
Bewusstseinsstörungen  auf  der  Grundlage  dieser  verschiedenen  Grund- 
krankheiten zu  ermitteln  und  eventuell  klinische  differenzirende 
Merkmale  ausfindig  zu  machen. 

Gelingt  dies,  so  giebt  es  keine  „epileptoiden"  Dämmer-  und  Traum- 
zustände mehr,  sondern  epileptische,  hysterische,  neurasthenische  u.  s.  w. 
und  ist  die  Möglichkeit  gegeben,  aus  einem  episodischen  Symptomen- 
complex  auf  die  Grundkrankheit  einen  Rückschluss  zu  machen. 

Das  Gelingen  eines  solchen  Versuchs  wäre  nur  unter  der  Voraus- 
setzung möglich,  dass,  unbeschadet  einer  einheitlichen  Veränderung 
m  Bewusstseinsorgan  als  Grundlage  dieser  Zustände,  dieser  patho- 
logische Reactionsmodus  des  Gehirns,  durch  im  Spiel  befindliche 
Neurose  oder  Gehirnkrankheit,  besondere  klinische  Nuancen  aufgeprägt 
bekäme. 

Die  im  1.  Heft  p.  50—64  dieser  Abhandlungen  gemachten  Ver- 
suche, neurasthenische  und  epileptische  Dämmer-  und  Traumzustände 
klinisch  von  einander  zu  differenziren,  lassen  einen  solchen  Versuch 
zwar  schwierig,  aber  nicht  aussichtslos  erscheinen. 

Gelänge  es  nicht  differenzirende  Merkmale  in  den  Anfallsbildern 
aufzuweisen,  so  Hessen  sich  nur  das  Gesammtkrankheitsbild,  zunächst 
abgesehen  von  dem  episodischen  psychischen  Insult,  und  ev.  die  Art 
und  die  Umstände,  unter  welchen  diese  episodischen  Bilder  einsetzen, 
zur  Diagnose  verwerthen. 

Für  die  Diagnose  der  Grund-  (neurose)  krankheit  erschwerend  ist 
aber  hinsichtlich  der  Epilepsie  die  thatsächliche  Seltenheit  gut 
charakterisirter  epileptischer  Anfälle  in  der  Vorgeschichte  solcher 
Fälle  von  Dämmer-  und  Traumzustand,  die  meist  nur  anamnestisch 
und  aus  Laienschilderung  zu  entnehmende  Ermittlung  solcher  Insulte, 
wobei  es  kaum  möglich  sein  wird,  solche  von  Hysteria  gravis  und  von 
genuiner  Epilepsie  auseinanderzuhalten. 

Positive  Stigmata  einer  bestimmten  Neurose  sind  hier  ebenfalls 
nur  mit   Vorsicht  zu   verwerthen,   da  sie   das  gleichzeitige   Bestehen 


Dritter  Aufsatz  (1898).  71 

einer  anderen  Neurose  und  deren  ausschlaggebende  Bedeutung  für  das 
concrete  Zustandsbild  nicht  ausschliessen. 

Bezüglich  Hysterie  ist  es  überdies  möglich,  dass  solche  Därnmer- 
und  Traumzustände  monosymptomatisch  und  dauernd  als  psychische 
Aequivalente  von  Hysteria  gravis-Anfällen  vorkommen  können. 

Bei  Zuständen  im  Anschluss  an  einen  alkoholischen  Excess  bleibt 
vielfach  die  Frage  offen,  ob  jene  die  ausschliessliche  Folge  einer 
alkoholischen  Intoxication  sind  oder  mittelbar  durch  Alkoholepilepsie 
hervorgerufen. 

Hinsichtlich  der  Umstände,  unter  welchen  diese  Dämmer-  und 
Traumzustände  einsetzen,  scheint  nicht  unwichtig,  dass  die  neura- 
sthenischen  immer  durch  palpable  occasionelle  Momente  von  cerebral 
erschöpfender  Wirkung  (Inanition,  Surmenage,  Agrypnie  u.  s.  w.)  zu 
Stande  kommen,  die  hysterischen  durch  psychische  Noxen  (Affekt),  die 
epileptischen  spontan  durch  innere  Vorgänge  oder  durch  Alkohol  u.  a. 
mehr  organisch  wirkende  Noxen. 

Vorweg  scheint  es  mir  auch  annehmbar,  dass  Stupor,  wo  immer  er 
vorkommt,  epilepsieverdächtig  ist.  nicht  minder  das  Ausklingen  von 
Delirien  eines  traumhaften  Zustands  durch  einen  Dämmerzustand. 

Für  das  Studium  und  die  eventuelle  Verwerthung  der  paroxys- 
mellen  und  speciell  der  psychischen  Symptome  erscheint  die  Gewinnung 
prägnanter  Fälle  von  Dämmer-  und  Traumzustand  auf  sichergestellter 
neurotischer  bezw.  cerebraler  Grundlage  wünschenswerth. 

Epileptische  Dümmer-  und  Traumzustände. 

Beob.  7.  Am  11.  12.  1897  wurde  ein  etwa  18 jähriger  Bursche  auf 
einem  öffentlichen  Platz  in  Wien  polizeilich  beanstandet,  da  er  durch 
sein  Benehmen,  Rufen,  Gestikuliren  Anstoss  erregte.  Er  sprach  unauf- 
hörlich und  ganz  unverständlich,  anscheinend  in  verschiedenen  Sprachen, 
war  zu  keiner  Antwort  zu  bringen  und  wollte  beständig  auf  und  davon. 

Noch  vor  Eintreffen  des  Polizeiarztes  wurde  er  von  einem  Krampf- 
anfall befallen,  der  dem  Wachmann  als  epileptischer  imponirte. 

Abends  8  Uhr  in  der  Irrenabtheilung  im  Spital  aufgenommen, 
war  er  ruhig,  Hess  sich  entkleiden,  ging  dann  mit  einer  umgeschlagenen 
Bettdecke  gravitätisch  im  Zimmer  auf  und  ab  und  erklärte  auf  Fragen, 
er  sei  Kaiser  Ludwig  IL,  Kaiser  von  Deutschland,  König  von  Preussen. 
Er  sei  hier  im  Burghof  von  London,  sei  geboren  in  Berlin,  spreche 
aber  nicht  deutsch,  sondern  ungarisch,  polnisch  und  böhmisch.  Er 
nahm  Nahrung,  legte  sich  zu  Bett,  schlief  ein  und  erwachte  am  12.  12. 
früh  6  Uhr. 


72  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Er  hielt  nun  sofort  eine  Rede  in  einer  Phantasiesprache,  in  welcher 
sich  ungarische  und  polnische  Elemente  fanden.  Es  schien  eine  Anrede 
an  das  Volk  zu  sein.  In  derselben  kamen  oft  die  Worte:  „Burghof, 
shoking,  Carl  Ludwig  II."  vor. 

In  überstürztem  Redefluss  setzte  er  durch  Stunden  seine  Ansprache 
fort,  dabei  lebhaft  gestikulirend. 

In  ein  Gitterbett  gebracht,  rief  er  nach  dem  russischen  Kaiser 
und  nach  einem  Säbel,  um  sich  zu  befreien.  Eine  das  Zimmer  passirende 
Wärterin  apostrophirte  er  als  „Königin  Victoria".  Eine  Probe  seines 
überstürzten  verworrenen  Gedankenganges  ist  folgende:  „wie  immer, 
Schwurnes  und  Brog,  das  ist  stummheil,  eins,  zwei,  das  ist  wisturic, 
mastur,  ondaweg,  schere,  schwag,  ster,  pfui,  Schweinstall,  shoking, 
stowasing,  kwengtohaul."  Von  10 — 12  Uhr  Vormittags  Schlaf.  Er- 
wacht, ist  er  ruhiger,   zugänglicher. 

Pat.  klein,  gracil,  blass,  schlecht  genährt.  Cranium  H.  U.  515  mm, 
mit  blasig  aufgetriebenen  Seitenwandbeinen,  entschieden  rachitisch. 
Zähne  defect.  Temperatur  normal,  Puls  80,  vegetativ  kein  Befund.  Er  ist 
nach  wie  vor  deutscher  Kaiser  Carl  Ludwig  mit  Zunamen  „Tudor" 
Hier  ist  eine  Militärkanzlei.     Er  möchte  Leberknödelcaifee  haben. 

Heute  ist  Mittwoch  3.  Juli  1826. 

Er  ist  15  Jahre  alt,  geboren  1812.  Seine  Schwester  heisst  Bertha, 
wohnt  in  Berlin  und  ist  auch  Königin  von  Deutschland.  Pat.  erinnert 
sich  vom  1.  7.  97  ab  3  Wochen  beim  Kaiser  von  Oesterreich  in  Wien 
gewohnt  zu  haben.  Von  den  jüngsten  politischen  Vorgängen  in 
Oesterreich  weiss  er  nichts.  In  die  Schule  ist  er  in  Berlin  gegangen. 
Es  war  nur  eine  Volksschule. 

Er  macht  diese  Angaben  nur  auf  eindringliches  Befragen,  ganz 
aifectlos,  bemerkt  nicht  die  Widersprüche  in  seinen  Angaben,  auch 
wenn  man  ihn  darauf  aufmerksam  macht.  Er  wundert  sich  auch  nicht, 
dass  man  ihn  als  König  alles  Mögliche  ausfragt.  Aufgefordert,  seinen 
Namen  zu  schreiben,  schreibt  er  H.  .  .  .  Max  geb.  in  Berlinn,  Spittel- 
auerlände  6.  XII. 

Berlin  hat  26  Bezirke:  1.  Stadt,  2.  Aisergrund,  3.  Landstrasse, 
4.  untere  Donau,  5.  Bodengasse,  6.  Margarethen  u.  s.  w. 

Neuerlich  nach  seinem  Namen  gefragt,  erklärt  er  sich  als  Carl 
Ludwig,  der  Max  H.  sei  sein  Cousin. 

Den  Rest  des  Tages  verdämmert  Pat.  Die  Nacht  vom  12/13. 
bringt  er  in  tiefem  Schlafe  zu. 

Am  13.  weiss  er  sich  in  Wien,  heisst  anfangs  „Srichta  Vechte", 
dann  „Socranechticht  auzamyela",  geräth  wieder  ins  Reden,  das  augen- 
scheinlich Englisch  imitiren  soll,  hält  Ansprachen  wie  am  Vortag,  ist 


Dritter  Aufsatz  (1898).  73 

neuerlich  deutscher  Kaiser,  im  Burghof  in  London  u.  s.  w.  Nach- 
mittags betet  er  andächtig  und  wiederholt  in  endloser  Wiederkehr 
„Herr  büsse  für  uns  unsre  Sünden  und  erhebe  unsren  Stand  wieder". 

Da  Pat.  Abends  unruhig  wird  und  nicht  einschläft,  erhält  er 
Chloral,  schläft  die  Nacht  über  gut  und  erwacht  am  14.  früh  als  Kaiser 
von  Grossbrittanien,  geb.  in  Krakau,  26  Jahre  alt.  Die  Umgebung 
verkennt  er  als  Fürsten  u.  s.  w.  Später  ist  er  wieder  deutscher 
Kaiser,  im  Burghof  in  Dresden. 

Er  ist  heute  ruhig,  dämmerhaft.  Seit  man  seinen  Kopf  gemessen 
hat,  verlangt  er  öfters  nach  der  ihm  gestohlenen  Krone.  Er  spricht 
heute  fliessend  deutsch. 

Um  7  Uhr  Abends  wird  Pat.  lucid  und  er  heisst  Ladislaus  Sorit, 
ist  Friseur,  kam  vor  3  Wochen,  um  Stelle  zu  finden,  nach  Wien. 

Seine  Erinnerung  bricht  am  11.  12.  auf  einem  Spaziergang  in  der 
Stadt  ab.    Seither  Amnesie  bis  zum  14.  Abends. 

Seit  3  Jahren  hatte  er  zeitweise  „Ohnmachtsanfälle",  verlor  des- 
halb seine  Stelle.    Seit  1  Jahr  schlechter  Schlaf. 

15.  12.  Nach  guter  Chloralnacht  orientirt  im  Grossen  und  Ganzen, 
aber  dämmerhaft.  Er  beginnt  bald  wieder  zu  fabuliren  von  seiner 
Cousine  Bertha,  der  Königin  von  England,  von  einem  Aufenthalt  in 
London  vor  Jahren,  wo  er  mit  Cavalieren  jagte  u.  s.  w..  Er  hält 
Personen  der  Umgebung  für  Verwandte,  Könige  u.  s.  w.  Gelegentlich 
fragt  er  den  Wärter,  ob  er  nicht  die  Mutter  Gottes  in  ihrem 
rothen  Gewände  habe  weggehen  sehen. 

Er  ist  Kaiser  von  Deutschland,  von  England  und  König  von 
Polen.    Kaiser  Franz  Josef  ist  sein  Onkel. 

Heute  Abend  3  epileptische  Anfälle  mit  postepilept.  Verworrenheit, 
in  welcher  er  ausschliesslich  polnisch  spricht. 

Nach  guter  Chloralnacht  ist  er  am  16.  früh  lucid,  mit  summarischer 
Erinnerung  für  die  Erlebnisse  des  Vortags,  bis  Nachmittags  4  Uhr. 

Von  da  ab  Amnesie. 

Er  erinnert  sich,  dass  er  am  11.  spazieren  ging,  plötzlich  Kopf- 
weh, Schwindel,  Erbrechen  bekam,  von  einem  Polizisten  fortgeführt 
wurde,  dann  ins  Spital  kam,  eine  schwarze  Median  (Chloral)  erhielt. 
Nun  bricht  seine  Erinnerung  ab.  Pat.  noch  recht  dämmerhaft  und 
sich  selbst  überlassen  noch  ab  und  zu  in  hallucinatorische  Verwirrtheit 
gerathend. 

Bis  zum  19.  Abends  dann  lucid,  geordnet  bis  auf  gelegentliche 
Personenverwechslung. 

Am  19.  Abends  klassischer  epileptischer  Anfall,  mit  kurzer  post- 
epilept. Verwirrtheit. 


74  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Am  21.  Abends  epil.  Insult.  Nach  guter  Chloralnacht  Wieder- 
einsetzen des  früheren  delirant  verwirrten  Zustandes. 

So  bis  zum  27.  12.  Nun  dauernd  lucid.  mit  Amnesie  für  die 
neuerliche  Episode.     Genesen  entlassen  am  1.  1.  1898. 

Beob.  8.  L.,  Buchbindergeh  ülfe,  20  J.,  erschien  am  8.  6.  1897 
Morgens  beim  Staatsanwalt  in  Wien  mit  der  Erklärung,  er  habe  vor 
dem  Thor  des  Landesgerichts  einen  Mord  begangen.  Er  habe  einen 
Mann  umgebracht,  weil  dieser  ihn  verfolgt  habe.  Er  lasse  sich  nicht 
einsperren,  sondern  nur  aufhängen.  Man  möge  ihn  sofort  justificiren. 
Ob  denn  der  Galgen  schon  aufgerichtet  sei? 

Bei  der  Aufnahme  in  der  psychiatrischen  Klinik  um  3  Uhr  Nach- 
mittags erscheint  L.  ruhig,  ohne  Zeichen  von  Angst  oder  Verwirrt- 
heit, erkennt  sofort,  dass  er  hier  in  einem  Spital  sei,  weiss  aber  keinen 
Grund  dafür.  Er  macht  einen  dämmerhaften  Eindruck,  sein  Gedanken- 
ablauf  ist  sichtlich  erschwert.  Er  antwortet  aber  ganz  geordnet  auf 
Fragen   und  berichtet  in  zusammenhängender  Darstellung  Folgendes: 

„Es  war  heute  Nachts  gegen  4  Uhr  Morgens,  als  mich  ein  böser 
Traum  weckte.  Ich  träumte,  von  einem  Individuum  mit  gezücktem  Messer 
verfolgt  zu  werden  und  ihm  nicht  entkommen  zu  können.  Darüber  er- 
wacht, konnte  ich  mich  jedoch  nicht  beruhigen,  auch  nicht  mehr  ein- 
schlafen, stand  um  6  ]/2  Uhr  auf  und  begab  mich  nach  eingenommenem 
Frühstück  an  mein  Geschäft,  zu  welchem  der  Weg  über  die  Aiserstrasse 
führt.  Als  ich  auf  die  Strasse  kam,  sah  ich,  wie  mein  Traum  ange- 
zeigt hatte,  ein  Individuum  mit  gezücktem  Messer  auf  mich  zutreten. 
Ich  trachtete  demselben  aus  dem  Wege  zu  gehen,  was  mir  aber  nicht 
gelang.  Endlich  übermannte  mich  der  Zorn.  Ich  sprang  auf  ihn  zu, 
schlug  ihn  mit  beiden  Fäusten  derart  auf  die  Schläfe,  dass  er  an- 
scheinend todt  zu  Boden  sank.  Hierauf  begab  ich  mich,  verfolgt  von 
dem  Schimpfen  der  Leute,  auf  das  nahe  Landesgericht,  wo  ich  mich 
selbst  stellte.     Von  dem  Weiteren  weiss  ich  nichts." 

Thatsächlich  hat  Pat.  einen  Erinnerungsdefect,  der  vom  Eintritt 
ins  Landesgericht  bis  zur  Aufnahme  in  der  Klinik  reicht  und  etwa 
7  Stunden  umfasst. 

Pat.  glaubt  es  sei  Montag  der  7.  Nachmittags.  Er  berichtet  noch,; 
dass  er  am  Vorabend  2  Glas  Bier  getrunken  habe,  was  ihm  immer 
schlecht  bekommen  sei.  Er  klagt  über  Druck  im  Hinterkopf,  an  dem 
er  schon  öfters  gelitten  habe.  Percussion  daselbst  ist  leicht  schmerz- 
haft. Stigmata  hysteriae  aut  Neurastheniae  sind  nicht  aufzufinden. 
Er  ist  kräftig  gebaut,   schlecht  genährt.    Der  Schädel  ist  rachitisch, 


Dritter  Aufsatz  (1898).  75 

leicht  blasig  aufgetrieben,  Umfang  54.5.  Mitten  auf  dem  linkeu  Os 
parietale  findet  sich  eine  3  cm  lange,  0.5  cm  breite  sagittal  gestellte 
Narbe  mit  Knochenrinne,  herrührend  von  einem  Trauma  im  4.  Lebens- 
jahre (Rissquetschwunde  mit  starkem  Blutverlust,  angeblich  durch 
2  Tage  bewusstlos  gewesen).  Narbe  nicht  empfindlich.  Das  rechte 
Ohr  kleiner  als  das  linke.  Pupillen  mittelweit,  prompt  reagirend. 
Keine  Gesichtsfeldseinschränkung.  Kein  Tremor.  Negativer  Befund 
von  Seiten  des  Nervensystems.  Vegetativ  normal.  Kein  Fieber.  Pat. 
verhält  sich  ruhig,  affectlos,  schläft  gut,  spricht  spontan  nichts,  er- 
scheint dämmerhaft,  in  sicli  concentrirt,  schreckt,  wenn  angesprochen, 
leicht  zusammen,  antwortet  prompt,  hält  an  seinem  Wahn  fest,  lässt 
sich  nicht  belehren,  begreift  nicht,  warum  er  im  Spital  sei,  da  er  ja 
als  Mörder  ins  Landesgericht  gehöre.  Er  erwartet  affectlos  seine 
Hillrichtung,  schreibt  geordnete  Abschiedsbriefe  an  Eltern  und  Ge- 
schwister, worin  er  mittheilt,  dass  er  am  Fuss  des  Galgens  stehe. 
„Blut  will  wieder  Blut." 

11.  6.  Bisher  unverändert.  Heute  nach  guter  Nacht  verschlafenes 
Wesen,  mangelnde  Aufmerksamkeit,  Klagen  über  diffusen  Kopfschmerz, 
Flimmern  vor  den  Augen.  Kopf  sehr  druckempfindlich,  rasche  geistige 
Ermüdung  beim  Gespräch.  Pal.  theilt  heute  dem  Arzt  vertraulich 
mit,  er  werde  morgen  behaupten,  er  habe  sich  Alles  nur  eingebildet, 
damit  man  ihn  aus  dem  Spital  entlasse.  Er  sehe  keine  andere  Mög- 
lichkeit, ins  Landesgericht  zu  kommen. 

Am  12.  behauptet  Pat.  richtig,  er  habe  Niemand  ermordet.  Auf 
die  Frage  „wann"?  fällt  er  aber  sofort  aus  der  Rolle  und  giebt  als 
Tag  und  Stunde  des  Mordes  „Montag  um  7  ]  2  früh"  an. 

Im  Lauf  des  Tages  zeigen  sich  aber  offenbar  Ansätze  zu  wirk- 
licher Correctur  des  Wahns,  Zweifel  an  der  Richtigkeit  der  Angaben 
und  Bestrebungen,  einen  Ausweg  zu  finden.  So  behauptet  Pat.  Nach- 
mittags, das  Ganze  sei  nur  eine  Sinnestäuschung  gewesen,  ein  Anderer 
habe  den  Mord  begangen,  er  habe  nur  zugeschaut  und  sei  irrthümlich 
als  der  Schuldige  arretirt  worden. 

Die  Entgegnung,  dass  wenn  all  dies  nur  Einbildung  gewesen, 
sein  Geisteszustand  hier  noch  längere  Zeit  untersucht  werden  müsse, 
erregt  Pat.  heftig.  Er  bekommt  heftiges  Kopfweh,  wirft  sich  aufs 
Bett,  springt  nach  einigen  Minuten  wieder  auf.  bekennt  sich  als 
Mörder  und  droht,  wenn  man  ihn  nicht  entlasse,  werde  er  sich  selbst 
justificiren.  Nach  einer  halben  Stunde  wird  Pat.  ruhig,  meldet  sich 
zu  einer  Besprechung,  erklärt,  er  habe  unter  heftigem  Kopfschmerz 
die  ganze  vermeintliche  Mordscene  inzwischen  nochmals  durchgemacht. 


76  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Plötzlich  sei  er  sich   darüber  klar  geworden,  dass  das  Ganze  nur  ein 
in  die  Wirklichkeit  übertragener  Traum  gewesen  sei. 

Der  amnestische  Zeitraum  vom  8.  Morgens  8  bis  Nachmittags  3  Uhr 
ist  nun  ausgefüllt. 

Pat.  erinnert  sich,  wie  man  ihn  dem  Arzt  im  Landesgericht  vor- 
führte, wie  ihn  Polizeileute  bewachten  und  er  endlich  ins  Spital 
gebracht  wurde. 

Er  ist  nun  ganz  lucid,  mimisch  frei,  nicht  mehr  gehemmt,  glücklich 
darüber,  dass  er  nur  in  einem  bösen  Traum  befangen  war. 

Pat.  von  gesunden  Eltern,  selbst  ganz  gesund  bis  vor  2  Jahren, 
ein  braver,   fleissiger,  solider  Mensch.     Ein  Bruder  war  geistesgestört. 

Pat.  berichtet,  dass  er  nach  Sturz  von  einer  Treppe  Herbst  1895 
eine  schwere  Commotio  cerebri  hatte.  Zwei  Tage  später  stürzte  er  unter 
Flimmern  vor  den  Augen  zusammen  und  blieb  5 '  bewusstlos.  Seither 
Alkoholintoleranz,  oft  Flimmern  vor  den  Augen  mit  diffusem  Kopf- 
schmerz, in  der  Dauer  von  5'  bis  zu  6  h.  Am  19.  4.  1897  hatte  Pat. 
ohne  greifbaren  Anlass  neuerlich  2  Anfälle  von  bewusstlosem  Umstürzen 
mit  prodromalem  Augenflimmern  gehabt. 

Pat.  wurde  bis  zum  18.  6.  1897  auf  der  Klinik  behalten  und 
beobachtet.  Keine  neurasthenischen  Symptome,  keine  Masturbation. 
Ausser  fast  täglichen  Anfällen  von  Cephalaea,  gegen  die  Antipyrin 
wirksam  war,  bot  Pat.  bis  zur  Entlassung  keine  Krankheitssym- 
ptome mehr. 

Beob.  9.1)  Am  23.  8.  1878  wurde  Josef  Maier,  Knecht,  40  Jahr 
alt,  in  völlig  geistesverwirrtem  Zustand  auf  der  Strasse  von  der 
Sicherheitsbehörde  aufgegriffen.  Er  faselte,  er  sei  eiu  Wildschütz,  habe 
Güter  in  Mexico.  Bei  der  Aufnahme  ist  er  im  Bewusstsein  tief  gestört 
weiss  nicht  Namen  noch  Wohnort  anzugeben.  Er  sei  Wildschütz, 
Soldat  bei  der  Marine,  hält  den  Arzt  für  einen  Oberlieutenant.  Im 
Reinigungsbad  füllt  er  den  Mund  mit  Wasser  und  sagt  ganz  ruhig: 
„ich  ertrinke".  Nach  seinem  Namen  befragt,  sagt  er:  „K.  K.  Kriegs- 
marine" Pat.  schlief  Nachts  nicht,  behauptete  am  anderen  Morgen, 
man  habe  ihn  beständig  geschimpft,  bedroht,  es  habe  Einer  ihm  den 
Kopf  mit  dem  Säbel  spalten  wollen.  Er  habe  Feuer  gesehen,  seine 
6  Schiffe  seien  ihm  verbrannt  und  ein  Dorf  in  Flammen  aufgegangen. 
Pat.  bleibt  tief  verworren,  seiner  Lage  unbewusst  und  delirant  (Schiffe 
verbrannt,  Lebensgefahr  etc.)  bis  zum  27.  Da  schweigt  das  Delirium, 
Pat.  ist  bis  zum  28.  noch  dämmerhaft  und  am  28.  plötzlich  lucid.  Er 
weiss  von  allen  Vorkommnissen  seit  dem  23.  nur,  dass  er  damals  mit 


1)  Aus  m.  Lehrb.  d.  Psychiatrie.  1.  Aufl.  Bd.  III.  Beob.  80. 


Dritter  Aufsatz  (1898).  77 

dem  Brodwagen  seines  Herrn  auf  Kundschaft  fuhr,  dass  er  noch 
mehrere  Kunden  besuchte,  Aerger  bei  einigen  hatte,  den  ganzen  Tag 
sich  schon  unwohl,  benommen  im  Kopf  fühlte.  Ueber  den  Verbleib 
des  (inzwischen  aufgefundenen)  Wagens  wusste  er  absolut  nichts  anzu- 
geben. Auch  dem  Herrn  war  er  beim  Fortfahren  so  curios  vorge- 
kommen. 

Pat.  hatte  einen  Säufer  zum  Vater,  litt  als  kleines  Kind  an 
Convulsionen,  später  an  ohnmachtartigen  Anfällen  (Schwindel,  Angst, 
Umfallen),  nach  denen  er  sich  ganz  dumpf  im  Kopf  fühlte.  Bis  auf 
die  letzte  Zeit  habe  er  solche  Anfälle  gehabt.  Klassische  epileptische 
Insulte  sind  nicht  festzustellen.  Pat.  soll  äusserst  jähzornig  sein, 
intellectuelle  Defecte  bestehen  nicht.  Seine  Stimmung  ist  häufig  eine 
gedrückte,  morose.  Er  äusserte  wiederholt  den  Wunsch,  von  der 
Welt  wegzukommen,  da  sein  Kopf  doch  nie  mehr  gut  werde.  Pat,  ist 
rhombocephal.  Die  Pupillen  ungleich.  Zunge  ohne  Narben.  Die  Be- 
obachtung ergiebt  bis  zum  8.  10.,  an  welchem  Tage  er  entlassen  wird, 
ausser  wechselnder  Stimmung,  häufigem  Kopfweh  und  Schwindel  nichts 
Bemerkenswerthes. 

Beob.  10.  Sp.,  34  J.,  gew.  Jurist,  später  Schreiber,  wurde  am 
23.  11.  1870  in  der  steierm.  Landesirrenanstalt  aufgenommen,  weil  er 
im  Gasthof  die  Zeche  schuldig  blieb  und  als  man  ihn  darum  mahnte, 
behauptete,  der  Kronprinz  zu  sein.  Aus  der  lückenhaften  damaligen 
Krankengeschichte,  aus  der  wichtige  Theile  in  Verlust  gerathen  sind, 
lässt  sich  nur  entnehmen,  dass  Sp.  in  einem  dämmerhaften  Zustand  mit 
Intermissionen  sich  durch  Jahre  befand,  eine  träumerische  Existenz 
bot,  sich  von  der  Aussen  weit  abschloss,  hie  und  da  Andeutungen 
von  Grössenwahn  bot.  Als  ich  Pat.  am  12.  6.  1873  kennen  lernte, 
befand  er  sich  in  einem  Lucid.  intervallum  und  gab  befriedigende 
Anamnese. 

Mutter  war  neuropathisch,  Bruder  Epileptiker.  Schon  in  frühester 
Jugend  entwickelte  sich  bei  Pat,  eine  phantastisch  romanhafte  Geistes- 
richtung. Er  war  ein  träumerischer  Junge,  las  viel,  interessirte  sich 
nur  für  Religion  und  Weltgeschichte,  hatte  eine  rege  Phantasie,  die 
oft  mit  ihm  durchging  und  so  lebhaft  Lektüreeindrücke  reproducirte, 
dass  er  Mühe  hatte,  zwischen  Einbildung  und  Wirklichkeit  zu  unter- 
scheiden. Vom  14.  bis  24.  Jahr  grosse  masturbatorische  Excesse.  Vom 
21.  Jahr  ab  Erscheinungen  von  Neurastheuie.  1863  Nachts  aus  einem 
Traum  erwacht,  hörte  er  eine  Stimme  „du  bist  eine  Urkraft,  bist  Gott". 
Kr  replicirte  „wie  kann  das  sein,  das  kann  ich  nicht  zugeben".  Darauf 
antwortete  es  „wie  kannst  du  daran  zweifeln" 


78  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Die  Sonne  ging  gerade  auf,  da  kam  es  ihm  vor,  dass  gerade  eine 
Schlacht  in  Polen  geschlagen  werde  und  er  beten  müsse,  damit  diese 
Schlacht  gewonnen  werde.  Er  kniete  neben  seinem  Bette  nieder  und 
betete.  Dann  öffnete  er  seinen  Kasten,  fand  darin  ein  Bild,  unter  dem 
geschrieben  war  „gegrüsset  seist  du  Maria"  und  „Franz  Josef".  Es 
trieb  ihn,  dieses  Bild  an  sich  zu  drücken.  Es  war  lakirt  und  klebte 
an  seiner  Haut  an.  Das  war  ein  Wunder.  Von  diesem  Bild  ging 
ein  Wohlgeruch  aus.  Da  erkannte  er,  dass  er  eine  schöpferische 
Kraft  sei. 

Einige  Wochen  später,  als  er  mit  seinen  Angehörigen  zu  Mittag 
ass,  kam  ihm  plötzlich  die  Idee,  es  sei  der  jüngste  Tag  gekommen. 
Es  fielen  Sterne  vom  Himmel,  Figuren  erschienen,  kleine  Kinder  „wie 
Würmer"  krochen  auf  dem  Boden  herum.  Nun  verdunkelte  sich  sein 
Gesichtsfeld  und  sein  Bewusstsein  schwand.  Er  erfuhr  hinterher,  dass 
er  gezuckt  und  gezappelt  habe,  Schaum  vor  dem  Mund  hatte  und  man 
ihm  aus  Sorge,  er  könnte  die  Zunge  zerbeissen,  einen  Löffel  zwischen 
die  Zähne  brachte. 

Ein  solcher  Anfall  wiederholte  sich  1865  und  1868.  Seit  dem 
ersten  Insult  will  er  anfangs  seltener,  später  immer  häufiger  und 
länger  in  eigentümliche  Zustände  von  Umdämmerung  gerathen  sein, 
in  welchen  er  sich  gehoben,  die  Aussenwelt  so  kleinlich  fühlte,  sich 
wie  ein  Dichter  vorkam  und  vermeinte,  viel  besser  und  genialer  zu 
sein,  als  seine  Lieblingsdichter  Schiller  und  Goethe.  Allmälig  ent- 
wickelte sich  in  diesen  Dämmerzuständen  die  Idee,  sein  Vater  sei  der 
Kaiser  und  er  folgerichtig  der  Kronprinz. 

Auf  der  Höhe  solcher  Delirien  wandelte  sich  ihm  die  Aussenwelt 
entsprechend  um.  Er  bemerkte,  dass  man  ihn  respectvoll  grüsste, 
hielt  die  Anderen  für  seine  Höflinge  u.  s.  w.  Dazwischen  kamen 
wieder  Zeiten  des  Zweifels,  relativer  Klarheit  und  Einsicht.  Er  kam 
sich  verrückt  vor  und  grübelte  nach,  wer  er  denn  eigentlich  sei.  Die 
expansiven  Delirien  wurden  immer  mächtiger.  Gleichwohl  wahrte  er 
den  Schein  geistiger  Gesundheit  und  vermochte  durch  Jahre  noch  sich 
als  Diurnist  bei  einem  Advokaten  zu  behaupten. 

Da  er  aber  in  seinem  Wahn  Kronprinz  zu  sein  der  Meinung  war, 
er  dürfe  nur  im  ersten  Gasthof  speisen,  kam  er  mit  seinen  bescheidenen 
Geldmitteln  in  Widerspruch. 

Eine  Zeitlang  trat  in  seinen  psychischen  Ausnahmszuständen, 
statt  des  obigen,  der  Wahn  auf,  Enkel  Pio  nono's  zu  sein. 

Eines  Tags  seien  diese  Wahnideen,  ebenso  plötzlich  wie  sie  ange- 
flogen waren,  wieder  von  ihm  gewichen.  Der  letzte  Dämmerzustand 
habe  fast  ein  Jahr  bestanden.     Jetzt  klingen   seine  früheren  Delirien 


Dritter  Aufsatz  (1898).  79 

nur  noch  im  Traume  an.  Er  erkenne  jetzt  aber  klar,  dass  es  Täu- 
schungen waren,  er  habe  „doppelte  Ohren  und  Augen"  gehabt.  Er  habe 
früher  in  einer  „ideal  verrückten"  Welt  gelebt.  Die  ideale  sei  schöner 
gewesen  als  die  wirkliche,  er  ziehe  aber  doch  die  Eealität  vor,  denn 
sie  sei  gleichbedeutend  mit  geistiger  Gesundheit. 

Er  müsse  aber  immer  noch  auf  seiner  Hut  sein,  denn  von  Zeit 
zu  Zeit  komme  noch  eine  momentane  Verfinsterung,  sodass  er  in  Gefahr 
stehe,  in  seinen  Wahn  zurückzusinken.  Er  fühle  sich  jetzt  ganz  wohl 
und  komme  sich  wie  neugeboren  vor.  Ausser  constitutioneller  Anämie 
fanden  sich  an  Pat.  keine  körperlichen  Störungen  vor.  Ich  beschäftigte 
den  mittellosen  und  schonungsbedürftigen  Reconvalescenten  in  der 
Kanzlei,  hatte  so  Gelegenheit  ihn  täglich  zu  sehen.  Er  war  ein 
tüchtiger  Scribent,  bot  niemals  mehr  Entgleisungen  in  das  Gebiet  der 
Delirien,  blieb  aber  ein  stiller,  in  sich  verschlossener,  träumerischer 
eigenartiger  Mensch. 


Am  21.  3.  1894  erschien  in  meiner  Sprechstunde  ein  Herr,  Kaufmann. 
31  J.  alt,  verheirathet,  dessen  Krankheitsgeschichte  in  vieler  Beziehung  an 
den  vorausgehenden  Fall  erinnert.  Herr  X  klagte ,  dass  er  seit  etwa 
10  Jahren  zeitweise  von  dem  „dummen"  Wahn  geplagt  sei,  er  wäre  Kaiser 
von  Afrika.  Er  sei  dabei  in  einer  eigentümlichen  Geistesverfassung, 
dämmere  herum,  sei  zu  keiner  Arbeit  brauchbar,  appercipire  die  Aussenwelt 
nur  in  ganz  vagen  Umrissen,  sei  ganz  von  der  Kaiseridee  und  Ideen  sein 
Reich  zu  regieren  beherrscht,  äusserlich  dabei  aber  wenig  auffällig,  sodass 
er  bisher  unbeanstandet  durchs  Leben  gekommen  sei.  Plötzlich  komme  er 
dann  wieder  zu  sich,  zur  Wirklichkeit  und  habe  dann  nur  höchst  vage  Er- 
innerung für  das  in  diesen  Dämmerzuständen  Erlebte.  Solche  Anfälle 
kommen  fast  jede  Woche,  gehen  regelmässig  mit  Kopfschmerz  einher,  sind 
sich  typisch  gleich  und  dauern  selten  länger  als   einige  Tage. 

Seit  einigen  Jahren  habe  er  fast  beständig  intervallär  Angstgefühle, 
die  sich  zuweilen  zu  einer  förmlichen  Angstkrise  steigern.  Dann  ziehe  es 
ihn  geradezu  ins  Wasser.  Dreimal  sei  er  schon  in  solchem  Zustand  in  die 
Donau  gesprungen,  aber  im  kalten  Wasser  sei  er  jeweils  gleich  wieder  zu 
sich  gekommen  und  sei  ans  Land  geschwommen. 

In  der  Familie  des  Pat.  ist  mehrfach  Irrsinn  und  Selbstmord  vorge- 
kommen. Er  ist  submicrocephal  (53.5  cm)  und  versichert,  bis  zum  12.  Jahre 
viel  an  Convulsionen  gelitten  zu  haben.  Nachforschungen  nach  Epilepsie 
hatten  ein  negatives  Resultat,  jedoch  standen  mir  nur  die  Angaben  des 
Pat.  und  eine  einmalige  Consultation  zur  Verfügung.  Dagegen  war  er  in 
hohem  Grade  mit  Neurasthenie  behaftet.  Ich  gewann  den  Eindruck,  einen 
Epileptiker   vor  mir  zu  haben  und  verordnete  Brom. 


80  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Dämmer-  und   Traumzustände   auf  neurastkenischer   Grundlage. 

Hinsichtlich  der  Häufigkeit  des  Vorkommens  stehen  die  neura- 
sthenischen  Dämmerzustände  zunächst  bei  den  epileptischen.  Bei  der 
grossen  Zahl  von  bezüglichen  Beobachtungen, ')  die  ich  im  1.  Hefte  dieser 
Arbeiten  veröffentlicht  habe,  kann  ich  mich  hier  auf  einige  wenige 
weitere  Fälle,  die  klinisch  interessant  sind,  beschränken.  Trotz  der 
ansehnlichen  bereits  vorliegenden  Casuistik  scheint  es  kaum  möglich, 
schon  jetzt  aus  dem  Dämmer-  oder  Traumzustand  als  solchem  die  zu 
Grunde  liegende  Neurose  zu  erschliessen,  bezw.  zu  einer  differentiellen 
Diagnostik  jenes  Zustandes  klinisch  vorzudringen.  Das  Schwergewicht 
muss  diagnostisch  vorläufig  auf  Entstehung,  Verlauf  des  Anfalls  und 
die  Begleiterscheinungen  der  betr.  Neurose  gelegt  werden. 

Dies  gilt  nicht  bloss  hinsichtlich  der  Unterscheidung  neurasthe- 
nischer  und  epileptischer  Zustände,  die  ich  in  Heft  I  p.  50 — 64  ver- 
sucht habe,  sondern  auch  hinsichtlich  anderweitiger  Kategorien  von 
solchen  Zuständen.  Nur  bei  solchen  hysterischer  Provenienz  kann 
die  Diagnose  mit  einem  Griff  eventuell  gemacht  werden,  indem  der 
Dämmer-  oder  Traumzustand  Aequivalent  eines  Hysteria  gravis- 
Anfalls  sein  kann  und  durch  Beizung  einer  hysterogenen  resp.  spas- 
mogenen  Zone  plötzlich  coupirt  werden  mag.  Wie  unsicher  die 
differentielle  Diagnose  der  Dämmerzustände  noch  ist,  lehrt  ein  im  An- 
schluss  folgender  Fall  von  Raymond,  den  ich  bestimmt  als  solchen 
von  neurasthenischem  Gepräge  ansprechen  muss,  während  der  er- 
fahrene Autor  ihn  als  „transitorische  Hysterie"  und  „dedoublement  de 
la  personnalite"  auffasst. 

Beob.  11.  L.,  28  J.,  Eisengiesser ,  wurde  am  7.  1.  1882  der 
psych.  Klinik  in  Graz  übergeben,  weil  er  in  ganz  dämmerhafter  Ver- 
fassung, mit  augenscheinlichen  Absichten  sich  umzubringen,  am  Fluss 
herumgeirrt  sei. 

Pat.  ist  bei  der  Aufnahme  in  einem  Dämmerzustand.  Er  delirirt 
von  einer  Menge  Ertrunkener,  die  er  gesehen.  Einen  derselben  habe 
er  mit  Stroh  gerieben.  Er  sei  wieder  zu  sich  gekommen  und  habe 
ihn  angepackt.  Pat.  verdeckt  sich  die  Augen.  Er  dürfe  nicht  nach 
der  Mauer  schauen,  weil  da  ein  geschwärzter  Mann  stehe,  der  wie  ein 
Eisenarbeiter  aussehe  und  ihn  seit  gestern  verfolge.  Darüber  in 
grosser  Angst  sei  er  planlos  umhergeirrt,  der  Mann  ihm  immer  nach. 
Da  sei  er  in  seiner  Angst  und  Verzweiflung  ans  Wasser,  um  sich  zu 
ertränken.    Dort  habe  man  ihn  ergriffen  und  hieher  gebracht. 


1)  Arbeiten  Heft  I.  Beob.  1—4,  9-15,  17—25. 


Dritter  Aufsatz  (1898).  gl 

Pat.  bleibt  in  diesem  Zustand  bis  zum  9.  1.,  schläft  etwas,  wird 
mimisch  freier,  constatirt,  dass  der  entsetzliche  Manu  nicht  mehr  da 
sei,  sucht  sich  zu  orientiren,  glaubt  aber  nicht,  dass  das  ein  Spital  sei. 
Zu  Hause  sei  er  freilich  nicht.  Er  klagt  Angst,  Druck  auf  der  Brust, 
Gefühl  als  ob  der  Kopf  in  einer  Presse  sei,  wüsten  Lärm. 

Am  11.,  nach  gut  durchschlafener  Nacht,  ist  Pat.  ganz  lucid  und 
giebt  ausführliche  Anamnese. 

Keine  Heredität,  keine  Convulsionen  in  der  Kindheit.  War  nie 
Potator.  Vita  sexualis  geordnet.  Pat,  weit  in  der  "Welt  herum- 
gekommen, geschickter  Arbeiter.  1880  Cholerine  und  später  Inter- 
mittens.  Seither  intolerant  gegen  Alkohol,  bei  der  anstrengenden 
Arbeit  im  Gusshaus,  die  er  früher  leicht  ertragen,  oft  Kopfschmerz, 
Schwindel.  Seither  auch  ab  und  zu  grundlose  Aengstlichkeit.  aber 
ohne  Bewusstseinstrübung. 

Seit  Dec.  1881  regelmässig  schwere  Träume,  meist  von  Feuers- 
brunst, oft  so  lebhaft,  dass  er  aufgeschreckt  ans  Fenster  eilte  und 
nocli  Feuerschein  zu  sehen  vermeinte. 

Seit  Weihnacht  Ueberanstrengung  durch  schwere  Arbeit,  dazu  viel 
Aerger.  Er  fühlte  sich  immer  schwächer,  zitterte  leicht,  schwitzte  selbst 
bei  kühler  Temperatur,  war  Morgens  beim  Aufstehen  ganz  matt  und  müde, 
hatte  heftigen  Kopfdruck.    Am  31.  12.  1881  grosse  Gemüthsbewegung. 

Von  da  ab  elende  Nächte,  mit  Träumen  von  Flug  durch  die  Luft, 
Sturz  in  Abgründe.  Unter  Tags  kaum  mehr  arbeitsfähig,  quälender 
Kopfdruck  permanent,  Aengstlichkeit,  Gedankenhemmung,  unfähig  zu 
geordnetem  Gespräch. 

Am  6.  früh  hielt  er  es  in  der  Stube  nicht  mehr  aus.  Er  sei  fort- 
gelaufen in  die  Stadt,  planlos.  Er  erinnert  sich  dunkel  an  endloses 
Herumwandern  in  den  Strassen,  an  eine  Nachmittagsvorstellung  im 
Theater,  aus  der  er  aber  wegen  Schwindel  und  Kopfschmerz  fort 
musste,  an  einen  Aufenthalt  in  einem  Wirthshaus,  an  einen  Militär- 
leichenzug, an  die  plötzlich  aufgetauchte  und  ganz  unmotivirte  Idee, 
nach  Wien  zu  fahren  und  an  sein  Erscheinen  im  Bahnhof.  Wo  er 
nächtigte,  weiss  er  nicht  sicher. 

Am  8.  früh  beginnt  ein  Erinnerungsdefect,  der  die  ganze  hallu- 
cinatorische  Periode  umfasst,  bis  zum  9.  andauert  und  nicht  mehr  aus- 
gefüllt werden  kann. 

Pat.  bietet  in  der  Folge  noch  neurasthenische  Beschwerden,  er- 
holt sich  unter  guter  Ernährung  und  Nachhülfe  für  seinen  schlechten 
Schlaf  rasch  und  wird  am  28.  1.  1882  psychisch  ganz  normal  und 
quoad  Neurastheniam  sehr  gebessert,  aus  dem  Spital  entlassen.  Irgend 
welche  Hinweise  auf  eine  epileptische  Neurose  hatte  Pat.  nie  geboten. 

Krafft-Ebing.  Arbeiten  III.  6 


82  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Neurasthenischer  Dämmerzustand,  dann  Simulation. 

Beob.  12.  Am  29.  10.  1896  gelangte  der  gew.  Beamte  S.,  25  J., 
led.,  zur  Aufnahme  auf  der  psychiatr.  Klinik.  Seine  Mutter  und  eine 
jüngere  Schwester  sollen  sehr  nervös  und  aufgeregt  sein.  Pat.  war 
von  Kindesbeinen  auf  sonderbar.  So  geschah  es,  dass  er  als  Schulknabe 
andere  Kinder  zu  Wagenpartien  einlud,  ohne  Motiv  und  ohne  Geld. 
Bei  Ausflügen  absentirte  er  sich  ohne  Grund  und  ohne  es  mitzu- 
theilen.  Die  Notizbücher  seiner  Geschwister  beschmierte  er  oft  ohne 
Zweck. 

Er  war  nicht  unbegabt,  soll  beim  Militärdienst  eine  acute  Er- 
krankung gehabt  haben,  dabei  epileptische  Anfälle,  und  wegen  eines 
zurückgebliebenen  Herzklappenfehlers  superarbitrum  worden  sein. 

Er  wurde  dann  im  öffentlichen  Dienst  angestellt,  quittirte  vor 
1  Jahr,  weil  ihm  von  seiner  Geliebten  ein  besserer  Posten  in  Aussicht 
gestellt  wurde. 

Von  jeher  nervös  und  reizbar,  war  Pat.  im  Lauf  des  Jahres  1896 
es  noch  mehr  und  deutlich  neurasthenisch  geworden. 

Ende  Mai  hatte  er  ein  Ciavier  auf  Ratenzahlung  gekauft  und  es 
in  demselben  Stadtbezirk  an  einen  anderen  Ciavierhändler  weiterver- 
kauft. Es  war  dies  umso  auffälliger,  weil  die  Träger  beider  Clavier- 
händler  dieselben  waren  und  seine  fraudulöse  Handlung  sofort  heraus- 
kommen musste. 

Er  wurde  dafür  mit  1  Monat  Arrest  bestraft  und  hatte  seine 
Strafe  am  29.  10.  1896  antreten  sollen. 

Seit  Anfang  October  war  er  zunehmend  reizbar  und  erregt  ge- 
worden, hatte  wiederholt  Auftritte  mit  seiner  Mutter  gehabt,  die  ihn 
vergesslich,  episodisch  sogar  verworren  fand,  klagend  über  einen  Mann, 
der  ihn  verfolge. 

Am  21.  10.,  nach  einem  heftigen  Auftritt  mit  der  Mutter,  war  S. 
fortgegangen  und  nicht  mehr  heimgekommen. 

Am  28.  10.  sah  ihn  die  Mutter  wieder  auf  dem  Polizeicommissariat, 
wohin  ihn  zwei  Freunde  geführt  hatten,  weil  er  seit  einigen  Tagen  über 
Schlaflosigkeit  und  Druck  im  Hinterkopf  klage,  mehrere  Morphium- 
pulver auf  einmal  habe  nehmen  wollen,  missmuthig,  verschlossen  sei 
und  sich  von  einem  Manne  bedroht  und  verfolgt  wähne. 

Mit  der  Mutter  confrontirt,  erkennt  er  sie  nicht,  ist  aufgeregt, 
verwirrt,  bittet  den  Polizeicommissär  um  Schutz  vor  einem  Mann,  der 
ihm  überall  mit  einem  Messer  auflauere.  Er  scheint  unter  der  Ein- 
wirkung von  Alkohol,  fährt  wiederholt  erschreckt  zusammen,  ist  ganz 
desorientirt,  klagt  über  Kopfdruck  und  wird  am  29.  früh  12'/n  auf  die 


Dritter  Aufsatz  (1898).  83 

Klinik  gebracht.  Er  ist  ruhig,  wundert  sich  aber  nicht  über  seinen 
neuen  Aufenthalt  und  schläft  bald  ein. 

Er  ist  am  29.  früh  nach  gut  durchschlafener  Nacht  örtlich 
orientirt,  zeitlich  um  einen  Tag  zurück,  wundert  sich  darüber  im 
Krankenhause  zu  sein;  er  erinnert  sich  an  keine  Erlebnisse  seit  dem 
26.  10.  Nachmittags  bis  zum  Erwachen  am  29.  im  Spital,  behauptet, 
unter  heftigem  Kopfschmerz  in  einen  Ausnahmszustand  gerathen  zu 
sein.  Er  sei  seit  dem  21.  10.  verfolgt  von  einem  Mann  in  dunkler 
Kleidung,  der  ihm  mit  tiefer  Stimme  gedroht  habe. 

Dieser  selbe  Mann  habe  ihn  schon  1893  durch  8  Tage  verfolgt, 
später  noch  einmal,  jetzt  zum  3.  Mal. 

Er  giebt  zu,  seit  längerer  Zeit  3—4  Krügel  Bier  und  3—4  Tassen 
Thee  mit  Rum  täglich  getrunken  zu  haben. 

Pat.  ist  leicht  dämmerhaft,  Miene  verschleiert.  Klagen  über 
heftigen  stechenden  Kopfschmerz. 

Gross,  mager,  gracil,  Schädel  asymmetrisch,  Cf.  55.  Ohren  leicht 
degenerativ.  Kopf  auf  Percussion  schmerzhaft,  Wirbelsäule  leicht 
druckempfindlich.  Ausser  feinwelligem  Zungentremor  keiu  Zittern. 
Keine  Zeichen  von  Alkoholismus.  Pupillen  mittelweit,  gleich,  von 
sehr  prompter  Eeaction.  Tiefe  Reflexe  an  OE.  und  UE.  sehr  lebhaft. 
Mitralinsufficienz.  Residuen  einer  Pericarditis.  Harn  eiweiss-  und 
zuckerfrei. 

Pat.  isst  und  schläft  die  folgenden  Tage  gut.  Er  ist  geordnet, 
aber  leicht  gehemmt,  schwer  besinnlich,  in  seiner  Zeitrechnung  constant 
um  1  Tag  zurück.  Er  klagt  andauernd  Kopfdruck,  schätzt  am  2.  11. 
seine  Anwesenheit  in  der  Klinik  auf  14  Tage,  localisirt  schlecht  in 
der  Vergangenheit,  bleibt  amnestisch  für  die  Zeit  vom  26.-29.  10. 
Sonderbares  Schwanken  der  Erinnerung  für  weitab  hinter  der  Krank- 
heitsperiode liegende  Ereignisse.  So  weiss  er  z.  B.  am  2.  11.  nichts 
von  Crimen  und  Strafe,  während  er  am  31.  10.  sich  dessen  erinnerte. 

Am  4.  11.  weiss  er  nur  von  den  Erlebnissen  des  3.  und  2.  11., 
nicht  aber  von  den  weiter  zurückliegenden  Tagen  und  seiner  Ver- 
urtheilung. 

Pat.  klagt  noch  andauernd  Kopfschmerz  und  Abgeschlagenheit. 

Das  Benehmen  des  Pat.  wird  der  Simulation  verdächtig.  Dass  er 
vom  26. — 29.  10.  in  einem  neurasthenischen  Dämmerzustand  gewesen 
ist  und  noch  jetzt  Spuren  von  Neurasthenie  bietet,  kann  keinem 
Zweifel  begegnen,  aber  das  beständige  Schwanken  seiner  Erinnerungs- 
defecte  in  ihrer  zeitlichen  Begrenzung,  seine  angebliche  Amnesie  für 
sein  Delikt  im  Juli  und  die  Verurtheilung  im  August  waren  bei  dem 
doch  vor  dem  21.  und  seit  dem  29.  October  nicht  psychisch  krank  Ge- 

6* 


g4  Ueber  Däinmer-  und  Trauuizustände. 

wesenen  nicht  erklärbar.  Es  war  auch  auffallend,  dass  Pat,  bei  der 
Visite  jeweils  still,  gedrückt  war,  über  Kopfweh  klagte  und  sich  auf 
den  Schwerkranken  herausspielte,  während  er  in  Abwesenheit  der 
Aerzte  das  grosse  Wort  führte,  bramarbasirte,  die  Anderen  terrorisirte 
und  ein  eifriger  Kartenspieler  war. 

Am  25.  11.  theilte  ein  Mitpatient  vertraulich  mit,  dass  S.  ihm 
gesagt  habe,  er  halte  die  Aerzte  zum  besten,  simulire  nur  sein  Leiden, 
um  dadurch  der  über  ihn  verhängten  Strafe  zu  entgehen.  Als  man 
ihn  einige  Tage  später  mitten  in  einer  lustigen  Gesellschaft  ausge- 
lassen trifft  und  ihm  den  Contrast  seines  Benehmens  während  der  Visite 
vorhält,  wird  er  verlegen  und  redet  sich  damit  aus,  er  fühle  sich  seit 
heute  genesen  und  deswegen  so  aufgeräumt.  Er  weiss  nach  wie  vor 
nichts  von  Delict  und  Strafe,  ist  zeitlich  nicht  ganz  orientirt  und 
behauptet  seit  8  Wochen  (recte  5)  hier  zu  sein. 

S.  wird  als  Simulant  entlassen.  Er  begeht  in  der  Folge  mit  einem 
anderen  Gauner  eine  Reihe  raffinirter  Hochstaplereien,  wird  deshalb 
im  Juli  1897  verhaftet  und  der  verdienten  Strafe  zugeführt, 

Beob.  13.  Z.,  30  J.,  kleiner  Beamter  in  Nancy,  stammt  von  einem 
Vater,  der  in  seiner  Jugend  Nachtwandler  war  und  einer  geistesbeschränkten 
Mutter.  Ein  Bruder  des  Pat.  war  in  seiner  Jugend  ebenfalls  Nachtwandler 
und  wurde   später   Säufer. 

Pat.  war  von  jeher  emotiv.  Mit  16  Jahren  machte  er  über  ungerechter 
Beschuldigung,  einen  Diebstahl  begangen  zu  haben,  einen  pathologischen 
Affectzustand  durch.  Seit  dem  17.  Jahre  schreckhafte  Träume.  Aufregende 
bewegte  Existenz  in  der  Folge.  Mit  22  Jahren  längere  Zeit  Malariaanfälle 
mit  Delirium.  Mit  24  Jahren  Heirath.  Baldiger  Verlust  der  Frau.  Mit 
26  Jahren  zweite,  glückliche  Ehe.  Bescheidene  aber  sichere  Stellung.  In 
den  letzten  Jahren  geistige  Ueberanstrengung.  Seit  Januar  1895  Berufs- 
neurasthenie des  fleissigen  soliden  Mannes.  Im  gleichen  Monat  heftiger  Shok, 
indem  sein  Bruder  ihn  irrthümlich  in  einem  Briefe  einer  unehrenhaften 
Handlung  beschuldigt  und  ihm  mit  einer  gerichtlichen  Anzeige  gedroht 
hatte.  Diese  Anschuldigung  war  ihm  seither  beständig  durch  den  Kopf 
gegangen.  Gedanken  an  Polizei,  Flucht  hatten  ihn  im  Traum  und  Wachen 
gequält.     Dabei  neurasthenische   Gedächtnissschwäche  und  Kopfweh. 

Am  3.  2.  1895  sass  Pat.  im  Cafe.  Er  hatte  (gegen  seine  Gewohn- 
heit) mehrere  „Bock"  und  überdies  ein  Glas  Wermuth  getrunken.  Es 
herrschte  grosse  Kälte.  Er  wollte  heim  zum  Mittagessen.  Da  bekam  er 
heftigen,  schmerzhaft  schnürenden  Kopfdruck,  und  nun  setzte  ein  Dämmer- 
zustand ein,  aus  welchem  er  8  Tage  später,  am  12.  Februar  Abends  11  Uhr 
in  der  Nähe  von  Brüssel,  zunächst  mit  Amnesie  für  Alles  inzwischen  Vor- 
gefallene sich  wiederfand.  Er  sucht  sich  zu  orientiren,  was  ihm  endlich 
gelingt.  Er  reist  nach  Paris,  ist  dort  noch  dämmerhaft,  hat  Kopfdruck 
u.  a.  neurasthenische  Beschwerden.  Dort  trifft  er  seinen  Bruder,  der  ihm 
mittheilt,    dass    er    ihn    ungerecht  im  Januar  einer  unehrenhaften  Handlung 


Dritter  Aufsatz  (1898).  85 

beschuldigt  habe.  Von  diesem  Moment  fühlt  sich  Pat.  wieder  klar  und 
frei  im  Kopf.  In  den  letzten  Tagen  vor  diesem  Zusichkommen  hatte  er  im 
Traum  Nachts  Reden  geführt,  „gut,  abgemacht",  die  man  ihn  im  Selbstge- 
spräch, unmittelbar  ehe  er  in  jenen  Dämmerzustand  verfallen  war,  hatte  aus- 
sprechen hören.  In  seinen  Bemühungen,  den  amnestischen  Abschnitt  des 
Anfalls  aufzuhellen,  fand  Z.  einen  Zettel  unter  seinen  Effecten,  auf  welchem 
ihm  ein  Unbekannter  die  Adresse  einer  Maison  charitable  in  Brüssel  auf- 
geschrieben hatte.  Mit  Hülfe  dieses  Zettels,  bezw.  der  dadurch  geweckten 
Associationen,  gelang  es  Z.,  eine  summarische  Erinnerung  für  die  Erlebnisse 
dieses  Dämmerzustandes  zu  gewinnen.  Er  erinnerte  sich  nun  nach  dem 
Verlassen  des  Cafes  am  3.  2.  Mittags  eine  Frau  in  Trauer  auf  der  Strasse 
getroffen  und  sich  ihr  angeschlossen  zu  haben.  Er  ging  mit  ihr  in  einen 
Gasthof,  nächtigte  mit  ihr,  schämte  sich  am  anderen  Morgen  dieses  Aben- 
teuers und  dass  er  die  Bureaustunde  versäumt  habe,  wurde  ängstlich,  ging 
auf  die  Bahn,  löste  ein  Billet  nach  Luxemburg,  von  Furcht  getrieben,  fuhr 
planlos  weiter  nach  Arlon,  Brüssel,  lebte  dort  in  seinem  Dämmerzustand 
unbeanstandet,  weil  richtig  handelnd,  hörte  von  Werbung  von  Soldaten  für 
Holländisch-Indien,  gedachte  sich  anwerben  zu  lassen,  erinnerte  sich  seiner 
Frau,  schrieb  einen  Brief  an  sie,  zerriss  ihn  wieder,  irrte  in  der  Umgebung 
von  Brüssel  herum,  fing  an  seinen  Ausnahmszustand  zu  fühlen,  suchte  sich 
zu  orientiren,  was  ihm   endlich  gelang. 

Offenbar  war  der  bereits  schwer  cerebrasthenische  Z.  am  3.  2.  durch 
ungewohntes  Trinken,  Kälte  in  einen  Dämmerzustand  gerathen,  in  welchem 
die  Herrschaft  über  bisher  corrigirte  Gedanken  an  Flucht  verloren  ging  und 
diese  sein  traumhaftes  Handeln  bedingten.  (Raymond,  clinique  des  malad, 
du  Systeme  nerveux.      1.   Serie    1896.) 


Dämmer-  und  Traumzustäude  bei  Hysterischen. 

Beob.  14.  Anna  H.,  14  J.,  wurde  am  15.  8.  1896  in  einem  psy- 
chischen Ausnahmszustand  auf  der  Strasse  vorgefunden  und  auf  die 
psychiatrische  Klinik  gebracht.  Man  findet  sie  ruhig,  mit  geschlossenen 
Augen  im  Bett.  Angesprochen,  wird  sie  unruhig,  wirft  die  Kopfpolster 
herum  und  sagt  gereizt  „geh  weg,  du  bist  nicht  meine  Mutter,  du 
hast  mich  Verstössen,  ich  gehe  in  die  Donau"  Auf  alle  Fragen  erhält 
man  stereotyp  diese  Antwort,  Endlich  bekommt  Pat,  einen  einige  Mi- 
nuten dauernden  hysterischen  Krampfanfall  (epileptoide  Phase).  Sie  ist 
in  einer  traumhaften  Verfassung,  reagirt  nicht  auf  Nadelstiche,  apper- 
cipirt  nicht  die  Umgebung,  grimassirt  episodisch,  reckt  die  Zunge  her- 
aus, knirscht  mit  den  Zähnen,  spricht  gelegentlich  vor  sich  bin  „ich 
gehe  nicht  ins  Arbeitshaus,  ich  gehe  in  die  Donau,  da  komme  ich  zu 
meinem  Vater".  Pat.  ist  fieberlos,  ohne  Befund  in  den  vegetativen 
Organen,  reagirt  nicht  auf  Druck  in  der  Ovarialgegend.  bietet  beider- 
seits Fussklonus,  ist  schlaflos,  in  gereizter  depressiver  Verfassung,  ganz 
unzugänglich.    Am  20.  früh,  nach  gut  durchschlafener  Nacht,  ist  sie 


86  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

lucid,  orientirt  sich  sofort,  hat  Amnesie  für  die  Zeit  vom  15.  Abends 
bis  zum  20.  früh,  glaubt  sich  am  16.  Pat.  stammt  von  einem  Vater, 
der  an  „Gehirnerweichung"  gestorben  sein  soll,  war  gesund  bis  zum 
14.  früh,  seit  einem  halben  Jahre  menstruirt,  vertrug  sich  schlecht  mit 
der  Frau  ihres  Vormunds,  bei  dem  sie  wohnte,  hatte  von  ihr  wegen 
eines  Vergehens  am  14.  früh  eine  Zurechtweisung  und  einen  leichten 
Schlag  auf  den  Kopf  bekommen,  war,  darüber  sehr  erregt,  zu  einer 
bekannten  Familie  S.  gegangen  und  hatte  um  Aufnahme  gebeten,  weil 
man  sie  daheim  schlage.  Sie  klagte  über  Hunger,  Schläge,  Entbehrung 
des  Schlafes,  weil  sie  kleine  Kinder  warten  musste,  bekam  aus  Mitleid 
Obdach. 

Am  14.  Abends,  als  sie  schon  zu  Bett  lag,  hatte  sie  zu  phantasiren 
angefangen,  das  Bett  durcheinander  geworfen,  die  Umgebung  verkannt, 
sich  vor  der  Pflegemutter  gefürchtet  und  die  Absicht  geäussert,  in  die 
Donau  zu  gehen.  Nach  einiger  Zeit  war  sie  ruhig  geworden,  einge- 
schlafen. Am  15.  früh  hatte  die  H.  über  Kopfweh  geklagt,  sich  tief 
unglücklich  gefühlt  und  war  unter  einem  Vorwand  fortgegangen,  wobei 
ihr  die  S.  noch  einen  Sonnenschirm  liehen. 

Sie  lief  über  eine  Stunde  weit  nach  der  Donau,  unterliess  den 
Selbstmord,  weil  sie  angeblich  der  fremde  Schirm  genirte,  dämmerte 
in  den  Strassen  herum,  gedachte  den  Tod  auf  den  Schienen  einer 
Eisenbahn  zu  suchen,  schlief  endlich  auf  der  Strasse  ein,  wo  sie  von 
der  Polizei  aufgefunden  wurde. 

Pat.  gracil,  schlecht  genährt,  rachitisches  Cranium  von  52  cm  Um- 
fang. Nervenstatus  normal.  Keine  Stigmata  hysteriae.  Menses  ver- 
laufen vom  23.  8.  ab  ohne  Störung.    Am  28.  8.  genesen  entlassen. 

Neue  Aufnahme  am  11.  12.  1896  Abends.  Wurde  wegen  auffälligen 
Benehmens  auf  der  Strasse  aufgegriffen.  Bei  der  Ankunft  schwere 
Bewusstseinsstörung,  fehlende  Apperception  der  Aussenwelt,  ganz  um- 
grenzter Ideenkreis,  der  sich  um  geplanten  Ankauf  von  Gift  dreht.  „Ich 
weiss  Alles,  ich  kaufe  mir's,  ich  krieg's,  ich  gehe  allein  nach  Hause." 

Pat.  ist  ganz  absorbirt  durch  innere  schmerzliche  Vorgänge,  absolut 
unzugänglich,  fast  beständig  die  obigen  Sätze  vor  sich  hinmurmelnd. 
Fast  schlaflos,  unerregbar  durch  äussere  Eeize. 

Am  15.  Abends  kommt  Pat.  plötzlich  wie  aus  einem  Traum  zu 
sich.  Auch  diesmal  hatte  ein  Affect  die  Psychose  ausgelöst,  Am  4. 
war  Pat.  mit  der  früheren  Pflegemutter  auf  der  Strasse  zusammen- 
getroffen.   Diese  hatte  ihr  mit  allerlei  Schlimmem  gedroht. 

Im  Anschluss  Angst,  Aufregung.  Am  6.  in  menstruatione  Cephalaea, 
Erbrechen,  Drehschwindel.  Von  da  an  schlaflos,  arbeitsunfähig.  Taed. 
vitae. 


Dritter  Aufsatz  (1898).  87 

Am  11.  Entlassung  aus  ihrem  Dienst,  mit  Auftrag  sich  ins  Spital 
aufnehmen  zu  lassen.  Sie  erschien  im  Ambulatorium,  war  gedrückt, 
klagte  Kopfweh,  erhielt  ein  Recept.  Unterstandslos,  beschloss  sie  zu 
sterben.  Sie  ging  in  verschiedene  Apotheken  und  begehrte  Cyankali. 
Während  dieser  Suche  nach  Gift  Einsetzen  tiefer  Bewusstseinsstörung 
mit  fehlender  Erinnerung  für  alles  seither  Vorgekommene. 

Pat.  in  der  Folge  psychisch  normal. 

Am  1.  12.  wird  sie  still,  scheu,  klagt  diffusen  Kopfschmerz.  Abends 
Anfall  von  Bysteria  gravis. 

Arn  2.  nach  gut  durchschlafener  Nacht  neuerlich  in  tiefem  Traum- 
zustand. Endloses  Selbstgespräch:  „was,  warum?  sage  es  nur?  wer 
will  mir  aufessen?"  Bei  Druck  auf  das  1.  Ovarium  cessirt  das  Delir 
und  stellt  sich  Katochus  in  allen  Extremitäten  ein.  der  einige  Minuten 
dauert. 

Pat.  ist  nun  partiell  seelentaub  und  seelenblind,  appercipirt  eine 
Milchflasche  nur,  wenn  man  ihr  mit  dieser  Flasche  das  Trinken  vor- 
macht, trinkt  diese  dann  gierig  aus.  Lebhafte  Beschäftigung  mit  Pat. 
bringt  sie  immer  mehr  aus  ihrem  Traumzustand  heraus.  Sie  erkennt 
dann  momentan  einige  Personen.  Sich  selbst  überlassen,  versinkt  sie 
wieder  in  ihren  deliranten  Traumzustand.  Durch  Ovariendruck  kann 
man  das  Delir  sofort  beseitigen  und  das  Bewusstsein  etwas  aufhellen. 
Versuch  einer  Hypnose  misslingt. 

Am  5.  12.  wird  Pat.  Abends  plötzlich  lucid.  Sie  glaubt  es  sei  der 
30.  11.  Amnesie  für  die  ganze  Episode.  Ausser  1.  Ovarie  keine  Stig- 
mata byst. 

Ursache  des  letzten  Anfalls  war  die  Mittheiluiig  eines  Besuches, 
dass  die  früheren  Pflegeeltern  Böses  gegen  Pat.  planten. 

Anlässlich  der  Menses  am  12.  12.  "Wiederholung  dieses  Anfalls  bis 
zum  17.  12. 

Seither  Ovarie  geschwunden.  Keine  Schwankung  des  psychischen 
Befindens  mehr.    Am  30.  12.  genesen  entlassen  und  gesund  geblieben. 

Beob.  15.  Am  12.  2.  1897  Mittags  hatte  sich  die  18jährige 
Spitalwärterin  H.  auf  eine  Stunde  Urlaub  erbeten,  war  aber  nicht 
zurückgekehrt,  Abends  9  Uhr  erschien  sie  auf  dem  Polizeicommissariat 
mit  der  Selbstanzeige,  sie  habe  ihren  Vater  K.,  Maler,  mit  Chloroform 
vergiftet,  da  er  ihre  Verehelichung  mit  Maler  N.  nicht  habe  zugeben 
wollen.  Sie  hatte  eine  mit  Aeth.  sulf.  halbgefüllte  Flasche  in  der 
Hand.  Die  Recherchen  straften  die  H.  Lügen,  sie  schien  nicht  geistig 
gesund  und  kam  auf  die  Klinik.  Sie  verbrachte  die.  Nacht  auf  den 
13.  schlaflos.    Ich  fand  am  13.  früh  in  ihr  eine  alte  Bekannte  vor.  die 


88  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

1894  durch  Monate  wegen  schwerer  Hysterie  mit  allen  möglichen  An- 
fällen bei  uns  in  Behandlung  gestanden  hatte,  endlich  genesen  und 
durch  Jahre  arbeitsfähig  gewesen  war. 

Pat.  war  am  13.  mimisch  tief  entstellt,  starrte  vor  sich  hin, 
reagirte  nicht  auf  die  Aussenwelt,  erschien  traumhaft  verloren,  anal- 
getisch am  ganzen  Körper  und  bot  keinen  Skleralreflex.  Allmählich 
gelingt  es,  mit  ihr  in  Eapport  zu  treten.  Sie  kennt  die  Klinik  und 
die  Aerzte  nicht,  glaubt  sich  auf  dem  Friedhof  an  einem  offenen 
Grabe.  Sie  ist  ganz  auf  delirante  Vorstellungen  concentrirt  und  zeigt 
bedeutende  Associationshemmung.  Eine  Kohlenkiste  im  Hörsaal  der 
Klinik  hält  sie  für  den  Sarg  des  ermordeten  Vaters.  Sie  erwartet 
ganz  affectlos  ihre  Hinrichtung.  Es  tlmt  ihr  nicht  leid,  den  Mord  be- 
gangen zu  haben. 

Am  13.  lässt  dieser  Zustand  traumhafter  Hemmung  etwas  nach. 
Pat.  findet  sich  im  Spital  wieder,  aber  im  —  Grabe.  Sie  hält  fest  am 
Wahn,  vor  8  Tagen  den  Vater  mit  Chloroform  umgebracht  zu  haben. 
Sie  klagt  Kopfweh  ( Clavus)  und  ist  noch  ganz  dämmerhaft.  Am  14.  2. 
wird  sie  rasch  lucid.  Sie  glaubt  sich  am  11.  Für  die  Zeit  vom  10.  bis 
14.  früh  fehlt  die  Erinnerung.  Der  psychische  Ausnahmszustand  war 
durch  Aufregungen  wegen  einer  Liebesaffaire  vermittelt.  Es  Hess  sich 
constatiren,  dass  in  ihrem  Delir  Wahres  und  Falsches  durcheinander 
geworfen  waren.  Ihr  Vater  war  nicht  vor  8  Tagen,  sondern  vor 
einigen  Wochen  gestorben  und  zwar  eines  natürlichen  Todes.  Un- 
wirklicher Geliebter  scheint  allerdings  ein  Maler  zu  sein.  In  ihrem 
Delir  hatte  sie  aber  am  12.  2.  zu  einer  Bekannten  geäussert,  Dr.  X. 
sei  ihr  Geliebter  gewesen  und  habe  sie  verlassen.  Sie  müsse  sich  an 
diesem  Herrn  rächen,  man  werde  sie  im  Landesgericht  wieder  treffen. 
So  lief  ein  früherer  Arzt  aus  ihrem  ersten  Aufenthalt  in  der  Klinik, 
der  sich  um  sie  angenommen  hatte,  Gefahr,  ins  Gerede  der  Leute  zu 
kommen  oder  Opfer  eines  Attentats  zu  werden!  Der  Name,  den 
sie  anlässlich  ihrer  Selbstanzeige  als  den  ihres  Vaters  angab,  war  der 
des  Arztes  der  Krankenabtheilung,  in  welcher  sie  bedienstet  ge- 
wesen war. 

Sie  selbst  hatte  geplant,  sich  mit  Chloroform  zu  tödten  und  zwar 
weil  sie  ein  böses  Gewissen  hatte,  nämlich  wegen  Ausbleibens  der 
Menses  sich  gravid  glaubte,  was  aber  nicht  der  Fall  war. 

Pat.  hatte  übrigens  auch  im  luciden  Zustand  schon  seit  längerer 
Zeit  durch  pathologische  Lügen  und  Schwindeleien  sich  auffällig  ge- 
macht. So  hatte  sie  u.  A.  Bekannten  gegenüber  geäussert,  dass  sie 
ganz  allein  Operationen  im  Spital  mache. 

Pat.  verblieb  noch  einige  Wochen  im  Spital,  in  physiol.  Depression 


Dritter  Aufsatz  (1898).  89 

über  vermeintliche    Gravidität,    die    durch   Wiederkehr   der   Menses 
schwand.    Psychopathische  Zustände  wurden  nicht  mehr  beobachtet, 

Beob.  16.  E.,  22  J.,  Techniker,  ging  am  23.  9.  1895  von  Hause 
fort  unter  Zurücklassung  eines  Briefes,  in  welchem  er  die  Absicht 
äusserte,  sich  zu  tödten.  Auf  diesem  Todes  weg  erlitt  er  in  der  Um- 
gebung von  Wien  am  gleichen  Tage  einen  Hysteria  gravis- Anfall  mit 
folgendem  tobsuchtartigem  Delir. 

Nachdem  sich  dieser  Anfall  am  24.  wiederholt  hatte,  brachte  man 
Pat.  auf  die  psychiatrische  Klinik. 

Wir  fanden  ihn  am  25.  früh  verstört,  im  Bewusstsein  tief  getrübt, 
gehemmt,  desorientirt,  delirant.  Auf  alle  Fragen  bekam  man  nur  die 
stereotype  Antwort  „Marie  ist  gestorben".  Gelegentlich  wendete  er  sich 
zu  einem  Bettnachbar  und  sagte  „der  nennt  mich  Grossherzog  von 
Toscana,  ich  bin  es  aber  nicht'-.  Endlich  nennt  er  seinen  Namen, 
seinen  Beruf  „Stenographie",  sein  Alter  „vingt  deux".  Im  Uebrigen 
verharrt  er  apathisch,  schweigsam,  schlaflos  in  seinem  Bette.  Tempe- 
ratur normal,  vegetative  Organe  ohne  Befund. 

Keine  Stigmata  irgend  welcher  Neurose. 

Am  27.  9.  kommt  Pat.  plötzlich  aus  diesem  Traumzustand  heraus, 
mit  Amnesie,  die  vom  23.  bis  dato  reicht  und  auch  das  Schreiben  des 
Briefes  umfasst.  Dem  Ausbruch  der  Psychose  ging  einige  Tage  lang 
Kopfdruck  voraus.  Er  klagt  noch  jetzt  über  Gefühl  eines  eisernen 
Reifs  um  den  Kopf. 

Der  r.  N.  occipitalis  und  die  untere  Dorsal  Wirbelsäule  sind  druck- 
empfindlich. Sonst  leichte  Hypästhesie  und  bedeutende  Hypalgesie 
am  ganzen  Körper.     Concentr.  Gesichtsfeldeinschränkung. 

Pat.  entstammt  einer  schwer  belasteten  Familie.  Er  war  von 
jeher  nervös,  emotiv,  schreckhaft.  Seit  Mitte  August,  wo  seine  Ge- 
liebte an  puerperalem  Wahnsinn  erkrankt  war,  schwere  Emotionen, 
die  wohl  die  Ursache  seiner  eigenen  psychischen  Erkrankung  waren. 
Er  hatte  die  Geliebte  schon  einige  Tage  post  partum  coitirt,  diesem 
Umstand  die  Erkrankung  derselben  beigemessen,  geglaubt  sie  werde 
sterben,  sich  also  für  ihren  Mörder  gehalten.  Seither  mehrere  Hy- 
steria gravis- Anfälle,  die  auch  in  der  bis  zum  6.  12.  sich  erstreckenden 
Beobachtungszeit  massenhaft  wiederkehrten. 

Beob.  17.  W..  16  J.,  Tabakverkäuferin,  aus  gesunder  Familie, 
bisher  gesund,  war  verfeindet  seit  längerer  Zeit  mit  einer  im  gleichen 
Hause  wohnenden  Frauensperson,  die  aus  Rache  sie  bei  der  Polizei 
wegen  unsittlichen  Lebenswandels  angezeigt  haben  soll.    Thatsächlich 


90  Ueber  Dämmer-  und  Traurazustände. 

wurde  die  W.  ganz  plötzlich  und  zu  ihrer  grossen  Bestürzung  am 
11.  10.  von  der  Polizei  abgeholt,  ärztlich  untersucht,  mit  Gonorrhöe 
behaftet  befunden  und  einer  entsprechenden  Abtheilung  im  Spital  zu- 
geführt. Dort  am  12.  aufgenommen,  war  Pat.  sofort  auffällig  durch 
Aufregung,  Unruhe,  Desorientirtheit,  gefährliche  Drohungen,  einen 
hysterieartigen  klonischen  Krampfanfall  in  den  Extremitäten  und 
wurde  deshalb  noch  am  gleichen  Tage  der  psychiatrischen  Klinik 
übergeben. 

Sie  erscheint  daselbst  im  Bewusstsein  schwer  gestört,  dämmer- 
traumhaft, verkriecht  sich  angstvoll  bei  Annäherung  der  Aerzte,  redet 
sie  mit  „Du"  an  und  bittet  ihr  nichts  zu  thun.  Sich  selbst  überlassen, 
fabulirt  sie  vor  sich  hin  von  ihrem  vielen  Gelde,  erwartet  ihre  Mutter, 
um  mit  ihr  nach  Philippope],  Athen.  Pistyan  zu  reisen.  Ihr  ganzes 
Denken  ist  auf  diesen  engen  Vorstellungskreis  concentrirt,  Ihren 
Namen  giebt  sie  mit  „Marie,  Edle  von  . . . ."  an.  Sie  ist  ruhig,  affect- 
los,  stiert  vor  sich  hin,  schläft  wenig,  nimmt  die  ihr  vorgesetzte  Nah- 
rung, klagt  heftigen  Kopfdruck  („Stein  im  Kopf),  bietet  Hippus,  sehr 
gesteigerten  Patellarreflex.  Die  Dorsalwirbelsäule  ist  höchst  druck- 
empfindlich. Stigmata  hysteriae  sind  nicht  aufzufinden.  Ganz  traum- 
hafter Bewusstseinszustand.  Sie  glaubt  sich  bei  ihrer  Tante,  verkennt 
eine  Mitpatientin  als  diese,  einen  der  Aerzte  als  Mann  jener  Frau, 
glaubt  sich  seit  4  Monaten  hier,  datirt  den  30.  1.  1892,  nimmt  keine 
Kritik  an,  ist  förmlich  gebannt  in  ihren  traumhaften  Ideenkreis,  wieder- 
holt endlos  „fort  muss  ich,  will  meine  Kleider,  um  60  000  Gulden  kaufe 
ich  mir  ein  Haus,  die  Mutter  geht  mit,  ich  reise  nach  Philippopel,  Athen, 
um  6  Uhr  kommt  die  Mutter,  um  9  Uhr  geht  der  Zug".  Verstörte, 
verworrene,  affectlose  Miene.  Kein  wirkliches  Bestreben  fortzukommen. 
Episodisch  Idee,  sie  sei  eingesperrt,  unschuldig  zu  48  Stunden  Ge- 
fängniss  verurtheilt.  Beständig  Klagen  über  den  Kopf.  Es  sind  Steine 
drin,  Wasser,  man  hat  es  hier  hineingeschüttet.  Man  drückt  ihr  den 
Kopf  mit  einer  Maschine.  In  dieser  traumhaften  Verfassung  verbleibt 
Pat.  bis  zum  23.  10.  Der  Wahn  schwindet.  Sie  weiss  sich  in  einem 
Krankenhause.  Pat.  bleibt  aber  dämmerhaft,  sie  hört  vom  1.  11.  ab 
öfter  ihren  Namen  rufen,  sich  beschimpfen,  drängt  fort,  um  die  Person, 
welche  sie  der  Polizei  denuncirt  hat,  tödten  zu  können.  Sie  wird 
hier  zu  Grunde  gerichtet,  der  Kopf  ihr  mit  Maschinen  zusammenge- 
presst.    Ihre  Mutter  ist  todt  (obwohl  sie  täglich  zum  Besuch  kommt). 

Dieser  Dämmerzustand  reicht  bis  zum  8.  12.  Pat,  ist  nun  einige 
Tage  lucid,  corrigirt,  hat  nur  ganz  summarische  Erinnerung.  Nun 
entwickelt  sich  eine  selbständige  Melancholie  mit  Selbstanklagen 
theatralischen  Gepräges.    Sie  hat  leichtsinnig  gelebt,  ist  die  schlech- 


Dritter  Aufsatz  (1898).  gj 

teste  Person  auf  dieser  Welt,  macht  in  ganz  theatralischer  Weise 
einen  leichten  Suicidversuch,  damit  das  „schlechte  Blut"  herauskommt. 
Nach  wie  vor  keine  Stigmata  hysteriae.  Versetzung  in  eine  Irren- 
anstalt. Dort  Genesung  nach  einigen  Monaten.  Im  Sommer  1896 
sehr  activ  in  einem  Weinrestaurant  in  ..Venedig  in  Wien'-. 

Beob.  18.  P.,  26  J.,  gew.  Krankenwärterin,  ist  hereditär  schwer 
belastet,  von  jeher  jähzornig,  höchst  emotiv,  in  ihrer  Stimmung  sehr 
labil,  bald  depressiv  bis  zu  Taed.  vitae,  dann  wieder  ausgelassen. 
Menses  mit  17  Jahren,  jeweils  mit  Schmerzen,  ohne  gynäkologischen 
Befund.  Ausser  an  Convulsionen  als  Kind  und  Typhus  mit  21  Jahren 
nie  schwer  krank  gewesen.  Gegründeter  Verdacht  auf  bestehende 
conträre  Sexualempfindung.  Seit  der  Pubertät  häufig  Weinkrämpfe. 
Wiederholt  in  den  letzten  Jahren  pathologische  Zornaffecte  bis  zu 
Toben  und  Suicidversuchen,  mit  Amnesie. 

Erste  Aufnahme  in  der  Klinik  im  Ansehluss  an  pathol.  Affect,  in 
dem  sie  sich  Schnittwunden  an  den  Armen  zugefügt,  einen  Sprung 
durchs  Fenster  unternommen  und  dadurch  complicirte  Fractur  beider 
Unterschenkel  zugezogen  hatte.  Sie  bot  Clavus.  Globus.  1.  Hemihyper- 
ästhesie  und  Ovarie,  Stimmungswechsel,  sah  gelegentlich  das  Bett  voll 
Schlangen. 

Im  Verlauf  entwickelt  sich  Ataxie,  die  ziemlich  hartnäckig  ist. 
Am  6.  Juni  1895  mit  geringfügigen  restirenden  Gehstörungen  entlassen. 

Am  13.  6.  1895  wird  Pat.  Nachts  11  Uhr  in  schwerer  Bewusst- 
seinsstörung  mit  einem  Fläschchen  in  der  Hand  auf  der  Strasse,  be- 
troffen. Sie  jammert  über  von  ihr  begangene  Mordthaten,  bezichtigt 
sich  mehrerer  Morde,  die  in  den  letzten  Jahren  in  Wien  vorgekommen 
sind.  Sie  habe  auch  ein  grosses  Tram way Unglück  auf  dem  Gewissen, 
werde  zur  Strafe  ihrer  Sünden  jetzt  lebendig  eingemauert.  Man  möge 
sie  nicht  lange  leiden  lassen.  Die  linke  Hand  ist  roth  gefärbt  (Fuchsin?), 
riecht  nach  Phosphor.  Die  rothe  Farbe  ist  Blut  von  ihren  Mord- 
thaten. 

Keine  Zeichen  einer  Vergiftung  (Magenausspülung).  An  der  Klinik 
theatralisch  affectvolles  Gebahren.  Angst,  Verzweiflung.  Händeringen, 
Zittern  am  ganzen  Körper,  in  Erwartung  ihrer  Verurtheilung. 

Pat.  schlaflos,  aus  ihrem  deliranten  Ideenkreise  nicht  ablenkbar, 
ganz  unbeinflusst  durch  die  Vorgänge  in  ihrer  Umgebung,  die  von 
früher  her  bekannten  Bäumlichkeiten  und  Personen  nicht  erkennend. 

In  derart  dämmerhaft-traumhafter  Verfassung,  ganz  unzugänglich, 
fast  gar  nicht  schlafend,  verharrt  Pat.  bis  zum  22.  6.  An  diesem  Tage 
kommt  sie  plötzlich  wie  aus  einem  Traum  zu  sich,  hat  nur  eine  vage 


92  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände. 

Erinnerung  von  ausgestandener  grosser  Angst,  ist  aber  im  Uebrigen 
amnestisch.  Ihre  Erinnerung  bricht  am  13.  6.  plötzlich  ab.  Sie  weiss 
nur  -  noch,  dass  sie  an  der  Fronleichnamsfeier  theilgenommen  hat,  ge- 
drückt, besorgt  wegen  ihrer  Zukunft  war.  Irgend  eines  ursächlichen 
Moments  für  den  Anfall  transitorischer  Geistesstörung  ist  sie  sich 
nicht  bewusst.  Pat.  ist  nun  lucid,  aber  gedrückt,  nervös.  Am  26.,  28. 
und  30.  6.  tritt  nochmals  der  frühere  Ausnahmszustand  auf,  dauert 
aber  nur  einige  Stunden  und  hinterlässt  jeweils  Amnesie.  Von  nun 
an  gewinnt  Pat.  allmählich  ihr  relatives  psychisches  Gleichgewicht 
wieder  und  wird  Ende  Juli  1895  genesen  entlassen. 


Eine  weitere  und  beachtenswerthe  Möglichkeit  für  die  Entstehung 
von  Dämmer-  und  Traumzuständen  bei  Hysterischen  ist  die  Leichtig- 
keit, mit  welcher  zahlreiche  solche  Kranke  in  Autohypnose  gelangen. 
Dies  geschieht  spontan  durch  individuell  wirksame  Sinnesreize  oder 
Vorstellungen,  namentlich  wenn  die  Patienten  emotionirt  sind,  oder, 
mit  der  Sicherheit  eines  Experiments,  sobald  eine  posthypnotische 
Suggestion  zur  Ausführung  gelaugt.  In  diesem  Ausnahmszustand,  der 
wieder  verschiedene  Modifikationen  bieten  kann,  ist  ein  sehr  compli- 
cirtes  Handeln  auf  eigenartiger,  jedenfalls  traumhafter  Stufe  möglich, 
indem  im  Rahmen  des  suggestiv  erschlossenen  Vorstellungskreises  die 
Associationen  ungestört  stattfinden.  In  meiner  „experimentellen  Studie 
auf  dem  Gebiet  des  Hypnotismus"  3.  Aufl.  sind  diese  Zustände  ein- 
gehend studirt  worden. 

Ich  verweise  auf  S.  7,  13  dieser  Schrift  (Diebstähle  in  Auto- 
hypnose), planloses  Herumlaufen  (S.  7,  14,  46),  Selbstmordversuch  (S.  39), 
Eintreten  solcher  Zustände  mit  der  Leistung  einer  posthypnotischen 
Suggestion  (S.  42 — 46). 

Analoge  Erfahrungen  haben  mitgetheilt:  Pitres,  le^ons  cliniques 
sur  l'hysterie  II  p.  268 ;  Proust,  Bulletin  med.  1890  p.  107 ;  Voisin,  se- 
maine  medicale  1889.  10.  August;  Tissier,  les  alienes  voyageurs  1877. 

Diagnostisch  wichtig  ist  der  Umstand,  dass  man  auf  hypnotischem 
Wege  bei  den  betreffenden  Individuen  denselben  Ausnahmszustand  und 
damit  das  Gedächtniss  für  das  in  Autohypnose  Erlebte  hervorrufen 
kann.  Ein  solches  Experiment  beweist  sicher  die  autohypnotische 
und  damit  hysterische  Bedeutung  eines  Dämmer-  und  Traumzustandes. 


Dritter  Aufsatz  (1898).  93 

Alkoholische  Traumzustände. 

Die  nähere  Kenntnis»  derselben  verdankt  man  Crothers  (the  trance 
State  in  inebriety  Hartford  1882),  welcher  nachwies,  dass  auch  bei 
Trunksüchtigen  Dämmer-  und  Traumzustände  nach  Art  der  epilep- 
tischen Aequivalente,  bezw.  des  Somnambulismus  vorkommen,  Zustände, 
in  welchen  die  Betreffenden  anscheinend  ganz  bei  sich  sind,  complicirte 
Handlungen  vollziehen,  aber,  aus  diesem  Zustand  zu  sich  gekommen, 
von  allem  Vorgefallenen  nicht  das  Mindeste  wissen. 

In  diesen  Zuständen  von  einer  Art  Traumwachen  werden  die  ge- 
wohnten Geschäfte  besorgt  oder  auch  dem  gewöhnlichen  Leben  ganz 
fremde,  selbst  verbrecherische  Handlungen  begangen. 

So  theilt  Crothers  den  Fall  eines  Eisenbahnconducteurs  mit,  der 
in  solchem  Zustand  correct  amtirte,  aber  von  dem  während  desselben 
Ausgeführten  sich  keine  Rechenschaft  zu  geben  wusste. 

Ein  Anderer,  ein  Arzt,  ging  in  seinen  Anfällen,  ganz  gegen  seine 
Gewohnheit  und  Denkweise,  regelmässig  in  religiöse  Meetings,  hielt 
dort  Reden,  in  welchen  er  sich  als  Sünder  gerirte  und  Busse  predigte. 

Ein  Weiterer,  Jurist,  machte  regelmässig  im  Anfall  sein  Testa- 
ment. Ein  Lohnkutscher  nahm  fremde  Pferde  von  der  Strasse  weg 
und  führte  sie  in  seinen  Stall.  In  meinem  Lehrbuch  der  gerichtl. 
Psychopathol.  3.  Aufl.  S.  199  findet  sich  ein  der  russischen  Literatur 
entnommener  interessanter  Fall  von  Mord  der  Ehefrau  in  solchem 
alkoholischem  Samnambulismus.  Neuerliche  Trunkexcesse  scheinen 
der  Wiederkehr  solcher  Trancezustände  förderlich. 

Die  Frage,  ob  diese  genuine  alkoholische  Zustände  sind  und  nicht 
vielleicht  hysterische  oder  epileptische  Aequivalente  (vermittelt  durch 
Alkoholepilepsie)  ist  noch  unentschieden. 

Die  beiden  folgenden  Fälle,  aus  meiner  Erfahrung  entnommen,  sind 
geeignet,  diese  Dämmerzustände  bei  Potatoren  zu  illustriren. 

B  e  0  b.  19.  L.,  39  J.,  Branntwein verschleisser,  kam  am  28.  8.  1894 
aufs  Polizeicommissariat  und  stellte  sich  als  König  Ottokar  von  Böhmen 
vor.  Er  war  verwirrt,  erregt,  wurde  noch  an  demselben  Tage  Abends 
der  psych.  Klinik  übergeben.  Er  betrat  sie  lucid,  berichtete,  er  sei 
am  28.  Morgens  seinem  Beruf  nachgegangen,  habe  um  9  Uhr  2  Gläschen 
Branntwein  getrunken  und  wisse  über  alles  seither  bis  zur  Verbringung 
ins  Spital  Vorgefallene  nicht  das  Mindeste.  Er  scheint  den  Tag  über 
herumgedämmert  zu  sein. 

Pat.  bot  bei  der  Aufnahme  keine  Zeichen  von  Trunkenheit.  Er 
giebt  zu  und  seine  Frau  bestätigt  es,  dass  er  Gewohnheitstrinker  sei. 


94  Ueber  Däramer-  und  Traumzustände. 

Bezüglich  seiner  curiosen  Wahnidee  weiss  er  nur  mitzutheilen.  dass 
er  vor  15  Jahren  durch  2  Monate  Statist  an  einem  Theater  war, 
als  solcher  14  Mal  bei  der  Aufführung  des  bekannten  Stückes  von 
Grillparzer  „König  Ottokar's  Glück  und  Ende"  mitwirkte,  welches 
Stück  damals  grossen  Eindruck  auf  ihn  gemacht  habe. 

Als  Kind  „Gehirnentzündung".  Lernte  erst  mit  4  Jahren  gehen. 
Keine  Spuren  von  Rachitismus.  Schädel  normal.  Geringe  Zeichen 
von  Alkoholismus.  Nachforschungen  bezüglich  Epilepsie  hatten  ein 
gänzlich  negatives  Resultat.    Entlassung. 

2.  Aufnahme  26.  6.  1896.  Pat.  erschien  heute  beim  Polizeicom- 
missariat  in  Begleitung  seines  5jährigen  Sohnes,  stellte  diesen  als 
Kronprinz  Ottokar,  sich  selbst  als  Kaiser  von  Mexico  vor.  Er  sei 
gestern  aus  Mexico  zurückgekehrt,  habe  unterwegs  eine  Schlacht  mit- 
gemacht und  sei  jetzt  im  Begriff,  seinen  Bruder,  den  Kaiser,  in  Schön- 
brnnn,  zu  besuchen. 

Auf  der  Klinik  Abends  am  26.  aufgenommen,  bot  er  Foetor  alko- 
holicus,  klagte  Mattigkeit,  verlangte  zu  Bett  (sich  offenbar  in  einem 
Hotel  glaubend )  und  bat,  ihn  als  „Max,  Kaiser  von  Mexico"  ins  Fremden- 
buch einzutragen.  Er  erbrach  sich  dann  noch,  klagte  Kopfweh,  schlief 
ein,  erwachte  am  27.  Morgens,  war  lucid  und  sehr  erstaunt,  sich  im 
Spital  zu  befinden. 

Er  erinnert  sich,  am  26.  im  Gasthause  Nachmittags  Wein  und 
Bier  getrunken  zu  haben,  dann  viel  Kümmel  in  einem  Branntwein- 
laden am  .  .  Platz.  Dann  sei  er  nach  Hause  gegangen.  Für  alle 
weiteren  Ereignisse  besitzt  er  auch  nicht  eine  Spur  von  Erinnerung. 

Auch  diesmal  gelingt  kein  Nachweis  von  Epilepsie,  ebensowenig 
von  einer  anderen  Neurose.  Deutlicher  Alkohol,  chron.  Seit  l1 .,  Jahren 
alkoholintolerant.     Am  30.  6.  1896  genesen  entlassen. 

Beob.  20.  W.,  32  J.,  ledig,  Polier,  stammt  von  einem  trunksüch- 
tigen Vater.  Von  16  Geschwistern  des  Pat,  starben  9  in  den  ersten 
Lebensmonaten  an  Convulsionen,  1  an  Selbstmord  in  Psychose,  2  an 
organischen  Krankheiten.  Von  den  4  Lebenden  sind  3  Trunkenbolde, 
einer  an  periodischem  Irrsinn  leidend ! 

W.  hatte  bis  zu  seinem  4.  Jahre  Convulsionen  gehabt,  Er  war 
in  der  Folge  nie  schwer  krank  gewesen.  Vom  16.  Jahre  ab  wurde 
er  ein  Trunkenbold ;  in  den  letzten  Jahren  war  er  nie  ganz  nüchtern 
gewesen.  Zahllose  Abstrafungen  wegen  lebensgefährlicher  Delicte  und 
Eigenthumsvergehen. 

Im  Rausch  pflegte  W.  ganz  verkehrte  Sachen  zu  machen.  So 
stiess  er  sich  Nadeln  und  Messer  in  die  Hand,  verbrannte  sich  die- 


Dritter  Aufsatz  (1898).  95 

selbe  mit  Zündhölzern,  verschlang  Glasscherben,  verschleppte  Gegen- 
stände, z.  B.  Pflastersteine,  entkleidete  sich  u.  s.  w. 

In  solchem  Zustand  hatte  er  sich  1892  aus  „Uebermuth"  die  11  m 
hohe  Böschung  an  der  Reichsbrücke  in  "Wien  herabgestürzt  und  schwere 
Contusionen  davongetragen. 

Am  12.  11.  1895  Abends  entfernte  sich  W.  angetrunken  aus  einem 
Gasthause,  nahm  ein  auf  dem  Tische  liegendes  Küchenmesser  mit,  ging 
in  die  Wohnung  seiner  Geliebten,  einer  Prostituirten,  stiess  ihr  ohne 
Motiv,  ohne  ein  Wort  zu  sprechen,  das  Messer  in  den  Leib,  entfernte 
sich  gelassen,  und  lief  dann  noch  herumdämmernd  umher,  bis  er 
nach  2  h.  arretirt  wurde.  Im  Polizeiarrest  soll  er  kurz  getobt  haben. 
Auf  der  Klinik  kam  er  ruhig,  im  Bewusstsein  schwer  gestört  an.  Zu 
Bett  gebracht,  schlief  er  gleich  ein  und  erwachte  am  13.  früh  mit 
Amnesie  für  alles  seit  dem  Nachmittag  des  12.  Vorgefallene.  Er- 
staunt, aber  nicht  erschreckt  hörte  der  ethisch  ganz  verkommene 
Mensch,  was  passirt  war.  Er  konnte  sich  sein  Vergehen  nicht  ent- 
räthseln,  da  er  im  besten  Einvernehmen  mit  seiner  Concubine  gelebt 
habe.    Vielleicht  habe  er  sich  einen  Jux  machen  wollen! 

Gewöhnliches  Bild  eines  Alkoholismus  chronicus.  Keine  Nachweise 
von  Epilepsie. 


III. 
LIEBER  TYPISCHE  DELIRIEN  BEI  EPILEPTIKERN. 


Krafft-EMng,  Arbeiten  III. 


Ueber  typische  Delirien  bei  Epileptikern. 

(„Gottnomenclatur  und  Majestätsdelir"  —  Samt.) 

Es  wäre  für  die  Diagnostik  in  der  Psychiatrie  eine  grosse  Er- 
leichterung, wenn  die  Beobachtung  bei  gewissen  mit  Wahnbildung  ein- 
hergehenden Krankheitszuständen  typische  Delirien   auffinden   könnte. 

Sie  würde  damit  praktisch  auf  eine  Stufe  gestellt  mit  der  Syphili- 
dologie  und  der  Dermatologie,  die  aus  in  der  Erfahrung  sich  als  typisch 
erweisenden  Hautveränderungen  einen  bestimmten  Rückschluss  auf  die 
ursächliche  Krankheit  zu  machen  im  Stande  ist. 

Ein  solcher  Gedanke  schwebte  schon  Griesinger  vor,  als  er  (Arch. 
f.  Psych.  I  p.  148)  von  Primordialdelirien  sprach  und  diese  „primären 
und  congruenten  Delirien''  mit  den  Farbendelirien  bei  Epileptikern 
verglich,  deren  etwaige  visuelle  Aura  nur  in  wenigen  Farbentönen 
(fast  ausschliesslich  roth)  erscheine. 

Gleichwie  die  visuelle  Aura  der  Epileptiker  die  rothe  Farbe  be- 
vorzugt (ich  habe  übrigens  1  Mal  auch  Abwechseln  mit  der  complemen- 
tären  grünen  gesehen),  so  scheint  es  auch  typische  Delirien  bei  diesen 
Kranken  zu  geben.  Schon  Skae  (Journ.  of  mental  science  1874) 
machte  darauf  aufmerksam,  dass  die  Epileptiker  häufig  religiöse  Hallu- 
cinationen  haben  und  verwies  in  dieser  Hinsicht  auf  Anna  Leeds, 
welche  durch  ihre  epilept.  Hallucinationen  die  Sekte  der  Shakers,  auf 
Swedenborg,  dessen  Delirien  Sekten  in  Schweden  und  England,  auf 
Mohamed,  dessen  Hallucinationen  den  Islam  hervorgerufen  haben  sollen. 

Auch  Legrand  du  Saulle  (etude  medico-legale  sur  les  epileptiques 
1877)  weist  auf  die  Häufigkeit  von  Delirien  und  Visionen  religiösen 
Inhalts  bei  Epileptikern  hin. 

Er  kennt  aber  weder  die  Eigenart   noch   die  diagnostische  Be- 


100  Ueber  typische  Delirien. 

deutimg  derselben,  registrirt  sie  einfach  aus  der  Erfahrung  und  sucht, 
in  Verkennung  der  primordialen  Bedeutung  dieser  religiösen  Ekstasen 
und  Delirien,  ihre  Begründung  rein  psychologisch  in  pathologischer 
Beligiosität 3)  (Bigotterie).  Zu  dieser  gelangen  die  Kranken,  indem  sie 
sich  im  Bewusstsein  ihrer  traurigen  Lage  der  Religion  in  die  Arme 
werfen. 

Toselli  ..über  die  Religiosität  der  E.",  Archivio  italiano  per  le  ma- 
latie  nervöse  1879  März,  findet  bei  zahlreichen  E.  bald  dauernd,  bald 
periodisch  religiöse  Delirien  und  Religiosität,  diese  oft  in  grellem  Gegen- 
satz zu  der  Reizbarkeit  und  moralischen  Perversion  dieser  Kranken. 
Seine  Erklärung  der  Bigotterie  derselben  deckt  sich  mit  der  Legrand 
du  Saulle's. 

Eine  eingehende  Würdigung  findet  in  seinem  Aufsatz  das  Delir. 
religiosum.  Es  dreht  sich  vorzugsweise  um  Hallucinationen  und  Illu- 
sionen. Die  Erinnerung  fehlt,  wenn  es  mit  einem  epileptischen  Anfall 
abschliesst,  sonst  ist  sie  vorhanden. 

Die  Kranken  bekommen  u.  a.  Befehle  von  Gott,  ihre  Angehörigen 
auch  ins  Paradies  zu  befördern,  d.  h.  umzubringen,  sie  sind  Propheten, 
Gottes  Sohn,  predigen,  gerathen  in  Ekstase,  können  aber  gleich  darauf 
auf  die  unheilige  Umgebung  loswettern  und  nebenbei  niasturbiren. 
Zuweilen  sind  sie  auch  zerknirschte  Sünder,  Asketiker,  aber  nur  ganz 
episodisch  und  gleich  darauf  wieder  auf  der  Höhe  der  Exaltation  und 
in  Gottes  Gnade.  Sie  haben  oft  Gefühle  des  Schwebens,  Fliegens,  auf 
Grund  von  Muskelanästhesie  und  damit  verbinden  sich  Delirien  von 
Himmelfahrten. 

Auch  dem  zu  klinischer  Beobachtung  talentirten,  leider  früh  ver- 
storbenen Samt  (Archiv  f.  Psych.  VI)  ist  die  Häufigkeit  religiöser 
Delirien  bei  Epileptikern  nicht  entgangen.  Er  verweist  auf  Fall  16 
und  17  seiner  Abhandlung,  hält  jene  für  specifisch  und  für  pathogno- 
mische  Zeichen  des  epileptischen  Irreseins  unter  Umständen. 

Als  solche  bezeichnet  er :  Stupor,  rücksichtslose  extremste  Gewalt- 
thätigkeit,  Gemisch  der  eigenthümlichen  religiösen  Delirien  („Gott- 
nomenclatur")  mit  Grössendelirien ,  speciell  der  Verflechtung  der 
„Majestät'-  in  den  Delirien  und  mit  schwerem  ängstlichem  Delir. 
Dabei  traumähnliche  Absurdität  und  Incohärenz,   eigenthümliche  Ver- 


lj  Diese  Bigotterie  als  bemerkenswerthen  Zug  im  epil.  Charakter  hat  schon 
Morel  (traite  des  maladies  mentales  p.  701)  hervorgehoben.  Howdeii  (Journal  of 
mental  science  1873  Januar)  und  Echeverria  (Americ.  Journ.  of  insanity  1873  Juli) 
haben  sie  bestätigt.  Samt  (Archiv  f.  Psych.  V  u.  VI  p.  147)  spricht  vou  den  „armen 
Epileptikern,  welche  das  Gebetbuch  in  der  Tasche,  den  lieben  Gott  auf  der  Zunge 
und  den  Ausbund  von  Canaillerie  im  Leibe  tragen'' 


bei  Epileptikern.  101 

änderung  des  Bewusstseins,  von  theilweiser  Lucidität  bis  zur  Delirium 
tremens-artigen  illusorisch  hallucinatorischen  Verworrenheit,  verschieden- 
artiger Erinnerungsdefect. 

Die  folgenden  Krankheitsfälle  dürften  geeignet  sein,  der  Frage 
nach  der  Eigentümlichkeit  epileptischer  Delirien  näher  zu  treten. 

Beob.  1.  F.  B.,  30  J.,  Magazinsarbeiter,  kathol.,  ledig,  wurde  am 
12.  2.  1889  in  der  psychiatrischen  Klinik  aufgenommen.  Er  stammt 
von  wnem  dem  Trunk  ergeben  gewesenen  Vater.  Ein  Cousin  endete 
durch  Selbstmord.  Pat.  soll  als  Kind  nie  schwer  krank  gewesen  sein. 
Er  litt  nie  an  Convulsionen.  Bigotterie  war  vor  seiner  Krankheit  nie 
an  ihm  bemerkt  worden.  Anhaltspunkte  für  sexuelle  Hyperästhesie 
und  Masturbation  Hessen  sich  nie  gewinnen.  Mit  15  Jahren  erschrak 
er  heftig  über  Ratten.  Nach  3  Stunden  bekam  er  den  ersten  (klassisch) 
epileptischen  Anfall.  Er  blieb  epileptisch  (häufige  Vertigoanfälle  mit 
automatischen  Schluckbewegungen,  seltene  grosse  Anfälle).  Von  etwa 
dem  20.  Jahre  ab  kam  es  etwa  1  Mal  im  Jahre  zu  postepileptischem 
Delirium,  nie  nach  kleinen  Anfällen,  sondern  nur  nach  grossen  und 
zwar  serienartig  gehäuften.  Er  war  deshalb  schon  mehrmals  in  Irren- 
anstalten gewesen. 

Seit  einigen  Jahren  hatte  sich  grosse  gemüthliche  Reizbarkeit 
und  Schwachsinn  entwickelt.  Ein  besonderer  Zug  zum  religiösen  Ke- 
biet  war  intervallär  nie  bei  ihm  vorhanden  gewesen.  Ab  und  zu  sah 
er  im  Traum  ein  rothes,  wie  Gold  strahlendes  Madonnenbild. 

Pat.  bot  in  der  mehrjährigen  Beobachtung  etwa  2  Mal  jährlich 
psychisch  epileptische  Ausnahmszustände,  in  Inhalt  und  Verlauf  bis 
auf  die  kleinsten  Details  ganz  typisch.  Sie  stellten  sich  binnen 
24  Stunden  nach  einem  besonders  schweren  klinischen  Insult  oder 
häufiger  nach  einer  Serie  solcher  Insulte  ein,  entwickelten  sich  ganz 
allmählich  bis  zur  Höhe,  um  dann  rasch  abzuklingen.  Das  Bewusst- 
sein  war  jeweils  getrübt,  aber  nie  aufgehoben.  Die  Erinnerung  für 
die  Anfallserlebnisse  eine  getreue.  Die  Dauer  des  Anfalls  betrug  nie 
unter  18  und  nie  über  24  Tage.  Während  dieser  Zeit  kamen  niemals 
epileptische  Insulte  vor. 

Der  postepileptische  Anfall  psychischer  Störung  begann  jeweils 
damit,  dass  der  sonst  gleichmässig  heitere,  arbeitsame  Kranke  sich  zu 
Bett  legte,  gedrückt,  mimisch  verstört  erschien,  über  Kopfweh  und  1. 
Interkostalneuralgie  klagte,  schlaflos  wurde,  den  Appetit  verlor,  con- 
stipirt  war,  schwer  leidend  aussah,  fahles  Gesicht  und  verfallene 
Züge  bot. 

Am  2.  Tage  wurde  er  dann  ängstlich,  beklommen,  klagte  Klopfen 


102  Ueber  typische  Delirien 

und  Bangigkeit  iu  den  Präcordien,  Vibriren  und  Schmerzen  im  ganzen 
Körper,  bot  entschiedenen  Krampfpuls,  Angstsch  weiss  und  äusserte 
vage  Befürchtungen,  dass  etwas  Schreckliches  bevorstehe.  Während 
des  3.  Tages  pflegte  der  Kranke  zu  bemerken,  dass  das  Zimmer  kleiner 
werde  und  der  Himmel  näher  komme.  Er  schaut  erwartungsvoll  nach 
diesem,  sieht  die  Umgebung  voll  Unruhe  und  Verstörung.  Er  erkennt, 
dass  der  Weltuntergang  bevorsteht,  das  jüngste  Gericht  sich  naht. 
Er  versichert,  dass  er  wahr  prophezeie,  ermahnt  die  Umgebung  Busse 
zu  thun  und  sich  mit  dem  Himmel  zu  versöhnen.  Er  leidet  schon 
auf  dieser  Welt  die  Martern  der  Vorhölle.  Gott  sendet  ihm  die 
Schmerzen,  um  ihn  zu  läutern.  Nun  beginnen  seine  Augen  aufzu- 
leuchten, seine  Miene  verklärt  sich.  Er  weiss  es,  dass  Gott  ihn  durch 
Schmerzen  prüft,  dass  er  diese  Prüfung  bestehen  und  zur  ewigen 
Glückseligkeit  eingehen  wird. 

Er  vergleicht  sich  mit  Heiligen  und  Märtyrern,  ist  selig  in  seinem 
Leiden,  bedauert  die  Anderen,  die  unbussfertig,  den  Weltuntergang 
nicht  überstehen  werden.  Nun  kommen  beseligende  Hallucinationen  — 
er  sieht  die  Engel  am  Himmelsgewölbe,  hört  sie  singen.  Gott  Vater 
und  Sohn  erscheinen  ihm  am  Himmel,  sie  neigen  ihr  Angesicht  gütig 
zu  ihm.  Episodisch  ist  er  noch  von  Furcht  und  Bangigkeit  erfüllt, 
aber  die  Glückseligkeitsgefühle  überwiegen.  Endlich  kommt  die  Apo- 
theose. Er  schwebt  als  gottbegnadeter,  der  Sinnlichkeit  und  irdischem 
Leid  entrückter  Sünder  gegen  Himmel.  Der  Himmel  steigt  vor  ihm 
auf  wie  ein  Gebirge,  dieses  theilt  sich  und  Gottes  Antlitz  leuchtet  ihm 
entgegen. 

Mit  verklärter  Miene  preist  er  die  Freuden  des  ewigen  Lebens. 
In  diesem  Zustand  den  Hörern  der  Klinik  vorgestellt,  vergleicht  er 
sich  mit  Jesus  vor  seinen  Richtern.  Sich  selbst  überlassen,  liegt  er 
mit  verzückter  Miene  da.  Die  Lösung  des  Anfalls  erfolgt  ziemlich 
rasch.  Mit  Ausnahme  der  Himmelsepisode,  für  die  nur  summarische 
Erinnerung  besteht,  ist  diese  für  alle  Details  des  Anfalls  erhalten. 
Er  corrigirt  den  „Unsinn"  vollkommen.  Häufig  kommt  es  nur  zu  ab- 
ortiven Anfällen,  in  welchen  er  gedrückt,  still  ist,  viel  im  Gebetbuch 
liest,  über  Intercostalschmerz,  Herzbeklemmung,  Beängstigung  klagt, 
die  ganze  Umgebung  fremdartig  und  in  die  Ferne  gerückt  appercipirt. 
Auch  in  diesen  Zuständen  ist  die  Miene  verfallen,  das  Gesicht  bleich, 
der  Puls  klein,  tard.  Gelegentlich  kommt  es  in  den  Anfällen  zu  Ge- 
ruchshallucinationen. 

Beob.  2.  F.  L.,  23  J.,  ledig,  kath.,  Bauernsohn,  von  bigotten  Eltern, 
seit  der  Pubertät  der  Masturbation  ergeben,  seit  3  Jahren  schwer  neura- 


bei  Epileptikern.  103 

sthenisch,  viel  an  Pollutionen  leidend,  bekam  im  Juli  1878  eine  Con- 
tusion  am  Kopf  durch  Anschlagen  einer  Eisenstange.  Er  war  in  der 
Folge  hypochondrisch,  erschrak  heftig-  im  October  1878  über  einen  Mann, 
der  vor  ihm  apoplectisch  todt  zu  Boden  stürzte,  war  seither  schwer 
hypochondrisch,  Hess  sich  Ende  Januar  1879  mit  den  Sterbesacra- 
menten  versehen  und  machte  vom  27.  1.  bis  7.  2.  einen  Exaltations- 
zustand  durch,  in  welchem  er  Visionen  himmlischer  und  teuflischer 
Gestalten  hatte,  Zwiegespräche  mit  Gott  hatte  und  predigte.  Lucid 
geworden,  erinnerte  er  sich  aller  Erlebnisse  aus  der  Krankheitszeit 
und  hatte  volle  Krankheitseinsicht. 

Am  14.  2.  1879  stellte  sich  ein  neuer  religiös  expansiver  Erregungs- 
zustand ein,  der  ihn  am  15.  2.  meiner  Klinik  zuführte.  Aufgenommen, 
liegt  Pat.  mit  gefalteten  Händen,  verklärter  Miene  und  zugekniffenen 
Augen  da.  Bei  Annäherung  des  Arztes  schlägt  er  das  Kreuz  „gelobt 
sei  Jesus  Christus,  im  süssen  Namen  Jesu". 

Er  erklärt,  sich  im  Himmel  zu  befinden  und  zu  heissen  „wie  es 
Gott  gefällt".  Als  er  noch  auf  der  Erde  wandelte,  hiess  er  F.  L.  Die 
Aerzte  hält  er  für  göttliche  Personen,  die  barmherzige  Schwester  fin- 
den hl.  Geist,  wegen  der  Flügel,  die  sie  an  der  Haube  hat.  Den 
Wärter  mit  dem  Schlüsselbund  hält  er  für  den  hl.  Petrus.  Auf  Erden 
sei  es  ihm  schlecht  gegangen ;  er  sei  aber  auch  ein  arger  Sünder  ge- 
wesen, namentlich  gegen  das  6.  und  7.  Gebot  habe  er  sich  vergangen. 
Die  Aufnahme  der  Anamnese  hält  er  für  eine  Beichte,  das  ärztliche 
Protokoll  für  das  Sündenbuch. 

Er  wolle  gern  für  die  eigenen  und  die  Sünden  der  Welt  leiden. 
Noch  sei  er  nicht  im  Stande  der  Gnade,  aber  er  hoffe  dahin  zu  ge- 
langen. Die  Mutter  Gottes  habe  ihn  in  einen  Mantel  gehüllt  und 
Christus  ein  schönes  Lied  gesungen,  das  sei  ein  gutes  Vorzeichen. 
Irdischer  Speise  bedürfe  er  nicht  mehr.  Er  lebe  von  jedem  Worte, 
das  aus  Gottes  Munde  fliesst. 

Pat.  ist  hager,  von  normalem  Schädel,  bis  auf  fliehende  Stirn  und 
•starken  Prognathismus.  Umfang  55  cm.  Sehr  weite,  sehr  träge  re- 
agirende  Pupillen. 

Grosse  Abmagerung,  sehr  gesunkener  Turgor.  Livide,  kühle  Ex- 
tremitäten. Krampfpuls.  Nahrungsaufnahme  nur  auf  energischen,  an- 
geblich göttlichen  Befehl. 

Am  23.  2.  jäher  Umschlag  in  ein  depressives  Delirium.  Ganz  ver- 
hört, ist  Fürst  der  Hölle,  der  grösste  Sünder,  hat  seinen  Vater  ins 
Unglück  gebracht,  indem  er  ihn  verdammte.  Massenhafte  Selbstmord- 
versuche. Seine  Umgebung  sind  Heilige.  Bevor  er  Fragen  beant- 
wortet, bittet  er  den  hl.  Geist  um  Erleuchtung  und  Erkenntniss.  zu 


104  Ueber  typische  Delirien 

antworten.  Darauf  schlägt  er  ein  Kreuz  und  antwortet  im  „süssen 
Namen  Jesu".    L] 

Am  1.  3.  Remission.    Recrudescenz  des  Delirs  am  2. 

Am  7.  3.  wird  Pat,  plötzlich  lucid.  Er  glaubte  sich  im  Himmel, 
dann  vor  einem  Gottesgericht.  Volle  Krankheitseinsicht.  An  seiner 
Krankheit  seien  seine  Eltern  wegen  ihrer  Bigotterie  viel  schuld.  Er- 
innerung für  alle  Details.  Pat.  berichtet  von  massenhaften  Visionen. 
(Gott  Vater,  Mutter  Gottes,  die  ihm  ein  anderes  Herz  einsetzte,  Jesus, 
der  ihm  offenbarte,  er  werde  ein  Heiliger  werden.)  Die  Aerzte  hielt 
er  für  die  heilige  Dreifaltigkeit.  Massenhaft  Geruchshallucinationen. 
Er  habe  sich  nicht  das  Leben  nehmen,  sondern  nur  zur  Busse  für 
seine  früheren  Sünden  und  um  Gott  wohlgefällig  zu  sein,  sich  martern 
wollen.  Von  epileptischen  Antecedentien  ist  nur  ein  Schwindelanfall 
kurz  vor  der  Erkrankung  auffindbar. 

Pat.  macht  vom  18.  3.  bis  7.  4.  einen  neuen  Anfall  durch.  Er 
erwacht  Morgens  am  18.  verstört,  zerknirscht,  klagt  sich  fleischlicher 
Sünden  an,  verlangt  „Du"  genannt  zu  werden,  schwere  Arbeit,  Busse 
zu  thun.  Er  kniet  herum,  leckt  die  Stiefel  ab,  steckt  sich  zur  Busse 
einen  Knochen  in  den  Hals,  wird  dann  salbungsvoll,  verzückt,  kneift 
die  Augen  zu,  gelaugt  vor  ein  Gottesgericht,  bittet  um  Gnade,  erbietet 
sich  die  Himmelsthür  auszukehren.  Anfall  sonst  wie  früher,  aber 
milder.  Auch  diesmal  abnorm  weite  Pupillen,  Krampfpuls,  Cyanose, 
kalte  Extremitäten,  Harnabsonderung  maximal  700  cm  pro  die.  Plötz- 
liche Lösung  des  Anfalls. 

Genesen  entlassen  17.  4.  1879.  Daheim  wohl,  fleissig,  nie  Er- 
scheinungen von  Epilepsie. 

Am  7.  4.  1880  während  eines  Nachmittagsschlafes  klassischer  epil. 
Insult.  In  der  Nacht  zum  12.  4.  nach  Genuss  von  etwas  Wein 
5  weitere. 

Am  13.  4.  neues  Delirium,  ganz  wie  das  erste  in  der  Klinik  be- 
obachtete. Dasselbe  dauert  nur  bis  zum  17.,  daran  reiht  sich  ein 
Dämmerzustand,  der  bis  zum  2.  5.  dauert.  Pat.  berichtet,  wieder  lucid 
geworden,  Analoges  wie  das  erste  Mal,  überdies  von  massenhaften,  oft 
geradezu  betäubenden  Geruchshallucinationen  (vorwiegend  angenehme 
Blumendüfte  —  episodisch  aber  auch  ekelhafte  — ,  Bossschweiss  u. 
dgl.j.  Bemerkenswerth  ist,  dass  auch  diesmal  das  Delirium  anfangs  sich 
um  sexuelle  Dinge  drehte  (Mutter  habe  Unkeuschheit  mit  ihm  treiben 
wollen),  ferner  dass  Pat.  wiederholt  bei  Masturbation  betroffen  wurde. 

Beob.  31).    Justmann,  Köhler,  32  .T.,  ledig,  ist  ein  in  einsamer 


1)  Maschka's  Handb.  d.  ger.  Med.  IV  p.  583  (eigene  Beobachtung). 


bei  Epileptikern.  205 

Gegend  aufgewachsener,  von  Hause  aus  beschränkter,  abergläubischer 
Mensch.  Früh  dem  Alkoholgenuss,  namentlich  dem  Branntwein  er- 
geben, hatte  er  seit  Jahren  Excesse  nicht  mehr  gut  ertragen,  vielfach 
an  Kopfweh  gelitten  und,  besonders  bei  heissem  Wetter  und  ange- 
strengter Arbeit,  Congestionen  zum  Kopf  bekommen.  Er  sei  dann  ganz 
roth  im  Kopf  geworden,  das  Geblüt  sei  ihm  aufgestiegen  und  es  sei  ihm 
ganz  bang  zu  Muth  geworden,  oft  sei  es  ihm  dann  auch  ganz  schwarz 
vor  den  Augen  gewesen,   doch  habe  er  nie  das  Bewusstsein  verloren. 

In  seinen  Berauschungszuständen  will  er  wiederholt  aus  dem  Ge- 
räusche des  vorbeifliessenden  Baches  Stimmen  herausgehört  haben.  In 
der  Nacht  vom  15.  August  1873,  nach  vorausgegangenen  bedeutenden 
Alkoholexcessen,  schwerer  Arbeit  am  Meiler,  bei  grosser  Sommerhitze, 
konnte  .1.  nicht  schlafen,  er  fühlte  sich  schwer  im  Kopf,  schwindlig- 
lind  war  von  einer  unerklärlichen  Bangigkeit  geplagt.  Er  fand,  dass 
der  Kühlerhaufen  so  sonderbar  krache.  Gegen  Morgen  schlief  J.  auf 
kurze  Zeit  ein.  Als  er  erwachte,  fand  er  den  Köhlerhaufen  zusammen- 
gefallen und  ganz  verstört.  Dieses  kam  ihm  sonderbar  vor,  er  meinte, 
es  möchte  ihm  angethan  sein.  Als  er  mit  der  Wiederaufrichtung  des 
Haufens  beschäftigt  war,  wobei  ihm  der  Knabe  des  Nachbars  Hülfe 
leistete,  hörte  er  aus  dem  nahen  Wald  den  Ruf:  ..Geh  heim,  stehle 
ein  andermal  nicht''.  Er  hielt  die  Stimme  für  die  eines  benachbarten 
Bauern  und  erwiderte:  „Du  bist  auch  unredlich"  Bald  darauf  kam 
es  ihm  vor,  dass  sein  Köhlerhaufen  auf  einem  ganz  anderen  Platz  sei, 
auch  sein  Geräthe  habe  er  am  uniechten  Platz  gesehen.  Eine  Stimme 
rief  wieder:  ,,Geh  hinauf  leite  dein  Wasser  ab'-.  Dieses  that  er  und 
trank  noch  am  Brunnen.  Dann  ging  er  in  die  Hütte.  Es  war  ihm 
so  bänglich  zu  Muth. 

Er  fing  an  zum  Heiland  und  seinen  fünf  Wunden  zu  beten.  Als 
er  sein  Gebet  beendet  hatte,  hörte  er  eine  Stimme:  „schau  um'',  und 
als  er  diesem  Gebot  Folge  leistete,  sprach  die  Stimme:  „Lenz,  jetzt 
hat  deine  Stunde  geschlagen",  da  habe  er  auf  die  Uhr  an  der  Wand 
geschaut  und  gesehen,  wie  die  Zeiger  pfeilschnell  herumgingen,  dann 
hiess  es:  „Lenz,  jetzt  bist  gestorben  und  im  Himmel"  Da  sei  er 
hinaus  vor  die  Hütte,  es  sei  ihm  so  bang  geworden,  er  meinte  wirk- 
lich, er  sei  gestorben.  Ein  Erdhügel  sei  vor  ihm  in  die  Höhe  ge- 
stiegen und  wieder  zugefallen.  Da  sei  des  Nachbars  Bub  des  Weges 
gekommen.  Er  habe  gesagt :  „Grüss  Gott,  bist  auch  gestorben  ?"  Da  rief 
es  wieder:  „Nimm  ihn,  bring  ihn  um"  Er  wisse  nicht  was  es  gewesen. 
Da  habe  er  ihn  genommen  und  umgebracht,  indem  er  ihm  den  Kopf  vom 
Rumpf  mit  dem  Taschenmesser  trennte  und  dann  noch  Brust-  und 
Unterleibshöhle  öffnete.    Er  begreife  nicht,  wie  er  das  habe  vollbringen 


106  Ueber   typische  Delirien 

können.  Gleich  darauf  sei  der  Nachbar  gekommen  und  habe  gerufen : 
„Jesus,  jetzt  bringt  er  mir  den  Buben  am",  da  habe  es  wieder  ge- 
sprochen: „Bringe  so  viele  um  als  du  kannst". 

Da  sei  er  dem  Mann  nach  mit  dem  Messer  in  der  Hand,  und 
habe  ihn  in  den  Hals  gestochen.  Als  der  Mann  in  seinem  Blute  lag, 
hörte  er  den  Befehl,  ihm  den  Kopf  mit  einem  Feldstein  zu  zermalmen, 
Avas  er  ausführte.  Er  wisse  nicht,  woher  der  Befehl  gekommen,  es 
sei  doch  weit  und  breit  Niemand  gewesen.  Er  habe  nun  noch  immer 
geglaubt,  er  sei  gestorben,  habe  sich  hingelegt  und  ausgeruht.  Es  sei 
ihm  da  vorgekommen,  als  sitze  er  auf  Petri  Sessel.  Bald  darauf  seien 
die  Leute  mit  Gensdarmen  gekommen  und  hätten  ihn  gebunden.  An- 
fangs habe  er  noch  geglaubt,  er  sei  im  Himmel  und  müsse  jetzt  Busse 
thun.  Bald  sei  ihm  aber  die  Einsicht  gekommen.  Er  könne  sich  die 
Sache  nicht  erklären.  In  den  folgenden  Tagen  im  Arrest  war  Patient 
wieder  ganz  bei  sich,  er  bereute  tief  seine  grauenvolle  That,  man  möge 
ihn  nur  strafen,  er  könne  nichts  dafür.  Aus  Verzweiflung  versuchte 
er  anfangs  sich  ein  Leid  anzuthun. 

Die  vorläufig  nach  dem  Befund  der  Akten  gestellte  Diagnose  auf 
ti'unkfällige  Sinnestäuschung  fand  bei  fortgesetzter  persönlicher  Beob- 
achtung im  Irrenhause,  die  keine  Symptome  von  Alkoholismus,  dagegen 
schon  nach  wenigen  Monaten  solche  von  Epilepsie  erwies,  ihre  Berich- 
tigung. Deuteten  Intoleranz  für  Alkohol  und  pathologische  Alkohol- 
zustände vorläufig  auf  ein  latentes  Nervenleiden  hin,  so  erwiesen  An- 
fälle von  nächtlichem  Aufschrecken,  solche  von  allgemeinem  Schüttel- 
krampf mit  tonischen  Erstarrungszuständen.  Schwindelanfälle,  Zustände 
von  Stupor,  schreckhaftem  Delir,  endlich  klassische  epileptische  Insulte, 
intervallär  grosse  Gemüthsreizbarkeit.  zunehmende  intellectuelle  und 
ethische  Verkümmerung  des  zudem  sehr  der  Masturbation  ergebenen 
Kranken  die  wahre  Natur  des  Leidens  und  des  früheren  psychischen 
Ausnahmezustands.  Hier  und  da  wurden  bei  dem  nun  verblödeten 
Kranken  auch  noch  religiöse  Delirien  beobachtet,  in  welchem  er  Gott 
von  Angesicht  zu  Angesicht  sah,  sich  im  Himmel  wähnte,  die  Um- 
gebung für  göttliche  Personen  verkannte,  in  ekstasenartigen  Zuständen 
schwelgte,  überwältigt  von  einem  Gefühl  unnennbarer  Glückseligkeit, 
dass  Gott  mit  ihm  zufrieden  sei,  ihm  seine  Sünden  verziehen  habe. 

Beob.  4.  F..  Hedwig,  24  J.,  angeblich  unbelastet,  hat  als  kleines 
Kind  an  Oonvulsionen  gelitten.  Sie  ist  imbecill ;  seit  der  Pubertät  (im 
15.  Jahre)  Auftreten  von  Morbus  sacer.  Klassische  Anfälle,  anfangs 
selten,  neuerlich  sehr  häufig  und  schwer.  Gelegentlich  auch  epilep- 
tische Anfälle  in  Gestalt  von  einfach  bewusstlosem  Zusammensinken. 


bei  Epileptikern.  107 

Seit  1.  11.  1892  in  erstmaligem  postepileptischem  Delir.  Pat. 
wurde  zuerst  auffällig  durch  ihre  verwirrten  Reden.  Sie  bat.  man 
möge  mit  ihr  zur  Kirche  gehen,  sie  werde  dort  zum  Himmel  auf- 
fliegen, sie  sei  Kaiserin,  sie  habe  das  Herz  der  Kaiserin.  Jetzt  seien 
Alle  glücklich,  erlöst.  Sie  sang,  betete  viel,  sprang  zum  Fenster'  hinaus 
und  wurde  am  5.  11.  der  Klinik  übergeben.  Schädel  ohne  Abnormi- 
täten, Pallor,  alle  tiefen  Reflexe  sehr  gesteigert.  Innere  Organe  ge- 
sund. Pat.  in  sich  versunken,  giebt  aber  auf  Fragen  Antwort.  Sie 
ist  hier  im  Himmel.  Wer  sie  ist,  Aveiss  sie  nicht.  Der  Arzt  wird  für 
Christus  gehalten.  Episodisch  ekstaseartiges  Bild.  Sie  spricht  dann 
leise,  mit  einförmig  psalmodirendem  Ton.  Worte  und  Sätze  unzählige 
Male  wiederholend.  In  diesem  Zustand  reagirt  Pat.  nicht  auf  äussere 
Eeize.  Der  Inhalt  ihrer  Rede  ist  ein  religiöser,  aber  ganz  verworren. 
Eine  Probe  ihres  Deliriums  ist  folgende: 

..Die  Kaiserin  ist  gestorben;  ich  habe  die  Mutter  Gottes  gebeten, 
dass  sie  die  liebe  Kaiserin  erlöse;  sie  hat  mich  schön  angeschaut,  ich 
habe  so  gebeten  für  sie.  bin  rund  umgegangen,  habe  von  unten  hin- 
aufgeschaut und  da  die  Zunge  nicht  gespürt  und  bin  zum  Tod  ge- 
worden und  richtig  ist  mir  besser  geworden  und  bin  schon  langsam 
hinaufgegangen  und  habe  Jesus  so  gebeten,  weil  er  mich  so  schön 
lieb  angeschaut,  er  hat  gesagt  „ja",  da  bin  ich  wieder  hinauf  und  habe 
gesagt:  Mutter  Gottes,  hast  du  wirklich  die  Kaiserin  erlöst?  und 
richtig,  ich  habe  sie  erlöst  und  bin  hinunter  gekommen  zum  Teufel  — 
lauter  Schmutz  muss  ich  schlucken  und  wenn  ich  ihn  schlucke  so 
komme  ich  wieder;  alle  sind  zu  mir  gekommen,  hinauf  in  die  Hölle 
und  haben  alle  gesagt:  Hedwig,  du  musst  sterben  und  ich  bin  wieder 
hinuntergekommen  und  habe  die  Mutter  Gottes  so  gebeten  und  richtig, 
sie  hat  mich  wieder  erlöst  und  ich  werde  jetzt  ein  Schutzengel  und 
ich  komme  wieder  zu  meinem  Traum  uud  werde  Alle  erlösen.  Mutter 
Buttes,  hilf  mir  —  ich  spüre,  dass  ich  hinunterkomme,  ich  habe  den 
Traum  erlöst  und  Jesus  ist  gekommen  und  hat  alle  Menschen  besucht. 
Ich  sehe  in  den  Himmel,  jetzt  komme  ich  hinauf,  ich  werde  ganz 
schwindlig,  ich  werde  Staub  werden,  ich  habe  den  Gedanken  gehabt, 
dass  Jesus  mich  abholt.'" 

Am  7.  11.  schweigt  das  Delir.  Bis  9.  11.  Abends  ist  Pat.  noch 
dämmerhaft,  aber  bereits  örtlich  orientirt.  Dann  wird  sie  plötzlich 
lacid.  Die  Miene  ist  frei,  der  Pallor  geschwunden.  Für  die  Anfallszeit 
besteht  nur  höchst  summarische  Erinnerung.  In  den  folgenden  Wochen 
klassische  epileptische  Insulte,  ohne  Aura,  ohne  postepileptisches  Delir. 
Entlassung. 


108  Ueber  typische  Delirien 

Beol).  5.  St.,  Dienstmann,  25  J.,  ledig-,  erkrankte  plötzlich  am 
11.  6.  1894  Abends,  war  aufgeregt,  verwirrt,  die  Nacht  zum  12.  schlaf- 
los, redete  sinnlos  von  religiösen  Dingen  und  sagte  u.  A.,  auf  eiii 
Heiligenbild  deutend:  „Vater,  du  hast  mich  vom  Tode  erlöst".  Pat. 
geht  am  12.  früh  verstört,  verworren  auf  der  Klinik  zu,  apostrophirt 
die  Umgebung  als  „Brüder,  Väter",  umarmt  den  Arzt  als  seinen  Bruder 
und  fügt  hinzu  „ich  will  einen  Kaiser  haben"  Gefragt  nach  Krank- 
heit, erklärt  er,  er  habe  die  hinfallende  Krankheit.  Wenn  Gott  ihn 
strafen  wolle,  nehme  er  ihm  die  Brust.  Es  ist  jetzt  Sommer,  der 
Monat  heisst  December.  Pat.  weiss  sich  im  Krankenhause,  der  liebe 
Gott  habe  ihn  hereingemacht.  Plötzlich  schreit  Pat.  auf  „ich  bin 
der  Kaiser  Josef"  Den  Arzt  bittet  er,  ihm  eine  gute  Stelle  im  Himmel 
zu  verschaffen.  Pat.  redet  beständig  vom  Himmelsvater,  erklärt  sich 
in  auffällig  gereiztem  Tone  für  den  frommen  Josef.  Er  hat  einen  guten 
Engel.  Dieser  spricht  zu  ihm  im  Namen  des  Himmelvaters.  Sein 
Vater  ist  gestorben  solange  er  auf  der  Welt  war.  Er  selbst  hat  nicht 
geheirathet,  weil  ihm  das  Herz  so  stark  geblutet  hat.  Im  Laufe  des 
Tages  wird  der  Arzt  beständig  als  der  Kaiser  verkannt.  Schwere 
Verworrenheit.  In  der  Nacht  zum  13.  epileptischer  Insult.  Pat.  ist 
nun  ganz  lucid,  hat  Amnesie  für  den  Zustand  des  Delirs,  theilt  mit, 
dass  er  seit  December  1893,  nach  Schreck  über  einen  Brand,  der  im 
Hause  ausbrach,  an  Epilepsie  leide.  Die  Angehörigen  bestätigen  diese 
Angabe.  —  Klassische  epileptische  Anfälle,  etwa  alle  8  Tage  wieder- 
kehrend, jeweils  mit  postepileptischer  Verwirrtheit  durch  etwa  eine 
halbe  Stunde.     Intervallär  emotiv,  reizbar,  aufgeregt. 

Beob.  6.  M.,  Gustav,  17  J..  Lehrling,  von  mit  Migräne  behafteter 
Mutter,  erlitt  mit  6  Jahren  einen  Sturz  auf  den  Kopf,  wovon  eine 
lineare  Hautnarbe  auf  dem  r.  Stirnhöcker  datirt,  hatte  von  jeher  viel 
an  Cephalaea  zu  leiden,  galt  als  unfolgsam,  jähzornig,  verlogen,  gerieth 
1892  unter  eine  Tramway,  bekam  beide  Füsse  abgefahren,  musste 
amputirt  werden,  war  seither  oft  tief  verstimmt,  bis  zu  Taed.  vitae, 
hatte  sich  in  den  letzten  Tagen  sehr  gekränkt  und  aufgeregt,  weil 
ihm  der  Vormund  kein  Geld  geben  wollte  und  schrieb  diesem  einen 
Drohbrief. 

Am  21.  9.  1893  Abends  verursachte  dem  Pat.  ein  Sturz  auf  der 
Strasse  starke  Schmerzen  im  Amputationsstumpf.  Er  schlief  aber  gut 
in  der  Nacht  zum  22.  An  diesem  Tage  litt  er  an  Cephalaea,  die  aber 
Nachmittags  schwand.  Am  22.  Abends,  als  er  gerade  im  vollen  Wohl- 
sein ausgehen  wollte,  stürzte  er  bewusstlos  zusammen.  Dauer  der 
„Ohnmacht"   etwa   10  Minuten.     Angeblich  keine  Krämpfe.    Als  Pat. 


bei  Epileptikern.  109 

wieder  erwachte,  redete  er  irre :  „ich  bin  aus  der  Hölle  entwichen,  ich 
fahre  nach  Amerika,  ßussland,  du  bist  der  Geist,  komme  mit!  Ich 
bin  schon  Menschenfresser;  auf  der  1.  Seite  habe  ich  die  Seele,  die 
thnt  mir  weh."  Auf  die  Klinik  gebracht,  ist  Pat.  ganz  unzugänglich 
und  delirirt  vor  sich  hin:  „ich  bin  Menschenfresser,  ich  habe  den 
Kaiser  gemalt,  bin  800  Jahre  alt,  muss  mit  dem  Kaiser  sprechen,  habe 
ihm  etwas  zu  sagen,  was  mir  der  Teufel  gegeben  hat".  So  bis  zum 
24.,  wo  das  Delir  schweigt.  Am  25.  noch  dämmerhaft.  dann  ganz  lucid. 
Amnesie  von  dem  Umstürzen  am  21.  Abends  bis  zum  25..  von  da  ab 
summarische  Erinnerung. 

Pat.  in  der  Folge  geistig  normal.  Häutig  Cephalaea.  schlechter 
Schlaf,  mit  schweren  Träumen  von  Bergen,  die  sich  auf  ihn  wälzen. 
Intoleranz  für  Alkohol.  Reizbar,  emotiv.  Keine  irgendwie  geartete 
epileptische  Erscheinungen. 

Am  15.  11.  1893  genesen  entlassen. 

Beob.  7.  K.  B.,  58  .T.,  pens.  Militär,  wurde  am  31.  7. 1886  schwer 
delirant  in  meiner  Klinik  aufgenommen.  Die  Anamnese  ist  lückenhaft 
Pat.  soll  als  Kind  schon  eigenthümliche  Anfälle  von  Bewusstseins- 
triibung  mit  Mattigkeit  und  Uebelkeit  gehabt  haben.  Die  ihm  seit 
1875  angetraute  Ehefrau  berichtet,  dass  er  enorm  reizbar  und  auf- 
brausend war  und  schon  6  Wochen  nach  der  Heirath  genuine  epilep- 
tische Anfälle,  meist  Nachts  und  oft  gehäuft  bot. 

Vor  solchen  sei  er  regelmässig  congestiv,  gereizt,  brutal,  verstört 
gewesen,  nach  solchen  häufig  delirant.  Sein  Delir  bewegte  sich  dann 
in  Gottnomenclatur.  Er  war  aggressiv  gegen  seine  Frau,  ging  mit 
dem  Säbel  auf  sie  los.  würgte  sie  mit  der  Motivirung  ..Christus  ist 
gekreuzigt  worden,  warum  soll  ich  meine  Frau  nicht  kreuzigen?" 

Episodisch  Vergiftungsideen.  Suicidgedanken.  wobei  Pat.  oft  weinend 
stundenlang  vor  sich  hinstarrte.  Die  deliriösen  Anfälle  dauerten  einige 
Tage  und  gingen  durch  einen  mehrtägigen  Dämmerzustand,  in  welchem 
Pat.  viel  zu  Geistlichen  lief,  in  den  luciden  intervallären  über.  In 
letzter  Zeit  hatte   man  zunehmende  Vergesslichkeit   an  ihm  bemerkt. 

Pat.  geht  in  schwer  gestörtem  Bewusstsein.  mit  ganz  entstellten 
Zügen,  congestiv.  fieberlos  zu.  Sehr  frequenter  Puls.  Das  Delirium 
ist  ein  schreckhaftes.  Er  glaubt  sich  bei  der  Belagerung  der  Festung 
Mantua,  glühende  Kugeln  schiessen  durch  die  Luft,  die  Festung  geht 
in  Flammen  auf.  Dann  erscheinen  Telephone  an  der  Wand.  Pat. 
vergleicht  sich  mit  weinerlicher  Stimme  mit  Christus,  die  Nachwelt 
wird  bereuen,  dass  sie  auch  ihn  (Pat.)  gekreuzigt  hat.  Er  ist  eiu 
Märtyrer.    Schwere  Verworrenheit,  enorme  Gereiztheit,  Schlaflosigkeit. 


HO  Ueber  typische  Delirien 

Vom  7.  6.  ab  kommen  Majestätsdelirien.  Er  hat  Gespräche  mit  dem 
Kaiser,  beklagt  sich,  dass  man  ihn  gekreuzigt  habe.  Er  zählt  seine 
Verdienste  um  den  Staat  auf,  hat  das  Telephon  erfunden,  spricht  von 
Himmelfahrt,  Erlösung,  brüllt  dazwischen  „unterste  Hölle,  obere  Hölle", 
ist  ganz  entsetzt  über  schreckhafte  Visionen,  bejammert  einen  Freund 
Seh.,  der  aufgehängt  wurde.  Chloralhydrat  bewirkt  ausgiebigen  Schlaf 
und  Beruhigung.  Pat.  geht  durch  einen  mehrtägigen  Dämmerzustand 
hindurch,  ist  am  26.  6.  wieder  ganz  lucid.  Summarische  Erinnerung. 
Weder  vor  noch  während  des  Krankheitszustandes  waren  epileptische 
Anfälle  zu  bemerken  gewesen. 

Neuerliche  Aufnahme  am  22.  10.  1887.  Ganz  zerfahrenes  Delir 
von  Teufel,  Gott,  enorme  Verworrenheit  und  Gereiztheit,  die  bei  Nen- 
nung seines  Namens  sich  masslos  steigert.  Der  K.  gehört  an  den 
Galgen,  der  Name  K.  hängt  am  Galgen.  Er  ist  nicht  der  K,  sondern 
der  Pater  Seh.  Der  Klostername  wird  es  beweisen.  Er  will  nicht 
essen,  sein  Name  hat  schon  gegessen.  Pat.  hat  wieder  mit  Telephonen 
zu  thun.  „Es  ist  nicht  mit  Gold  zu  bezahlen,  ich  will  es  vergolden 
lassen.  Drei  schöne  goldene  Berge  hat  er  gehabt,  gleich  muss  sie  fort- 
fahren" Gelegentlich  Bitten  um  Verzeihung,  Gott  wird  verzeihen. 
Massenhaft  theils  schreckhafte,  theils  göttliche  Personen  betreffende 
Gesichtshallucinationen.  Auf  ausgiebigen  Schlaf  durch  Chloralhydrat 
wird  das  Delir  am  24.  abortiv.  Darnach  noch  mehrtägiger  Dämmer- 
zustand.   Diesmal  Amnesie. 

Pat.  bald  nach  der  neuerlichen  Entlassung,  angeblich  in  epilep- 
tischem Insult,  gestorben. 

B  e  o  b.  8.  Herr  M.,  Friseur,  51  J.,  wurde  am  10.  7.  1878  auf  die 
Klinik  gebracht.  Schwere  ßewusstseinsstörung,  tief  verstörte  Miene. 
Sehr  gespannte  Arterie.  Puls  90.  Vegetativ  ohne  Befund,  fieberlos. 
Ganz  zerfahrenes  hypochondrisches  Delirium  —  Pat.  klagt  über 
eckigen  Schädel,  verlängerte  Füsse,  vertauschte  Kieferhälften,  es  steckt 
ein  Kohr  im  Schlund,  der  Nabel  ist  herausgetreten,  es  zieht  ihm  da 
in  den  Körper  hinein,  dreht  ihm  die  Kiefer  um,  das  ganze  Fleisch 
hängt  an  ihm  herunter,  sein  Rücken  schaut  dem  einer  Eidechse  gleich, 
sein  Körper  ist  voller  Wunden  u.  s.  w.  Irgendwelche  Störungen  der 
Sensibilität  sind  nicht  nachzuweisen.  Grosse  Angst,  Gereiztheit. 
Schwere  Verworrenheit  —  „durch  den  Schrecken  sind  ganze  Regi- 
menter zu  Grunde  gegangen.  In  der  Leintuchnaht  ist  ein  Compass. 
Der  Dominikanerthurm  ist  gestern  aufgenommen  worden".  Episodisch 
Gottnomenclatur  „Gott  ist  Allen  gerecht,  Gott  beschützt  auch  ihn". 
Keine  Majestätsdelirien.    Vorübergehend  Visionen  von  Feuer,  schreck- 


bei  Epileptikern.  \\\ 

liehe  Thiere,  die  nach  ihm  schnappen,  ihn  auf  der  Haut  brennen. 
Dauer  des  Delirs  3 — 4  Tage.  Durchgang  durch  einen  leichten  Dämmer- 
zustand. Intervallär  moros,  gereizt,  seit  einigen  Jahren  psychische 
Schwäche,  jetzt  ziemlicher  Grad  von  Demenz. 

Für  die  Dauer  der  deliranten  Periode  hat  Pat.  Amnesie.  Solche 
Anfälle  mehrmals  im  Jahr,  seit  etwa  10  Jahren,  jeweils  postepileptisch. 
Epilepsie  geht  bis  auf  die  20  er  Jahre  zurück.  Die  Anfälle  in  Inhalt 
und  Dauer  fast  völlig  congruent.  Alle  möglichen  Antiepileptica  er- 
wiesen sich  wirkungslos. 


Die  vorstehenden  Krankengeschichten  sind  ausgewählte  Fälle  aus 
einer  Serie  von  38  Beobachtungen  meiner  Erfahrung.  Sie  sind  der 
These  von  Samt  hinsichtlich  der  diagnostischen  Bedeutung  von  reli- 
giösen Delirien  in  Verflechtung  mit  Majestätsdelirien  und  schwerem 
ängstlichem  Delir  entschieden  eine  Stütze,  insofern  sie  fast  ausnahms- 
los als  postepileptische  Erscheinungen  zu  Tage  treten.  Die  Form  der 
Epilepsie  in  den  38  Fällen  war  34  Mal  die  der  klassischen,  nur  4  Mal 
die  der  vertiginösen. 

Die  Dauer  des  epileptischen  Deliriums  betrug  nie  unter  3  und 
selten  über  14  Tage.  Dann  [handelte  es  sich  jeweils  um  neuauf- 
getretene, mit  den  vorhergehenden  zusammenfliessende  Anfälle. 

Zu  einem  näheren  Eingehen  auf  die  jedenfalls  zu  den  bestgekannten 
Formen  des  epileptischen  Irreseins  zählenden  postepileptischen  Zustände 
ist  hier  nicht  der  Ort.  Ich  beschränke  mich  darauf,  diejenige  klinische 
Gruppe,  bei  welcher  „Gottnomenclatur"  und  „Majestätsdelirien"  im 
Vordergrund  stehen  hinsichtlich  der  Art  und  der  diagnostischen  Be- 
deutung dieser  Delirien  einer  genaueren  Untersuchung  zu  unterwerfen. 

Das  Verhalten  der  Delirien  war  in  den  weiteren  30  dieser  Studie  zu 
(■»runde  liegenden  Fällen  folgendes : 

9.  Mann.  Fast  ausschliesslich  expansives  Majestätsdelir,  lässt  den  Kaiser 
hochleben;  episodisch  schreckhaft,  verstört:  ,, unser  Himmelvater  will 
sterben". 

10.  Mädchen.  Sterbescenen.  Gott,  Mutter  Gottes,  Heilige  erscheinen  in 
der  Todesstunde,   trösten  Pat. 

11.  Mann.  Im  Anfall  Geistlicher,  riecht  Weihrauch,  sieht  Alles  roth,  hört 
Kirchenlieder,  Glockenläuten ,  ist  in  Kirche,  sieht  Christus,  predigt. 
Episodisch  schreckhaftes  Delir,  sieht  Verstorbene,  wird  von  Gensdannen 
verfolgt,  hört  Schiessen,    verworrenes  Geschrei.     Himmelfahrt. 

12.  Mann.  Schreckhaftes  Delir  (Hölle,  Teufel,  wird  umgebracht),  episodisch 
hält  sich  Pat.  für  Gott  und  glaubt  sich  im  Himmel. 


112  lieber  typische  Delirien 

13.  Mann.  Gottnomenclatur  und  Himnielsdelir.  Singt  Allelujah.  Dabei 
sehr  gereizt.     Muss  den  verlorenen   Sohn  spielen. 

14.  Mann.  Wechselnde  Höllen-  und  Teufelsdelirien  und  Gottnomenclatur 
(ist  ein  Heiliger,  zum  Himmel  aufgefahren  mit  seinen  Getreuen).  Ob- 
scöne,    göttliche  Personen  betreffende  Delirien,   mit  Coitusbewegungen. 

15.  Mann.  Spricht  mit  Gott,  ist  Kaiser.  König,  dabei  höchst  gereizt  und 
gewaltthätig. 

16.  Mann.  Bald  im  Himmel,  bald  in  Hölle,  rauft  mit  dem  Teufel,  besucht 
ihn,  hat  viel  mit  dem  Herrn  der  Heerschaaren  zu  thun.  Episodisch 
Stupor. 

17.  Mann.  „Wo  ist  Gott?  Gott  will  es.  Wer  hat  5  Finger?  Gott.  Es 
giebt  mehrere  Gott".  Umgebung  wird  für  göttliche  Personen  gehalten. 
Sieht  den  hl.  Geist,  liest  Messe.  Episodisch  im  , .Richthaus",  wird  ge- 
richtet. 

18.  Mann.  Ist  Kaiser,  der  Arzt  ist  auch  Kaiser;  er  bittet  ihn  um  eine 
gute   Stelle  im  Himmel. 

19.  Mann.  Schreckhaftes  Delir  (Tod,  Teufel,  Hölle),  episodisch  religiöse 
Exaltation,  singt  Hymnen,  macht  sich  einen  Altar. 

20.  Mann.  Singt,  wallfahrtet,  glaubt  sich  im  Himmel  als  Herrgott  und 
Regent  der  ganzen  Welt. 

21.  Weib.  Gottnomenclatur.  Sieht  Maria,  Engel,  arme  Seelen,  wallfahrtet. 
Ist  Mutter  Gottes.     Arzt  ist  Gott.      Erotisch,  zudringlich. 

22.  Mann.   Bekämpft  und  besiegt  die  Teufel.   Wird  Herrgott.   Masslos  gereizt. 

23.  Mann.  Besiegt  mit  dem  hl.  Petrus  die  Hölle,  kommt  dafür  in  den 
Himmel,   sieht  dort  Christus  und  die  beiden   Schacher. 

24.  Mann.  Himnielsdelir,  bekam  dort  den  Morgenstern  geschenkt.  Episo- 
disch wurden  Soldaten  gehängt,  verbrannt,  geschnitten.  Endlich  wurde 
er  vom  Obersten  zum  Himmel  hinausgeworfen  auf  die  Erde,  wo  er 
30  Jahre   arbeiten  muss  und  dann  Stellvertreter  Gottes  wird. 

25.  Frau.     Erscheinungen  göttlicher  Personen.     Ekstasezustände. 

26.  Mann.  Singen,  Wallfahrten,  dabei  höchst  gereizt,  bis  zu  homiciden 
Impulsen  auf  Grund  von  Angst,   Feuervisionen. 

27.  Mann.  Wahn  dass  die  unheilige  Umgebung  Glauben  und  Religion  ge- 
fährde. Der  Glaube  ist  in  Gefahr,  verlangt  dafür  gekreuzigt  zu  werden, 
verkennt  Umgebung  als  Teufel,  kämpft  für  den  Glauben,  siegt,  jubilirt, 
empfängt  Gottes  Dank,  ist  der  wahre  Gottesstreiter,  proclamirt  sich  als 
Christus. 

28.  Mann.     Ausschliesslich  expansives  Himnielsdelir. 

29.  Mann.  Macht  die  Schöpfungsgeschichte  und  den  Weltuntergang  durch. 
Sieht  die  Sündfluth,   das  Fallen   der  Welten.     Christus  rettet  ihn. 

30.  Mann.  Wallfahrten.  Singen  von  religiösen  Liedern  und  der  Volks- 
hymne.     Apotheose.   Himmelfahrt. 

31.  Mann.  Anfangs  Angst,  Gereiztheit,  im  Kampf  mit  dem  Teufel  sieg- 
reich, dann  Abgesandter  Gottes,  der  erste  nach  dem  Kaiser.  Episodisch 
Stupor. 

32.  Weib.  Anfangs  Sterbescene,  wird  ins  tiefe  Meer  versenkt,  glaubt  sich 
bald  im  Wasser  bald  im  Feuer,  bald  im  Himmel  bald  in  der  Hölle, 
sieht  verstorbene  Eltern.  Es  kommt  ihr  vor,  als  ob  man  sie  not- 
züchtigen wolle. 


bei  Epileptikern.  U3 

33.  Mann.     Himmelsdelir.     Hält  den  Arzt  für  Gott.      Singt,  psalmodirt. 

34.  Mann.     Bloss  expansives  Himmelsdelir  bis  zur  Ecstase. 

35.  "Weib.     Desgleichen,  episodisch  schreckhaftes  Delir  (Hölle). 

36.  Mann.     Himmelsdelir.     Ecstase. 

37.  Mann.  Bunter  Wechsel  von  Blut-,  Feuer-,  Höllen-,  Himmel-,  Gott-, 
Majestätsdelir. 

38.  Mann.  "Weltuntergang.  Christus  beschützt  ihn.  Hält  den  Arzt  für 
Christus ,  liest  Messe.  Hier  ist  das  Kaiserhaus.  Arzt  ist  Kaiser. 
Episodisch  Stupor. 

Wie  aus  der  vorstehenden  Skizzirung  der  Delirien  hervorgeht, 
spielen  solche  mit  religiösem  Inhalt  die  Hauptrolle.  Ausschliesslich 
religiöses  Delir  findet  sich  in  28  Fällen,  ausschliesslich  Majestätsdelir 
in  einem  Falle,  Combination  beider  in  9  Fällen. 

In  dem  Gesammtbild  des  jeweiligen  Delirs  lassen  sich  zwei  Vor- 
stellungsgebiete unterscheiden,  ein  depressives  und  ein  expansives. 
Da  wo  bloss  eines  derselben  auftritt,  macht  es  den  Eindruck,  als  ob 
der  Anfall  ein  abortiver  wäre,  das  complementäre  Delir  nicht  zum  Aus- 
druck gelangt  sei.  In  solchen  Fällen  mag  Angst,  enorme  Gereiztheit, 
die  mit  dem  vorhandenen  expansiven  Delir  in  Widerspruch  steht, 
ein  Hinweis  auf  den  latent  gebliebenen  depressiven  Vorstellungs- 
kreis sein. 

Da  wo  dieser  überhaupt  klinisch  zu  Tage  tritt,  ist  er  ein  einfach 
depressiver  persecutorischer  oder  er  ist  religiös  gefärbt  (Anfechtungen 
der  Hölle,  verzweifelter  Kampf  mit  höllischen  Mächten,  Tod,  Sterbe- 
scenen,  Sündhaftigkeit,   Marterung,  Kreuzigung,  Gottesgericht  u.  s.  w.). 

Als  eine  bemerkenswerthe  klinische  Variante  depressiven  Delirs 
erscheint  in  seltenen  Fällen  (Fall  8)  ein  hypochondrisches,  das  durch 
enorme  Verworrenheit  und  Ungeheuerlichkeit  ein  eigen thümliches  Relief 
gewinnt. 

Das  klinische  Interesse  an  diesen  Delirien  dreht  sich  um  die  Frage, 
inwieweit  denselben  eine  specifische  Bedeutung  zuerkannt  werden 
darf?  Jeder  Erfahrene  wird  der  Ansicht  beipflichten  müssen,  dass 
weder  Gottnomenclatur  noch  Majestätsdelirien ,  noch  beide  zusammen 
an  und  für  sich  für  Epilepsie  beweisend  sind,  denn  sie  können  auch 
bei  nicht  epileptischen  Psychosen  sich  vorfinden.  Wie  so  oft  auf  psy- 
chiatrischem Gebiete,  kommt  Alles  auf  die  Entstehungsweise,  den  Zu- 
sammenhang solcher  Delirien  und  ihre  begleitenden  Umstände  an. 

Die  hier  in  Untersuchung  stehenden  Delirien  sind  solche  primor- 
dialen Gepräges.  Die  depressiven  unterscheiden  sich  von  analogen, 
wie  sie  bei  Melancholie  vorkommen  können,  zunächst  durch  den  Um- 
stand, dass  ein  herabgesetztes  Selbstgefühl  hier  nicht  oder  nur  unvoll- 

Kr»fft-Ebing,  Arbeiten  III.  8 


114  Ueber  typische  Delirien 

kommen  zum  Ausdruck  gelangt,  vielmehr  das  complementäre  expansive 
Primordialdelir  sich  bemerklich  macht  und  den  Sünder  früh  unter  dem 
Zeichen  der  göttlichen  Gnade,  des  Märtyrerthums  erscheinen  lässt, 
der  Chancen  für  einen  günstigen  Ausgang  des  Gottesgerichts  besitzt 
und  Vorahnungen  seines  Triumphs  über  Tod,  Hölle,  Antichrist  u.  s.  w. 
bis  zu  künftiger  Apotheose  in  seinem  Bewusstsein  vorfindet.  Dazu  die 
Absurdität  der  depressiven  Delirien. 

Bezüglich  der  expansiven  Delirien  sind  hervorzuheben :  die  eigen- 
thümliche  Verquickung  religiöser  mit  Majestätsdelirien  und  auch  mit 
depressiven  („der  Himmelvater  will  sterben"),  die  massenhaften  be- 
gleitenden höchst  plastischen  Gesichtshallucinationen ,  die  mit  musku- 
lären Anästhesien  im  Zusammenhang  stehenden  Himmelfahrten ,  das 
Delir  im  Himmel  zu  sein,  die  totale  Verkennung  der  Umgebung  im 
Sinne  göttlicher  oder  fürstlicher  Personen,  das  oft  ganz  unvermittelte 
Hereinbrechen  schreckhafter,  namentlich  dämonomanischer  Delirien, 
die  auffällige  Gereiztheit,  bis  zur  Aggression  gegen  die  Umgebung, 
seitens  des  doch  der  Wonnen  himmlischer  Freuden  theilhaftigen 
Kranken.  Dazu  gesellen  sich  eventuell  episodisch  Stupor,  Gesichts- 
hallucinationen in  rother  Farbe  (Feuer,  glühende  Kugeln,  Blut 
Christi  u.  s.  w.)- 

Bemerkenswerth  sind  ferner  Krampfpuls,  Pallor  auf  der  Höhe  des 
Anfalls,  Abklingen  desselben  durch  einen  Dämmerzustand. 

Mit  der  Häufung  solcher  klinischer  Thatsachen  kann  der  Schluss 
auf  eine  epileptische  Deutung  des  Anfalls  berechtigt  werden,  auch 
wenn  die  Anamnese  verschleiert  ist  und  Beweise  für  das  Vorkommen 
irgendwie  gearteter  Zeichen  der  epileptischen  Neurose  nicht  vorliegen. 
Eine  interessante  Frage  ist  auch  die,  warum  religiöses  und  Majestäts- 
delir  gerade  bei  Epileptikern  so  häufig  zur  Beobachtung  gelangen.  Be- 
züglich des  ersteren  liegt  die  Annahme  nahe,  dass  es  auf  dem  Boden 
einer  sexuellen  Erregung  steht.  Längst  anerkannt  ist  ja  die  That- 
sache,  dass  sexuelle  und  religiöse  Exaltation  einander  verwandt  sind 
und  dass  religiöse  Delirien  vielfach  klinische  Aequivalente  erotischer 
sind  (s.  m.  Lehrb.  d.  Psychiatrie  6.  Aufl.  S.  79  u.  Psychop.  sexual. 
9.  Aufl.  S.  8  u.  ff.). 

Nicht  minder  bedeutungsvoll  ist  die  von  mir  in  meiner  Psychop. 
sexualis  S.  327  hervorgehobene  Thatsache,  dass  überaus  häufig  bei 
Epileptikern,  im  Zusammenhang  mit  epileptischen  Insulten  und  zur  Zeit 
äquivalenter  oder  postepileptischer  psychischer  Ausnahmszustände,  Er- 
scheinungen sexueller  Erregung  sich  vorfinden,  so  dass  nicht  zu  be- 
zweifeln ist,  dass  die  mit  dem  epileptischen  Insult  einhergehenden  Hirn- 


bei  Epileptikern.  115 

Veränderungen  auch  eine  krankhafte  Erregung  des  Geschlechtslebens 
hervorrufen  können. 

Diese  klinische  Grundlage  für  religiöses  Delirium  ist  zur  Er- 
klärung jedenfalls  festzuhalten,  während  die  rein  psychologisirende 
von  Legrand  du  Saulle  und  Toselli,  nach  welcher  solche  Kranke  sich 
im  Bewusstsein  ihrer  traurigen  Lage  (in  Folge  ihrer  Krankheit)  der 
Religion  in  die  Arme  werfen,  kein  Vertrauen  verdient. 

Unter  den  38  Kranken,  an  welche  diese  Studie  anknüpft,  fand 
ich  thatsächlich  nur  5,  bei  welchen  Bigotterie  zu  constatiren  war,  eine 
geringe  Zahl,  wenn  man  bedenkt,  dass  jene  grösstenteils  ländlichen 
Kreisen  von  Steiermark  angehörten. 

Untersucht  man  dagegen  die  Vita  sexualis  der  38  Kranken,  so 
gelang  bei  17  derselben  der  Nachweis,  dass  sie  sehr  sinnlich  waren 
und  theils  Excessen  im  Coitus,  theils  Masturbation  ergeben  waren. 

Auch  im  Anfall  ergaben  sich  vielfach  Hinweise  auf  eine  vor- 
handene sexuale  Erregung.  Ich  rechne  dahin  Geruchshallucinationen, 
obscöne  Delirien  (Beob.  2.  14.  21.  32)  und  häufige  Fälle,  wo  man 
solche  Kranke  in  ihren  bis  zu  gelegentlicher  Ekstase  sich  erstreckenden 
expansiven  Affecten  über  Masturbation  betritt. 

Was  die  Majestätsdelirien  betrifft,  so  wäre  es  denkbar,  dass  die- 
selben einfach  als  Aequivalente  religiös  expansiver  zu  betrachten  sind, 
wenigstens  erscheinen  jene  neben  den  anderen  und  oft  geradezu  stell- 
vertretend im  Krankheitsbild.  Es  begreift  sich  ja  ohne  Weiteres, 
dass  der  sieghafte  Gottesstreiter  sich  der  höchsten  irdischen  Macht 
gleichgestellt  fühlt  und  episodisch  sich  mit  ihr  identificirt,  gerade  wie 
er  schliesslich  zur  Apotheose  gelangt. 


8* 


IV. 


UEBER  IDIOPATHISCHES  PERIODISCH  WIEDERKEHRENDES 
IRRESEIN  IN  FORM  VON  DELIRIUM. 


Ueber  idiopathisches  periodisch  wiederkehrendes 
Irresein  in  Form  von  Delirium. 

Unter  den  vielen  psychopatliischen  Bildern,  die  ihrer  klinischen 
Präcisirung  und  ätiologischen  Begründung  harren,  bietet  der  in  Rede 
stehende  Krankheitszustand  ein  nicht  geringes  Interesse,  weil  seine 
Beziehungen  zur  Epilepsie  in  Frage  stehen  und  der  Nachweis  der 
epileptischen  Bedeutung  des  Krankheitsbildes  ein  weiterer  und  nicht 
gering  zu  schätzender  Schritt  auf  dem  Wege  der  ätiologischen  Klar- 
stellung der  Psychosen  sein  würde. 

Man  ist  berechtigt,  solche  Erscheinungen  psychischer  Erkrankung 
dem  periodischen  Irresein  zuzurechnen,  da  sie  die  allgemeinen  Züge 
des  periodischen  —  brüske  Entstehung  und  Lösung  der  Aniälle,  typisch 
congruenten  Inhalt  und  Verlauf  derselben,  wenn  mit  einander  ver- 
glichen, aufweisen,  unbeschadet  etwaiger  Unterschiede  des  Grades  und 
der  Dauer.  Dazu  kommt  die  Wiederkehr  solcher  Anfälle  in  annähernd 
gleichen  Zeiträumen  und  ohne  palpable  (äussere)  Veranlassungen,  so- 
dass man  annehmen  muss,  dass  die  Summation  oder  Wiederkehr  von 
centralen  Reizvorgängen  auf  Grund  einer  dauernden  Veränderung  im 
Gehirn  die  Wiederholung  der  Anfälle  vermittelt.  Unzweifelhaft  handelt 
es  sich  hier  um  Bilder  idiopathischer  Psychose. 

Streng  periodisch  ist  die  Wiederkehr  der  Anfälle  jedoch  nicht 
immer;  auffällig  und  an  ähnlichen  Verlauf  bei  Epilepsie  erinnernd, 
ist  das  nicht  selten  serienartige  Auftreten  jener. 

Von  dem  Bilde  gewöhnlichen  periodischen  Irreseins  entfernen  sich 
diese  Zustände  weiter  durch  kurze  Dauer  derselben,  durch  tiefere 
Störungen  des  Bewusstseins,  durch  eigenartige  psychomotorische  Phäno- 
mene, endlich  dadurch,  dass  sie  sich  als  Delirium  abspielen.    Aus  diesem 


120  lieber  idiopathisches  periodisch  wiederkehrendes  Irresein 

Grund  kann  man  diese  Krankheitszustände  auch  nicht  mit  der  Form 
des  periodischen  Wahnsinns  identificiren. 

Die  Eigenartigkeit  dieser  Zustände  muss  ohne  Weiteres  zugegeben 
werden. 

Constante  Symptome  sind,  ausser  dem  brüsken  Ausbruch  und  der 
plötzlichen  Lösung  des  Zustandes  qua  Delirium,  die  tiefere,  auf  einer 
Dämmer-  oder  Traumstufe  sich  haltende  Bewusstseinsstörung,  der  ver- 
worrene Charakter  des  Deliriums,  das,  in  bunter  Vermischung  der  ein- 
zelnen Wahngruppen,  ein  hypochondrisches,  persecutorisches  oder  Grössen- 
delir  sein  kann;  ferner  die  auf  einen  directen  Eeizvorgang  in  psycho- 
motorischen Centren  des  Vorderhirns  hinweisenden  motorischen  Stö- 
rungen, die  als  sog.  katatonische  oder  automatisch  impulsive,  zwangs- 
mässige  iu  Mimik,  Sprache,  Haltung  und  Bewegungen  sich  kundgeben 
und  stereotyp  in  jedem  Falle  wiederkehren. 

Dadurch  bekommen  diese  Zustände  viele  gemeinsame  Züge  mit 
den  psychischen  Aequivalenten  der  Epilepsie,  namentlich  mit  den  pro- 
trahirten. 

In  der  Literatur  ist  wenig  von  diesem  Krankheitsbild  die  Kede. 
Morel  (etudes  cliniques  1853  II  p.  115)  scheint  es  zuerst  beschrieben 
zu  haben. 

Er  beschreibt  einen  Fall  bei  einem  Hypochonder  als  periodisches 
manieartiges  Irresein  mit  convulsivischem  Lachen,  grosser  Bewegungs- 
unruhe, akrobatenartigen  Bewegungen.  In  einer  späteren  Arbeit 
(d'une  forme  de  delire,  suivi  d'une  surexcitation  nerveuse,  se  rattachant 
ä  une  variete  non  encore  decrito  d'epilepsie  larvee  Paris  1860)  theilt 
Morel  5  Fälle  von  periodisch  wiederkehrender  Aufregung  mit  Delir 
mit,  die  hierher  gehören  dürften.  An  den  ersten  derselben  (periodisch 
wiederkehrende,  typisch  gleiche  Anfälle  von  Zornwuth,  mit  blinder 
Kücksichtslosigkeit  gegen  die  Umgebung,  ganz  ohne  Motiv,  mit  schreck- 
haften Sinnestäuschungen,  Delirien,  ein  Anfall  dem  anderen  gleich,  mit 
Lösung  durch  einen  Stuporzustand  und  nur  summarischer  Erinnerung 
für  das  Vorgefallene)  knüpft  M.  die  Bemerkung,  dass  man  hier  an 
Epilepsie  denken  müsse,  obwohl  die  Vorgeschichte  des  Falles  keine 
epileptischen  Antecedentien  biete.  Thatsächlich  wurden  später  in  diesem 
Falle  massenhaft  epileptische  Insulte  constatirt. 

Als  Ergebniss  seiner  Studie  nimmt  M.  an,  dass  statt  epileptischer 
Insulte  psychische  Zustände  auftreten  können,  deren  charakteristische 
Merkmale  folgende  sind:  periodischer  Wechsel  zwischen  Exaltation 
und  Depression,  intercurrente  Paroxysmen  von  wüthender  Tobsucht  mit 
schreckhaften  Hallucinationen,  mit  extremer  Keizbarkeit,  Amnesie  für 
die  in  die  Zeit  der  Anfälle  fallenden  Vorgänge,  typischer  Inhaltsgleich- 


in  Form  von  Delirium.  121 

heit  des  Deliriums  gleichwie  der  extravaganten  und  gefährlichen  Hand- 
lungen. 

In  seinem  traite  des  maladies  ment.  1860  p.  480  steht  Morel  nicht 
an,  auf  Grund  zahlreicher  Fälle,  in  welchen  endlich  doch  der  Nach- 
weis der  Epilepsie  gelang,  wesentlich  aber  auf  Grund  des  eigenartigen 
klinischen  Details  und  Verlaufs,  diese  eigene  Art  von  Folie  periodique 
als  dem  epileptischen  Irresein  zugehörig  anzusprechen. 

Kirn,  in  seiner  Monographie  der  periodischen  Psychosen  1878 
S.  76,  schildert  solche  Zustände  als  „centrale  Typosen",  ist  aber  nicht 
geneigt,  sie  zu  den  Manifestationen  der  Epilepsie  zu  rechnen.  In 
meinem  Lehrbuch  der  Psychiatrie  habe  ich  seit  1879  dieselben  unter 
den  periodischen  Psychosen  besprochen  und  ihnen  im  Rahmen  dieser 
eine  besondere  Stelle  zugewiesen,  die  Frage  ihrer  epileptischen  Bedeu- 
tung offen  lassend. 

Einen  werthvollen  Beitrag  zu  diesem  dunklen  klinischen  Gebiete 
gab  Pick  (Archiv  f.  Psychiatrie  XI.  1)  durch  Veröffentlichung  eines 
typischen  Falles  (mit  sichergestellter  Epilepsie)  mit  sorgfältiger  Epi- 
krise, unter  Anreihung  eines  zweiten,  der  aber  keine  epileptischen 
Antecedentien  bot  und  überdies  mit  einer  Paranoia  complicirt  war. 

Ich  habe  in  der  letzten  Auflage  meines  Lehrbuchs  die  Besprech- 
ung dieser  eigentümlichen  Irrsinnsanfälle,  da  sie  selten  sind  und  ich 
den  Raum  für  Wichtigeres  brauchte,  unterlassen.  Wenn  ich  an  dieser 
Stelle  auf  dieselben  zurückkomme,  geschieht  es,  weil  neue  Erfahrungen 
sie  in  ein  helleres  Licht  setzen  und  ihre  Zugehörigkeit  zum  epilep- 
tischen Irresein  nun  nicht  mehr  zweifelhaft  erscheint. 

Versucht  man  das  Krankheitsbild  wie  es  in  fremder  und  eigener 
Erfahrung  sich  darstellte,  zu  fixiren,  so  ist  zunächst  die  Plötzlichkeit 
des  Ausbruchs  des  Anfalls,  mitten  aus  relativer  Gesundheit  und  ohne 
palpable  Ursachen,  zu  betonen. 

Tn  der  Minderzahl  der  Fälle  zeigen  sich,  wohl  als  Aura  aufzu- 
fassende Vorboten  (meist  psychische  in  Gestalt  heiterer,  seltener  de- 
pressiver Stimmungsanomalie,  häufig  Angst,  Gereiztheit). 

Zu  den  ersten  und  constanten  Symptomen  des  sich  entwickelnden 
Paroxysmus  gehören  Schlaflosigkeit,  mimische  Entstellung,  enorme 
Reizbarkeit,  bis  zu  aggressivem  brutalem  Benehmen  gegen  die  Um- 
gebung. In  einzelnen  Fällen  zeigen  sich  fluxionäre  Erscheinungen 
zum  Gehirn.  Früh  sinkt  die  Bewusstseinsenergie  auf  eine  Dämmer- 
bis  Traumstufe  herab.  Es  entwickelt  sich  Gedanken-  und  Bewegungs- 
drang, sodass  man  dem  Beginn  einer  schweren  Manie  sich  gegenüber 
zu  befinden  meinen  möchte,  aber  diese  Erscheinungen  werden  verdrängt 
durch   ein   hallucinatorisches   Delir,   das   von  nun   an  den  gesammten 


122  Ueber  idiopathisches  periodisch  wiederkehrendes  Irresein 

psychomotorischen  Apparat  in  Anspruch  nimmt.  Ein  oft  geradezu 
kaleidoscopischer  Wechsel  von  deliranten  hallucinatorischen  Situationen 
spielt  sich  in  dem  dämmerhaften  Bewusstsein  ab  und  bedingt  bunt 
wechselnde  Stimmungen  von  Angst  bis  zum  Zorn,  von  Gehobenheit  bis 
zur  an  Ekstase  hinanreichender  Exaltation. 

Auffällig  ist  die  grosse  Gereiztheit,  welche  das  Ganze  durchweht 
und  selbst  in  expansiven  Stimmungslagen  sich  bemerklich  macht,  indem 
offenbar  an  der  Schwelle  des  expansiven  Ideenkreises  befindliche  de- 
pressive Vorstellungen  in  diesen  hineinwirken.  Umgekehrt  kann  man 
mitten  in  Angst  und  depressiver  Stimmungslage  ein  Lächeln  auf  der 
Miene  des  Kranken  auftauchen  sehen. 

Das  Delir  erscheint  als  depressives,  persecutorisches,  gelegentlich 
auch  als  hypochondrisches,  als  expansives,  mit  massenhaften  Beziehungen 
zu  Gottnomenclatur,  Majestätsdelir.  Als  flüchtige  Wahnpersönlich- 
keiten erscheinen  die  Kranken  als  Sünder,  vom  Teufel  und  schreck- 
lichen Spukgestalten  Verfolgte,  von  Tod,  Feuer,  Blut  und  allen  mög- 
lichen Gefahren  (Gottesgericht,  Fegfeuer  u.s.w.)  Heimgesuchte,  dann 
wieder  als  siegreiche  Ueberwinder  der  Hölle,  als  Feldherrn,  Propheten, 
Christus,  Kaiser  u.  s.  w.  Entsprechend  illusorisch  umgestaltet  erscheint 
die  Aussenwelt  und  die  Umgebung.  Eigenthümlich  erscheinen  dabei 
der  absurde  Inhalt  einzelner  Wahnideen  („Niemand",  „Papagei"),  die 
Verquickung  von  grauenvollen  Martern  mit  Majestätsdelir,  überhaupt 
von  depressiven  und  expansiven  Wahnideen. 

Charakteristisch  ist  ferner  schwere  Verworrenheit  durch  tief  ge- 
störte Vorgänge  der  Association  und  bunt  durcheinander  geflochtene 
hallucinatorisch-delirante  Situationen,  bei  erheblich  getrübter  und  illu- 
sorisch gestörter  Apperception  der  Aussenwelt.  Ansätze  zu  manischem 
Bewegungsdrang  in  Gestalt  von  Singen,  Schreien,  Wühlen,  Schmieren, 
Zerstören  erheben  sich  immer  wieder,  aber  vielfach  untermischt  mit 
ganz  impulsiven  Akten  (Würgen  der  Umgebung,  blinde  Aggression  auf 
Personen  und  Objecte)  und  ganz  sonderbaren  Zwangsbewegungen  und 
Zwangsstellungen  (Gangtreten,  Kotiren  um  die  Längsaxe,  Purzelbäume, 
Schwimmbewegungen,  Stehen  auf  einem  Bein,  den  gekreuzigten  Christus 
imitirende  Posen  u.s.w.). 

Auf  der  Höhe  des  Zustands  kann  es  zu  psychomotorischen  Reiz- 
erscheinungen kommen,  ähnlich  einem  beginnenden  Delir.  acutum 
(Zähneknirschen,  Grimassireu,  Lippenspitzen,  Zungenschnalzen  u.s.w.), 
dann  wieder,  in  jähem  Umschlag,  zu  ekstaseartigen  Erscheinungen, 
Stupor. 

Oder  auch,  es  kommt  zu  Remissionen  des  Delirs  und  der  motorischen 


in  Form  von  Delirium.  123 

Erregung,  bis  zu  Ansätzen  von  momentaner  Lucidität,  die  aber  meist 
Erschöpfungszustände  darstellen. 

Im  Grossen  und  Ganzen  erscheint  der  Gesammtanfall  als  ein 
solcher  von  intensiver  Erregung  psychomotorischer,  psychischer  und 
sensorieller  Hirnrindengebiete,  der  jäh  einsetzt,  mit  nur  geringen 
Schwankungen  abläuft  und  qua  Delir  ebenfalls  jäh  sein  Ende  erreicht, 
wobei  aber  Erscheinungen  des  zu  Grunde  liegenden  Dämmerzustandes 
um  Tage  das  Delir  und  die  psychomotorische  Erregung  überdauern 
können. 

Der  Schwere  des  Anfalls  dürfte  Umfang  und  Grad  der  Erinnerung 
für  die  Erlebnisse  in  der  Zeit  desselben  entsprechen.  In  schweren 
Fällen  besteht  Amnesie. 

Die  Dauer  der  Anfälle  ist  eine  verschiedene.  Gewöhnlich  läuft 
der  Paroxysmus  binnen  10  Tagen  ab.  Längere  Dauer  scheint  im 
Sinne  der  Recrudescenz  bezw.  Recidive,  wobei  die  Anfälle  in  einander 
fliessen,  deutbar.  Die  Wiederkehr  derselben  erfolgt  in  Zeiträumen  von 
Wochen  bis  Monaten.  Die  Anfälle  können  in  kürzerer  Frist  und  mehr- 
fach hintereinander  sich  wiederholen  (serienartige  Häufung),  zuweilen 
bleiben  sie  abortiv.  Die  Prognose  dürfte  nicht  so  ungünstig  sein,  da 
jene  jahrelang,  ev.  selbst  dauernd  ausbleiben  können. 

Therapeutisch  erschien  in  dieser  Hinsicht  fortgesetzte  und  ener- 
gische Behandlung  mit  Bromsalzen  nicht  ohne  Werth.  Zuweilen  ge- 
lang es  mir  im  beginnenden  Anfall  denselben  mit  Morphiuniinjectionen 
zu  coupiren.  Auf  der  Höhe  desselben  erscheinen  die  gewöhnlichen  Be- 
ruhigungsmittel (Brom,  Chloralhydrat  u.s.w.)  wirkungslos. 

Bezüglich  des  klinischen  Details  dieser  interessanten  Erscheinungen 
von  mehr  oder  weniger  ausgesprochenem  periodischem  Irresein  in  Form 
von  Delir  geben  die  folgenden  9  Beobachtungen  Aufschluss. 

Beob.  I1).  Koban,  29  J.,  Handwerker,  wurde  am  12.  1.  1872  in 
halb  erfrorenem  Zustand  und  geisteskrank  aufgefunden  und  ins  Irren- 
haus gebracht,  Die  Anamnese  ist  auf  Pat,  beschränkt,  der  nur  anzu- 
geben weiss,  dass  er  seit  Jahren  etwa  alle  3  Wochen  einen  Anfall 
von  Irresein  bekomme,  der  8—10  Tage  dauere  und  nur  summarische 
Erinnerung  hinterlasse.  Pat.  ist  geistig  geschwächt,  gemüthsreizbar. 
Epileptische  Autecedentien  sind  nicht  zu  ermitteln.  Alkoholexcesse 
werden  zugegeben.  Die  Beobachtung  ergiebt  Onanie.  Pat,  hat  einen 
kleinen  brachycephalen  Schädel,  der  rechte  Mundwinkel  ist  parelisch, 
steht  etwas  tiefer  als  der  linke. 


1)  Beob.  1—4   aus  des  Verf.  Lehrbuch  iler  Psychiatrie  1.  Auflage. 


124  Ueber  idiopathisches  periodisch  wiederkehrendes  Irresein 

Pat.  bietet  in  der  Folge  in  Zwischenräumen  von  3—5  Wochen 
Anfälle  von  tobsuchtartiger  deliranter  Verworrenheit,  die  8 — 15  Tage 
dauern  und  typisch  gleich  sind.  Sie  treten  ganz  plötzlich  auf.  Tiefe 
mimische  Entstellung,  zunehmende  Eeizbarkeit,  Schlaflosigkeit,  Fluxion 
zum  Kopf,  Steigerung  der  Pulsfrequenz  bis  zu  130  Schlägen,  zu- 
nehmendes Lachen,  Fortdrängen,  bezeichnen  ihren  Eintritt, 

Das  Bewusstsein  wird  tief  gestört,  Pat.  sieht  wie  angetrunken  aus, 
verkennt  die  Umgebung,  hält  sie  bald  für  fürstliche  Personen,  bald 
für  Verfolger.  Bunter  Stimmungswechsel,  enormer  Gedankendrang, 
grosse  Verworrenheit,  Lachen,  Singen,  Tanzen,  Zerstören,  Kothschmieren, 
Grimassiren,  heftige  Fluxion,  Salivation  sind  nie  fehlende  Symptome. 
Auf  der  Höhe  des  Paroxysmus  treten  eigenthümliche  Zwangsbewegungen 
auf,  die  stunden-,  selbst  tagelang  in  Form  von  taktmässigem  Hin-  und 
Herrotiren  um  die  Längsaxe,  Hin-  und  Herschleudern  des  Kopfes  an- 
dauern. Zeitweise  Erschöpfungspausen  oder  auch  Remissionen,  bei 
fortbestehender  Bewusstseinsstörung. 

Die  Anfälle  lösen  sich,  indem  sie  durch  einen  mehrtägigen  Dämmer- 
zustand hindurchgehen,  in  welchem  Pat.  grossen  Sammeldrang  zeigt, 
in  den  Spucktrögen  wühlt,  deren  Inhalt  in  den  Mund  zu  stecken  be- 
müht ist  und  sehr  reizbar  ist. 

Für  die  Krankheitserlebnisse  hat  Pat.  nur  eine  höchst  summarische 
Erinnerung.  Morphiuminjectionen ,  Bäder  und  Digitalis  mildern  die 
Intensität  der  Anfälle,  ohne  sie  abzukürzen.  AVird  Morphium  bei  den 
ersten  Anzeichen  des  nahenden  Anfalls  angewendet,  so  gelingt  es  nicht 
selten,  denselben  zu  coupiren. 

Intervallär  bietet  der  geistig  bedeutend  geschwächte  Kranke  ein 
haltloses  läppisches  Wesen  und  grosse  Reizbarkeit.  Die  Anfälle  sind 
in  den  letzten  2  Jahren  seltener  geworden,  ohne  ihren  Charakter  zu 
ändern.  Nie  konnten  während  7 jähriger  Beobachtung  epileptische 
Sj'mptome  irgend  welcher  Art  constatirt  werden. 

Beob.  2.  Lovisa,  38  J.,  verheirathet,  Maurer  aus  Italien,  wurde 
am  6.  10.  1875  aufgenommen.  Die  Anamnese  ist  auf  Pat.  beschränkt, 
der  erbliche  Anlage  und  epileptische  Antecedentien  bestimmt  in  Ab- 
rede stellt,  Er  giebt  an,  von  jeher  sehr  regen  Geschlechtstrieb  gehabt, 
denselben  seit  dem  10.  Jahre  durch  Onanie  befriedigt,  später  viel  an 
Pollutionen  gelitten  zu  haben.  Auch  nach  seiner  Verehelichung  habe 
ihm  die  Frau  nicht  genügt  und  habe  er  sich  theils  bei  anderen 
Weibern,  theils  durch  Onanie  befriedigen  müssen.  Vom  15.  Jahre  an 
habe  er  auch  stark  zu  trinken  angefangen,  Schnaps  und  Rum,  zu- 
weilen für  einen  Gulden  täglich  vertrunken.    Pat.  bietet  auch  den 


in  Form  yon  Delirium.  125 

echten  Habitus  des  Potators.  Er  will  früher,  bis  auf  Variola  im 
16.  Jahre,  gesund  gewesen  sein.  Die  linke  Hand  verlor  er  durch  Un- 
vorsichtigkeit beim  Holzschneiden. 

Ende  September  1875  wurde  Pat.  ungewöhnlich  heiter,  gesprächig 
und  geschäftig.  Am  4.  Tage  fand  man  ihn  Morgens  jubilirend  und 
auf  einer  Wiese  herumtanzend.  Er  that  dies,  weil  ihm  die  hl.  Drei- 
faltigkeit erschienen  war  und  er  Christus  durch  Tanzen  für  sich  ge- 
winnen wollte.  Bei  der  Aufnahme  grosse  Bewusstseinsstörung,  delirant, 
verworren  —  der  Kaiser  habe  ihn  hierher  geschickt,  er  sei  im  Namen 
Christi  gekommen.  Er  singt,  schreit,  tanzt,  die  Stimmung  wechselt 
ehenso  wie  die  Apperception  im  Handumdrehen.  Er  verkennt  bald 
die  Umgebung  feindlich,  schreit,  heult,  tobt,  wird  aggressiv,  bald  ist 
er  sehr  devot,  begeistert,  glücklich  und  hält  den  Arzt  und  Wärter 
für  Engel,  Heilige. 

Pat.  ist  schlaflos,  congestiv,  mimisch  tief  verstört.  Herztöne 
schwach,  dumpf,  der  Puls,  meist  40,  übersteigt  nie  50  Schläge  und  ist 
tard.  Schmaler,  fliehender  Stirnschädel,  der  rechte  Mundfacialis  pare- 
tisch,  leichtes  Zittern  der  Hände  und  der  Zunge.  Der  Verlauf  bewegt 
sich  in  Remissionen,  in  welchen  er  singt,  in  Lustaffecten  bis  zur  Ek- 
stase schwelgt,  vorübergehend  auch  zornige  Affecte  bietet,  und  in 
Exacerbationen  mit  verworrener  Gedankenflucht,  Schmieren,  Zerreissen, 
Zerstören.  Pat.  geht  durch  einen  Zustand  psychischer  Umdämmerung 
mit  maniakalischen  Elementen  und  auffälliger  Reizbarkeit  in  den  Stat. 
quo  ante  zurück. 

Solche  Anfälle  wiederholen  sich  typisch  congruent  in  Zwischen- 
räumen von  5  Tagen   bis  einigen  Wochen  und  dauern  3 — 4  Wochen. 

Sie  beginnen  mit  Schlaflosigkeit,  grösserer  Reizbarkeit,  Unstetig- 
keit,  gedrückter  Stimmung,  die  damit  motivirt  wird,  dass  die  für  Heilige 
gehaltenen  Personen  der  Umgebung  die  Befehle  Christi  nicht  achten. 
Er  bittet  um  Verzeihung  für  die  Umgebung.  Nach  2tägiger  Dauer 
dieses  gedrückten  Zustands  wird  Pat.  begeistert  bis  zur  Ekstase.  Sein 
Bewusstsein  sinkt  auf  traumhafte  Stufe,  sein  Gedankenablauf  wird  be- 
schleunigt bis  zur  Verworrenheit.  Er  glaubt  sich  im  Paradies,  sieht 
den  lieben  Gott,  unterhält  sich  mit  den  Engeln,  weint,  lacht,  tanzt, 
singt,  küsst  den  Boden,  zerreisst  Kleider,  gestikulirt  als  Reaction  auf 
diese  Visionen  und  Delirien.  Endlich  geht  er  durch  den  erwähnten 
Dämmerzustand  in  den  ruhigen  zurück. 

Pat.  corrigirt  intervallär  nicht  seine  deliranten  Erlebnisse,  für  die 
er  eine  ziemlich  getreue  Erinnerung  besitzt.  Er  schildert  seine  Para- 
diesesvisionen, das  Glück,  Christus  zu  sehen.  Wenn  er  seine  Kleider 
zerreisse,  so  geschehe  es,   um  sich  wie  Christus  anzuziehen;  wenn  er 


126  Ueber  idiopathisches  periodisch  wi  äderkehrendes  Irresein 

zornig  sei,  so  verfolgten  ihn  die  armen  Seelen,  die  er  über  sich  sehe 
und  deren  Stimmen  er  höre.  Auch  im  intervallären  Zustand  vermag 
Pat,  jederzeit  das  Paradies  als  einen  Blumengarten  vor  sich  zu  sehen. 
Er  geräth  dabei  in  Entzücken,  küsst  das  vermeintliche  Paradies 
(den  Boden)  und  wundert  sich,  dass  es  die  Anderen  nicht  auch 
sehen.  Auch  andere  Vorstellungen  kann  er  plastisch  vor  sich  sehen, 
jedoch  bedarf  es  dazu  längeren  Schliessens  der  Augen  und  einiger 
Anstrengung. 

Morphiuminjectionen  wirkten  auffallend  günstig  und  vermochten 
seit  Anfang  1879  die  Anfälle,  wenn  rechtzeitig  vorgenommen,  zu  cou- 
piren. 

Unter  dieser  Behandlung  blieb  sogar  Pat.  vom  18.  3.  an  bis  zum 
Tage  seiner  Heimverbringung  (6.  10.  1879)  von  ferneren  Anfällen  frei. 

In  der  4jährigen  Anstaltsbeobachtung  wurden  nie  epilepsieartige 
Symptome  beobachtet. 

Beob.  3.  Petrosch,  26  J.,  ledig,  Apotheker,  stammt  von  einem 
schwindsüchtigen  Vater,  dessen  Bruder  und  Schwester  irrsinnig  waren. 
Pat,  war  als  Kind  schwächlich,  so  dass  man  an  seinem  Aufkommen 
zweifelte,  litt  bis  zum  11.  Jahre  an  allgemeinem  Jucken  und  Haut- 
brennen, war  gut  begabt,  aber  von  düsterem  melancholischem  Tempera- 
ment, In  der  Schule  soll  er  nach  dem  Zeugniss  eines 
Kameraden  wiederholt  epilepsieartige  Anfälle  gehabt 
haben.  In  den  Schuljahren  geistige  Ueberanstrengung  und  Kummer 
über  unglückliche  Familienverhältnisse.  Schon  damals  will  Pat.  oft 
Gefühl  und  Furcht  irrsinnig  zu  werden  gehabt  haben.  Mit  17  Jahren 
schwere  „Meningitis"  Einige  Monate  nach  dieser  acuten  cerebralen 
Erkrankung  1.  Anfall  von  Irresein,  dem  bis  Frühjahr  1875  14  gleich- 
artige von  14—20  Tagen  Dauer  folgten. 

Am  31.  5.  1875  liess  sich  Pat.  zu  einem  Kurversuch  in  der  Irren- 
anstalt aufnehmen. 

Pat,  ist  schlank,  von  rachitischem  Thorax  und  Schädel.  Der 
Descensus  testiculi  fehlt  rechterseits.  Massiger  Grad  von  Staphylom 
auf  beiden  Augen.  Epileptische  Antecedentien  irgend  welcher  Art 
stellt  Pat.  in  Abrede,  Onanie  kann  ausgeschlossen  werden. 

Aus  der  Anamnese  geht  hervor,  dass  die  früheren  Anfälle  nicht 
streng  periodisch  und  meist  im  Anschluss  an  Gemüthsbewegungen  auf- 
traten. Als  Prodromi  sollen  Schlaflosigkeit,  träumerische  Versunken- 
heit,  Obstipation,  Fluxion  zum  Gehirn,  verglastes  Auge,  stierer  Blick 
während  mehrerer  Tage  bemerkbar  gewesen  sein.  Rasch  erreichte  dann 
Pat,  die  Höhe  des  Anfalls,  in  welchem  Fluxion,  Verstopfung,  Schlaf- 


in  Form  von  Delirium.  127 

losigkeit,  Sprachlosigkeit,  Gangtreten,  impulsive  Acte,  wie  z.  B.  Würgen 
der  Umgebung,  Zerstören  von  Fensterscheiben  besonders  auffällig 
waren.  Pat.  will  in  diesen  Anfällen  das  Bewusstsein  nie  ganz  ver- 
loren haben.  Er  habe  jedesmal  schreckliche  Bilder  von  Krieg,  Schlachten 
gehabt,  sich  für  einen  Feldherrn  gehalten  und  gemeint,  er  müsse  Krieg 
führen,  um  seinem  Vaterland  zur  früheren  Machtstellung  zu  verhelfen. 
Die  Anfälle  lösten  sich  plötzlich. 

Intervallär  fiel  ein  Zug  von  Bigotterie,  Vorliebe  für  Bibelstudium, 
scheues,  in  sich  gekehrtes  Wesen  bei  dem  Kranken  auf.  Er  meinte, 
er  lebe  für's  Jenseits,  klagte  auch,  dass  sein  Gedächtniss  und  Auf- 
fassungsvermögen nothgelitten  habe.    Häufig  auch  Kopfweh. 

Bis  zum  2.  12.  1875  bot  Pat,  nichts  weiter  Auffälliges  und  be- 
sorgte zur  Zufriedenheit  die  Hausapotheke.  Von  da  bis  zum  12. 12.  1875, 
ferner  von  26.  9.  bis  3.  10.  1876,  vom  31.  10.  bis  6.  11.,  vom  7.  bis 
13.  12.  1876,  vom  8.  1.  bis  18.  2.  1877,  vom  24.  1.  bis  28.  1.  1878 
wurden  Anfälle  beobachtet,  die  typisch  congruent  waren. 

Sie  begannen  mit  Schlaflosigkeit,  sentimentaler  Stimmung,  in 
welcher  Pat.  seinen  Leidensgefährten  Geld,  Cigarren,  Bücher  schenkte. 
Dann  kam  Gedankendrang,  der  sich  immer  mehr  steigerte,  Thätig- 
keitsdrang,  in  welchem  sich  Pat.  gehoben,  wie  von  einer  höheren  Macht 
zu  Arbeitsleistungen  angespornt  fühlte.  Er  machte  dann  weit  über 
sein  Vermögen  gehende  Bestellungen  von  Büchern,  Zeitschriften,  kramte 
in  Büchern,  Effecten,  bis  Alles  in  grösster  Unordnung  war. 

Der  eigentliche  Paroxysmus  trat  dann  binnen  2  Tagen  und  ziem- 
lich plötzlich  ein.  Pat.  wurde  mimisch  tief  verstört,  gerieth  in  einen 
tiefen  Dämmerzustand.  Der  Blick  war  stier,  die  Bulbi  anästhetisch, 
die  Pupillen  mydriatisch,  die  Augen  weit  aufgerissen,  der  Puls  klein, 
frequent,  die  Arterie  eng  contrahirt,  die  Extremitäten  kalt,  cyanotisch. 

Pat,  verharrte  stundenlang  starr  auf  einem  Fleck,  dann  kamen 
wieder  motorische  Erregungszustände,  in  welchen  er  sang,  pfiff,  gri- 
massirte,  laut  auflachte,  herumtanzte,  zwangsmässig  auf  dem  Corridor 
auf-  und  ablief,  die  Kranken  stiess,  schlug,  auf  allen  Vieren  herumkroch, 
unter  dem  Billard  Schwimmbeweguugen  machte.  Andauernde  Stumm- 
heit und  Schlaflosigkeit,  oft  ganz  verklärtes  Gesicht. 

Die  Lösung  der  Anfälle  war  eine  plötzliche  unter  Aufhellung  des 
Bewusstseins,  Weich-  und  Vollwerden  des  Pulses  und  wiederkehrender 
normaler  Circulation  in  den  Extremitäten. 

Pat,  erinnerte  sich  ziemlich  treu  der  Krankheitserlebnisse.  Sie 
waren  immer  dieselben.  Zuerst  kamen  Liebesgedanken,  dann  fühlte 
er  sich  als  Arzt,  der  Visiten  mache,  dann  als  Kathgeber  Sr.  Majestät 
oder  eines  hohen  Kirchenfürsten,  endlich  als  Feldherrn  und  Kaiser, 


128  lieber  idiopathisches  periodisch  wiederkehrendes  Irresein 

der  Schlachten  schlage.  Die  Umgebung  wurde  für  hohe  kirchliche 
und  politische  Würdenträger  gehalten.  Eine  Motivirung  der  impul- 
siven Acte  vermochte  Pat.  nicht  zu  geben.  Ein  wirrer  Gedankendraug 
machte  den  Inhalt  seines  Bewusstseins  aus.  Hallucinationen  habe  er 
dabei  nicht  gehabt. 

Nach  den  Anfällen  fühlte  sich  Pat.  jedesmal  noch  einige  Tage 
matt,  erschöpft,  empfindlich  gegen  Lärm,  menschenscheu,  etwas  ge- 
drückt, wehmüthig. 

Vom  2.  3.  1877  bis  22.  1.  1878  nahm  Pat.  täglich  6,0  Bromkali. 
Die  Anfälle  blieben  während  dieser  Zeit  aus,  aber  eine  grosse  Im- 
pressionabilität,  zeitweise  Morosität  und  Gereiztheit  machten  sich  da- 
für bemerklich.  Als  Pat.  das  Mittel  aussetzte,  stellte  sich  sofort  wieder 
ein  Anfall  ein.  Wiederholt  wurde  von  Morphiuminjectionen  eine  in- 
tensitätsmildernde und  abkürzende  Wirkung  beobachtet. 

Am  26.  2.  1878  wurde  Pat.  nach  seiner  heimathlichen  Irrenanstalt 
versetzt.  Dort  kehrten  (ohne  Bromkali)  die  Anfälle  in  Intervallen  von 
1  Monat  7  Mal  wieder.  Pat.  entschloss  sich  von  Neuem  zu  Bromkali. 
Abermaliges  Ausbleiben  der  Anfälle. 

Beob.  4.  Bratschko,  51  J.,  ledig,  Zimmermann,  wurde  am  23.  4. 
1878  in's  Spital  gebracht,  da  er  durch  ganz  verworrene  Eeden  und 
Handlungen  im  Gasthaus  auffällig  geworden  war. 

Pat,  ist  gross,  der  Schädel  normal,  ohne  Spuren  einer  Verletzung, 
die  Miene  verworren,  ganz  entstellt.  Ausser  Lungenemphysem,  einer 
Schankernarbe  am  Penis  und  Hypospadie  findet  sich  am  Körper  nichts 
Bemerkenswerthes.  Pat.  befindet  sich  in  einem  eigentümlichen 
Dämmerzustand  und  ist  sehr  verworren.  Er  behauptet,  seit  5  Tagen 
schon  hier  zu  sein  im  Krankenhaus,  wo  die  Menschen  geschlachtet 
werden.  Man  möge  ihn  doch  lieber  assentiren,  als  aufhängen  oder 
köpfen.  Er  habe  3  Söhne,  der  dritte  sei  er  selbst.  Sein  Vater  habe 
ihn  verhext,  in  ein  Pferd  verwandelt  und  verkauft.  Pat.  dämmert 
umher,  zeigt  Sammeldrang,  verkennt  oft  die  Umgebung  feindlich,  faselt 
von  Getödtetwerden,  schimpft,  haut  um  sich. 

Anfang  Mai  tritt  eine  plötzliche  Lösung  dieses  eigentümlichen 
Dämmerzustands  ein,  für  den  Pat.  nur  eine  summarische  Erinnerung 
hat.  Er  giebt  an,  sein  Vater  sei  epileptisch,  höchst  jähzornig  gewesen 
und  habe  ihn  oft  geprügelt.  Er  selbst  sei  durch  einen  Fall  vom  Ge- 
rüst und  den  Schrecken  dabei  im  27.  Jahre  epileptisch  geworden,  habe 
in  der  Folge  öfters  convulsive  Anfälle  gehabt,  sei  auch  mit  21  Jahren 
einmal  kurze  Zeit  ganz  verwirrt  gewesen,  habe  getobt,  sodass  man  ihn 
binden  musste. 


in  Form  Ton  Delirium.  129 

Eingezogene  Erkundigungen  ergaben,  dass  Pat.  seit  Jahren  herum- 
vagabundirte  und  wegen  Bettels  mehrfach  abgestraft  worden  war. 
Die  epileptischen  Antecedentien  sind  auf  die  Angaben  des  Pat.  be- 
schränkt. Die  1V2  jährige  Beobachtung  konnte  nie  etwas  der  Epilepsie 
Verdächtiges  ermitteln.  Jedoch  bietet  Pat.  intervallär  das  exquisite  Bild 
des  epileptischen  Charakters.  Er  ist  ein  moroser,  reizbarer,  jähzorniger, 
muckerischer,  augenverdrehender  Mensch,  der  vielfach  die  Thatsachen 
entstellt  wiedergiebt,  mit  der  Umgebung  beständig  in  Unfrieden  und 
Streit  lebt,  mit  Allem  unzufrieden  ist,  Alles  besser  versteht,  gleichwohl 
aber  die  christliche  Demuth  zur  Schau  trägt,  Gott  immer  im  Munde 
führt  und  sich  nie  von  seinem  Gebetbuch  trennt. 

Am  31.  10.  1878,  nach  schlafloser  Nacht  und  vorgängiger  grosser 
Reizbarkeit,  erschien  Pat.  mimisch  tief  entstellt  und  im  Bewusstsein 
schwer  gestört.  Er  erklärte  sich  für  den  Niemand,  für  einen  Papagei, 
der  durch  seine  vielen  Studien  zum  Narren  geworden  sei.  Nun  sei 
Alles  aus,  er  sei  der  Teufel.  Lebhafter,  tief  verworrener  Gedanken- 
drang. Pat.  schlägt  taktmässig  auf  die  Bank,  strangulirt  seineu  Penis, 
grimassirt,  steht  auf  einem  Bein,  nimmt  ganz  verzwickte  Stellungen 
ein,  rutscht  auf  dem  Boden  mit  gespreizten  Beinen  herum,  behält  ge- 
gebene Stellungen  bei,  liegt  auch  gelegentlich  wie  der  gekreuzigte 
Christus  auf  dem  Boden  da,  mit  zugekniffenen  Augen  und  aufgesperrtem 
Mund.  Andauernd  tiefer  Traumzustand  mit  feindlichem  Verkennen 
der  Umgebung,  offenbar  auch  schreckhaften  Hallucinationen.  Als  Re- 
action  auf  solche:  zeitweises  Schreien,  Stöhnen,  Poltern  an  der  Thür. 

Pat.  ist  schlaflos,  nimmt  wenig  Nahrung;  der  Puls  sehr  frequent, 
die  Bulbi  anästhetisch,  der  rechte  Mundwinkel  paretisch.  Durch  einen 
mehrtägigen  Dämmerzustand,  ganz  wie  das  erste  Mal,  findet  der  An- 
fall am  15.  11.  seine  Lösung.  Pat.  hat  nur  höchst  summarische  Er- 
innerung, motivirt  sein  verkehrtes  Treiben  mit  befehlenden  Stimmen 
und  heftiger  Angst.    Er  habe  gehört,  er  solle  gemartert  werden. 

Nach  wie  vor  der  reizbare,  unzufriedene,  querulirende,  arbeits- 
scheue, bigotte,  mit  der  gottlosen  Umgebung  unzufriedene,  hochmüthige 
Sünder,  der  am  liebsten  mit  dem  Gebetbuch  sich  herumtreibt. 

Am  9.  5.  1879  nach  mehrtägiger  gesteigerter  Morosität  und  Reiz- 
barkeit, sowie  Schlaflosigkeit,  wird  Pat.  wieder  tief  verworren,  mit 
ängstlich  verstörter  Miene  betroffen.  Er  hat  in  letzter  Nacht  ins  Bett 
urinirt  (!),  sich  in  die  Ohren  gestochen,  bietet  wieder  die  bekannten 
Zwangsstellungen,  und  Zwangsbewegungen,  bittet  die  Umgebung  um 
Entschuldigung,  dass  er  sie  umgebracht  habe,  titulirt  den  Arzt  Majestät, 
wähnt  sich  in  einer  kaiserlich  politischen  Anstalt,  brüllt  nach  dem 
Kaiser:  „warum  lässt  du  mich  so  martern,  Herr  Kaiser",  deutet  aufs 

Krafft-Eb  in  g,  Arbeiten  III.  9 


130  Ueber  idiopathisches  periodisch  wiederkehrendes  Irresein 

Bein,  das  solle  man  ihm  abschneiden,  oh  er  denn  der  B.  sei,  spricht 
wieder  vom  Abschlachten  u.s.w.,  ganz  wie  im  früheren  Anfall.  Traum- 
hafte Verworrenheit.  Pat.  schmiert  sein  Essen  herum,  wäscht  den  Penis 
in  der  Suppe,  beisst  oft  ganz  impulsiv  in  seine  Kleider,  macht  Purzel- 
bäume, steht  auf  dem  Kopf,  liegt  dann  wieder  regungslos  in  der 
Position  des  gekreuzigten  Christus  da,  macht  rudernde  Bewegungen, 
wie  wenn  er  auf  dem  Wasser  wäre. 

Am  23.  5.  stellt  sich  eine  mehrstündige  Eemission  mit  leidlicher 
Klärung  des  Bewusstseins  ein,  in  welcher  er  mittheüt,  dass  er  vor 
Angst,  ermordet  zu  werden,  und  über  einen  Feuerschein,  den  er  gesehen, 
so  unruhig  war. 

Nach  einem  mehrtägigen  Dämmerzustand,  in  welchem  der  Arzt 
wieder  als  Majestät  verkannt  wird,  ist  der  Anfall  am  2.  6.  vorüber. 

Am  6.  10.  neuer  Anfall,  der  bis  zum  21.  10.  dauert  und  im  Wesent- 
lichen ganz  gleich  den  früheren  sich  darstellt.  Pat.  ist  wieder  tief 
verworren,  mimisch  verstört.  Er  will  sich  die  Zähne  ausreissen,  krallt 
sich  ängstlich  am  Fenstergitter  an,  verlangt,  man  solle  ihm  die  Zunge 
lösen,  das  Glied  abschneiden,  weil  er  der  Schinder  war.  Er  verlangt, 
verbannt  oder  verbunden  zu  werden  im  Gebirg,  spricht  viel  vom 
Schlachten,  von  Feuer,  man  könne  ihm  den  Kopf  wegschneiden  und 
in  3  Tagen  sei  er  wieder  drauf.  Auf  der  Höhe  des  Anfalls  wieder 
die  Zwangsbewegungen  (Fensterrutschen,  Kopfstehen,  Purzelbäume, 
Ruderbewegungen  u.s.w.),  feindliche  Verkennung  der  Umgebung,  bis 
zur  Gewaltthätigkeit,  beschleunigter,  verworrener  Gedankenablauf,  der 
sich  um  Tod,  Blut,  Feuer,  Gottnomenclatur  und  Majestät  dreht. 

Pat.  spricht  viel  von  der  Mutter  Gottes,  er  sei  ein  Prophet  ge- 
wesen, nun  ein  Kaiser;  der  Kaiser  hat  heute  Nacht  die  Kaiserin  er- 
schossen, der  Arzt  wird  wieder  als  Majestät  begrüsst. 

Am  11.  mehrstündige  Remission,  in  welcher  momentan  die  Um- 
gebung erkannt  wird.  Dann  wieder  tiefe  Verworrenheit,  in  welcher 
Pat.  von   Blut,  Feuer,  Teufel,  von  Hand-  und  Fussabschneiden  faselt. 

Vom  14.  an  geht  der  Kranke  in  den,  den  Anfall  beschliessenden 
Dämmerzustand  über,  in  welchem  noch  ab  und  zu  von  Majestät,  Blut, 
Feuer  die  Rede  ist.  So  behauptet  er  u.  A.,  es  sei  nicht  seine  Schuld, 
dass  er  Zeuge  gewesen  sei,  wie  der  Vater  die  Mutter  gemordet  habe 
und  die  grosse  Blutlache  auf  dem  Boden  entstanden  sei. 

Bemerkenswertk  ist  noch,  dass  auf  der  Höhe  der  Anfälle  jedesmal 
die  Arterien  krampfhaft  contrahirt,  die  Extremitäten  kühl  und  leicht 
cyanotisch  waren  und  mit  der  Lösung  des  Anfalls  auch  der  Gefäss- 
krampf  sich  löste,  der  Puls  voller,  weicher,  die  Extremitäten  wieder 
warm  wurden. 


in  Form  von  Delirium.  J3J 

Beob.  5.  B.  G.,  26  J.,  verh.,  kathol,  Schneidergehilfe,  ist  sub- 
microcephal  (Schädelumfang  52),  imbecill,  kam  auf  die  Klinik  wegen 
eines  Aufsehen  erregenden  Vorfalls.  In  unsinniger  Folgegebung  eines 
Traums  (ein  weisser  Mann,  Abgesandter  Gottes,  erschien  ihm  und 
theilte  ihm  mit,  es  sei  Gottes  Wille,  dass  er  zum  Kaiser  reise,  den 
Monarchen  ums  Geld  bitte,  damit  er  lesen  und  schreiben  lerne  und 
damit  sein  Glück  mache)  war  Pat.  aus  Ungarn  nach  Wien  gereist  und 
hatte,  als  man  ihn  in  der  Hofburg  nicht  vorliess,  ein  Monument  er- 
klettert und  daselbst  geschrieen.  Pat.  corrigirte  bald,  blieb  ruhig, 
geordnet.  Er  berichtete,  dass  ihm  öfter  vom  Himmel  und  Flug  dahin 
träumte. 

Keine  epileptischen  Antecedentien. 

Am  24.  11.  wird  Pat.  plötzlich  unruhig,  beginnt  zu  schreien,  gesti- 
culiren  und  Schiessbewegungen  zu  machen.  Er  wird  rasch  höchst  ver- 
worren. Sein  Delir  bewegt  sich  nur  in  Gottnomenclatur  und  Maje- 
stätsdelirien. Er  schiesst  auf  Gott.  Gott  hat  es  erlaubt,  weil  ihn 
Teufel  umgeben.  Er  hat  auf  Befehl  des  Kaisers  Sonne,  Mond  und 
Sterne  anschiessen  müssen.  Pat.  ist  schlaflos,  mimisch  ganz  verstört, 
rennt  in  der  Zelle  herum,  macht  beständig  Schiessbewegungen  und 
schreit  dazu:  „Bum,  Bum." 

Episodisch  hält  er  seinen  Schatten  an  der  Wand  für  den  Teufel 
und  kämpft  mit  ihm.  Im  Uebrigen  Gottnomenclatur.  Majestätsdelir. 
Vorübergehend  Nahrungsweigerung,  weil  Gift  in  den  Speisen  sei.  Am 
26.  Abends  sieht  sich  Pat.  von  einer  Menge  rother  Köpfe  umgeben. 
In  der  Ecke  sieht  er  Jesus  Christus,  dessen  Blut  an  den  Wänden 
herabtrieft. 

Am  28.  11.  ist  Pat.  plötzlich  lucid.  Amnesie  für  den  ganzen 
Krankheitsanfall.  Nach  wie  vor  kein  Nachweis  von  epileptischer  Neu- 
rose möglich.  Mit  Rücksicht  auf  die  eigentümlichen  Delirien,  die 
enorme  Verworrenheit  im  Anfall  und  die  rothen  Phantasmen  wird 
gleichwohl  die  Diagnose  auf  Delir.  epilepticum  gestellt. 

Am  18.  12.  neuer  Anfall.  Vorwiegend  religiöses  Delir,  glaubt 
sich  im  Himmel;  gelegentlich  Majestätsdelir.  Schwere  Verworrenheit. 
Episodisch  Stupor.  Der  Gesammtanfall  dauert  9  Tage.  Plötzliche 
Lösung.    Amnesie. 

Bis  zum  22.  5.  1896,  wo  Pat.  nach  seiner  Heimath  reist,  noch  2 
solcher  Anfälle,  nie  aber  gewöhnliche  epileptische  Insulte. 

Beob.  6.  Rajakov,  Bauer,  aus  belasteter  Familie,  wurde  am 
3.  1.  1873  in  tobsuchtartiger  Aufregung  nach  der  Irrenanstalt  ge- 
bracht.   Nach  wenigen  Tagen  kam  er  zu  sich,   mit  völliger  Amnesie 

9* 


132  TJeber  idiopathisches  periodisch  wiederkehrendes  Irresein 

für  den  Anfall.  Die  Anamnese  ist  auf  Pat.  beschränkt,  der  bei  seiner 
Imbecillität  nichts  von  Belang  anzugeben  weiss. 

Pat.  ist  eine  degenerative  Erscheinung.  Schädel  leicht  micro- 
cephal,  Ohren  missgestaltet,  plumpe  geistlose  Gesichtszüge.  Pat.  bietet 
in  der  Folge  alle  4—5  Wochen  bis  10  Tage  dauernde  tobsuchtartige 
Erregungszustände,  die  plötzlich  einsetzen  und  sich  lösen.  Sie  sind 
typisch  übereinstimmend  und  beginnen  jedesmal  damit,  dass  Pat. 
brutal,  zornig  wird,  die  Umgebung  feindlich  verkennt.  In  die  Isolir- 
zelle gebracht,  fängt  er  an  sich  mit  Roth  am  ganzen  Körper  zu  be- 
schmieren, Alles  zu  zerreissen,  im  Stroh  zu  wühlen.  Toben,  Schreien, 
Lachen,  Heulen,  enorme  Verworrenheit  und  Bewusstseinsstörung  fanden 
sich  regelmässig  auf  der  rasch  erreichten  Höhe  des  Paroxysmus,  in 
welchem  Pat.  unnahbar  war,  offenbar  massenhaft  Hallucinationen  hatte. 

In  der  Zwischenzeit  bestand  grosse  Reizbarkeit,  geistige  Schwäche. 
Ab  und  zu  nächtliche  Visionen  von  Thieren. 

Obwohl  die  Anfälle  den  Zuständen  des  grand  mal  der  Epilepsie 
sehr  nahe  standen,  waren  nie  auf  solche  hinweisende  Erscheinungen 
zu  entdecken. 

Von  Mitte  1896  an  hörten  die  Anfälle  auf,  auch  die  intervallären 
Symptome  besserten  sich  auffallend. 

Am  22.  10.  1877  wurde  Pat.  genesen  entlassen. 

Hinterher  erfuhr  man,  dass  bei  dem  seit  10  Jahren  verheiratheten 
Pat.  schon  im  ersten  Jahr  der  Ehe  seine  Frau  etwa  jeden  Monat  ein- 
mal im  Schlaf  eine  kurz  dauernde  tonische  Streckung  des  Körpers 
mit  eingeschlagenen  Daumen  bemerkt  hatte.  Am  folgenden  Tag  war 
er  dann  jedesmal  etwas  verwirrt  und  klagte  über  heftigen  Kopfschmerz. 
Diese  epileptischen  Anfälle  waren  mehrere  Jahre  nicht  mehr  be- 
obachtet worden,  bis  eines  Tages  der  tobsuchtartige  Anfall  sich  ein- 
stellte; Pat.  ist  seit  der  Entlassung  von  solchen  frei  geblieben. 

Beob.  7.  Kl.,  Bäcker,  18  J.,  stammt  von  trunksüchtigem  Vater, 
hatte  nie  schwere  Krankheiten,  keine  Convulsionen,  war  kein  Trinker 
und  bis  zum  14.  Jahr  ganz  unauffällig  gewesen.  Vor  4  Jahren 
(Pubertät)  bot  er  ohne  allen  Anlass  einen  erstmaligen  psychischen 
Erkrankungszustand,  in  welchem  er  schwer  verwirrt  war,  episodisch 
nicht  essen  wollte,  weil  es  Gott  verboten  habe.  Nach  10  Tagen  kam 
Pat.  mit  summarischer  Erinnerung  für  diesen  Anfall  zu  sich.  Seither 
hatte  Pat.  in  Pausen  von  10—12  Monaten  noch  4  solcher  Anfälle 
gehabt. 

Am  7.  7.  1882  war  er  neuerlich  erkrankt.  Er  kam  verwirrt,, 
schreiend  von  der  Arbeit  heim,  zerschlug  Fenster,  rannte,  vom  Vater 


in  Form  Ton  Delirium.  ^33 

zurechtgewiesen,  planlos  fort.  Am  10.  kam  aus  einer  benachbarten 
Gemeinde  das  Ersuchen,  den  Pat.  heimzuholen,  da  er  geisteskrank  sei. 
Man  fand  ihn  verwirrt,  aufgeregt,  vorübergehend  tobend,  brachte  ihn 
am  11.  7.  auf  die  Klinik  in  Graz.  Pat.  geht  verwirrt,  delirant  zu. 
Er  poltert  an  die  Thüre,  klettert  beständig  auf  das  Fenstergesims, 
gesticulirt,  erklärt  sich  mit  Pathos  für  Christus,  den  Arzt  bald  für 
einen  Bischof,  bald  für  den  Kaiser. 

Sehr  wechselnde  Stimmung.  Andauernd  schwere  Bewusstseins- 
störung.  Auffällige  Gereiztheit.  Nachts  schlaflos.  Pat.  ist  nach  wie 
vor  Christus,  der  Arzt  der  Kaiser. 

Am  14.  setzen  psychomotorische  Eeizerscheinungen  ein  — 
Lippenspitzen,  Zungenschnalzen,  Zähneknirschen.  Kein  Fieber,  keine 
Fluxion. 

Am  15.  plötzliche  Lösung  des  Zustandes.  Pat.  hat  summarische 
Erinnerung,  berichtet,  dass  er  schon  4  solche,  im  Inhalt  der  Delirien 
und  Hallucinationen  gleiche,  aber  kürzer  dauernde  Anfälle  gehabt 
habe.  Sie  seien  jeweils  durch  heftige  Oongestionen  zum  Kopf  ein- 
geleitet gewesen.  In  diesen  Anfällen  sah  er  den  Himmel,  bekränzt 
mit  Rosen,  Engel  machten  schöne  Musik.  Alles  war  weiss  und  überall 
roch  es  nach  Rosen  und  himmlischem  Duft.  Die  Mutter  Gottes  er- 
schien ihm  und  verkündete,  dass  er  als  zweiter  Christus  auf  die  Welt 
gekommen  sei. 

Ausser  schmalem  niederem  Stirnschädel  bot  Pat.  keine  Abnormitäten. 

Er  wurde  am  20.  8.  1882  genesen  entlassen. 

Am  2.  7.  1887  musste  Pat.  neuerlich  aufgenommen  werden.  Der 
Anfall  glich  dem  vorausgehenden,  jedoch  waren  episodisch  höchst  schreck- 
hafte Delirien  vorhanden,  in  welchen  er  tobte,  vor  Wuth  schäumte, 
um  sich  schlug,  sich  erwürgen  wollte,  hallucinatorische  Gestalten  auf 
dem  Fussboden  zerstampfte  und  dazu  rief  „ich  zertrete  dich.  Fallot, 
ich  lass  nicht  eher  ab  bis  die  schwarze  Schlange  zum  Vorschein  kommt". 
Verzweifelte  Kämpfe  gegen  diabolische  Spukgestalten.  Schwere  Be- 
wusstseinsstörung.  Nach  8  Tagen  plötzliche  Lösung  des  Anfalls. 
Höchst  summarische  Erinnerung.  Absolut  keine  Hinweise  auf  Epi- 
lepsie, weder  anamnestisch,  noch  in  der  folgenden  mehrwöchentlichen 
Beobachtung. 

Beob.  8.  H.,  32  J.,  Geistlicher,  wurde  am  9.  10.  1883  wegen 
Geistesstörung  aufgenommen.  Er  ist  erblich  belastet,  hat  ein  sinn- 
liches Temperament,  verfiel  früh  der  Masturbation,  litt  viel  unter 
Gewissenskämpfen  wegen  dieses  Lasters,  versuchte  vergebens  durch 
die  göttliche  Gnade  davon  los  zu  kommen,  litt  seit  Jahren  an  Neur- 


134  Ueber  idiopathisches  periodisch  wiederkehrendes  Irresein 

asthenia  sexualis,  galt  als  ein  excentrischer  Mensch,  zelotischer  Eiferer 
von  ganz  mystisch  religiöser  Richtung  und  hatte  schon  vor  1  Jahr 
einen  Anfall  von  mehrwöchentlicher  Geistesstörung  durchgemacht. 

Der  diesmalige  Anfall  hatte  plötzlich  mit  Kopfweh,  Schlaflosigkeit 
und  grosser  Gereiztheit  begonnen.  Am  Morgen  des  10.  10.  fiel  Pat. 
auf  durch  Unruhe,  Aufgeregtheit,  entstellte  Miene,  Drang  zu  beten. 
Er  murmelte  beständig  vor  sich  hin,  lachte  gelegentlich,  war  fluxionär, 
ohne  Fieber,  ohne  Zeichen  von  Angst.  Nach  schlafloser  Nacht,  trotz 
prolongirtem  Bad  und  Chloralhydrat ,  am  11.  10.  schwer  gestörtes 
Bewusstsein.  Massenhaft  Visionen  und  Stimmen  religiösen  Inhalts. 
Pat.  glaubt  sich  in  der  Ewigkeit,  der  frühere  H.  sei  verbrannt  worden. 

Am  16.  10.,  nach  gut  durchschlafener  Nacht,  plötzliche  Klärung 
des  Bewusstseins.  Sehr  summarische  Erinnerung  von  Strafgericht 
Gottes,  Kämpfen  mit  dem  Bösen,  Geruchshallucinationen,  Gefühlenr 
magnetischer  Durchströmung.  Pat.  klagt  noch  durch  einige  Tage  über 
lästigen  Gedankendrang  (Erethismus  cerebralis),  Hyperacusis,  Hyper- 
ästhesia  nervornm  vasorum,  sodass  er  seinen  Pulsschlag  im  ganzen 
Körper  empfinde.  Genesen  entlassen  am  24.  10.  Am  16.  11.  1893 
neuer  Anfall  —  wesentlich  gleich  dem  früheren  —  Singen  und  Beci- 
tiren  von  Psalmen,  Umherdämmern,  oft  ganz  verzückte  Miene,  dann 
wieder  schreckhaft,  gereizt.  Vom  20. — 22.  tiefer  Stupor.  Vom  22. 
ab  wieder  motorischer  Drang,  Singen,  religiöse  Delirien,  grosse  mimische 
Entstellung,  Grimassiren,  Zungenausrecken,  verzwickte  Stellungen  auf 
Grund  von  Hallucinationen. 

Am  29.  Anfall  vorüber.  Sehr  summarische  Erinnerung.  Für 
Epilepsie  nach  wie  vor  keine  Anhaltspunkte.  Genesen  entlassen.  An- 
fälle sollen  in  der  Folge  in  der  Heimath  wiedergekehrt  sein. 

Beob.  9.  W  K.,  36  J.,  ledig,  kathol,  Fassbinder,  liess  sich  am 
6.  6.  1876  im  Spitale  zu  Brück  a/M.  wegen  Schwindelanfällen  auf- 
nehmen. Das  Journal  berichtet,  dass  Pat.  an  „Gehirnl^perämie" 
leidend,  scheu,  schweigsam,  appetitlos  meist  zu  Bett  lag,  Schwindel 
beim  Bücken  klagte.  Die  1.  Pupille  war  erweitert.  Am  27.  verlangte 
er  seine  Entlassung,  weil  man  ihn  beleidige,  verspotte.  In  der  Nacht 
zum  30.  sprang  er  aus  dem  Bett,  kniete  nieder,  betete  laut,  küsste 
den  Boden,  verlangte  nach  einem  Geistlichen  und  betete,  ins  Bett  zu- 
rückgebracht, die  ganze  Nacht  hindurch.  Am  30.  wurde  er  hoch- 
gradig ängstlich,  aufgeregt  und  wollte  in  einen  Ziehbrunnen  springen. 

Bei  der  Aufnahme  am  30.  in  der  Grazer  psychischen  Klinik  ist 
er  dämmerhaft,  besitzt  für  seinen  Aufenthalt  im  Brucker  Spital  nur 
fragmentäre  Erinnerung,  appercipirt  schwer  und  unrichtig,  glaubt  sich 


in  Form  von  Delirium.  135 

in  einem  Wirthshaus ,  bricht  oft  in  Weinen  aus  und  greift  nach  der 
Herzgegend,  wo  es  ihm  weh  thue.  Er  klagt,  dass  er  in  der  letzten 
Nacht  sich  ganz  steif  gefühlt  habe  und  dass  Borsten  am  Körper 
überall  herausgewachsen  seien.  Er  ist  ruhig,  steht  dämmerhaft  herum. 
Grosse  Anämie,  Schädel  submicrocephal,  1.  Gesichtshälfte  und  1.  Hand 
kleiner  als  r.  L.  Pupille  erweitert.  Gute  Reaction.  Augenspiegel- 
befund negativ.  Andauernd  tiefer  Dämmerzustaud.  Stuhlt  ins  Bett, 
in  der  Meinung,  er  sei  auf  dem  Abort.  Nächtliches  angstvolles 
Schreien,  weil  das  Haus  umgedreht  werde.  Aengstlich,  gereizt,  schwer 
verworren.  Betet  einen  Mitpatienten  als  Christus  an.  Er  wolle  lieber 
ein  Thier  werden,  als  unseren  Herrgott  umbringen.  Gelegentlich 
Selbstanklagen,  gerirt  sich  als  bussfertiger  Sünder. 

Am  15.  7.  plötzliche  Lösung  des  Anfalls.    Summarische  Erinueruug. 

Mutter  ist  psychopathisch.  Pat.  war  kein  Trinker,  früher  gesund. 
1895  schwere  Commotio  cerebri  durch  Steinwurf  au  den  Kopf.  Seit- 
her „Schwiudelanfälle".  Nach  Genuss  eines  halben  Liters  Bier  einmal 
allgemeines  Zittern  und  Verwirrung  im  Kopf. 

Pat.  intervallär  reizbar,  oft  Kopfweh,  still,  scheu,  oft  betend  be- 
troffen. 

Am  3.  8.  neuerlicher  Dämmerzustand.  Kühle  Extremitäten,  eis- 
kalte Hände.  Pat.  betet  die  Umgebung  mit  Jammermiene  an.  Kopro- 
phagie.  So  durch  3  AVochen.  Dann  Lösung  des  Anfalls  nach  mehr- 
tägigem Stupor. 

Entlassung.  Am  19.  8.  1877  neuerlich  aufgenommen.  Wurde 
daheim  am  18.  plötzlich  aufgeregt,  brüllte,  schlug  um  sich.  Bei  der 
Aufnahme  im  Bewusstsein  schwer  gestört,  enorm  verworren,  gereizt. 
Hält  sich  für  einen  Soldaten.  Grosser  Gedankendraug,  Bewegungs- 
unruhe.  Schlaflos.  Lösung  des  Anfalls  plötzlich,  nach  mehrtägigem 
Stupor. 

10.  9.  Neuer  Paroxysmus.  Aufgeregt,  höchst  verworren.  Er- 
klärt sich  für  heilig.    Pfeifen,  Singen,  Beteu,  Brüllen. 

Episodisch  automatisch  impulsive  Acte,  Grimassiren,  stunden- 
langes Trommeln  mit  den  Fersen  auf  den  Boden,  Bajazzosprünge, 
Schwimmbewegungen.     Lösung  durch  Stupor  Anfang  October. 

Intervallär  moros,  reizbar,  viel  Kopfweh,  ab  und  zu  stundenweise 
stuporös. 

In  der  Folge  Anfälle  alle  4—6  Wochen,  von  8—22  tägiger  Dauer, 
typisch  gleich,  ausgezeichnet  durch  grosse  Verworrenheit.  Bewusst- 
seinsstörung,  Gereiztheit,  buntwechselnde  expansive  und  depressive 
Affecte,  Gottes-  und  Sünderdelirien,  Ansätze  zu  Bewegungsdrang,  der 
aber  durch  automatisch  impulsive  Acte  verdrängt  wird  und  sich  epi- 


♦ 
136  lieber  idiopathisches  periodisch  wiederkehrendes  Irresein 

sodisch  zu  motorischen  Reizerscheinungen  erhebt.  Jeweils  plötzliches 
Einsetzen  der  Anfälle  und  Ausklingen  derselben  durch  Stupor. 

Am  13.  8.  1877  wurde  ein  klassischer  Epilepsieanfall  beobachtet. 

Bromkali  war  erfolglos.  Der  Kranke  musste  einer  heimathlichen 
Irrenanstalt  zugeführt  werden. 


Das  klinisch  Entscheidende  an  diesen  Fällen  ist  die  Frage  nach 
ihrer  Zugehörigkeit  zu  dem  epileptischen  Irresein.  Ich  glaube,  in 
Uebereinstimmuug  mit  Pick  und  Morel,  diese  Frage  bejahen  zu  dürfen. 
Meine  Gründe  dafür  sind  folgende: 

Diese  psychopathischen  Zustände  von  kurzer  Dauer,  von  plötzlichem 
Einsetzen  und  jäher  Lösung,  mit  erheblicher  Trübung  des  Bewusst- 
seins  und  entsprechenden  Defecten  der  Erinnerung,  sind,  wie  analoge 
Bilder  des  transitorischen  Irreseins  überhaupt,  von  symptomatischer 
Bedeutung,  blosse  temporäre  Manifestationen  und  Reactionserschei- 
nungen  eines  dauernd  krankhaft  veränderten  Centralnervensystems. 
Die  Erfahrung  nöthigt  dazu,  Angesichts  solcher  Fälle,  in  erster  Linie 
an  die  epileptische  Neurose  zu  denken,  bei  der  ganz  Analoges  in  Ge- 
stalt somatischer  Anfälle  vorkommt.  Thatsächlich  entsprechen  die  be- 
schriebenen Paroxysmen  nicht  bloss  im  Verlauf  und  in  ihrem  eventuell 
serienartig  sich  wiederholenden  Auftreten  bekannten  Thatsachen  der 
Aeusserungsweise  epileptischer  Anfälle  überhaupt,  sondern  sie  zeigen 
auch  in  ihrem  Symptomendetail  auffällige  Uebereinstimmung  mit  be- 
kannten Erscheinungsformen  des  epileptischen  Irreseins,  im  Sinne  des 
postepileptischen  und  der  psychischen  Aequivalente. 

Neben  schwerer  Störung  des  Bewusstseins  in  Gestalt  von  Dämmer-, 
Traum-  und  selbst  Stuporzuständen,  vermissen  wir  nicht  die  enorme  Ge- 
reiztheit, das  aggressive,  selbst  impulsive  Handeln  solcher  Kranker,  die 
Erscheinungen  schwerer  Verworrenheit,  die  überaus  lebhaften  Hallu- 
cinationen,  die  eigenthümliche  Combination  von  schreckhaft  depressiven 
und  expansiven  Delirien,  unter  welchen  religiöse  und  Majestätsdelirien 
ganz  besonders  hervortreten  und  in  ganz  eigenartiger,  oft  geradezu 
absurder  Verquickung  mit  einander  erscheinen.  In  manchen  Fällen 
gesellen  sich  dazu  Pallor  und  Erscheinungen  von  Gefässkrampf.  Auf- 
fallend ist  hinsichtlich  der  Hallucinationen  die  Häufigkeit,  mit  welcher 
sie  sich  um  Blut,  Feuer,  überhaupt  um  Gegenstände  in  rother  Farbe 
drehen. 

Dazu  kommt  als  Hinweis  auf  eine  dauernde  Hirnveränderung 
dass  diese  Kranken  allmälig  schwachsinnig  werden  und  dass  ihre 
luciden  intervallären  Zeiten  nicht  rein  sind,   im  Gegentheil   geradezu 


in  Form  von  Delirium.  137 

Züge  aufweisen,  wie  wir  sie  am  Epileptiker  zu  finden  gewohnt  sind 
(grosse  Reizbarkeit,  Bigotterie,  Morosität,  zeitweise  Verstimmungen, 
epileptischer  Charakter  überhaupt). 

Schon  Morel,  dem  zur  klinischen  feinen  Beobachtung  ungewöhn- 
lich veranlagten  Forscher,  waren  derlei  Thatsachen  nicht  entgangen 
und  hatten  ihn  dazu  bestimmt,  diese  Zustände  für  zum  epileptischen 
Irresein  gehörig  zu  bezeichnen,  wobei  er  mit  Genugthuung  versichern 
konnte,  dass  bei  langer  und  unermüdlicher  Beobachtung  auch  wirk- 
lich der  Nachweis  der  epileptischen  Neurose,  die  bisher  verschleiert 
war,  gelang. 

Unter  den  von  mir  mitgetheilten  9  Krankheitsfällen  Hess  sich 
nur  in  4  derselben  anamnestisch  oder  in  der  Beobachtung  dieser  Nach- 
weis erbringen,  aber  die  Identität  des  Krankheitsbildes  in  den  übrigen 
Fällen  ohne  Nachweis  der  Epilepsie,  war  so  vollkommen,  dass  an  ihrer 
Zusammengehörigkeit  nicht  gezweifelt  werden  kann.  Es  kann  kein 
Zweifel  bestehen,  dass  solche  Anfälle  gerade  bei  Epileptikern  vor- 
kommen, die  seltene  und  milde  Anfälle  ihrer  Neurose  haben.  Die 
nächstliegende  und  berechtigte  Annahme  ist  die,  dass  in  den  Fällen, 
wo  der  Nachweis  der  Neurose  nicht  gelang,  irgendwie  geartete  und 
nach  Umständen  recht  unautällige  Insulte  (Absencen,  Vertigo  u.  dgl.) 
ühersehen  wurden. 

Die  Beobachtung  eines  Kranken,  selbst  in  einer  Krankenanstalt, 
kann  doch  keine  unausgesetzte  sein  und  die  Möglichkeit  nocturner 
Anfälle  nie  in  Abrede  gestellt  werden.  Die  Behauptung,  dass  ein  Epi- 
leptiker durch  viele  Jahre  von  Anfällen  seiner  Krankheit  verschont 
war,  ist  deshalb  cum  grano  salis  aufzunehmen.  Es  ist  nicht  denkbar, 
dass  die  epileptische  Neurose  sich  während  der  ganzen  Lebenszeit 
eines  Individuums  nur  in  psychischen  Insulten  (sog.  psychische  Epi- 
lepsie) äussere,  aber  larvirt  kann  die  Epilepsie  im  obigen  Sinne  lange 
bleiben.  Da  ist  es  denn  von  grossem  klinischen  Werth,  aus  den 
psychischen  Anfalls-  und  intervallären  Symptomen  die  Diagnose  machen 
zu  können. 

Bis  zu  einem  gewissen  Grad  wird  diese  auch  aus  dem  Erfolg 
einer  antiepileptischen  Therapie  (Brom)  eine  Stütze  finden.  Jedenfalls 
nähert  sich  in  den  besprochenen  Fällen  die  Wahrscheinlichkeitsdiagnose 
der  Gewissheit. 


HEBER  EPILEPTISCHE  PSYCHOSEN. 


Ueber  epileptische  Psychosen. 

Abgesehen  von  den  wohlbekannten  Bildern  transitorischer  psy- 
chischer Störung,  die  als  prä-,  postepileptische,  zuweilen  auch  als  frei- 
stehende Anfälle  beobachtet  werden,  abgesehen  ferner  von  den  Erschei- 
nungen epileptischen  Charakters,  die  als  Stigmata  der  Epilepsie  klinische 
Verwerthung  finden  und  der  im  Gefolge  der  Epilepsie  häufig  auftretenden 
Demenz,  der  Sommer,  Bourneville  und  d'Olier  eigentümliche  klinische 
Züge  vindiciren,  kommen,  jedoch  verhältnissmässig  selten,  bei  Epi- 
leptikern auch  genuine  und  selbständige  Psychosen  vor,  die  bisher 
nur  geringe  klinisch»  Würdigung  gefunden  haben.  Zur  Klarstellung 
des  Verhältnisses  dieser  Psychosen  zur  Epilepsie  soll  die  folgende  Studie 
einen  Beitrag  liefern. 

Eine  vorläufige  Uebersicht  der  vorhandenen  Literatur  und  Casuistik 
lässt  das  sich  ergebende  Material  unter  3  Rubriken  einorden: 

1.  epileptische  Neurose  nebst  ihren  (eventuell  auch  psychischen) 
Manifestationen  und  Psychose  finden  sich  ohne  irgendwelche  kli- 
nische Beziehung  bei  demselben  Individuum,  zeitlich  von  einander 
geschieden,  (blosse  Coincidenz). 

2.  psychische  irgendwie  geartete  Manifestationen  der  Epilepsie  und 
Psychose  bestehen  gleichzeitig  nebeneinander,  üben  in  Gestaltung 
der  Symptome  und  Verlauf  eventuell  Einfluss  aufeinander,  ohne 
aber  ihre  klinische  Selbständigkeit  und  Eigenart  zu  verlieren 
oder  gar  auf  ein  gemeinsames  ätiologisches  Moment  beziehbar  zu 
sein  (blosse  Combination). 

3.  die  vorhandene  Psychose  erscheint  bei  dem  Epileptiker  so  ab- 
weichend von  ihren  sonstigen  bekannten  Erscheinungs-  und  Ver- 
laufsweisen, vielfach  geradezu  so  mit  Eigenthümlichkeiten  des 
epileptischen  Irreseins  ausgestattet,  dass  sie  als  eine  specifische 
epileptische  Psychose  klinisch  angesprochen  werden  muss. 


142  Ueber  epileptische 

ad  1. 

Diese  Gruppe  bietet  kein  weiteres  unsere  Frage  nach  der  Existenz 
epileptischer  Psychosen  tangirendes  Interesse.  In  einer  Anzahl  der  hier- 
hergehörigen Fälle  scheint  bemerkenswerth,  dass  die  Psychose  sich  im 
Anschluss  an  epileptische  Insulte,  namentlich  serienartige  Häufung 
solcher  entwickelt  hatte.  Gnauck  (Entwickelung  der  Geisteskrankheiten 
aus  Epilepsie,  Archiv  f.  Psychiatrie  XII)  erwähnt  aus  der  älteren 
Literatur  Fälle  von  simpler  Hypochondrie,  Manie,  „Monomanie" 
(Esquirol),  von  Manie,  „delire  continuel",  religiöser  Melancholie  (Morel), 
Melancholie  mit  Selbstmord  (Griesinger)  von  allgemeiner  Paralyse 
(Westphal),  Zwangsvorstellungen  (Russell).  Nicht  selten  kommt  in 
dieser  Weise  simple  Paranoia  neben  Epilepsie  vor.  Gnauck  berichtet 
(op.  cit.)  in  Fall  1.  3  hierhergehörige  Beobachtungen. 

Analoge  Fälle  haben  Raab  (Wien.  med.  Wochenschr.  1882.  36.  37), 
Vejas  (Archiv  f.  Psych.  XVII  p.  118),  Buchholz  (über  chron.  Paranoia 
bei  epileptischen  Individuen  1895)  beschrieben.  Ich  selbst  habe  mehr- 
fach simple  Paranoia  neben  Epilepsie  beobachtet.  Auch  typische  Folie 
circulaire  habe  ich  gesehen,  gleich  wie  Samt  (Archiv  f.  Psych.  VI 
p.  189)  und  Falret  (Arch.  gen.  de  med.  1861  p.  471).  Die  Fälle  der 
letztgenannten  Autoren  betrafen  gewöhnliche  circuläre  Psychose,  jedoch 
waren  die  Uebergänge  der  einzelnen  Phasen  der  cyclischen  Krankheit 
durch  epileptische  Insulte  markirt. 

ad  2. 

Auch  Fälle  von  Combination  d.  h.  Coexistenz  von  epileptischem 
Irresein  mit  anderweitiger  Psychose  sind  mehrfach  in  der  Literatur 
verzeichnet.  Magnan  (de  la  coexistance  de  plusieurs  delires,  Archiv, 
de  Neurol.  1.  Jahrgang  Nr.  1)  liefert  deren  mehrere,  so  Fall  8  (epilep- 
tisches Irresein  mit  postepileptischem  Delirium,  daneben  Paranoia  mit 
Verfolgungs-  und  Grössenwahn.  Das  epileptische  Irresein  schwindet 
auf  Brombehandlung).  Fall  9  und  10  sind  dem  vorigen  ähnlich.  In 
Fall  11  schildert  Magnan  epileptisches  Irresein  in  Combination  mit 
solchem  in  Zwangsvorstellungen.  Sein  Fall  12  ist  eine  Combination 
von  epileptischem  Irresein,  zu  dem  später  Melancholie  und  Alkohol- 
delir  sich  hinzugesellen.  Nicht  selten  ist  combinirtes  Delirium  epilept. 
und  tremens  (eigene  Beobachtung  und  Magnan,  op.  cit.  Fall  1.  2.  3). 
Dann  fehlt  die  Erinnerung  für  die  epileptisch  deliranten  Erlebnisse, 
kann  aber  für  die  des  Del.  tremens  bestehen. 

Nicht  so  selten  ist  die  Combination  von  circulärer  Psychose  und 
epileptischem  Irresein.    Der  folgende  Fall  ist  ein  typischer. 


Psychosen.  143 

B  e  o  b.  1.  Circuläres  nicht  epileptisches  Irresein,  das  sich  in  langen 
Zustandsbildern  von  Melancholie  und  Manie  abspielt.  Vorausgehend 
und  intercurrent  Anfälle  von  epileptischem  Irresein  in  Form  von  Deli- 
rium, Stupor.1) 

Thür,  21  J.,  ledig,  Kutscherstochter,  stammt  von  einem  trunk- 
süchtigen Vater,  dessen  Schwester  melancholisch  war.  Pat.  hatte  in 
der  Zahnperiode  Convulsionen,  war  als  Kind  neuropathisch,  kränkelnd. 

Die  Menses  traten  mit  14  Jahren  ein.  Im  Anschluss  daran  Bleich- 
sucht, die  bis  zum  21.  Jahr  dauerte.  Mit  16  Jahren  bekam  Pat.  nach 
einer  Züchtigung  durch  den  Vater  ein  acutes  hallucinatorisches  Delir. 
Sie  wurde  ängstlich,  im  Bewusstsein  tief  gestört,  sprang  in  den  Fluss, 
sah  eine  Menge  Leute  auf  sie  eindringen,  auch  Pferde  sprengten  in 
Masse  gegen  sie  an.  Rasche  Lösung  des  Zustands  mit  summarischer 
Erinnerung, 

Ein  2.  Anfall  trat  mit  17  Jahren  ein,  der  Beschreibung  nach  eben- 
falls schreckhaftes  hallucinatorisches  Delir  (Tod  und  Teufel  waren  immer 
um  sie,  der  Vater  drohte  sie  mit  der  Hacke  zu  erschlagen,  sie  versuchte 
sicli  in  ihrer  Todesangst  zu  ersäufen,  erdrosseln).  Ein  3.  analoger  An- 
fall 1  Monat  nach  Ende  des  2.  von  14  Tage  Dauer.  Ein  4.  1876. 
In  diesem  Jahre  hatte  Pat.  auch  3  oder  4  Mal  allgemeine  klonische 
Krämpfe  mit  Verlust  des  Bewusstseins  gehabt. 

Im  Februar  1877  wurde  Pat,  nach  vorausgehenden  Convulsionen 
melancholisch.  Nach  5  monatlicher  Dauer  der  auf  den  Rahmen  einer 
Mel.  sine  delirio  beschränkten  psychischen  Störung  trat  ein  Umschlag 
in  Manie  ein.  Diesem  sollen  mehrere  epileptische  Anfälle  voraus- 
gegangen sein,  an  die  sich  ein  acuter  deliranter  tobender  Zustand 
(grand  mal?)  anschloss. 

Bei  der  Aufnahme  am  30.  11.  1877  war  Pat,  in  maniakalischer 
Exaltation.  Sie  bot  heitere  Stimmung,  neckisches,  ausgelassenes,  ero- 
tisches Wesen,  abspringendes  beschleunigtes  Vorstellen.  Sie  erzählte, 
dass  sie  seit  2  Monaten  so  glücklich  sei  und  immer  lustig,  weil  sie 
so  gesund  sei.  Pat.  war  ungemein  erotisch,  erzählte  von  ihren  Lieb- 
schaften, verliebte  sich  gleich  in  die  anwesenden  Aerzte,  die  so  schöne 
Herren  seien.  Sie  wollte  in  einem  Athem  Nonne  werden,  heirathen, 
zeigte  überhaupt  grosse  Begehrlichkeit  mit  wechselndem  Object,  schlief 
wenig,  störte  durch  nächtliches  Singen  und  Predigen.  Zur  Zeit  der 
Menses  steigerte  sich  das  sonst  im  Rahmen  einer  man.  Exaltation  sich 
bewegende  Krankheitsbild  vorübergehend  bis  zur  Höhe  einer  Tobsucht, 
Unter  Bromkali  gingen  die  Menses  jedoch  später  ohne  Exacerbation 


1)  Aus  dem  Lehrbuch  der  Psychiatrie  d.  Verf.  1.  Aufl.  Bd.  III.  Beob.  89. 


144  Ueber  epileptische 

vorüber.  Eine  tiefere  Störung  des  Bewusstseins  ist  während  dieser 
ganzen  maniakalischen  Periode  nicht  zu  bemerken.  Mit  Ausnahme 
eines  isolirten  epileptischen  Anfalls  am  8.  11.  1877  finden  sich  keine 
Beziehungen  zu  dieser  Neurose  vor. 

Ende  März  1878  klingt  die  Manie  ab.  Pat.  fängt  an  über  Schwere 
des  Kopfes,  grosse  geistige  Behinderung,  Unfähigkeit  zu  denken,  zu 
arbeiten,  zu  klagen.  Diese  Symptome  werden  für  Erschöpfungssym- 
ptome gehalten.  Noch  besteht  kein  Verdacht  auf  circuläres  Irresein, 
obwohl  die  lange  Dauer  des  angeblichen  melancholischen  Prodromal- 
stadiums und  das  Beharren  der  Manie  auf  der  Stufe  einer  maniaka- 
lischen Exaltation  einigermassen  verdächtig  erscheinen.  Anfang  April 
zeigt  sich  deutliche  melancholische  Depression,  die  sich  immer  mehr 
steigert.  Pat.  erklärt  sich  für  eine  grosse  Sünderin,  bittet  um  Ver- 
zeihung, hat  Präcordialangst,  möchte  gern  sterben,  ist  schlaflos,  mimisch 
sehr  verstört.  Gastrische  Störungen,  sehr  kleiner  Puls,  kühle  Hände. 
Vorübergehend  Vergiftungswahn.  In  dem  tief  melancholischen  Zustand 
zeigen  sich  stundenweise  manische  Elemente  (heitere  Laune,  Lachen, 
Gedankendrang,  Unstetigkeit). 

Ende  April  steigert  sich  die  Melancholie  bis  zu  einer  leicht  stupo- 
rösen  —  starre  ängstliche  Miene,  deutliche  Störung  des  Bewusstseins, 
grosse  Angst.  Die  Thermometermessungen  appercipirt  Pat.  als  Ver- 
suche sie  todtzustechen,  es  sind  Thiere  im  Bett,  sie  hat  kein  Geld, 
um  hier  zu  essen.  Einmal  plötzliches  Aufspringen,  sie  sei  ein  Hund 
und  müsse  Jemand  beissen. 

Vom  30.  4.  an  ändert  sich  die  Scene,  insofern  das  bisherige  melan- 
cholische Zustandsbild  eines  circulären  Irreseins  einem  bunten,  wahr- 
haft kaleidoskopischen  Wechsel  von  stuporösen,  deliranten,  depressiven 
und  expansiven  Zustandsbildern  weicht,  die  nur  eines  miteinander  ge- 
mein haben  —  grosse  Verworrenheit  und  Bewusstseinsstörung  und 
dadurch  an  bekannte  epileptische  Zustandsbilder  erinnern. 

Am  30.  4.  wird  Pat.  in  tiefem  Stupor,  mit  starrer  Gesichtsmaske, 
mit  weit  aufgerissenen  Augen  betroffen. 

Am  1.  5.  tanzt  und  singt  Pat.,  um  gleich  darauf  wieder  sich  für 
eine  grosse  Sünderin  zu  halten  und  den  Wunsch  zu  sterben,  zu  äussern. 
In  der  Folge  eigenthümlicher  Dämmer-Traumzustand,  in  welchem  in 
kaleidoskopischem  Wechsel  stundenlanges  Lachen,  Grinsen,  stuporöses 
reactionsloses  Daliegen,  tiefe  Depression  (einmal  mit  der  Motivirung, 
weil  der  Vater  auf  der  Bahre  liege)  auftreten,  jedoch  schreckhafte 
melancholische  Elemente  und  Stupor  vorwiegen.  Dabei  Temperaturen 
bis  38°,  rapider  Rückgang  der  Ernährung. 

Am   18.  5.  schreckhaftes  verworrenes  Delir,  ganz  wie  das  grand 


Psychosen.  145 

mal  Epileptischer.    Brüllen   und  Toben  als  Reaction  auf  schreckhafte 
Phantasmen.    Koprophagie. 

Am  20.  5.  wieder  tiefer  Stupor.  Zwischendurch  Auflachen.  In 
der  Folge  beständiger,  oft  binnen  Stunden  sich  vollziehender  Wechsel 
der  erwähnten  Zustandsbilder  bis  Anfang  December,  wo  Pat.  ruhig, 
geordnet  wird.  Dieses  Stadium  der  Lucidität  dauert  bis  18.  12.,  wo 
die  maniakalische  Phase  des  circulären  Irreseins  wieder  einsetzt.  Pat. 
ist  bis  auf  die  kleinsten  Züge  wieder  dieselbe  Persönlichkeit  wie  das 
erste  Mal.  Das  maniakalische  Stadium  dauert  mit  tiefen  Remissionen 
bis  Ende  Juli  1879.  Im  August  lucidum  intervallum,  das  bis  20.  10. 
1879  dauert  und  nur  zur  Zeit  der  Menses  von  ganz  ephemeren  theils 
leicht  manischen,  theils  melancholischen  Zustandsbildern  getrübt  wird. 
Im  Anschluss  an  die  Menses  setzt  am  21.  10.  die  maniakalische  Phase 
des  circulären  Irreseins  wieder  ein. 


Ein  ganz  eigenartiges  Bild,  im  Gegensatz  zum  vorausgehenden 
Fall  von  manisch-melancholischem  cyklischem  Irresein,  stellt  der  fol- 
gende dar,  insofern  an  Stelle  der  melancholischen  stuporöse  Zustands- 
bilder treten.  Diese  Form  des  circulären  Irreseins  ist  eine  seltene. 
Dittmar  erwähnte  sie  längst,  In  meinem  Lehrbuch  der  Psychiatrie, 
VI.  Auflage,  S.  428  ist  sie  beschrieben.  Sie  erscheint  mir  epilepsie- 
verdächtig, wie  überhaupt  das  stuporöse  Zustandsbild.  Bezügliche 
Beobachtungen  von  manisch-stuporüsem  Irresein  in  meinem  Lehrbuch, 
wie  z.  B.  Beobachtung  110  der  1.  Auflage  und  Beobachtung  35  der  G. 
bieten  weitere  Verdachtsmomente,  so  die  erstere,  wo  episodisch  Majestäts- 
und religiöses  Delir  auftritt,  die  letztere,  indem  das  Citiren  von  Bibel- 
stellen, Gottnomenclatur  neben  der  enormen  Verworrenheit  auffallen. 
Auffällig  sind  aber  auch  jene  eigenthümlichen,  in  der  stuporösen  Phase 
episodisch  vorkommenden  psycho-motorischen  Erregungszustände,  die 
in  ganz  gleicher  Weise  in  den  epileptisch-deliranten  kurz  dauernden 
Anfällen  und  in  den  protrahirten  psychischen  Aeguivalenten  der  Epi- 
leptiker sich  vorfinden. 

Beob.  2.    Cyklisches  manisch-stuporöses  Irresein. 

Joch.  G,  25  J.,  ledig,  Bauerntochter,  gelangte  am  15.  10.  1874  in 
meiner  Klinik  in  Graz  zur  Aufnahme.  Muttersmutter,  Mutter,  deren 
Seliwester  und  eine  Schwester  der  Pat.  waren  irrsinnig,  5  Geschwister- 
kinder theils  epileptisch,  theils  irrsinnig  gewesen. 

Pat.  war  geistig  schwach  veranlagt,  hatte  nie  Convulsionen  gehabt, 
ihre  Menses  mit  14  Jahren  bekommen  und  bald  nach  der  Pubertät 

Kral'ft-Ebing,  Arbeiten  III. 


146  Ueber  epileptische 

klassische  Anfälle  von  Epilepsie  geboten,  die  aber  nur  selten  wieder- 
kehrten. Im  Mai  1870  erkrankte  sie,  aus  unbekannter  Ursache,  an 
Tobsucht  nach  melancholischem  Vorstadium  und  genas  nach  7  Monaten. 
Dieser  Anfall  wiederholte  sich  1872  und  war  nach  2  Monaten  vorüber. 

Am  9.  10.  1874  setzte,  angeblich  nach  unmässigem  Genuss  von 
Wein,  prämenstruell,  ohne  melancholisches  Vorstadium,  ein  manischer 
Anfall  ein,  in  welchem  Pat.  zur  Aufnahme  gelangte.  Dieser  bot  von 
einer  gewöhnlichen  Manie  nicht  abweichende  Züge.  Somatisch  war, 
ausser  submicrocephalem  Schädel,  nichts  Abnormes  aufzufinden. 

Am  16.  10.  schlug  das  manische  Bild  plötzlich  in  ein  stuporöses 
um.  Pat.  verharrte  in  tiefem  Stupor  mit  kataleptiformem  Beibehalten 
von  ihr  gegebener  Posen,  mit  nur  ganz  spurweisem  temporärem  Freier- 
werden in  Bewusstsein  und  Motilität.  Sie  bekam  C3ranose  und  Oedem 
der  UE.,  Herzschwäche,  musste  gefüttert  werden. 

Am  27.  10.  schwerer  epileptischer  Insult,  mit  postepileptischer 
Verwirrtheit,  Schelten,  Aggression  von  ]/2  Stunde  Dauer,  ohne  Beein- 
flussung des  stuporösen  Zustandsbildes.  Vom  5. — 15.  11.,  unter  fort- 
dauerndem Stupor  und  katatonischem  Beibehalten  gegebener  Stellungen 
spontane  automatische,  impulsive,  vielfach  auch  imitatorische  Beweguugs- 
acte.  So  nickt  Pat.  tagelang  pagodenartig  mit  dem  Kopf,  macht 
allerlei  Zwangsbewegungen,  lacht  vor  sich  hin  und  bietet  zeitweise 
Nystagmus. 

Vom  15.  11.  bis  8.  12.  tobsüchtiges  Zustandsbild  (enormer  Be- 
wegungsdrang ,  sexuelle  Erregung,  Schmieren,  Zerreissen,  Zerstören 
u.  s.w.),  nur  ausgezeichnet  durch  triebartiges,  oft  geradezu  impulsives 
Gepräge  und  grosse  Bewusstseinsstörung. 

Am  8.  12.  ist  die  Erregung  wie  abgeschnitten.  Pat.  schwer  er- 
schöpft. Sie  erholt  sich  langsam  und  wird  am  24.  7.  1875  genesen 
entlassen. 

Neue  Aufnahme  am  22.  4.  1877  menstrual,  iu  schwerem,  ängst- 
lichem Stupor.  Schlaflosigkeit,  AVid erstand  bei  Nahrungsaufnahme. 
Nachlass  des  Stupor  am  25.  4. 

Pat.  referirt  von  schreckhaften  Stimmen  „nimm  sie  weg"  und 
Schattenbildern  (Gespenster  u.  dgl.j.  Abklingender  Stupor  bis  2.  5., 
dann  leichte  manische  Exaltation,  die  binnen  14  Tagen  abklingt.  Ge- 
nesen entlassen  am  22.  6.  1877. 

Neue  Aufnahme  am  31.  1.  1879  in  manischer  Erregung,  nach  mehr- 
tägigem Stupor  mit  kataleptiformem  Verhalten.  Bei  der  Aufnahme 
tobsüchtiges  Bild,  aber  grosse  Bewusstseinsstörung  und  wahrhaft  im- 
pulsives motorisches  Gebahren  (Purzelbäume,  Zungeausrecken  u.  s.  w.) 
neben  Ideenflucht,  Erotismus,  Salivation. 


Psychosen.  147 

Am  1.  2.  Umschlag  in  ängstlichen  Stupor.  Beantwortete  eine 
Frage,  wo  sie  sei,  mit  „in  der  Ewigkeit".  Diese  stuporöse  Phase 
dauert  bis  zum  1.  5.  Mitte  Februar  leichte  Eemission,  in  welcher 
man  erfährt,  dass  Teufel  sie  beunruhigen,  von  Hölle,  Verbrennen,  Er- 
schossenwerden reden.  Die  Umgebung  wird  für  Hebräer  gehalten, 
feindlich  verkannt.  Ende  Februar  bedeutende  Zunahme  des  Stupor, 
allgemeine  Anästhesie,  Mutismus,  muss  gefüttert  werden,  kataleptiforme 
Stellungen,  Nystagmus,  Pallor. 

Vom  27.  4.  ab  episodisch  Vorboten  des  kommenden  complemen- 
tären  Zustandsbildes  (Auflachen,  automatisches  Gangtreten,  raptus- 
weises Tanzen). 

Am  1.  5.  Tobsucht  —  schwere  Bewusstseinsstörung,  ganz  impul- 
sives Gebahren  —  Herumschiessen,  Purzelbäume,  Tischtrommeln,  Zunge- 
ausrecken — ■  neben  Verbigeriren,  Grimassiren  u. s.w. 

Vom  16.  5.  ab  bunter  Wechsel  von  stunden-  bis  tagelangen  stupo- 
rösen   und   tobsüchtigen  Zustandsbildern,   mit  enormer  Verworrenheit. 

Von  Ende  August  bis  zum  4.  11.  tiefe  Remission,  aber  doch  leicht 
stuporöses  Zustandsbild,  mit  nur  stundenweisen  manischen  Remini- 
scenzen  (Singen,  Lachen  u.s.w.). 

Vom  4. 11.  wieder  tiefer  Stupor,  mit  Krampfpuls,  Pallor  des  Gesichts, 
cyanotischen  ödematösen  UE.,  leichter  1.  Ptosis,  Mutismus.  Episodisch  Pat. 
etwas  freier,  dann  auch  einige  sprachliche  Aeusserungen.  Im  December 
2  Mal  ängstlich  delirante  Episoden  von  wenigen  Stunden  Dauer,  ohne 
Beziehung  zu  epileptischen  Symptomen,  die  seit  27.  10.  1874  nicht 
mehr  zur  Beobachtung  gelangten.  Pat.  delirirt  von  Abgeschlachtet- 
werden, Hölle,  Lebendigbegrabenwerden  u.  dgl. 

In  fortdauerndem  Stupor  Anfang  1880  Versetzung  in  eine  Siechen- 
anstalt. 

Aus  Mittheilungen  dieser  ergiebt  sich,  dass  das  Krankheitsbild 
bis  zu  dem  am  22.  2.  1882  an  „Herzlähmung"  erfolgten  Tode  der  Pat. 
sich  wesentlich  gleich  blieb,  aber  im  letzten  Lebensjahr  sich  Dementia 
entwickelte.  Wiederholt  beobachtete  man  noch  „syncopeartiges  Zu- 
sammenstürzen mit  tiefblassem  Gesicht,  dabei  Bewusstsein  auf  circa 
eine  halbe  Stunde  erloschen." 

ad  3. 
Die  folgenden  Blätter  sind  der  Untersuchung  gewidmet,  ob  es 
nicht  Psychosen,  d.  h.  selbstständige  psychische  Erkrankungen  von 
einiger  Dauer  und  abschliessendem  Verlauf  giebt,  die,  vermöge  ge- 
wisser Eigentümlichkeiten  ihrer  Symptomatik  und  ihres  Verlaufs,  Züge 
des  epileptischen  Irreseins  aufweisen  und  dadurch  von  gleichartigen, 

10* 


148  Ueber  epileptische 

sicher  nicht  auf  epileptischer  Grundlage  stehenden  Bildern  des  Irreseins 
gründlich  differiren. 

So  naheliegend  die  Vermuthung  ist,  dass  diese  Differenz  in  Be- 
ziehungen zu  einer  epileptischen  Neurose  ihre  Erklärung  finde,  wäre 
es  beim  gegenwärtigen  Stande  unseres  klinischen  Wissens,  speciell 
unserer  Kenntnisse  von  dem  diagnostischen  Werth  gewisser  Syndrome 
und  gewisser  Wahnideen  gewagt,  einen  solchen  Schluss  unter  allen 
Umständen  zu  ziehen.  Um  zu  einer  allmäligen  Klärung  dieser  Frage 
zu  gelangen,  welche  allerdings  einen  werth  vollen  diagnostischen  Fort- 
schritt bedeuten  würde,  indem  sie  die  ätiologische  Klarstellung  gar 
mancher  klinisch  dunkler  Krankheitsbilder  erschlösse,  gebietet  es  die 
Vorsicht,  nur  solche  Fälle  heranzuziehen,  bei  welchen  über  das  Vor- 
handensein von  Epilepsie  kein  Zweifel  obwaltet.  Dadurch  gewinnt 
die  klinische  Untersuchung  jedenfalls  eine  sichere  Grundlage,  aber  die 
Ausbeute  an  bezüglichen  Fällen  wird  empfindlich  geschmälert,  sodass 
der  Versuch,  aus  der  dürftigen  vorliegenden  Casuistik  Schlüsse  zu 
ziehen,  ernstlichen  Schwierigkeiten  begegnet. 

Unter  Verweisung  auf  meine  Studie  (S.  119)  über  „idiopathisches 
periodisches  Irresein  in  Form  von  Delirium",  das  ich  nunmehr  als 
eine  epileptische  Psychose  zu  bezeichnen  mich  berechtigt  glaube,  theile 
ich  zunächst  Fälle  von  Psychoneurose  bei  Epileptikern  mit,  die  ver- 
möge ihrer  Symptome  und  ihres  Verlaufes  eigenartig  sind  und  sicher 
Beziehungen  zur  gleichzeitig  bestehenden  Epilepsie  haben. 

Beoh.  3.    Mania  mitis   peracuta,  mit  epileptischen  Delirien   bei 

einem  Epileptiker.    Dieselbe  (psychische)  Aura  vor  den  manischen 

wie  vor  den  epileptischen  Anfällen. 

G.,  58  J.,  pens.  Beamter,  wurde  am  2.  12.  1892  auf  meiner  Klinik 
aufgenommen,  da  er  auf  offener  Strasse  durch  Knieen,  Beten  und  Ge- 
stikuliren sich  auffällig  gemacht  hatte.  Mutter  hatte  an  schwerer 
Migräne  gelitten.    Sonst  nichts  erblich  Belastendes  aufzufinden. 

Pat.  bietet  rachitisch  hydrocephalisches  Cranium,  hat  bis  zu  seinem 
8.  Lebensjahre  an  Convulsionen  gelitten.  Mit  10  Jahren  schwere 
Kopfverletzung,  mit  restirender,  am  Knochen  fixirter  Narbe  auf  dem 
1.  Scheitelbein.  Mit  13  Jahren  erster  Anfall  von  klassischer  Epilepsie. 
Mit  17  Jahren  erster  Anfall  von  Mania  mitis  acutissima  (heiterer  Er- 
regungszustand, Bewegungsdrang,  Dauer  einige  Stunden,  getreue  Er- 
innerung). Von  der  Pubertät  ab  bis  1891  Anfälle  von  Augenmigräne, 
etwa  1  Mal  monatlich. 

Pat.  war  von  weiteren  Krankheitserscheinungen  verschont  ge- 
blieben, hatte,  seit  seinem   34.  Jahre  in  kinderloser  Ehe  lebend,  eine 


Psychosen.  149 

gleichmässige  ruhige,  sorgenfreie  Existenz  gehabt  und  nur  massig  ge- 
trunken. Ohne  allen  Anlass  trat  1882  eines  Nachts  ein  Zustand  von 
religiös  expansivem  Delirium  ganz  plötzlich  auf.  Pat.  war  in  diesem 
etwa  17a  Tage  währenden  Zustand  sehr  erregt,  verworren,  schlaflos,  er- 
klärte sich  für  Adam,  seine  Frau  für  Eva,  sprach  beständig  vom 
Himmel,  in  welchen  ihn  der  hl.  Petrus  nicht  einlassen  wolle. 

Plötzliche  Lösung  des  Zustands.    Amnesie. 

Solche  Anfälle  wiederholten  sich  alle  paar  Jahre  in  typisch  con- 
gruenter  Weise  bis  1891. 

Von  nun  an  litt  Pat.  an  klassisch  epileptischen  Anfällen,  die  etwa 
alle  14  Tage  und  oft  serienartig  gehäuft  wiederkehrten.  Voraus  ging 
solchen  regelmässig  ein  Gefühl  unendlichen  psychischen  Wohlbehagens 
und  psychischen  Gehobenseins  (psychische  Aura).  Diese  Anfälle  kehrten 
in  der  bis  1896  reichenden  Beobachtungszeit  typisch  wieder. 

Als  Pat.  am  2.  12.  1892  aufgenommen  wurde,  bot  er  das  typische 
Bild  einer  hochgradigen  manischen  Exaltation,  die  sich  im  Verlauf 
vorübergehend  bis  zur  Höhe  der  Tobsucht  steigerte. 

Pat.  geht  in  übermüthig  heiterer  Stimmung  zu.  Er  motivirt  sie 
damit,  dass  er  ein  reicher  Mann  und  der  ewigen  Seligkeit  sicher  sei. 
Er  wird  sein  Vermögen  den  Armen  schenken,  um  Gott  wohlgefällig 
zu  sein.  Sein  Gesicht  strahlt  vor  Freude,  er  sucht  Jeden  zu  umarmen 
und  zu  küssen,  rühmt  seine  Gesundheit.  Kraft,  sein  Glück,  seinen 
Reichthum.  Man  solle  seine  Muskeln  bewundern,  er  habe  Riesenkräfte, 
sei  enorm  potent,  Vorübergehend  arg  obscön.  Pat.  geht,  läuft,  tanzt, 
springt  unaufhörlich.  Sein  Redefluss  ist  unerschöpflich,  Association 
und  Diction  äusserst  erleichtert.  Er  ergeht  sich  in  Knittelver.-en,  in 
denen  vielfach  von  Kraft  und  Glück,  vom  Kaiser  Josef,  von  Christus, 
vom  Teufel  die  Rede  ist,  Episodisch,  namentlich  auf  der  Höhe  des 
Anfalls,  zeigten  sich  Gottnomenclatur.  Majestätsdelir  und  Ansätze  zu 
schreckhaftem  Delir.  Auch  während  dieser  Episoden  ist  das  Bewusstsein 
nicht  getrübt  und  bleibt  Pat,  zeitlich  und  örtlich  vollkommen  orientirt. 
Er  erklärt  z.  B.,  er  sei  jetzt  im  Himmelreich,  der  eine  Arzt  ist  Kaiser 
Josef,  der  andere  Gott  Vater,  aber,  wenn  darüber  interpellirt,  erklärt 
er  dies  nur  zum  Spass  gesagt  zu  haben  und  wohl  zu  wissen,  dass  er 
in  der  Klinik  sei,  weil  ihm  wieder  einmal  ein  Radel  im  Gehirn  los- 
gegangen sei. 

So  bramarbasirt  er,  ohne  die  Selbstcontrole  zu  verlieren,  er  sei 
jetzt  im  Paradies,  sei  Adam,  seine  Frau  die  Eva.  der  jüngste  Tag 
sei  nahe,  er  habe  aber  nichts  zu  fürchten,  er  werde  bald  vor  dem 
lieben  Gott  stehen,  seine  Himmelfahrt  sei  nahe.  Der  Arzt  ist  Christus. 
Christus  war  auch  ein  Doctor.  hat  Blinde  sehend  und  Lahme  gehend 


250  Ueber  epileptische 

gemacht.  Er  selbst  war  schon  einmal  im  Paradies,  hat  dort  Aepfel 
gegessen.  Die  waren  aber  sauer  und  er  bekam  davon  stumpfe  Zähne. 
Jetzt  kommt  das  jüngste  Gericht,  er  sieht  schon  die  Engel  am  Himmel 
und  hört  sie  singen.  Gleich  wird  er  in  den  Himmel  auffahren.  Vorher 
muss  er  noch  geschwind  die  Todten  erwecken. 

Daneben  und  dazwischen  Majestätsdelir  —  hat  mit  dem  Kaiser 
Josef  zu  thun,  den  er  so  sehr  liebe,  muss  beständig  an  den  Kaiser 
Ferdinand  denken,  erzählt  Anecdoten  von  diesem  Monarchen. 

Ganz  flüchtig  tauchen  depressive  Vorstellungen  und  Sinnestäu- 
schungen auf  —  er  sieht  Bären,  die  nach  ihm  schnappen,  spürt,  dass 
der  Teufel  sich  nähert,  fürchtet  aber  nicht  den  Kampf  mit  diesem, 
Kaiser  Josef  wird  kommen  und  ihm  helfen. 

Solche  Anfälle  von  Manie,  mit  eingestreuten  Erscheinungen 
eines  epileptischen  Delirs  werden  bis  Anfang  1896  unzählige  beob- 
achtet, Sie  traten  in  den  letzten  Jahren  immer  häufiger,  bis  zu  6  in 
einem  Jahre  auf,  waren  bis  in  die  Details  einander  gleich,  nur  durch 
Intensitäts-  und  Dauerunterschiede  different,  Nie  zeigte  sich  ein  zeit- 
licher und  überhaupt  klinischer  Zusammenhang  mit  den  etwa  alle 
14  Tage  wiederkehrenden  epileptischen  Insulten,  ebensowenig  mit 
etwaigen  Migräneanfällen,  die  seit  1891  durch  die  epileptischen  geradezu 
vertreten  wurden. 

Aber  die  Aura  jener  manischen  Anfälle  war  die  gleiche  wie  die 
der  epileptischen. 

Pat.  berichtete  übereinstimmend  nach  solchen  manischen  Insulten, 
dass  plötzlich  ein  Gefühl  von  Glückseligkeit,  Freude,  grosser  Kraft 
und  Gesundheit  über  ihn  komme.  Da  dränge  es  ihn  dann  unwider- 
stehlich, sich  zu  entäussern,  aus  sich  herauszutreten.  Alles  komme 
ihm  dann  schöner  vor,  er  empfinde  die  ihn  umgebende  Natur  viel 
herrlicher.  Er  bekomme  dann  auch  wollüstige  Empfindungen  und  Ge- 
danken, fühle  sich  geschlechtlich  leistungsfähig  wie  ein  Zwanzigjähriger. 
Die  Dauer  dieser  Aura  betrage  bis  zu  Stunden.  Es  sei  gerade  so  wie 
vor  seinen  epileptischen  Anfällen.  Zuweilen  habe  er  diese  Aura  ge- 
radeso wie  vor  Anfällen,  ohne  dass  es  zu  solchen  komme.  Dieses 
ganz  unerklärliche  Wohlbefinden  und  Glückseligkeitsgefühl  dauern 
aber  in  solchem  Falle  höchstens  Minuten. 

Das  Eintreten  der  manischen  Anfälle  ist  ein  plötzliches,  wie  bei 
periodischen.  Die  Acme  wird  binnen  Stunden  erreicht.  Die  längste 
Dauer  jener  beträgt  3  Tage.  Regelmässig  geschieht  es,  dass  1 — 3  Tage 
nach  Lösung  des  Anfalls  ein  zweiter  und  zwar  gegen  Abend  erfolgt, 
der  milder  und  rascher  (abortiv)  binnen  16  Stunden  verläuft,  im 
Uebrigen  aber  eine  getreue  Copie  des  ersten  ist. 


Psychosen.  151 

Die  Lösung  des  Anfalls  vollzieht  sich  in  der  "Weise,  dass  Pat., 
der  bisher  schlaflos  war,  Abends  sich  noch  in  voller  Manie  zur  Buhe 
begiebt,  nach  gut  durchschlafener  Nacht  normal  erwacht  oder  indem 
während  des  letzten  Tages  der  manische  Erregungszustand  rasch 
abklingt. 

Danach  ist  Pat.  erschöpft,  klagt  über  grosse  Mattigkeit,  Abge- 
schlagenheit und  über  Kopfweh,  sitzt  stundenlang  ruhig  da,  verstimmt 
über  die  beständige  Wiederkehr  seines  Leidens  und  hat  grosses  Schlaf- 
bedürfniss. 

Jeweils  im  Status  retrospectivus  ergiebt  sich,  dass  Pat.  treue  Er- 
innerung für  alle  Details  seiner  Krankheitserlebnisse  hat,  Er  ver- 
sichert, zeitlich  und  örtlich  immer  orientirt  gewesen  zu  sein  und  das 
Krankheitsbewusstsein  nie  verloren  zu  haben.  Pat.  erklärt,  er  könne 
hinterher  nicht  begreifen,  wie  er  solchen  Unsinn  sprechen  und  solche 
dumme  Ideen  haben  konnte. 

Er  berichtet  von  elementaren  und  complicirten  Gesichts-  und 
Gehörshallucinationen,  die  er  jeweils  im  Anfall  habe.  So  habe  er 
Lichtblitze,  sehe  wie  die  Gesichtszüge  der  Anwesenden  sich  beständig 
verändern,  sehe  den  Teufel,  schwarz,  mit  Hörnern,  Engel,  seine  Frau, 
schreckhafte  Bären.  Er  höre  Gemurmel,  liebliche  Töne,  die  immer 
heller  werden,  Melodien,  seinen  Namen,  verworrene  Zurufe. 

Intervallär  bietet  Pat.,  ausser  seinen  gelegentlichen  epileptischen 
Anfällen,  nichts  auf  epileptische  Neurose  Hinweisendes.  Bigotterie  ist 
ihm  fremd. 

Bemerkenswerth  ist  noch,  dass  Pat.,  als  er  1892  kam,  eine  beider- 
seitige leichte  Ptosis  bot,  die  aber  durch  Willenseinfluss  behebbar  war. 
Auch  war  im  Anfall  die  1.  Pupille  weiter  als  die  r.,  die  Keaction  aber 
normal.  Intervallär  traten  Pupillendiflerenz  und  Ptosis  ziemlich  zurück. 
Von  1894  ab  fand  sich  nur  noch  paroxysmale  leichte  1.  Ptosis. 

Körperlich  erwähnenswerth  wäre  noch  massige  Atheromatose  und 
eine  Stenose  der  Aortaklappen. 

Da  Pat.  seit  Anfang  1896  nicht  mehr  zur  Aufnahme  gelangt  war, 
zog  ich  beim  Abschluss  vorstehender  Krankheitsgeschichte  (April  1898) 
Erkundigungen  über  ihn  ein.  Seine  Frau  hatte  ihn  dazu  gebracht 
täglich  3.0  Bromsalz  einzunehmen  und  sich,  abgesehen  von  einem 
Glase  Bier,  geistiger  Getränke  ganz  zu  enthalten.  Pat.  hatte  1896 
und  1897  nur  mehr  einen  epileptischen  Anfall  monatlich,  seit  Januar 
1898  gar  keinen  mehr.  Von  psychischen  Insulten  war  er  ganz  ver- 
schont geblieben. 

Epikrise.  Die  Epilepsie  des  Pat.  ist  zweifellos.  Ihre  Aetiologie 
(erbliche   Belastung  von   Seiten   der   mit  Migräne  behafteten   Mutter, 


152  Ueber  epileptische 

Cranium  hydrocephalicum ,  Kopfverletzung)  ist  nicht  sicherzustellen. 
Da  die  Narbe  am  Kopf  nie  Symptome  machte,  keine  Aura  von  ihr 
aus  sich  entwickelte,  kann  von  einer  traumatischen  Epilepsie  Sens. 
strictiori  nicht  die  Rede  sein,  jedoch  kann  das  Trauma  capitis  als  die 
Entwickelung  einer  „epileptischen  Veränderung"  begünstigendes  Mo- 
ment nicht  bedeutungslos  erklärt  werden. 

Mit  13  Jahren  erster  und  isolirter  epileptischer  Insult,  mit 
17  Jahren  ein  analoger  Anfall  von  Mania  acutissima,  durch  Ver- 
bleiben auf  der  Stufe  einer  manischen  Exaltation  auffällig. 

Vom  17.  Jahre  bis  zum  48.  Schweigen  der  Epilepsie,  eventuell 
äquivalente  Augenmigräne.  Vom  48.  —  57.  Jahre  seltene  specifische 
epileptische  Anfälle  von  Delirium  mit  Amnesie. 

Vom  57.  Jahre  ab,  unter  Schwinden  der  Augenmigräne,  Wieder- 
kehr klassischer  epileptischer  Insulte.  Vom  58.  Jahre  ab  peracute 
manische  Erregungszustände,  mit  hinzutretenden  typischen  epileptischen 
Delirien. 

Auch  ganz  abgesehen  von  dieser  letzteren  Thatsache,  bieten  diese 
manischen  Anfälle  ein  hohes  klinisches  Interesse. 

Sie  kehren  periodisch  oder  beständig  recidivirend  wieder,  sind 
typisch  congruent  und  erinnern  damit  an  Typen  periodischer  Manie, 
aber  in  solch  peracuter  Verlaufsweise  spielt  sich  diese  psychische 
Krankheitsform  nicht  ab. 

Es  fehlen-  diesen  manischen  Zuständen  aber  auch  alle  klinischen 
Detailerscheinungen  der  (degenerativen)  periodischen  Manie. 

Von  einer  Zorntobsucht  (Mania  furiosa),  die  beständig  recidivirt, 
kann  auch  nicht  die  Kede  sein,  ebensowenig  lässt  sich  diese  Mania 
mitis  acutissima  in  den  Bahmen  der  Mania  transitoria  einreihen. 

Es  handelt  sich  um  ein  ganz  eigenartiges  manisches  Irresein,  das 
seine  Signatur  durch  peracuten  Verlauf  und  Verbleiben  auf  der  Stufe 
einer  blossen  manischen  Exaltation  bekommt. 

Transitorische  Psychose  hat  eine  symptomatische  Bedeutung.  Per- 
acuter Verlauf  weist,  als  symptomatisch  reactive  Erscheinung  einer 
dauernden  Veränderung  im  Oentralorgan.  auf  eine  solche  hin,  ausge- 
nommen es  handelt  sich  um  transitorisches  Irresein  ab  intoxicatione. 
TJeberaus  häufig  ist  die  dauernde  Veränderung  eine  Neurose  und  zwar 
meist  Epilepsie.  Die  herrschende  Annahme  auf  Grund  thatsächlicher 
Erfahrung  geht  dahin,  dass  die  durch  Epilepsie  hervorgerufenen  psycho- 
pathischen Bilder  sich  auf  der  Stufe  eines  Dämmer-  oder  Traum- 
bewusstseins  abspielen  und  getrübte  Erinnerung  bis  zu  vollständiger 
Amnesie  hinterlassen. 

Keine  Begel  ohne  Ausnahme!    Selbst  für  den  gewöhnlichen  epi- 


Psychosen.  153 

leptischen  Anfall  ist  Aufhebung  des  Bewusstseins  nicht  unerlässlich. 
Auch  psychische  Aequivalente  desselben,  seine  postepileptische  und 
freistehende  psychische  Anfälle  können  ohne  Bewusstseinstrübung  und 
ohne  Erinnerungsdefekt  ablaufen.  Wildermuth  ('med.  Corr.-Blatt  d. 
Würtemb.  ärztl.  Landesvereins  LX  11)  hat  solche  psychisch-epileptische 
Anfälle  ohne  Bewusstseinsstürung  zum  Gegenstand  einer  eingehenden 
Studie  gemacht, 

Dass  im  vorstehenden  Falle  die  Psychose  in  voller  Bewusstseins- 
helle  und  ohne  restirenden  Gedächtnissdefekt  sich  darbot,  kann  die 
Berechtigung,  sie  mit  der  epileptischen  Neurose  in  Beziehung  zu 
bringen,  nicht  aufheben.  Es  fragt  sich,  Avas  das  für  Beziehungen 
sind?  Die  psychische  Aura  der  manischen  Insulte  ist  identisch  mit 
der  der  epileptischen.  Die  Deutung  kann  nur  in  dem  Sinne  geschehen, 
dass  man  diese  manischen  Anfälle  für  allerdings  sehr  seltene  psychische 
Aequivalente  eines  epileptischen  Insults  erklärt. 

Jeder  weitere  Deutungsversuch  ist  bedenklich.  Ueber  epileptische 
Veränderung,  über  Das,  was  im  epileptischen  und  im  manischen  An- 
fall im  Gehirn  vor  sich  geht,  weiss  man  eigentlich  nichts. 

Mit  der  klinischen  Auffassung  des  vorstehenden  Falles  als  eines 
solchen  von  symptomatischer  Manie  im  Rahmen  der  epileptischen  Neu- 
rose würde  sich  die  Eigenart  dieser  Manie  hinsichtlich  Symptomatik 
und  Verlauf  erklären  lassen.  Den  eingestreuten  epileptischen  Delirien 
kann  nur  ein  nebensächlicher  diagnostischer  Werth  zuerkannt  werden. 

Der  vorausgehende  Fall  hat  manches  gemein  mit  einem  früher 
von  mir  beobachteten. 

Beob.  4.  D.,  42  J..  Kellner,  von  neuropathischem  Vater  und  sehr 
jähzorniger  Mutter,  erhielt  von  dieser,  als  er  12  Jahre  alt  war,  mit 
einem  Scheit  Holz  einen  Schlag  auf  den  Hinterkopf,  der  eine  Narbe 
aulweist.  Im  Anschluss  daran  häufige  Enuresis  durch  4  Jahre.  Pat,  war 
kein  Trinker.  Mit  40  Jahren  erster  epileptischer  Insult  ohne  palpable 
Ursache.  Anfälle  in  Pausen  von  mehreren  Monaten  wiederkehrend. 
Keine  Aura  vor  denselben.  Alle  1—2  Monate  paroxystische  Zustände 
grosser  Heiterkeit  und  Selbstzufriedenheit,  ohne  Bewusstseinstrübung. 
Dauer  circa  10  Minuten.  Er  schämte  sich  hinterher  solcher  Zustände 
von  Ausgelassenheit, 

Anfang  März  1883  letzter  epileptischer  Insult. 

Am  22.  3.  1883  unvermittelte  und  plötzliche  Entwickelung  eines 
manischen  Exaltationszustandes.  Nach  schlafloser  Nacht  geht  Pat. 
am  23.  früh  auf  meiner  Klinik  zu  in  manischer  Erregung.  Er  singt, 
spricht   unaufhörlich,   ist  höchst  ausgelassen.    Eine  Probe  seines  Ge- 


154  Ueber  epileptische 

dankenganges  ist  folgende :  „mein  Koffer  ist  auf  der  Bahn,  mein  Frack 
in  P.,  ich  im  Spital  —  juhe!  wie  kommen  wir  wieder  zusammen! 
Furcht  kenne  ich  nicht ,  der  Teufel  kann  mich  ....  lecken ;  Morgen 
gehen  wir  es  an,  echt  österreichisch!"  Pat.  bietet  das  Bild  eines  ge- 
wöhnlichen manischen  Exaltationszustandes.  Nachmittags  wurde  er 
plötzlich  ruhig,  ganz  geordnet,  bot  keine  Erinnerungslücke  und  wusste 
keine  Erklärung  für  diesen  plötzlich  über  ihn  gekommenen  Ausnahms- 
zustand.    Nach  wenigen  Tagen  entlassen. 

Epikrise.  Auch  in  diesem  Fall  von  sicherer  Epilepsie  erscheint 
das  peracute  Auftreten  und  Verlaufen  einer  Mania  mitis  höchst  auf- 
fällig und  die  Annahme  eines  psychisch  epileptischen  Aequivalents  im 
Sinne  der  obigen  Auseinandersetzungen  berechtigt. 

Es  fragt  sich,  ob  die  früheren  Anfälle  ä  la  ininute  Anraerschei- 
nungen  oder  abortive  Insulte  gewesen  sind. 

Auch  in  dem  folgenden  Fall  findet  sich  bei  sicherer  Epilepsie  ein 
manisches  Bild  mit  eigenthümlichen  Details. 

Beob.  5.  M. ,  39  J.  Taglöhnerin,  aufgenommen  März  1873, 
stammt  von  epileptischer  Mutter,  wurde  mit  20  Jahren  nach  Schreck 
epileptisch.  Die  Neurose  manifestirte  sich  seither  in  Form  von  alle  paar 
Tage  wiederkehrenden  klassischen  Insulten. 

Seit  3  Jahren  hatten  sich  Schwachsinn,  grosse  Beizbarkeit  und 
zeitweilig,  ausschliesslich  postepileptisch,  wenn  auch  um  Tage  vom 
letzten  Insult  getrennt,  Zustände  von  manischer  Erregung  eingestellt. 
Pat.  wurde  dann  unstet,  erotisch  zudringlich,  bot  Bewegungsdrang  und 
Redesucht,  wobei  sie  ausschliesslich  sich  ihrer  Muttersprache  (Slovenisch) 
bediente,  wurde  unzufrieden,  begehrlich,  reizbar,  bis  zu  Gewalttätig- 
keiten, war  andauernd  schlaflos,  nicht  verwirrt,  nicht  hallucinirend.  Der 
Zustand  steigerte  sich  nie  bis  zur  Höhe  förmlicher  Tobsucht.  Nach 
längstens  8  Tagen  kehrte  Pat.,  die  im  Anfall  durch  Pallor  und  ver- 
störte Miene  besonders  auffallend  gewesen  war,  durch  ein  Stadium 
mehrtägiger  Umdämmerung,  Morosität,  Mattigkeit,  Schläfrigkeit  zur 
relativen  Norm  zurück.  Solche  Anfälle  kehrten,  typisch  congruent,  etwa 
alle  6  Wochen  wieder. 

Nie  fand  sich  Erinnerungsdefekt  vor.  Intervallär  Schwachsinn, 
Reizbarkeit,  zeitweise  Kopfweh,  Intercostalneuralgie.  Unter  Brom- 
behandlung wurden  die  convulsiven  Anfälle  selten  und  die  manischen 
blieben  ganz  aus.  Eines  Tags  weigerte  Pat.  das  weitere  Einnehmen. 
Einige  Tage  später  Stat,  epilepticus.  Tod.  Section:  Oedema  Piae  et  cerebri. 
Echinococcencysten :  1.  haselnussgross  im  unteren  Theil  der  1.  3.  Stirn- 
windung.   2.  dito  im  unteren  Abschnitt  des  ventric.  IV,  leicht  abheb- 


Psychosen.  155 

bar  vom  Ependym,  über  die  Striae  acust.  hinaufreichend  und  seitlich 
zwischen  die  kammartig-  hervorgetriebenen  eminent,  teretes  eingekeilt; 
3.  erbsengross  in  der  a.  o.  Spitze  des  1.  corpus  striat. 

Epikrise:  Auch  dieser  Fall,  obwohl  dem  Bild  einer  periodischen 
Manie  sich  nähernd,  ist  auffällig  durch  seine  kurze  Dauer,  seine  Lösung 
durch  einen  Dämmerzustand.  Seine  Zugehörigkeit  zur  Epilepsie  durch 
postepileptisches  Auftreten  ist  nicht  zu  bezweifeln. 

Der  folgende  Fall  betrifft  einen  kürzlich  beobachteten  Epileptiker, 
der  ganz  unmotivirt  und  transitarisch  das  Bild  einer  Melancholia 
acutissima  und  hinterher  für  die  ganze  Krankheitszeit  Amnesie  bot. 

Beob.  6.  D.,  23  J.,  Schlossergehilfe,  von  gesunden  Eltern,  hat 
mit  2  Jahren  eine  Zeit  lang  an  heftigen  Convulsionen  gelitten.  Seit 
8  Jahren,  ohne  Anlass  (Pubertät)  epileptische  Anfälle,  die  anfangs  nur 
allmonatlich,  seit  1  Jahre  jede  Woche  wiederkehrten.  Massige  Lebens- 
weise, Jähzorn,  bisher  nie  geistige  Störung.  Am  20.  1.  1898  Abends 
wurde  Pat.  dadurch  auffällig,  dass  er  ängstlich,  verstört  wurde.  Zu 
Bett  gebracht,  blieb  er  nicht  darin,  verbrachte  die  Nacht  zum  21. 
schlaflos,  betend.  Er  faltete  die  Hände,  jammerte  und  rief  beständig, 
„mein  Gott,  o  mein  Gott!"  Auf  wiederholte  Fragen,  was  er  habe,  erklärte 
er  „ich  will  brav  sein,  so  dumm  war  ich." 

Auf  der  Klinik  aufgenommen ,  normaler  somatischer  Befund. 
Schädel  ohne  Besonderheiten. 

Pat.  ängstlich  gehemmt,  in  erwartungsvoller  Spannung,  Eingriffen 
von  Aussen  wird  passiver  Widerstand  entgegengesetzt.  Nahrung  refü- 
sirt.  Vom  Moment  seiner  Aufnahme  an  kniet  Pat.  im  Bette,  mit  ge- 
falteten Händen  beständig  vor  sich  hinmurmelnd  „Gott  o  mein  Gott!" 
Auf  eindringliches  Befragen  entäussert  Pat.  spärliche  Selbstanklagen, 
er  sei  ein  grosser  Sünder,  habe  einst  Unkeuschheit  getrieben  und  sei 
nun  zur  Strafe  hier  im  Fegfeuer.  Weitere  Auskunft  ist  nicht  zu  er- 
langen. Er  verharrt  in  Seufzen  und  Gebet  und  beachtet  kaum  die 
Vorgänge  um  ihn.  Die  Nacht  zum  22.  bringt  Pat.  regungs-  und 
schlaflos  im  Bette  zu.  Er  hält  die  Augen  zugekniffen,  erklärt,  er 
dürfe  sie  nicht  öffnen,  zeigt  aber  auf  Verlangen  die  Zunge.  Am  22. 
Nachmittags  5  Uhr  kommt  Pat.  plötzlich  aus  diesem  Zustand  heraus, 
ist  lucid,  geordnet,  hat  Amnesie  für  die  ganze  Krankheitszeit.  Er 
kann  sich  nicht  erklären,  wie  er  dazu  gekommen.  Im  Anschluss  an 
einen  epileptischen  Insult  war  der  Anfall  nicht  aufgetreten.  Pat. 
wurde  nach  wenigen  Tagen  entlassen  und  bot  nichts  Pathologisches 
mehr. 


156  Ueber  epileptische 

Zu  den  bestgekannten  Categorien  des  epileptischen  Irreseins  ge- 
'  hören  psychopathische  Zustände ,  die  in  der  Eegel  als  freistehende 
Anfälle  und  nach  Art  einer  selbständigen  Psychose  (hallucinatorischer 
Wahnsinn)  einsetzen  und  verlaufen.  Da  Aeusserungen  der  epilep- 
tischen Neurose  in  Gestalt  von  klassischen  Insulten  hier  selten  vor- 
kommen, ganz  entschieden  durch  Jahre  vollkommen  fehlen  können, 
erscheint  die  Beziehbarkeit  solcher  Psychosen  auf  eine  epileptische 
Grundlage  schwierig  und  unsicher.  Samt,  in  seiner  verdienstvollen 
Arbeit  über  epileptische  Irreseinsformell,  (Archiv  f.  Psychiatrie  V.  VI) 
hat  die  These  aufgestellt,  dass  man  aus  Eigenthümlichkeiten  der 
Symptomatik  und  des  Verlaufes  die  epileptische  specifische  Bedeutung 
gewisser  Irreseinsfälle  erschliessen  könne,  die  einer  oberflächlichen 
klinischen  Betrachtung  gegenüber  in  die  psychologischen  Formen  der 
Melancholie  Manie  u.  s.  w.  eingereiht  worden  seien.  Damit  verlegte  er 
das  diagnostische  Schwergewicht  nicht  sowohl  in  den  Nachweis  von 
Manifestationen  der  epileptischen  Neurose,  als  vielmehr  in  die  klinischen 
Eigenthümlichkeiten  des  psychopathischen  Znstands. 

Damit  entging  er  der  Gefahr,  in  die  Andere  kritiklos  sich  be- 
geben haben,  indem  sie  Psychosen  bei  Epileptikern,  die  blosse 
Erscheinungen  zufälligen  Zusammentreffens  waren,  für  epileptische 
Psychosen  erklärten.  Er  sicherte  sich  aber  bei  der  Unerprobtheit 
seiner  diagnostischen  Kriterien  nicht  gegenüber  der  Möglichkeit  in 
Symptomen  und  Verlauf  ähnliche,  mit  Epilepsie  gar  nicht  in  Be- 
ziehung stehende  Krankheitsbilder  für  specifisch  epileptische  zu  halten. 

Dieser  Gefahr  kann  begegnet  werden,  wenn  man  nur  solche  Fälle 
zur  Discussion  stellt,  in  welchen  die  Existenz  der  Epilepsie  zweifellos 
nachgewiesen  ist. 

Finden  sich  unter  dieser  Voraussetzung  die  von  Samt  geltend  ge- 
machten Kriterien  immer  und  immer  wieder,  so  wird  man  die  Be- 
rechtigung seiner  Anschauungen  anerkennen  und  auch  Fällen  ohne 
Nachweis  der  epileptischen  Neurose,  Angesichts  der  thatsächlichen 
Seltenheit  ihrer  Manifestationen  und  ihrer  leichten  Uebersehbarkeit, 
die  Bedeutung  specifisich  epileptischer  Psychosen  vindiciren  müssen. 
Die  Nachfolger  Samt's  haben  viel  eher  seinen  Standpunkt  bemängelt, 
als  klinische  Beweise  für  das  Pro  oder  Contra  seiner  Anschauungen 
beigebracht.  So  begreift  es  sich,  dass  auf  diesem  Gebiete  noch  gar 
vieles  sub  judice  steht,  der  Fortschritt  zur  ätiologischen  Diagnostik 
behindert  ist,  und  viele  Fälle  in  der  Praxis  mit  der  Diagnose  ..Wahn- 
sinn", „Melancholie  mit  Stupor",  „Tobsucht"  abgefertigt  werden,  die 
einem  besseren  Verständuiss  im  Sinne  ätiologischer  Gesichtspunkte 
zugänglich  wären. 


Psychosen.  157 

Den  Spuren  Samt's  folgend,  der  als  „protrahirte  psychische  Aequi- 
valente"  und  als  „chronisch  protrahirtes  Irresein"  ähnliche  Fälle  ge- 
schildert hat,  theile  ich  nachstehende  Beobachtungen  mit,  denen  ein 
eigenartiges  und  vielfach  mit  Samt's  Kriterien  übereinstimmendes  Ge- 
präge jedenfalls  nicht  abgesprochen  werden  kann.  Meine  Casuistik 
schrumpft  sehr  dadurch  zusammen,  dass  nur  in  der  Minderzahl  meines 
Erfahrungsmaterials  Epilepsie  beim  Träger  der  Psychose  nachweisbar 
war.  Gleichwohl  erscheint  es  rathsam,  nur  solche  Fälle  von  epilep- 
tischem „Wahnsinn"  für  dessen  Studium  heranzuziehen. 

Beob.  7.    Postepileptisches,   mehrere  Monate  sich  protrahirendes 
Aequivalent  (Verfolgungs-  und  religiöses  Delirium  im  Sinne  des 

grand  mal)1). 

G.,  30  J.,  Bäcker,  stammt  von  angeblich  gesunden  Eltern.  Eine 
Cousine  leidet  an  schwerer  Hysterie,  eine  Schwester  an  Chorea.  In 
der  Zahnperiode  litt  Pat.  an  Convulsionen ;  er  erlernte  das  Sprechen 
erst  mit  5  Jahren,  machte  mit  7  Jahren  einen  schweren  Typhus  durch, 
bekam  in  der  Pubertätszeit  epileptische  Anfälle,  in  welchen  er  sich 
wiederholt  auf  die  Zunge  gebissen  haben  will.  Diese  Insulte  verloren 
sich  bald,  dafür  kamen  gelegentliche,  bis  1  Stunde  dauernde  Zustände 
von  Umdämmerung  des  Bewusstseins.  Vor  3  Jahren  hatte  er  einen 
8  Tage  dauernden,  schreckhaft  deliranten  psychischen  Ausnahmszustand, 
wahrscheinlich  grand  mal. 

Seit  Herbst  1880  hatte  Pat.  viel  Gemütsbewegungen  und  Krän- 
kungen. Im  Deeember  1880  schrak  er,  als  ihn  der  Schwager  einmal 
aus  dem  Schlafe  weckte,  heftig  zusammen,  erlitt  einen  epileptiformen 
Anfall,  fühlte  sich  seitdem  im  Kopfe  nicht  recht  beisammen,  war 
schreckhaft,  empfand  gelegentlich  üble  Gerüche,  hörte  Musik,  Stimmen, 
dass  er  erschossen  werden  solle,  sah  Räuber. 

Der  Umgebung  erschien  er  einsilbig,  gedrückt,  unheimlich,  man 
fürchtete  sich  schliesslich  vor  ihm. 

Am  9.  und  10.  Januar  1881  war  Pat.  auf  einer  Keise  mit  seinen 
Verwandten  in  der  Nähe  von  Graz.  Am  10.  bekam  er  einen  epilep- 
tischen Insult  und  in  sofortigem  Anschluss  brach  ein  postepileptisches 
schreckhaftes  Delir  aus.  Er  appercipirte  die  Umgebung  als  Räuber, 
floh  entsetzt  nach  Graz,  erschien  dort  am  11.  Morgens  im  Cafe,  be- 
stellte Frühstück,  nahm  es  aber  nicht,  legte  sich  auf  eine  Bank,  fiel 
mehrmals  herunter,  bekam  klonische  Krämpfe,  klagte  Uebelkeit.  fing 
an  zu  toben,  wurde  geknebelt  und  ins  Spital  gebracht.  Dort  kommt 
er   ängstlich,    verstört,   aufgeregt    an.    tobt   und    schreit,   delirirt   von 

1)  Ans  des  Verf.  Lehrbuch  der  Psychiatrie.    2.  Aufl.    (Beob.  51. 


158  Ueber  epileptische 

Strolchen,  die  ihn  überfallen,  gefesselt,  ihm  Hände  und  Füsse  abge- 
schlagen und  Alles  weggenommen  hätten.  Er  glaubt  sich  hier  in 
einer  Räuberhöhle,  in  einer  Löwengrube,  schläft  die  Nacht  auf  den 
12.  nicht,  sieht  Schlangen,  Löwen,  Räuber,  Huren,  verkennt  die  Um- 
gebung feindlich,  wird  aggressiv. 

Am  12.  Morgens  wird  er  ruhiger,  erzählt,  er  sei  auf  einer  Reise 
von  Räubern  überfallen  worden,  nach  Graz  geflohen,  dort  neuerdings 
Räubern  in  die  Hände  gefallen.  In  letzter  Nacht  sei  er  in  einer 
Mörder-  und  Löwengrube  gewesen.  Er  habe  schreckliches  Böller- 
schiessen, Brausen,  Musik  gehört,  überall  Mörder  und  wilde  Thiere 
gesehen,  Hände  und  Füsse  abgeschlagen,  sich  ganz  verlassen  gefühlt 
und  vor  Angst  gezittert. 

Nachmittags  ist  er  vorübergehend  nahezu  lucid,  giebt  seine  epi- 
leptischen Antecedentien  an.  Bald  wird  er  wieder  im  Bewusstsein 
sein  gestört,  delirant,  verworren,  erklärt  die  Umgebung  für  Juden, 
Könige  aus  dem  Morgenland,  Hirten  mit  dem  Morgenstern,  sich  selbst 
für  den  armen  Lazarus,  für  einen  Lehrer,  reproducirt  seine  Delirien 
von  Ueberfall  durch  Räuber  und  Verfolgung  durch  wilde  Thiere,  glaubt 
sich  in  einem  Stall.  Abends  ist  er  Lehrer  in  der  Elementarschule  zu 
Jerusalem  mit  400  fl.  Gehalt,  Der  Director  dieser  Schule  heisst  Lon- 
ginus  (!).  Es  wird  deutsch  und  hebräisch  vorgetragen.  Daneben 
finden  sich  Reminiscenzen  des  Persecutionsdelirs,  aber  auf  biblisches 
Gebiet  übertragen.  —  Als  er  von  Jerusalem  nach  Jericho  ging,  haben 
ihn  Räuber  geplündert.  Priester  und  Leviten  gingen  vorüber  und 
liessen  ihn  liegen,  der  Samariter  schenkte  ihm  eine  Hose  und  so  konnte 
er  weiter  nach  Graz.  Abends  hält  er  noch  den  Schulkindern  einen 
Vortrag. 

Am  14.  Morgens  glaubt  er  sich  in  Nazareth,  im  Jahre  1871,  er 
sei  übers  schwarze  Meer  dahin  gefahren;  dann  meint  er  wieder  in 
Bethlehem  im  Stall  zu  sein.  Im  Laufe  des  14.  ist  er  relativ  lucid, 
wieder  der  Bäcker  G.  und  im  Stande,  einige  Mittheilungen  über  sein 
früheres  Leben  zu  machen.  Er  hat  nur  höchst  summarische  Erinne- 
rungen aus  der  letzten  Zeit,  erinnert  sich  nicht  seiner  biblischen  De- 
lirien, wohl  aber  seiner  persecutorischen,  corrigirt  sie  theilweise,  bleibt 
aber  mimisch  verstört,  dämmerhaft,  ängstlich,  gereizt. 

Die  Nacht  auf  den  15.  schlief  er  wenig,  war  Nachts  im  Tempel, 
sah  lauter  Pharisäer  und  Schriftgelehrte.  Tagüber  moros,  gereizt,  ist 
er  Nachts  auf  den  16.  aufgeregt,  schreit:  „dieser  Stall  muss  zerstört 
werden".  Er  behauptet,  durch  seine  Lehren  im  Tempel  den  Zorn  der 
Pharisäer  hervorgerufen  zu  haben,  in  den  Kerker  geworfen  zu  sein. 
Die  Aerzte   hält    er   für   Pilatus,   Schriftgelehrte  und   Pharisäer,   die 


Psychosen.  159 

Wärter  für  Henkersknechte.  Er  ist  in  Bethlehem  geboren  1851 ;  sein 
Vater  war  Zimmermann,  hiess  Josef,  seine  Mutter  Maria;  er  heisst 
Franz  Grabner.  Er  ist  von  Palästina  übers  Wasser  nach  Jerusalem 
gefahren,  seit  3  Tagen  dort.  Kaiphas  hat  ihn  in  den  Kerker  werfen 
lassen.  Der  Wärter  ist  ein  Soldat  des  Hauptmanns  von  Kapernaum. 
Schwere  Bewusstseinsstörung,  grosse  Gereiztheit,  mimisch  tief  verstört, 
droht  jeden  Augenblick,  auf  die  Umgebung  loszufahren.  Auf  Momente 
ist  er  etwas  freier,  weiss  sich  im  Krankenhaus. 

Am  17.  proklamirt  er  sich  als  Christus,  aber  gereizt  und  mit  der 
Erklärung,  dass  er  von  den  Juden  und  Pharisäern  hier  ans  Kreuz 
geschlagen  wird.  Er  glaubt  sich  hier  im  Saal  (Hörsaal)  vor  Pilatus, 
ein  bei  der  klinischen  Demonstration  des  Kranken  anwesender  Regi- 
mentsarzt in  Uniform  imponirt  ihm  als  Herodes,  er  packt  einen  Stuhl, 
will  auf  den  Herrn  eindringen.  Die  folgenden  Tage  ist  Pat.  schweigsam, 
von  inneren  Vorgängen  absorbirt,  tief  gestört  im  Bewusstsein,  gereizt, 
unheimlich.  Er  schläft  fast  gar  nicht,  weigert  oft  Essen,  weil  Gift 
darin  sei,  erklärt  sich  für  den  ägyptischen  Josef,  mich  für  Pilatus, 
die  Assistenten  für  den  Mundschenk  und  den  Bäcker. 

Am  20.  1.  Abends  ist  Pat.  vorübergehend  relativ  lucid,  bald  aber 
wieder  verworren,  gereizt,  unzugänglich.  Vom  21. —  24.  mehrere  epi- 
leptische Anfälle  mit  episodischem  Stupor  und  panphobischem  Delirium. 
Von  da  an  klärt  sich  allmälig  das  Bewusstsein.  Pat.  ist  wieder  der 
Grabner.  Er  hat  summarische  Erinnerung  für  die  Erlebnisse  der 
letzten  Tage,  klagt,  dass  es  ihm  immer  sei,  als  ob  Käuber  und  Mörder 
um  ihn  wären  und  man  ihn  kreuzigen  wolle.  Nachts  halte  man  ihm 
immer  falsche  Anklagen  vor.  Er  corrigirt  seine  biblischen  Delirien, 
erzählt,  dass  er  die  Umgebung  für  biblische  Personen  hielt,  weil  er 
sie  in  prunkhaften  Gewändern  gesehen  und  Weihrauchdüfte  gerochen 
habe.  Pat.  ist  in  der  Folge  sehr  matt,  erschöpft,  schlafbedürftig,  leicht 
dämmerhaft. 

Am  7.  und  11.  2.  epileptoider  Anfall  (allgemeiner  Schüttelkrampf 
bei  erloschenem  Bewusstsein).  Seitdem  noch  dämmerhafter ,  ver- 
schlafener als  vorher,  wieder  mehr  moros  und  reizbar. 

In  der  Nacht  auf  den  5.  3.  entstellt  Feuerlärm  im  Spital.  Pat, 
hört  ihn,  wird  sofort  wieder  delirant.  tobt  die  Nacht  hindurch  vor 
Angst,  behauptet  am  anderen  Morgen,  er  sei  im  Feuer  gewesen,  habe 
sich  verbrannt.  Nun  kommt  wieder  das  schreckhafte  Verfolgungsdelir 
(Juden,  Räuber). 

Am  13.  3.  1881  wird  er  der  Irrenanstalt  übergeben,  in  welcher 
er  in  der  beschriebenen  Weise  bis  Mitte  Mai  delirant  bleibt.  Die  Er- 
inneruno-  für  die  Erlebnisse   des  Delirs  ist  eine  höchst  summarische. 


160  Ueber  epileptische 

Am  30.  5.  epileptischer  Anfall  mit  folgendem  Wuthanfall.  Am 
9.  6.  zweistündiges  schreckhaftes  Delir.  Am  11.  6.  epileptischer  Insult 
mit  mehrstündigem  postepileptischem  schreckhaftem  Delir.  Mehrmalige 
Wiederholung  von  Juni  bis  September.  Von  da  an  ist  Pat.  ganz  lucid 
und  frei  von  epileptischen  Insulten.  Am  9.  1.  1882  wird  er  „genesen" 
entlassen. 

Bis  Ende  September  1882  ist  er  ruhig,  geordnet.  Da  ersticht  ei- 
sernen Bruder  (Durchtrennung  des  Rückenmarks)  in  einem  zornigen 
Affect.  Mitte  September  geräth  er  in  Erbschaftsstreitigkeiten  mit 
seinem  Vater,  würgt  ihn,  bis  dieser  bewusstlos  wird  und  durch  die 
Nachbarn  befreit  wird.  Diese  letzte  Gewaltthat  fiel  in  das  Exacerbations- 
stadium  eines  neuen  deliranten  Paroxysmus,  in  welchem  Pat.  am 
20.  9.  1882  neuerdings  Aufnahme  auf  der  Klinik  findet,  Ausser  einem 
leicht  microcephalen  Schädel  (Circf.  54,  Längsm.  17,  Querdurchm.  14) 
bietet  Pat.  nichts  Bemerkenswerthes.  Die  erprobtesten  Antiepileptica 
(Bromkali  bis  8,0  täglich,  Atropin,  erwiesen  sich,  wie  auch  früher, 
ganz  erfolglos. 

Beob.  8.    Protrahirtes,  resp.  recidivirendes  postepileptisches 
Delirium  mit  intercurrentem  Stupor1). 

R,  34  J..  Beamtenfrau,  wurde  am  17.  4.  1875  in  der  Irrenanstalt 
aufgenommen.  Grossvater  und  Vater  sind  apoplectisch  gestorben.  Pat. 
wurde  im  16.  Jahre  nach  heftigem  Schrecken  epileptisch.  Die  Anfälle 
traten  etwa  alle  14  Tage  und,  nachdem  die  Menses  im  15.  Jahre  sich 
eingestellt  hatten,  besonders  stark  und  gehäuft  zur  Zeit  dieser  auf. 
Man  verheirathete  sie  im  30.  Jahre  in  der  Hoffnung,  dass  die  Krank- 
heit dadurch  sich  verliere,  aber  die  Anfälle  wurden  eher  häufiger. 
Sie  kamen  ohne  Aura  und  hinterliessen  jeweils  einen  mehrstündigen 
Dämmerzustand. 

3  Wochen  nach  der  1.  Entbindung  kam  es  zu  einem  Anfall  von 
Irresein  von  12tägiger  Dauer.  Pat.  sah  den  Mann  erschossen,  die 
Eltern  todt,  meinte,  ihr  Kind  sei  todt,  habe  keine  Augen.  Sie  schlief 
nicht,  ass  nicht,  war  tief  verworren  und  ängstlich  aufgeregt.  Sie  hatte 
völlige  Amnesie  für  diesen  Anfall. 

3  Wochen  nach  der  2.  Entbindung  (1873)  erfolgte  ein  2.,  dem  1. 
wesentlich  gleicher  Anfall,  der  4  Wochen  dauerte. 

Seitdem  stellten  sich  die  epileptischen  Anfälle  viel  häufiger,  etwa 
alle  2  Tage  ein.  Pat,  wurde  geistig  verändert,  moros,  zornmüthig, 
gedächtniss-  und  geistesschwach. 


1)  Aus  des  Verf.  Lehrbuch  der  Psychiatrie.    1.  Aufl.     (Beob.  87.) 


Psychosen.  161 

5  Wochen  nach  der  3.  Entbindung  (Februar  1875)  erkrankte  Pat, 
zum  3.  Mal  psychisch  nach  gehäuften  epileptischen  Anfällen.  Sie  er- 
schien ängstlich,  deprimirt,  im  Bewusstsein  erheblich  gestört,  klagte 
selbst  über  tiefe  geistige  Verwirrung,  wähnte  sich  verachtet  und  ver- 
folgt von  Jedermann,  hörte  sich  von  den  Dienstboten  verspotten,  Hure 
schelten,  litt  an  Schwindel,  Funkenblitzen  vor  den  Augen.  Kältegefühl, 
Schlaflosigkeit,  trieb  sich  verworren,  dämmerhaft  und  von  Angst  ge- 
trieben, planlos  im  Hause  herum,  versuchte  wiederholt  sich  das  Leben 
zu  nehmen.  Der  Zustand  bewegte  sich  in  Remissionen  und  Exacerba- 
tionen, welche  letztere  jedesmal  an  neue  epileptische  Anfälle  sich  an- 
schlössen. Das  ganze  Krankheitsbild  machte  der  Beschreibung  nach 
den  Eindruck  eines  protrahirten  und  wiederholt  recidivirenden  Dämmer- 
zustandes mit  Angst  (petit  mal).  Ende  März  schössen  im  Gebiet  des 
2.  und  3.  Astes  des  Trigeminus  Blasen  auf,  die  rasch  platzten  und  eine 
excoriirte  nässende  Fläche  hinterliessen.  Diese  wohl  als  neurotrophische 
Erscheinung  aufzufassende  Hautafr'ection  heilte  unter  dem  Gebrauch 
von  Sol.  Fowleri  binnen  10  Tagen. 

Bei  der  Aufnahme  (Mitte  April)  erschien  Pat.  mimisch  tief  ent- 
stellt, schmerzlich  verstört.  Sie  hörte  beschimpfende  Stimmen,  ferner, 
dass  sie  nicht  mehr  gesund  werde,  war  sehr  ängstlich,  schlaflos, 
dämmerhaft  im  Bewusstsein.  Lebhaftes  Zucken  und  Beben  der  Ge- 
sichtsmuskeln bei  mimischen  und  artikulatorischen  Impulsen.  Pupillen 
Aveit,  träge  reagirend.  Zunge  zitternd,  mit  zahlreichen  alten  Biss- 
narben.    Keine  Erkrankung  der  vegetativen  Organe. 

Am  25.  4.  schwand  plötzlich  dieser  psychopathische  Zustand,  für 
den  Pat.  nur  eine  summarische  Erinnerung  bewahrte.  Unter  Brom- 
kalibehandlung (6,0)  wurden  die  Anfälle  selten,  besserten  sich  Stim- 
mung und  Gesammtbeflnden. 

Am  12.  5.  Abends,  nach  vorausgehender  Gereiztheit,  trat  ein  epi- 
leptiformer  Anfall  ein,  bestehend  in  einer  kurzen  Streckung  des  Körpers 
bei  momentan  erloschenem  Bewusstsein.  Im  unmittelbaren  Anschluss 
an  diesen  Anfall  brach  Irresein  aus.  Pat.  wurde  hochgradig  ängstlich, 
verworren,  im  Bewusstsein  tief  gestört.  Sie  appercipirte  feindlich, 
schrie  nach  einem  Messer,  um  sich  umzubringen,  behauptete,  sie  habe 
einen  Pferdefuss,  einen  Ochsenkopf.  Sie  schreckte  oft  auf.  rief:  „Mutter, 
Mutter,  jetzt  wollen  sie  mich  erschiessen,"  weigerte  die  Nahrung, 
schlief  nicht.  Das  Delirium  war  ein  vorwiegend  schreckhaftes.  Stunden- 
weise bewegte  es  sich  wohl  auch  in  einfachen  Reproductionen  von 
Erlebtem,  episodisch  stellten  sich  Yerbigeriren.  Eeimerei  und  Silben- 
stecherei  ein.  Pat.  war  andauernd  schlaflos,  ohne  Fieber,  die  Pupillen 
weit,  träge  reagirend. 

Krafft-Ebing,  Arbeiten  III. 


162  Ueber  epileptische 

Am  17.  5.,  nach  einem  leichten  epileptischen  Anfall,  trat  Stupor 
ein,  der  bis  zum  19.  andauerte.  Dann  setzte  wieder  ein  höchst  ver- 
worrenes ängstliches  Delir  ein,  mit  ganz  abgerissenen  Worten  und  selbst 
ganz  unartikulirten  Lauten. 

Am  29.  5.  fing  Pat.  an  stundenlang  zu  schlafen.  Sie  war  beim 
Erwachen  dann  jeweils  einige  Zeit  ohne  Delir,  leidlich  lucid,  bejammerte 
ihre  Lage,  ihre  schreckliche  Krankheit  und  äusserte  den  Wunsch, 
sterben  zu  können.  Das  Delir  verlor  am  29.  und  30.  seinen  schreck- 
haften Charakter.  Es  bekam  ein  pathetisch  declamatorisches  Gepräge, 
oft  noch  mit  ganz  unverständlichen  Worten  und  stellenweise  verbige- 
rirendem  Charakter.  Daran  schloss  sich  vom  31.  5.  bis  3.  6.  ein  ver- 
worrener geistiger  Dämmerzustand  ohne  Delirium,  aus  welchem  Pat. 
am  4.  6.  plötzlich  mimisch  und  psj'chisch  frei  zu  sich  kam.  Sie  hatte 
nur  höchst  vage  Erinnerungen  aus  der  Zeit  der  Krankheit,  die  sich 
um  Angst  und  schreckhafte  Hallucinationen  drehten.  Unter  Bromkali 
(8,0)  verloren  sich  die  epileptischen  Anfälle,  besserten  sich  Morosität, 
Eeizbarkeit  und  geistige  Insufficienz,  sodass  Pat.  am  12.  9.  1875,  bis 
auf  einen  leichten  Grad  geistiger  Schwäche,  psychisch  ganz  befriedigend, 
nach  Hause  entlassen  werden  konnte. 

Beob.  9.  Am  12.  8. 1885  wurde  R.,  28  J.,  ledig,  Tagelöhner,  auf 
meiner  Klinik  aufgenommen.  Anamnese  fehlt.  Pat.  geht  im  Bewusst- 
sein  schwer  gestört,  mit  ängstlich  schmerzlichem  Gesichtsausdruck  zu, 
ganz  desorientirt  und  von  inneren  Vorgängen  ganz  absorbirt.  Vom 
15.  ab  wird  er  mimisch  freier,  fängt  an  zu  sprechen,  glaubt  sich  in 
einem  Kerker,  weiss  nicht,  wie  er  dahin  gekommen.  Er  habe  bös 
geträumt,  schreckliche  Situationen  durchgemacht,  Blut,  Feuer  gesehen, 
mit  Teufeln,  schrecklichen  Thieren  gekämpft.  Seine  Erinnerung  ist  aber 
eine  höchst  summarische  und  um  einige  Tage  über  den  12.  8.  zurück 
getrübte.  Pat.  erscheint  bis  zum  20.  erschöpft,  dämmerhaft,  verfällt 
dann  in  Stupor  mit  kataleptiformem  Beibehalten  gegebener  Stellungen. 
Der  Stupor  dauert  bis  zum  30.  8.,  wird  von  schreckhaftem  Delir, 
untermischt  mit  Gottnomenklatur  und  Majestätsdelir,  abgelöst.  Am 
4.  9.  setzt  wieder  Stupor  ein,  der  bis  auf  tageweise  Episoden  von 
plötzlicher  Gereiztheit,  ängstlicher  Bewegungsunruhe  und  Aggressiv- 
werden gegen  die  Umgebung  anhält. 

Anfang  October  wird  Pat.  lucid,  hat  nur  höchst  summarische  Er- 
innerung für  den  ganzen  Krankheitsverlauf,  berichtet  von  epileptischen 
Anfällen,  denen  er  seit  seinem  20.  Jahr  unterworfen  sei  und  die,  wohl 
auf  Grund  von  zu  reichlichem  Alkoholgenuss ,  in  der  letzten  Zeit  vor 
der  Aufnahme  sich  häufiger  eingestellt  hatten. 


Psychosen.  163 

Beob.  10.  W.,  Marie,  25  J.,  Dienstmagd,  gelangte  am  21.  8.  1875 
auf  meiner  Klinik  in  Graz  zur  Aufnahme,  da  sie  am  20.  8.  unmotivirt 
ihren  Dienst  verlassen  hatte,  in  den  Strassen  herumgedämmert  war 
und  in  einem  ganz  fremden  Hause  ihre  Kleider,  die  sie  dort  deponirt 
habe,  zurückgefordert  hatte.  Den  Bewohnern  war  sie  ganz  unbekannt. 
Pat,  wurde  drohend  und  arretirt.  Auf  der  Klinik  war  sie  anfangs 
noch  dämmerhaft,  wurde  dann  lucid  und  hatte  Amnesie  für  alles  Vor- 
gefallene. 

Sie  berichtet,  dass  ihr  Vater  ein  Säufer,  die  Mutter  epileptisch 
sei.    Eine  Schwester  ist  irrsinnig. 

Seit  den  ersten  Menses,  mit  17  Jahren,  litt  Pat.  regelmässig  prä- 
menstrual  an  epileptischen  Anfällen,  mit  postepileptischer  Verwirrtheit. 

Sie  hat  hydrocephales  rachitisches  Cranium,  degenerative  Ohren, 
eine  gut  compensirte  Mitralinsufficienz,  ist  psychisch  auffällig  nur  durch 
grosse  Beizbarkeit. 

Von  Mitte  September  ab  bietet  Pat,,  unter  Erscheinungen  zu- 
nehmender Beizbarkeit,  Streitsucht  und  Fluxion  zum  Kopf,  einen  Zu- 
stand von  pathologischem  Zornatt'ect  bis  zu  Tobsucht,  der  bis  zu 
8  Tagen  andauert,  plötzlich  sich  löst  und  völlige  Amnesie  für  den 
ganzen  Zeitraum  hinterlässt. 

Es  wird  constatirt,  dass  dieser  Zustand  jeweils  pränienstrual  ein- 
tritt und  dass  seine  Lösung  mit  dem  Erscheinen  der  Menses  zusammen- 
fällt. Bechtzeitiges  Eingreifen  mit  Morphiuminjectionen  vermag  ihn 
milder  zu  gestalten,  ohne  ihn  aber  abortiv  verlaufen  zu  machen. 

An  einen  solchen  Insult,  der  am  4.  2.  1876  wieder  einmal  ein- 
setzte, reiht  sich  am  9.  ein  hallucinatorisch  deliranter  Zustand.  Pat. 
schwer  im  Bewusstsein  gestört,  appercipirt  feindlich,  bewegt  sich  in  zor- 
nigen Affectdelirien,  mit  enormer  Verworrenheit  und  Wuthausbrüchen. 
Sie  faselt  von  Verfolgung,  Todesgefahr,  hört  anklagende  Stimmen,  sie 
sei  eine  Mörderin,  schäumt  darüber  vor  Wuth  auf,  ist  temporär  un- 
nahbar. Dann  kommen  ruhigere  Situationen,  in  welchen  viel  von 
Versündigung,  Erlösung,  Hölle,  Himmel,  Gott,  Mutter  Gottes  die  Bede 
ist.  In  einem  solchen  deliranten  Dämmerzustand  bringt  Pat.  Monate 
zu.  Die  Menses  markiren  jeweils  Exacerbationen.  Anfang  Juli  schiebt 
sich  ein  8  tägiges  Stuporstadium  dazwischen.  Dann  wieder  Status  quo 
ante.  Enorme  Verworrenheit,  „mein  Todtenschein  war  schon  lange  zu 
sehen  auf  dem  blauen  Eindfleisch"  Anfang  August  schwindet  plötz- 
lich Delir  und  Aufregung.  Pat,  ist  nun  tief  dämmerhaft  und  ver- 
worren, bezeichnet  sich  als  den  „Kaisermann".  Ende  August  kommt 
sie  zu  sich,  ist  tief  erschöpft,  schwach,  zitterig,  sehr  empfindlich  gegen 
Licht  und  Geräusch  und   ruhebedürftig.     Ihre  Erinnerung  reicht   nur 

11* 


154  Ueber  epileptische 

auf  etwa  3  Wochen  zurück  und  ist  summarisch.  Was  es  mit  dem 
Kaisermann  und  dem  blauen  Eiudfleisch  für  ein  Bewandtniss  hatte, 
weiss  sie  nicht,  nur  der  erstere  Ausdruck  ist  ihr  erinnerlich.  Sie  war 
ganz  verwirrt  im  Kopf,  glaubte  sich  von  Feinden  umgeben,  die  ihr 
einen  Stein  auf  die  Brust  gelegt  hatten.  Bald  wurde  ihr  der  Fuss, 
bald  die  Hand  todt,  sie  fand  oft  keinen  Athem,  glaubte  ersticken  zu 
müssen.  "Sie  sah  oft  Alles  blau,  dann  wieder  golden,  so  dass  sie  davon 
geblendet  war.  Die  Flammen  hatten  farbige  Ringe.  Fat.  wird  nun 
mit  Bromsalzen  behandelt.  Die  Menses  verlaufen  seither  mit  Gereizt- 
heit, Fluxionen,  Schwindel,  Kopfweh,  aber  es  kommt  nicht  mehr  zur 
Zorntobsucht  oder  Delirien.  Pat.  erholt  sich  ganz  befriedigend  und 
wird  am  12.  2.  1877  genesen  entlassen. 

Beob.  11.  F.  Seh.  Bauer,  48  J.,  ledig,  wurde  am  16.  8.  1883  in 
der  Grazer  psychiatrischen  Klinik  aufgenommen. 

Vater  war  Potator,  ein  Bruder  litt  an  Convulsionen.  Pat.  war 
ziemlich  dem  Potus  ergeben,  war  aber  früher  gesund  gewesen  und 
hatte  bis  zum  11.  8.  1883  nie  etwas  Auffälliges  geboten. 

An  diesem  Tage  wurde  er  ängstlich  verwirrt,  verkannte  die  Um- 
gebung feindlich,  fing  an  zu  beten,  lief  in  die  Kirche,  schrie  dort  vor 
Angst,  ging  auf  die  Leute  los,  wurde  mühsam  heimgebracht,  wehrte 
sich,  mit  der  Motivirung,  man  solle  [ihn  in  der  Kirche  sterben  lassen. 
Daheim  wähnte  er  sich  bald  in  der  Hölle,  bald  im  Himmel,  legte  sich 
in  der  Position  eines  Gekreuzigten  auf  den  Boden.  Am  12.  und  13. 
wurden  an  ihm  2  Anfälle  von  Epilepsie  beobachtet.  Darauf  steigerte 
sich  seine  Angst  und  Unruhe;  er  bot  dämonomanisches  Delir,  mit 
heftigen  Reactionen,  versuchte  seinen  kleinen  Hund  zu  zerreissen,  in 
der  Meinung,  es  sei  der  Teufel.  Am  15.  hellte  sich  vorübergehend 
sein  Bewusstsein  etwas  auf,  er  sprach  die  Befürchtung  aus,  dass  man 
ihn  ins  Irrenhaus  bringen  werde. 

Seiner  Umgebung  fiel  seine  grosse  Gesichtsblässe  auf.  Bei  der 
Aufnahme  am  16.  8.  war  Pat.  im  Bewusstsein  tief  gestört,  delirant, 
fieberlos,  auffallend  blass  im  Gesicht,  bei  stark  contrahirten  Arterien. 
Er  ist  in  der  Folge  schlaflos,  ganz  von  Sinnestäuschungen  oecupirt. 
Die  Miene  verstört,  wechselnd  entsetzt  und  glückselig.  Er  äussert 
Selbstanklagedelir ,  hat  unwürdig  communicirt,  seine  Missethaten 
schreien  zum  Himmel,  23  Sünden  hat  ihm  der  Priester  nicht  vergeben, 
er  kommt  in  die  Hölle,  schon  die  Arbeiter  auf  dem  Feld  haben  es  gesagt, 
Ihm  wurde  gesagt,  dass  der  linke  Schacher  verdammt  sei,  wie  Alle,  die  nicht 
Busse  tliun.  Er  will  nicht  trinken  noch  essen,  bevor  nicht  alle  Sünden 
ihm  verziehen  sind.    Episodenweise  sieht  er  weissen  Schein,  goldigen 


Psychosen.  165 

Glanz.  Er  sieht  den  Engel,  der  der  Jungfrau  Maria  die  Botschaft 
brachte,  wird  wie  Jesus  leiden,  dafür  aber  mit  all  seinen  Angehörigen, 
indem  er  sie  erlöst,  in  den  Himmel  gelangen.  Vorübergehend  glaubt 
er  sich  im  Paradiese,  ist  glücklich,  nicht  sterben  zu  müssen.  Am  17. 
ist  er  einige  Stunden  in  Remission.  Er  berichtet  dass  er  den  Boden 
ganz  roth  sah,  in  der  Höhe  lichte  Wolken.  Das  erinnert  ihn  an  die 
Hölle  und  an  Christi  Himmelfahrt.  Dann  hatte  er  grosse  Angst  vor 
den  Anfechtungen  des  Teufels,  sah  schwarze  Schatten  und  hörte 
wüsten  Lärm.  Dann  kam  die  Erleichterung.  Er  sah  noch  flüchtig 
den  Teufel,  schwarz  und  gelb,  dann  weisse  Tauben.  Es  war  ihm 
glückselig  zu  Muth,  er  hörte  schöne  Musik  und  verspürte  himmlischen 
Wohlgeruch.  Am  18.  Exacerbation,  schwere  Trübung  des  Bewußtseins, 
Himmelsdelir ,  der  Arzt  wird  als  Jesus  verkannt.  Im  Hintergrund 
Angst  und  Gereiztheit,  böse  Geister  wollen  ihn  kreuzigen.  Liegt 
stundenlang  in  der  Position  des  Gekreuzigten  da. 

Am  20.  tagüber  Stupor.  Am  21.  freier,  aber  delirant.  Glaubt 
sich  in  Vorhölle,  am  22.  in  Kirche.  Die  barmherzige  Schwester  ist 
Mutter  Gottes,  ein  Wärter  ein  Diener,  welcher  Jesum  getauft  hat.  der 
Arzt  ist  Christus.  Am  23.  schwelgt  er  in  den  Wonnen  des  Paradieses. 
Am  21.  wieder  Stupor.  Von  nun  an  allmälige  Klärung  durch  einen 
Dämmerzustand  hindurch,  in  welchem  ab  und  zu  noch  A'ersündigungs- 
delir  und  Himmelsdelir  auftauchen.  Das  letztere  wiegt  vor.  Er  be- 
hauptet, er  sei  schon  gestorben  daheim  und  dennoch  am  Leben.  Zu- 
nehmend geordnet.  Gute  Nächte.  Am  5.  9.  Bisswunde  an  der  Zunge, 
offenbar  von  einem  nocturnen  epileptischen  Anfall.  Bis  Mitte  September 
völlige  Klärung  des  Bewnsstseins.  Summarische  Erinnerung.  Anam- 
nestisch wird  ein  epileptoider  Anfall,  den  des  Kranken  Bruder  1881 
beobachtete,  erhohen.    Genesen  entlassen  am  30.  9.  1883. 


Die  Eigenartigkeit  dieser  Bilder  vou  „Wahnsinn"  muss  ohne 
Weiteres  zugegeben  werden.  Seltener  erscheinen  sie  als  postepilep- 
tische und  lassen  sich  dann  als  protrahirte  resp.  mehrfach  recidivirende 
Aequivalente  (Samt)  bezeichnen,  insofern  Recrudescenzen  des  Anfalls  fast 
regelmässig  mit  neuen  epileptischen  Insulten  zusammenfallen.  Häufiger 
sind  sie  von  Manifestationen  der  epileptischen  Neurose  losgelöste 
Krankheitszustände.  Als  Prodromi  erscheinen  dann  viefach  Beklommen- 
heit mit  auffälliger  Gereiztheit,  Druck  des  Gewissens,  Ahnungen  be- 
vorstehenden Todes,  des  jüngsten  Gerichts,  Drang  zu  beten.  Dann 
entwickelt  sich  der  Anfall  unter  Bewusstseinstrübung  und  hallucina- 
torischem    Delir    rasch    zu    seiner  Höhe.      Die    Bewusstseinsstörung 


166  Ueber  epileptische 

bietet  wandelbare  Intensitätsstufen  von  Dämmer-,  Traum-  bis  zu  Stupor- 
zuständen. 

Bemerkenswerthe  Züge  sind  auffällige  Gereiztheit  und  Ver- 
worrenheit. 

Die  Delirien  zeigen  bunten  Wechsel  und  Gemisch  von  depressivem 
und  expansivem  Inhalt. 

In  dieser  Hinsicht  besteht  auffällige  Uebereinstimmung  mit  den 
oben  geschilderten  Zuständen  von  periodischem  Irresein  in  Form  von 
Delirien.  Man  findet  Sünden-  und  Selbstanklagedelir,  wobei  aber  früh 
schon  die  Aussicht  auf  Erhebung  und  Erlösung  durchschimmert,  per- 
secutorisches ,  dämonomonisches  neben  expansivem,  das  sich  um  Er- 
hebung auf  hohe  irdische  und  himmlische  Posten  dreht. 

Diese  Delirien  scheinen  wesentlich  entstanden  und  unterhalten 
durch  Hallucinationen  und  Illusionen. 

Die  Kranken  haben  zu  kämpfen  mit  Hölle,  Tod  und  Teufel,  sehen 
sich  vor  Gericht,  bedroht  von  tausend  Gefahren,  hören  wüsten  Lärm, 
Pelotonfeuer,  sind  durch  von  allen  Seiten  auf  sie  eindringende  Verfolger, 
Teufel,  Thiere  bedroht.  Sie  sehen  ihre  Angehörigen  als  Leichen,  um 
sich  herum  Blut,  Krieg,  Särge,  sie  werden  selbst  getödtet,  gekreuzigt, 
liegen  dann  in  einer  Gruft,  wie  todt  im  Bett  oder  in  der  Position  des 
gekreuzigten  Christus  da,  bis  expansive  Delirien  sie  aus  Gruft,  Martern 
der  Vorhölle  u.  s.  w.  erlösen  und  ihnen  Himmelfahrt,  Apotheose,  Paradies 
vortäuschen.  Sie  hören  dann  himmlische  Musik,  empfinden  himmlischen 
"Wohlgeruch,  schwelgen  in  den  Wonnen  des  ewigen  Lebens,  umgeben 
von  heiligen  Personen,  eventuell  auch  irdischen  Majestäten,  bis  plötz- 
lich wieder  die  Scene  sich  ändert,  sie  in  die  Verdammniss  herab- 
geschleudert  werden,  von  Neuem  Martern  und  Kreuzigung  erfahren, 
den  Kampf  mit  Teufeln,  schrecklichen  Thieren  bestehen  müssen. 

Tiefe  Remissionen  sind  Eegel  im  Verlauf.  Sehr  häufig  treten 
episodisch  Stnporzustände  ein. 

Körperlich  ist  Pallor,  Krampfpuls,  hartnäckige  Schlaflosigkeit, 
kataleptiformes  Beibehalten  von  Stellungen  zu  verzeichnen.  Der 
Krankheitszustand  klingt  regelmässig  durch  einen  Dämmer-  oder 
Stuporzustand  aus.  Die  Erinnerung  für  die  ganze  Krankheitszeit  ist 
eine  summarische,  theilweise  sogar  ganz  fehlende.  Die  Gesammtdauer 
dieser  Psychose  beträgt  einige  Wochen  bis  Monate.  Antiepileptica 
versagten  mir  fast  regelmässig. 


An  die  vorausgehenden  Fälle  von  epileptischem  „Wahnsinn"  mit 
dem  sicheren  Nachweis   der   epileptischen  Neurose   gestatte  ich  mir 


Psychosen.  167 

2  Beobachtungen  anzureihen,  deren  klinische  Uebereinstiminung  mit 
jenen  sich  nicht  bestreiten  lässt,  wobei  aber  trotz  vieljähriger  und 
darauf  gerichteter  Beobachtung  in  Anstalten  gleichwohl  niemals  der 
Nachweis  von  Epilepsie  gelungen  ist.  Ich  habe  sie  deshalb  nicht  in 
Betracht  gezogen,  kann  aber  die  Vermuthung  ihrer  epileptischen  Be- 
deutung nicht  unterdrücken,  umso  weniger,  als  diese  Neurose  ja  viele 
Jahre  latent  werden  kann  und  die  Möglichheit  des  Uebersehens  noc- 
turner  und  milder  Entäusserungen  der  Epilepsie  nicht  zu  bestreiten  ist. 

B  e  o  b.  12.  H.,  38  J.,  ledig,  Advocaturconcipient  aus  Ungarn,  stammt 
von  einem  sehr  nervösen  Vater,  der  an  Apoplexie  starb.  Eine  Schwester 
des  Vaters  litt  an  Hysteria  gravis,  eine  andere  war  schwer  neuro- 
pathisch.  Ein  Bruder  des  Pat.  ist  apoplectisch  gestorben.  Pat.  soll 
von  jeher  nervös  gewesen  sein,  kein  Trinker.  Seit  einem  Jahre  hatte 
er  an  Neurasthenie  und  Nosophobie  gelitten.  Während  eines  Aufent- 
in  Rohitsch-Sauerbrunn  wegen  nervöser  Dyspepsie  im  August  1879, 
war  Pat,  ohne  palpable  Ursache  am  23.  8.  plötzlich  psychisch  erkrankt. 
Er  bot  zunehmende  Gereiztheit,  tobte,  bewegte  sich  in  Majestäts-  und 
Gottesdelirien,  gelangte  am  26.  8.  in  der  Grazer  Irrenanstalt,  fieberlos, 
in  schwerer  Bewusstseinsstörung,  delirirend .  schreiend,  brüllend, 
spuckend,  grimassirend  zur  Aufnahme. 

Pat.  klein,  Schädel  normal,  r.  Pupille  weiter  als  linke,  beide 
reagirend.  Vegetativ  ohne  Befand.  Traumhafte  Verworrenheit,  grosse 
Gereiztheit,  Pfeifen,  Tanzen,  Wetzen  am  Boden,  Brüllen  religiöser  Ge- 
sänge, gereiztes  Sichproclamiren  als  Gott. 

Am  23.  9.  einige  Stunden  ruhig,  fast  lucid,  nur  leicht  dämmerhaft. 
Völlige  Amnesie  für  die  bisherige  Krankheit.  Dann  wieder  im  Stat. 
quo  ante.  Andauernd  schwere  Bewusstseinsstörung.  Episodisch  ängst- 
lich, gereizt,  stumm,  moros,  dann  wieder  erregt  und  unnahbar.  Er- 
klärt sich  zeitweise  für  Gott,  ist  dabei  aber  masslos  gereizt  gegen  die 
Umgebung,  die  bald  als  politische  Grössen,  bald  als  Esel.  Schweine 
apostrophirt  und  mit  Umbringen  bedroht  wird.  Mitte  October  wird 
Pat,  plötzlich  ruhig,  aber  er  ist  dämmerhaft  und  erklärt  sich  gelegent- 
lich für  Gott  oder  Bismarck.  Ende  October  setzt  wieder  der  delirante 
Erregungszustand  ein,  mit  tiefer  Bewusstseinsstörung,  enormer  Ver- 
worrenheit und  Gereiztheit,  „Ich  bin  Gott,  Adonis.  Sie  sind  Franz 
Josef".  Pat.  fühlt  sich  inwendig  ochsen-,  pfauen-,  kameelartig,  im 
Körper  kalkig,  in  der  Brust  ein  Uhrwerk.  Immer  zornig,  gereizt, 
verkennt  er  die  Umgebung  meist  feindlich,  oft  auch  als  Kaiser.  Bis- 
marck. Er  singt,  brüllt,  tanzt,  grimassirt.  verbigerirt  stunden-  und 
tagelang,  schläft  selten  und  nur  für  einige  Stunden,  proclamirt  sich  in 


168  lieber  epileptische 

wuthzomiger  Erregung  bald  als  Franz  Josef,  bald  als  Gott.  „Haben 
Sie  schon  einen  Gott  gesehen?  Schauen  Sie  mich  an,  ich  bin  Gott, 
packen  Sie  sich  hinaus  und  zahlen  Sie  eine  Million!  Ich  wünsche  als 
Gott  assentirt  zu  werden."  Ende  1879  wird  Pat.  ruhiger,  bleibt  aber 
traumhaft  delirant,  geht  mit  den  Jüngern  Christi  und  Monarchen 
spaziren,  glaubt  sich  1878,  ist  hier  in  einer  Gruft.  Dabei  höchst  ge- 
reizt, ist  obscön  (hat  12  Schwänze).  Mitte  Januar  1880  wieder  sehr 
erregt  und  höchst  verworren.  Pat.  commandirt  gelegentlich  Bataillone, 
geht  nackt  als  Christus.  „Sie  sind  ein  Löwe  für  mich,  ein  Bismarck. 
Schreiben  Sie  einen  Brief  an  Gott,  Sie  haben  keinen  Schwanz,  sagen 
Sie  ihm,  dass  ich  Gott  bin."  Der  Arzt  wird  bald  als  Goethe,  Bismarck, 
bald  als  Esel,  Schwein  apostrophirt. 

28.  2.  1880.  Pat.  ist  120  Jahre  alt,  es  ist  ein  Blutbad  hier.  Alle 
sind  Götter.    Pat.  erklärt  sich  als  „Gefreiter  von  Gott  in  New  York". 

Vom  9.  5.  ab  schweigt  das  Delir  und  die  Erregung.  Dämmer- 
zustand, spur  weise  Aufhellung  des  Bewusstseins  —  ist  hier  im  Narren- 
hause, aber  es  sind  lauter  Bismarcke  und  Könige  hier.  Er  ist  getauft 
vom  Kronprinz  Rudolf  im  Ofener  Tunnel,  lässt  das  ganze  Kaiserhaus 
grüssen.  Im  Juli  zunehmende  Klärung,  aber  andauernd  Dämmerbewusst- 
sein  und  an  dessen  Schwelle  beständig  Gott-  und  Majestätsdelir  (ist 
dann  wieder  Gott,  Franz  Josef). 

Zu  einer  völligen  Klärung  gelangt  Pat.,  trotz  aller  Nachhülfe, 
nicht.  Anfang  1881  Wiedereinsetzen  des  Erregungszustandes  und 
Weiterverlauf  ganz  wie  früher.  Am  29.  4.  1881  wird  Pat.  in  die 
heimathliche  Irrenanstalt  überführt.  Der  Güte  des  Herrn  Director 
Niedermann  in  Pest  verdanke  ich  die  Mittheilung,  dass  Pat.  in  der 
nun  folgenden  zweijährigen  Aufenthaltszeit  wesentlich  in  gleicher  Ver- 
fassung wie  während  meiner  Beobachtung  blieb,  nie  mehr,  auch  nur 
für  kurze  Dauer  lucid  wurde  und  bis  zu  seinem  Abgang  in  eine 
Siechenanstalt  im  November  1884  niemals  weder  Krampfanfälle  noch 
sonst  irgendwelche  Zeichen  epileptischer  Neurose  geboten  hatte. 

B  e  o  b.  13.  M.,  Margarethe,  34  J.,  seit  10  Jahren  an  einen  Hand- 
werker verheirathet,  von  dem  Trunk  ergebenem  Vater  und  neuro- 
pathischer  Mutter,  ausser  Variola  nie  krank  gewesen,  seit  10  Jahren 
in  Alkohol  ausschweifend,  wiederholt  schon  mit  trunkfälliger  Sinnes- 
täuschung behaftet  gewesen,  wurde  wegen  seit  14  Tagen  plötzlich  auf- 
getretener Geistesstörung  am  8.  4.  1878  der  Grazer  psychiatrischen 
Klinik  zugeführt. 

Die  Krankheit  hatte  mit  wachsender  Angst,  Verwirrtheit,  grosser 
Gereiztheit,  Delirien  von  Vergiftung,  Himmelfahrt,  Teufelsvisionen  ein- 


Psychosen.  \ßQ 

gesetzt,  Bei  der  Aufnahme  war  Pat.  fieberlos,  vegetativ  ohne  Befund, 
congestiv,  mittelgross,  schmächtig,  rhomboklinocephaler  Schädel.  Pat. 
ist  ängstlich  verstört,  schlaflos,  äussert  Angst  vor  der  Hölle,  Selbst- 
auklagen,  sieht  Teufel,  Schlangen,  ist  masslos  gereizt,  hat  gelegentlich 
Raptusanfälle,  in  welchen  sie  die  feindlich  verkannte  Umgebung  er- 
würgen will,  sich  die  Kleider  vom  Leibe  reisst.  Andauernd  schwere 
Bewusstseinsstörung,  stundenweise  Stupor,  dann  wieder  höchst  erregt, 
schreiend,  heulend,  betend,  singend.  Angst  vor  der  Hölle,  der  Arzt 
ist  ein  Todtengräber,  eine  tiefe  Stimme  schreit  zum  Fenster  herein 
„es  giebt  keinen  Gott".  Pat,  will  nicht  essen,  weil  die  Mutter  Gottes 
sie  sonst  nicht  ablöse. 

Vom  17.  Juni  bis  2.  Juli  ist  Pat,  ruhig,  aber  dämmerhaft.  Amnesie 
für  die  bisherigen  Krankheitserlebnisse.  Am  2.  7.  setzt  wieder  der 
frühere  Zustand  ein.  Pat,  ist  wieder  ängstlich,  verworren,  enorm  ge- 
reizt, gewaltthätig  gegen  die  feindlich  appercipirte  Umgebung,  die  in 
hässlichen  Fratzen,  oft  auch  ohne  Kopf  ihr  erscheint,  sie  in  den 
Brunnen  werfen  will. 

In  der  Folge  ganz  abrupte,  bunt  wechselnde  Grössen-  und  per- 
secutorische  Delirien.  Enorme  Verworrenheit  —  Pat.  ist  episodisch 
Mutter  Gottes,  schlägt  Fenster  ein.  um  per  Leiter  in  den  Himmel  zu 
gelangen.  „Christus  soll  mir  Brod  bringen,  warum  soll  ich  gestochen 
werden  auf  der  Hochzeit?1'  Sie  schmiert  ihren  Stuhl  herum,  behauptend, 
es  sei  Gold.  Astlöcher  im  Fussboden  sind  Christus,  Maria.  Allerlei 
impulsive  destructive  Acte,  oft  ganz  plötzlich  grosse  Gewalttätigkeit, 
Andauernd  schwere  Gereiztheit  und  Verworrenheit.  Dieser  Anfall 
dauert  bis  Anfang  Februar  1879,  schneidet  plötzlich  ab  und  hinter- 
lässt  einen  Dämmerzustand. 

Der  weitere  Verlauf  lässt  sich  dahin  zusammenfassen,  das  plötz- 
lich einsetzende  und  jäh  abklingende  Anfälle  von  psychischer  Erregung 
und  Delir  mit  ruhigen  Intervallen  continuirlich  wechseln.  Die  An- 
fallszeiten dauern  minimal  13  Tage,  maximal  6  Wochen.  Irgend  eine 
Beziehung  zu  den  Menses  besteht  nicht.  Die  ruhigen  Intervalle  um- 
fassen 2—5  Tage.  Sie  stellen  Dämmerzustände  dar.  in  welchen  Pat. 
örtlich  und  zeitlich  desorientirt  bleibt.  Erinnerung  für  die  Erlebnisse 
der  Anfälle  besteht  nie.  Ein  eigenartiges  Relief  bekommen  diese 
durch  traumhafte  Bewusstseinsstörung.  enorme  Verworrenheit  und  Ge- 
reiztheit. Nicht  selten  weiden  in  deren  Ablauf  tageweise  Stuporzu- 
stände  constatirt,  Der  Inhalt  der  Delirien  ist  im  Grossen  und  Ganzen 
immer  der  gleiche.  Sie  sind  primordiale  oder  knüpfen  au  Hallucina- 
tionen  an.  Vorherrschend  sind  schreckhafte  persecutorische  Delirien 
(Schlangen,  wilde  Thiere,  Tod.  Teufel.  Hölle.  Verbrennungsgefahr.  Er- 


170  Ueber  epileptische 

schossenwerden)  mit  verzweifelter  Gegenwehr,  Flucht  oder  momentaner 
Erstarrung  vor  Schreck. 

Episodisch  erscheinen  religiöse  Delirien.  Dann  hält  sie  den  Arzt 
für  den  heil.  Johannes,  für  den  „seelischen  Vater",  für  Christus  und 
will  mit  ihm  auf  die  Hochzeit  gehen  als  die  „klügste  Margareth". 
Zu  Zeiten  verkennt  sie  die  Wärterin  als  Mutter  Gottes,  mit  der  sie 
gleich  in  den  Himmel  fahren  wird.  Andere  Male  behauptet  sie  ängst- 
lich und  höchst  gereizt,  sie  habe  Gott  im  Bauch,  man  solle  ihn  heraus- 
schneiden, ihr  Zeigefinger  sei  Christus.  Ob  man  denn  nicht  bewirken 
könne,  dass  die  Mutter  Gottes  geboren  werde  (!).  Brombehandlung,  selbst 
in  Tagesdosen  bis  zu  8,0  war  ganz  wirkungslos. 

Erkundigungen,  welche  ich  über  die  1898  noch  in  der  Irrenanstalt 
befindliche  Kranke  einzog,  ergab  Folgendes :  Die  Anfälle  sind  im  Laufe 
der  Jahre  seltener  geworden,  ohne  aber  ihr  klinisches  Gepräge  (plötz- 
liches Einsetzen  und  rasches  Abklingen,  schwere  Bewusstseinsstörung, 
grösste  Verworrenheit,  enorme  Gereiztheit  bis  zu  Wuthzornausbrüchen, 
oft  ganz  impulsives  Aggressivwerden  mit  extremer  Gewaltthätigkeit, 
Schreien,  Brüllen,  vorwiegend  schreckhafte  Delirien,  untermischt  mit 
religiös  expansiven,  episodischem  Stupor,  Amnesie  für  das  Ganze)  ver- 
loren zu  haben.  Intervallär  dämmert  Pat.  herum ;  Sie  glaubt  sich 
auf  dem  hl.  Berg  Lagoria  und  äussert  auch  intervallär  häufig  den 
Wahn,  Mutter  Gottes  zu  sein. 

Seit  einigen  Jahren  hat  die  Intelligenz  sehr  gelitten.  Niemals 
wurden  Symptome  im  Sinne  einer  epileptischen  Neurose  constatirt. 


Die  vorausgehende  Arbeit  stellt  das  Vorkommen  epileptischer 
Psychosen  sensu  strictiori  ausser  Frage.  Sie  liefert  aber  wesentlich 
nur  einen  casuistischen  Beitrag  und  lässt  es  ganz  unentschieden,  auf 
welche  Weise  psychische  Bilder  auf  dem  Boden  einer  epileptischen 
Neurose  ein  eigenartiges  klinisches  Gepräge  bekommen.  Dies  gilt  auch 
für  die  beiden  folgenden  Beobachtungen,  deren  erste  eine  religiöse 
Paranoia,  deren  zweite  ein  aus  depressiven  und  expansiven  Zustands- 
bildern  von  typisch  epileptischem  Delir  sich  zusammensetzendes  cy- 
klisches  Irresein  darstellt.  Sie  sind  ganz  vereinzelte  Erfahrungen  auf 
dem  Gebiete  des  epileptischen  Irreseins.  Nur  auf  dem  Wege  der 
Sammlung  einwandfreier  klinischer  Beobachtungen  wird  es  gelingen, 
an  Stelle  der  psychologischen  Diagnosen  zu  ätiologischen  vorzudringen. 
Das  wäre  aber  ein  bedeutender  Gewinn  für  die  Klinik  der  Psychosen. 


Psychosen.  171 

Beob.  14.    Paranoia  epileptiea. 

E.  D..  38  J.,  Bauernfrau  aus  Untersteiermark,  stammt  von  jäh- 
zornigem, dem  Trunk  ergebenem  Vater  und  psychotischer  Mutter. 

Pat.  leidet  seit  dem  20.  Jahre  an  Epilepsie.  Seit,  1873  waren  die 
Anfälle  häufiger  geworden  und  öfters  von  mehrstündigen  postepilep- 
tischen Delirien  gefolgt  gewesen.  Pat,  wurde  Mitte  Mai  1875  von 
einem  protrahirten  postepileptischen  Delir  befallen,  aus  dem  sie  nach 
3  Tagen  mit  Amnesie  zu  sich  kam.  Sie  war  ganz  verworren,  höchst 
gereizt  gewesen,  hatte  beständig  gebetet  und  mit  Kerze  und  Weih- 
wedel herumgekniet. 

Bei  der  Aufnahme  in  der  Irrenanstalt  am  23.  5.  1875  war  sie 
ausser  Paroxysmus,  aber  psychisch  nicht  normal.  Sie  berichtete  von 
Visionen  der  Mutter  Gottes,  von  Heiligen,  Engeln,  die  ihr  seit  Jahren 
erschienen  seien,  erklärte  sich  in  der  Gnade  Gottes  zu  befinden  wegen 
ihres  frommen  Lebenswandels.  Gleichwohl  sei  sie  von  den  Leuten 
beschimpft  und  angefeindet  worden,  was  ihr  viel  Kummer  verursacht 
habe.  Pat.  ist  originär  geistig  beschränkt,  der  Stirnschädel  schmal, 
niedrig.    Sonst  kein  Befund. 

Am  25.  5.  epileptischer  Insult.  Am  2.  ti.  freistehender  Exaltations- 
zustand, in  welchem  sie  religiöse  Lieder  brüllt,  predigt,  wallfahrtet. 
Solche  Anfälle  wiederholten  sich  oft  und  dauern  Stunden  bis  einen 
Tag.    Kein  Erinnerungsdefect.     Ungebessert  entlassen  am  14.  5.  1870. 

Neue  Aufnahme  am  0.  1.  1877  in  postepileptischer  Verwirrtheit, 
Am  7.  wieder  ausser  Anfall.  Pat.  ist  aber  nun  die  unbefleckte  Jung- 
frau Maria.  Sie  verlangt  als  Deputat  derselben  reichlich  Schnupf- 
tabak und  3  Seidel  Wein  täglich.  Sie  stolzirt  als  Mutter  Gottes 
herum,  lässt  sich  nichts  drein  reden,  weil  sie  als  göttliche  Person 
machen  könne  was  sie  wolle.  Zu  Arbeit  ist  sie  nicht  zu  bewegen. 
Grosse  Keizbarkeit.  Masslos  zornig  und  selbst  aggressiv,  wenn  sie 
nicht  genug  Wein  und  Tabak  bekommt,  ganz  besonders  aber  wenn 
man  sie  nicht  als  „Maria"  anredet. 

Episodisch,  meist  menstrual,  kehren  die  früheren  religiösen  Exalta- 
tionszustände  wieder.  Pat.  wallfahrtet  dann,  sinst  Hallelujah  und 
psalmodirt.  Dabei  höchst  reizbar,  die  Umgebung  selbst  feindlich  ver- 
kennend und  aggressiv.  Hie  und  da  zeigt  sich  neben  der  religiösen 
Exaltation  auch  Erotismus. 

Pat.  ist  andauernd  in  dem  fixen  Wahn  befangen.  Mutter  Gottes 
zu  sein.  Gelegentlich  ist  sie  die  hl.  Kosalia.  Der  Wahn  beherrscht 
ihr  ganzes  Denken  und  Fühlen,  ist  vollkommen  an  Stelle  der  frühereu 
Persönlichkeit  getreten,  sodass  man  das  Vorhandensein  einer  Paranoia 


172  Ueber  epileptische 

zugeben  und  annehmen  muss,  dass  der  Wahn  einer  ausgezeichneten 
religiösen  Persönlichkeit  sich  direct  aus  epileptischem  Delirium  ent- 
sprechenden Inhalt  herausgearbeitet  habe. 

Pat.  kommt  „gleich  nach  der  göttlichen  Gnade,  hat  das  Ehren- 
wort im  Himmel  vor  Gottes  Thron"  Sie  war  schon  oft  in  der  Hölle, 
hat  dort  15  Männer  der  Finsterniss  überwunden.  In  gelegentlichem 
Aerger  war  die  sonst  herablassende  und  trai table  Pat.  masslos  zornig 
und  drohte  dann,  Alle  erstechen  und  erschiessen  zu  lassen. 

Pat.  blieb  ganz  unverändert  bis  zu  ihrem  am  1.  4.  1883  an  Variola 
erfolgten  Tode. 

Beofo.  15.    Epileptisches  circuläres  Irresein.1) 

Spess,  30  J.,  verheirathet,  Grundbesitzer,  aufgenommen  29. 12.  1873, 
stammt  von  einem  trunksüchtigen  Vater.  Seine  Schwester  ist  epilep- 
tisch. Als  Kind  litt  Pat.  an  Convulsionen.  Mit  8  Jahren,  nach  einem 
Schreck,  zeigten  sich  epileptische  Anfälle,  die  in  der  Folge  in 
Zwischenräumen  von  Monaten  bis  Wochen  wiederkehrten.  In  den 
letzten  Jahren  hatte  sich  Pat.  dem  Trünke  ergeben,  die  Anfälle  hatten 
sich  gehäuft.  Es  stellten  sich  delirante  Zustände  ein,  die  die  Auf- 
nahme in  der  Irrenanstalt  nöthig  machten. 

Pat.  ist  geistig  defect,  geschwächt.  Er  findet  selbst,  dass  er  kopf- 
krank sei,  er  fühle  sich  immer  wie  betrunken  im  Kopf.  Erkrankungen 
vegetativer  Organe  sind  nicht  nachzuweisen,  Herztöne  rein,  Puls  72, 
tard.  Gesicht  und  Extremitäten  leicht  cyanotisch.  Der  Schädel  von 
normalen  Dimensionen,  jedoch  am  Hinterhaupt  stark  abgeflacht.  Die 
Oberlippenmuskeln  und  die  Zunge  zitternd. 

Die  Beobachtung  ergiebt,  dass  Pat.  neben  seinen  epileptischen 
Anfällen,  die  in  Pausen  von  einigen  Wochen  und  häufig  gehäuft  wieder- 
kehren, einen  cyklischen  Wechsel  von  Exaltations-  und  Depressions- 
zuständen  darbietet,  die  durch  traumartige  Störung  des  Bewusstseins, 
zeitweisen  Stupor,  delirantes  Gepräge,  mit  zudem  typisch  congruenten 
Delirien  religiösen  Inhalts  (Gottnomenclatur)  nebst  entsprechenden 
massenhaften  Hallucinationen,  sich  deutlich  als  epileptisches  Irresein 
erweisen.  Die  Depressionsphasen  haben  durchschnittlich  längere  Dauer 
(1—23  Tage)  als  die  Zeiten  der  Exaltation  l1/»— 10  Tage).'  Zuweilen 
kommt  es  auch  eine  Zeit  lang  zu  einem  täglichen  Wechsel  dieser  Zu- 
stände, ja  hie  und  da  wechseln  die  Zustandsbilder  sogar  1—2  Mal 
binnen  24  Stunden,  wobei  aber  immer  die  depressive  Phase  überwiegt. 
Zu  eigentlich   luciden  Intervallen  kommt   es  nie,   da  Pat.  in  den  alle 


1)  Aus  des  Verf.  Lehrbuch  der  Psychiatrie.     1.  Aufl. 


Psychosen.  ^73 

paar  Monate  sich  findenden  Zeiträumen,  in  welchen  er  frei  von  De- 
lirium und  weder  exaltirt  noch  deprimirt  ist,  durch  sein  dämmerhaftes 
Bewusstsein,  seine  grosse  Gemüthsreizbarkeit  und  Bigotterie  patholo- 
gisch erscheint.  Zuweilen  finden  sich  nach  länger  dauernden,  mit 
Schlaflosigkeit  einhergehenden  Exaltationszuständen  auch  1—2  Tage 
lang  solche  eines  stuporösen  Erschöpfungszustandes.  Die  depressive 
Phase  des  circulären  epileptischen  Irreseins  beginnt  regelmässig  mit 
Kopfschmerz,  Schwere  im  Kopf,  grösserer  Reizbarkeit  und  Morosität. 
Zunahme  der  habituellen  Cyanose,  Pat.  wird  mimisch  tief  verstört, 
gedrückt,  sieht  starr  vor  sich  hin,  spricht  leise  mit  bebenden  Lippen, 
erklärt  sich  für  einen  grossen  Sünder,  nimmt  nur  Minima  von  Nahrung 
zu  sich. 

Das  Bewusstsein  ist  traumhaft  gestört.  Pat.  kniet  herum,  betet 
seinen  Rosenkranz,  verlangt  regelmässig  ein  Stemmeisen,  um  den  Fuss 
abzustemmen,  eine  Hacke,  um  sich  die  Finger  wegzuhacken  und  da- 
durch Gott  zu  versöhnen.  Einige  Narben  an  der  linken  Hand  rühren 
von  einem  derartigen  Verstümmelungversuch  her.  Oft  will  er  auch 
gern  ein  Auge  hergeben,  wenn  es  Gott  wohlgefällig  ist.  Stört  man 
Pat.  in  seiner  Zerknirschung,  so  reagirt  er  feindlich,  schlägt  und  beisst 
nach  der  Umgebung.  Constant  ist  er  in  dieser  depressiven  Phase  viel 
cyanotischer  als  sonst. 

Die  Arterie  ist  drahtartig  zusammengezogen  und  bleibt  so  auch 
beim  Amylnitritversuch,  der  Puls  ist  tard,  die  Extremitäten  und  das 
Gesicht  sind  kalt,  cyanotisch,  die  Pupillen  erweitert,  träge  reagirend. 
In  diesem  Stadium  finden  sich  massenhaft  Hallucinationen  —  Pat.  sieht 
Krebse,  Schlangen,  Kühe,  2  grosse  weisse  Männer.  Gott  Vater  mit 
drohender  Miene,  den  Teufel,  der  sich  in  verschiedene  Thiere  vor 
seinen  Augen  verwandelt.  Gegen  Ende  der  depressiven  Phasen  tauchen 
stundenweise  Exaltationserscheinungen  (Jauchzen,  Singen,  Pfeifen, 
heitere  Visionen)  auf.  Der  Umschlag  ins  Exaltationsstadium  ist  ein 
plötzlicher,  unter  bedeutendem  Nachlass  der  Cyanose.  Voller-  und 
Weicherwerden  des  Pulses,  der  zugleich  frequenter  wird.  Nicht  selten 
finden  sich  auch  fluxionäre  Erscheinungen  zum  Gehirn.  Die  Miene  be- 
lebt sich,  Pat.  wird  redselig,  äussert  seine  Freude,  dass  ihm  so  leicht 
im  Kopfe  sei.  Er  fängt  an  zu  singen,  zu  tanzen  und  zu  jubiliren.  Er 
sieht  Gott,  schöne  Sterne,  eiue  grosse  Stadt;  der  Himmel  öffnet  sich, 
er  sieht  sich  ins  Paradies  versetzt.  Gott  steigt  vor  seinem  entzückten 
Auge  in  Gestalt  eines  schönen  grossen  Fisches  gen  Himmel.  Del- 
hi. Geist  erscheint  ihm  iu  Gestalt  eines  Knaben,  der  ein  weisses 
Täfelchen  in  Händen  hält.  Er  hält  dann  die  Umgebung  für  Engel, 
Gott   Vater.   Christus;   Alles   ist  so  wunderschön  und  glänzend.     Der 


174  Ueber  epileptische  Psychosen. 

liebe  Gott  erscheint  ihm  farbig  schillernd,  wie  ein  glänzender  Fisch, 
vor  seinen  Augen  tanzen  goldene  Fische.  Er  ist  anhaltend  schlaflos, 
jubilirt,  singt,  preist  Gottes  Gnade  und  Güte.  Die  Augen  glänzen, 
die  Miene  drückt  Begeisterung  aus,  der  Zustand  steigert  sich  momentan 
bis  zur  Verzückung.  Der  Puls  bleibt  tard,  aber  er  ist  voller,  die 
Arterie  weicher  als  im  depressiven  Stadium.  Bromkali  und  Morphium- 
injectionen  erweisen  sich  erfolglos  gegen  das  circuläre  Irresein.  Das 
erstere  vermindert  wohl  die  Häufigkeit  der  epileptischen  Anfälle,  aber 
diese  sind  auf  den  Gang  und  die  Intensität  des  cyklischen  Irreseins 
ohne  Einfluss.  Die  einzige  bemerkbare  Wirkung  der  epileptischen  In- 
sulte ist  die,  dass  wenn  sie  gehäuft  auftreten,  die  Cyanose  während 
einiger  Tage  gesteigert  ist.  Die  epileptischen  Anfälle  sind  meist 
klassische,  zuweilen  aber  beschränken  sie  sich  auf  ein  allgemeines 
Zucken  und  Beissen  des  Körpers,  ohne  dass  Pat.  ganz  das  Bewusstsein 
verliert  und  umstürzt 


VI. 

ZUR  CHIRURGISCHEN  BEHANDLUNG  DER  EPILEPSIE. 


Zur  chirurgischen  Behandlung  der  Epilepsie. 

Vor  nicht  langer  Zeit  herrschte  in  Laien-  aber  auch  ärztlichen 
Kreisen  die  Meinung,  dass  die  Hirnchirurgie  berufen  sei,  Triumphe  bei 
der  Behandlung  Epileptischer  zu  feiern  und  das  Geschick  gar  vieler 
dieser  Unglücklichen  zum  Guten  zu  wenden.  Selbst  Fälle  von  Epilepsie, 
bei  denen  gar  kein  Trauma  capitis  ätiologisch  in  Betracht  kam, 
drängten  sich  zu  einer  operativen  Behandlung,  und  man  hatte  als 
Neuropathologe  oft  grosse  Mühe,  solche  an  ihrem  Geschick  verzweifelnde 
Kranke  von  einer  gar  nicht  indicirten ,  nutzlosen,  nach  Umständen 
sogar  für  sie  gefährlichen  Operation  abzuhalten.  Neben  einzelnen 
wirklichen  Triumphen  operativer  Chirurgie  verzeichnet  die  Erfahrung 
und  Statistik  unzählige  Fälle,  in  welchen  die  Lage  des  Kranken  durch 
operativen  Eingriff  erheblich  verschlimmert  wurde.  In  der  grossen 
Mehrzahl  dieser  Fälle  hätte  ein  solcher  Misserfolg  vorausgesehen 
werden  und  der  Eingriff  unterbleiben  können,  wenn  man  sich  die 
Mühe  genommen  hätte,  den  concreten  Fall  anamnestisch  ätiologisch 
klarzustellen.  Hat  man  doch  sogar  in  unzähligen  Fällen  operirt,  wo 
die  Aetiologie  derselbeu  in  ganz  anderen  Bedingungen  lag,  als  in 
einem  Trauma  capitis,  wo  dieses  ganz  bedeutungslos  gewesen  war 
oder  nur  eine  allgemeine  Wirkung  auf  das  centrale  Nervensystem  im 
Sinne  einer  erworbenen  Prädisposition  zur  Krankheit  hervorgebracht 
hatte. 

Am  fatalsten  für  die  Kritik  sind  diejenigen  operativen  Fälle,  in 
welchen  man  sich  in  der  Diagnose  überdies  noch  geirrt  hatte,  insofern 
gar  keine  Epilepsie  sondern  Hysteria  gravis  vorhanden  war. 

Die  Begeisterung  für  eine  operative  Behandlung  der  Epilepsie  hat, 
angesichts  vorwiegend  unbefriedigender  Resultate,  rasch  nachgelassen, 

Ki-afft-Ebing,  Arbeiten  III.  1- 


178  Zur   chirurgischen  Behandlung 

und  es  giebt  nur  noch  vereinzelte  Aerzte,  die,  wie  sie  z.  B.  noch  An- 
hänger der  von  der  Wissenschaft  längst  aufgegebenen  blutigen  Nerven- 
dehnung sind,  auch  der  Trepanation  bei  Epilepsie  ohne  Weiteres  das 
Wort  reden. 

Der  Werth  statistischer  positiver  Eesultate  auf  diesem  Gebiete 
wird  dadurch  bedeutend  geschmälert,  dass  die  Krankheitsgeschichten 
operirter  Epileptiker  meist  einige  Wochen  nach  der  Operation  abge- 
schlossen werden,  grossentheils  wohl  deshalb,  weil  der  Operirte  aus 
dem  Gesichtskreis  des  Operateurs  entschwindet.  Wenn  ein  Epileptiker 
einige  Wochen  oder  Monate  lang  nach  einer  so  eingreifenden  Operation 
keine  Anfälle  mehr  hat,  so  beweist  dies  aber  keineswegs  eine  Heilung. 
Jeder  Erfahrene  weiss,  dass  längere  Latenz  der  Krankheitsanfälle 
spontan  oder  durch  eine  neue  Heilmethode  oft  genug  beobachtet  wird. 

Wie  wenig  es  gerechtfertigt  ist,  auf  solchem  Gebiet  sanguinischen 
Hoffnungen  sich  zu  ergeben,  lehren  u.  A.  die  Erfahrungen  eines  so  be- 
deutenden Chirurgen  Avie  Allen  Starr  („Hirn Chirurgie",  deutsche  Aus- 
gabe 1895),  der  bei  427  Fällen  „consecutiver"  Epilepsie  nur  26  Mal 
Indicationen  zur  Trepanation  fand. 

Von  13  eigenen  Fällen,  über  die  Starr  ausführlich  berichtet,  genas 
keiner  durch  den  operativen  Eingriff.  Von  29  weiteren ,  aus  der 
Literatur  von  ihm  zusammengestellten  sollen  8  genesen  sein,  aber  die 
Beobachtungsdauer  betrug  meist  nur  Monate,  nur  in  einem  Falle  bis 
zu  einem  Jahr.  Die  Gründe  (wesentlich  nicht  vollständige  Entfernbar- 
keit  von  krankhaften  Veränderungen,  besonders  von  Narbengewebe), 
welche,  selbst  bei  indicirter  Operation,  den  Erfolg  schmälern,  hat  Starr 
(op.  cit.)  in  lichtvoller  Weise  auseinandergesetzt. 

Immerhin  wird  man  dem  kühnen  Chirurgen  Recht  geben,  wenn  er 
meint,  dass  man  sich  durch  Misserfolge  nicht  entmuthigen  lassen  und 
bei  vorhandener  Indication  die  nur  mit  etwa  5°/0  Mortalität  zu  be- 
ziffernde Operation  unternehmen  soll. 

Die  grössten  Vortheile  bietet  wohl  die  operative  Chirurgie  in  pro- 
phylactischer  Hinsicht,  insofern  sie  bei  frischen  Schädelverletzungen 
operativ  eingreift  und  Reize  entfernt,  die  später  zum  Entstehen  von 
Epilepsie  Veranlassung  geben  könnten. 

Die  wichtigste  Frage  für  ein  operatives  Einschreiten,  da  wo  einem 
Trauma   capitis  Epilepsie  gefolgt   ist,  ist  die   nach  den  Indicationen. 

Dass  die  aufgetretene  Epilepsie  mit  einem  vorausgegangenen 
Trauma  capitis  überhaupt  zusammenhängt,  ist  nicht  immer  so  leicht 
sicherzustellen. 

Aus  der  Thatsache,  dass  von  8985  im  deutsch-französischen  Kriege 
am  Kopf  verwundeten  deutschen  Kriegern  nur  46  epileptisch  geworden 


der  Epilepsie.  279 

sind,  lässt  sich  folgern,  dass  vielfach  noch  anderweitige  Umstände  im 
Spiel  sein  mögen,  die  die  Krankheit  herbeiführen  helfen  und  dass  über- 
haupt der  Einfluss  des  Trauma  gegenüber  anderweitigen  Schädlich- 
keiten ein  geringer  ist. 

In  vielen  Fällen,  wo  ein  Trauma  capitis  wirksam  gewesen  sein 
mag,  geschieht  dies  sicher  auf  Grund  von  erblicher  Belastung,  Schädi- 
gung des  Schädelwachsthums  oder  Alkoholausschweifung.  Ganz  be- 
sonders kommt  die  letztere  in  Betracht,  wie  dies  2  von  Jolly  (Charite- 
annalen  20.  Jahrgang)  klinisch  ätiologisch  eingehend  beleuchtete  Fälle 
in  schönster  Weise  illustriren. 

Meist  wird  das  Trauma  capitis  nicht  durch  die  Verletzung  (die 
gar  nicht  vorhanden  zu  sein  braucht),  sondern  durch  die  mit  dem 
Trauma  gesetzte  Commotio  cerebri  epileptogen  werden.  So  begreift 
es  sich  auch,  dass  eine  allerdings  vorhandene  Knochennarbe  für  die 
Pathogenese  des  Falles  bedeutungslos  sein  kann. 

Ich  schliesse  hier  vorweg  die  immerhin  seltenen  Fälle  von  trauma- 
tischer Reflexepilepsie  im  Sinne  Köppen's  aus,  bei  welchen  die  von  der 
Narbe  ausgehende  Aura,  die  durch  Reizung  der  Narbe  eventuelle  ex- 
perimentelle Hervorrufung  eines  Anfalls  u.s.w.  bald  über  die  Bedeu- 
tung des  Falles  aufklären. 

Es  bedürfte  übrigens  einer  eingehenden  Studie  dieser  Fälle  von 
traumatischer  Reflexepilepsie  im  Lichte  neuerer  Kenntnisse  über 
Hysteria  gravis.  Wenigstens  handelte  es  sich  in  einzelnen  Fällen 
meiner  Erfahrung  hier  um  traumatisch  geschaffene  hysterogene  Zonen 
und  nicht  um  (Reflex-)Epilepsie.  Eine  genaue  Anamnese  und  minu- 
tiöse Erforschung  der  Pathogenese  sind  jedenfalls  in  allen  Fällen  von 
traumatischer  Epilepsie  Vorbedingungen  für  die  Gewinnung  von  Indi- 
cationen. 

Wie  von  Chirurgen  und  Neuropathologen  wohl  allgemein  anerkannt 
wird,  sind  die  Fälle  von  sog.  Jacksonepilepsie  diejenigen,  bei  welchen 
am  ehesten  an  einen  operativen  Eingriff  gedacht  werden  darf.  Hier  ist 
wenigstens  das  Gebiet  gestörter  Function  sicher  feststellbar  und  ebenso 
der  Angriffsort  für  eine  eventuelle  Operation.  Schwierigkeiten  für  die 
Indicationsstellung  ergeben  sich  hier  nur  insofern,  als  der  Sitz  der 
Läsion  auch  subcortical  sein  kann  und  dass ,  in  allerdings  seltenen 
Fällen,  kein  organisches  Substrat  besteht,  sondern  eine  functionelle 
Störung,  indem  Hysterie  Jacksonepilepsie  vortäuschen  kann  (gesammte 
Literatur  bei  Gilles,  traite  de  l'hysterie  II  p.  162).  Mit  dieser  That- 
sache  ist  immerhin  zu  rechnen.  Auf  hysterische  Stigmata  ist  kein 
Verlass.  Ich  habe  einen  monosymptomatischen  Fall  von  hysterischem 
motorischem  Jackson  beobachtet.  Ausgesprochene  Ausfallserscheinungen 

12* 


180  Zur  chirurgischen  Behandlung 

im  betr.  Rindengebiet,  haben  diagnostisch  jedenfalls  viel  grösseren 
Werth  zu  Gunsten  einer  organischen  Begründung  des  Falles,  als  Reiz- 
erscheinungen. 

Im  Anschluss  veröffentliche  ich  Fälle  aus  meiner  Klinik,  bei 
welchen  nach  meiner  Ueberzeugung  die  Vornahme  einer  Operation 
ganz  ungerechtfertigt  war. 

Diese  Fälle  sollen  nicht  anklagen,  sondern  einfach  warnen,  die 
Diagnose  und  Operation  nicht  zu  leicht  zu  nehmen. 

Beob.  1.  Franz  B.,  geb.  1871,  Kellner,  aufgenommen  auf  der 
psychiatrischen  Klinik  im  Wiener  allgemeinen  Krankenhause  am  21.  12. 
1892  wegen  eines  in  einem  offenbar  epileptischen  psychischen  Aus- 
nahmszustand  versuchten  Selbstmordversuches,  stammt  von  einem 
neuropathischen ,  jähzornigen  Vater.  Sein  Bruder  starb  in  früher 
Jugend  an  „Gehirnentzündung". 

Fat.,  der  als  Kind  nie  an  Convulsionen  gelitten  haben  soll,  hatte 
Rachitis  gehabt  und  soll  von  jeher  nervös  und  aufgeregt  gewesen 
sein.  Seit  seinem  8.  Jahre  hatte  er  an  häufigen  Vertigo-  und  Syn- 
copeanfällen  von  entschieden  epileptischem  Gepräge  gelitten.  Li 
beiderlei  Anfällen  fand  sich  Pallor.  Aura  fehlte.  Die  ersteren  dauerten 
Secunden,  die  letzteren  bis  zu  5  Minuten.  Motorische  Reizerschei- 
nungen  wurden  dabei  niemals  beobachtet. 

Im  März  1883  stürzte  Pat.  beim  Turnen  (wahrscheinlich  in  einem 
Schwindelanfall)  von  einer  Leiter,  erlitt  eine  leichte  Rissquetschwunde 
am  1.  Scheitelbein  und  war  5  Minuten  bewusstlos. 

Drei  Stunden  später,  auf  einem  Spaziergang,  erlitt  er  den  ersten 
klassischen  epileptischen  Insult.  Von  nun  an  kehrten  solche  sehr 
häufig,  sowohl  im  Schlaf  als  im  Wachen  wieder,  nicht  selten  gefolgt 
von  leichten  Verwirrtheitszuständen.  Eine  Aura  bestand  nicht  für 
diese  Anfälle.  Dieselben  traten  nach  Jahresfrist  zurück.  An  ihre 
Stelle  traten  nun  wieder  die  früheren  Vertigo-  und  Syncopeinsulte. 
Auch  litt  nun  Pat.  an  freistehenden  Dämmerzuständen,  in  welchen  er 
zur  Hand  befindliche  Gegenstände  sich  aneignete,  an  anderem  Orte 
wieder  fortwarf,  ohne  das  Geringste  von  diesen  Vorgängen  zu  wissen. 
Er  verlor  deshalb  seine  Stellung  als  Setzerlehrling,  wurde  darüber  ver- 
stimmt, äusserte  Taedium  vitae,  befand  sich  deshalb  1886  im  Frühjahr 
in  der  Beobachtungsstation  des  Wiener  allgem.  Krankenhauses  und 
wurde  wegen  Fortdauer  epileptischer  Ausnahmszustände  nach  der 
heimathlichen  Irrenanstalt  geschickt,  in  welcher  er  etwa  ein  halbes 
Jahr  verweilte.  Gebessert  entlassen,  wurde  er  Kellner,  bekam  seine 
Anfälle,  angeblich  wegen  des  aufreibenden  Berufes,  in  3— 4  monatlichen 


der  Epilepsie.  181 

Intervallen  wieder.  Nach  einer  Rauferei,  wobei  Pat.  ein  Glas  an  das  1.  Os 
parietale  geworfen  worden  war,  jedoch  ohne  Verletzung,  sehr  bedeutend 
vermehrte  Anfälle.  Als  ihm  ein  Arzt  erklärte,  er  sei  unheilbar,  machte 
Pat.  einen  Suicidversuch  mittelst  Adernaufschneiden.  Er  wurde  ins 
Krankenhaus  aufgenommen,  hatte  daselbst  2—3  Mal  täglich  Anfälle 
genuiner  Epilepsie.  Gebessert  entlassen  am  19.  12.  1890.  Pat.  hatte 
nun  durch  längere  Zeit  wieder  nur  Vertigo-  und  keine  klassische  An- 
fälle. Ende  August  1891  machte  er  die  Bekanntschaft  eines  wan- 
dernden Hypnotiseurs,  der  ihn  als  Medium  zurichten  wollte.  Es  kam 
nun  zu  einem  mittelst  Braid'scher  Methode  unternommenen  Hypnose- 
versuch, der  angeblich  tiefes  Engourdissement  erzielte.  Noch  an  dem- 
selben Abend  entstand  der  erste  Hysteriagravisanfall  (epileptoide 
Phase,  grands  mouvements)  von  mehrstündiger  Dauer.  Dieser  wieder- 
holte sich  nun  täglich,  während  die  vertiginösen  und  klassischen  epi- 
leptischen Anfälle  schwanden.  Aus  Nothlage  und  Kummer  über  seine 
Krankheit  machte  Pat.  im  October  1891  einen  Suicidversuch  durch 
Erhängen,  kam  deshalb  in  ein  .Spital,  wo  man  die  Hysteria  gravis- 
Anfälle,  obwohl  Pat.  die  schönsten  coordinirten  Krämpfe  hatte  (Are  de 
cercle,  „Verkrümmungen  wie  ein  Fragezeichen")  für  Epilepsie  hielt 
und  zwar  für  Jackson,  im  Zusammenhang  mit  jener  leichten  Verletz- 
ung vom  März  1883. 

Am  27.  11.  1891  wurde  am  1.  Scheitelbein  trepanirt,  aber  die  da- 
selbst erwartete  Veränderung  an  der  Vitrea  und  Dura  nicht  vorge- 
funden. Nach  diesem  operativen  Eingriff  waren  die  Hysteria  gravis- 
Anfälle  eine  Zeitlang  geschwunden.  Etwa  6  Wochen  nach  der  Opera- 
tion kam  es  eines  Abends  zu  rotirenden  Krampfbewegungen  im  rechten 
Schultergelenk  und  darauf  zu  einer  gekreuzten  hysterischen  Streck- 
contractur.  Daran  reihten  sich  durch  3  Tage  und  3  Nächte  in  halb- 
stündigen Intervallen  wiederkehrende,  jeweils  5 — 6  Minuten  andauernde 
Klonismen,  bei  intactem  Bewusstsein. 

Man  hielt  diese  neuerlich  für  Jackson,  nahm  an,  dass  die  Wund- 
ränder einen  Druck  auf  das  Gehirn  ausübten,  öffnete  und  nähte  die 
Wunde  nochmals,  worauf  thatsächlich  jene  Anfälle  nicht  wiederkehrten. 
Am  5.  3.  1892  wurde  Pat,  frei  von  solchen  aus  dem  Spital  entlassen 
und  befand  sich  wohl  bis  zum  10.  9.  1892.  an  welchem  Tage  er  an 
der  trepanirten,  durch  keine  Platte  geschützten  Stelle,  an  einen  Gas- 
kandelaber anstiess.  Durch  dieses  Trauma  scheint  die  in  der  Folge 
andauernd  hyperästhetische  Stelle  spasmogen  geworden  zu  sein. 

Es  kam  zunächst  zu  einer  Beugecontractur  in  der  r.  OE..  die  an- 
geblich   durch   Faradisation   des   r.   Schultergelenks    beseitigt   wurde. 

Ende  Oktober  1892  stürzte  Pat.  von  einer  Leiter  und  fiel  mit 


182  Zur  chirurgischen  Behandlung 

dem  Hinterhaupt  auf  eine  Sessellehne.  Sofort  stellte  sich  ein  Anfall 
ein,  in  welchem  die  in  Streckcontractur  befindliche  r.  OE.  nach  rück- 
wärts gezogen  wurde,  während  Klonismen  im  1.  Fuss  bestanden. 

Solche  Anfälle  wiederholten  sich  in  stundenlanger  Dauer  häufig; 
ab  und  zu  entwickelten  sie  sich  weiter  zu  Hysteria  gravis  (epileptoide 
Phase,  allgemeine  Starre)  und  gingen  dann  mit  Bewusstseinsverlust 
einher. 

Wegen  eines  neuerlichen  Suicidversuchs  war  Pat.  am  21.  12.  1892 
(s.  o.)  auf  die  psychiatrische  Klinik  aufgenommen  worden. 

Stat.  praesens:  Pat.  mittelgross,  gracil,  von  gutem  Ernährungs- 
zustand. Schädel  leicht  rachitisch,  an  den  Tubera  abnorm  prominent, 
Cf.  54.5.  Auf  der  Höhe  des  1.  Scheitelbeines  ein  ovaler,  sagittal  ge- 
stellter, muldenförmig  vertiefter,  von  einem  Kuochenwall  umgebener, 
6  cm  langer,  3  cm  breiter  Knochendefect ,  von  normaler  Kopfhaut 
gedeckt,  Schon  leises  Berühren  dieser  Stelle  ruft  lebhaften  Schmerz 
hervor.  Hirnpulsation  ist  daselbst  deutlich  zu  fühlen.  Bei  Husten- 
stössen  wird  diese  Parthie  vorgewölbt. 

Anästhesie  der  Conjunctiva  und  Cornea  r.  und  1.  Anästhesie  auf 
1.  Kopf-  und  Gesichtshälfte  incl.  1.  Mundhöhle.  Clavus.  Amyosthenie, 
Hypästhesie  und  Hypalgesie  in  r.  OE.,  Verlust  der  cutanen  und  tiefen 
Sensibilität  im  1.  und  2.  Finger,  Anästhesie  des  1.  Fusses  bis  über  die 
Malleoien  herauf,  hier  ringförmig  abschneidend.  Amyosthenie,  Hyp- 
ästhesie und  Hypalgesie  in  der  übrigen  1.  UE. ,  bedeutende  Herab- 
setzung der  tiefen  Sensibilität  daselbst,  Schmerzhafte  Druckpunkte  an 
Wirbelsäule  und  unter  der  1.  Mamma.  Patellarreflex  gesteigert,  1.  mehr 
als  r.  Anfälle  von  Contractur  in  der  dann  nach  rückwärts  gezogenen 
r.  OE.,  zugleich  mit  Klonismus  der  1.  UE.  Episodisch  arten  solche 
Anfälle  zu  grands  mouvemtsnts  (Are  de  cercle,  halbseitige  Verdrehungen 
und  Wälzen  um  die  Längsaxe)  mit  Trübung  des  Bewusstseins  aus.  Im 
Anfall  hört  die  jeweils  intervallär  sehr  deutlich  an  der  Trepanations- 
stelle zu  fühlende  Hirnpulsation  auf.  Die  höchst  hyperästhetische  Opera- 
tionsstelle scheint  spasmogen.  Besserung  bei  entsprechender  Behandlung. 

Nach  der  Entlassung  (9.  3.  1893)  in  Nothlage  wieder  tägliche 
und  schwere  Hysteria  gravis-Insulte. 

Am  24.  4.  1893  neuerliche  Operation  auf  dem  1.  Scheitelbein  behufs 
Einheilung  einer  Celluloidplatte.  Einige  Stunden  später  unter  heftigen 
excentrischen  Schmerzen  in  r.  OE.  .Jacksonartige  Klonismen,  serien- 
artig, jeweils  4—5  Minuten  lang,  einmal  auch  mit  Uebergreifen  auf 
das  r.  Facialisgebiet,  bei  erhaltenem  Be^vusstsein.  Nach  mehrstündiger 
Dauer  cessiren  diese  Jacksonanfälle  und  hinterlassen  eine  schlaffe 
Lähmung  in  der  r.  OE. 


der  Epilepsie.  183 

Die  Operation  bestand  in  Eröffnung  der  Operationsstelle,  Excision 
der  Narbe,  Anfrischung  der  alten  Trepanationsstelle,  Spaltung  der  Dura, 
Function  des  Gehirns  (kein  Abfluss  von  Flüssigkeit),  Deckung  der 
Lücke  durch  einen  seitlich  davon  gewonnenen  Hautknochenlappen. 
Seither  häufige  Jacksonanfälle,  an  denen  auch  die  r.  UE.  theilnimmt. 

Am  25.  6.  stösst  sich  Pat.  an  die  operirte  und  offenbar  nach  wie 
vor  spasmogene  Stelle.  Sofort  Stat.  hystericus  und  Delirien,  Suicid- 
versuche  bis  zum  3.  7.,  wo  Pat.  mit  Amnesie  für  alles  Vorgegangene 
zu  sich  kommt.  Er  wird  am  4.  7.  auf  die  psychiatrische  Klinik 
verbracht. 

Stat.  vom  5.  7.  1893 :  Hochgradige  Schmerzhaftigkeit  der  Operations- 
stelle. In  r.  OE.  und  UE.  Amyostkenie.  Sensibilität  intact.  Im 
Juli  und  August  mehrere  Anfälle  von  r.  Jackson  (OE.  und  UE.)  und 
solche  von  Hysteria  gravis. 

Am  27.  8.  1893  in  die  Versorgungsanstalt  entlassen.  Bis  zum 
August  1896  anfangs  noch  häufiger,  dann  .seltener  Jacksonanfälle,  nie 
klassische  epileptische.  Zuweilen  Hysteria  gravis- Anfälle  mit  Delir,  in 
welchem  gelegentlich  Suicidversuche  stattfinden.  August  1896  ent- 
schliesst  sich  ein  Chirurg  zu  neuerlicher  Trepanation  auf  dem  1.  Scheitel- 
bein, trägt  angeblich  eine  „schwammige"  Hasse  auf  der  Hirnrinde  ab 
und  deckt  den  Schädeldefect  mit  einer  Celluloidplatte,  worauf  die 
Jacksoninsulte  definitiv  schwinden.  Die  H3rsteria  gravis-Anfälle  dauern 
fort.  Nach  einem  neuerlichen  Erhängungsversuch  kommt  Pat.  wieder 
einmal  auf  die  psychiatrische  Klinik. 

Stat.  6.  11.  1896:  Operationsstelle  sehr  empfindlich  bei  Berührung. 
In  r.  OE.  und  UE.  Amyosthenie.  Hypästliesie  und  Hypalgesie  am 
r.  4.  und  5.  Finger.  Sonst  Sensibilität  überall  normal.  Seltene 
Hysteria  gravis-Anfälle,  neuerlich  öfter  Dämmerzustände  mit  taed. 
vitae,  gelegentlich  Sehen  von  schwarzen  Menschen  en  masse,  die  Pat. 
verfolgen.  Kein  Potus  im  Spiele.  Pat.  wurde  in  die  heimathliche 
Irrenanstalt  transferirt,  in  welcher  er  bis  zum  6.  7.  1897  verblieb. 
Seither  keine  irgendwie  geartete  Insulte  mehr.  Die  Kopfnarbe  ist 
nicht  mehr  schmerzhaft.  Negativer  Befund  von  Seiten  des  Nerven- 
systems. 

Epikrise:  Idiopathische  Epilepsie  in  Gestalt  von  petit  mal,  auf 
Grund  von  hereditärer  Belastung  und  Bachitismus  cranii  vom  8.  Jahre 
all.  Fortentwickelung  der  epileptischen  Neurose  zu  grand  mal  und 
psychischen  Aequivalenten,  nach  Trauma  capitis  ohne  Schädelverletzung. 

Durch  Hypnotisirungsversuche  eines  Laien  entsteht  Hysteria 
gravis.  Zurücktreten  der  epileptischen  Neurose.  Verwechselung  der 
hysterischen  Neurose  mit  Epilepsie,  anamnestisch  und  klinisch  ganz  un- 


184  Zur   chirurgischen  Behandlung 

gerechtfertigte  Annahme  einer  Rindenepilepsie.  Auf  diese  irrthümliche 
Annahme  gegründete  ganz  erfolglose  Trepanation.  Neuerliche  Ver- 
wechselung der  hysterischen  Krampferscheinungen  mit  Eindenepilepsie. 
Neuerliche  erfolglose  Schädeleröifnung.  Die  Operationsnarbe  wird  Sitz 
einer  hysterischen  spasmogenen  Zone.  Abermalige  Operation  wegen 
vermeintlicher  Jacksonepilepsie. 

Auf  Grund  dieser  irrigen  Voraussetzung  Spaltung  der  Dura  und 
Punction  des  Gehirns.  In  Folge  dieses  Eingriffes  Avirkliche  Ent- 
wickelung  von  Jacksonepilepsie.  Durch  neue  Operation  endlich 
Schwinden  von  Jackson.  Der  in  Euhe  gelassene  Kranke  verliert  all- 
mählich auch  seine  Hysteria  gravis.  Wahrscheinlich  als  psychische 
Aequivalente  aufzufassende  Dämmerzustände  bestehen  fort  und  sind 
wohl  als  Residuen  der  ursprünglichen  epileptischen  Neurose  aufzufassen. 

Die  vorstehende  Krankheitsgeschichte  stellt  eine  wahre  medi- 
cinische  Odyssee  dar  und  rechtfertigt  das  Verlangen  nach  besserer 
Diagnose  und  richtiger  Indicationsstellung,  bevor  man  sich  zu  chirur- 
gischen Eingriffen  bei  Krampfkrankheiten  entschliesst.  Schon  die  genaue 
anainnestische  Forschung  hätte  in  diesem  Falle  die  Unhaltbarkeit  der 
Annahme  einer  traumatischen  Epilepsie  erweisen  müssen. 

Beob.  2.  Im  Herbst  1892  Hess  sich  der  25  Jahre  alte  Verkäufer 
E.  in  meiner  Klinik  aufnehmen. 

Er  ist  hereditär  belastet  (Eltern  und  Bruder  nervös,  jähzornig, 
Mutter  mit  Migräne  behaftet),  war  ein  eigenartiger,  schüchterner, 
linkischer,  träumerischer  Junge,  kam  in  der  Lehre  nicht  fort,  versuchte 
es,  16  Jahre  alt,  bei  der  Marine,  wurde  1888  wegen  Intermittens, 
Lues,  doppeltem  Leistenbruch  superarbitrum,  ergab  sich  nun  dem  Potus 
und  schoss  sich  am  16.  8.  1891,  verzweifelt  über  seine  Lage,  mit  einem 
Revolver  in  die  r.  Schläfe.  Er  wurde  bewusstlos  aufgefunden,  erbrach 
mehrmals,  bot  keine  Lähmung.  Das  Projectil  wurde  nicht  auf- 
gefunden. Der  Schusskanal  reichte  horizontal  mehrere  Centimeter 
weit  in  die  Schädelhöhle  hinein. 

Am  21.  10.  1891  riss  sich  Pat.  im  Spital  in  einem  Zornaffect  den 
Verband  ab,  fuhr  mit  einer  Kornzange  in  den  AVundkanal  und  zog  sich 
Gehirnsubstanz  heraus.  Er  scheint  sich  dabei  den  r.  tractus  opticus 
und  r.  pedunculus  cerebri  verletzt  zu  haben.  Die  unmittelbare  Folge 
dieses  Eingriffs  war  ein  Gefühl  von  Eiseskälte  in  der  1.  Körperhälfte, 
eine  1.  Hemiplegie  inclus.  Mundfacialis,  1.  Hemikypästhesie,  1.  Hemi- 
anopsie. Die  Wunde  heilte  bald.  Gegen  seine  Lähmung  suchte  Pat. 
vergebens  Hülfe  in  verschiedenen  Spitälern. 

Stat.  praes.  vom  2.  12.  1892.    Pat.  gross,  kräftig,  gut  genährt, 


der  Epilepsie.  185 

ohne  Zeichen  von  Lues,  ohne  Störung  in  den  Functionen  der  vegetativen 
Organe.  In  der  r.  Schläfe  findet  sich  ein  etwa  kreuzergrosser,  kreis- 
runder Defect  im  Knochen,  verschlossen  durch  eine  festsitzende,  kaum 
verschiebliche,  muldenförmig  eingezogene,  bei  Druck  schmerzhafte 
Narbe,  durch  welche  man  undeutlich  Hirnpulsation  fühlt.  Pupillen 
mittelweit,  gleich,  hemiopische  Pupillenreaction.  Im  Perimeterbefund 
1.  scharf  abgegrenzte  Hemianopsie.  Augenhintergrund  normal.  Alle 
übrigen  Hirnnerven  (auch  Oculomotorius)  intact,  bis  auf  Parese  des 
1.  Facialis  im  Wangen-  und  Mundtheil. 

In  der  I.  OE.  alle  Bewegungen  in  physiologischem  Umfang  mög- 
lich, aber  ganz  kraftlos.  Sehr  rasches  Ermüden.  Es  besteht  Ataxie, 
im  1.  Biceps  eine  Spur  von  Rigor.  Die  1.  OE.  ist  im  Volumen  um 
2  cm  reducirt.    Die  tiefen  Reflexe  sind  hochgesteigert. 

An  der  1.  UE.  sind  die  Einzelbewegungen  erhalten,  aber  kraftlos. 
Beim  Gehen,  das  entschieden  hemiplegisch  ist  und  Spuren  von  Rigor 
verräth,  scharrt  die  1.  Fussspitze  am  Boden.  Trophisehe  und  vaso- 
motorische Störungen  bestehen  nicht.  Enorme  Steigerung  der  tiefen 
Reflexe,  bis  zu  Patellar-  und  Fussklonus. 

Pat.  klagt  über  ein  Gefühl  von  Kälte  in  1.  OE.  und  UE.,  deren 
Temperatur  auch  thatsächlich  herabgesetzt  ist.  Pat.  schwitzt  profus 
auf  der  1.  Seite  (r.  fast  gar  nicht).  Auf  der  ganzen  1.  Körperhälfte 
besteht  keine  Störung  der  Sensibilität,  Blase  und  Mastdarm  sind 
intact.  Der  Bauchreflex  fehlt  links.  Auf  der  r.  Körperhälfte  keine 
motorische  oder  sensible  Anomalie. 

Pat.  verlässt  nach  wenig  Tagen  die  Klinik,  in  der  er  am  8.  10. 
1893  neuerlich  zur  Aufnahme  gelangt.  Seit  Anfang  Februar  1893  hatte 
R.  an  neurasthenischen  Beschwerden  ( Kopfdruck.  Gefühl  eines  eisernen 
Reifs  um  den  Kopf,  Verstimmung,  Schlaflosigkeit  u.  s.  w.  |  und  eigen- 
tliümlichen,  motorischem  Jackson  ähnlichen  Anfällen  zu  leiden  begonnen. 
Als  Aura  solcher  verspürte  er  Ameisenkriechen  in  den  Fingerspitzen 
der  1.  Hand,  das  sich  über  den  Arm  aufwärts  erstreckte.  Dann  kam 
es  zu  Pfeifen,  Rauschen  in  beiden  Ohren,  Schwindel,  Umneblung,  worauf 
klonische  Krämpfe  1.  einsetzten.  Die  Zuckungen  begannen  im  1.  < Be- 
sicht, setzten  sich  fort  auf  1.  OE.,  UE.,  dauerten  bis  zu  10  Minuten 
ohne  Verlust  des  Bewusstseins,  ausser  iii  den  seltenen  Fällen,  wo  sie, 
in  der  1.  UE.  angelangt,  auch  auf  der  r.  Seite  auftraten.  Einmal  kam 
es  in  einem  solchen  generalisirten  Anfall  zu  Zungenbiss.  Solcher  An- 
fälle kehrten  bis  zu  4  täglich  wieder.  Einigemal  hatte  Pat.  auch  frei- 
stehende Dämmerzustände  gehabt,  aus  welchen  er  an  ganz  fremdem 
Orte,   ohne  zu  wissen  warum   und  wie  er  dahin  gekommen,   erwachte. 

Am  7.  8.  1893   hatte  sich  Pat.,  in  der  Hotthung  auf  Hülfe  durch 


186  Zur  chirurgischen  Behandlung 

eine  Operation,  in  einem  chirurgischen  Spital  aufnehmen  lassen.  Man 
entschloss  sich  zu  einer  solchen.  Am  24.  8.  wurde  die  frühere  Wund- 
stelle trepanirt,  die  massig-  gespannte  Dura  eröffnet,  wobei  sich  viel 
Cerebrospinalflüssigkeit  entleerte.  Das  Gehirn  zeigte  an  dieser  Stelle 
deutliche  Pulsation  und  da  man  die  Hirnoberfläche  intact  fand,  wurde 
von  einem  weiteren  Eingriff  abgestanden.  Glatter  Wundverlauf. 
König'sche  Plastik  mittelst  Transplantation  einer  dünnen  Knochen- 
lamelle von  der  Lamina  ext. 

Bis  zum  30.  8.  Fortdauer  der  „epileptischen"  Insulte.  Nun  kommen 
aber  delirante  (fieberlose)  Zustände,  in  welchen  er  klagt,  man  schlage 
ihn  auf  den  Kopf,  schreit,  lärmt,  sich  den  Verband  herunterreisst. 
Deshalb  Aufnahme  auf  der  psychiatrischen  Klinik,  wo  er  vom  14.  10. 
ab  ruhig  und  lucid  wird.  Im  Stat.  praes.  vom  14.  10.  ist  der  frühere 
Befund  der  ETerderkranknng  insofern  geändert,  als  1.  Hand  und  Finger 
gelähmt  sind,  eine  leichte  Contractu*  in  diesen  besteht,  in  1.  UE. 
Lähmung  in  Zehen  und  Fussgelenk  sich  vorfindet,  mit  Plantarcontractur 
des  Fusses  und  Streckcontractur  der  übrigen  Extremität. 

Dieser  dem  Bild  einer  Herderkrankung  nicht  ganz  entsprechende 
motorische  Befund  findet  eine  eigenartige  Beleuchtung  durch  folgende 
Sensibilitätsstörungen :  L.  Hemihypästhenie  für  tactile  und  thermische 
Beize,  Hyperästhesie  für  Schmerzreize,  bedeutende  Herabsetzung  des 
Gefühls  für  passive  Bewegung  und  der  Lagevorstellung  in  1.  OE. 
und  UE. 

In  r.  OE.  und  UE.  nichts  Abnormes,  ausser  Steigerung  des 
Patellarreflexes  und  leichtem  Fussclonus.  Die  früheren  Jacksonanfälle 
kehren  alle  2-3  Tage  wieder. 

Zustand  ungebessert  beim  Austritt  des  Pat.  im  März  1894. 

Am  18.  5.  1895  lässt  sich  Pat,  neuerlich  auf  der  Klinik  aufnehmen. 
Er  berichtet,  dass  seine  Anfälle  sich  nach  der  Entlassung  verloren 
hatten,  dass  er  8  Monate  lang  ganz  frei  von  solchen  war,  erst  neuer- 
lich wieder  von  solchen  heimgesucht  wurde.  Sie  sind  seltener  aber 
heftiger  geworden,  insofern  sie  nun  meist  auf  die  rechte  Seite  über- 
greifen und  mit  Bewusstseinsverlust  einhergehen.  Ihr  Charakter  hat 
sich  nicht  geändert. 

Während  die  1.  homonyme  Hemianopsie  unverändert  fortbesteht, 
ist  jetzt  keine  hemiopische  Pupillenreaction  mehr  zu  constatiren. 
Augenspiegelbefund  nach  wie  vor  negativ. 

Pat.  ist  psychisch  geändert,  insofern  er  auffallend  reizbar  ge- 
worden und  häufig  verstimmt  ist.     Die   Intelligenz  hat  nicht  gelitten. 

An  der  1.  OE.  sind  sämmtliche  Muskeln  des  Schultergürtels  und 
des  Ellbogengelenkes  paretisch  und  im  Volumen  reducirt.    Im  Hand- 


der  Epilepsie.  187 

gelenk  besteht  Parese  der  Strecker,  Lähmung  der  Beuger,  an  den 
Fingermuskeln  Parese  und  Kigor.  Ataxie,  gesteigert  durch  Augen- 
schluss,  Intentionstremor  der  1.  Hand.  Hochgradige  Steigerung  der 
tiefen  Reflexe,  Handclonus. 

An  der  1.  UE.  findet  sich  spastische  Parese  in  dem  Hüft-  und 
Kniegelenk,  Lähmung  im  Fussgelenk.  Von  den  Zehen  besitzt  nur  der 
Hallux  eine  (beschränkte)  Beweglichkeit,  Gang  spastisch  paretisch  atac- 
tisch.     Patellar-  und  Fussclonus. 

Im  1.  Facialismundgebiet  Parese.  R.  und  L.  Anosmie,  Ageusie 
der  1.  Zungenspitze.  Die  tactile  Sensibilität  im  Gesicht  ist  r.  und  1. 
normal,  die  Schmerzempfindlichkeit  r.  im  1.,  1.  in  allen  Aesten  gesteigert, 
die  thermische  im  gleichen  Gebiet  sehr  herabgesetzt. 

Auf  1.  OE.  und  1.  Thorax  besteht  tactile  Anästhesie,  thermische 
Hyp-  und  algetische  Hyperästhesie.  Die  tiefe  Sensibilität  ist  in  allen 
Gelenken  sehr  gestört,  Für  die  1.  Hand  fehlt  das  Bewusstsein  der 
Lage  und  Stellung. 

An  1.  UE.  besteht  tactile  Hypästhesie,  Hyperalgesie.  die  aber  nach 
Anfällen  vorübergehend  einer  Hvpalgesie  weicht,  Thermanästhesie 
(thermische  Reize  werden  nur  als  Schmerz  empfunden).  Die  tiefe  Sensi- 
bilität ist  nur  im  Hüftgelenk  erhalten. 

Weitere  hysterische  Stigmata  sind  nicht  vorhanden.  Auf  der 
r.  Körperhälfte  sind  Motilität  und  Sensibilität  intact.  Pat.  wurde  einer 
Siechenanstalt  zugewiesen. 

Beob.  3.  L.  R,  Commis.  21  J.,  aufg.  10.  2.  1894  angeblich  un- 
belastet, früher  gesund,  schoss  sich  in  Verzweiflung,  als  er  Eltern 
und  Geschwister  vor  4  Jahren  dem  Tod  des  Verbrennens  ausgesetzt 
sah  (Mutter  verbraunte  thatächlich)  eine  Revolverkugel  in  die  r. 
Schädelhälfte.  Sofort,  ohne  Bewusstseinsverlust,  Hemiplegie  sin.  inclus. 
Facialis,  exclus.  Zunge.  Nach  24  Stunden  Anfälle  von  Klonismus  der 
1.  Gesichtshälfte,  15  Minuten  dauernd,  anfangs  bis  zu  4  mal  täglich. 
allmälig  seltener  werdend.  Nach  2  Monaten  Trepanation  an  der  Stelle 
der  Verletzung.  Entfernung  von  2  Knochensplittern.  Schwinden  der 
Facialiskrämpfe.  Ein  Jahr  nach  der  Schussverletzung  fällt  Pat.  eine 
1  Kilo  schwere  Schachtel  auf  den  Kopf.  Einige  Minuten  darnach 
Wiederkehr  der  1.  Gesichtskrämpfe,  die  sich  auf  1.  Arm  und  1.  Bein 
fortsetzen  und  das  Bild  eines  Jacksonanfalles  repräsentiren.  Häufige 
Wiederkehr  dieser  Anfälle.  Nie  Bewusstseinsverlust,  nie  Uebergreifen 
auf  die  r.  Körperhälfte. 

Pat.  capricirte  sich  darauf,  durch  operative  Eingriffe  Heilung  zu 
finden.     Er  Hess  sich  7  mal  in  Pest,  2  mal  in  Wien,   trepaniren,  theils 


188  Zur  chirurgischen  Behandlung 

Knochenstücke  reseciren.  Man  fand  nie  eine  Verletzung  der  Hirn- 
oberfläche vor  und  beschränkte  sich  darauf,  diesen  negativen  Befund 
zu  constatiren.  Die  letzte  Operation  hatte  am  13.  9.  1893  statt- 
gefunden. Seither  waren  die  Jacksonanfälle  seltener  aber  schwerer 
geworden,  bezw.  auch  auf  die  r.  Seite  übergegangen  und  mit  Bewusst- 
seinsverlust  verbunden.  Während  ihnen  früher  nie  eine  Aura  voraus- 
gegangen war,  leitete  sie  nunmehr  Herzklopfen,  Klopfen  im  Kopf, 
Beängstigung,  Schwindelgefühl  ein. 

Pat.  war  wegen  eines  pathologischen  Affects  auf  die  psychiatrische 
Klinik  transferirt  worden.  Während  seines  mehrtägigen  Aufenthaltes 
daselbst  wurde  nachstehender  Befund  gewonnen : 

Pat.  mittelgross,  ohne  Degenerationszeichen,  ohne  Befund  seitens 
der  vegetativen  Organe.  Auf  dem  rechten  Stirnbein  eine  5  cm  lange, 
2  cm  breite  Narbe,  darunter  bewegliche  Knochenstücke,  von  einer 
nicht  gelungenen  König'schen  Transplantation  herrührend.  Auf  dem 
r.  Scheitelbein  eine  ovale  6  cm  lange,  4  cm  breite  Narbe,  darunter 
ein  durch  Celluloidplatte  gutgedeckter  Knochendefect,  Bei  der  Ex- 
spiration wölbt  sich  diese  Stelle  vor. 

Bis  auf  leichte  Parese  des  1.  Mundfacialis  alle  Hirnnerven  normal. 
E.  Körperhälfte  ohne  pathologischen  Befund. 

L.  OE.  Alle  Bewegungen  activ  möglich,  aber  grobe  Muskelkraft, 
besonders  in  Hand-  und  Fingermuskeln  minimal  (Dynamom.  B.  27 
L.  5).  Bei  passiver  Bewegung  leichter  Rigor  in  den  Ellbogen-,  Hand- 
und  Fingermuskeln.     Tiefe  Befiexe  sehr  gesteigert.    Sensibilität  intact. 

L.  UE.  Parese  in  Hüft-  und  Kniegelenkmuskeln.  Lähmung  in 
Fuss-  und  Zehengelenken.  Starker  Rigor  im  Fuss-  und  Kniegelenk. 
Hemiplegisch  spastischer  Gang.  Tiefe  Befiexe  sehr  gesteigert  (Fuss- 
klonusj.    Sensibilität  intact. 

Beob.  4.  St.,  Bahnarbeiter,  aufg.  26.  1.  1896,  stammt  von  sehr 
jähzornigen  Eltern.  Mutters  Schwester  endete  durch  Selbstmord.  Pat. 
litt  als  Kind  schwer  an  Convulsionen,  lernte  spät  gehen  und  sprechen, 
hatte  irrelevante  Kinderkrankheiten,  diente  anstandslos  1890  in  der 
Armee,  war  kein  Trinker,  erkrankte  (1892)  mit  25  Jahren,  ohne  auf- 
findbare Ursache,  an  genuiner  Epilepsie,  wurde  reizbar,  vergesslich, 
hatte  sehr  heftige  Anfälle,  verlor  deshalb  seinen  Dienst,  wandte  sich 
an  verschiedene  Aerzte,  wurde  erfolglos  behandelt,  zuletzt  am  10.11.1894 
am  r.  Scheitelbein  trepanirt,  obwohl  weder  eine  Verletzung  am  Kopf 
nach  Auraerscheinungen,  die  er  nie  gehabt  hatte,  einen  solchen  operativen 
Eingriff  indicirt  erscheinen  Hessen.  Der  Befund  am  Cranium  war  ein 
negativer.     Die  Anfälle  der  Krankheit  wurden  dadurch  in  keiner  Weise 


der  Epilepsie.  189 

beeinflusst.  Wegen  einer  falschen  Selbstbeschuldigung,  im  epileptischen 
Dämmerzustand  gemacht,  war  Pat.  auf  die  psychiatrische  Klinik  ge- 
kommen. Pat.  mittelgross,  Cranium  rachit.,  von  54  cm  Horizontal- 
umfang. 

Am  r.  Scheitelbein  ein  kreisrunder,  4  cm  im  Durchmesser  be- 
tragender Knochendefect.  Pulsation  des  Gehirns  daselbst  deutlich 
sieht-  und  tastbar.     Keine  Zeichen  einer  Herderkrankung. 

Beob.  5.  H.,  17  J.,  Lehrling,  aufg.,  10.  5.  1894.  von  rückenmarks- 
krankem Vater,  aus  im  Uebrigen  gesunder  Familie,  nie  schwerkrank 
gewesen,  mit  submicrocephalem  Schädel  (Horizontalumfang  52.5  cm), 
bekam,  14  Jahre  alt,  einige  Stunden  nach  einem  heftigen  Schreck, 
einen  klassischen  Anfall  von  Epilepsie,  der  sich  seither  fast  jede  Nacht 
wiederholte.  Obwohl  Pat.  nie  ein  Trauma  capitis  erlitten  hatte,  auch 
keine  vom  Schädel  ausgehende  Aura  bot,  wurde  er  am  27.  4.  1892  am 
r.  Seitenwandbein  trepanirt.  Negativer  Befund  an  der  Operations- 
stelle. Seither  Anfälle  der  Epilepsie  schwerer  und  häufiger  (bis  zu 
mehreren  in  einer  Nacht).  Zunehmende  Reizbarkeit,  Rückgang  der 
ethischen  und  intellectuellen  Leistungen.  Wiederholte  Diebstähle,  zu- 
letzt Verurtheilung  zu  8  Monaten  Kerker.  Diebstähle  wahrscheinlich 
in  psychischen  Dämmerzuständen  begangen.  Pat  wurde  schon  bald 
nach  Antritt  der  Strafhaft  wegen  epileptischer  Degeneration  entlassen. 
Während  des  kurzen  Aufenthalts  auf  der  Klinik  Anfälle  klassischer 
Epilepsie. 


VII. 


ÜEBER  ECMNESIE. 


Ucfoer  Ecmnesie. 

In  einer  1887  zu  Bordeaux  erschienenen  Brochüre1)  beschrieb 
Dr.  H.  Blanc-Fontenille  einen  eigentümlichen  transitorischen  psy- 
chischen Ausnahmezustand,  den  er  bei  einer  Hysterischen  auf  Pitres 
Klinik  zu  beobachten  Gelegenheit  gehabt  hatte,  als  „Delire  avec 
ecmnesie". 

Es  handelte  sich  um  seelische  Zustände,  in  welchen  die  Fat.  in 
frühere  Lebensahschnitte  zurückversetzt  schien,  frühere  Episoden  noch- 
mals mit  augenscheinlicher  Treue  durchlebte. 

Während  nun  für  diese  hell  beleuchtete  Episode  Gedächtnis*-  und 
Associationskraft  nichts  zu  'wünschen  übrig  Hessen,  auch  alle  Erinne- 
rungen und  alle  Fertigkeiten  bis  zu  dem  betr.  Moment,  welchen  Fat. 
gerade  durchlebte,  lückenlos  zu  Gebote  standen,  war  sie  ex  memoria, 
d.  h.  im  Zustand  der  Amnesie  für  alle  Erlebnisse,  Kenntnisse,  Fertig- 
keiten, die  nach  jener  Episode,  die  gerade  neuerlich  durchlebt  wurde, 
erfahren,  bezw.  erworben  worden  waren. 

Dieser  Lebensabschnitt  bis  zur  Gegenwart  war  temporär  ganz 
verdunkelt  —  ecmnestisch. 

Solche  Anfälle  kamen  ursprünglich  im  Auschluss  an  Attaquen  von 
Hysteria  gravis,  in  Gestalt  von  Schlaf-  oder  convulsiven  Anfällen. 
Später  constatirte  man  ihre  Hervorrufbarkeit  durch  Hypnose  oder 
vermittelst  Reizung  bestimmter  Stellen  (Zones  ,,ideoecmnesiques")  der 
Körperoberfläche. 

Der  Fall  des  Verf.  ist  kurz  folgender: 


1)  Dr.  H.  Blaiic-Fontenille,  etude  snr  une  forme  partieuliere  de  delire  hys'erique 
(Delire  avec  Ecmnesie).    Bordeaux.    Beüier  et  Cie.  1887.  pp.  50. 

Kraft' t-Ebing,  Arbei'en  III  13 


194  Ueber  Ecmnesie. 

Beob.  1.  A.  M.,  32  J.,  unehelich,  Eltern  unbekannt,  erlitt  als  Kind 
von  7  Monaten  tiefe  Brandwunden  an  Hals  und  Gesicht,  hatte  unerhebliche 
Kinderkrankheiten,  genoss  gute  Erziehung,  trat  mit  12  Jahren  in  einen 
Dienst  ein,  wurde  kränklich,  nervös,  brachte  mehrere  Jahre  in  Spitälern  zu, 
erholte  sich,  menstruirte  zuerst  mit  16  Jahren,  wurde  im  neuerlichen  Dienst 
Maitresse  ihres  Dienstherrn,  heirathete  1879  einen  Diener  desselben.  Im 
Februar  1881,  mit  25  Jahren,  nach  heftiger  Geniüthsbewegung  in  Folge 
von  Streit  mit  dem  Geliebten,  Ausbruch  von  Hysteria  gravis  convulsiva. 
Wegen  abdominaler  Schmerzen  und  Fortdauer  der  Anfälle  Aufenthalt  in 
der  Klinik  von  Pitres  vom  Dec.  1881  bis  Mai  1882.  Die  convulsiven  An- 
fälle wurden  selten,  dagegen  kamen  häufig  Schlafanfälle.  Pat.  lebte  von 
nun  an  auf  dem  Lande  und  kam  nur  mehr  gelegentlich  Exacerbationen 
ihrer  Krankheit  auf  die  Klinik. 

Oft  wurde  nun  bemerkt,  dass  in  dem  Delir,  das  den  Hysteria  gravis- 
Anfall  beschloss  und  das  den  ätiologisch  wichtigen  Streit  mit  dem  Geliebten 
vom  Februar  1881  zum  Inhalt  hatte,  Pat.  für  alle  Erlebnisse  seit  diesem 
Zeitpunkt  absolut  keine  Erinnerung  hatte,  von  Krankheit,  AerzteD,  Spital 
u.s.w.  nichts  wusste  und  ganz  im  Februar   1881   lebte. 

Sobald  man  den  deliranten  Zustand  durch  Compression  des  1.  Ovariums 
beseitigte,  war  die  Kranke  wieder  richtig  orientirt  und  die  Continuität  ihrer 
Erinnerung  hergestellt.  Auch  nach  Schlafanfällen  wurden  ganz  analoge 
Zustände  von  delire  ecmnesique,  aber  mit  wandelbarem  Inhalt  und  ver- 
schiedene Lebensepisoden  repräsentirend,  beobachtet.  Eines  Tages  brachte 
sie  ihr  Mann,  während  sie  sich  als  Kind  von  6  Jahren  wähnte  und  benahm. 
Compression  des  1.  Ovariums  beseitigte  jeweils  den  Zustand.  Sich  selbst 
überlassen,   konnte  die  Lösung  bis  zu  Tagen  ausstehen. 

1886  versuchte  man  solches  Delire  ecmnesique  künstlich  hervorzurufen. 
Pat.  hatte  mit  7  Jahren  wegen  Croup  eine  Tracheotomie  ausgestanden. 
Man  veranlasste  sie,  ihre  Erinnerungen  von  dieser  Episode  zu  erzählen. 
Während  sie  dies  that,  versetzte  man  sie  in  Hypnose.  Mit  dem  Eintritt 
dieser  benahm  sich  Pat.  wie  ein  Kind  von  7  Jahren,  markirte  das  Bild 
einer  schwer  Croupkranken,  athmete  erleichtert  nach  der  Operation,  redete 
wie  ein  tracheotomirtes  Individuum  und  machte  Allen  den  Eindruck,  dass 
sie  jene  Lebensepisode  nochmals  durchmache.  Aller  Erlebnisse,  die  in  ihre 
spätere  Existenz  fielen,  war  sie  sich  in  diesem  Zustand  nicht  bewusst,  aber 
auch  eine  1.  Hemianästhesie,   die  sie  sonst  hatte,   war  temporär  geschwunden. 

In  der  gleichen  Weise,  nämlich  durch  Hinlenkung  der  Aufmerksamkeit 
der  Pat.  auf  eine  bestimmte  Lebensepisode  im  Moment  der  Einschläferung, 
konnte  man  entsprechende  frühere  Situationen  bei  ihr  hervorrufen,  die  allen 
Beobachtern  den  Eindruck  der  Versenkung  der  Persönlichkeit  in  solche 
und  des  Aufgehens  in  der  Reproduction  solcher  Situationen  machten.  In 
diesem  Zustand  fehlte  jeweils  jegliches  Bewusstsein,  bezw.  Erinnerung  von 
zeitlich  späteren  Erlebnissen.  Bezügliche  Erwähnungen  waren  Pat.  ganz 
unverständlich.  Verf.  wird  nicht  müde,  die  Treue  der  Reproduction  der 
verschiedenen  Lebensabschnitte,  die  die  grösste  schauspielerische  Leistung 
übertreffende  Natürlichkeit  der  Darstellung  zu  betonen,  die  innere  Ueber- 
einstimmung  und  den  Mangel  jeglichen  Widerspruchs  in  den  Situationen, 
gegenüber  den  verfänglichsten  Kreuz-  und  Querfragen  "Seitens  der  Aerzte 
in    der  Feststellung    der  Ecmnesie.     Dies    erstreckte  sich  soweit,    dass  Pat. 


Ueber  Ecmnesie.  195 

hemianästhetisch  nur  in  Episoden  ihres  Lebens  war,  wo  dieses  Symptom 
schon  bestanden  hatte,  sonst  nicht.  Aber  auch  gewisse  spasmo-  und  hypno- 
gene,  sonst  nie  versagende  Zonen  versagten  vollständig,  wenn  sie  in  ver- 
meintlichen Lebensabschnitten  gereizt  wurden ,  in  welchen  sie  bezw.  die 
Krankheit  noch  nicht  entwickelt  waren. 

Ebenso,  wie  quasi  durch  Autosuggestion  in  beginnender  Hypnose,  ver- 
mochte man  Pat.  auch  durch  Suggestion  in  Hypnose  in  Delire  ecmnesique  zu 
versetzen,  das  nach  Beendigung  der  Hypnose  als  eine  Art  posthypnotischer 
Zustand  dann  sofort  eintrat. 

Mit  Hypnose  hatte  dieses  Delire  aber  nur  insofern  Beziehungen,  als  jene 
ein  Mittel  zum  Zweck  der  künstlichen  Hervorrufung  desselben  sein  konnte. 
Das  suggerirte  Delir  in  bei  Pat.  hervorgerufener  Hypnose  war  offenbar  nur 
objectivation  de  type,  das  Delire  ecmnesique  dagegen  wirkliche  Reproduc- 
tion  früherer  Lebensepisoden. 

So  erklärt  sich  auch,  dass  dieses  der  Suggestion  unzugänglich  war,  auch 
der  posthypnotischen,  ferner  dass  es  in  neuerlicher  Hypnose  nicht  erinnerbar 
war.  War  diese  Ecmnesie  via  Hypnose  provocirt  worden,  so  konnte  man 
durch  Druck  auf  hypnogene  Zone  oder  Anblasen  der  Augen  den  hypno- 
tischen Zustand  jederzeit  beheben,  während  der  ecmnesisch  delirante  fort- 
bestand. 

Später  überzeugte  man  sich,  dass  bei  Pat.  auch  durch  Druck  auf  be- 
stimmte Punkte  ihrer  Körperoberfläche  („zones  ideogenes  —  Pitres)  ecmne- 
sische  Zustände  hervorgerufen  werden  konnten.  Diese  Entdeckung  wurde 
zufällig  gemacht,  als  Pat.  über  Schmerzen  an  solchen  (ideoecmnesischen) 
Stellen  klagte.     Es  fanden   sich   deren  drei. 

Die  1.  entsprach  der  r.  und  1.  Submaxillardrüsengegend.  Reizung 
der  Stelle  rief  jedesmal  die  Reproduction  einer  Episode  hervor,  in  welcher 
Pat.,  in  Wuth  über  eine  Nachbarin,  die  ihr  ein  Huhn  getödtet  hatte,  diese 
geprügelt  hatte.  Die  2.  Stelle  war  beiderseits  das  innere  Ende  der  Clavi- 
cula.  Druck  daselbst  rief  jeweils  eine  Situation  hervor,  in  welcher  Pat.  über 
die  Aussicht,  aus  dem  Hause  des  M.  fort  zu  müssen,  untröstlich  war.  Eine 
3.  Zone  war  der  Mous  Veneris.  Compression  daselbst  rief  jeweils  Scenen 
sexuellen  Verkehrs  mit  dem  früheren   Geliebten  M.   hervor. 

Während    man    den    durch    Reizung    der    1.    Zone    bewirkten    Zustand 

durch  Compression    des    1.  Ovariums,    Reizung    einer   hypnogenen   Zone    mit 

daraus   entstehender  Hypnose,   Anblasen   der  betr.   ideogenen  Zone,  Reizung 

einer  anderen  ideogenen  Zone,   mit  dem  Effect  der  WeckuDg  der  bezüglichen 

■  Situation,    beliebig    aufheben    konnte ,    konnte    der    Erfolg    der  Reizung    der 

2.  und  3.  ideogenen  Zone  nur  durch  Compression  des  1.  Ovariums  oder 
durch  Anblasen  der  Augen   beseitigt  werden. 

Die    Erklärung    dafür   fand    sich    darin,    dass   die  Reizung    der    2.   und 

3.  Zone  Episoden  einer  Lebenszeit  weckte,  in  welcher  jene  hypuo-  und 
ideogenen  Zonen  noch  nicht  vorhanden  gewesen   waren. 

So  war  Pat.  auch  in  durch  2.  und  3.  provocirten  Situationen  nicht  mit 
1.  Hemianästlu'sie  behaftet,  weil  sie  zeitlich  vor  der  Eutwickelung  der  Hemi- 
anästhesie  lagen,  während  in  der  durch  Zone  1  provocirten  Situation,  die 
zeitlich  mit  der  schon  be-tehenden  Hemianästheaie  zusammenfiel,  diese  vor- 
handen  war. 

13* 


196  Ueber  Ecmnesie. 

Verf.  findet  darin  einen  wichtigen  Beweis  für  die  Echtheit  des  Delire 
ecmnesique    und    für    die    tiefe  Beeinflussung    der    ganzen  Persönlichkeit    in 

solchem   Zustand. 

Ich  reihe  an  diese  Beobachtung  Blanc-Fontenille's  einen  typischen 
Fall  von  Ecmnesie,  den  ich  in  meiner  Klinik  zu  studiren  Gelegenheit 
hatte. 

Beob.  2.  L.  P.,  17  J.,  Dienstmädchen,  aufgenommen  29.  9.  1893, 
stammt  aus  einer  Jongleurfamilie.  Der  Vater  war  Potator,  eine 
Schwester  desselben  war  neuropathisch;  der  Pat.  Mutter  soll  an 
Meningitis  gestorben  sein.  3  Geschwister  der  Pat.  haben  als  Kinder 
an  Convulsionen  gelitten,  2  derselben  sind  schwachsinnig. 

Pat.  theilte  als  Kind  das  unruhige  unstete  Leben  ihrer  Eltern, 
kam  nach  dem  in  ihrem  12.  Jahre  erfolgten  Verlust  der  Eltern  nach 
Wien  zur  Grossmutter,  bei  der  sie  seit  5  Jahren  gelebt  hatte.  Die 
P.  war  rachitisch  gewesen,  hatte  erst  mit  3  Jahren  gehen  gelernt, 
mit  11  Jahren  Variola  überstanden,  mit  12  Jahren  eine  ausgedehnte 
und  schwere  Verbrennung  mit  Petroleum  an  der  r.  OE.  und  UE.  er- 
litten, von  der  Narbenkeloide  datiren. 

Pat,  hatte  früher  keine  nervöse  Symptome  geboten.  Einige 
Tage  nach  diesem  Unfall  trat  der  erste  Hysteria  gravis-Insult  (Le- 
thargus, mit  einzelnen  Convulsionen)  ein.  Solcher  Insulte  folgten 
noch  mehrere,  namentlich  nach  dem  8  Tage  später  erfolgten  Tode 
der  Mutter,  verloren  sich  aber  dann  gänzlich.  Seit  3  Monaten  war 
Pat,  durch  Erkrankung  der  geliebten  Grossmutter  lebhaften  Gemüths- 
bewegungen  ausgesetzt  gewesen. 

Am  13.  9.  1893  äusserte  sich  die  hysterische  Neurose  neuerlich  bei 
ihr  mit  einem  Lethargusanfall,  der  von  einem  klonischen  Kiefermuskel- 
krampf eingeleitet  gewesen  war. 

Am  14.  Abends  neuer  Lethargusanfall  von  30  Minuten,  an  den 
sich  eine  15  stündige  delirante  Phase  anschloss. 

Das  Delirium  habe  sich  um  Eeisen  in  Russland  während  der 
Kindheit,  ferner  um  Visionen  von  fremden  Menschen,  Löwen,  phan- 
tastischen wilden  Thieren  gedreht,  jedoch  habe  auch  Rapport  mit  der 
Aussenwelt  bestanden.  Amnesie  für  diese  Anfälle,  die  sich  nunmehr 
fast  alltäglich  in  Gestalt  von  Lethargus  oder  von  Delir  oder  beider 
combinirt  wiederholten. 

Stat,  praes.  vom  30.  9.  1893.  Pat.  uutermittelgross,  gracil,  blass, 
noch  nicht  menstruirt,  vegetativ  ohne  Befund.  Beiderseits  concen- 
trische  Sehfeldeinschränkung.  Schmerzhafte  Druckpunkte  da  und  dort 
an   Schädel,  Wirbelsäule,  1.  ober  der  Mamma,    Keine  Ovarie.    Sensi- 


Ueber  Ecmnesie.  197 

bilität  allenthalben  normal.    Keine  Störungen  seitens  der  Psyche,  in- 
telligente Person,  aber  geringe  Schulkenntnisse. 

Nachdem  am  5.  10.  Abends  ein  Anfall  in  Gestalt  von  tonischen 
und  deliranten  Erscheinungen  beobachtet  worden  war,  entschloss  man 
sich  zu  hypnotisch  suggestiver  Behandlung. 

Am  6.  10.  gelang  tiefes  Engourdissement  nach  Bernheim's  Me- 
thode. Pat.  bekam  die  Suggestion  1  Stunde  zu  schlafen.  Sie  erwacht 
genau  nach  1  Stunde,  ist  aber  nicht  im  normalen  Zustand  (=  I },  auch 
nicht  mehr  im  hypnotischen  (=  II),  sondern  in  einem  eigentümlichen 
(posthypnotischen?)  psychischen  Ausnahmszustand  (=  III ),  in  welchem 
sie  in  ihr  10.  Lebensjahr  zurückversetzt  ist,  im  Uebrigen  aber  lucid 
erscheint  und  ganz  frei  in  ihren  Associationen. 

Sie  glaubt  sich  in  Kussland,  in  einer  Villa,  fragt  nach  ihrer 
Mutter,  weiss  nichts  von  der  Provenienz  eines  Ringes,  den  sie  am 
Finger  hat  (mit  13  Jahren  von  der  Grossmutter  geschenkt),  betrachtet 
erstaunt  ihre  Brandnarben,  als  man  sie  auf  dieselben  aufmerksam 
macht.  Sie  weiss  offenbar  gar  nichts  von  allen  Erlebnissen  seit  dem 
10.  Jahre,  erkennt  nicht  die  Umgebung,  nimmt  von  ihr  keine  Notiz, 
auch  nicht  von  der  mit  ihrer  wahnhaiten  Situation  contrasthendeu 
wirklichen.  Dagegen  sind  ihre  Erinnerungen,  Apperceptionen  und 
Associationen  innerhalb  jener  ganz  ungehemmt. 

Eine  Schriftprobe  fällt  schlecht  aus  und  contrastirt,  mit  ihren 
schiefen  und  ungeschickten  Zügen,  auffallend  mit  den  graphischen 
Leistungen  der  Gegenwart  und  des  normalen  Bewusstseins.  Dieser 
Ausnahmszustand  dauerte  1  Stunde,  ging  dann  in  1  '/•  stündigen  Schlaf 
über,  aus  welchem  Pat.  mit  Kopfweh  und  Schwindel  in  I  erwachte. 
Sie  hatte  in  I  Amnesie  für  II  und  III. 

Am  8.  10.  wird  II  mit  dem  gleichen  Erfolg  wiederholt,  d.  li.  Pat. 
kommt  in  III,  ist  wieder  durch  1  Stunde  ein  lOjühriges  Kind  und 
geht  dann  durch  1  Stunde  Schlaf  in  I  über. 

Abends  8  Uhr  Lethargusanfall,  der  nach  10  Minuten  in  II  i  über- 
führt, 

Am  10.  10.  II  -(-  III  —  6.  und  8.  10. 

Am  11.  10.  Hervorrufung  von  II,  mit  der  Suggestion,  1  Stunde  zu 
schlafen  und  nach  dem  Erwachen  ihre  Erlebnisse  der  letzten  3  Jahre 
aufzuschreiben.  Nach  1  Stunde  erwacht,  ist  Pat.  in  III.  wieder  10  Jahre 
alt,  bittet  den  Baron  Joan  (Arzt)  um  Papier.  Sie  habe  einen  Befehl 
gehört,  aufzuschreiben,  wo  sie  die  3  letzten  Jahre  gewesen  sei.  Pat 
schreibt:  „ich  habe  nämlich  eine  Stimme  vernommen,  weit  weg  und 
unbekannt,  aber  sie  klang  so  lieb,  dass  ich  beantworte,  was  sie  mich 
fragte.    Wir  sind  jetzt  nämlich  in  Kussland.    Ich  bin  jetzt  10  Jahre  alt. 


198  Ueber  Ecmnesie. 

Vor  3  Jahren  war  ich  zuerst  mit  Papa  in  Krakau.  Wir  waren  4  Wochen 
auf  Gastrolle,  dann  sind  wir  zur  Mama  nach  Wien  zurück"  u.s.w. 

Nach  einer  Stunde  geräth  Pat.  in  I,  weiss  von  allem  Vorgefallenen 
nichts  und  meint,  beständig  geschlafen  zu  haben. 

Am  12.  10.  Abends  Lethargusanfall,  der  nach  10  Minuten  in  III 
überführt.  Pat.  ist  10  Jahre  alt,  hält  die  Gasflamme  für  den  Mond, 
glaubt  sich  in  Wilna  u.s.w.    Nach  l'/9  Stunden  wieder  in  I. 

Am  14.  10.  tritt  ein  freistehender  hysterisch  deliranter  Anfall  auf, 
in  welchem  Pat.  nur  auf  innere  Vorgänge  reagirt,  z.  B.  gestikulirt, 
mit  den  Fingern  schnalzt,  die  Aussenwelt  überhaupt  nicht  wahrnimmt, 
auch  nicht  auf  Nadelstiche  Eeaction  zeigt.  Dieser  delirante  Anfall 
hat  die  gleiche  III  provocirende  Wirkung  wie  Lethargusanfälle,  insofern 
Pat.  nach  10  Minuten  wieder  10  Jahre  alt  ist,  sich  in  Wilna  glaubt  u.s.w. 

Man  macht  den  Versuch,  durch  Stirnstreichen  Pat.  in  II  überzu- 
führen. Dies  gelingt,  Pat,  ist  sofort  wieder  17  Jahre  alt,  kennt  den 
Arzt,  erinnert  sich  früherer  II  Erlebnisse. 

Durch  Befehl  zu  erwachen  wird  sie  in  I  übergeführt. 

In  der  Folge  provociren  mehrfach  Lethargus-  oder  auch  delirante 
Anfälle  III,  mit  jeweiliger  Bückversetzung  ins  10.  Jahr.  Von  nun  an 
wird  III  gewöhnlich  durch  provocirten  II  in  I  übergeführt  (s.  o.). 

Von  Ende  October  an  verwerthet  Pat.  in  deliranten  Phasen  des 
Hysterieanfalls  die  Eindrücke,  welche  sie  von  einer  Nachbarin,  welche 
an  Chorea  leidet  und  von  einer  anderen,  welche  eine  hysterische 
Flexionscontractur  im  r.  Knie  bietet,  aufgenommen  hat,  Diese  Bilder 
werden  ganz  treu  copirt,    Diese  Imitationen  bestehen  nur  im  Anfall. 

Einige  Male  vervollständigt  sich  der  hysterische  Insult  durch  epi- 
leptoide  Phase,  grands  mouvements,  sonst  aber  bleibt  er  abortiv,  auf 
Lethargus  oder  Delirphase  oder  beide  beschränkt. 

Unter  entsprechender  Behandlung  allmäliges  Schwinden  der  hy- 
sterischen Insulte  und  der  III  Zustände.  Im  December  1893  wird 
Pat.  ohne  Krankheitssymptome  auf  ihren  Wunsch  entlassen. 

Von  grösstem  Interesse  erscheinen  in  vorstehender  Krankheits- 
geschichte die  als  III  bezeichneten  psychischen  Ausnahmszustände  der 
Pat.  Sie  erwiesen  sich  typisch  gleich.  Pat.  erschien  immer,  dem 
wahnhaften  Alter  entsprechend,  kindisch,  spielte  z.  B.  mit  einem  zu- 
fällig anwesenden  Kinde  ganz  kindlich,  mit  lebhaftem  Geberdenspiel 
und  ganz  in  der  betr.  Situation  aufgehend.  Sie  spielte  mit  einer  Kerze, 
indem  sie  mit  den  Fingern  durch  die  Flamme  fuhr.  Sie  erschien 
muthwillig,  bald  ausgelassen  heiter,  bald  weinerlich.  Sie  zupfte  neckisch 
Personen,  sang  Kinderlieder,  von  denen  sie  in  I  nur  eine  dunkle  Er- 
innerung hatte.    Sie  frag  nach  Gegenständen  (Violine,  Beitpferd),  nach 


Ueber  Ecmnesie.  199 

Personen  (Jean.  Dienstmädchen),  mit  denen  sie  als  lOjähriges  Kind 
offenbar  zu  thun  hatte. 

Die  Erinnerung  und  Association  war,  in  der  ihr  erschlossenen 
Lebensphase  und  weiter  rückwärts,  prompt  und,  wie  es  scheint,  ge- 
steigert. Für  alles  Reale  bestand  in  diesem  Zustand  aufgehobene 
Apperception,  oder  es  wurde  illusorisch  in  die  wahnhafte  Situation  ein- 
bezogen. So  hielt  sie  den  Arzt  für  einen  Baron  Iwan,  eine  Wärterin 
für  ein  Frl.  Clara,  eine  Freundin  ihrer  Mutter  u. s.w. 

Veranlasste  man  Tat.  in  diesem  Zustand  zu  schreiben,  z.  B.  an 
die  Grossmutter  in  Wien,  so  schrieb  sie  jeweils  in  kindlicher  Weise 
und  der  Situation  entsprechend,  z.  B.  am  15.  10.  1893:  „Liebe  Gross- 
mama!  Wir  sind  jetzt  in  Wilna.  Es  geht  uns  sehr  gut.  Ich  bekomme 
jetzt  immer  sehr  gute  Bonbons  von  meinem  Papa.  Liebe  Grossmama! 
ich  sehne  mich  schon  sehr  nach  dir.  Ich  schliesse  mein  Schreiben  mit 
vielen  Grüssen  an  dich  und  Grosspapa." 

Die  Schriftzüge  sind  jedoch  nicht  erheblich  verschieden  von  denen 
des  1 7jährigen  Mädchens. 

Eine  eigentümliche  Störung  des  Bewusstseins  im  Sinne  eines 
Dämmer-  oder  Traumzustands  ist  während  II!  nicht  zu  verkeimen  ge- 
wesen. 

Dieser  Zustand  entwickelte  sich  oft  ganz  unmerklich  im  Anschluss 
an  Anfälle  oder  aus  II,  sodass  zunächst  nur  ein  schläfriger  Ausdruck 
des  Gesichts  darauf  hinwies. 

Sich  selbst  in  III  überlassen,  schlief  Pat,  jeweils  nach  etwa  einer 
Stunde  ein  und  erwachte  dann  in  I  mit  completer  Amnesie. 

Vollständig  aus  dem  Bewusstsein  ausgeschaltet  waren  alle  Vor- 
gänge des  Lebens  seit  dem  10.  Jahre,  so  z.  B.  die  schwere  Verbren- 
nung, der  Tod  der  Eltern  im  12.  Lebensjahre. 

Umgekehrt  kannte  sie  in  III  österreichisches  Geld  nicht  oder 
hielt  es  für  russisches. 

Sie  antwortete  auf  russische  Ansprache  in  deutscher  Sprache, 
während  sie  in  1  dieselben  russischen  Worte,  weil  vergessen,  nicht 
verstand. 

Frappant  war  jeweils  die  Aenderung  des  Bewusstseinsiuhalts  durch 
Ueberführung  aus  III  in  II  mittelst  Stirnstieichen. 

Dadurch  sofort  in  II  gebracht,  war  sie  aus  1886  nach  1893  ver- 
setzt, wusste  Alles  aus  ihrer  Vergangenheit,  von  ihrer  Verbrennung, 
vom  Tod  der  Eltern  u.  s.  w. 

1  »ieser  II I  Zustand  entbehrte  aber  auch  nicht  auffälliger  körperlicher 
Zeichen.  Zunächst  klagte  sie  während  dessen  Dauer  mehr  oder  weniger 
immer   über  Kopfweh.  Schwindel,  Schläfrigkeit   und  schwankte  etwas 


200  Ueber  Ecmnesie. 

beim  Gehen.  In  III  war  das  Sehfeld  immer  bedeutender  concentrisch 
eingeengt  als  in  I.  Kegelmässig  bestand  allgemeine  Anästhesie  und 
Analgesie,  vorübergehend  Diathese  de  contra cture. 

Ausgelöst  wurden  solche  III  Zustände  durch  irgendwie  geartete 
Hysteria  gravis -An  fälle  oder  durch  Hervorrufung  hypnotischer  Zu- 
stände (II),  falls  letztere  sich  selbst  überlassen  blieben.  Wurde  ein 
beliebig  entstandener  II  Zustand  in  I  übergeführt,  so  blieb  III  aus. 
Jedenfalls  kam  es  nie  zu  einer  spontanen  Entstehung  von  III  aus  I. 
Die  Lösung  des  III  Zustandes  erfolgte  spontan  via  Schlaf,  oder,  in- 
dem Pat.  mittelst  II  in  I  übergeführt  wurde,  welcher  Eingriff  offenbar 
Pat.  grossen  Vortheil  brachte. 

Dass  II  und  III  ganz  verschiedenartige  Bewusstseinszustände  dar- 
stellten, ergab  sich  u.  A.  daraus,  dass  Pat.  in  III  wohl  von  anderen 
III  Anfällen,  aber  nichts  von  II  wusste. 

In  II  erinnerte  sie  sich  früherer  II  Situationen. 

In  I  wusste  Pat.  weder  von  II  noch  III,  noch  auch  von  Anfällen. 

Am  4.  2.  1894  wurde  Pat.  neuerdings  in  der  Klinik  aufgenommen. 
Bis  zum  21.  1.  war  es  ihr  gut  gegangen.  Eine  unglückliche  Liebe, 
und  die  schlechte  Wendung  der  Krankheit  der  geliebten  Grossmutter, 
hatten  vom  21.  1.  ab  wieder  Anfälle  von  Hysteria  gravis  (epileptoide 
Phase,  mit  folgender  periode  de  delire)  provocirt,  Die  Anfälle  dauerten 
auch  im  Spital  fort,  aber  zu  III  Zuständen  kam  es  nicht.  Da  starb 
ihre  Grossmutter.  Deren  Tod  konnte  Pat.  nicht  lange  verheimlicht 
werden.  Ich  versetzte  Pat.  am  19.  2.  in  Hypnose,  theilte  ihr  in  solcher 
den  Tod  der  Grossmutter  mit,  verbot  ihr,  sich  darüber  zu  grämen  und 
gebot  ihr,  bis  auf  weiteres  beständig  zu  schlafen.  Diese  Suggestion 
erfüllte  sich.  In  dem  dadurch  hergestellten  Schlaf  bestand  kein  Kapport 
mit  mir,  sodass  ich  ihn  für  Schlaf  in  I  halten  musste. 

Am  25.  2.  erwachte  Pat.  Sicherheitshalber  liess  ich  sie  noch 
einige  Tage  weiter  schlafen.  Sie  erwachte  dann  heiter,  fühlte  sich 
gesund. 

Am  27.  3.  1894  entlassen,  kam  sie  anlässlich  durch  schwere  Ge- 
müthsbewegungen  provocirter  neuerlicher  Hysteria  gravis-Insulte  am 
6.  6.  1894  wieder.  Unter  gleicher  Behandlung  erlangte  Pat.  bald  ihr 
psychisches  Gleichgewicht  wieder.    Am  29.  7.  1894  genesen  entlassen. 

Neuerliche  Aufnahme,  über  Wunsch  der  Pat,,  wegen  seit  1895 
wieder  aufgetretener  Hysteria  gravis-Insulte  am  16.  12.  1897. 

Ihre  Umgebung  versichert,  dass  Ecmnesieanfälle  nicht  mehr  vor- 
gekommen seien.  Pat.  bietet  Anfangs  fast  täglich  einen  Anfall  von 
epileptoider  Phase,  mit  Andeutung  von  grands  mouvements.  Allmälig 
werden  die  Anfälle  selten.   Pat.  motivirt  das  Fortbestehen  ihrer  Krank- 


Ueber  Ecmnesie.  201 

heit  damit,  dass  sie  dadurch  erwerbsunfähig  sei  und  betrübt,  ihren 
jüngeren  Geschwistern  ihre  Lebenslage  nicht  erleichtern  zu  können. 
Dieses  drückende  Bewusstsein  lasse  sie  nicht  zu  Gemüthsruhe  gelangen. 

Ausser  sehr  bedeutender  1.  und  geringerer  r.  conc.  Sehfeldein- 
schränkung,  bei  erhaltenem  Farbensinn,  Hessen  sich  diesmal  keine 
Stigmata  hysteriae  nachweisen.  Gesprächsweise  bemerkte  Pat,  die 
glücklichste  Zeit  ihres  Lebens  sei  die  Episode  in  Wilna  in  ihrem 
11.  Lebensjahr  gewesen,  und  die  Erinnerungen  an  diese  Zeit  seien 
ihr  die  liebsten  und  deutlichsten. 

Während  des  diesmaligen  Spitalaufenthalts  bis  zu  Anfang  März 
1898  kam  es  niemals  spontan  zu  Ecmnesieerscheinungen. 

Zweimal  wurden  sie  experimentell  hervorgerufen,  indem  man  sie 
in  11  als  posthypnotische  Leistung  snggerirte.  Alles  wiederholte  sich 
so,  wie  bei  den  früheren  spontanen  und  provocirten  Ecmnesien.  Jlit 
Leichtigkeit  gelang  jeweils  die  Ueberführung  der  Kranken  aus  diesem 
HI  Zustand  in  I  durch  entsprechende  Suggestion,  in  neuerlich  be- 
wirktem II  (Hypnose). 

Die  anlässlich  der  letzten  Anwesenheit  der  Pat.  in  der  Klinik 
neuerlich  durchgeführte  Anamnese  stellte  den  psychischen  Shok,  durch 
den  sie  erkrankt  war.  in  ein  helles  Licht,  insofern  auch  eine  weniger 
zart  besaitete  Persönlichkeit  als  Pat.  dadurch  mächtig  erschüttert 
werden  musste.  Die  Verbrennung  war  nämlich  dadurch  erfolgt,  dass 
von  der  Decke  der  Bühne  des  Sommertheaters,  an  welchem  Pat.  gerade 
in  Action  war,  eine  grosse  Petroleumlampe  sich  losgelöst  hatte  und 
auf  sie  gefallen  war.  In  sinnlosem  Schreck  war  Pat.  brennend  ins 
Freie  geeilt,  wo  man  sie  fand  und  die  Flamme  erstickte.  Auffallender- 
weise hatte  Pat.  aber  davon  keine  Idiosynkrasie  gegen  Feuer  und 
keine  Furcht  vor  Feuersgefahr  zurückbehalten.  Es  lag  nahe,  den 
Versuch  zu  machen,  jene  furchtbare  Scene  eemnestisch  nochmals  durch- 
machen zu  lassen  und,  gemäss  der  Methode  von  Breuer  und  Freud 
vorgehend,  die  Hoffnung  zu  hegen,  Pat.  von  ihrem  Leiden  befreien  zu 
können.  Ueberdies  schien  Binet's  (s.  u.)  Vermuthung  plausibel,  es 
möchten  durch  Bückversetzung  eines  Individuums  in  die  Zeit  der  Ent- 
stehung seiner  Krankheit.  Heilsuggestionen  leichter  Erfolg  haben.  In 
tiefer  Hypnose  wurde  der  Pat.  der  suggestive  Auftrag  ertheilt.  sie 
habe,  wenn  erwacht,  jene  Brandscene  nochmals  zu  erleben.  Sie  schien 
diese  Suggestion  anzunehmen,  bot  aber,  erwacht,  ihren  normalen 
psychischen  Zustand  (=  I)  und  nicht  einmal  eine  dunkle  Erinnerungs- 
spur  eines  ihr  ert heilten  unerfüllten  Auftrags,  jedenfalls  ein  Beweis 
weiter  dafür,  dass  man  in  II  nicht  das  willenlose  Werkzeug  in  der 
Hand  des  Hypnotisireiiden  ist. 


202  Ueber  Ecmnesie. 

Der  folgende  Fall,  ebenfalls  in  meiner  Klinik  beobachtet,  scheint 
dafür  zu  sprechen,  dass  eine  solche  Ecmnesie  eine  frühere  Lebens- 
episode auch  in  phantastisch  umgestalteter  Form  darstellen  kann 
(delire  ecmnesique). 

Beob.  3.  U.,  19  J.,  Commis,  wurde  am  23.  6.  1895  auf  die  psy- 
chiatrische Klinik  gebracht.  Aus  einem  Dienst  am  22.  6.  entlassen, 
war  er  in  der  Nacht  zum  23.,  in  den  Strassen  von  Wien  herum- 
dämmernd, von  der  Polizei  aufgegriffen  worden.  Er  war  verstört, 
traurig  und  klagte  sich  an,  er  sei  am  Tode  seiner  vor  5  Tagen  ver- 
storbenen Schwester  schuld.  Pat.  griff  sich  oft  nach  dem  Kopf, 
äusserte  Klagen  über  dumpfen  Kopfschmerz  und  kam  in  der  Klinik 
ängstlich  und  desorientirt  an.  Er  blieb  gehemmt,  bot  erschwerte 
geistige  Leistung,  behauptete,  seit  einigen  Wochen  mit  Mutter  und 
Schwester  in  Wien  zu  wohnen.  Er  habe  die  3  jährige  Schwester  vom 
Tische  fallen  lassen  und  dadurch  sei  sie  gestorben.  Von  den  wirklichen 
Erlebnissen  aus  der  letzten  Zeit  wusste  er  bis  zum  24.  6.  nichts,  dann 
dämmerten  bezügliche  Erinnerungen  auf  und  am  29.  6.  löste  sich 
plötzlich  dieser  delirante  Dämmerzustand.  Man  erfuhr  nun,  dass  U. 
vor  2  Monaten  aus  Süddeutschland  nach  Wien  gekommen  war,  eine 
Stellung  als  Buchhalter  in  einem  Hotel  gefunden,  in  dieser  viel  Aerger 
durch  brüske  Behandlung  seiner  Dienstherrin  und  Ueberanstrengung 
erfahren  hatte. 

Am  22.  6.  war  er  von  seiner  Dienstgeberin  brutal  behandelt 
und  Knall  und  Fall  entlassen  worden,  worüber  er  sich  sehr  kränkte. 
Für   den   folgenden  psychischen   Ausnahmszustand   hat  Pat.  Amnesie. 

Die  Affaire  mit  seiner  Schwester  ereignete  sich  vor  9  Jahren  in 
Süddeutschland.  Das  3jährige  Kind,  das  Pat.  zu  beaufsichtigen  hatte, 
war  damals  vom  Tische  herabgefallen  und  möglicherweise  in  Folge 
dieses  Sturzes  gestorben.  Pat.  angeblich  erblich  nicht  belastet,  hat 
rachitischen,  blasigen  Schädel  von  54  Cf,  als  Kind  an  Convulsionen 
gelitten,  seit  dem  8.  Jahr  viel  an  Cephalaea.  Er  ist  klein,  schwächlich, 
ohne  Degenerationszeichen,  ohne  Stigmata  der  Neurasthenie  oder  der 
Hysterie.  Vor  4  Jahren,  nach  Uebermüdung  und  8  tägiger  Schlaf- 
entziehung anlässlich  Prüfungsstudium,  hat  Pat.  einen  mehrtägigen 
psychischen  Erschöpfungszustand,  mit  Amnesie  gehabt. 

Am  3.  7.  1895  genesen  entlassen,  erschien  U.  am  7.  7.  auf  der 
Polizei  mit  der  Selbstanzeige,  er  habe  soeben  seine  Dienstgeberin  mit 
dem  Revolver  angeschossen.  Sofortige  Recherchen  ergaben  die  Un- 
wahrheit jener,  im  Sinne  einer  traumhaft  deliriös  unrichtigen  Repro- 
duction   eines   am  22.  6.  thatsächlich  vorgekommenen  Streites  mit  der 


lieber  Ecmnesie.  203 

Principalin.  Pat.  auf  die  Klinik  neuerlich  gebracht,  erkennt  nicht  den 
früheren  Aufenthalt,  lebt  ganz  im  Wahn,  seine  frühere  Dienstgeberin 
verletzt  zu  haben,  giebt  aber  traumhaft  unklare,  beständig  variirende 
Darstellung  des  angeblichen  Sachverhalts,  ist  verstört,  ruhebedürftig, 
klagt  heftigen  Kopfdruck,  schläft  viel,  ist  affectlos,  unbesorgt  um  seine 
Zukunft.  Er  glaubt  sich  am  23.  6.,  behauptet  steif  und  fest,  gestern 
die  Scene  mit  der  Principalin  gehabt  zu  haben,  hat  von  Allem  seither 
Vorgefallenen  nicht  die  mindeste  Erinnerung,  auch  nicht  von  seinem 
ersten  Aufenthalte  hier,  während  er  sich  hinter  dem  23.  6.  rückwärts 
liegender  Ereignisse  erinnert. 

Am  11.  7.  schwindet  plötzlich  dieser  psychische  Ausnahmezustand, 
von  dessen  Erlebnissen  nur  eine  dunkle  Erinnerungsspur  zurückbleibt. 
Pat.  theilt  mit,  dass  durch  Kränkung  über  erfolgloses  Suchen  einer 
Stellung  nach  der  Entlassung  aus  dem  Spital,  die  neue  Erkrankung 
wohl  verursacht  worden  sei,  und  dass  die  unfreundliche  Behandlung 
anlässlich  eines  Besuches  des  früheren  Dienstortes  am  (i.  7.,  den  In- 
halt des  Deliriums  wohl  bestimmt  habe. 

Einer  neuerlichen  Entlassung  des  Pat.  steht  der  1  instand  im 
Wege,  dass  er  vom  18.  7.  ab  Anfälle  von  Hysteria  gravis  bietet.  al> 
deren  spasmogene  Zonen  sich  Dornfortsätze  der  mittleren  Brustwirbel- 
gegend und  eine,  der  Ovarie  beim  Weib  entsprechende,  Stelle  am  1.  Ab- 
domen ergaben.  Pat.  klagt  intervallär  über  Clavus,  Globus,  bietet  ge- 
legentlich Weinkrampf,  wird  immer  emotiver.  Obwohl  täglich  bis 
2  Anfälle  von  Hysteria  gravis  (epileptoide  Phase,  grands  mouvements, 
zuweilen  auch  abortive  delirante  Phase,  mit  expansivem  Inhalt)  be- 
obachtet werden,  kommt  es  doch  nicht  zu  Wiederholungen  des  psychischen 
Ausnahmszustandes  (mit  Selbstanklagedelir  und  Amnesie  für  einen 
bestimmten  Lebensabschnitt).  Erst  am  12.  1.  1896  tritt  dies  ein  und 
zwar  1 '  „  Stunden  vor  einem  neuen  Insult. 

Am  12.  1.  Abends  gegen  6  Uhr  ruft  der  im  Bett  liegende  Pat. 
den  zufällig  das  Krankenzimmer  passirenden  Assistenten  an  und 
deponirt  vor  ihm.  oft'enbar  als  einer  vermeintlichen  Amtsperson,  genau 
so  wie  am  7.  7.  auf  der  Polizei.  Er  glaubt  sich  am  23.  Juni. 
schildert  detaillirt  die  Umstände  seiner  wahnhaften  That.  erkennt, 
dass  er  in  einem  Krankenhause  ist,  weiss  aber  nicht  wo.  und  bei  wem. 
und  erwartet  seine  Abführung  ins  Gefängniss.  Während  er  sich  aller 
Details  seiner  Vita  ante  acta  rückwärts  vom  23.  Juni  gut  erinnert  — 
das  Erlebniss  mit  der  Schwester  wird  zeitlich  richtig  localisirt,  - 
fehlt  jegliche  Erinnerung  für  die  Erlebnisse  seit  dem  23.  Juni.  Er 
kennt  weder  Aerzte  noch  Mitpatienten  und  Wärter  hier,  erkennt 
nicht  Bücher  noch  Briefe,  die  er  seither  erhalten,  als  ihm  gehörig  an, 


204  Ueber  Ecmnesie. 

auch  nicht  ein  Antwortschreiben,  das  er  am  11.  1.  dem  Arzt  zur 
Expedition  übergeben  hatte  und  behauptet,  das  sei  gar  nicht  seine 
Schrift.  Er  ist,  im  Gegensatz  zu  seinem  sonstigen  liebenswürdigen 
Benehmen,  barsch,  gereizt,  klagt  Kopfweh  und  nimmt  wenig  Notiz  von 
der  Aussen  weit.  Um  7J/2  Abends  Anfall  von  Hysteria  gravis,  der  an 
der  Situation  nichts  ändert.  Am  13.  früh  81/«  kommt  Pat.  mit  Amnesie 
für  diesen  Ausnahmszustand  zu  sich. 

Am  14.  1.  fällt  Pat.  wieder  auf  durch  verstörte  Miene.  Er  ist 
anscheinend  lucid,  aber  man  überzeugt  sich,  dass  er  wieder  seinen 
Anfall  hat,  d.  h.  er  ist  am  23.  Juni,  seit  5  Wochen  in  Wien,  noch 
nie  früher  hier  gewesen,  kennt  nicht  die  Umgebung.  Nachmittags 
plötzlich  wieder  lucid,  mit  Amnesie  für  diese  ganze  Episode. 

Von  da  an  bis  zum  22.  2.  1896,  wo  Pat,  nach  einer  heimathlichen 
Anstalt  verschickt  wird,  nun  mehr  gewöhnliche  Anfälle  von  Hysteria 
gravis. 


Die  vorausgehenden  Thatsachen  der  Ecmnesie  rufen  die  Er- 
innerung an  von  mir  angestellte  wissenschaftliche  Experimente  der 
suggestiven  Eückversetzung  in  frühere  Lebenszeiten  hervor,  die  ich 
1893  in  einer  kleinen  Broschüre  („Hypnotische  Experimente")  veröffent- 
licht habe. 

Es  handelte  sich  um  eine  33  Jahre  alte,  gesunde,  anamnestisch 
und  im  Stat.  praes.  ohne  hysterische  Stigmata  dastehende,  seit  1883 
sehr  häufig  von  einem  Laien  ohne  Schaden  für  ihre  Gesundheit  hyp- 
notisirte  Dame,  die  jeweils  durch  Stirnstreichen  aus  dem  physiologischen 
Zustand  (=  I)  in  Hypnose  in  Gestalt  von  tiefem  Somnambulismus  (II) 
versetzt  werden  konnte.  Suggerirte  man  ihr  in  II,  man  werde  sie, 
in  I  zurückversetzt,  in  etwas  verwandeln,  was  sie  sein  müsse,  so  ge- 
lang es  allmälig,  nachdem  sie  in  I  zurückversetzt  war,  durch  einfache 
Wachsuggestion  den  posthypnotischen  Auftrag  zu  erzwingen,  mit  dessen 
Erfüllung  sofort  ein  eigenartiger  neuer  Bewusstseinszustand  (=  III) 
eintrat,  der  bis  zur  Erfüllung  des  suggestiven  Auftrags  anhielt. 

Auffallend  in  diesem  III  Zustand  war  die  Helligkeit  des  Bewusst- 
seins  und  die  schrankenlose  Disposition  über  den  geistigen  Besitz. 

Die  bezüglichen  Suggestionen  bestanden  in  der  imperativen  Bück- 
versetzung in  frühere  Lebenszeiten. 

Der  III  Zustand  fand  seine  Beendigung  durch  provocirte  Fas- 
cination,  die  dann  in  II  überging,  oder  durch  herbeigeführte  II  mittelst 
Hypnose,  aus  welcher  die  Versuchsperson  dann  in  I  übergeführt  wurde. 

Sie  wusste  weder  in  I  noch  in  II  etwas  von  den  Vorgängen  in  III. 


Ueber  Ecmnesie.  205 

Die  suggestiven  Eeproductionen  früherer  Zeiten  in  III  betrafen 
das  5.,  6.,  7.,  15.,  19.  Lebensjahr. 

Die  Beurtheilung  dieser  Versuche  war  eine  verschiedene.  Herr 
Benedikt  in  Wien  erklärte  sie  für  „dummen  Schwindel",  einfach  auf 
Grund  der  Mittheilungen  eines  Laien  (Journalisten),  der  in  jener  Sitzung 
anwesend  zu  sein  für  gut  gefunden  hatte.  Die  in  der  Sitzung  vom 
13.  6.,  und  die  in  einer  späteren  vom  30.  6.,  die  4  Stunden  dauerte,  an- 
wesend gewesenen  Fachmänner  waren  zwar  überzeugt  von  der  Echt- 
heit der  hypnotischen  Experimente,  aber  getheilter  Meinung  hinsicht- 
lich der  entscheidenden  Frage,  ob  es  sich  bei  den  durch  hypnotische 
Suggestion  geschaffenen  Zuständen  um  werthlose  blosse  Typen  kind- 
licher und  jugendlicher  Persönlichkeit,  oder  um  wirkliche  "Wieder- 
hervorrufung  (individueller)  früherer  Ichpersönlichkeiten  handelte.  Die 
Mehrzahl,  darunter  auch  auswärtige  competente  Gelehrte,  wie  z.  B. 
Jolly-Berlin,  entschied  sich  für  die  erstere  Alternative.  Ich  musste  auf 
Grund  der  in  meiner  Broschüre  niedergelegten  psychologischen  That- 
sachen  und  Beweise  mich  zur  letzteren  bekennen  und  auf  ganz  analoge 
Beobachtungen  und  Experimente  von  Hebohl  (AUg.  Zeitschr.  f.  Psy- 
chiatrie 49,  p.  86),  Moll  (Der  Hypnotismus,  2.  Aufl..  p.  103),  Bernheini 
(Die  Suggestion,  übers,  v.  Freud,  1.  Hälfte,  p.  61).  Forel  (Der  Hypno- 
tismus 1889,  p.  27),  die  ebenfalls  nicht  anders  gedeutet  worden  waren, 
verweisen.  Nicht  minder  berechtigten  mich  zu  dieser  Annahme  frühere 
in  meiner  „Experim.  Studie  auf  d.  Gebiet  des  Hypnotismus",  3.  Aufl.. 
p.  26,  30,  66  niedergelegte  Erfahrungen.  Mit  meinen  Anschauungen 
stark  in  der  Minorität  mich  zu  befinden,  konnte  mich  nicht  besorgt 
machen,  denn,  wenn  sie  richtig  waren,  mussten  sie  früher  oder  später 
Bestätigung  finden.  Mathematische  Beweise  lassen  sich  auf  psycho- 
logischem Gebiet  freilich  nicht  erbringen.  Für  einen  nüchternen  Be- 
obachter muss  die  Analogie,  ja  stellenweise  Identität  der  1893  von 
mir  angestellten  Experimente  mit  den  Naturexperimenten,  die  ich  bei 
den  obigen  Fällen  in  meiner  Klinik  zu  beobachten  hatte,  sowie  mit 
den  in  Bordeaux  1886  schon  gemachten  Erfahrungen;  im  Sinne 
eines  ..delire  ecmnesique"  sich  ohne  weiteres  ergeben.  Mag  diese 
Rückversetzung  in  frühere  Lebensepisoden  eine  spontane  oder  provocirte, 
eine  freistehende  oder  durch  einen  Hysteria  gravis-Insult  geschaffene 
Situation  sein,  so  repräsentirt  sie  jeweils  einen  psychischen  Ausnahms- 
zustand,  in  welchem  die  Persönlichkeit  auf  die  Stufe  des  Unter- 
bewusstseins  gestellt  erscheint,  in  einer  Art  Somnambulismus  sich  be- 
findet, der  aber  volle  Freiheit  der  Ideenassociation  im  Rahmen  des 
erschlossenen  Lebensabschnitts  gestattet. 

Wunderbar   für   Den,   welcher   ohne   Voreingenommenheit    solche 


206  Ueber  Bcmnesie. 

Zustände  von  Reactivirtsein  längst  vergangener  Lebensabschnitte  be- 
obachtet, ist  die  Gedächtnissleistung  solcher  Individuen. 

Man  möchte  an  einen  Zustand  von  Hypermnesie  glauben,  zumal 
da  im  physiologischen  I  Zustand  derlei  Details  absolut  unerinner- 
bar  sind. 

Entscheidend  für  die  Erklärung  des  scheinbaren  Wunders  ist  die 
Thatsache,  dass  das  in  frühere  Lebenszeiten  spontan  oder  künstlich 
zurückversetzte  Individuum  in  einem  Ausnahmszustand  III  sich  be- 
findet, in  welchem  eine  Modification  seines  Bewusstseins  eingetreten 
ist,  ein  Unterbewusstsein,  in  welchem  Gedächtnissbilder,  die  dem  Ober- 
bewusstsein  nie  mehr  erreichbar  sind,  eventuell  leicht  zugänglich  und 
reproducirbar  werden.  Wunderbar  bleibt  immerhin,  dass  eventuell 
eine  Auto-  oder  eine  Fremdsuggestion,  oder  auch  nur  eine  Associations- 
spur,  die,  bei  spontan  oder  künstlich  geschaffenem  III  Zustand,  ins 
Unterbewusstsein  hinabreicht,  ganze  Reihen  von  Erinnerungen  zu 
wecken  vermag. 

Während  dies  von  den  zünftigen  Psychologen  und  Medicinern 
noch  vielfach  bezweifelt  wird,  haben  der  Scharfblick  und  die  Intuition 
des  Dichters  diese  Möglichkeit  längst  vorausgesehen. 

Es  seien  hier  bloss  zwei  bezügliche  x^ussprüche  citirt: 

H.  C.  Andersen,  gesammelte  Werke,  Leipzig  1847,  I.  Theil,  p. 
63  und  64: 

„Ich  glaube,  dass  die  Seele  nichts  vergisst;  Alles  kann  wieder  er- 
weckt werden,  so  lebendig  als  in  der  Minute,  da  es  geschah." 
Lessing,  Nathan  der  Weise,  IL  Akt,  7.  Auftritt: 
„Wie  solche  tiefgeprägte  Bilder   doch  zu  Zeiten  in  uns  schlafen 
können,  bis  ein  Wort,  ein  Laut  sie  weckt." 

Vielleicht  geht  es  hier  wie  in  der  Psychiatrie,  wo  Typen  von 
Irresein,  wie  z.  B.  die  Folie  du  doute  (von  Jean  Paul),  der  Querulanten- 
irrsinn u.  A.  längst  Vorwurf  dichterischer  Darstellung  und  Bearbeitung 
waren,  bevor  die  Wissenschaft  sich  ihrem  Studium  widmete. 

Dass  im  Traum  und  in  Fieberdelirien  Thatsachen  und  Situationen 
des  früheren  Lebens  reproducirt  resp.  durchgemacht  wurden,  von  denen 
man  im  normalen  Dasein  nichts  mehr  gewusst  hatte,  sind  geläufige 
Thatsachen  der  Erfahrung.  Es  giebt  eben  Kreise  des  Ober-  und  Unter- 
bewusstseins,  die  sich  nie  schneiden.  Damit  begreift  sich  die  Amnesie 
für  diese  Ausnahmszustände  (=  III)  in  I. 

Die  nie  fehlende  Amnesie  ist  aber  ein  bedeutungsvoller  Hinweis 
darauf,  dass  der  Betreffende  im  Unterbewusstsein  vergangene  Lebens- 
abschnitte erweckt  bekommt.    Dass   der  III.  Zustand  aber  nicht  eine 


Ueber  Ecmnesie.  207 

bloss  psychische,  sondern  auch  physische  Veränderung  darstellt,  scheint 
mir  aus  Beobachtungen  (s.  o.)  von  Fällen  hervorzugehen,  wo  Hemi- 
anästhesie,  hysterogene  Punkte  u.  s.  w.  fehlen  oder  vorhanden  sind, 
je  nachdem  Lebensalter  reproducirt  werden,  in  welchen  die  ursäch- 
liche Neurose  noch  nicht  vorhanden  war  oder  es  schon  war. 

Diese  Ecmnesie  scheint  eine  seltene  Form  der  bei  Hysterie  vor- 
kommenden periodisch  amnestischen  Zustände  zu  sein.  AVahrscheinlich 
kommt  sie  nur  bei  dieser  Neuropsychose  vor.  Ihre  Dauer  dürfte  sich 
auf  Stunden  bis  Tage  erstrecken. 

Spontan  erscheint  sie  im  Zusammenhang  mit  Hysteria  gravis- 
Insulten,  sowie  äquivalenten  hypnoiden,  autohypnotischen  oder  auch 
provocirten  hypnotischen  u.  dgl.  Zuständeu,  die  in  unbekannter  Weise 
diesen  ecmnestischen  Zustand  hinterlassen. 

Experimentell  lässt  sie  sich  durch  Erweckung  von  Associationen 
von  Erinnerungsbildern  bezw.  durch  suggestiven  Einfluss  in  beginnender 
Hypnose  (Zustand  erhöhter  Suggestibilität  und  des  erschlossenen  Unter- 
bewusstseins),  durch  in  Hypnose  gegebene  posthypnotische  Suggestion 
oder  auch  durch  Reizung  bestimmter  Stellen  der  Körperoberfläche 
hervorrufen. 

Die  Erklärung  für  die  spontan  auftretende  Ecmnesie  lässt  sich 
wohl  dahin  geben,  dass  in  den  Schlaf-  oder  sonstigen  Hysteria  gravis- 
Anfällen  mit  Delir,  ähnlich  wie  zuweilen  im  Traum,  das  Individuum 
eine  frühere  Lebensphase  durchträumt  Es  bedarf  nur  des  Ueber- 
greifens  von  Associationen  in  den  sich  anschliessenden  weiteren  (III) 
Ausnahmszustand,  in  welchem  die  Association  erleichtert  sein  mag, 
jedenfalls  erhöhte  Autosuggestibilität  besteht,  um  via  Autosuggestion 
eine  frühere  Lebensphase  zu  reactiviren.  In  I  gelingen  weder  spontane 
noch  suggestive  Erschliessungen  latent  gewordener  Bewusstseins- 
in  halte.  Dass,  wie  im  Fall  2.  solche  historische  Episoden  identisch 
wiederkehren,  mag  darin  begründet  sein,  dass  sie  besonders  bedeutungs- 
vollen Inhalt  hatten. 

Dass  bei  Reizung  sog.  ideogener  Zonen  bestimmte  Erinnerungs- 
bilder typisch  wiederkehren,  erklärt  sich  wohl  daraus,  dass  diese 
Körpergegenden  bei  der  ursprünglichen  Situation  eine  Rolle  spielten, 
so  in  Fall  1  z.  B.  der  Mons  veneris.  Der  Erfolg  der  Reizung  der  Hals- 
gegend im  gleichen  Fall  Hesse  sich  dahin  deuten,  dass  Pat..  als  sie 
in  Wuth  über  eine  Nachbarin  ursprünglich  gerieth.  das  Gefühl  einer 
Constriction  (Globus)  daselbst  gehabt  hatte.  Jedenfalls  lehren  diese 
Erfahrungen  die  Bedeutung  von  örtlichen  Sensationen  für  die  associative 
Knüpfung  von  bestimmten  Vorstellungen. 

Die  Thatsache  der  Ecmnesie  lässt  sich  wohl  damit  erklären,  dass 


208  Ueber  Ecnmesie. 

in  dem  psychischen  Ausnahmszustand,  in  welchem  sie  beobachtet  wird, 
die  associative  Thätigkeit  aus  der  in  die  Helligkeit  des  Traumbewusst- 
seins  eingestellten  Lebensepisode  schrankenlos  retrograd  möglich  ist, 
während  Associationen  in  die  jenseits  liegende  Lebenszeit  nicht  zu 
Stande  kommen  können,  diese  deshalb  verdunkelt,   ecmnestisch  bleibt. 

Eine  blosse  Objectivation  des  types  scheint  bei  den  spontan  und 
unbewusst  zu  Stande  gekommenen  ecmnestischen  Zuständen  aus- 
geschlossen. Es  ist  doch  nicht  denkbar,  dass  in  diesem  höchst  ein- 
geengten und  verdunkelten  Ichbewusstsein  die  Creirung  einer  Rolle 
versucht  wird.  Auch  bei  experimentell  erzeugtem  Zustand  scheint  mir 
die  Identität  der  Erscheinungen,  die  Classicität  der  Leistung,  das  be- 
gleitende Moment  von  körperlichen  Störungen  (Anästhesien  u.  s.  w.)  da- 
gegen zu  sprechen. 

Zur  Beseitigung  solcher  Zustände  scheinen  Erfahrungen  in  Fall  1 
und  2  Fingerzeige  zu  geben,  insofern  in  1.  Reizung  auch  bei  sonstigen 
hysterischen  Insulten  individuell  wirksamer  zones  frenatrices,  in  2. 
die  Ueberführung  aus  dem  ecmnestischen  Zustand  in  den  intervallären 
via  Hypnose  sich  bewährt  haben. 

Nachträge  zur  Eemnesie. 

Die  Lehre  von  der  Ecnmesie,  welche  in  Ländern  deutscher  Zunge, 
vielfach  noch  in  wissenschaftlichen  Kreisen  auf  Zweifel  stösst  und  ge- 
legentlich als  „dummer  Schwindel"  abgefertigt  wird,  hat  in  Frankreich 
schon  längst  die  ihr  gebührende  Beachtung  gefunden,  so  u.  A.  Seitens 
Binet's  („Alterations  de  la  personnalite"  Paris  1892),  der  auf  S.  242 
seines  Werkes  nicht  ansteht,  diese  auf  Pitres  Klinik  zuerst  studirten 
und  als  Eemnesie  bezeichneten  Thatsachen  für  wissenschaftlich  und 
vielleicht  auch  praktisch  bedeutsam  zu  erklären.  Er  erhofft  von  diesen 
„Suggestions  retrospectives"  Hülfe  für  die  Diagnose,  indem  es  dadurch 
gelingen  mag,  Ursprung  und  Entstehungsweise  von  hysterischen  Sym- 
ptomen zu  ermitteln,  ferner  spricht  er  die  Möglichkeit  aus,  dass  mit 
der  Rückversetzung  eines  Individuums  in  die  Zeit  der  Entstehung 
seiner  Krankheit  Heilsuggestionen  leichter  Erfolg  haben  mögen.  Jeden- 
falls liefern  ihm  die  Thatsachen  der  Eemnesie  den  Beweis,  dass  eine 
Fülle  von  Erinnerungsbildern  in  uns  latent  fortbestehen,  die  im  be- 
wussten  Dasein  und  willkürlich  nicht  erweckbar  sind. 

„Das  Gesetz  der  Ideenassociation  kann  für  die  Erklärung  der 
Eemnesie  ebensowenig  herangezogen  werden,  als  es  der  Entwickelungs- 
process  unseres  geistigen  Lebens  zu  erklären  vermag.  In  letzterer 
Hinsicht  bedarf  es  vielmehr   tieferer  Einflüsse   aus  dem  unbewussten 


Ueber  Ecmnesie.  209 

Geistesleben,  welchem  wir  die  Synthese  zeitlich  und  inhaltlich  ver- 
schiedener psychischer  Elemente  verdanken.''    Soweit  Binet, 

Sein  Hinweis  auf  die  Bedeutung  des  unbewussten  Geisteslehens 
für  die  psychische  Existenz  überhaupt,  findet  eine  Bestätigung  gerade 
durch  die  Thatsachen  der  Ecmnesie,  insofern  im  bewussten  (normalen) 
Zustand  keine  bezügliche  Ideenassociation  hervorgerufen  werden  kann. 
Es  ist  dies  nur  möglich  in  einem  psychischeu  Ausnahmszustand,  wie 
ihn  ein  hysterischer  Insult  oder  eine  Hypnose  u.  dgl.  schaffen  kann. 
Dann  erst  gelangt  die  bezügliche  Ideenassociation  zur  Geltung. 

Mit  dieser  Erfahrung  contrastirt  scheinbar  eine  Beobachtung  von 
Janet.  Sie  betraf  ein  23  Jahre  altes  Fräulein,  das  man  nur  mit  seinem 
Kosenamen  „Margot"  anzusprechen  brauchte,  um  sie  sofort  in  das 
8.  Lebensjahr,  bis  zu  welchem  man  sie  so  genannt  hatte,  zurückzu- 
versetzen. Offenbar  bewirkte  dieses  Wort  bei  dem  überaus  sugge- 
stiblen  Fräulein  sofort  einen  Zustand  der  Autohypnose,  mit  dessen 
Eintritt  die  Association  wirksam  wurde. 

Ein  interessanter  Versuch  zur  Erklärung  des  ecmnestischen  Zu- 
standes  findet  sich  in  dem  kürzlich  erschienenen  Buche  Sollier's  (Ge- 
nese et  nature  de  1'hysterie,  Paris  1897).  Sollier  erklärt  die  ausge- 
bildete Hysterie  damit,  dass  er  eine  Anästhesie  (je  nachdem  Haut, 
Sinnesorgane,  Organempfindung)  annimmt.  Die  meisten  Hysterischen 
befänden  sich  dauernd  in  einem  psychischen  Ausnahmszustand,  abhängig 
von  einer  Anästhesie  des  Gehirns  (speciell  des  Vorderhirns,  der  psy- 
chischen Centren),  den  er  als  vigil-ambulisme  bezeichnet.  Vermöge 
dieses  schlafwachen  Zustands  fehle  auch  der  Schlaf  bei  Hysterischen 
und  sei  es  so  schwer  sie  zum  Schlafen  zu  bringen. 

Die  Ecmnesie  sei  nichts  Anderes  als  die  Erweckung  der  Sensi- 
bilität des  Vorderhirns,  was  durch  Suggestion  oder  auch  durch  einen 
hysterischen  Insult  geschehen  könne.  Der  Kranke  gerathe  dadurch  in 
eine  Modification  seines  schlafwachen  Zustaudes,  also  einen  eigens 
niodificirten  psychischen  Ausnahmszustand,  der,  je  nachdem,  als  Ver- 
wirrung oder  als  Regression  der  Persönlichkeit  in  eine  frühere  Lebens- 
zeit klinisch  sich  darstelle.  Sollier  behauptet  (p.  332),  dass  bei 
suggestiver  Hervorrufung  der  Ecmnesie  die  Regression  nicht  in  eine 
beliebige  frühere  Lebensperiode  möglich  sei,  sondern  nur  in  die  Zeit, 
in  welcher  die  Betreffende  schon  hysterisch  krank  war,  oder  in  eine 
Zeit  kurz  vorher,  was  aber  mit  vielen  der  früheren  Erfahrungen  nicht 
übereinstimmt.  Er  findet,  dass  überhaupt  eine  hysterisch  Kranke, 
wenn  sie  aus  ihrem  Vigilambulisme  durch  irgend  einen  erweckenden 
Vorgang  zum  vollen  Bewusstsein  komme,  sich  regelmässig  in  dem  Alter 
vorfinde,  in   welchem   ihre  Krankheit   zum  Ausbruch  kam.    Demnach 

Krafft-Ebiug,  Arbeiten  III.  14 


210  Ueber  Ecmnesie. 

wäre  Ecmnesie  etwas  ganz  Gewöhnliches,  was  auch  Verf.  an  der  Hand 
zahlreicher  eigener  Beobachtungen  zu  erweisen  sucht. 

Die  ganze  Theorie  Sollier's,  und  damit  auch  seine  Erklärung  der 
Ecmnesie,  bedarf  jedenfalls  sorgfältiger  Nachprüfung. 

Eine  weitere  interessante  Frage  geht  dahin,  ob  während  des 
ecmnestischen  Zustandes  wirklich  die  betreffende  Lebensepisode  noch- 
mals durchlebt  wird,  oder  ob,  wie  Binet  annimmt,  es  sich  nur  um  das 
allgemeine  Erinnerungsbild,  „das  abgeschwächte  Echo  jeues  Zeit- 
raumes" handelt. 

Auch  diese  Frage  lässt  sich  nicht  ohne  Weiteres  beantworten. 
Würde  es  sich  doch  nur  um  Intensitätsunterschiede  handeln!  Für 
viele  Fälle  mag  Binet  Recht  haben.  A  priori  ist  aber  nicht  abzu- 
sehen, warum  nicht  Lebensepisoden  so  deutlich  in  dem  unbewussten 
Gedächtniss  eingegraben  sein  können,  dass  sie  sich  ecmnestisch  einfach 
reproduciren.  Dies  muss  jedenfalls  für  Fälle  angenommen  werden,  wo 
Miene,  Stimme,  Handschrift,  Gebahren  u.s.w.  dem  Lebensabschnitt 
entsprechend  sich  modificirt  zeigen. 

Solche  Vermuthungen  sind  berechtigt  gegenüber  folgender  Beob- 
achtung, die  ich  Bourru  und  Burot  entlehne. 

Beob.  4.  Jeaime  E.,  24  J.,  sehr  anämisch,  nervös,  hat  Weinkrämpfe, 
häufige    „Ohnmacht"anfälle  und  ist  leicht  hypnotisirbar. 

Man  suggerirt  ihr  in  der  Hypnose,  aus  ihrem  Schlaf  6  Jahre  alt  zu 
erwachen.  Sie  erwacht  im  elterlichen  Hause.  Es  ist  Abend,  man  schält 
Kastanien.  Sie  möchte  schlafen  gehen,  ruft  ihren  Bruder  Andre,  dass  er 
ihre  Arbeit  fortsetze,  aber  dieser  ist  dazu  nicht  gewillt  und  amüsirt  sich 
damit,  aus  Kastanien  Häuschen  zu  bauen.  Die  B.  beklagt  sich  über  den 
Faulenzer,  der  sie  nöthige,  den  Stoff  aufzuarbeiten.  Sie  kann  nicht  das 
ABC,  spricht  nur  das  Patois  von  Limousin,  kennt  kein  Wort  Französisch. 
Ihr  Schwesterchen  Luise  will  nicht  schlafen.  „Ich  muss  immer  meine 
9  monatliche  Schwester  wiegen".  Die  B.  hat  Haltung  und  Gesten  eines 
Kindes.  Man  legt  ihr  die  Hand  auf  die  Stirne  und  suggerirt  ihr,  sie  werde 
in  2  Minuten  10  Jahre  alt  sein.  Nun  ändern  sich  entsprechend  Haltung 
und  Miene.  Sie  ist  auf  einem  Schloss,  nächst  welchem  sie  damals  wohnte. 
Sie  sieht  Bilder  und  bewundert  sie,  fragt  nach  ihren  Schwestern,  die  sie 
begleitet  haben.  Sie  spricht  wie  ein  Kind,  das  reden  lernt,  erzählt,  dass 
sie  erst  seit  2  Jahren  zur  Schule  gehe,  aber  sehr  unterbrochen,  weil  die 
Mutter  oft  krank  sei  und  sie  dann  die  Grossmutter  hüten  müsse.  Sie 
schreibt  seit  6  Monaten,  leistet  eine  Schriftprobe,  die  sie  vor  einigen  Tagen 
in  der  Schule  machte.  Thatsächlich  hat  sie  dieselbe  mit  10  Jahren  zu 
machen  gehabt.  Man  versetzt  sie  ins  Alter  von  15  Jahren.  Sie  ist  im 
Dienst  bei  einer  Dame  B.  Sie  plaudert  „morgen  giebt  es  eine  Hochzeit, 
da  gehen  wir  hin.  B.  C,  der  Schmied,  heirathet.  Leon  wird  mich  führen, 
das  wird  lustig.  Ich  soll  aber  nicht  auf  den  Ball,  Frl.  B.  leidet  es  nicht. 
Ich    gehe   aber  doch  auf  ein  Viertelstündchen ;    sie  wird  es  nicht  erfahren." 


Ueber  Ecmuesie.  211 

Die  R.  liest  und  schreibt  ordentlich,  u.  A.  den  „Petit  Savoyard".  Sie 
schreibt  ganz  anders  als  mit  10  Jahren.  Erstaunt  betrachtet  sie  später 
den  „Petit  Savoyard".  Sie  erkennt  an,  dass  sie  das  geschrieben,  aber  sie 
wundert  sich,  da  sie  dies  Gedicht  nicht  mehr  auswendig  weiss.  Die  Schrift- 
probe mit  „zehn  Jahren"  erkennt  sie  nicht  als  ihre  Schrift  an. 


Die  Ecmnesie,  als  ein  eigenartiger  Zustand  von  periodischer 
Amnesie  bei  Hysterischen,  dürfte  in  den  meisten  Fällen  nur  eine  ganz 
transitorische  Störung  sein.  Zuweilen  kommt  es  aber  auch  zu  pro- 
trahirten  Anfällen.  Dann  entstehen  Uebergänge  zur  „double  vie", 
insofern  die  Bewusstseinskreise  zweier  Bewusstseinszustände  niemals 
sich  schneiden  und  jeder  derselben  sein  eigenes  Gedächtniss  und  eigenen 
Inhalt  hat.  Einen  solchen  Uebergangsfall  stellt  nach  meiner  Ansicht 
der  berühmte  des  Louis  V.  dar,  den  Bourru  und  Burot  zum  Gegen- 
stand eingehender  Studien  und  Experimente  gemacht  haben.  Man 
kann  ihn  als  Fall  von  double  conscience  mit  Ecmnesie  bezeichnen. 


14* 


VIII. 

ÜEBER  RETROGRADE  ALLGEMEINE  AMNESIE. 


lieber  retrograde  allgemeine  Amnesie. 

Zu  den  werthvollsten  Bereicherungen  psychiatrischen  Wissens 
zählen  wohl  die  Forschungen,  welche  hinsichtlich  der  Störungen  des 
Gedächtnisses,  ganz  besonders  im  Rahmen  der  hysterischen  Neurose, 
von  Azam,  Bibot,  neuerdings  von  Janet  u.  A.    angestellt  worden  sind. 

Ein  helles  und  aufklärendes  Licht  fällt  damit  auf  gewisse  That- 
sachen  des  hysterischen  „Charakters",  indem  anscheinend  freches 
Leugnen  von  Begebnissen  oder  entstellte  Darstellung  solcher,  ver- 
meintliche Erlebnisse  bis  zur  „pathologischen  Lüge"  und  der  Con- 
fabulation,  damit  Unverlässlichkeit  bis  zum  falschen  Zeugniss  vor  Ge- 
richt, Verkehrtheiten  der  Handlungsweise,  in  Störungen  der  Gedächtniss- 
thätigkeit  ihre  Begründung  finden. 

Unter  den  von  Janet  u.  A.  aufgestellten  Categorien  gestörter 
Gedächtnissleistung  ist  eine  der  interessantesten  die  allgemeine 
Amnesie.  Sie  kann  einen  zeitlich  scharf  umschriebenen  Lebensabschnitt 
umfassen  (localis irte  Amnesie)  und  äussert  sich  dann  nur  in  der 
Unfähigkeit,  die  Erlebnisse  aus  jenem  Zeitabschnitt  zu  reproduciren, 
oder  sie  ist  eine  totale  retrograde  destructive,  insofern  sie  alle 
Lebenserfahrungen  der  Persönlichkeit  in  sich  begreift  und  das  Indi- 
viduum geradezu  auf  die  Stufe  des  neugeborenen  Kindes  zurückversetzt. 
Dort  handelte  es  sich  im  Sinne  Bibot's  nur  um  einen  temporären 
Ausfall  des  psychologischen  (G.  der  Erlebnisse),  hier  zugleich  um 
einen  Mangel  des  organischen  (G.  der  Fertigkeiten)  Gedächtnisses, 
mit  allen  seinen  Erinnerungsspuren  und  Gedächtnissbildern  früheren 
Könnens  und  Leistens.  Innerhalb  des  Zeitabschnittes  der  localisirten 
Amnesie  fehlt  blos  die  Fähigkeit.  Erlebnisse  dieses  Zeitraums  zu 
reproduciren,  bei  der  totalen  retrograden  Amnesie  dagegen  die  ganze 
frühere  Leistung,  und  damit  das  Bewusstsein  einer  Persönlichkeit 
überhaupt. 


216  Ueber  retrograde 

Die  zeitlich  begrenzte  Amnesie  erscheint  viel  häufiger  in  der  Er- 
fahrung, als  die  totale. 

Am  frühesten  hat  man  jene  nach  Commotio  cerebri  (vgl. 
Kouillard,  essai  sur  les  amnesies,  Paris  1885)  aufgefunden.  Jul. 
v.  Wagner  hat  sie  nach  Erhängungsversuchen  constatirt  (Jahrb.  für 
Psycliiatrie  VIII.  u.  a.  0.)  und  auf  die  Störungen  der  Circulation  und 
der  Ernährung  des  Gehirns  durch  das  Erhängen  zurückgeführt,  während 
Möbius  (Neurolog.  Beiträge  Heft  1),  in  einer  Polemik  gegen  Wagner, 
nachzuweisen  versuchte,  dass  die  Ursache  dieser  Amnesie  die  dem  Er- 
hängen vorausgehende  Gemüthserschütterung  und  eine  dadurch  ver- 
mittelte traumatische  Hysterie  sei,  eine  Annahme,  die  aber  nur  für 
einen  Theil  der  von  Wagner  hervorgezogenen  Casuistik  sich  fest- 
halten lässt. 

Noch  recht  wenig  geklärt  ist  die  zuweilen  nach  Intoxicationen 
besonders  alkoholischen  (Strümpell)  gefundene  localisirte  retrograde 
Amnesie. 

Auch  nach  Apoplexia  cerebri  will  man  diese  Form  der 
Amnesie  beobachtet  haben.  Die  bezüglichen  Krankengeschichten  (vgl. 
z.  B.  Winslow,  obscure  diseases  of  the  Brain  p.  268  u.  ff.)  sind  so 
aphoristisch  und  unklar,  dass  sie  nicht  beweisend  sind  und  zuweilen 
geradezu  die  Vermuthung  erwecken,  es  könnte  sich  um  Hysteria  gravis 
in  Gestalt  eines  apoplectischen  Insults  (vgl.  diese  ,.Arbeiten"  Heft  II 
p.  30—44)  gehandelt  haben. 

Sichergestellt  durch  eingehende  Beobachtungen  von  Strümpell 
(Deutsche  Zeitschr.  f.  Nervenheilkunde  VIII)  und  von  Alzheimer  (Zeit- 
schrift f.  Psychiatrie  LIII)  ist  das  Vorkommen  temporär  rückschreitender 
Amnesie  bei  Epileptischen,  besonders  nach  gehäuften  Anfällen  der 
Krankheit, 

Bemerkenswerth  ist,  dass  in  diesen  Fällen  die  von  Tagen  bis  zu 
172  Jahren  dauernde  Amnesie  in  einigen  Fällen  plötzlich  schwand, 
und  nur  in  StrümpeU's  Falle  persistirte. 

Auch  bei  Hysterie  hat  man  diese  Form  der  Amnesie  beobachtet. 
Typische  Fälle  sind  z.  B.  folgende: 

J  a  n  e  t :  Dame.  Nach  hysterischem  Insult  Amnesie  für  einen  drei- 
jährigen Aufenthalt  in  England,  zugleich  mit  Verlust  der  Kenntniss 
der  englischen  Sprache. 

Charcot  (revue  de  med.  1892,  XII)  Dame.  Nach  Hysteria  gravis- 
Anfall  von  3  tägiger  Dauer,  Verlust  der  Erinnerung  für  alle  Erlebnisse 
der  Zeit  von  6  Wochen  vor  dem  Insult, 

Toulouse,  Archiv,  de  Neurolog.  XXVIII,  1894.  Nach  heftigem 
psychischen  Shok  (Feuersbrunst)  Amnesie  fast  für  die  ganze  frühere 


allgemeine  Amnesie.  217 

Existenz,  bei   intactem  organischem  Gedächtniss  (ungestörte  Sp  räche 
Schrift,  Bewegungsleistungen). 

Viel  seltener  erscheinen  in  der  Literatur  Fälle  von  totaler 
destructiver  Amnesie.  Auffallender  Weise  erscheinen  sie  nur  bei 
Hysteria  gravis,  im  Anschluss  an  heftigen  psychischen  Shok  oder  an 
Anfälle  dieser  Krankheit,  sodass  die  Vermuthung  berechtigt  erscheint, 
diese  Form  der  Amnesie  sei  eine  der  Hysterie  eigenartige.  Die  von 
mir  in  der  Literatur  aufgefundenen  Fälle  sind  folgende: 

1.  Weir    Mitchell    „Mary  Reynolds,    a    case    of   double   consciousness" 
Philadelphia   1889. 

Mädchen  von  18  Jahren.  Seit  einigen  Wochen  Zustände  von  Hysteria 
gravis.  Nach  einem  Lethargusanfall  von  20  Stunden  kommt  Pat.  zu 
sich,  in  einem  Zustand  wie  ein  „neugeborenes  Kind",  aber  mit  den 
Fähigkeiten  eines  Erwachsenen.  Es  besteht  blos  Echosprache.  All- 
mälig  Wiedererlangung  des  früheren  geistigen  Besitzes. 

2.  Mac  Nish,  philosophy  of  sleep   1838  p.   215. 

Dame  in  Amerika.  Nach  Schlafanfall  allgemeine  destructive  Amnesie. 
Pat.  wusste  gar  nichts  von  den  Kenntnissen,  Fertigkeiten,  überhaupt 
Erlebnissen  ihrer  bisherigen  Existenz,  sodass  man  sie  von  Neuem  er- 
ziehen musste.  Eines  Tages  neuer  Schlafaufall,  nach  welchem  sie  wieder 
in  ihrem  früheren  vollen  geistigen  Besitz  war.  Sie  wusste  nichts  von 
dieser  Ej>isode  allgemeiner  Amnesie. 

3.  Ribot,   Krankheiten   des   Gedächtnisses  p.   51. 

Lehrerin,  26  J.,  bietet  nach  einem  Hysteria  gravis-Insult  allgemeine 
Amnesie  (Verlust  aller  Kenntnisse).  Wiedererlangung  des  geistigen 
Besitzes  nach  einigen  Wochen. 

4.  Sharpey  bei  Ribot  p.  52. 

Zarte  Dame.  Nach  2  monatlichem  (hysterischem)  Schlafzustand  Amnesie 
für  fast  Alles  früher  Erlebte  und  Erlernte.  Allmäliges  "Wiedererwerben 
desselben  binnen  3  Monaten. 

5.  Ribot  ebenda   p.  55. 

Eine  junge  Frau  fällt  ins  Wasser.  Herausgezogen,  ist  sie  durch 
6  Stunden  bewusstlos,  dann  wieder  bei  sich.  Zehn  Tage  später  ver- 
fällt sie  in  einen  4  Stunden  dauernden  „Stupor".  Darnach  Verlust 
von  Gehör,  Sprache,  Geschmack,  Geruch,  Bewegungsvorstellungen.  Sie 
sieht   und    fühlt  nur.     Pat.   erwirbt  mühsam  neuerlich  geistigen  Besitz. 

Eines  Tags,  infolge  einer  Gemüthsbewegung.  Bewusstlosigkeit  von 
einigen  Stunden.  Zu  sich  gekommen,  ist  sie  im  geistigen  frühereu 
Besitz  aber  noch  einige  Zeit  hindurch  taub.  Sie  weiss  nichts  von  den 
12  Monaten  ihrer  Krankheit,   die  ihr  wie  ein  langer  Schlaf  vorkommt. 

6.  Camus  et,  revue  philosophique    1882. 

17  jähriger  Junge.  Nach  heftigem  Hysteria  gravis-Insult  Verlust  des 
Gedächtnisses  für  die  ganze  bisherige  Existenz  und  für  alle  Kenntnisse. 


218  Ueber  retrograde 

Nach  1  Jahr  dem  früheren  identischer  Insult.  Nun  wieder  die  frühere 
Persönlichkeit,  aber  Amnesie  für  die  Vorkommnisse  des  einjährigen 
Zustandes. 

7.  Azam,  hypnotisme  et   double  conscience  p.  221. 

Albert  X.,  12 1/a  J.  Seit  dem  5.  Jahre  Tussis  hysterica.  Nach 
heftigem  hysterischen  Insult  mit  10  lj„  Jahren  Verlust  der  Vita  ante 
acta  und  allen  Wissens.  Er  kann  nicht  mehr  lesen,  schreiben,  rechnen, 
spricht  unvollkommen,  erkennt  nur  mehr  Eltern  und  Pflegerin.  Nach 
20  Tagen  wieder  Stat.  quo  ante.  Neuerliche  solche  Zustände  nach 
hysterischen  Insulten,  mit  mehr  oder  weniger  vollkommener  retroactiver 
Amnesie,  bis  zur  Dauer  von  einigen  Wochen. 

8.  Mortimer  Granville,  Brain,    1889,   October. 

Hysterische  Frau  von  26  Jahren,  die  nach  „heftigem  Fieber  mit 
Bewusstseinsverlust"  durch  einige  Wochen  Amnesie  für  alles  Erlebte 
und  Erlernte  hatte. 

Die  Fälle  von  totaler  retrograder  Amnesie  bei  Hysteria  gravis 
haben  mit  den  bei  Epilepsie  beobachteten  das  Gemeinsame,  dass  sie 
nach  Anfällen  der  Krankheit  zurückbleiben.  Die  Amnesie  schwindet 
allmälig  oder  es  geschieht  dies  plötzlich  nach  einem  neuerlichen 
Hysteria  gravis-Insult.  Immer  kommt  es  zu  einer  vollständigen 
Restitution  des  früheren  geistigen  Besitzes.  Die  Dauer  der  Amnesie 
beträgt  Wochen  bis  Jahresfrist.  In  klassischen  Fällen  besteht  geistig 
tabula  rasa  bis  zum  Verlust  eines  Persönlichkeitsbewusstseins.  Es  ist 
dann  geradeso,  wie  wenn  das  ganze  psychische  Organ  in  einem  Zustand 
des  Schlafs  verfallen  wäre.  Dies  gilt  aber  nur  für  den  vor  dem  Ein- 
tritt der  Amnesie  erworbenen  Besitz.  Die  Erwerbung  neuen  Besitzes 
und  seine  associative  Verwerthung  und  Bereicherung  ist  eine  ziemlich 
gute.  Jedenfalls  bestehen  bei  dieser  Form  der  Amnesie  keine  Com- 
plicationen  mit  anterograder  (wie  dies  zuweilen  bei  der  localisirten 
Amnesie  vorkommt)  oder  gar  mit  der  Dauerform  der  Amnesie.  Da  offen- 
bar der  frühere  geistige  Besitz  blos  gesperrt,  nicht  aber  verloren  ist,  ge- 
lingt auf  dem  Wege  der  Association  von  neuerworbenen  Vorstellungen 
aus,  die  Reactivirung  auffallend  schnell.  Häufig  ist  überdies  die 
destructive  Amnesie  keine  universelle,  so  z.  B.  in  Beob.  5,  wo  nur  die 
Erinnerungsbilder  einer  Zahl  von  Rindenterritorien  defect  waren,  bei 
erhaltenem  Wahrnehmungsvermögen  des  Gesichts-  und  Gefühlssinns. 
Ich  reihe  an  diese  Erfahrungen  folgende  eigene  Beobachtung,  in 
welcher  bei  einer  Hysterischen,  nach  Attaquen  von  Zorntobsucht, 
durch  Tage  lang  Amnesie  für  die  ganze  frühere  Leistung,  bis  zur  Auf- 
hebung des  Persönlichkeitsbewusstseins  vorhanden  war,  jedoch  war 
das  organische  Gedächtniss  insofern  nicht  mitbetroffen,  als  die  Be- 
wegungsanschauungen erhalten  waren. 


allgemeine  Amnesie.  219 

B  e  o  b.  E.  M.,  19  J.,  ledig ,  in  der  Klinik  aufgenommen  am 
23.  9.  1892,  stammt  von  einem  Vater,  der  Potator  war.  Eine  Schwester 
derselben  ist  Idiotin,  ein  Bruder  als  kleines  Kind  au  Convulsionen 
gestorben. 

Pat.  soll  früher  gesund  gewesen  seiu,  in  der  Schule  gut  gelernt 
haben.  Sie  galt  aber  als  verlogen,  moralisch  defect  und  dem  Trünke 
geneigt.  Sie  war  faul  und  las  mit  Vorliebe  Romane.  Die  ersten 
Menses  waren  mit  13  Jahren  erschienen. 

Im  Januar  1892  war  Pat.  bei  einer  Familie  untergebracht  worden, 
um  dort  das  Nähen  zu  erlernen.  In  diesem  neuen  Milieu  fühlte  sich  Pat. 
sehr  wohl.  Sie  fabulirte  einen  ganzen  Roman  zusammen,  der  an 
primordiale  Verfolgungs-  und  Grössendelirien  erinnerte  und  wohl  als 
„pathologische  Lüge"  einer  Hysterischen  bezeichnet  werden  kann. 

Sie  behauptete,  ihre  Mutter  sei  eine  schlechte  Person,  die  schon 
im  Zuchthause  gesessen  sei  und  immer  ein  Giftfläschchen  mit  sich 
führe,  um  die  Leute  zu  vergiften.  Diese  Lügen  kamen  der  Mutter 
zu  Ohren,  die  ihre  Tochter  im  April  deshalb  zur  Rede  stellte  und 
leicht  züchtigte.  Pat.  erzählte  in  der  Folge,  die  Mutter  habe  ihr  den 
Arm  dreimal  gebrochen,  sie  müsse  sich  deshalb  im  Spital  behandeln 
lassen.  Sie  ging  plötzlich  von  Hause  fort,  kam  jeweils  mit  der  Angabe 
zurück,  sie  sei  beim  Prof.  W.  gewesen,  der  constatirt  habe,  dass  sie 
durch  ihre  Mutter  vergiftet  sei.  Ihre  Lunge  sei  durch  Gift  verbrannt, 
ihr  Gehirn  schwimme  im  Wasser  in  Folge  der  Schläge,  die  sie  von 
der  Mutter  erhalten  habe.  Der  Professor  ziehe  ihr  Gift  und  Wasser 
unter  den  Fingernägeln  heraus  und  schreibe  ihr  vor,  sie  dürfe  nur 
Braten  essen  und  Rothwein  trinken. 

Schliesslich  erklärte  sie  sich  für  das  Kind  eines  Grafen  Antonio, 
der  Capuziner  sei  und  seinem  Vater  auf  dessen  Todtenbett  geschworen 
habe,  er  werde  solange  im  Kloster  bleiben  und  der  Pat,  keine  Unter- 
stützung gewähren,  bis  sie  20  Jahre  alt  sei.  Dann  (1893)  werde  er 
das  Kloster  verlassen,  seine.  Tochter  zu  sich  nehmen  und  Alle,  die  ihr 
gut  waren,  reichlich  beschenken.  Ihre  Mutter,  die  nur  ihre  Ziehmutter 
sei,  wolle  sie  vergiften,  um  zu  verhindern,  dass  sie  im  Jahre  1893 
das  väterliche  Erbe  antrete.  Prof.  W.  wisse  von  Allem,  spreche  mit 
ihr  darüber  und  bedauere  sie  lebhaft.  Die  Quartierfrau  der  E.  erhielt 
Briefe,  unterzeichnet  von  einem  Grafen  Antonio,  in  welchem  alle  An- 
gaben derselben  bestätigt  waren.  Pat.  wusste  ihren  Roman  so  plausibel 
zu  machen,  dass  ein  Theil  ihrer  Umgebung  von  der  Wahrheit  ihrer 
An°-aben  überzeugt  war  und  ihre  Quartiergeberin,  in  der  Erwartung 
der  von  Antonio  zu  gewärtigenden  Summen,  ernstlich  daran  dachte, 
ihr  Nähereigeschäft  aufzugeben. 


i- 


220  lieber  retrograde 

Eines  Tages  stellte  sich  aus  Concepten,  die  man  bei  Pat.  fand, 
heraus,  dass  sie  selbst,  mit  gut  verstellter  Hand,  jene  Briefe  geschrieben 
hatte.  Nachforschungen  ergaben  ferner,  dass  Pat,  den  Prof.  W.  gar 
nicht  kenne. 

Am  22.  9.  über  ihre  Lügen  zur  Rede  gestellt,  gerieth  Pat.  in 
einen  Zustand  von  Zorntobsucht,  in  welchem  sie,  schreiend,  um  sich 
schlagend,  beissend,  sich  die  Kleider  vom  Leibe  reissend,  mühsam  von 
4  Männern  gebändigt,  zur  Aufnahme  auf  der  psychiatrischen  Klinik 
gelangte. 

Am  Abend  des  23.  9.  wurde  Pat.  ruhig,  schlief  ein  und  erwachte 
am  Morgen  des  24.  ganz  verwirrt,  unorientirt,  mit  Amnesie  für  die 
Erlebnisse  des  Anfalls.  Für  das  ganze  frühere  Leben  bestand  fast 
völliger  Defect  der  Erinnerung  (so  erkannte  sie  z.  B.  die  sie  besuchende 
Quartierfrau  nicht).  Sie  war  zugleich  am  ganzen  Körper  an- 
ästhetisch und  analgetisch.  Am  26.  9.  waren  die  sensiblen  Störungen  ge- 
schwunden, die  Erinnerung  für  alles  Erlebte  und  Erlernte  wieder  da,  bis 
auf  die  Erlebnisse  im  Anfall,  die  amnestisch  blieben. 

Pat.  klein,  gut  genährt,  Schädel  im  Stirntheil  schmal,  Cf.  51  cm, 
Zähne  gerieft,  Ohrmuscheln  leicht  verbildet.  Cutane  und  tiefe  Sen- 
sibilität ohne  Defect.  Intervallär  Angstgefühle,  sehr  labiler  Yasomotorius 
(oft  heiss  und  roth  im  Gesicht),  schmerzhafte  Druckpunkte  an  Kopf 
und  Gesicht,  1.  Cervicooccipitalneuralgie,  grosse  Emotivität  und  Reiz- 
barkeit, 

Am  ß.  10.  Abends,  nach  Gemütsbewegung,  neuer  Anfall  von  Zorn- 
tobsucht, der  einige  Stunden  dauert  und  mit  Schlaf  endigt,  Am  7.  10. 
Morgens  constatirt  man  nicht  nur  vollständige  Anästhesie  für  alle 
Qualitäten  incl.  tiefe  Sensibilität,  sondern  auch  complete  Amnesie,  und 
zwar  nicht  blos  für  die  Zeit  des  Anfalls,  sondern  auch  für  die  ganze 
frühere  Existenz.  Aller  Erinnerungsbilder  ist  Pat.  verlustig.  Sie  er- 
scheint seelenblind  und  seelentaub,  appercipirt  nicht  Tasteindrücke,  weiss 
nicht  die  einfachsten  Hantirungen.  Sie  erkennt  nicht  Zündhölzchen 
und  andere  Dinge  des  Alltagslebens,  die  man  ihr  zeigt,  kennt  nicht 
die  Bedeutung  von  Worten  wie :  „Eltern",  „Wien",  „Pferd''  u.  s.  w. 
Selbst  der  eigene  Name  ist  ihr  fremd.  Während  Destruction  des  Ge- 
dächtnisses für  die  ganze  Vita  ante  acta  besteht,  findet  sich  treue  Er- 
innerung für  Alles  nach  dem  Anfall  Erlebte.  So  erkennt  sie  Personen, 
Uhr,  Schlüssel  und  andere  Gegenstände,  die  sie  seither  gesehen,  sofort 
wieder,  ohne  jedoch  deren  Bedeutung  zu  erkennen.  Associationen 
knüpfen  sich  zunächst  nicht  an  solche  Gegenstände,  ebensowenig,  wenn 
man  Pat.  die  betr.  Objecte  benennt.  Das  Persönlichkeitsbewusstsein 
scheint  sich  auf  das  dunkle  Bewusstsein  einer  Existenz  überhaupt  zu  be- 


allgemeine  Amnesie.  221 

schränken.    Wenn  man   Pat.    anruft,    so    reagirt    sie    nicht,    obwohl 
sie  hört. 

Im  Laufe  des  Tages  tauchen  einzelne  Erinnerungsbilder  auf. 
Pat.  vermag  nun  auch  zu  lesen,  jedoch  versteht  sie  den  Sinn  des  Ge- 
lesenen nicht.    Die  Analgesie  schwindet. 

Am  8. 10.  ist  die  Sensibilität  wieder  hergestellt.  Nun  gelangt  Pat.  ziem- 
lich rasch  wieder  iu  den  vollen  früheren  geistigen  Besitz.  Bald  gelingt 
es  mehr  auf  optischem,  bald  auf  acustischem  Wege  die  Erinnerungs- 
bilder wachzurufen.  Meist  tritt  mit  einem  neuerweckten  Erinnerungs- 
bild eine  ganze  Reihe  associirter  Vorstellungen  auf.  Abstracto  Be- 
griffe werden  am  schwersten  und  spätesten  zurückgewonnen. 

Am  12.  10.  ist  Pat.  im  Status  quo  ante.  Aber  auch  1.  Ambl3Topie, 
mit  starker  concentrischer  Einschränkung  des  Sehfelds  und  Perception 
der  Contrastfarben  statt  der  wirklichen,  sowie  1.  Anacusie  bei  Knochen- 
leitung, die  während  der  Dauer  des  Anfalls  sich  beobachten  Hessen, 
sind  geschwunden. 

Am  7.  11.  nach  Emotion,  genuiner  Anfall  von  Hysteria  gravis 
(epileptoide  Phase,  mouvements  passionnels,  periode  du  delire)  durch 
eine  Stunde. 

Im  unmittelbaren  Anschluss  an  diesen  Insult  zeigt  sich  wieder 
retrograde  Aufhebung  des  Gedächtnisses,  zugleich  mit  universeller 
Anästhesie  und  Analgesie. 

Pat.  setzt  sich  nach  abgelaufenem  Anfall  ruhig  auf,  blickt  ver- 
wundert um  sich,  ist  ganz  rathlos,  dann  ängstlich,  fragt :  „was  ist  ge- 
schehen? wo  bin  ich?"  Dann  (mit  steigender  Unruhe):  „ich  bitte 
Euch,  sagt  mir  was;  mein  Gott,  ich  kenne  mich  nicht  aus;1  Auf 
Fragen,  was  sie  sei,  wie  sie  heisse,  wo  sie  sich  befinde,  antwortet 
sie,  sie  wisse  es  nicht. 

Ein  ihr  gereichtes  Glas  Wasser  betrachtet  sie  verwundert  von  allen 
Seiten,  fragt,  was  das  sei,  hält  es  gegen  das  Licht,  riecht  daran,  kostet 
es  und  trinkt  es  dann  rasch  und  befriedigt  aus.  Ein  Stück  Brot  wird 
genau  besehen,  dann  misstrauisch  weggeworfen,  sie  wisse  nicht  was 
es  sei  Aehnlich  macht  es  Pat.  mit  anderen  Gegenständen.  Sie  be- 
tastet z  B  die  Wand,  kratzt  prüfend  daran,  zieht  den  Zimmervorhang 
zu  sich,  riecht  und  schleckt  an  demselben.  Eine  in  geschlossener 
Hand  ihr  ans  Ohr  gehaltene  Taschenuhr  ruft  ihr  höchstes  Erstaunen 
hervor  Sie  horcht  da  und  dorthin,  meint,  es  klopfe  Jemand  und 
doch  sei  Niemand  da.  Sie  kommt  aus  ihrem  ängstlichen  Staunen 
nicht  heraus,  bittet  flehend,  ihr  doch  zu  sagen,  wo  sie  sei.  Bei  fort- 
dauernder Anästhesie  zieht  mau  ihr  an  den  Haaren  den  Kopf  gegen 


222  lieber  retrograde 

die  Brust  herunter,  ohne  dass  sie  dies  bemerkt.  Schliesslich  wundert 
sie  sich,  dass  der  Kopf  heruntergefallen  sei  und  sieht  erstaunt  nach 
der  Decke  empor. 

Am  9.  11.  wieder  Stat.  quo  ante,  mit  Amnesie  für  die  ganze 
Anfallszeit. 

Am  11.  Anfall  gleich  wie  am  7.,  aber  schwächer.  Darnach  wieder 
retrograde  Destructio  memoriae  und  allgemeine  Anästhesie,  aber  schon 
nach  1  Stunde  ist  kein  amnestischer  Defect  mehr  nachzuweisen  und 
die  Sensibilität  wieder  hergestellt. 

In  der  Folge  noch  leichte  Anfälle  von  Hysteria  gravis,  aber  ohne 
die  destructive  Wirkung  auf  das  Gedächtniss.  Am  19.  12.  1892 
entlassen. 

2.  Aufnahme  vom  23.  7.  bis  4.  9.  1893  wegen  seit  Neujahr  1893 
wieder  bestehender  Hysteria  gravis-Anfälle  und  gelegentlicher  hy- 
sterischer Dämmerzustände  mit  Delir,  aber  ohne  retroamnestische 
Wirkung. 

3.  Aufenthalt  im  Spital  vom  11.  10.  1893  ab  wegen  Anfällen  von 
somnambulen  Traumzuständen,   aber   ohne   retroamnestische  Wirkung. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  bei  all  den  seit  dem  11.  11.  1892  be- 
obachteten Hysteria  gravis- Anfällen  kein  Sensibilitätsdefect  nach  diesen 
constatirt  werden  konnte. 

Die  interessanteste  Frage  ist  die  nach  der  Natur  und  Ursache 
dieser  Amnesie.  Worauf  in  früheren  Fällen  meist  nicht  geachtet 
wurde,  das  tritt  in  meiner  Beobachtung  auffallend  zu  Tage,  nämlich  die 
allgemeine  Amnesie  ist  von  allgemeiner  Anästhesie  begleitet  und  be- 
steht und  schwindet  mit  dieser.  Nur  Anfälle  von  Hysteria  gravis, 
welche  eine  solche  Anästhesie  hinterlassen,  führen  zugleich  zur  Amnesie. 
Schon  Janet  (Geisteszustand  der  Hysterischen  p.  95),  weist  auf  gleich- 
zeitigen Verlust  der  Sensibilität  in  solchem  amnestischem  Zustand  hin 
und  spricht  die  Meinung  aus,  dass  die  Sensibilität  offenbar  Einfluss 
auf  das  Gedächtniss  hat. 

Ganz  besonders  interessant  im  Sinne  dieser  Annahme  ist  folgender 
Fall  von  Bourru  und  Durot  („die  Veränderungen  des  Ich's"  1888 
p.  123  u.  ff.) :  Ein  gew.  V,  bot  5  verschiedene  Ichzustände,  jeder  durch 
bestimmte  Amnesien  und  Erinnerungen  ausgezeichnet.  In  jedem  dieser 
5  Zustände  bot  er  ein  besonderes  Verhalten  der  Sensibilität. 

Die  hysterische  destructive  Amnesie  mag  auf  Ausfällen  der 
Sensibilität  (centrale  oder  Apperceptionsanästhesie)  beruhen  (Janet, 
Hajos,  Ranschburg),  vermöge  welcher  das  an  sie  geknüpfte  Persön- 
lichkeitsbewusstsein  und  andere  Associationen  sich  nicht  entwickeln 
können. 


allgemeine  Amnesie.  223 

Jedenfalls  erscheint  es  nöthig,  in  künftigen  derartigen  Fällen  das 
Verhalten  der  Sensibilität  während  der  Dauer  der  Amnesie  genau 
festzustellen. 

Die  Fälle  von  totaler  Amnesie  haben  viel  mit  einem  psychopathischen 
Bild  gemeinsam,  das  als  primäre  acute  Dementia  post  trauma  capitis 
oder  als  Commotionspsychose  nach  mechanischem  Stock  bekannt  ist 
(vgl.  m.  Lehrbuch  d.  Psychiatrie,  6.  Aufl.,  p.  337).  Hier  scheint  eine 
wirkliche,  wenn  auch  nur  functionelle  Demenz,  als  Ausdruck  einer 
protrahirten  Commotio  cerebri  zu  bestehen,  nicht  eine  durch  Anästhesie 
eventuell  gesetzte  Hemmung  der  Gedächtnissfunction  (Ausschaltung 
der  Erinnerungsbilder),  wenigstens  habe  ich  in  5  derartigen  Fällen 
keine  Sensibilitätsdefecte  bemerkt. 

Wäre  es  jetzt  schon  sicher,  dass  die  totale  destructive  Amnesie 
der  Hysterie  eigenthümlich  ist,  so  wäre  die  dift'erentielle  Diagnose 
nur  da  zu  machen,  wo  in  einem  Anfall  von  Hysteria  gravis,  oder  in 
einem  Aequivalent  derselben,   ein  Trauma  capitis   .stattgefunden  hätte. 

Unter  allen  Umständen  erscheint  es  immerhin  nicht  denkbar, 
dass  eine  organische  cerebrale  Störung  eine  so  allgemeine  Amnesie 
vermittle,  wie  sie  die  Hysterie  herbeiführen  kann.  Es  ist  dies  ebenso- 
wenig annehmbar,  als  dass  ein  Mutismus,  der  doch  ein  unbestrittenes 
Syndrom  von  hysterischer  Bedeutung  ist  und  in  einer  vollkommenen 
Ausschaltung  des  gesammten  Sprachgebiets  besteht,  durch  eine  organische 
Erkrankung  (Apoplexie,  Erweichung)  zu  Stande  käme.  Eine  solche 
vermag  nur  Bilder  der  Aphasie  hervorzurufen. 

Vergleicht  man  die  heilbare  traumatische  Demenz  mit  dem  Zustand, 
wie  ihn  eine  allgemeine  (hysterische)  Amnesie  bewirkt,  so  zeigen  sich 
dort  nie  jene  allgemeinen  und  tiefgehenden  Ausfälle  im  geistigen 
Besitz  wie  bei  dieser. 

Bei  jener  Commotionspsychose  besteht  doch  vielmehr  ein  psychischer 
Torpor,  als  ein  umfassender  geistiger  Defect,  eine  Stupidität,  als  Aus- 
druck der  Summation  von  gehemmter  Function  in  den  verschiedenen 
Hirnrindenterritorien,  wobei  zudem  eine  Verschiedenheit  der  Intensität 
und  der  Dauer  der  Störung  da  und  dort  sich  herausstellt.  Jedenfalls 
ist  das  psychische  Gebiet  hier  nie  zur  tabula  rasa  geworden. 

Nie  erfolgt  hier  eine  plötzliche  und  allseitige  Wiederkehr  des 
früheren  geistigen  Besitzes,  wie  nicht  selten  bei  hysterischer  Amnesie, 
besonders  nach  neuerlichen  Anfällen,  sondern  ein  allmäliges  und 
zeitlich  verschiedenes  Wiedereinsetzen  der  Function  in  disparaten  Hirn- 
rindengebieten. 

Interessant  in  differentiell  diagnostischer  Hinsicht,  beim  Mangel  einer 
den  heutigen  Anforderungen  entsprechenden  Krankengeschichte  aber 


224  lieber  retrograde  allgemeine  Amnesie. 

nicht  entscheidbar,  ist  folgender  Fall  bei  Winslow  (a,  a.  0.  p.  317). 
Ein  Geistlicher  war  nach  Trauma  capitis  mehrere  Tage  lang  bewusst- 
los.  Zu  sich  gekommen,  glich  er  einem  intelligenten  Kinde,  das  Alles 
wieder  lernen  musste.  Nachdem  er  nach  einigen  Monaten  sein  Ge- 
dächtniss  wieder  erlangt  hatte,  gewann  er  binnen  einigen  Wochen 
seinen  gesammten  geistigen  Besitz  zurück. 

Prognostisch  wichtig  wäre  immerhin  die  differentielle  Diagnose 
von  allgemeiner  Amnesie  (hysterischer)  und  Commotionspsychose,  denn 
bei  ersterer  hat  man  bisher  immer  Schwinden  des  Gebrechens  be- 
obachtet, bei  letzterer  als  Ausgang  nicht  selten  Schwachsinn. 


IX. 


MEINEID.    HYSTERISMUS.    BEHAUPTETE  AMNESIE  UND 
UNZURECHNUNGSFAEHIGKEIT.1) 


1)  Jahrbücher  für  Psychiatrie.  XIII.  Bd.  Heft  2  u.  3. 
Krafft-Eoing,  Arbeiten  HI.  ls 


Meineid.    Hysterismus.    Behauptete  Amnesie  und 
Unzurechnungsfähigkeit. 

Ergebnisse  ans  den  Untersuchungsacten. 

Anfang  Juli  1892  schloss  die  30  Jahre  alte,  ledige,  bei  ihrer 
Freundin,  einer  Hausbesitzerin  in  Graz,  lebende  J.  in  Vertretung  dieser, 
einen  mündlichen  Mietvertrag  mit  einem  gewissen  K.  und  dessen 
Ehefrau. 

Eine  Hauptbedingung  war,  dass  die  gemiethete  Wohnung  als  „rein 
von  Wanzen  und  trocken"  garantirt  werde,  welche  Garantie  die  Ver- 
mietherin  leistete. 

Bei  einer  Besichtigung  der  gemietheten  Wohnung  am  15.  Juli 
1892  fanden  sie  die  Miether  voller  Wanzen,  erklärten  die  Vertrags- 
bedingungen nicht  erfüllt  und  verlangten  Bückerstattung  ihres  Haft- 
geldes.    Dies  wurde  verweigert. 

Es  kam  zum  Process.  Am  3.  September  1892  leistete  die  J.  einen 
Eid:  „es  ist  nicht  wahr,  dass  K.  die  Bedingung  stellte,  die  Wohnung 
müsse  frei  von  Ungeziefer  sein".  Darauf  beschuldigten  die  K.'s  die  Z. 
des  Meineides.  In  der  durchgeführten  Untersuchung  und  Verhandlung 
(27.  Januar  1893)  gegen  die  J.  weiss  diese  die  kleinsten  Details  be- 
züglich der  Vorgänge  am  15.  Juli  1892,  erinnert  sich  betimmt  daran, 
dass  bei  der  Miethangelegenheit  von  Ungeziefer  nicht  die  Bede  war. 
Die  K.'s  und  zwei  Ohrenzeugen  des  Miethvertrages  erklären  unter 
Eid  das  Gegentheil.  Die  J.  wird  zu  2  Monaten  Kerker  verurtheilt. 
Nachdem  eine  auf  processuale  Gründe  gestützte  Nichtigkeitsbeschwerde 
vom  obersten  Gerichtshof  verworfen  worden  war,  machte  der  Ver- 
teidiger  verschiedene  Thatsachen    aus   der  Lebensgeschichte   seiner 

15* 


228  Meineid.    Hysterisinus. 

Clientin  geltend,  die  nach  seiner  Ansicht  zu  Zweifeln  an  ihrer  geistigen 
Gesundheit  berechtigten,  producirte  ärztliche  Zeugnisse  (s.  u.)  nach 
denen  ihre  Erinnerungsfähigkeit  fraglich  sei  und  beantragte  Unter- 
suchung   des   Geisteszustandes   und   Wiederaufnahme   des  Verfahrens. 

Das  gerichtsärztliche  Gutachten  vom  Juni  1893  constatirt  zwar 
Hysterismus,  findet  aber  keine  Anhaltspunkte  für  Störungen  der  Er- 
innerung, plötzliche  Gedächtnissdefecte  u.s.  w.  Das  Gesuch  des  Ver- 
teidigers wird  nun  abschlägig  beschieden.  Diese  Misserfolge  führen 
zu  bedeutender  Verschlimmerung  der  hysterischen  Neurose,  sodass 
Spitalbehandlung  nothwendig  wird. 

In  einem  neuerlichen  Gutachten  vom  1.  November  verbleiben  die 
Gerichtsärzte  bei  ihrer  früheren  Beurtheilung.  Wegen  Wichtigkeit 
und  Schwierigkeit  des  Falles  beschliesst  der  Gerichtshof  die  Einholung 
eines  Facultätsoiitachtens. 


Faciiltätsgutackten. 

Um  zur  Klarheit  über  die  geistige  Verfassung  der  wegen  Mein- 
eides verurtheilten  J.  zu  gelangen,  erscheint  es  nothwendig,  ihr  früheres 
körperliches  und  seelisches  Verhalten  an  der  Hand  der  in  den  Acten 
enthaltenen  Thatsachen  festzustellen. 

Mit  Rücksicht  auf  die  der  Facultät  zur  Entscheidung  vorgelegte 
Frage  nach  dem  Geisteszustände  der  J.  zur  Zeit  der  Eidesleistung, 
dürfte  es  zweckdienlich  sein,  die  Lebensperiode  bis  zur  Verhängung 
der  Untersuchung  und  von  da  ab  bis  zur  Entlassung  aus  dem  Spital 
zu  unterscheiden. 

I.    Der    Zeitabschnitt    bis   zur    Verhängung   der   Unter- 
suchung. 

Dr.  M.  schildert  in  einer  wissenschaftlichen  Arbeit  „über  Arsen- 
lähmungen" seine  frühere  Clientin  als  von  gesunden  Eltern  abstammend, 
jedoch  soll  des  Vaters  Mutter  im  Alter  verblödet  und  die  mütterliche 
Grossmutter  Schnapstrinkerin  gewesen  sein.  Mit  8  Jahren  machte  die 
J.  einen  Kopftyphus  durch.  Zeugin  Z.,  welche  die  J.  seit  ihrem 
7.  Jahre  kennt  und  mit  ihr  in  gemeinsamem  Haushalt  seit  1888  lebt, 
berichtet,  dass  ihre  Freundin  mit  etwa  17  Jahren  gemüthsleidend  war, 
aus  Kummer,  dass  ihre  Hoffnung  auf  eine  grosse  Erbschaft  plötzlich 
zunichte  wurde. 

1888  sei  die  J.  aus  Schreck  bei  einem  Gewitter  mehrere  Tage 
bewusstlos  gewesen. 


Behauptete  Amnesie  und  Unzurechnungsfähigkeit.  229 

Audi  M.  erwähnt,  dass  die  J.  nach  dem  18.  Jahre  verschiedene 
nervöse  Symptome  bot,  1889  nach  heftigem  Schreck  sehr  aufgeregt 
war,  sodass  eine  Psychose  befürchtet  wurde.  Dies  trat  nicht  ein, 
aber  die  J.  blieb  sehr  nervös,  litt  oft  an  Kopfweh,  Appetitlosigkeit  und 
Uebelkeiten. 

Vom  August  1890  ab  kränkelte  sie  an  chronischer  Arsenvergif- 
tung, bekam  von  Mitte  September  1890  ab  eine  sehr  schwere  toxische 
multiple  Arsenneuritis,  auf  deren  Höhe  auch  die  Psyche  mit  ergriffen 
war.  Patientin  bot  erschwertes  Denkvermögen,  geschwächte  Erinne- 
rungsfähigkeit, erkannte  die  Umgebung  erst  nach  längerem  Nach- 
denken, bot  sogar  im  October  ein  kurzes  Inanitionsdelir.  Mitte  No- 
vember verlor  sich  der  augenscheinlich  auf  Erschöpfung  (Inanition) 
des  Nervensystems  beruhende  psychische  Schwächezustand.  Sie  genas 
völlig,  auch  von  ihrer  multiplen  Nervenentzündung,  gegen  AYeihnaeht 
1890. 

Dr.  M.  sah  seine  Patientin  vier  Wochen  später,  war  erstaunt  über 
ihr  prächtiges  Aussehen.  „So  frisch,  voll,  blühend"  hatte  er  sie  nie 
zuvor  gesehen. 

Mit  dieser  Darstellung  contrastirt  die  Aussage  der  Zeugin  L., 
wonach  die  J.  seit  der  Arsenvergiftung  sehr  schlechtes  Gedächtniss 
hatte,  zeitweise  Bekannte  nicht  erkannte,  an  Schwindelanfällen  litt, 
auch  misstrauisch,  gelegentlich  ganz  grundlos  eigensinnig  war.  Gleich- 
wohl vertraute  ihr  die  L.  die  Administration  ihres  Hauses  an  und  ge- 
stattete ihr  den  Abschluss  von  Miethverträgen ! 

Dr.  M.  attestirt  am  23.  März  1893.  dass  er  die  .T.  im  Frühjahr 
und  Sommer  1892  bis  in  den  Herbst  hinein  nicht  mehr  so  körperlich 
und  geistig  frisch  fand,  wie  vor  1890. 

Er  fand  damals  wiederholt  ihr  Auffassungsvermögen  vermindert, 
sie  folgte  dem  Gespräch  nicht  mit  gewohntem  Interesse  und  der  Ge- 
dankenablauf erschien  träger;  das  Gedächtniss  war  nicht  intact,  sie 
erinnerte  sich  zuweilen  auffallend  langsam  und  zeigte  dabei  auffällige 
nervöse  Beizbarkeit.  Er  erklärt  sich  diese  Anomalie,  abgesehen  von 
erblicher  Belastung  und  überstanden«-  Nervenkrankheit,  aus  bestehendem, 
zuweilen  fieberhaftem  Lungenspitzenkatarrh  und  Blutarmuth. 

Als  die  J.  im  Juli  1892  mit  den  K.'s  verhandelte  und  am  3.  Sep- 
tember 1892  einen  Eid  leistete,  ebenso  als  sie  am  2.  November  ge- 
richtlich vernommen  und  am  27.  Februar  1893  mit  ihr  die  Hauptver- 
handlung durchgeführt  wurde,  erschien  sie  niemand  psychisch  auffällig 
und  theilte  auch  nichts  von  Krankheit  und  speciell  Gedächtniss- 
schwäche mit. 

Sie  erinnerte  sich  aller  Details  ihrer  Bencontres  mit  den  K.'schen, 


230  Meineid.    Hysterismus. 

ausgenommen  die  einzige,  Gegenstand  der  Recrimiuationen  bildende 
Bedingung  des  Mietvertrages  und  wies  darauf  hin,  dass  die  Angaben 
der  Contrazeugen  schon  deshalb  nicht  wahr  sein  könnten,  weil  es  bei 
ihr  nicht  üblich  sei,  bedingte  Miethverträge  abzuschliessen. 

Am  27.  Februar  1894  erklärt  sie,  dass,  wenn  K.  eine  Bedingung 
gestellt  hätte,  sie  ihn  hinausgeworfen  haben  würde.  Zeuge  L.  be- 
stätigt auch,  dass,  als  er  als  Miether  einmal  eine  Bedingung  stellen 
wollte,  sie  ihn  schroff  abwies. 

Die  J.  vertheidigt  sich  geschickt,  logisch  und  consequent  vor  Ge- 
richt, sucht  die  Glaubwürdigkeit  der  Zeugen  zu  verdächtigen  und  er- 
hebt schliesslich  Einsprache  gegen  das  Verfahren. 

Versucht  man  die  bisherige  geistige  und  körperliche  Persönlich- 
keit zu  beurtheilen,  so  kann  darüber  kein  Zweifel  bestehen,  dass  die 
nach  dem  Befund  der  Gerichtsärzte  gracile,  schwächliche,  neuropathische 
J.  ein  belastetes  Individuum  ist.  Eine  Reihe  von  abnormen  Reac- 
tionserscheinungen  ihres  Nervensystems  in  früherer  Zeit  sind  Beweise 
dafür,  dass  diese  Belastung  eine  sehr  erhebliche  ist  und  vorübergehend 
schon  das  Bild  wirklicher  Nervenkrankheit  (Hysterie)  erreichte.  Die 
schwere  Arsenvergiftung,  an  welcher  die  J.  vom  August  bis  Ende 
1890  litt,  war  geeignet,  die  neuropathische  Constitution  noch  mehr  zu 
erschüttern  und  Pat.  noch  empfindliche]'  gegen  Schädlichkeiten  zu 
machen.  Da  aber  Dr.  M.  im  Januar  1891  blühende  Gesundheit  con- 
statirte  und  erfahrungsgemäss  eine  vorübergehende  Schädlichkeit,  wie 
sie  die  Arsenvergiftung  darstellte,  keine  dauernden  Folgen  im  Sinne 
einer  Zerrüttung  der  geistigen  Functionen  hinterlässt,  kann  diese  epi- 
sodische Krankheit  nur  in  obigem  Sinne,  als  Verstärkung  der  neuro- 
pathischen  Belastung,  in  Betracht  kommen. 

Dass  die  J.  zur  Zeit  als  sie  den  Miethvertrag  schloss  und  den 
Eid  leistete,  weder  mit  einer  Geisteskrankheit  noch  mit  einer  Sinnes- 
verwirrung, wie  sie  im  §  2  des  Oesterr.  Strafgesetzbuches  erwähnt 
ist,  behaftet  war,  lässt  sich  bestimmt  annehmen.  Damit  ist  aber  die 
gestellte  Frage  noch  lange  nicht  erledigt,  denn  bei  gewissen  Nerven- 
krankheiten, wie  z.  B.  Neurasthenie  und  Hysterie,  sind  auch  elemen- 
tare Störungen  des  Seelenlebens,  z.  B.  Erinnerungsschwäche  und  Er- 
innerungstäuschungen möglich,  die  im  concreten  Falle,  d.  h.  mit  Bezug 
auf  das  Delict,  schwer  ins  Gewicht  fallen  müssten  und  überdies,  als 
wiederholt  bei  der  J.  beobachtet,  von  Dr.  M.  attestirt  wurden.  Ueber- 
dies  werden  analoge  Beobachtungen  von  der  Zeugin  L.  mitgetheilt. 

Bei  aller  dadurch  gebotenen  Vorsicht,  erscheint  die  Gedächtniss- 
schwäche  der  J.  anlässlich  ihrer  eidlichen  Aussage,  in  eigenthümlichem 
Licht. 


Behauptete  Amnesie  und  Unzurechnungsfähigkeit.  231 

Während  man  bei  Nervenkranken,  namentlich  Neurasthenischen, 
jederzeit  auf  Erinnerungsdefecte  für  Erlebnisse,  namentlich  unbedeu- 
tende, gefasst  sein  muss  und  bei  Hysterischen  überdies  Erinnerungs- 
täuschungen, d.  h.  falsche  und  vielfach  von  der  Phantasie  entstellte 
Eeproductionen  von  Erlebnissen  zur  Beobachtung  gelangen,  erscheint  es 
unfassbar,  wie  aus  einer  zusammenhängenden  und  durch  Associationen 
geknüpften  Reihe  von  vollkommen  treu  reproducirten  Erlebnissen 
gerade  ein  einziges  Glied  der  ganzen  Reihe  nicht  erinnert  werden  soll. 

Eine  solche  partielle  Amnesie  wäre  noch  erklärbar,  wenn  ein  ganz 
zufälliges,  gar  nicht  zur  Sache  gehöriges  und  damit  bedeutungsloses, 
gleichzeitig  erlebtes  Ereigniss  nicht  erinnerbar  wäre,  aber  die  incrimi- 
nirte  angebliche  Erinnerungslücke  enthält  geradezu  den  wichtigsten, 
den  Vermiether  belastenden  Theil  des  ganzen  Miethvertrages ,  nicht 
einen  nebensächlichen  Umstand,  und  die  von  K.  gestellte  und  von  ihm 
und  anderen  Zeugen  beschworene  Bedingung  war  nach  den  eigenen 
Angaben  der  J.  eine  so  ungewöhnliche  und  unannehmbare,  dass,  wenn 
dieselbe  wirklich  gestellt  worden  wäre,  die  J.  den  Contrahenten  un- 
bedingt „hinausgeworfen"  hätte. 

Nach  allgemeinen  empirischen  Reproductionsgesetzen  werden  aber 
gerade  Begebenheiten  am  leichtesten  erinnert,  die  ungewöhnlich  sind 
und  eine  Gemüthsbewegung,  während  sie  erlebt  wurden,  hervorriefen. 
Dies  hätte  nach  den  Angaben  der  J.  nothwendig  der  Fall  sein  müssen, 
und  gleichwohl  vermag  sie  sich  dieser  Episode  nicht  zu  erinnern. 

Eine  weitere  Erfahrung  lautet  dahiu,  dass  selbst  in  Verlust  ge- 
rathene  Erinnerungen  wieder  erweckt  zu  werden  pflegen,  wenn  ihre 
Erinnerung  aufgefrischt  wird,  namentlich  indem  Nebenumstände  er- 
wähnt und  dadurch  die  ursprünglichen  Associationen  wieder  angeregt 
werden.  Dazu  war  während  der  Recriminationen  der  K.  und  in  dtn- 
der  Eidesleistung  vorausgehenden  Verhandlung  vom  3.  September  1892 
reichlich  Gelegenheit  geboten.  Gleichwohl  besteht  diese  isolirte  Er- 
innerungslücke der  J.  fort. 

Die  J.  behauptet  zudem  nicht  einfach,  dass  sie  sich  an  die  Be- 
dingung der  K.  nicht  erinnern  könne,  sondern  sie  schwört  positiv,  dass 
eine  solche  Bedingung  gar  nicht  gestellt  worden  sei.  Es  ist  ein  grosser 
Unterschied,  ob  jemand  erklärt,  er  könne  sich  an  eine  Begebenheit 
nicht  erinnern  oder  ob  er  positiv  angiebt.  dieselbe  habe  nie  stattge- 
funden. Damit  liegt  implicite  die  Erklärung:  Mein  Gedächtniss  ist 
gut,  ich  kann  mich  auf  dasselbe  selbst  angesichts  eines  zu  leistenden 
Eides  verlassen.  Thatsächlich  entdecken  Angeklagte,  Freundschaft 
derselben  und  Vertheidiger  erst  nachdem  der  Process  verloren  ist,  das 
schlechte  Gedächtniss   der  J.,  von   welchem   weder  wälu-end  der  Ver- 


232  Meineid.    Hysterisnras. 

handlungen  vor  Gericht  noch  hinsichtlich  der  Informationen,  welche 
die  J.  ihrem  Vertheidiger  giebt,  sich  Spuren  erkennen  lassen. 

Die  J.  stellt  stellt  sich  mit  ihrer  obigen  assertorischen  Behauptung 
in  Widerspruch  zur  Erfahrung  an  wirklich  gedächtnissschwachen  Per- 
sonen (Neurasthenische,  Hysterische,  Geistesschwache,  Greise  u.  s.  w.), 
welche,  im  Bewusstsein  der  Unverlässlichkeit  ihres  Gedächtnisses,  ein- 
fach erklären,  sich  an  das  und  jenes  nicht  erinnern  zu  können,  etwaige 
Erinnerungsspuren  aufzufassen  bemüht  sind,  keineswegs  aber  erklären, 
die  Begebenheit  erlebt  zu  haben.  So  spricht  und  urtheilt  nur  der, 
welcher  ein  gutes  Gedächtniss  und  Gewissen  hat. 

Die  partielle  Erinnerungslosigkeit  der  J.  am  15.  Juli  1892  und 
am  3.  September  1892  entbehrt  damit  jeder  medicinisch-psychologischen 
Unterlage  und  ist  wissenschaftlich  nicht  annehmbar. 

Allerdings  lässt  sich  nach  den  Depositionen  des  Arztes  M.  nicht 
bezweifeln,  dass  die  J.  schon  im  Sommer  1892  nervenkrank  war, 
geistig  leicht  erschöpfbar,  im  Gedächtniss  nicht  intact,  aber  eine  c  o  n  - 
tinuirliche  geistige  Schwäche  ist  damit  nicht  constatirt  und  die 
elementaren  psychischen  Störungen  überschreiten  nicht  den  Bahmen 
der  durch  körperliches  Leiden  (Anämie,  Lungenspitzenkatarrh)  ver- 
mittelten reizbaren  Schwäche  (Neurasthenie)  bei  einer  belasteten  Per- 
sönlichkeit. Die  Entwickelung  der  hysterischen  Nervenkrankheit  und 
ihre  Steigerung  zur  psychischen  Erkrankung  datirt  aber  aus  späterer 
Zeit. 

Unter  allen  Umständen  wird  durch  die  von  M.  beigebrachten 
Umstände  die  medicinisch-psychologische  Beweisführung  gegen  die  von 
der  J.  behauptete  partielle  Amnesie  nicht  erschüttert. 

IL  Der  Geisteszustand  der  J.  von  der  Verurtheilung  bis 
zur  Entlassung  aus  dem  Spital. 

Wie  nicht  anders  zu  erwarten  war,  entwickelte  sich  unter  den 
Aufregungen  und  Sorgen,  Avelche  der  Strafprocess  und  die  Verurthei- 
lung mit  sich  brachten,  bei  der  belasteten,  durch  frühere  und  neuer- 
liche Krankheit  noch  mehr  disponirten ,  schon  lange  nervenkranken 
Persönlichkeit  die  Krankheit  weiter. 

Dr.  M.  attestirt,  dass  er  die  J.  vom  10.  December  1892  ab  drei 
Monate  behandelt  hat.  Sie  litt  an  Bronchialkatarrh,  hochgradiger 
Nervosität  und  Schlaflosigkeit.  Zuweilen  hatte  sie  auch  heftige  Kopf- 
schmerzen und  auffallende  Gedächtnissschwäche. 

Bei  einer  späteren  Vernehmung  ergänzt  M.  seine  Aussagen  dahin, 
dass  die  J.  in  hohem  Grade  hysterisch  war,  d.  h.  sie  hatte  Nerven- 
schmerzen, ihre  Gemüthsstimmung  wechselte  sehr  oft  ganz  unmotivirt. 


Behauptete  Amnesie   und  Unzurechnungsfähigkeit.  233 

Die  Z.  berichtete  dem  Arzt  von  gelegentlichen  Krampfanfällen  und 
deponirte,  als  Zeugin  einvernommen,  dass  ihre  Freundin  schon  zur  Zeit 
des  Processes  auf  Vorladungen  vergass,  sodass  sie  daran  gemahnt 
werden  musste.  Aus  dem  Befund  der  Gerichtsärzte  vom  20.  Juni  1893 
ergiebt  sich  deutlich  das  Bild  einer  hysterischen  Neurose,  mit  allen 
Uebertreibungen,  welche  dieser  Krankheit  eigentümlich  sind. 

Als  Pat.  bemerkt,  dass  sie  auf  die  Gerichtsärzte  einen  ungünstigen 
Eindruck  macht  und  manche  ihrer  Aeusserungen,  z.  B.  sie  habe  die 
Erinnerung  an  die  Miethaifaire  und  an  die  Gerichtsverhandlungen  ver- 
loren, ungläubig  aufgenommen  werden,  geräth  sie  in  wachsende  Er- 
regung, sodass  die  erfahrenen  Aerzte  von  einer  weiteren  Exploration 
abstehen  und  sie  entlassen. 

Im  Hotel  bricht  ein  hysterischer  Krampfanfall  aus,  der  von  Prof. 
v.  W.  bestätigt  wird  und  temporäre  Amnesie  für  die  dem  Anfall  vor- 
ausgehenden Begebenheiten  hinterläßt,  wie  dies  oft  bei  hysterischen 
Krampfanfällen  zu  beobachten  ist. 

Pat.  kommt  nun  auf  die  Xervenklinik  des  Grazer  allgemeinen 
Krankenhauses  und  verfällt  in  Geistesschwäche,  die,  nebst  Gedächtniss- 
losigkeit,  noch  am  6.  September  1893  von  Prof.  v.  W.  constatirt  wird. 

Im  Einklang  mit  den  Darlegungen  dieses  Fachmannes  lässt  sich 
dieser  abnorme  Geisteszustand,  wie  er  bis  Anfang  September  1893  von 
den  Aerzten  der  Nervenklinik  beobachtet  und  geschildert  wurde,  als 
hysterische  Geistesstörung  bezeichnen.  Teuer  den  seitherigen  Verlauf 
der  Krankheit  fehlt  es  an  Mittheilungen,  sodass  der  gegenwärtige  Zn- 
stand und  die  Frage  der  Heilbarkeit  einer  Beurtheilung  sich  entziehen. 


HYSTERIA  GRAVIS. 


Hysteria  gravis. 

Oonhorectomia  sinistra  1SS9  mit  uutem  Erfolg.    Recidive. 
Gastration  1892.    Dauernde  Genesung. 

Eiu  Beitrag  zur  Castrationsfrage  bei  Hysteria  gravis  und  zur  differentielleu 
Diagnose   organischer  und  functioneller  Erkrankung  vermittelst  Hypnose. 


Am  7.  7.  1888  erschien  in  meiner  Sprechstunde  eines  Nervenleidens 
wegen  Frl.  M.  Z.,  19  Jahre,  Ungarin,  in  Begleitung  ihrer  Angehörigen. 

Der  Vater  ist  gesund,  einer  seiner  Brüder  leidet  an  Tabes,  ein 
anderer  ist  psychisch  krank. 

Die  Mutter  ist  nervös.  Sonst  Hess  sich  in  der  Familie  nichts  Be- 
lastendes ermitteln. 

Pat,  normal  geboren,  hat,  ausser  Scarlatina  mit  9  Jahren,  keine 
schweren  Krankheiten  durchgemacht,  grosse  intellectuelle  Begabung 
gezeigt,  ohne  Besehwerden  mit  14  Jahren  ihre  Menses  bekommen. 
Vom  15.  Jahre  ab  war  sie  chlorotisch.  litt  viel  an  Cardialgie,  Er- 
brechen, kam  körperlich  dadurch  herunter. 

Mit  17  Jahren,  nach  einer  Gemüthshewegnng,  traten  Lethargus- 
anfälle auf,  die  bei  der  geringsten  Emotion,  namentlich  aber  menstrual 
sich  wiederholten  und.  trotz  Wasserkuren,  immer  häufiger  und  protra- 
hirter  wiederkehrten.  Intervallär  grosse  Eeizbarkeit,  Emotivität.  Eine 
von  einem  hervorragenden  Gynäcologen  in  Chloroformnarcose  unter- 
nommene innere  Untersuchung  constatirte  negativen  Befund. 

Als  eines  Tages  der  17', jährigen  Tochter  der  Vater  von  der  Be- 
handlung in  einer  Heilanstalt  sprach,  reagirte  diese  darauf  mit  Hysteria 
gravis  (epileptoide  Phase,  grands  mouvements).  Die  Anfülle  dauerten. 
mit  kurzen  Intervallen,  durch  4  Wochen  fort  (stat.  hystericus),  während 


238  Hysteria  gravis. 

welcher  Zeit  es  nur  durch  Morphiuminjection  möglich  war,  temporär 
Kühe  zu  verschaffen  und  Nahrung  zuzuführen. 

Schon  nach  dem  1.  Anfall  hatte  sich  eine  Streckcontractur  in 
der  linken  Ober-  und  Unterextremität  entwickelt.  Die  Anfälle 
kehrten,  trotz  fortgesetztem  Morphingebrauch,  anfangs  stündlich,  dann 
mehrmals  im  Tage  wieder. 

Der  Hausarzt  versuchte  nun  Hypnose,  erzielte  durch  blosses  An- 
blicken und  Suggestion  tiefes  Engourdissement,  vermochte  die  Contractur 
der  1.  OE.  sofort  zu  beheben,  die  Anfälle  auf  einen  binnen  2  Tagen  zu 
beschränken,  war  aber  machtlos  gegenüber  der  Dauercontractur  in  der 
1.  UE.,  die  nach  seiner  Meinung  mit  einer  1.  Ovarie  in  Beziehung  stand. 

Diese,  sowie  Contractur  und  Anfälle  veranlassten  die  Familie, 
meinen  Rath  einzuholen. 

Stat.  praes.  vom  8.  7.  1888. 

Mittelgrosse,  zarte,  leicht  anämische,  in  der  Ernährung  herab- 
gekommene Persönlichkeit,  Vegetative  Organe  ohne  Befund,  Urin  frei 
von  Albumen  und  Zucker. 

Sensibilität  und  Sinnesorgane  auf  r.  Körperhälfte,  bis  auf  geringe 
conc.  Sehfeldeinschränkung  normal. 

Die  Sensibilität  1.  in  allen  Qualitäten  von  den  Zehen  bis  zum 
oberen  Drittel  des  1.  Unterschenkels  aufgehoben,  von  da  bis  über  dem 
Kniegelenk,  ringförmig  abschneidend,  erhalten,  weiter  aufwärts  auf 
der  ganzen  1.  Körperhälfte  herabgesetzt. 

L.  Amblyopie,  Dyschromatopsie ,  bedeutende  conc.  Sehfeldein- 
schränkung, Hypakusie,  auch  Geruch  und  Geschmack  sehr  herabgesetzt, 

L.  aufgehobener  Scleral-,  Gaumen-,  Rachen-,  Nasenreflex.  Spinal- 
irritation, 1.  Ovarie,  epigastrische  Myodynie,  klassische  hysterische 
Streckcontractur  der  1.  UE.  Grosse  Emotivität,  Verstimmung,  sehr 
gestörter  Schlaf. 

Pat.  tritt  am  10.  7.  in  meine  Behandlung  ein  (Nervenklinik). 

Am  13.  7.  erscheinen  die  Menses,  zugleich  mit  heftiger  Exacerbation 
der  1.  Ovarie  und  sofort  sich  anreihendem  Anfall  —  kurze  epileptoide 
Phase,  dann  Lethargus  mit  allgemeiner  Muskelstarre  (Katochus),  auf 
starke  Compression  des  1.  Ovariums  behebbar.  Nach  Aufhören  dieser 
sofort  wieder  Lethargus,  anscheinend  mit  Aufhebung  des  Bewusstseins. 

Der  Lethargus  dauert  durch  die  ganze  menstruelle  Phase  an,  ist 
nur  vorübergehend  durch  Morphininjection  zu  beseitigen.  Episodisch, 
aber  zuweilen  durch  viele  Stunden,  complicirt  er  sich  mit  allgemeiner 
Contractur  (Starrkrampf);  dem  Eintreten  dieser  geht  jeweils  eine 
kurze  epileptoide  Phase  voraus. 

Nach   Aufhören   der  Menses   und   Cessiren   des  Anfalls,   Versuch 


Hysteria  gTavis.  239 

einer  hypnotischen  Behandlung,  die  nach  Bernheim'scher  Methode, 
besser  durch  Stirnstreichen,  bis  zu  Engourdissement  gelingt  und  am 
21.  schon  sich  bis  zu  Somnambulismus  vertiefen  lässt.  Die  ersten 
Tage  löst  der  Hypnoseversuch  jeweils  Katochusanfälle  aus,  später 
nicht  mehr.  Die  Anfälle  werden  milder,  seltener,  Morphin  wird  ent- 
behrlich. Bedeutende  Besserung  des  Schlafes,  Gewichtszunahme,  Ver- 
trauen in  die  Zukunft  uud  gute  Stimmung,  unter  hypnotischer  Suggestion, 
dass  Schmerz  und  Anfälle  schwinden  werden  uud  Genesung  nur  noch 
eine  Frage  der  Zeit  sei,  werden  erzielt.  Ganz  refractär  gegen  hyp- 
notische Behandlung  erwiesen  sich  aber  1.  Ovarie,  Katochusanfälle  und 
Contractur  der  1.  UE.  Die  letztere  lässt  sich  temporär  durch  cen- 
tripetales  Streichen  am  Fusse  lösen.  Centrifugales  Streichen  befördert 
ihr  Wiedereintreten.     Deutliche  Diathese  de  contracting  an  1.  UE. 

Leidlich  gutes  Befinden  in  der  Folge,  aber  die  Zeit  der  Menses 
ruft  jeweils,  unter  Exacerbation  der  1.  Ovarie,  die  Katochusanfälle 
wieder  hervor,  während  sie  intervallär  selten  und  nur  auf  Gelegenheits- 
ursachen (Ovarie,  Emotion,  besonders  durch  Lärm  im  Hause,  der  die 
r.  acustisch  sehr  hyperästhetische  Pat.  empfindlich  afficirt,  sich  ein- 
stellen. 

Vom  August  ab  zeigt  sich  sozusagen  eine  Dissociation  der  an- 
scheinend combinirten  Krampferscheinungen.  Pat  hat  nun  „leichte" 
Anfälle  (blosser  Lethargus),  die  hypnotischer  Suggestion  vollkommen 
zugänglich  sind,  von  der  Pat,  unterdrückbar  („ich  darf  nicht,  ich  will 
nicht")  sind  und  vollständig  zum  Schwinden  gebracht  werden  —  neben 
„schweren"  Anfällen  (Lethargus  +•  allgemeine  Contractur  =  Katochus), 
die  jeweils  durch  Exacerbation  der  Ovarie.  sicher  durch  den  menstrualen 
Vorgang  ausgelöst  werden,  sich  dem  Willen  der  Pat.  und  auch  der 
Suggestivbehandlung  gegenüber  vollkommen  refractär  verhalten,  also 
vermuthlich  durch  organischen  Eeiz  ausgelöst  sind. 

Eine  unter  dieser  Voraussetzung  wiederholt  angebrachte  Paqueli- 
nisirung  an  der  Stelle  des  1.  Ovariums,  consequente  galvanische  Anoden- 
behandlung daselbst,  unterstützt  durch  Antipyrininjectionen.  bessert 
dagegen  auffallend  die  „Ovarie",  damit  die  Katochusanfälle  und  die 
Contractur  der  1.  UE.  Diese  stellt  sich  Oct.  1888  nur  mehr  anlässlich 
heftiger  Exacerbationen  der  1.  Ovarie  ein.  Vom  November  ab  gehen 
auch  die  Menses  ohne  Katochusanfälle  vorüber,  während  die  von 
blossem  Lethargus  schon  längst  beherrschbar  geworden  sind. 

Am  16.  1.  1889  wird  dem  Heimweh  der  Pat.  Rechnung  getragen 
und  sie  entlassen. 

Der  Status  bei  der  Entlassung  ergiebt:  1.  Amblyopie,  bedeutende 
conc.    Sehfeldeinschvänkung.    partielle    Dyschromatopsie,   1.    Anacusie, 


240  Hysteria  gravis. 

Anosmie.  Ageusie,  dissociirte  Empfindungslähmung  für  Tast-  und 
Temperatursinn,  bei  bloss  herabgesetztem  Schmerzsinn,  auf  der  ganzen 
1.  Körperhälfte  bis  auf  einige  sensible  Inseln,  Amyosthenie  in  1.  OE. 
und  UE.,  hochgesteigerte  tiefe  Reflexe  in  1.  UE.  bis  zu  Fussclonus. 
1.  fehlende  Scleral-,  Gaumen-,  Rachenreflexe,  leichte  Rigidität  in  1. 
Hüft-  und  Kniegelenk,  minimale  Empfindlichkeit  in  der  1.  Ovarial- 
gegend.  Zwei  Monate  nach  der  Entlassung  befand  sich  Pat.  wohl, 
zu  Hause. 

Dann  stellte  sich  die  1.  Ovarie  wieder  ein,  mit  ihr  die  Contractur 
der  1.  UE.  und  seit  April  1889  die  Anfälle. 

Am  9.  5.  1889  kehrte  Pat.  in  meine  Behandlung  zurück.  Status 
diesmal  wie  bei  der  Entlassung,  jedoch  verallgemeinerte  Diathese  de 
contracture. 

Bei  neuen  Hypnoseversuchen  Rigidität  in  allen  Extremitäten,  die 
aber  suggestiv  sofort  zu  beseitigen  ist,  bis  auf  die  Dauercontractur 
im  1.  Bein.  Diese  ist  refraktär,  gleichwie  1.  Ovarie-  und  Katochus- 
anfälle. 

Dieselbe  Behandlung  wie  das  erstemal.  Lethargusanfälle  werden 
rasch  beseitigt.  Die  Localbehandlimg  (Paquelin,  Galvanisation,  Antipyrin) 
leistet  immer  weniger,  die  Ovarie  und  die  offenbar  von  ihr  abhängigen 
Katochusanfälle  und  die  1.  Contractur  treten  immer  mehr  in  den  Vorder- 
grund, nöthigen  zu  immer  grösseren  Morphininjectionen. 

Unter  diesen  Umständen  musste  sich  die  Ueberzeugung  auf- 
drängen, dass  jene  Trias  von  Symptomen  nicht  functionell,  sondern 
organisch  (chronische  Oophoritis?)  vermittelt  sei.  Die  Möglichkeit 
der  Notwendigkeit  einer  1.  Ovarectomie  wurde  den  Eltern  und  der 
Pat.  klargelegt  und  von  den  vertrauensvollen  und  vernünftigen  Be- 
theiligten die  eventuelle  Erlaubniss  zur  Vornahme  einer  solchen 
Operation  ert heilt. 

Die  Neurotherapie,  speciell  die  Hypuotik  hatte  sich  ungenügend 
erwiesen.    Res  venit  ad  Gynaecologam. 

Herr  Prof.  Börner  in  Graz  machte  am  24.  6.  1889  folgenden  Be- 
fund in  Hypnose:  Vaginalportion  hochstehend,  in  der  Kreuzbeinhöhluug ; 
Muttermund  etwas  klaffend,  Corpus  uteri  nach  rechts  gezogen,  deutlich 
anteflectirt,  von  normaler  Grösse. 

Rechtes  ligam.  latum  verkürzt,  weniger  dehnbar  und  druck- 
empfindlich. Rechtes  ligam.  sacrouterinum  verkürzt,  etwas  derb, 
druckempfindlich.     (Abgelaufene  Parametritis  dextra  et  posterior). 

Linke  Douglas'sche  Falte  normal,  linkes  ligam.  latum  etwas  ge- 
dehnt, sonst  normal. 

Gegen  den  Douglas'schen  Raum  emporgehend,  zwischen  den  ligam. 


Hysteria  gravis.  241 

sacrouterina,  ein  anscheinend  dem  normalen  Ovarium  entsprechender 
beweglicher,  höchst  druckempfindlicher  Körper  (r.  Ovarium);  nach  links 
davon,  durch  das  1.  Scheidengewölbe  das  1.  Ovarium  an  normaler  Stelle 
tastbar.  Bei  dessen  Berührung  wird  sofort  ein  (Katochus-)  Anfall  aus- 
gelöst. Grobe  Veränderungen  an  den  Ovarien  sind  nicht  zu  constatiren, 
aber  das  1.  Ovarium  ist  viel  schmerzhafter,  als  das  r.  Druck  löst 
sofort  zum  2.  Mal  einen  Anfall  aus." 

Am  4.  7.  1889  Laparotomie  durch  Hrn.  Prof.  Börner:  „Linkes 
Ovarium  in  geringem  Grade  kleincystisch  entartet  aussehend  und 
etwas  vergrössert,  wird  zusammen  mit  dem  abdominalen  Ende  der 
Tube  in  2  Parthien  unterbunden  und  abgetragen.    Stiel  versenkt. 

Kechtes  Ovarium,  im  Douglas  adhärent,  und  in  die  Bauchwunde 
gebracht,  erweist  sich  anscheinend  normal  und  wird  reponirt." 

Befund  am  exstirpirten  1.  Ovarium  (Prof.  Eppinger):  „Folliculitis 
haemorrhagica  chronica." 

Der  Verlauf  der  Operation  und  die  Heilung  Hessen  chirurgisch 
nichts  zu  wünschen  übrig. 

Gleich  nach  der  Operation  hatten  sich  noch  3  kurze  Katochus- 
anfälle  gezeigt.  Zugleich  mit  der  Entfernung  des  1.  Ovariums  war  die 
„Ovarie"  sowie  die  Contractur  der  1.  ÜE.  geschwunden  und  kehrte 
nicht  wieder. 

Eine  unangenehme,  aber  bei  dem  Fehlen  jeglicher  Temperatur- 
steigerung gefahrlose  Erscheinung  war  eine  den  ganzen  Heilverlauf  bis 
Mitte  Juli  begleitende,  offenbar  hysterotraumatische  diffuse  Hyperalgesie 
und  hochgradige  Schmerzhaftigkeit  des  ganzen  Abdomen,  wogegen,  des 
glatten  Wundverlaufs  wegen,  Morphininjectionen  nüthig  waren.  Diese 
Hyperästhesie  der  Bauchdecken  verlor  sich  bis  zum  16.  7. 

Pat.  reiste  im  Gefühl  völliger  Gesundheit  Anfang  August  1889  heim, 
aber  bei  der  Entlassung  bestanden  die  vor  der  Operation  constatirten 
Ausfälle  der  Sensibilität  uud  Sinnesempfindung  links  unverändert  fort. 

Bis  Ende  April  1891  erfreute  sich  Frl.  Z.  des  besten  Wohlseins. 
Sie  besuchte  sogar  Bälle,  man  gedachte  sie  zu  verheirathen.  Da  ver- 
spürte sie  nach  dem  Heben  einer  Last  einen  heftigen  Schmerz  in  der 
Gegend  der  früheren  Ovarie.  fieberte  etwas,  wurde  schlaflos,  verstört, 
appetitlos,  litt  viel  an  Erbrechen,  kam  rasch  körperlich  herunter.  Der 
Hausarzt  sprach  von  Entzündung  der  1.  breiten  Mutterbänder  und  ver- 
suchte Antiphlogose  ohne  Erfolg. 

Eine  Consultation  mit  einem  hervorragende-  Gynäkologen  kam 
zur  Wahrscheinlichkeitsdiagnose  eines  Entzündungsprocesses  in  den 
Adnexen  (Salpingitis?).  Die  verordneten  Ichthyoltampons  waren  ohne 
Eifolg.    Mau  musste  wieder  zu  Morphininjectionen  greifen.    Im  Sep- 

Krafft-Ebing,  Arbeiten  111.  16 


242  Hysteria  gravis. 

tember  1891  stellten  sich  wieder  Katochusanfälle  ein  und  kehrten,  bis 
zu  mehreren  täglich,  wieder.  Pat.  war  schlaflos,  wenn  sie  nicht 
Chloral  bekam.  Gegen  Schmerzen  und  Anfälle  erwiesen  sich  nur 
Morphiumiii j  ectionen  erfolgreich. 

Anfang  Februar  1892  kam  Pat.  zu  mir  nach  Wien  -  äusserst 
herabgekommen,  anämisch,  über  furchtbare  Schmerzen  klagend.  Be- 
rührung der  linken  Ovarialgegend  ruft  sofort  Katochus  hervor;  auch  im 
Anschluss  an  heftige  Schmerzen  daselbst  treten  im  Tage  mindestens 
3—4  Anfälle  auf.  Dieselben  dauern  so  lange,  oft  durch  Stunden, 
bis   eine  Morphininjection  gemacht  wird. 

Die  dringend  verlangte  Hypnose  erweist  sich  quoad  Eintritt  und 
Intensität  der  Schmerzen  und  der  Anfälle  ganz  wirkungslos,  sodass 
nur  Morphium,  mit  dem  allmälig  bis  zu  0.18  pro  die  gestiegen  werden 
muss,  den  Zustand  erträglich  macht. 

In  den  Anfällen  ist  das  Bewusstsein  aufgehoben.  Nach  dem  Er- 
wachen besteht  jeweils  Klage  über  heftigen  diffusen  Kopfschmerz. 

Die  Diagnose  der  Gynäcologen  lautet  unbestimmt;  Hydrosalpinx 
oder  Neubildung  wird  vermuthet.  Die  wiederholte  Sensibilitätsprüfung 
ergiebt  folgenden  constanten  Befund: 

L.  Hemianästhesie,  mit  Ausnahme  der  behaarten  Kopfhaut,  des 
Halses,  Nackens,  der  Innenseite  des  Oberarms  und  des  Abdomens. 

Passive  Bewegungen  der  Finger  und  Zehen  werden  als  Be- 
rührung, solche  im  Kniegelenk  gar  nicht  empfunden. 

L.  Conjunctiva,  Nasen-,  Lippenhälfte,  Mundschleimhaut  anästhetisch. 
L.  Anosmie  und  Ageusie.  L.  Gesichtsfeld  stark  concentrisch  ein- 
geschränkt, 1.  Farbenblindheit.  Mit  verbundenem  r.  Auge  vermag  Pat. 
nicht  umherzugehen,  ohne  an  Gegenstände  anzustossen. 

Am  27.  2.  1892  machte  Herr  Prof.  Schauta  die  Laparotomie. 

Der  mir  gütigst  zur  Verfügung  gestellte  Befund  lautete: 

„Nach  Eröffnung  der  Bauchhöhle  an  den  linken  Adnexa,  wo  das 
Ovarium  fehlt,  mehrere  Darmadliäsionen  in  der  Gegend  des  entfernten 
1.  Ovars,  die  stumpf  leicht  gelöst  werden.  Die  Tube  normal,  wird 
ligirt  und  abgetrennt.  Die  r.  Adnexa,  in  Pseudomembranen  im  Becken 
adhärent,  werden  stumpf  losgeschält  und  vorgezogen.  Ovarium,'  mit 
mehreren  kleinen  Cystchen  durchsetzt,  wird  sammt  Tube  2  Mal  ligirt 
und  abgeschnitten." 

Nach  der  Operation  waren  die  Anfälle  und  das  Morphiumbedürfniss 
unverändert.  Schon  in  den  folgenden  Tagen  werden  die  Anfälle 
schwächer,  seltener  (3 — 4  pro  die),  beschränken  sich,  trotz  successiver 
Verminderung  der  Morphindosen,  auf  1  täglich.  Seit  4.  4.  kein  Anfall 
mehr.    Nun  gelingt  die  Morphiumentziehung  rasch. 


Hysteria  gravis.  243 

Der  Heilungsverlauf  der  Wunde  war  ein  glatter  gewesen. 

Mitte  April  wurde  Pat,  genesen  entlassen.  Die  Sensibilitätsprü- 
fung ergab  beim  Austritt  unveränderte  Verhältnisse. 

Die  in  den  folgenden  Monaten  eintreffenden  Nachrichten  besagten, 
dass  Pat.  häufig  an  Kopfschmerz,  Congestionen ,  Hitzegefühl,  Herz- 
klopfen, Beklemmungen,  Reizbarkeit  leide.  Diese  grossentheils  mit 
dem  Klimax  artificialis  zusammenhängenden  Beschwerden,  gegen  welche 
Brom  und  Antipyrin  gute  Dienste  leisteten,  verloren  sich  bis  zum 
October  1892. 

Frl.  Z.  erfreute  sich  seither,  wie  ich  mich  selbst  anlässlich  ihrer 
Besuche  überzeugen  konnte,  des  besten  Wohlseins  und  sah  blühend  aus. 

Noch  im  Lauf  des  Spätherbstes  1895  constatirte  ich  jedoch  in 
der  1.  UE.  leichte  Amyosthenie  und  etwas  herabgesetzte  Sensibilität 
für  Tast-  und  thermische  Eindrücke. 

Genitale  Blutungen  sind  seit  der  letzten  Operation  nie  mehr  auf- 
getreten. Seither  habe  ich  meine  frühere  Patientin  nicht  mehr  ge- 
sehen (s.  u.).  Aus  gelegentlichen  Briefen  derselben  (zuletzt  Sommer 
1897)  geht  hervor,  dass  dieselbe  sich  vollkommen  wohl  befindet. 

Epikrise:  Der  vorstehende  Fall  scheint  mir  für  den  Neurologen 
wie  den  Gynäkologen  gleich  interessaut  und  geeignet ,  als  Baustein 
für  eine  zu  schaffende  Indicationslehre  operativer  Behandlung  der 
Hysteria  gravis  zu  dienen. 

Es  handelte  sich  hier  um  ein  complicirtes  Nervenleiden,  das  bei 
einer  augenscheinlich  hereditär  Belasteten,  in  Folge  eines  psychischen 
Shoks,  entstanden  schien  und  nach  einer  halbjährigen  Dauer,  durch 
eine  weitere  heftigere  Gemüthsbewegung.  eine  bedeutende  Verschlimme- 
rung erfahren  hatte. 

In  dem  reichen  Symptomendetail  des  Krankheitsbildes  erscheinen 
Anfangs  Symptome  (Lethargusanfälle  u.  s.  w.i,  die  einer  psychischen 
und  medicamentösen  Therapie  sich  zugänglich  erweisen. 

Bald  aber  stellt  sich  eine  Trias  von  Erscheinungen  (Dauercon- 
tractur  der  1.  UE.,  Katochusanfälle.  1.  Ovarie)  ein,  die  einer  solchen 
Therapie  gegenüber  gänzlich  refractär  bleibt,  menstrual  jeweils  exa- 
cerbirt,  Contractur  und  Katochuszustände  erscheinen  in  Zusammen- 
hang mit  der  Ovarie,  indem  sie  jeweils  durch  Exacerbation  dieser  mit 
hervorgerufen  oder,  wenn  vorhanden,  gesteigert  werden. 

Nur  Anfangs  gelingt  es.  nach  örtlicher  Behandlung  der  Ovarie, 
diese  Symptome  zurücktreten  zu  lassen.  Den  Anstoss  zu  Zweifeln  an 
einer  bloss  i'unctionellen  Begründung  jener  Symptome  giebt  der  Miss- 
erfolff  der  suggestiven  Therapie,  der  bei  der  sonst  doch  schrankenlos 
beherrsch-  und  beeinflussbaren  Pat.  höchst  auffällig  sein  musste. 

16* 


244  Hysteria  gravis. 

Die  gynäkologische  Untersuchung  ergab  einen  negativen  Befund 
hinsichtlich  anatomischer  Veränderungen  am  1.  Ovarium  und  konnte 
keine  Ermuthigung  zur  operativen  Entfernung  dieses  Organs  geben. 
Immerhin  bestärkte  die  Exploration  wenigstens  die  klinische  Annahme, 
dass  jene  Symptome  refiectorisch  ausgelöst  waren,  insofern  Druck  auf 
das  überaus  empfindliche  Ovarium  Katochusanfälle  auslöste. 

Die  Operation,  welche  auf  Andrängen  des  Klinikers  unternommen 
wurde,  bestätigte  diese  Annahme  und  erfüllte  vollkommen  die  auf  sie 
gesetzten  Hoffnungen. 

Unverhältnissmässig  gering  waren  indessen  die  anatomischen  Ver- 
änderungen in  dem  exstirpirten  Ovarium.  Lässt  doch  Nagel  (Archiv 
f.  Gynäkologie,  Bd.  31,  H.  3)  nur  die  chronisch  interstitielle  Oophoritis 
als  eine  solche  gelten,  während  er  die  sog.  chronische  folliculäre  oder 
kleincystische  Degeneration  als  einen  noch  physiologischen  Zustand 
ansieht,  im  Widerspruch  mit  Petitpierre  (ebenda  35,  H.  4),  der  ihn 
für  pathologisch  hält. 

Eine  solche  Frage  mitentscheiden  zu  wollen,  kommt  dem  Neuro- 
logen nicht  zu.  Von  grosser  Bedeutung  ist  für  ihn  die  Thatsache, 
dass  so  geringfügige  anatomische  Veränderungen  im  Stande  sind,  so 
weitgehende  klinische  Beactionen  hervorzurufen. 

Von  dieser  Erkenntniss  zur  Annahme,  dass  auch  blosse  sog.  func- 
tionelle  Störungen  in  Ovarien  die  Ursache  schwerer  Nervenkrankheit 
sein  können,  ist  nur  ein  Schritt.  Nur  bei  Belasteten  dürften  übrigens 
solche  geringfügige  periphere  Beize  derlei  Wirkungen  entfalten  können. 

Der  operative  Erfolg  in  dem  berichteten  Fall  rechtfertigt  jeden- 
falls bei  solcher  Aetiologie  die  Exstirpation  eines  gynäkologisch  nicht 
nachweisbar  veränderten  Ovariums  und  verlegt  den  Schwerpunkt  für 
die  Entscheidung  iu  den  klinischen  Befund.  Ein  Misserfolg  in  einem 
ganz  analogen  Fall,  wo  erst  nach  vieljähriger  Dauer  der  Krankheit 
operirt  wurde,  legte  den  Wunsch  nahe,  dass  in  solchen  Fällen  mög- 
lichst frühzeitig  zur  Operation  geschritten  werde.  Liegt  es  doch  nahe, 
zu  vermuthen,  dass  nach  längerer  Krankheitsdauer  eine  analoge  „Ver- 
änderung", wie  sie  im  Gehini  des  Epileptischen  mit  Kecht  voraus- 
gesetzt wird,  sich  auch  bei  Hysteria  gravis  herausbildet  und  dass 
dann  beliebige  anderweitige  Organe  und  Theile  des  Körpers  spas- 
mogen  werden  können  und  die  Stelle  der  „Ovarie"  dann  spielen. 

Nur  sehr  ausnahmsweise,  und  nur  bei  einer  so  überaus  suggestiblen 
Person,  wie  es  meine  Patientin  war,  wird  der  Misserfolg  einer  Sugge- 
stivbehandlung,  die  ja  doch  nur  functionelle  Störungen  beseitigen  kann, 
Hinweise  auf  eine  anatomische  Begründung  von  Krankheitserschei- 
nungen gestatten. 


Hysteria  gravis.  245 

Pat.  hatte  das  Unglück,  nochmals  ein  experimentum  crucis  ab- 
geben zu  müssen,  insofern  eine  neuerliche  Erkrankung,  in  Gestalt 
einer  1.  Adnexenreizung,  den  früheren  Symptomencomplex  hervorrief 
und  eine  neuerliche  Operation  nöthig  machte,  bei  welcher  diesmal 
beide  Tuben  und  das  mit  mehreren  kleinen  Cysten  durchsetzte  rechte 
Ovarium  entfernt  wurden. 

Dieser  radikalen  Operation  verdankte  Pat.  endlich  ihre  Erlösung 
von  qualvollem  Siechthum  und  von  drohendem  Morphinismus. 


Im  Juni  1898  kam  Pat.  neuerlich  in  meine  Behandlung  wegen 
eines  schweren,  angeblich  nervösen  Magenleidens. 

Die  Beobachtung  und  Untersuchung  durch  Autoritäten  ergab,  dass 
es  sich  um  ein  Ulcus  ventriculi  handelte,  nicht  um  Neurose.  Neuro- 
logisch wurde  quoad  hysteriam  ein  vollkommen  negativer  Befund  con- 
statirt,  sodass  die  operative  gründliche  Beseitigung  der  früheren  Neu- 
rose über  allen  Zweifel  erhaben  ist. 


Lippert  &  Co.  (Gr.  Pätz'sche  Buchdr.),  Naumburg  a.  S. 


Date  Due 

Demco  293-5 

Accession  no. 

574 

Author 

Krafft-Ebing,R. 

Arbeiten  . . . 
Psychiatrie. 

Call  no. 

19 th  cent. 
flC  Sit. 


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